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Inhalt des efffen Jahrganges.
—Abhandlungen und Schilderungen.
Aberdeen, Lady. Anſprache bei der Friedensfundgebung des Frauentweltbundes .
a o Die Frau als fogiale Erjieherin. Anfprace auf dem Anternationalen
Frauenlongreß gu Berlin
Baumer, Gertend. Kunfterziehungsfragen
s * Konfeſſionalismus und aE RO
” ” „Wie belfe ich meinem Schulklinde?“
* * „Von den Königen und ber Krone” .
‘“ — Der internationale Horizont der ——— (Mit en Bilbdern
von Frau Marie Stritt und Frau Hedwig Hevl) .
Gindriide vom Jnternationalen Frauenfongreh
Fieqhtuer, Dr Frib. Warenhaus- Pathologie .
Forſter, Helene von. Wie erjieht das Haus fiir das ** Leben?
Frauklin, E. L. Cin Erziehungsverein von Eltern in England
ered, W. Jn neuer Spiegelung .
» o Das Florentiner Bildnis . :
Freudeuberg, Qfa. Moderne Sittlidhteitaprobleme 2.4%
Geelmuyden, Raja. Norwegifde Frauen als Wahler und Etndtverorbnete. Uberſetzt
pon Ida Anders. (Mit Bild) .
Glasgow, Aun. Sur Statiftif des weibliden Unterridits in a —— —
Goldmann, Dr jur. Ernſt. Darf der Ehemann die Briefe ſeiner Frau offnen? .
Sy. - Das Hiichtigungsredt des EChemannes .
Gottheiner, Dr Glijabeth. Clijabeth Gnaud-Riibne: Die deutſche — um die Jahr
hundertwende Bice ee es fate, ere
— Das Gemeindewahlrecht — —
Haſſe, Elſe. Streifzüge durch die dramatiſche Saifonliteratur .
— „Vom Studium der Perjinlicfeit .
Herrmann, Dr Helene. Der junge Herder und die Spradtuntt . ——
Rafe: Ridthofen, Dr Eliſabeth. Dic Arbeitszeit der Fabrifarbeiterinnen über 16 Sabre
Kloſtermann, Helene L. Der ſchwediſche Handjertigheitsunterridt und feine —
Bedeutung
Krukenberg, Elsbeth. Die Bedeutung ulin “Befteebungen far bie Frauen
und für die Familie wr Sy Oo Ga cei iu BF vee de, he ok
Pama
— ~)
> Oo = S
7 tm to Gr¢
2
Kurz, Sfolde. Bom Weibe. Aphorismen .
Lange, Helene. Der Cölner Frauentag .
= . Die Frauenbetwegung und bas Zecht ae bie Muuerſchaft⸗
— Behördliche Inkonſequenzen
* „Die Hand von der Politik!“. ic is tans, Brg hee? Sa SE ng ee 25
J Die Beſoldungsverhältniſſe der Lehrerinnen an den königlich
preußiſchen Seminaren
Es * Die Frau als Bürgerin ee ee ee ee ee ee ee ee
" " Das Endziel der Frauenbetwegung. Rede, gebalten auf bem Inter—
nationalen Frauenkongreß ju Berlin .
Ludwig, H. Geburtsurfunden vorebelider Kinder .
Mayreder, Roja. Das fubjeftive Gefdledtsidol .
Midels, Dr Robert. Die italienifdhe Frau in den Camere del Severe 366.
Miſch, Dr Georg. Die Suche nad dem freien Weib. Cine Epiſode aus der Saint:
Cimoniftiiden Bewegung ;
Miller, Paula. Das Stimmrecht der —— in lirchlichen ——
Plehn, Anna L. Die Ausſtellung der Malerinnen im Berliner Künſtlerhauſe
— vn on Weibliche Kunſt und die Frau als Mäcen
Plothow, Anna. Parifer Woblfabriseinridhtungen
Poppenberg, Feliz. Deforative Frauenfunft
eo ~ Seyeffion . ;
Programm, Das, des iuternationalen Sranentongref es
Salomon, Alice. Die Nachtarbeit der Frauen
— * Frauenlöhne
4 * Berufliche und ſoziale — auf oe —— —
Schettler, Panl. Des Kohlenzeitalters Anfang und Ende .
Schmidt, A. L. Cine landiwirtfdaftlide Schule fiir Frauen in England F
String, Martha. Sum gegenivirtigen Ctand der Coebucation in den Bereinla ies
Staaten po an Sa we hc tet TS,
* J Irdiſche und himmliſche Liebe. Eine Studie über zwei Dichtungen
Weber, Marianne. Die Beteiligung der Frau an der Wiſſenſchaft. Vortrag, gebalten
auf dem Qnternationalen Frauenfongreh gu Berlin
Wengraf, Alice. Gelehrte Frauen der Stadt Bologna .
Wilbrandt, Dr Robert. Der WU gemeine SelmarkeltertduseStongreG ae
J Thüringer Weberei. Zugleich ein Wort an die ——
ingrauphien und Charakteriftiken.
Bänmer, Gertrud. Thomas Mann, der Didter der Buddenbrools
Bredow, Maria von. Luije von Cachfen-Weimar. (Mit Bild) .
red, W. Denlwürdigkeiten eines Wrbeiters ;
Gerhard, Adele. George Eliots und George Cands — unter — Geſichts.
punkt moderner Probleme
Hainiſch, Mariaune. Marie von Najmajers Feſtiage
299
669
293
114
238
621
641
489
303
453
354
Herrmann, Dr phil. Helene, Annette von Drofte in ihrem Naturempfinden
" non " Detlev von Liliencrons Kriegslorif
Hofmann, Marie. Die Anfänge der Sittlichleitsbewegung in Deutfdland.
Bilde von Gertrud Guillaume-Sdhad) . .
Lange, Helene. Profeffor Carla Wenkebach. (Mit Bild)
— J Lady Aberdeen. (Mit Bild)
F = May Wright Sewall. (Mit Bild) .
* > Stephan Waeholdt +
* F Mellien, Marie + .
Plehu, Muna L. Die neuen Rablecangen pon ‘Riithe Rollwit .
Poppenberg, Feliz. Die Berwandlungen der Dufe. (Mit Bildbern) .
— nw Richard Wagners künſtleriſche Sendung.
Regener, Dr Edgar Alfred. Fidus
» = a Eduard Miérifes Briefe
(Mit dem
Strinz, Martha. Cufan B. Anthony, die Seniorin der — —
(Mit Bild)
Rumane, Hauuellen und Skizzen.
Beaulien, H. vou. Die Sehriftitellerin .
Buyffe, Cyriel. Die Gartnerdfrau. UÜberſetzt aus Sei Hollandiſchen v von be Sternberg
” „Teuer erlauft. J ——
Hildrich, Elſe. Die Arche Noah .
„Neuntes Gebot
Ludwig, H. 1. Moſes 3.
‘r tid
Midaelis, Garin, Die Raftorstodhter, Aberſeht aus dem Däniſchen von M. Back
Nordensvan, Georg. Aja. UÜberſetzt aus dem Schwediſchen von E. Stine
Ploch, M. Die Geſchichte einer Stiftung
Rex, Ina. Vadder Büto
» Diirten Hanns .
Sdulze- Bri, Lonife. Mariann .
Siewert, Clijabeth. Ramps Kinder .
@Bedirhte rr.
Frei, Leonore. Unverjährbar
Von Frauen und über Frauen
Ermerbhatiitigkeit.
Armenpflegerin, Uber dic Tätigleit einer ſtädtiſchen
ia "
596. 656.
. 269. 495.
Bibliothefarinnenbernf, Cin biograpbhifder Beitrag. Bon Alice Bouſſet
Bibliotheken, Frauen an wiſſenſchaftlichen, in der Schweize.
45. 87.
543.
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Seite
544
714
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499
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Sur Frauecnbemegung.
246, 308, 374, 435. 500. 570. 632, 696. 760
DWerfumnilungen und Wereine.
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Seite 56. 122. 181. 250. 312. 377. 441. 505. 571. 634. 698. 76).
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B. Roceſer Buddruderei, Berlin 8.
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Verlag:
W. Morler Sudhandlung.
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Vom Weibe.’
Aphorismen
von
Jfolde Kury.
Nachdruck verboten.
S Mann bat durch Zuchtwahl jabrhundertelang die Cigenfdbaften, die feinem
: Herrſcher- und Befigerinjtingte bequem waren, an der Frau groß gezogen, er
bat fie jo fange an ibr qepricjen und befungen, bis die Frau in fein Ideal
bineinwuchs. Er bat moraliſche Hypertrophien gezüchtet und ſich dabei verrechnet,
denn Prüderie z. B. und Tugend ſind zwei grundverſchiedene Dinge.
Man hatte fie jo daran gewöhnt, fic Dem vom Manne gepragten Typus anzu—
bafien, daß fie gar nicht mebr wagte, ibrem Jnitinfte yu folgen, oder ihr Inſtinkt lag
jelber im Banne der Suggeſtion! Da ijt es denn fo weit gefommen, dah die meiften
Frauen heutzutage nicht nur nicht wiſſen, wie ſie über eine Sache zu denken haben,
ſondern nicht einmal, wie ſie fühlen ſollen, bevor ihre Männer ihnen die Richtung
xben. Man zeige ihnen die Erwartung, daß fie ſich choquiert fühlen, und ſofort
leßen fie vor Entrüſtung über, wo jie eben noch bereit waren, Beifall zu klatſchen.
J
* *
*
So lange die Frau wie ein Mond den Mann umkreiſt, daß nur die eine ihm
igewendete Seite beleuchtet iſt, während nach der anderen unbekannten niemand fragt,
0 lange ijt es unmiglich, ſich über die Fähigkeiten der weiblichen Natur überhaupt
‘) Wir machen ſchon jest auf den demnächſt erſcheinenden Aphorismenband „Im Zeichen des
=tinbods” von Jfolbe Kurz aufmertiam, dem dieſe Mphorismen angehiren werden.
1
2 Bom Weibe.
cin Urteif yu bilden. Man bat bisher dad künſtliche Durchſchnittsprodukt der Töchter—
ſchule als natürlichen Normaltypus, alle höher gearteten Frauen aber als Ausnahmen,
gewiſſermaßen als geijtige Mifgeburten, hingeſtellt und ift fo yu einem gang falſchen
Bilde des Weibes gekommen. Gerade wie wenn man aus dem Mittel der durch Schuh—
werk verfriippelten Europäerfüße die Norm des menſchlichen Fupes ableiten wollte.
Was die Frau im Durchſchnitt als Gefellfchaftswejen wert ijt, dariiber fann
man erft reden, wenn fie fich einmal ungebindert mebrere Generationen bindurd nach
ihren inneren Gefegen entwidelt bat, — wenn fie endlidy als ein Geftirn erſcheint,
das fic) um feine eigene Achſe dreht und fein Licht von der gemeinfamen Gonne
empfängt.
* *
Gleichflang gibt feine Harmonic. Es fann in der großen Symphonie der Sufunft
nicht Aufgabe des Weibes fein, diefelbe Stimme yu fingen wie der Mann. Nur dann
kann fie die Kultur fordern belfen, wenn fie es wagt, einmal bell und klingend ibre
cigene Stimme hören ju laffen, von der man erſt vereinjelte Tine vernommen fat.
Ja, wären nicht die grofen Dichter, die immer cin Doppeltes Geſchlecht haben, fo
hatte faum je ein Laut die dichte Atmoſphäre, in der die Seele des Weibes lebt,
burchdrungen. Denn wie die Frau vom öffentlichen Leben ausgeſchloſſen war, fo
durfte fie auch am häuslichen Herde nicht fie felber ſein: ſie mußte ſich vor dem
Manne ſcheuen, der ibre Seele ein fiir allemale in bejtimmte, von ibm gefchaffene
Formen gegoſſen jehen wollte, und nod zehnmal mehr vor ibrem eigenen Geſchlecht,
das fid) in feiner Maſſe fo gern yum Poliseidiener der Konvention bergibt. Dene
Grofen haben es der Welt verraten wie der Seber Tirefias, was in den Stunden, da
jie Weib waren, mit ihnen vorgegangen ijt. WAber auch fie fonnten nur unfer Fühlen
abnend verdolmetſchen, unfer geijtiges Ich, wer hat es je vertreten? Und wir jelber,
vertrauen wir ibm zur Stunde ſchon genug, wm damit, nicht beffere, aber andre
Dinge aus der Natur berauszubolen als der Mann?
* *
*
Was iſt es, wodurch wir uns, im Durchſchnitt, vom Manne zu unſern Gunſten
unterſcheiden? „Der Inſtinkt“, fo pflegte er bisher mit mißverſtandener Herablaſſung
gu ſagen, wie man etwa dem Tiere dic Überlegenheit des Inſtinktes zugeſteht. Aber
wir Diirfen uns das Rompliment gefallen laſſen. Es ijt eine hohe Cache um den
menſchlichen Inſtinkt. Was fic) dabhinter birgt, ift eine ſtarke pſychologiſche Anlage,
bie, wo fie ihrer felbft nicht bewupt wird, triebartig wirkt. Dice Gabe, bisher nur
auf perfinliche Dinge angewandt, bat freilich unfer Gefeblecht in den verdienten Ruf
der Eleinlichen Berechnung und Ränkeſpinnerei gebradt, in höherem Sinne und in
weiterer Sphäre wirkend würde fie yur Wohltat fiir die Menfebbeit werden. Denn
Pſychologie ijt e8, was dem verorrenen Weltgetriebe vor allem not tut, fie müßte
die Begleiterin des abſtrakten Rechtfinns werden, fie müßte mit ibrer Fadel in alles
Erziehungsweſen leuchten, fie müßte überall, wo Menſchen jujammenwirfen, der
firengen Cachlichfeit die Aufſicht führen belfen.
Niet als ob alle Frauen cine pſychologiſche Anlage hätten und als ob
allen Mannern dieſe Cigenfebaft mangelte. Es gibt Wanner, die fie im allerhöchſten
Grade befigen — fonjt gäbe es ja feine Dichter. Allein die Dichter find auch niemals
die Reprafentanten einer ausgeprigten cinfeitiqen Männlichkeit. Es gibt bervorragende
Rom Weibe. 3
Frauen, denen fie gänzlich feblt, aber eben an ibnen Fann man die Probe auf den
Sak machen, denn es pilegen gerade diejenigen Frauen zu fein, die überhaupt in ibrer
Handlungs:, ibrer Denk: und Sprechiveife etwas Abjtraftes, Pringipielles haben und
dadurch ſich dem Wefen des Mannes annähern. Den Sinn fiir die beimlichjten Ur—
jpriinge des menſchlichen Handelns wird man jedenfalls ald ein typiſches Merfmal der
weiblicen Natur gelten laſſen müſſen.
= *
*
Dann wird die Frau fret und geachtet fein, wenn man von der bedeutenden
Leiftung cines Weihes nicht mehr fagen wird, daß es cine männliche Leijtung fei.
Wie, jum Lohn dafiir, dap fie cud) entzückt und gehoben oder gefördert hat, wollt ibr
jie ibres Geſchlechts berauben und erklärt fie fiir cin Berfeben der Natur? Es Fann
nichts Gedanfenloferes geben. Die wabhrbhaft originale Leiftung eines Weibes wird aud
allemal eine weibliche Leiſtung fein.
Wenn das taftlofe Kompliment aus Mannermunde fommt, fo ift ¢3 nur als
woblgemeinte Unſchicklichkeit anzuſehen. Dag aber der Chor der Frauen es nachbetet,
ftatt dic Perſönlichkeit, an die es gerichtet ijt, nach ibven innerſten Merkmalen fiir fic
yu reflamicren, ijt cine Selbjtentwiirdigung, es beift mit andern Worten: Was fann
aus unjerm Armenviertel Gutes tommen!
— *
*
Wenn die ungeheuren Anforderungen der modernen Ziviliſation den Mann
immer mehr zum Fachmenſchen platt drücken und ihm die Zeit zur humaniſtiſchen Aus—
rundung beſchränken, ſo muß es Sache der Frau werden, der Menſchheit ihre höchſten
Erbgüter zu bewahren. Nach dieſem Ziele hat die unaufhaltſam gewordene Frauen—
bewegung, die zunächſt nur praktiſche Swede verfolgen fonnte, allmählich umzulenken.
Denn wenn es ſich bei all dem Kraftaufwand immer nur um die Förderung und
ökonomiſche Sicherung alleinſtehender weiblicher Weſen, alſo um den Ausnahmefall,
handeln ſollte, ſo wäre der Preis zu klein für ſo viel Mühe. Ein viel höheres Ziel
muß geſetzt, ein allgemeinerer und viel zwingenderer Notſtand muß gehoben werden:
wir brauchen eine ſtärkere, adligere, eine kultiviertere Mutter für die künftigen Geſchlechter
als die Durchſchnittsfrau von heute.
Bis vor kurzem hießen die höchſten Tugenden der deutſchen Frau Unterwerfung
und Entſagung. Die deutſche Nation in ihrer langen wirtſchaftlichen Miſoͤre brauchte
jenen Typus des weiblichen Laſttiers (der nun ſchon der Vergangenheit anzugehören
beginnt) und deshalb züchtete fie ihn, indem fie ibn mit unbewußter Abſicht zum Ideal
erhob. Kein andres modernes Kulturvolk hat ein ſo niedriges, nur auf Unterdrückung
der Perſönlichkeit beruhendes Frauenideal geſchaffen wie das deutſche. Man denke nur
an Shakeſpeares Frauencharaktere oder an die weiblichen Lieblingsgeſtalten der
italienifcben Nenaiffance. Aber auch der Deutſche fannte diefes Ddeal der negativen
Frauentugenden erjt, ſeitdem er e3 brauchte. Die deutfche Cdeldame des Mittelalters
war fogar gqebildeter als ber Edelmann, und man fand dics nicht unweiblich, fondern
ganz natürlich: fie batte ja mebr Seit zum Lefen und jum Verkehr mit den wandernden
Sängern als ibr beſtändig in Raufhändel verivicelter Cheberr. Crit die tiefe, Dauernde
Verarmung der Nation mit dem Niedergang alles defjen, was das Leben ſchmückt,
erzeugte jenen Frauentypus, deſſen höchſtes Streben auf Selbjtentiuferung gerichtet
1*
4 Rom Weibe.
war. Sonft pflegen in Zeiten vaterlindifder Not die Frauen iby Geſchmeide darzu—
bringen. Die deutſche Frau hat viel, viel mehr geopfert: die Grazie, die Eleganz,
Die Bildung, die geſellſchaftlichen Reize und Talente, und nod andres mebr, das fonft
allerwärts der Frauen Erbteil ijt. So wurde fie die ungraziöſe, pedantifdre, fleinlice,
aber niipliche deutſche Hausfrau, deren Mangel an Form ſich beim Sohn aufs Geiftige
iibertrug, fo daß Formlofigkeit vom deutſchen Geifte unzertrennlich geworden ſchien.
Nod mebr, fie opferte fogar ibr Gefdlecht: in den Familien, wo die Mittel nur zur
Ausftattung der Söhne reichten, da wurde fie, obne zu rebellieren, die cinjame,
lächerlich gemachte, von aller Welt herumgeſtoßene ,,alte Jungfer“. Wan finnte
ſagen: mit dem gemeinfjamen Sparpfenniq der ,,quten Oausfrau” und der „alten
Sungfer” ift der große deutſche Gelebrtentypus erzogen worden. Freilich hat diefes
Opfer der Frauen Deutſchland in feiner ſchlimmſten Zeit über Wafer gebalten und
ihm feinen boben geijtigen Rang unter den Nationen bewabhrt. Die Tränen aber und
die Schweißtropfen, die darum vergoffen wurden, bat niemand gezählt. Niemand
fragt, wieviel blithende, geſunde Geftalten verkümmert und yur Unfruchtbarkeit verdammt,
in Den Winkel geiworfen wurden, um Stubenhoder groß ju ziehen, aus denen dann in
taujend Fallen einmal eine Leuchte der Wiſſenſchaft hervorging.
Heute fteht eS anders. Die negativen Frauentugenden find aud in Deutſchland
iiberfliifjig geworden, ſeitdem die Nation fid) regen fann. Die deutſche Frau möge
nun den abgelegten Schmud wieder bervorjuden, um würdig unter ibren Schweſtern
zu erſcheinen. Uber fie hat noch mehr gu tun als das. Wenn der mäunnliche Geiſt,
dank der Spezialifierung aller Wiſſenſchaft einmal der Doppelaufgabe nicht mehr ge:
wachſen fein wird, die neuen wiſſenſchaftlichen Ernten einzuheimſen und die vollen
Scheunen des Altertums yu bewabren, dann muff} die gebildete Frau an feine Seite
treten und die Liide filllen. Früher ſchuf er die geijtige Atmoſphäre, und die Frau
hatte int giinftiqiten Fall als Geniefende daran Teil. Es diirfte eine Zeit fommen,
wo er ibe gerade auf dieſem Punt als Empfangender gegeniiberiteben wird. Cr
nehme ihr nur den Kampf ums Dafein, der ihr auf die Linge doch yu bart fein dürfte,
wieder ab, dafür wird fie ihm Hiiterin dev geiſtigen Schätze werden, wie fie es bisher
nur Dev materiellen gewefen iſt. Zweifelt nicht, daß fie fich trefflich zu dieſem Amte
eignen wird. Ihr Geijt ijt nocd jugendlich, unverbraucht, nicht durch tauſendjährigen
Drill verdorben, ja und ich wage mir cingubilden, dag er überhaupt bei feiner größeren
Beweglichkeit nicht fo leicht yu verderben ijt. JedenfallS wird er auf lange Beit im
ftande fein, ſich felbft gegen ein verfebrtes Schulſyſtem ju balten, bis dann endlich
unter feiner Mitwirkung auch dieſes verkehrte Syſtem gebroden wird,
Rein Sweifel, die Herfulesarbeiten der Sufunft werden wie die Der Vergangenheit
vom männlichen Geſchlecht verrictet werden. Der Frau liegt es ob, den würdigen
Rulturbintergrund fiir die Taten der künftigen Heroen ju febaffen, damit die Menſchheit
nicht trotz ibrer Gottibnlichfeit in die Barbarei yuriidfalle. Ctwas ähnliches fühlen
ſchon die Amerikaner von heute, die es richtig finden, daß thre Frauen fich cine feinere
Bildung aneignen, als ihnen ſelbſt die Geſchäfte gejtatten. Nur dah diefe Bildung,
weil fie zumeiſt aus literariſchen Modeerzeugniſſen beftebt, der Nation aud bloß
äußerlich zu gute fommt. Die tief fprudeluden Quellen einer klaſſiſchen Bildung allein
haben die innere lebenwirkende Kraft. Diefe Bildung muß vont häuslichen Herde
ausgeben, denn bei Bilderbuch, Lied und Märchen liegt der Anfang aller Kultur,
Hitter und Herven jind zu Spielfameraden der Kindheit eben gut genug. Dann mag
Bom Weibe 5
man immerhin dent Yingling die Seit fiir die klaſſiſchen Studien befebranfen, die
Mutter bat ibm den Wey nad Rom und Hellas abgefiirzt, und follte ibm je im
ftrengen Dienſte erafter Wiſſenſchaften cin Teil der ererbten Schätze verloren geben,
fo muß er fic fpater an feinem eigenen Herde wiederfinden.
Vielleteht wird Männerſtolz und -Voreingenvmmenbeit ungern cine fo große Macht
in Die Hande der Frauen übergehen feben. Die einen werden fürchten, daß die Fran
Herrſchaftsgelüſte bekomme, dic andern, dah die häusliche Bequemlichfeit darunter
leide. Unbejorgt, ibr Kleingläubigen. Der Geift ijt überall cin gar brauchbares Ding,
und felbjt fiir die Eleinite häusliche Verrichtung gut. Und was das andre betrifft:
fo lange es Wanner gibt, war es iby Yos, von Frauen unterjocbt yu fein. Schon
die Sprade plaudert Diefes Geheimnis aus. Die niedrigite Maitreſſe ijt cine „Ge—
bieterin”. Iſt es nicht beffer, cine kluge Freundin als eine ſtumpfſinnige Gebieterin
haben?
Areilid es bat nocd gute Wege, bevor die Frau dieſe Hobe erjteigt. Was fic
heute unter dem Titel ded ,, Modernen Weibes” ſpreizt, jene ſeltſame Miſchung von
Prätenſion und Unzulänglichkeit, die auf wirflides Können nod nicht cingerichtet
ijt und das Cpferbringen verlernt hat, das ijt cine unreif gefaulte Frucht am Baum
iJ
der Sivilifation. A —
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Nietzſche ruft Webe fiber das Weib, das fich vor dem Manne nicht mebr fürchtet.
Aber wo find denn die Männer, vor denen das Weib ſich heutzutage fürchten kann?
Tas männliche Jdeal ift dem Weibe zerſtört, jeitdem das Seitalter nur Spezialiſten
auf jedem Gebicte berangicht und Reuraithenifer die gropen Wortfiibrer find. Sein
Dämoniſches it vom Manne gewichen, und damit bat alles „Fürchten“ cin Ende.
Keine Unabbangigfeit des Weibes fann dem Manne den Sauber nefinen, den er auf
fie ausitht, wenn er ſich nicht felber fein beqibt. Laßt nur einmal cin neues jtarfes
Geſchlecht von männlichen Mannern kommen, und alle Wusartungen der Frauenbewegung
werden in ſich zuſammenſinken wie cin Luftkiſſen, dem fein Inhalt entitrdmt.
Das Fürchten aber wird ein gegenſeitiges fein, wenn die beiden fic) in Zukunft
finden und jedes vor Dem ihm unbefannten Dimon des andern erjdridt. Denn was
fann dem Weibe überraſchenderes und größeres begequen, als cin Mann, der diejen
Namen verdient, was fann dem Manne fremdartiger und bejaubernder kommen als
das ftarfe, jeiner eigenen Natur bewufte Weib? Wo die zwei ſich begeqnen, da werden
jie ſich ſo übermächtig anziehen und doc aud) durch ibre innere Verſchiedenheit weit
genug abſtoßen, dah fle gezwungen find, in Ewigkeit als cit Doppelgeſtirn cing ums
andre zu ſchwingen. Oder fle werden mit ſolchem Prall zuſammenſtoßen, daß beide
Teile unter einem Feuerregen in Stücke geben.
Aber am meijten dabei gewinnen ivird die Poefie, die wieder cinmal große
Leidenſchaften zu befingen haben wird wie in jenen Tagen der Vergangenbeit, wo
Mann und Weib cinander die Wage bielten.
* *
*
Die italieniſche Renaiſſance, die mit ihrer gewaltigen Bejahung der Perſönlichkeit
auch dem Weibe die pofitiven Eigenſchaften abforderte, ſtellte neben ihre grandioſen
Männergeſtalten fort und fort ebenbürtige herrliche Frauen, die teils ſichtbar, teils
unſichtbar in das Ringen der Zeit eingriffen. Riemand nannte dieſe Frauen unweiblich,
6 Die Arbeitszeit der Fabrifarbeiterinnen iiber 16 Jahre.
denn es war ja gerade die Entfaltung ihrer weiblichen Natur, die jie beredtigte, neben
die Männer gu treten, wie fieqverleibende Göttinnen neben ibre Heroen, Alle Leiden:
fcaften wurden aufs höchſte gefpannt und entluden fic) in großen Werfen, in grofen
Taten und eben folchen Verbrechen. Mus der Anndberung der beiden Gefdbledter in
diefer gefpannten Atmoſphäre erwuchs cine Menfehenfaat, in der die grofen Genien
wie Halme aufſchoſſen. Kein Wunder, dah ibre Bahl unendlich wurde, als follte ein
neues Titanengefdlecht fich iiber die Erde verbreiten, bis die anflutendDe Barbarei dem
Treiben und Sprojjen ein Ende machte. Sobald min das ftiller werdende Leben das
Weib auf feine negativen Cigenfdaften zurück verwies und darum aud) fie aufhirte,
dem Manne fein Außerſtes im Guten und Böſen abjuloden, wurde neben dem
allgemeinen Rückgang der Nation auch der Genius wieder cin feltener Gajt auf Erden.
Und von nun an fant mit dem finfenden Rulturniveanu des Landes auch das italieniſche
Frauenideal und ſank immer tiefer bis auf cin faft orientaliſches Niveau berab, das
fic) erſt in unfern Tagen, jest aber mit reifender Schnelligheit, wieder ju heben beginnt.
* *
*
Jede begabte Frau ſollte ihrem Geſchlecht cine Wohltat hinterlaſſen wie Fiiriten
an armen Orten, wo ſie verweilt haben.
Vie Apbeitszeit der Pabrikarbeiferinnen aber 16 Jahre.
Mon
Dr. Elifabeth Jaffe-Richthofen.
Nadbrud verboten. —— ee
nter allen Beſtrebungen, die Lage Der Arbeiter zu heben, ſtehen die, welche auf
J eine Verkürzung der Arbeitszeit hinzielen, an vorderſter Stelle. Vorbedingung
—2— für die Entfaltung geiſtiger und ſittlicher Kräfte iſt, daß der Menſch nicht bis
zur Erſchöpfung tagaus, tagein in den Dienſt einer Arbeit geſtellt werde, die noch dazu
immer nur beſtimmte Funktionen, nie ſein ganzes Weſen in Anſpruch nimmt. Die
unausgeſetzte Anſpannung des Nervenſyſtems nach einer Richtung hin bringt oft, wenn
endlich für ein paar Stunden die Freiheit gekommen iſt, das Bedürfnis nach ſtarken
Reizmitteln mit ſich, um der drohenden Erſchlaffung abzuhelfen; manchmal tritt auch
ſtatt deſſen cin völliges Sichgehenlaſſen ein, das je nad) dem vorhandenen Kraft—
quantum ſich in ſtumpfer Mattigkeit oder einem Mbermut äußert, der in Roheit über—
gehen kann. Die Ruhezeiten können alſo nur dann ihren vollen Wert behalten, wenn
die vorhergehenden Arbeitsſtunden nicht zu lang waren. Es iſt eine bezeichnende
Tatſache, dak in den Schichten der Arbeiterſchaft, die am ſchwerſten unter übermäßigen
Arbeitszeiten leiden, erfolgreiche Verſuche, ein höheres Kulturniveau ju erreichen, am
wenigſten zu beobachten find. (Ocimarbeiter!) Aber gerade fiir unſere Beit, die mit
der Erteilung des allgemeinen Wahlrechtes jedem erwachſenen Mann wenigitens die
Mitentſcheidung über das Wohl der Gefamtheit anbeimftellt, folgert daraus die Not:
— *2*
Die Arbeitszeit der Fabrifarbeiterinnen über 16 Yabre. 7
wendigkeit, alle Klaſſen des Volkes in cine Lage yu feven, die es ermöglicht, über dic
zunächſt liegende dringende Sorge für die Bedtirfniffe des engiten täglichen Lebens
den Bic binaus zu richten, um fo auch die Reife fiir die Obliegenheiten als Staata-
bitrger zu erbalten.
Wenn ſchon aus dieſen Erwägungen heraus die Berechtigung ftaatlicher Cingriffe
bet überlanger Urbeitsscit der Männer abjuleiten iſt und ſolche auch ftattgefunden
baben, wo die Selbjthilfe zu ſchwach war, — 3. B. tm Müller- und Bäckergewerbe, bei
den Angejftellten der offenen Berfaufsftellen, — fo fommen noch ganz andere Fragen
in Betracht, wo es etch am die Arbeiterinnen handelt. Bon den Frauen, den
Miittern und Erzieherinnen des fommenden Geſchlechtes, hängt in erfter Linie die
geiſtige und körperliche Gefundbeit des ganzen Volkes ab. Das Intereſſe der Gefell-
ſchaft fordert alfo in ganz beſonderem Maße, daß ibre Lebensbedingungen ndtigenfalls
durch den Staat geregelt werden. Und zwar wird die Notwendigkeit eines ſtarken
ſtaatlichen Schutzes um ſo einleuchtender, je mehr es ſich herausſtellt, daß die Maſſe
der Frauen vorerſt unfähig iſt, ſich ſelbſt zu helfen. Die Organiſationen der Arbeiter
bedeuten heute eine Macht; — die Mehrzahl der Arbeiterinnen wird wohl auf
abſehbare Zeit durch die Doppellaſt ihrer Pflichten im Beruf und in der Familie in
jenen „fünften Stand“ hinabgedrückt, der aus ſich heraus den Weg zu beſſeren
Zuſtänden nicht finden kann.
So haben denn ſchon ſeit längerer Zeit die ſtaatlichen Vorſchriften ſpeziell zum
Schutz der weiblichen Arbeiterſchaft eingeſetzt, zuerſt bekanntlich in England, wo ſchon
1847 der Zehnſtundentag in der Textilinduſtrie eingeführt wurde. In Deutſchland
war man noch 1869 bei der Beratung der Gewerbeordnung für den norddeutſchen
Bund völlig befangen in den Doktrinen eines extremen Liberalismus. Man hätte es
für gefährlich gehalten, die privatrechtliche Natur des Arbeitsvertrages irgendwie
anzutaſten; ſelbſt ein Antrag auf Wöchnerinnenſchutz mußte damit entſchuldigt werden,
daß er ja nur dem hilfloſen Kinde zu gute kommen ſolle.
Seitdem haben ſich freilich die Anſchauungen weſentlich geändert: der Arbeits—
vertrag rückt immer mehr in die Sphäre des öffentlichen Rechtes; d. h. die prinzipiell
freie Übereinkunft zwiſchen Arbeitnehmer und Arbeitgeber iſt durch zwingende geſetz—
liche Beſtimmungen fo eingeſchränkt, daß die dem einen Kontrahenten vertragsmäßig
zuſtehende Verfügung über die Arbeitskraft des andern durchaus nicht mehr unbegrenzt
iit und daß UÜbertretungen dieſer Vorſchriften ohne Privatklage anf behördlichem Wege
dem Gericht zur Kenntnis gebracht werden. Beſonders der jugendlichen und weib—
lichen Arbeiter hat ſich das Geſetz angenommen und für fle einen Maximalarbeitstag
eingeführt. Seit 1891 dürfen Arbeiterinnen täglich nicht über 11, an Sonnabenden
und Vorfeiertagen nicht über 10 Stunden beſchäftigt werden. Es muß ihnen ferner
cine einſtündige und den verheirateten auf Wunſch eine anderthalbſtündige Mittags—
pauſe gewährt werden. Allerdings werden dieſe Beſtimmungen durchbrochen durch die
Möglichkeit, in beſtimmten Fällen Überarbeit zu machen und zwar bis zu 2 Stunden
an 40 Tagen im Jahr. Stellt fic) bei Saiſoninduſtrien das Bedürfnis nach mehr
Uberarbeit beraus, fo muß die Arbeitsscit im ganzen Jahr jo geregelt werden, dap
der Durchſchnitt pro Arbeitstag 11 Stunden nicht überſteigt. Im Intereſſe unferer
Induſtrie ijt cine gewiſſe Elaſtizität dev geſetzlichen Vorjebrijten nötig; cine 13ſtündige
Arbeitszeit iſt — auch wenn fie durch eine 85—9ſtündige zu andern Zeiten „aus—
geglichen“ wird — anerkanntermaßen ju viel. Aber auch den regulären Elfſtundentag
8 Die Arbeitszeit der Fabrifarbeiterinnen fiber 16 Sabre.
haben cinfichtige Sozialpolitiker, wie der frühere badiſche Fabrifinjpeftor Woerishoffer,
ſchon bei feiner Cinfiibrung nur als Stufe ju weiteren Einſchränkungen betrachtet.
Der 11ſtündige Arbeitstag ſcheint, verglicen mit der Jnanfpruchnabme der
Dienftboten, Bauerinnen und ungezablter Hausfrauen bis in den gebildeten Mittelſtand
hinauf, an und für fic) nicht cinmal übermäßig fang. Dabei ijt aber yu bedenfen,
dah einmal tro der wachſenden Bahl von „Muſterfabriken“, trog aller hygieniſchen
und techniſchen Fortſchritte, tro® der ftrengen Uberwachung durch die ftaatliche Gewerbe-
aufſicht die Arbeiterin fait in jeder qroferen Induſtrie gewiſſen geſundheitlichen Gefabren
ausgeſetzt iit; Staub, ungünſtige Liiftungs- und Temperaturverhältniſſe, Crichiitterungen
und Maſchinenlärm find oft genug durch den Arbeitsprozeß unvermeidlich bedingt und
wirfen um fo leichter, als fie Taq fiir Tag unmerklich ihre Wirfung fortſeßen; und
wo died nicht der Fall it, bleibt doch als zweites die größte Schattenſeite der Fabrik—
arbeit bejteben: die Einſeitigkeit, die fortgeſetzte Anſpannung nad derjelben Richtung, die
ftundenlang unverinderte Rirperbaltung. Dadurd werden natiirlich drtliche Reaftionen
der iibeanjtrengten oder in ihren Funktionen gehemmten Organe bervorgerufen 3. B.
die jablreichen, durch das beſtändige Cigen bervorgerufenen Beſchwerden — oder es
treten allgemeine nervöſe Stirungen auf.
Mit diefen fSrperlichen Schädigungen gehen die geijtigen Hand in Hand: Feder
Verantwortung und Selbjtindigfeit enthoben, zur Maſchine herabgeſunken — wie
fann da die Arbeiterin nod viel vom fittlichen Wert der Arbeit fiiblen? Man ftetle
fic) nur cinmal ihr Dajein vor: Tag fiir Tag an derfelben Stelle figend, dasſelbe
graue Stiid Wand vor fich, wiederbolt fie mechaniſch und dod) zur angefpannten Auf—
merkſamkeit genötigt, unermiidlich viele taujend Mal denfelben Handgriff! Das ijt
iby Tagewerk! Cie bedarf wabrlich, mebr als alle andern arbeitenden Frauen, ciniger
Stunden, in denen fie fic) ibres Menſchentums bewuft werden fann.
* *
*
Bisher haben wir von der Arbeiterin im allgemeinen geſprochen, ohne die
Situation der verheirateten beſonders zu beachten. Für ſie fällt der Umſtand doppelt
ins. Gewicht, dah de Zeit, die fie nicht yu Hauſe zubringen kann, durch Wege und
eventuelle PBaufen auf 12—13 Stunden verlangert wird; der Geiverbeauffichtsbeamte
von Potsdant fithrt 3. B. an, daf in feinem Bezirk jablreiche Frauen täglich 14 Stunden
vor zu Hauje abiwefend find! — Diefe Tatjacsen fprechen fiir fich; ihre Folgen fiir
das Hausweſen und die Kindererziehung find oft genug erortert worden; an Bedeutung
gewinnen fie mit Der Zunahme der verheirateten Fabrifarbeiterinnen, die in den meiften
Induſtriebezirken jegt etwa '/, der Sabl der erwachſenen UArbeiterinnen überhaupt aus—
maden. — Man hat daber ſchon feit Jabren dev ebeweiblichen Fabrifarbeit in fosial-
politiſchen Rreifen erhöhte Aufmerkſamkeit gewidmet und fie durch das Geſetz zu
beſchränken, zum Teil ſogar zu verbieten gewünſcht. Hier mögen neben rein humanitären
aud andere Motive mitgeſprochen haben: traditionelle Vorſtellungen von dent ans
Haus gebundenen, natürlichen Wirkungstreis der Frau u. a.m. Jedenfalls waren
die Cinfliifje, die im Zentrum ibre wirkſamſte politiſche Vertretung fanden, ſtark genug,
um das ReichSamt des Innern yu veranlafjen, die Geiverbeaufjichtsbeamten für 1899
mit einer Bericterftattung über die Fabrifarbeit der verbeivateten Arbeiterinnen yu
beauftragen. Das Refultat war vorherzuſehen geweſen: 1. die großen Nachteile der
auferbiusticben Beſchäftigung der EChefrauen, Witwen, Verlaffenen und Geſchiedenen
Die Arbeitszeit der Fabrifarbeiterinnen über 16 Jahre. 9
liegen hauptſächlich auf wirtſchaftlichem und ſittlichem Gebiet. 2. Die Fabrifarbeit dev
verbeivateten Frauen ijt meijtens verurſacht durch die Notwendigkeit, die Einnahmen
der Familie zu vergrifern, fei es, weil der Mann fiir die Erbaltung einer normalen
Familie nicht genug verdient, fei es, weil der Ernährer überhaupt feblt. Daraus folgt
weiter, Daf „an einen allgemeinen Ausſchluß der verbeirateteten Frauen von der Fabrik:
titiqfcit nicht gedacht werden fain. Wo cine ſolche Beſchäftigung wirtſchaftlich nicht
nötig ijt, wird fle jetzt ſchon gemieden. Wo fie aber durch die wirtſchaftliche Lage der
Arbeiterfamilie gqeboten ijt, könnte fie nicht ohne tiefgehende Erfchiitterung diefer Lage
unterjagt werden!) Auch cine Beſchränkung der Arbeitszeit nur fiir verbeiratete
Arauen war nicht zu empfeblen, ware fie einem völligen Arbeitsverbot in ibver
Wirkung doch fajt qleichgefommen. Dagegen wiejen damals febon viele Berichterjtatter
darauf bin, daß cine ſolche Beſchränkung fiir alle, alſo auch die ledigen Arbeiterinnen
zweckdienlich ſei. Cin groper Teil der letzteren ftebe ja noc im Entiwidelungsalter,
— die Gewerbeordnung betrachtet allerdings 16 jabrige Mädchen als „Erwachſene“ —
fiir das cine 11ſtündige tägliche Arbeitszeit ohne weiteres zu viel fei; auch werde
allein cine Herabſetzung der Arbeitszeit den Mädchen ermöglichen, ſich mehr als bisher
im Hauſe zu beſchäftigen.
So hat ſich das Thema geändert, und jetzt iſt die Verkürzung des Normal—
arbeitstages für alle Arbeiterinnen in den Vordergrund des Intereſſes gerückt. In
der letztjährigen Generalverſammlung der Geſellſchaft fiir ſoziale Reform zu Cöln
bildete die Frage den Hauptpunkt der Tagesordnung. Freilich, das Ideal des
Achtſtundentages ſtand und ſteht noc nicht zur Diskuſſion —, zwangsweiſe Herab-
ſetzungen der Arbeitszeit können ohne ſchwere Schädigung der Induſtrie immer nur
vorſichtig, ſchrittweiſe geſchehen und auch dann nur, wenn die freie Entwickelung ſchon
der Geſetzgebung teilweiſe vorausgeeilt iſt. Zunächſt war demnach der 10ſtündige
Arbeitstag ins Auge zu faſſen; ſeine Einführung wurde in Cöln von Theoretikern
und Praktikern lebhaft befürwortet.
Nachdem die Regierung durch die Erhebungen von 1899 ihrerſeits die Not—
wendigkeit einer anderweitigen Regelung der Frauenarbeit zugegeben und deren Reſultat
dieſe Notwendigkeit beſtätigt hatte, mußte auch ſie einen weiteren Vorſtoß unternehmen.
Cine erneute Enquète wurde im Jahre 1902 angeordnet. Es mag dahingeſtellt
bleiben, ob ſie nach dem reichen, bereits vorliegenden Material in dem Umfang nötig
war. Feſtgeſtellt ſollte durch dieſelbe werden: 1. die tatſächliche tägliche Arbeitszeit
mit beſonderer Berückſichtigung der Sonnabende und der Vorfeiertage, außerdem die
vänge der Mittagspauſen; 2. ſollte die Zweckmäßigkeit und Durchführbarkeit einer
Verkürzung der Arbeitszeit durch Herabſetzung auf 10 Stunden täglich, durch Ein—
führung einer obligatoriſchen anderthalbſtündigen Mittagspauſe und durch die Früher—
legung des Schluſſes an den Samstagen erörtert werden. Die Antwort auf dieſe
Fragen liegt nun vor; die kleineren Bundesſtaaten haben ſie den Jahresberichten der
Gewerbeaufſichtsbeamten als Anhang beigefügt, fiir Preußen find fie in einem ge—
fonderten Band erſchienen.?)
* *
*
) Siehe Jahresbericht der badiſchen Fabrikinſpeltion für 1899, Karlsruhe. Seite 93.
Arbeitszeit ber Arbeiterinnen über 16 Jahre in Fabriken und dieſen gleichgeſtellten Anlagen
nad ben Erhebungen der Königlich preufifden Gewerbeaufſichtsbeamten und Bergbehörden im Jahre 1902,
Berlin 1903,
10 Die Arbeitsseit der Fabrifarbciterinnen iiber 16 Jahre.
Von befonderer Wichtigkeit find in diefen Verdffentlichungen die Angaben über
die tatſächliche Dauer der Arbeitszcit, aus dem oben genannten Grunde. Seit Jahren
jind zahlreiche Betriche unter die geſetzlich geſtattete Stundenzahl berabgegangen, weil
ſich erwieſen hat, daß bei verkürzter Arbeitszeit durch vergrößerte WArbeitsintenfitat
cin etwaiger Ausfall an Leiſtungen eingeholt, außerdem an Betriebskoſten (Kraft,
Licht, Heizung) geſpart wird. Qn Preußen haben ſchon jest von zirka 395 000
Arbeiterinnen 250 000 eine Arbeitszeit von 10 Stunden und weniger. Nur 38 Prozent
arbeiteten länger als 10 Stunden, in Berlin-Charlottenburg nur zirka 5 Prozent der
630 264 Beſchäftigten; die durchſchnittliche Arbeitszeit beträgt dort 9'/. Stunden.
Der badiſche Bericht gibt an, daß fiir mindeſtens 55 Prozent aller Arbeiterinnen
Die Arbeitszeit 10 Stunden nicht überſchreite, ähnliches gilt fiir Württemberg. Da—
gegen wird an Sonnabenden im allgemeinen, der Vorſchrift entiyredend, um 9,6
geſchloſſen. Die anderthalbftiindige Mittagspaufe, die das Geſetz den verbeirateten
Frauen ſchon jest gewährt wiſſen will — fie wird freilicy oft nicht gefordert, weil
das unliebſame Folgen haben finnte — ijt in Preußen auch fitr ther 50 Proxent
dev Arbeiterinnen eingefiibrt; in febr vielen Fabrifen ijt dies aber nur eine Ausnahme—
einrichtung fiir diejenigen, die cin Hausweſen ju führen haben, obne dak der Betrieh
fonjt davon berührt würde.
(ber die Zweckmäßigkeit der geſetzlichen Cinfiibrung des jest ſchon zum
grofen Teil beftehenden Zebnftundentages find die Berichterſtatter — wie nicht anders
zu erwarten — ziemlich einer Meinung. Oft ijt die UÜUbereinſtimmung, mit der auf
die gejundbeitlicen, wirtfchaftlicben und fittlichen Wirfungen ciner ſolchen Maßregel
hingewiefen wird, faft wörtlich. Der Cilner Bericht ſpricht von einer „Notwendigkeit“
(Seite 287 a. a, O.), der Wiirttemberger (IT. Bezirk) ,bejaht die Frage unbedingt”.
Der Beamte fiir Erfurt fagt (Seite 150 und 151), Fabvrifarbeiterinnen welften im
allgemeinen ſchneller dahin als andere Frauen und” Mädchen, als Gattin und Mutter
gingen fie, wenn fie nicht febr kräftig feien, einem allmählichen körperlichen Verfall
entgegen, Die Herabſetzung der Arbeitsyeit wiirde ihr Los erleichtern. — Im Bericht
fiir den Bezirk III Wiirttemberg heift es Ceite 209: „Eine Kürzung der Arbeitszeit
erſcheint auch vom geiftig-fittlichen Standpunft aus notivendig. In weiten Schichten
der Arbeiterſchaft hat ſich in den letzten Jahren ein ſtarkes Bildungsbedürfnis geltend
gemacht, das Befriedigung verlangt. Ebenſo iſt das Verlangen nach Familienleben
erſtarkt. Kommt die Frau früh nach Hauſe, dann hat ſie noch Luſt und Kraft zur
Arbeit. Bet ſpätem Nachhauſekommen hält fie es nicht mehr der Mühe wert, anzu—
fangen, kurz, die Haushaltung und bei Ledigen die Kleider kommen herunter, vieles
wird weggeworfen, dafür vielleicht Geringwertiges mit teurem Geld wieder
angeſchafft.“ —
Von beſonderem Intereſſe ſind die Anſichten der Arbeiterinnen ſelbſt. Es fehlt
unter ihnen nicht an ſolchen, denen eine Verkürzung der erſchöpfenden Fabrikarbeit
ohne weiteres als wünſchenswert erſchien; im allgemeinen aber werden ſie, wo ſie
einzeln befragt wurden und nicht nur durch die Vermittelung der ſozialpolitiſch weiter—
blickenden Organiſationen zu Worte kamen, von dem einen Geſichtspunkt des eventuell
drohenden Verdienſtausfalles aus geantwortet haben (Württemberger Bericht Seite 209).
„So kurzſichtig das im erſten Augenblick erſcheint, angeſichts der Tatſache, daß die
10 bis 20 Pfennige Mehrverdienſt in den meiſten Fallen weit zurüchſtehen gegenüber
den Opfern an Geſundheit, Kleidern, Ordnung in der Haushaltung und Familie,
Die Arbeitszeit der Fabrifarbeiterinnen iiber 16 Jahre. li
ſoweit ſich das alles iiberhaupt in Geld ausdrücken Lift, fo lernt man es veriteben,
wenn man ficy die Familicnverbaltnifie der YUrbeiterinnen im einjeluen vor Augen
halt” — die nämlich unter dem Dru der Umſtände ſich fo gejtaltet haben, dap der
Sinn fir cin geordnetes Hausweſen und Familienleben fajt yu grunde geben mug.
Auch im badifchen Beridt (Seite 74) wird cin Fall erwähnt, wo cine Mutter von
6 uncrwadjenen Kindern zu Hauſe nicht genug yu tun yu haben glaubte, und daraus
mit Recht die Notwendigkeit gefolgert, dafiir Sorge yu tragen, dap die Frauen thren
naheliegendſten und beiliqiten Bflichten nicht ganz entfremdet werden, —
Ebenſowenig fann cin anderes Argument, das von den Unternehmern häufig
vorgebracht wird, gegen die Zweckmäßigkeit der Verkürzung der Arbeitszeit
fprechen: daß nämlich die jiingeren Arbeiterinnen felbjt lieber eine Stunde linger
arbeiteten als etwa den Eltern nod in Feld” und Haus zu helfen. Es ift mur zu
begreiflich, Daf, wenn erſt cine gewiſſe Abjtumpfung cingetreten ijt, die relativ bequeme
Rabrifarbeit angenebm empfunden wird. Dieſe Arbeiterinnen, denen das Bediirfnis
nach einer Unterbrechung des den Cinerlei ibrer Tage feblt, gleichen meines Erachtens
den vielen Frauen des Mittelftandes, denen auch heute nod dic „Handarbeit“ zur
Ausfüllung ungezählter Stunden geniigt. Es darf eben bei der Behandlung ſolcher
Fragen nie vergeſſen werden, dah erſtrebenswerte Kulturfortfebritte nicht qleidbedeutend
yu fein braucen mit zunehmenden fubjeftiven Wnnehmlichfeitsgefiiblen der Einzelnen.
Neben der Zweckmäßigkeit haben wir nun als zweites nod) die Frage der
Durchführbarkeit zu erdrtern. Hier treten naturgemäß die Unternehmerintereſſen
in den Vordergrund, aber auch, ſoweit es fich um etwa cintretende Lohnausfälle handelt,
die Der einzelnen UArbeiterfamilie. Dabei ijt yu bedenfen, daß im allgemeinen Arbeiter
und UArbeiterinnen desfelben Betriches auch diefelbe Arbeitszcit haben, daß alfo die
Einführung des Zebnjtundentages auch fiir zablreiche Männer bedeutungsvoll fein wird.
Vor allem handelt es ſich darum, inwieweit die wirtſchaftliche Entwidelung der Geſetz—
gebung den Weg gebahnt hat: wie wir wiſſen, arbeiten heute über die Hälfte aller
deutſchen Arbeiterinnen ſchon nicht mehr als 10 Stunden. Alſo, möchte man
argumentieren, wenn dies der Fall iſt, ſo wird wohl der Augenblick zur geſetzlichen,
zwangsweiſen Einführung einer ſchon fo weit verbreiteten Sitte unbedingt gekommen
ſein! Liegt nicht eine Ungerechtigkeit darin, wenn rückſtändigen Arbeitgebern noch
immer erlaubt wird, auf Koſten der Lebenskraft ihrer Arbeiter ſich Vorteile im
Konkurrenzkampf zu verſchaffen? Allerdings — die Situation wird aber durch eines
erſchwert: die längere Arbeitszeit findet ſich hauptſächlich in der Textilinduſtrie, die
ſchon fo wie fo mit Schwierigkeiten su kämpfen bat. Die Außerungen der Fabrikanten,
vor allem die mitgeteilten Gutachten der Intereſſenverbände, Handelskammern u. ſ. w. —
flingen denn auch ſehr peſſimiſtiſch. Manche Fabrifinfpeftoren weiſen aber darauf bin,
bab dieſe Befürchtungen nicht nur fadlich begründet find — natiirlich! Bedeutet
doch jede weitere ſtaatliche Verkürzung der Arbeitszeit cine Beſchrankung der Macht—
befugnis des Unternehmers, die immer unangenehm empfunden wird, auch wo der
Spielraum, den das Geſetz läßt, an und fiir ſich den vorhandenen Bedürfniſſen
genügt. — Auch die Erfahrungen einzelner und gerade der bedeutendſten Induſtriellen
ſtehen im Widerſpruch mit dem Gutachten der Korporationen. Zahlreich find die
Fälle, in denen während der Kriſen der letzten Jahre ſpeziell in Webereien die Arbeits—
zeit eingeſchränkt wurde, ohne daß der erwünſchte Erfolg, eine Produktionsverminderung,
eintrat. So dürfen wir wohl annehmen, daß ebenſowenig wie ſeinerzeit beim Ther:
12 Die Arbeitszeit der Fabrifarbeiterinnen über 16 Jabre.
gang jum Elfſtundentag auch diesmal die Tertilinduftrie nennensivert geſchädigt wird.
Nbergangs: und Ausnabmebeftimmungen, befonders fiir Spinnereien, wo aus technifden
Griinden cine Erhöhung der Arbeitsintenfitat am wenigſten erwartet werden darf,
werden immerhin am Plage fein, damit follten aber auc die letzten Bedenfen
ſchwinden.
Die zweite in Frage kommende Anderung iſt der frühere Schluß an den
Sonnabenden (in England ijt der ganze Sonnabend Nachmittag frei); er iſt haupt—
ſächlich als weitere Verkürzung der Arbeitszeit zu betrachten, wir haben alſo dem
bereits ausgeführten nur nod) weniges hinzuzufügen. Der status quo ijt jedenfalls
der Cinfiibrung cines halben freien Nachmittags vor den Fejttagen nicht febr günſtig,
da, wie febon erwähnt, bis jest im allgemeinen die geſetzlich gewährte Frift voll aus:
qenugt wurde. Wuferdem ware es fiir den Unternebmer unvationell, nach der Mittags-
pauſe fiir nur etwa 3 Stunden den ganjen Betrieb nod cinmal in Gang qu fegen; doch
finnte dieſer Schwierigkeit durch Cinfiibrung der fogenannten engliſchen Arbeitszeit
leicht abgeholfen werden, ſo nämlich, daß an Sonnabenden mit Einführung einer
kurzen Mittagspauſe bis zum Schluß, etwa um 3, durchgearbeitet würde. Cin weiteres
Bedenken, das ſehr häufig ins Feld geführt wird, iſt der Umſtand, daß die Männer
und ledigen Arbeiterinnen von der ihnen zufallenden freien Zeit keinen rechten Gebrauch
zu machen wüßten, daß Liederlichkeit und Wirtshausbeſuch zunehmen würden. Daß
auch mit ſolchen Vorkommniſſen gerechnet werden muß, dürfen wir leider nicht bezweifeln.
Das iſt aber nur ein Grund mehr, nichts unverſucht zu laſſen, was zur ſittlichen
Hebung unſeres Arbeiterſtandes beitragen kann. Wir ſind uns darüber einig, daß auf
dem Gebiet der Volkserziehung noch unendlich viel zu geſchehen hat — wie aber ſoll
dies vor ſich gehen, wenn der Arbeiter von morgens bis abends in der Fabrik feſt—
gehalten ijt? — Im Intereſſe aller Arbeiterinnen, die ein Hausweſen zu verſorgen
haben — und das ſind nicht nur die verheirateten — liegt es im höchſten Grade, daß
ihnen einmal in ſieben Tagen die Zeit gegeben wird, in Ruhe ihren häuslichen Pflichten
nachzukommen.
Die obligatoriſche Verlängerung der Mittagspauſe iſt der einzige Reformvorſchlag,
der überall wenig Anklang findet. Sie hat nur Wert für die Frauen, die nicht durch
zu weite Wege verhindert ſind, zum Kochen nach Hauſe zu gehen. Für die übrigen,
ſowie die Mädchen und Männer iſt die lange Mittagspauſe, durch die der Schluß am
Abend nur hinausgeſchoben wird, unzweckmäßig und unerwünſcht.
Hoffen wir, daß die Ermittelungen der Fabrikinſpektoren, die fo oft wiederholten
und begründeten Wünſche aller Sozialpolitiker unferen Arbeiterinnen nun bald cine
Arbeitsseit zu teil werden laſſen, wie fie England feit 50 Jahren bat und wie fie
nächſtes Jahr in Frankreich cingefiibrt wird. Grundlagen zu weiteren Fortſchritten
werden aber alle folche Berbefferungen mur fein, wenn es qelingt, internationale Ber-
ſtändigungen berbeisufiibren, die unfere Qnduftrie vor dem Wettbewerb von Völkern
mit rückſtändiger ſozialer Geſetzgebung ſchützen, und wenn unfere Arbeiterſchaft ſelbſt
in ſtrenger Selbſterziehung, im Glauben an ihre Aufgabe als Glied des Volksganzen,
einer beſſeren Zukunft die Bahn bereitet.
Oie Schriftstellerin.
Skizze
Nachdruck verboten.
a Vs was ift aus ben beiden Berge-
borifs getvorden 7”
Su einem bebagliden dammerigen Raum
bon
t
wurde diefe Frage gejtellt; cin Heuer {nifterte,
und der durds Fenſter cinjallende Laternen-
fein huſchte über Goldrahmen von Familien-
bildern und alte Mahagonimöbel mit einer
Vergangenheit.
Mir gegeniiber ſaß eine Greifin mit Locken—
jdeiteln, giitigen Mugen, und jeinen Händen
voll alter Ringe. Wir Hatten eins jener
Plauderſtündchen, wie es nur mit alten Damen
möglich ijt, die nod ein Liebevolles Intereſſe
für die Schidfale derer haben, die dad Leben |
auf fiirzer oder Langer mit ibnen jufammen: |
geführt.
Ich war lange im Auslande geweſen, und
es intereſſierte mich zu erfahren, was aus
dieſem und jenem geworden.
Manche waren geſtorben, einige hatten
Karriere gemacht, die meiſten vegetierten ſo
zwiſchen beidem hin.
— ,,Die beiden Bergedorffs, — warten
Sie mal, die Hübſche und die Häßliche?“
„Ganz recht. Das heißt, ſo häßlich war
die Häßliche garnicht, aber ſie hießen allgemein
fo, zum Unterſchied.“
„Ich bitte, raten Sie mal! Mir hat es
immer Spaß gemacht, den jungen Mädchen,
die ich in die Welt eintreten ſah, ein Prognoſtikon
qu ſtellen. Den meiſten fann man ihre Zulkunft
ſo ziemlich vom Geſicht ableſen. Manchmal
fam es freilich bod) anders. Erinnern Sie
ſich noch der ſchönen Lüth? Wer hätte nicht
gedacht, daß ſie eine große Partie machen
würde? Da mußte der Vater, dicht vorm
Oberſten, den Abſchied nehmen; ſie zogen in
eine kleine Stadt, und das Mädchen iſt ſo
H. v. Beaulieu.
allgemach verblüht. Sie würden Sie nicht
wiedererfennen. Eine häßliche, ſpitze, alte
Jungfer, die keinem jüngern Madden etwas
gönnt. Verfehlte Karriere, wie der Vater.
Aber die Bergedorffs haben beide Karriere
gemacht, jede in ihrer Art. Nun raten Sie
doch mal!“
Einen Augenblick tauchte meine Seele in
die Vergangenheit. Ich ſah den Ballſaal des
Kaſinos von B., — ein ſchönes, blühendes
Mädchen im roſa Kleide, unter einem Roſen—
kranz ſehr woblirifierte Löckchen, einen immer
gleichmäßig lächelnden Mund. Und ich hörte
ſie, bedauernd, aber doch ein klein wenig
triumphierend ſagen: „Es tut mir leid, aber
meine Tanzlarte iſt ganz voll, nichts mehr
frei!“ —
Und ich ſah ein andres Mädchen, hager,
bod aufgeſchofſen, ebenfalls in roſa. Aber
der Roſenkranz ſaß windſchief auf dem etwas
zerzauſten Haar, die Augen blickten halb ſcheu,
halb drohend, und die Bemerkungen, die von
ben etivas ju ftarfen Lippen fielen, waren
meiſtens geradezu.
Und dann ſah ich wieder beide Mädchen
in einer literariſchen Matinee. Es wurde
moderne Lyrik vorgeleſen.
Die ſchöne Bergedorff gähnte verſtohlen,
und ihre Blicke ſchweiften gelangweilt umber.
Die häßliche Bergedorff ſaß, die Hände
um die Knie geſchlungen, in ſehr inkorrelter
Poſe. Ihre Augen brannten, und ihre halb
geöffneten Lippen bebten, die ganze Geſtalt
war glithende, zuckende Empfindung.
Auf einer Landpartie frug jemand
träumeriſch-ſentimental: „Was wohl in zwanzig
Jahren aus uns allen geworden ſein
wird?“
14
, dain bin id längſt tot” rief jemand mit
Beſtimmtheit. ,,Cine dide alte Dame werde
id nicht.”
Das war die hafliche Bergedorff.
— — „Nun?“ frug die alte Dame.
— „Die ſchöne Bergedorff hat eine gute
Partie gemadt.”
„Richtig, das war ja vorauszufeben.”
, Und die Häßliche — — die hat gewif
irgend etwas befondres angefangen. Dit fie
vielleidt zur Biibne gegangen?”
„Sie nebmen aber aud) gleich bad Aller—
argfte an. Gang fo ſchlimm ijt es nidt.”
„Dann — ſchreibt fie am Ende!“
„Richtig. Ich fage 8 ja, mande Madden
tragen ibr Schickſal gang deutlid) in ihrer
Perfinlicfeit vorgebildet. Die Theſſa Berge:
dorff war ja immer etwas bejonders; was
andre Mädchen intereſſierte, war ihr längſt
nicht hoch genug. Ich ſelbſt habe ihr manches
Mal geſagt: Liebes Kind, Sie ſchreiben gewiß
noch einmal. Ich bin überzeugt, das läge in
Ihnen. Neulich erinnerte ich ſie noch daran,
alg wir uns bei Kes trafen, und von alten
Seiten ſprachen.“
„Wie iſt fie denn fonft geworden?“
„O wirflid) febr nett. Viel umgänglicher
und liebenswürdiger als damals jemand von
ihr gedacht. Cuden Sie fie dod einmal auf.
Sie batten ja immer ein fleines tendre fiir
bas gärende Genie.”
„Ja. Sie intereffierte mid. Cie gab
Die Sehriftftellerin.
ganz lebensvoll vor mir in ibrer Fantigen
Gigenart, den fparlichen, raſch berausfabrenden
Bemerfungen, mit denen fie fo oft Anſtoß
erregte. Ich jab ibre haſtigen Betvegungen,
die wie Auflehnung gegen ein unfidtbares
| Sod) ausjaben, bas momentane Wufleudten
den Gindrud von etwas Bedeutendem, das mit |
ſich rang, fic) nod) nicht licbensiwiirdig geben
fonnte, aber etwas fiir bie Zukunft verfprad.”
„Sie baben gang recht gejehen. Ich fann
Ihnen cin kürzlich von ihr erſchienenes Bud
geben. G8 liegt bier fogar zur Hand. Ich
muß zwar gefteben, daß ich felbft es noch nidt
geleſen habe — ich graule mich etwas vor
modernen Büchern — aber es wird ſehr
gelobt.“ —
Ich nahm das Anerbieten gern an.
intereſſierte mich, etwas von der häßlichen
Bergedorff zu leſen.
Gs |
ber Augen, das bon febr intenfivem Innen—
leben ſprach. Ich erinnere mich an ibre fid
etwas itbertrieben äußernde Beradtung der
materiellen Seite des Lebens, id) hörte noc
den ibr von vielen fo veriibelten Ausſpruch:
Wer an einem Diner von acht Gangen Gefallen
finden fonne, fei ärger, ald ein Tier, denn
das äße fic) dod) nur fatt. Sch erinnerte
mid ihrer Ungeduld ben jeitraubenden Forde-
tungen der Gefellidaft des Alltags gegeniiber,
die bon ben meiften von uns nicht cinmal als
ein Raub empfunden werden, bei vielen fogar
den Inhalt des Lebens ausmadien.
Sie ftand ſchließlich mit lebensvoller Deut-
lidfeit vor mir, und id) nabm ihr Bud mit
grofer Spannung jur Hand.
Sh war gefakt auf etwas Exzentriſches,
nicht künſtleriſch Abgeflartes, etwas, dem ich
vielleicht nicht würde zuſtimmen fonnen, aber
id) erwartete auf jeden Fall etwas Originelled,
Bedcutendes.
Meine Erwartungen wurden getaufde.
Es war ein gut gefdbricbenes Buch, dads
Welts und Menfdenfenntnis verriet, cin Buc,
das ſich angenchm [a3 und dod gebaltvoller
war, als viele’, das auf den Markt geworfen
wird.
Und bod, und dod! Bon der Thefja
Bergedorff, der nichts hod) genug twar, von
der Theffa mit ben aufleuchtenden Augen und
den Beiwegungen eines gefangenen Wilbvogels
batte ich andres ertvartet. —
Wis id) meine alte Freundin twieder fprad,
fagte fie: „Ich babe der Theffa Bergedorij
Soren Bejud angemeldet. Sie wird ſich jebr
freuen. Ganz beftimmt. Geben Cie recht
bald bin. Heute Mittag treffen Sie fie gum
| Beifpiel gu Haufe.“
Auf bem Heimiwege taudten meine Ge- |
banfen wieder in die eben beriihrte Ver:
gangenbeit. Es war fo natiirlich, daß fie
ſich mit ihr befchajtiqten, deren Geiſteswerk
id mit mir trug. Das Madden ftand mieder
Eigentlich hatte ic) ben Beſuch aufgegeben,
aber nun mußte id) wohl. Und es reizte mid
bod) ein wenig, zu feben, ob id) nicht in der
Perſönlichkeit etwas won der alten Theffa
wiederfinden würde, die id) in dem Bude
vermipt hatte. Ach bin der Anfiddt, dab
Die Schriftſtellerin. 16
Menfden ſich nicht wirflid) andern. Das
Yeben mag mildern oder febarfen, aber die
Natur dnbert fic nicht.
Ich ging bin, und blieb erjt cinen Mugen:
blick allein im Simmer. Dort fab es aug,
wie fiberall bei gebildeten Leuten. Wn den
Wanden Radierungen nad Bilin, aud cin
paar gute Aquarelle von Landfdaften. Das
Portrait eines reizenden jungen Mädchens von
einem befannten Modemaler, Reproduftionen
pon CSfulpturen, offenbar Grinnerungen an
eine Stalienreife; ein paar Bücher lagen umber,
von denen grade gefproden wurde, Wber
aud eine ftarf jerlefene Fauftausgabe. Ich
ſchlug untwillfiirlid auf und traf:
„Setz dir Perriiden auf von Millionen Loden,
Du bleibft dod) immer was bu bijt.”
ba trat die Herrin des Hauſes cin.
Ware ih ihr anderswo begegnet, hatte id
fie nicht erfannt.
Theffa Bergedor|f war did geworden. Das
hagere Geſchöpf mit den brüsken Bewegungen,
bei ber immer etwas ſchief oder abgeriffen war,
war jet cine behäbige Dame, gut gefleidet,
verbindlid ladelnd, mit angenebmen Umgangs-
formen.
Sie war wirklich, wie die alte Dame es
geſagt hatte, „nett“ geworden.
Wir ſprachen, was man ſo ſpricht. Sie
hatte im Geſpräch die ſichere Leichtigkeit derer,
die viel mit mancherlei Menſchen in Berührung
kommen, viel ſehen und leſen. Natürlich war
auch von der Vergangenheit die Rede, in der
ja eigentlich unſre Berührungspunkte lagen.
„Sie waren immer ſehr gut zu mir,“ ſagte
ſie. „Und das rechne ich Ihnen hoch an,
denn ich war damals ein unausſtehliches
Geſchöpf, das niemand leiden mochte.“
„Sie waren in Ihren Gärungsjahren. Es
iſt natürlich, daß ein junges Geſchöpf, in dem
Kräfte ringen, die ed ſelber nod nicht recht
verſteht, kein harmoniſcher Menſch ſein kann.
Die Menſchen, die wenig in ſich haben, ſind
viel früher fertig. Ich babe immer etwas von
Ihnen ertwartet, und id babe Recht bebalten.”
Sh fagte ibr etwas fiber ihr Bud, dads war
bod unvermeidlid.
Es war mir eine Erleidhterung, dah fie,
wie Leute von gutem Gefdmad tun, raſch
iiber ihr eigenes Schaffen fortging. Dafür
erjablte fie mir um fo augfiibrlider und Lieber
pon ibrer Nichte Evden, dem Urbilbe ded
lieblichen Mädchenporträts, die ſchon feit zwei
Jahren ihre Hausgenoſſin war. Es war die Waiſe
ihres Bruders und wenn aud nicht geſehtlich,
ſo doch in allem andren ihre Adoptivtochter.
wait es aud fo ein intelleltuelles, hoch—
fliegendes, junges Wefen, wie Sie waren?”
frug ic.
„Gott fei Danf, nein, fie ift gar nicht
intelleftuell und unausſtehlich, fondern bold
und lieb und reizend. Ich babe ibr innerlid
viel gu danfen, da fie mein Heim mit Schön—
beit, Jugend und Frobfinn ſchmückt. Natürlich
werde id) fie bald bergeben miifjen, und dads
wird nicht leicht fein. Cie miijjen fie jeden:
fallé fennen lernen. Seien Sie doch, bitte,
Sonntag unfer lieber Tifdgaft.”
Ich ging gang benommen nad Haufe. Es
ift immer cin tvenig verftimmend, wenn man
eine Liebtingstheorie fahren laſſen muß. Wie
fonnte ich meine Unfidt, daß die Menfden
fid nicht ändern, aufrecht balten angeficdts
der beutigen Erfahrung?
Die Thefja Bergedorff, bie ich heute gefeben,
war cine rect umgdnglide, angenebme Dame,
wie eS viele gibt. So wie ibr Bud. Wirklich,
Bud und Autorin paften durdaus zu—
fammen,
Und das war mir lächerlicherweiſe faft bas
Verwunderlidfte, daß fie did geworden.
Sh folgte der Cinladung, fand zwei Gäſte,
angenebme Durdfdnittsmenfden, vor denen
bie alte Theſſa davon gelaufen fein toiirde, und
bie Nidte, ein allerliebjtes, blondes Gefchipf,
bas mir aber oberfladlid, bumm und egoijtifd
erſchien, und der vergétternden Liebe der
Aboptivmutter wenig würdig. Es war cin
Schaufpiel, wie man es oft findet, dah eine
Frau blind aufgebt im der Anbetung eines
andren Geſchöpfes, fei es ein Dann, ein Rind,
eine Freundin — oder aud ein Hund oder
cin Ranarienvogel —, cin Schauſpiel, das im
ganjen riibrend, mandmal etwas fomifd, auf
die Dauner langweilig wirkt — auf den Dritten.
Bis zur legten Phaſe fam es bei mir nice.
Ich erinnerte mid nur mit ftillem Lächeln,
daß damals Thejias Familie oft über deren
Mangel an warmeren, zärtlichen Empfindungen
geklagt hatte. Cie fei ,wie ein Stück Holz“.
16
Das Holzſcheit hatte fid) entgiindet. Und
fie tat mir leid. Denn ich traute dem ver:
gogenen Kinde ju, dak eS fic) immer wie cin
ſolches benehmen würde.
Theſſa machte die liebenswürdigſte Wirtin.
Das kleine Diner war vorzüglich, und aus den
Worten der andren Gäſte entnahm ich, daß
man bei Fraulein von Bergedorff immer aus—
gefudt gut und opulent fpeije.
Es drangte fid) mir der damals mit fo
viel Entrüſtung jitierte Ausſpruch der jungen
Theffa auf, und ih gab ihn gum beften, gur
großen Erheiterung.
Das junge Mädchen rief erſtaunt: „Nein,
Tantchen, daß du einmal ſo kratzbürſtig geweſen
biſt! Weißt du, mir iſt es doch lieber, daß
ich dich erſt ſpäter kennen gelernt habe. Ich
glaube, damals hätten wir nicht beſonders
harmoniert.“
„Das glaube ich auch, mein Liebling,“
fagte dic Tante zärtlich.
Evchen ging ind Theater. „Es ſieht viel:
leicht nicht febr höflich aus, aber, nicht wahr,
Cie nehmen es nicht übel? Es wird gum letzten
mal ‚Der blinde Paſſagier‘ gegeben, und fie
wollte es ſo gern ſehen,“ ſagte die Tante ent—
ſchuldigend.
Ich verſicherte natürlich, daß ich das ganz
ſelbſtverſtändlich fände, und wollte mich mit
den andren Gäſten empfeblen.
Aber Theſſa bat mich, noch etwas zu bleiben,
und ich blieb.
Es war abgeräumt, aber der Wein ſtehen
geblieben, und wir blieben wie alte Herren bei
der Flaſche ſitzen. Und Theſſa trank, zwar
mäßig, aber mit Behagen und ſcheinbar auch
Verſtändnis.
Ich erinnerte mich, daß ſie damals einen
Abſcheu vor Spirituoſen gezeigt, und auch in
Geſellſchaft nie einen Tropfen getrunken.
Die alte Theſſa war fort. Menſchen ändern
ſich dod.
Ich batte es nicht ſagen wollen, aber ein—
mal fuhr es mir doch heraus: „Wie haben
Sie ſich verändert!“ — „Zum Vorteil“, be—
eilte id) mid) natürlich hinzuzufügen.
Sie lachte. Und in dieſem verächtlichen
Lachen fand ich zum erſten Male die alte Theſſa
wieder.
„Natürlich verändert man ſich. Man wächſt
*
Die Schriftſtellerin.
oder kriecht in das Leben hinein, das das
Schickſal uns zubereitet hat. Wir alle ver—
ändern uns. Sehen Sie dod) die ſchlanken
Gymnaſiaſten, die vom Olymp herab dem Tell
zujubeln, und die dickbäuchigen Geheimräte.
Es iſt unſer aller Los. Doch nein“ — ſie
ſah mich mit etwas Neid an, — „Sie ſind
ſchlank geblieben, Sie haben Ihre Ideale noch!“
Ich lachte. Wher es koſtete mid etwas.
„Iſt Magerkeit mit Idealismus identiſch?“
„Ja. Es gibt Ausnahmen. Dod ich bin
leine.“
Plötzlich beugte fie ſich vor, fab mid ine
tenfiv an und fagte beinabe beftig: ,,Sagen
Cie einmal aufridtig — Cie haben mid ja
früher gefannt, — haben Cie nicht andres
yon mir erwartet? Qa, das ift peinlich fiir
Cie. Ich fann das verjtehen. Uber ich be—
ſchwöre Sie, antworten Sie mir offen. Haben
Sie nidt etwas von mir ertwartet ?”
„Ja“, fagte id) bilflos, ,aber —”
pRein aber,” fagte fie heftig. „Sie haben
etwas von mir erwartet. Ich — id aud!”
Sie atmete ſchwer.
» Aber was wollen Sie denn? Sie leiſten
dod) etwas, haben etwas geſchrieben, das von
Allen gelobt wird,”
„Das iſt's ja eben. Etwas, dad von Allen
gelobt wird. Damals aber war mein Traum,
etwas ju fdreiben, bas von den Wenigen ge—
lobt würde. Aber diefen Wenigen bin id jetzt
eine von den Allzuvielen aus dem Kürſchner,
weiter nichts. Cie haben den Roman gelefen,
— oder taten Sie nur fo? Nicht? Bitte, dann
geiteben Sie, daß er Sie enttäuſcht bat, id
bitte Sie darum!“
Sch fenfte den Kopf.
„Ich merite es Ihnen ja an,“ fagte fie
beinabe triumpbierend. „Und id möchte Ihnen
erfliren — nein, einfad) fagen, dag id) felbjt
am allermeijten über mid enttäuſcht bin.
Sch erivartete etwas von mir, etwas, dad
mid) vor denen redtiertigen follte, die mid
iiberfpannt und verriidt nannten.
Und ic traumte davon, etwas gan; Grofes
zu tun. Darüber verſäumte ich manches nabe-
liegende. Wiſſen Sie, es gibt fo Leute, dic
immer in Bereitſchaft find, ein Rind aus einem
brennenden Hauſe yu retten, und während defen
| bie Suppe überkochen laſſen.
Die Schriftſtellerin.
Was id twollte, war mir nod nidt ganz
flar. Sur Biihne gu geben, erlaubten die
Gltern nicht. Vielleicht hatte ich es dort ju
etwas gebracht, vielleiddt aud nidt. Man
überſchätzt fic) fo rafend in ber Qugend.
Hatten wir in einer grofen Stadt gelebt,
würde ich mich wohl mobdernen foxialen Be-
firebungen angefdlofjen haben, Bei uns
fannte man fo etwas nidt. Nur Sonntag:
ſchulen und Suppenanftalten. Das war nichts
fiir mid. Qn mir war ein Chaos, das gärte,
rang, fid) aur Welt geftalten wollte, und bas
Mittel nicht fand.
Dann tat id, was alle tun: ich ſchrieb.
Es war das eingige Ventil, was id finden
tonnte.
Mit klopfendem Herzen ſchickte id ein paar
Heine Sachen an nad freien Grundſätzen
qeleitete Blatter.
Man drudte fie ab.
Ich hatte das dunfle Gefiibl, dah fie
nidt ben Beifall meiner Familie finden
würden.
Aber ſo arg hatte ich es nicht erwartet.
Meine Mutter hatte verweinte Augen und
ſah mich halb vorwurfsvoll, halb mitleidig
von der Seite an. Und mein Vater war
außer ſich. Wir batten eine große Aus—
einanderſetzung. Er ſagte, ich kompromittierte
nicht nur mich ſelbſt, ſondern auch meine
Familie mit folchen Sachen‘. Er gebrauchte
die ſtärkſten Ausdrücke. Gegen Schriftſtellern
an und für ſich habe er nichts einzuwenden,
das täten viele Damen aus den beſten
Familien. Aber ſo etwas! Das ſei ja ebenſo
kompromittierend, als wenn ein Sohn zur
Sozialdemokratie ‚hinabſtieget. Co lange id
bei ihm im Hauſe lebe, dulde er fo etwas
nicht; wenn er tot fei, finne id) ja machen;
was id) wollte!
Die von Eltern fo beliebte melodramatiſche
Wendung verfing nidt viel bei mir. Bd
beugte mic, innerlich knirſchend, dem Recht
ded Starfern, dag ja faft immer ein Unredt
ijt. Mir fam auch der abenteuerliche Gedanfe,
nad Berlin oder Miinden gu geben, in einer
Dadfammer ju wohnen und zu fdreiben, was
mir belicbte.
Aber von den zwanzig Marf oder nod
weniger, bie bie Zeitungen jablten, fonnte id
17
nidt leben, aud) nidt bei meinen damaligen
Bedürfniſſen.
Wäre ich ein Junge geweſen, ja dann!
Uber nod mehr als die materielle ſchreckte
mid die andre Seite einer ſolchen Exiſtenz.
Gin junges Madden aus gutem Hause mag
in ihrer Familie fiir nod fo erxzentriſch
qelten, — ftellt fie bem wirfliden Leben,
der Boheme gegeniiber, und die jaghafte
höhere Todter fommt beraus.
Ich war eine höhere Tochter — trog
alledem!
Das Ärgſte war, — id war ſelbſt ängſt—
lich geworden. Ich las meine Sachen — heute
finde ich ſie harmlos genug — wieder und
wieder, und wußte ſchließlich ſelbſt nicht recht,
ob fie nicht wirklich etwas gang Entſetz—
liches ſeien.
Eine Zeitlang ſchrieb ich gar nicht. Dann
fing ich wieder an, aber unter dem Druck des
väterlichen Urteils ftehend.
Ich ſchickte wieder an liberale Zeitungen
ein, — die Sachen waren ihnen zu familien⸗
blatthaft. Ich ſchickte an Familienblätter, die
Sachen waren „für die Familie nicht recht ge—
eignet.“
Meine ſchöne Schweſter heiratete einen
hohen Beamten. Die Verpflichtung, meine
Familie nicht zu kompromittieren, wuchs.
Wir waren arm wie Sie wiſſen, und als
der Vater ſich penſionieren ließ, fab es farg
bei uns aus. Die Brüder forderten und er—
hielten ſtandesgemäße Zulagen.
Da erwachte in mir der Wunſch, Geld zu
verdienen. Verwandte gaben mir auch zu ver—
ſtehen, daß fie eigentlich etwas von mir er—
wartet hätten. Warum ich nicht ſchriebe!
Ich hätte ſicherlich Talent dazu. Und das
würde ſo gut bezahlt. Die und die habe für
eine Novelle bare achthundert Mark bekommen,
und es ſei gar nicht viel dran geweſen. Das
könnte ich gewiß auch! —
Das reizte mich. Ja ich wußte, daß ich
bas aud) ungefähr fonnte, wenn ich wollte.
Es war eine große Verſuchung, und ich unterlag.
Ich fing einen Roman an, zuerſt mehr aus
Spielerei. Einen Roman nad befanntem
Mujter. Bistweilen fam der Pferdefuß gum
Vorſchein, und ich mußte dieſe Stellen nach—
her übertünchen.
2
18
Schließlich wurde es ein Ganges, nidt
beffer und ſchlechter als andre.
Gine grifere Zeitung nabm ibn, und id
fonnte den Eltern zweitauſend Mark auf den
Tifh legen.
Qn der folgenden Nacht weinte ich mid)
fajt blind. Sd) fiiblte mid) wie Judas, da
er ben Herrn verfauft.
Sh hatte mein Belted und Eigenſtes ver:
raten!
Das Schredlidjte war, wenn man meinen
Roman lobte. Criviirgen bitte id die Leute
finnen, die fo niedrig bon mir badten, bap
das mein Beftes fei!
Dod ic gewöhnte mid.
Sie finnen fic) denfen, wie es dann
weiterging.” Man betritt nidt ungeftraft eine
ſchiefe Ebene.
Dann gelang eS meinem Vater nad grofen
Mühen, mix einen Stiftspla zu verſchaffen.
Sh bore nod fein befriedigtes: ‚Nun
weiß id) dich verjorgt.'
Cine neue Berpflidtung fiir mid, mid
mit drijtlid-fonfervativen Grundſätzen nicht
in Widerfprud au feten.
Dod wozu foll ih Ihnen alle die Faktoren
aufjablen, die gebolfen haben, mic) gu dem ju
machen, was id) bin?” —
„Verzeihen Sie,“ warf ih ein, ,,aber warum
baben Gie, nad) dem Tode Ihres Vaters,
alg Sie gang fret waren, nicht fo geſchrieben,
wie es Ihnen gemäß war?”
„Da waren andre Rückſichten. Und —
man verrät nicht ungeſtraft die Ideale ſeiner
Jugend. Denn alle Schuld rächt ſich auf
Erden. In der Jugend könnte man, aber
man darf nicht. Ym Alter diirjte man, aber
man fann nit. Das grofe Wollen ift
verbraudt, Es follte nicht fein, aber aud
der Mißbrauch zehrt es auf. Manchmal denke
ich: wenn ich damals getan hätte, was mich
lockte, die Brücke hinter mir verbrennen und
mein eigenes Leben leben! — Ob dann alles
anders gefommen wäre!“ —
„D hätten Sie doch!“ rief ich aus. „Hätte
ih Ihnen dod helfen fonnen!” —
„Glauben Sie?“ frug ſie mit eigentümlichem
Blick, „daß unter andren Verhältniſſen etwas
aus mir geworden wäre? Etwas Großes?
„Ja, dad glaube id.”
“al
*R
Die Schriftſtellerin.
„Wohl Ihnen.
nicht.“
Ich ſtarrte ſie erſtaunt an.
„Wenigſtens: id) kann nicht ehrlich ſagen, daß
ich es glaube, und das iſt das Schredlidfte. Manch⸗
mal kommt mir mein ganzer ſchöner Enthufias-
mus von damals nur vor wie findifde Selbjt-
überſchätzung. Iſt mein Schidfal nicht vielleicht
nur ein Wtagslos? Wollen wir nidt alle
auf unfre Urt die Welt erobern, wenn wir
zwanzig Jahr alt find? Wer wei, — vielleict
war id) gar fein grofes Talent, fondern nur
ein leidenſchaftlicher Charafter. Wen die Gitter
lieben, dem fcbenfen fie darum einen frühen
Tod. Shin ijt es, hinzugehen mit dem
Bedauern um ungetane große Dinge, ebe man
an fich felbft Enttaufdumgen erlebt hat. Denn
nicht die Enttaufdungen, die wir an anbdern,
die wir an uns felber erleben, das find die
härteſten. Und, wenn ich mir damals meine
Schajfensjreibeit erjtvitten, bann hatte id ja
jest nichts, twomit id mid vor mir felber
etwas entſchuldigen — rechtfertigen fonnte? —
Es ift fo gut, etwas von bem, was man fid
jelber ſchuldig geblicben, auf die ,Berbaltniffet
fhieben ju fonnen. Glauben Sie nur, id) bin
nicht immer fo aufridtig, aud nidt gegen mid
jelbjt. Die volle Wahrheit hat etwas Cyniſches,
und fann nidjt immer ertragen werden. Wber
eS gibt Momente, in denen fie beraus muß.“
„Es gibt einen Wahrheitsfanatismus, ber
iiber die Wahrheit hinausſchießt und deshalb
ebenjo wenig twabr ijt, wie das feige Vorbei—
febleiden an der Wahrheit. Man foll gegen
3h — ih glaube es
, einander nicht ungeredt fein, aud) nicht gegen
fich felbjt, wenn auch eine feltjame Befriedigung
barin fliegen fann. Mir fonnen Sie die
Überzeugung nicht rauben, dag es dod) ſchade
war, und — im Herzen Ihres Herzens glauben
Sie es ja dod ſelbſt!“ —
„Wir founen nun einmal nidt gang obne
Glauben leben”, fagte jie umd dritdte mir fur;
und feft die Hand. „Ich danke Ihnen. Es
ift gut, wenn Menſchen uns fagen, daß fie an
uns glauben, — felbft twenn Cie es nur
jagen.”
Mit einem Male fprang fie erfdredt auf
und lief ans Fenfter.
„Es regnet“, fagte fie entſetzt, „und Coden
hat keine Gummiſchuhe!“
George Cliots und George Sands Frauenleben unter bem Geſichtspunkt moderner Probleme. 19
„Die nimmt fid gewif einen Wagen,” | Das Leben nimmt uns viel Großes. Aber
tréftete ic. es gibt und einiges Kleine dafiir.
„Ach, bad Rind ift fo forglos. Geftern | Ich fand den Moment zum Gehen gefommen,
Nacht bhuftete fie mehrmals. Entſchuldigen Und id) wurde nicht zurückgehalten.
Sie mid einen Augenblid.” Andern ſich die Menfden nun, oder ändern
Sie lief aufgeregt hinaus und ſchickte | fie ſich nicht? fragte ih mich verivirrt, als
jemanbden mit den Gummifduben fort. id durch den raufdenden Regen heimwärts
Ich lächelte ftill fiir mid bin. | ging. — — — —
——
Seorge eliols und George Sands Ppauenleben unter dem
Sesichtspunkt moderner Probleme.’) —
Adele Gerhard.
Radbrud verboten.
Ip eben den ökonomiſchen Urjachen, die die Frau heute in das CEriverbsleben
( und fo auch su geiftigen Berufen führen, febeinen mir fiir die Beurteilung
der qeiftigen Arbeit der Frau zwei Gefichtspunfte maßgebend. Der eine
iit fozialer Natur: er faht den Kulturwert der weiblichen Leijtung ins Auge und
vergleicht hiermit, was die Geſamtheit mbglicherweife durch dieſe Leiftung einbüßen fann.
Der andere Geſichtspunkt iſt der individuelle, fiir den die Erhöhung des perſönlichen
Glücksgefühls, das Wobhlbefinden des Einzelnen im Vordergrund ftebt.
Mag nun auch, was ich bier voneinander zu fondern fuche, oft incinander
fibergreifen und aufeinander rückwirken, fo ift doch unteugbar, daß eine ſoziale
Betrachtungsweiſe ſchlechthin vor allem die Frage nach dem Rulturwert der geiſtigen
Arbeit der Frau auhverfen wird. Dieſe Frage fann wobl heute als im zuſtimmenden
Sine entſchieden betrachtet werden. Es ijt gwar wabr, dak anf beſtimmten Gebieten
— vor allem wo die Fähigkeit gefebloffener Kompoſition erforderlich ijt — die
Veiftungen der Frauen noch Flaffende Lücken aufweiſen. Im ganzen aber darf es als
anerfannt betrachtet werden, daß die Diitarbeit der Frauen neue und ſpezifiſche Werte
geſchaffen hat und bei genügender Vorbereitung und Eröffnung der Berufssweige in
nod hiberem Make in der Sufunft febaifen wird. In dem von Fraulein Helene
Simon und mir verfaften Buch „Mutterſchaft und geiſtige Arbeit” ijt nachgewieſen,
wie im 16, Jabrbundert die Komponiſten ſich hiiteten, in den Bofalwerfen den Sopran
zu feiner vollen Höhe yu fithren, weil die Frau als Sangerin vom kirchlichen Kunſt—
geſang ausgeſchloſſen war — wie alfo die Hinausdrangung der Frau cine
VBeeintrachtiqung der ſchöpferiſchen Freibeit und Vollkommenheit mit fier brachte.
1) Bortrag, gebalten in Berlin im Februar 1903 im Berliner Frauenverein, Verein Frauenwohl,
Bercin ftudierender Frauen.
Q*
20 George Clots und George Sands Frauenleben unter dem Gefichtapuntt moderner Probleme.
Wenn die Unterdriidung der Frauenftimme (wenn bier auc nur als reproduftiver
Kraft) ſich als Feſſel und Beenqung fiir die ſchöpferiſche Leiftung überbaupt
gezeigt bat, fo fann diced gewiſſermaßen ſymboliſch aufgefaßt werden. Die Ver—
bannung und Unterdriidung der Frauenftimme im weiteren Sinn wiirde
auf den verſchiedenſten Gebieten die Mannigqfaltiqfcit, den Nuancen—
reichtum weſentlich beeintradtigen und bat ibn in der Bergangenbeit bereits
vielfach beeinträchtigt. Es ijt bei Allen, die fic iiberbaupt mit dicfem Thema
eingehend befchaftiqen, faft allgemein anerfannt, dah die Mitwirfung der Frau -auf
weiten Gebieten — auf dem einen mehr, auf dem anderen minder — cin Neues yu
geben vermag. Diefes Nene tft eben ein ſpezifiſch Weibliches und hängt mit der
Sonderorganijation des Weibes aufs engite zuſammen. Ich möchte neben den
reproduftiven Berufen, wo die Frau freilich bereits vor Jabrbunderten auf dem Plan
etfcrien, nur auf das Gebiet der fozialen Wiſſenſchaften binweifen, ferner auf das
Gebiet der Dichtung, fpeziell des Romans, wo neben vieler Spreu dod auc beim
Weizen folche Frucht zu finden ijt, die den Stempel des ſpezifiſch Weiblichen trägt.
Die Frage nad einem Rulturwert der geijtiqen Arbeit der Frau darf alſo, wie ich
ſchon erwabnte, im ganzen als im juftimmenden Sinne entſchieden betrachtet werden,
mag auc die Frage nach der geiftiqen Leiftungsfabigfeit der Frau auf den verfebiedenen
Gebieten febr verſchieden beurteilt werden.
Für den fozialen Gefichtapunft fommt dann weiter in Betract, was die
Geſamtheit etwa durd die geiftige Arbeit der Frau einbüßen fann — jenes ganze
weite Gebiet, Das die Frage jum Gegenftand hat, ob die Frau als Erzeugerin und
Erzieherin des Fommenden Geſchlechts unter der geijtiqen Urbeit leidet.
Es find ganz andere Ideengänge, denen wir uns zuwenden miifjen, wenn wir
die Erhöhung des perfinlichen Glücksgefühls, das Woblbefinden des cingelnen oder
der cingelnen ind Auge faffen. Diefer, der individuelle Gefichtspunft, fibrt uns
vor die Frage, was die geiftiqe WUrbeit fiir Dad Leben Der Frau bedeutet, führt uns
zu dem Verhältnis diefer gqeijtigen Arbeit zu ibrem perſönlichen, ibrem Frauenleben.
Ich glaube nun, daß in dem Leben jeder ernſter arbeitenden Frau, in dem Daſein von
uns allen, die wir das Pilgerzeichen des Lebens an der Stirn tragen, mindeſtens ein
Mal der Moment eingetreten iſt, in dem man ſich vor die Frage geſtellt ſieht: was
bedeutet denn nun dieſe meine Arbeit für mein Lebensglück? Was vermag ſie einem
Gefühl ſeeliſcher Leere, was vermag ſie Qualen des Gemüts gegenüber? Wie weit
weiß ſie perſönlichen Leiden gegenüber zu wirken? Und was iſt im Grunde
beherrſchender für Glücksempfinden und Lebensgeſtaltung — die geiſtige Arbeit oder
das perſönliche, das Frauenſchickſal??
Vor nicht allzu langer Zeit haben zwei Selbſtmorde in der Offentlichkeit ſtehender
Frauen dieſe Frage in ihrer ganzen ergreifenden Schwere uns vor die Seele gerufen.
Ich meine den Selbſtmord der Schriftſtellerin Juliane Dery und der bekannten
Sozialiſtin Eleanor Marx, der Tochter von Karl Marx. Juliane Dérys Tod hat
nur eine engere literariſche Gemeinde tiefer intereſſiert. Eleanor Marr' Tod aber hat
weitere Kreiſe berührt. Ihrer ernſten Geſtalt iſt ſelbſt von politiſchen Gegnern mit
einer tiefen Achtung gedacht worden. Dieſe Frau, deren Seele eng verwoben mit
einer der größten Bewegungen unſerer Zeit war, deren Wirken ein einziger heißer
Kampf im Dienſte dieſer Bewegung war, warf unter dem Bann perſönlicher Leiden
iby Leben als unbefriedigend, qualenvoll und wertlos dahin. Cie hatte jabrelang,
George Eliots und George Sands Frauenleben unter dem Geſichtspunkt moderner Probleme. 21
wie ja allgemein bekannt ijt, in cinem illegitimen Verhältnis mit Cdivard Aveling
qelebt, und offenbar war es feine Untreuc, Die fie jum Tode trieb. Es ijt für unfere
Qwede gleidgiltig, ob es dieſe Untrene fdblechthin war oder — wie nad ihrem Tode
vielfach bebauptet wurde — feine ſpätere fegitime Verbinding mit einer anderen Frau.
In jedent Fall: Eleanor Marr it an diefem Manne zu grunde geqangen, der durd-
aus feine bedeutende Perſönlichkeit war — bedeutend höchſtens in feiner Berruchtheit
und feinen erotiſchen Qualititen. „Du haſt deinen Jungen, ich babe nichts und ich
jebe nicht, wofür es ſich lohnt zu leben,” febrieh fie wenige Woden vor ibrem Tode
an einen ibrer michjten Freunde. Hort man dieſe Worte und bedenft, was dieje Frau
als geiſtige Perjinlicdfeit war und fiir die foziale Bewegung bedeutete, fo überkommt
uns zunächſt cine tiefe Mutlofigkeit. Cine Art Bankerotterfldrung ſcheint fie uns, wenn
wir nicht die verzerrende Versweiflung des Moments als mildernden Umjtand hinzu—
sieben wollen. Gehen wir aber den Dingen auf den Grund, fo find fie doch nur cin
flammendes Mene Tefel, der „Grenzen der Menſchheit“ yu gedenfen. Cie zeigen an
einem Einzelfall, daß beftimmte Konftellationen kommen können, in denen keine geiſtige
Macht mit Engelsflügeln über eine gewiſſe Verlaſſenheit, über Qualen des Gemüts
hinweghilft. Ausdrücklich möchte ich betonen, daß es ſich meines Erachtens bei
Eleanor Marr durchaus nicht lediglich um eine Enttäuſchung auf rein erotiſchem
Gebiet handelt, wie febr diefe auch mitbeftimmend war. Vielmehr bat diefe ftarfe und
ganze Natur gewiß nicht verwinden können, dah fie cine Lange, lange Reihe von
Jabren mit einem Mann in engfter ſeeliſcher Verbindung gelebt hatte, deffen Ver—
worfenbeit und Untrene ihr nun unleugbar klar wurde. Man löſcht nicht ein
Dezennium feines Lebens als reifer Menſch wieder aus, als fei es nicht getvefen, weil
die Perfintichfeit, mit der man während dieſer Beit in engfter ſeeliſcher Gemeinfchaft
lebte, ſich als furchtbare Enttäuſchung eriveift. „Der Wunden fact, wer feine
Narben fühlt“ .. ..
Auch kann ich nicht zugeben, daß, wie es bei dem Tode von Eleanor Marx oft
hieß, es ſich hier um ein ſpezifiſch weibliches Schickſal handelte. Die Geſchichte von
Laſſalles Tod ſpricht gegen dieſe Auffaſſung in beredter Sprache. Laſſalle iſt zweifellos
an Helene von Dönniges geſcheitert: „Gehe ich jetzt zu grunde, ſo iſt es an dem
grenzenloſen Verrat, an dem unerhörten Wankelmut und Leichtſinn des Weibes, das
ich weit über alles Maß des Erlaubten hinaus liebe.“ Und an einer anderen Stelle der
Briefe aus ſeiner letzten Zeit heißt es: „Ich habe mir mein Ehrenwort gegeben, an
dem Tage, wo ich Helene verloren geben muß, mir cine Kugel durch den Kopf yu
jagen.” Auf der Brat des VBerwundeten fand man die Zeilen: „Ich erflare biermit,
dah ich ſelbſt es bin, welcher meinem Leben cin Ende gemadt bat.“ Mag alſo auch
sufalliq ibn die Kugel des Gegners getroffen haben, fo ware, falls er dieſen nieder—
geſchoſſen, fraglos Laſſalles zweite Kugel gegen die eigene Bruſt gerichtet geweſen.
Er „wollte ſterben“, und ſeine ganze politiſche Bedeutung, die Größe der vor ihm
liegenden Aufgaben hat nicht verhindert, daß er, um mich des techniſchen Ausdrucks
su bedienen, um eines „Liebeshandels“ willen fein ganzes ſtolzes Leben vernichtet hat —
mag auch verletzte Eitelkeit als erklärendes Motiv hinzutreten.
Rann ich nicht zugeben, dah Eleanor Marr’ Schickſal als cin ſpezifiſch
weiblices ausgenützt wird, fo ift es fiir mich andererfeits dod) gewif, daß im ganzen
das Verhaltnis des geiſtigen Lebens zu dent perfonticven bei der Frau Sonderzüge
scigt, was ſchon aus der größeren Crdgebundenbeit ded Weibes auf dem geſchlecht—
22 George Cliots und George Sands Fraucnleben unter dem Geſichtspunkt moderner Probleme.
lichen Gebiet folgt. Es erſcheint mir deshalb von Wert, dies eminent moderne
Problent gerade an dem Frauenleben der Bedeutendjten des weiblichen Geſchlechts ju
prüfen. Betreffs der Gegenwart ift unſer Blick naturgemäß getrübt. Uns mangelt
die Diſtanz, und wenn unfere große und giitige Dichterin Marie v. Ebner-Eſchenbach
yon fics fagt: „Ich babe nichts erlebt”, fo ift dies mit dem gleichen Vorbehalt zu
nehmen, wie die Räuber- und Mördergeſchichten, die über einige unferer modernen
Dichterinnen qraffieren, deren Leben fics der Klatſch, die Verleumdungsſucht bemachtigt
hat, im beften Fall jene Freunde, von denen man mit Recht fagt, daß Gott uns vor
ihnen behüten möge. „Es zeigt fic in der Ferne alles reiner, was in der Gegenwart
uns nur verwirrt.“ Und fo find George Eliot und George Sand, jene beiden grofen
Dichterinnen, die an der Pforte unferer Zeit fteben und die nicht nur als Dichterinnen
fondern ebenfo febr als Denkerinnen und Perſönlichkeiten unferen Blick feſſeln, geeig-
neteres Material fiir cine pſychologiſche Betracdtungsiweije als unjere zeitgenöſſiſchen
Dichterinnen. Beider Frauenleben wirft aber nicht allein interejjante Schlaglichter
auf die Beziehung des perſönlichen zu dem künſtleriſchen Leben, fondern bictet auch
bedeutungsvolle Beitrage sur Priifung anderer moderner Probleme. So vor allem
su dem Verhältnis der genialen Frau yu Che und Mutterfdaft.
* *
George Eliot und George Sand haben beide in illegitimen Verbindungen geſtanden,
aufwühlendſte perſönliche Kaäampfe haben beide erſchüttert. Überſchaut man ihr Leben
als Ganzes, ſo will es zunächſt erſcheinen, als ſei das Leben George Eliots ein
einfaches, unbewegtes im Vergleich zu den dramatiſchen Konflikten, den greifbaren
Senſationen, die uns bei George Sand vor Augen treten. Blicken wir aber tiefer in
died einfachere, unbewegtere Daſein George Eliots, fo erſchauen wir auch bier tiefe Konflikte
— an die letzten Fragen und Probleme wird gerührt, und ein Menſchenleben von tiefer
Traurigkeit erſteht uns in George Eliots ſtillem Bilde.
Es kann hier nicht meine Aufgabe ſein, George Eliots geiſtige und künſtleriſche
Bedeutung darzuſtellen. Das eine aber möchte ich doch betonen, daß unſere heutige
Generation kaum mehr genug ſchätzen kann, was George Eliots Leben und ihr Tod ihren
Zeitgenoſſen bedeutete, wie man die Wirkung ihrer Arbeiten ſpeziell auf ſittlichem Gebiet
beurteilte. Will man ſich über die Breite und Tiefe der Einwirkung dieſer großen
Frau, dieſer „merkwürdigen Intelligenz“ klar werden, ſo darf man nicht nur ihre Werke
leſen, ſondern muß das Urteil der erſten ihrer Zeitgenoſſen über ſie ſtudieren. „Es
hat kein Sterbebett gegeben,“ ſagt Lord Acton in einer Würdigung George Eliots,
„auf das die letzten Worte Fauſts mehr paßten als auf dieſes: Es kann die Spur
pon meinen Erdentagen nicht in Aonen untergehen.“ Und in einem anderen tiefeindringenden
Artifel der Contemporary Review heißt es nach ibrem Tode: „Kein Prediger unferer
Zeit bat foviel getan, um die moralifchen Anlagen der Zeitgenofjen zu bilden, wie fie,
denn fein anderer hatte fo febr die Möglichkeit und die Fähigkeit und die Macht.“
» Dinner von febr verſchiedener Denfiveije — die beiden Scherer, Montague, Mr. Spencer
und Mr. Hutton, Profejjor Tyndal und Wir. Moers — haben es mit merfiwiirdiger
Einmütigkeit ausgefprochen, daß fie cine Vereiniqung von Eigenſchaften beſaß, welche,
wenn überhaupt, nur ſelten von Männern iibertroffen fei und ſchwerlich jemals wieder
auf Erden erſcheinen werde, dah ibre Werke den Höhepunkt weiblichen Könnens be—
zeichnen, daß fie unter den Frauen, von denen die Geſchichte weif, fo gewif der größte
Genius war wie Shafefpeare unter den Männern.“
*
George Eliots und George Sands Frauenleben unter dem Geſichtspunkt moderner Probleme. 23
„Der Lorbecrfrany ijt, wo er dir erfeheinet, cin Seichen mehr des Leidens als
des Glücks“ . . . „Ruhm verſpricht Gold und jahlt Silber” hat George Eliot ſchmerzlich
in ſpäteren Jahren gedufert. Als ſich der Traum ihrer Jugend, Unſterbliches zu
ſchaffen, verwirklicht hatte, vermochte es fie nicht mehr mit wirklicher Helle, mit rechter
Heiterfeit der Seele zu erfiillen. Su viel Bitternis war durch ibre Ceele gegangen,
zu viel Schmerzliches hatte fie erfabren, um nun nod) mit vollfraftigen Armen das Glück
umfangen zu können. Es ift ja cin beſonderes Kapitel in unferer aller Seelengeſchichte,
wie viel Kraft das vergeblidie Sebnen, Warten und Hoffen uns wegzehrt, fo dap,
wenn wir wirklich erreiden, wonach wir einſt fo febnfiichtig unfere gitternden, verlangenden
Rinderhinde ausftredten, es fiir uns gar fein rechtes Glück mebr ijt. Wir möchten
uns wohl nod freuen, aber wir können nicht mebr. Wir find yu müde. Uns feblt
die Kraft. Wir haben gu lange gewartet. Auch Marvy Ann Evans, wie G. Cliots
bürgerlicher Name lautete, batte yu lange auf die Sonne qewartet, hatte su fewer
ringen müſſen, um fich endlich des hohen Preiſes noc mit ganzer, beiler Seele freuen
zu können. Und zwar nicht etwa nur deshalb, weil ſich ibr ihr wunderbares Talent
erſt, als fie bereits 37 Sabre zählte, offenbarte, jondern weil die Schidjale ibres
Araucnlebens cine jo ſchwere, ernjte Natur wie die ibre binabdriiden mußten.
Um died zu verſtehen, muß man fic die Gejtalt von Mary Win Evans ver-
gegenwärtigen, wie fie uns aus den Berichten der Zeitgenoſſen übereinſtimmend entgegen-
tritt. Außerlich unſchön, oder vielmebr mebr und ſchlimmer als dieſes: offenbar jedes
ſpezifiſch weiblichen Reizes bar, feit frithejter Jugend mit einem brennenden Liebes—
bedürfnis, einer Neiqung, ,jemandem alles zu fein”, ausgeſtattet. Man rühmt zwar
den feelenvollen Ausdruck ibrer Augen, aber Berichte und Portrats von ibr zeigen
jie uns übereinſtimmend als cine Frau, der der ſpezifiſch weibliche Sauber feblte.
Wenn man Marv Yn auch cine ,,cdle Erſcheinung“ nannte, fo follen ibre Züge dob
mit zunehmendem Ulter immer mebr an Savonarola evinnert haben, was aud) nicht
für Schönheit der Yinien ſpricht. Anton Springer, der fie gu einer Zeit kennen lernte,
da fie noc) unberiibmt war, bebt ausdriidlich hervor, daß ihr „jede anmutige weibliche
Weichheit” in der Erſcheinung gefeblt babe. Und dod) war ibre Empfindungsweiſe
cine durchaus weibliche, und aus allen Berichten von iby ſelbſt und anderen Flingt
iibercinjtimmend, dah fie ,,needed some one especially to love‘. Tro engfter
Freundſchaftsbande ijt ibr legtes Wärmebedürfnis febr fpat, wie ich urteile, völlig
niemals befriedigt werden. Mary Ann Evans war 35 Jabre alt geworden und hatte
ſich bisher nur in Artikeln und Uberſetzungen betitigt, als jie in George Henry Lewes,
der uns in Deutſchland als Bivgraph Goethes vertraut ijt, den Mann kennen lernte,
mit Dem fie 25 Jahre engfter Gemeinſchaft verleben follte. Lewes lebte von feiner
Frau, die fich feiner durchaus unwürdig erwiejen hatte und ibm wiederbholt untreu geworden
war, qetrennt. Nad engliſchem Geſetz aber fonnte er nicht von thr geſchieden werden,
da er ihr cinmal vergeben hatte. Unter dem Zwange diefer Umſtände entſchloß fich
George Eliot, aud) obne die geſetzliche Sanftion ihr Leben mit dem des geliebten
Mannes yu verfniipfen. Cs from fein Siweifel dariiber obiwalten, daß das Verbhiltnis
von beiden Teilen vom erjten Moment an alS cin unlbsliches aufgefaft wurde, wie
denn auch erjt Lewes’ Tod nad 25 Jahren ihrem Zuſammenleben ein Ende machte.
„Ihre Berbindung”, febreibt cine beiden nabeftebende Perſönlichkeit, „wurde von
ibnen als cine wirkliche Heirat aufgefaft, als cin Bündnis beiligiter Art, das cinen
bindenden und dauernden Charafter hatte.” Wls die Tatface ihrer Verbindung
24 Weorge Cliots und George Sands Frauenleben unter dem Gefichtspuntt moderner Probleme.
einigen intimen Freunden mitgeteilt war, wurde fie fogleidy von einer Erklärung
begleitet, dag die Unlösbarkeit ihrer Verbindung eine unwiderruflich feſtſtehende fei.
Und doch hat diefer Sebritt cinen tiefen Schatten auf George Eliots Frauenleben
geworfen, da fie Dauernd unter der Verurteilung, die er fand, aufs ſchwerſte gelitten
bat. Sabrelang mufte fie, wie Lady Blennerbafjet ung berichtet, dic Welt ausſchließen,
um nicht von ibr ausgefdlofjen yu werden; und nod in den Tagen ibres höchſten
Ruhmes wagte fie nicht, in London allein fiber die Straße zu geben. Mit fiber:
ſtrömender Dankbarkeit, ja mit demittiger Freude foll George Cliot die erjten Frauen
begrüßt haben, die fich ihr näherten.
Vernimmt man diefe Dinge, fo fragt man ſich zunächſt, ob man richtig licft
oder birt — damn erinnert man fic, als cineds miterflarenden Umſtandes, dak
George Eliot in England lebte, aber cin Gefiihl der Empörung, der grenzenloſen
Erbitterung bleibt in uns. Denn was ift Ehe, wenn nicht dieje feſte, innige
Verbhindung, die die Flucht der Jahre nur nod fejter, mur noc inniger geftaltet?
Aber dies Wort genügt nicht zur Charafterifierung des Verhältniſſes zwiſchen Lewes
und George Clivt, genügt nicht yur Würdigung deffen, was die Verbinding mit ifm
aud fiir iby künſtleriſches Schaffen bedeutete, Man muß fic evinnern, dak George
Elivt bisher thre dichterifche Fähigkeit überhaupt nod) nicht entdedt hatte, fondern
nur durch Eſſahs und Nberjepungen — vor allem von Strauß und Feuerbach —
befanut geworden war, Sie befa cine ungewöhnliche und tiefe Bildung, — fo
ungewöhnlich und tief, dag ich fürchte, wenn fie in unjerer Zeit gelebt hatte, jo
wilrden einige unferer moderniten Rritifer fiirchterliche Bedenfen an der „Urſprünglich—
feit” ihres Talentes gebeqt haben. « Doch, um ohne Spott yu reden: Marv Ann Evans
war obne Ziveifel cine tief philofophifche Natur — Harrijon nennt fie den pbhilo-
fopbifcbjten Riinftler und den am meiften künſtleriſch beanlagten Philoſophen der neuen
Literatur — und fie felbjt hatte bis zu diefer Zeit an ibre Fähigkeit yu dichteriſcher
Gejtaltungstraft nicht geqlaubt. Nach ibrer cigenen cingehenden Darftellung, die fie
in ibrem Tagebuch uns gibt, hatte fie zwar oft Die Idee gebabt, einmal cine Novetle
zu febreiben, war aber über ein cinleitendes, rein beſchreibendes Rapitel, in dem fie
cin englifdes Dorf und das Leben der Nachbarfarm jfehildert, nicht hinausgekommen.
WS fie auf einer Reife nach Deutſchland Lewes dies erzählte, wollte er gern das von
ihr Geſchilderte leſen — fie hatte es zufällig unter ibren Pavieren und fas es ibm
por. George Cliot fcbildert uns mim febr anſchaulich, wie entzückt Lewes war, wie
in ibm der Glauben an ibve dichterifche Fabigkeit erwwacdte und wie er von nun an
unausgeſetzt in fie Drang: „Du mußt es verjuchen, du mußt cine Geſchichte ſchreiben.“
Nachdem Lewes durch ſeine Anregung und Ermutigung ſie zur Offenbarung ihres
großen Talentes brachte, kam er ihrer ſcheuen, leicht hinabgedrückten Natur auch
weiter zu Hilfe. Er ſchickte ihre erſten Novellen unter dem ſpäter weltberühmten
Pſeudonym an den Verlag Blackwood als Arbeit eines Freundes von ihm ein. Und als
ſchon ihr Ruhm feſt begründet war, wachte er nach dem Urteil beſtunterrichteter Freunde
immer noch mit „wahrhaft mütterlicher Zärtlichkeit“ über ihr und ſuchte ihr jede quälende
Aufregung fernzuhalten. Er führte ihre geſchäftliche Korreſpondenz; ja, ſeine Fürſorge
ging ſo weit, daß er ihr abſprechende Kritiken nicht zeigte. Wie ſeltſam dies auch
erſcheinen mag, ſo zweifle ich nicht, daß Lewes bei George Eliots Eigenart hiermit
durchaus das Richtige traf. Sie gehörte zu den Naturen, die ju ihrer Entfaltung
der Sonnenwärme der Anerkennung ohne quälenden Schatten bedürfen. Sie
“i
George Eliots und George Sands Frauenleben unter bem Gefiehtspunlt moberner Problente. 25
beſaß feine Hornhaut, feine Ellenbogen fürs Leben. Sie war cine ſcheue
fi : 7 A
ſchwere, leicht verleglidye Natur, — die Elemente waren nicht fo glücklich in ibr
qemijebt, dak ihr die Erde leicht werden fonnte. Und wenn denn die illegitime
Verbindung — oder vielmebr die Berurteilung, die diefe fand — einen dauernden
Schatten auf ibe Leben warf, fo ijt anf der anderen Seite nicht genug anjuerfernen,
Daf} Lewes wabrend vines Bierteljahbrbunderts einen febiigenden Schild fiber George
Eliot hielt, deffen gerade ibre Natur jo ſehr bedurjte.
Die Geqner diefer illegitimen Verbindung haben dieſen Sebritt in Verbindung
mit George Cliots Weltanſchauung gebradt, ibn dtefer yur Laſt gelegt. Sie meinen,
wenn George Clivt fic niet von dem „Glauben an den höchſten Richter aller Dinge“
losgelöſt bitte, fo iwiirde fie ſich auch nicht von der Verpflichtung, die Idee der
Unldsbarfeit Der Che zu refpeltieren, frei gemacht haben. Ich geſtehe, dak ich es,
wenn die Geqner recht batter, als cin feltenes Gli begrüßen müßte, daß George
Eliot fic) yur Zeit ihrer Begegnung mit Lewes von dem Glauber an Gott bereits
entfernt batte. Denn wie boc immer man über dic Heiligkeit der Che denken mag,
in einem Halle, wie Dem bier vorlicgenden, Fann nur dogmatiſche Enge den Maßſtab
individualifierender Gerechtigkeit verweigern. Und der ganze Segen, den George Eliots
tief ſittlicher Einfluß fiir die Menſchheit bedeutete, wire nad meiner Anſicht nie
geworden ohne jene angefochtene Grundlage ihres Frauenlebens, auf der ſich erſt ihre
Perſönlichkeit zur vollen fruchtbaren Kraftentfaltung bob.
Auf der anderen Seite muß ohne weiteres zugegeben werden, daß die Welt—
anſchauung, welche bei George Eliot an die Stelle der Religion getreten iſt, nicht
Stand hielt oder ihr vielmehr keinen Troſt zu geben vermochte, als für ſie die dunkelen
Stunden des Lebens gekonmen waren. Als Lewes ihr nach 25 jährigem Zuſammen—
leben entrifien ward, bricht die Damals 59 jährige Frau völlig zuſammen. Früher
hatte fie das Aufgehen in dem qrofen Gedanken der Natur, in der ewigen Geſetzen des
Seins und Werdens im Gegenfag yu dem Anklammern an die cigene begrengte’ Erijtens
mit ibren wechſelnden Schickſalen als höchſtes Ziel hingeftellt. Jetzt im ihrem eigenen
perſönlichen Web febcinen dies nur tönende Worte fiir fle yu fein. Sie bricht zuſammen,
und am Colvefterabend, an dem fie fonjt ftets irgend cine höhere Betrachtung in ibr
Tagebuch febreibt, finden wir in diefem Jahr bier nichts als die Worte: ,Here I and
sorrow sit“. Nicht cine philoſophiſche Weltanſchauung, nicht cine künſtleriſche Arbeit,
nicht das Bewußtſein der unverlierbaren Werte, die das Zuſammenſein mit dem geliebten
und beweinten Gefährten in ihr gereift bat, nein, ein ganz Perſönliches ift es, was
George Eliot aus der großen Nacht wieder rettet und fle nod einmal das ſonnige
Vict Des Dajeins fiiblen läßt: Wm 6. Mai 1880 — ein halbes Jabr nach Lewes’
Tode — erfährt das ſtaunende Yondon, dak die berühmte 6Ojabrige Dichterin Herrn
Crop, cinem um viele Sabre jiingeren, ihr feit Langer Seit nabe befreundeter Mann,
die Hand zum ehelichen Bunde gereicht bat. George Clivt fiarb dann ſchon im Winter
dDesfelben Sabres; aber die Berichte, die fie ther dieſe frye Beit ibrer Ehe gibt, find
von Olid und Dankbarfeit durchſtrömt. Der Frühling ſcheint in ihr — ich jitiere
George Cliot wörtlich — wieder hervorjubreden. . .
Nun, ich geftehe: es ijt ſchwer, George Eliot in diefer letzten Lebensſpanne ver-
ſtehend yu folgen. Es gibt cin Wort Barnbagens, das auf deijen ciqene Ehe mit der
vierzehn Jahre alteren Mabel angewendet worden iſt: „Was an diefer Verbindung
uneber und wunderlich erfebeinen mag, gehört nidt uns an, ſondern den törichten
26 George Eliots und George Gands Fraucnieben unter dem Geſichtspunkt moderner Probleme.
Cinrichtungen der Welt. Es ift nicht unfere Schuld, daß es fiir dad Verfchiedenartigite
in Diefer Armenanjftalt nur dieſe Cine Form gibt.” Wie febr man ſich aber auch miibt,
George Eliot ein letztes Berftehen iwiderfahren yu laſſen, cin Reſt von dunklem Unbebagen
bleibt trog allem. Und doc) zeigen fic) bei diefem letzten Schritt nur Charaftersiige
George Clivts, denen wir in ibvem Leben — ſchauen wir genauer bin — ftets begegneten.
Einem gewiffen Mangel an Selbſtändigkeit — jo ſelbſtändig fie aud) als rein intelleftuelle
Kraft war — einem Anlehnungsbedürfnis, einer Unfähigkeit den Raubeiten des Lebens gegen:
liber begeqneten wir ftets in iby — vor allem aber einem brennenden Lichesbediirfnis,
einer Sebnfucht nach Wärme und Hingebung.
Und hier komme id) yu dem, was mir ju vielem in George Eliot den Schlüſſel
zu geben ſcheint: cin blindes Schickſal hatte ihr verfagt, was gerade dieſer Natur, dic
in jedem Atemzuge Miitterlichfeit ausitrimte, tiefftes Bediirfnis gewefen ware. George
Eliot ijt nie Mutter geworden. Die Menſchheit wurde des ungeborenen Lieblings
Erbe; aber was fie ſelbſt hierbei an perſönlichem Glicsempjfinden einbüßte, ſcheint
mir unermeßlich groß. War fie aud den heranwachſenden Söhnen von Lewes eine
forgliche Beraterin, fo hat fie doch das intimfte Wunder des Frauenlebens nicht erlebt.
Jene Augenblide, da fic cin Fleiner Arm fo warm und jutraulich im Bewußtſein
befter Geborgenbeit in den unſeren ftieblt, da cin junges Geſicht mit dem glitdlichen
Gefühl engiter Zuſammengehörigkeit uns zunickt — jene Augenblide, da in unfer
ernftes Urbeitsleben pliglich diefe fo ganz andere Holde Melodic tint — George Eliot
durfte fie nicht erleben. Und wenn wir von dem bleiernen Ernſt hören, der über
ibrem ganzen Leben lag, in dem alles auf das ,,Gelingen der einen grofen Aufgabe“
geſetzt war, fo liegt die tiefite Erklärung wobl darin, dah eben jener Sonnenſchein
feblte, jener erwiirmende Strahl, den allein das Lächeln des Rindes tm Herzen des
Weibes — und fei es das größte — entzündet. Kein weiblicher Genius bat diefen
Sonnenfdein voller und danfbarer empfunden als George Cliots große Schweſter,
George Cand, deren ganzes Leben, deren ganze Auffaffung hiervon gezeichnet ijt, ja
die dic Mutterſchaft geradezu „le second baptéme“, dic zweite Taufe der Frau nennt.
Che wir uns aber George Sand zuwenden, möchte ich nod) einmal abſchließend
bei George Eliots ernjtem Bilde verweilen. Um es fury yu fagen: George Clivts
Schickſal läßt fich meines Crachtens weniger als das vieler anderer bedeutender
Menſchen in cine Formel preffen, ohne gegen den beiligen Geiſt der Dudwidualttat
zu fiindigen. Es heißt bier mit Vorſicht feine Schlußfolgerungen ziehen. Gewiß ijt,
daß bei aller Größe und Bedeutung ihrer Intelligenz, bei all ihrer unendlichen Güte
cine gewiſſe Schwachheit in ihr nicht zu verkennen ijt. Und dieſe Schwachheit ijt es
auch, die ihr Schickſal in Gutem und Böſem gezeichnet hat. Das eine aber läßt ſich
wohl, ohne ſich kecker Vergewaltigungen ſchuldig zu machen, ausſprechen: George Eliots
Leben gehört gewiß nicht zu denjenigen, in denen die geiſtige Kraft über das perſönliche
Erleben zu triumphieren gewußt hat. Und was ſie als Weib empfing, wie was ihr
verſagt blieb, iſt von einſchneidender Wirkung geweſen. Die Mütterlichkeit ihres
Weſens hat ſich nicht in der nächſten, natürlichen, beglückenden Weiſe ausleben dürfen.
Und den Niederſchlag dieſes, eines ſpezifiſch weiblichen Verhängniſſes, glaube ich
in ihrem Leben zu finden. Als einen Beitrag zum Kapitel der freien Liebe aber
kann ich es in keiner Weiſe auffaſſen. Fite mich wird immer George Eliots Zuſammen—
leben mit Lewes eine Ehe geweſen ſein; zu dem Kern des Problems der freien Liebe
bietet es kein Material. Der Proteſt, der gegen jenes Bündnis erhoben wurde, iſt
George Elivts und George Sands Frauenleben unter dem Geſichtspunkt moderner Probleme. 27
nur aus dogmatiſchen Anſchauungen verſtändlich — er balt nicht ftand vor einer rein
menſchlichen und ethiſchen Auffaſſung der Che im Sinne einer idealen Monogamie.
Ellen Key, die bekannte nordiſche Denkerin, ſagte mir einmal, ſie käme bei George
Eliot nicht darüber hinweg, daß dieſe in ihren Schriften das große Problem eines
Freient Zufammentebens zwiſchen Mann und Weib um feine Linie gefirdert habe.
Nun, meines Cradtens hat George Clivt dieſes auch nicht fordern wollen. Richt
etwa nur, weil es ihr widerftrebte, Den Schein auf ſich yu Laden, als ob fie in cigener
Sache ſpräche, bat fie nie im Sinne der freien Liebe in ihren Sebriften gewirkt und
die Heiligfeit der Che hochgehalten, ſondern weil died ihrer wabren Anſicht entſprach
und jie — meines Erachtens mit vollem Recht — ibren eigenen Fall als einen
Ausnabmefall betradytete, der gegen das derjeitige engliſche Gefes, nicht aber gegen
Die Heiligfeit der Che als folche verſtieß.
* z *
Ein ganz anderes Bild bietet ſich uns, wenn wir uns George Sand zuwenden.
Die Fabel ihres Lebens darf ich wohl als ſo bekannt vorausſetzen, daß ich ſie hier
nur zu ſkizzieren brauche. Achtzehnjährig wird das früh entwickelte Mädchen, in dem
das Blut Moritz von Sachſen's mit dem der Delabordes eine ſeltſame Miſchung ein—
ging und das in dem Zwieſpalt zwiſchen Mutter und Großmutter herangewachſen iſt,
an den rohen, ihr geiſtig durchaus inferioren Baron Dudevant verheiratet. Zwei
Kinder, die dieſer unglücklichen Verbindung entſprießen und denen George Sand ſich
mit leidenſchaftlicher Liebe und bewundernswürdigem Pflichtgefühl widmet, vermögen
das Band zwiſchen den durchaus unadäquaten Eltern nicht zu halten. Es muß ju
ſchrecklichen Szenen gekommen ſein, deren Niederſchlag wir in den Romanen George
Sands finden. Cin Beſuch Jules Sandeaus regt dann das ſeltſame Nbereinfommen
swijden den Ehegatter an, da George Sand mit Bewilligung von 250 Franks
monatlich von nun an die Halfte des Jahres mit ibrem Töchterchen Solange in Paris
verbringt. Der Verſuch, die Mittel sur Beltreitung ibres Lebensunterbalts yu ver:
qrifern, filbrte George Sand, nachdem fie es mit Malen vergeblich verſucht batte, yur
Cntdedung ihres großen Talented. Und erjt 1836, als fie bereits cine literariſche
Berühmtheit geworden war, erfolgte die gerichtliche Scheidbung von ibrem Warne, die
der äußeren Unrube ihres Lebens, dem ewigen Gehen und Kommen zwiſchen Nohant
und Paris ein Ende machte. Obwohl George Sand vor Gericht furchtbare ſchmach—
volle Anklagen von dem Rechtsbeiſtand ihres Mannes hatte anhören müſſen — „ſie
ſei eingeweiht in die Geheimniſſe der niederträchtigſten Ausſchweifungen“ — ſo entſchied
doch der Gerichtshof von Bourges, wo ihr Freund Michel de Bourges ihre Sache
führte, zu ihren Gunſten. Die Kinder kamen in den alleinigen Beſiß der Mutter, und
es mag ſchon hier geſagt ſein, daß das Verhältnis zwiſchen ihnen und George Sand
dauernd ein wahrhaft ideales, von tiefſter Innigkeit durchtränktes war. Andererſeits
iſt ja genugſam bekannt, daß ſie vor und nach ihrer Scheidung eine Reihe teils ſchnell
gelöſter, teils ſich lange hinziehender Liebesverhältniſſe hatte. Am eingreifendſten
waren ihre Beziehungen zu Muſſet und Chopin, aber auch Jules Sandeau, Michel
de Bourges und der hübſche, unbedeutende italieniſche Arzt Pagello, dem fie Muſſet
opferte, werden unter ihren Geliebten genannt.
In drei Eigenſchaften nun muß George Sand näher ins Auge gefaßt werden,
wenn man das, worin ſich ihr Weſen konzentrierte, zeichnen will: als Mutter, als
Künſtlerin und als Geliebte.
28 George Eliots und George Sands Frauenleben unter bem Gefidtspuntt moderner Probleme.
Reine Frau bat vielleicht in heißeren Lauten die Seligfeit der Mutterſchaft jum
Ausodrucd gebracht. Ich erwabnte ſchon, daß George Sand fie die zweite Taufe fiir
die junge Frau nennt. Jn ver ,,Histoire de ma vie“ erzählt fle cingebend, wie in
der Beit, da fie ihre Ninder erivartete, Das geiſtige Leben in iby ganz zurückgetreten fei
und ibe Innenleben fich einzig auf das kleine Geſchöpfchen gerichtet habe, dem fie fide
fo qliibend entgegenfebnte. Cie fcbildert uns in warmen Farben den Wugenblid, da
jie ihr Rind nach der Geburt, als fie aus einem langen Schlummer der Crmattung
erwacht, jum erjtenmal feben darf und nennt dics Den ſchönſten Augenblick ibres
Yebens. Wir haben es bier nicht mit wobllautenden Redensarten yu tun. George
Sand bat ihre beiden Kinder felbjt genährt und dabei ihre forperlichen Kräfte febr
erſchöpft, und alle Berichte ibrer Zeitgenoſſen betonen einſtimmig, dah fie aud) den
heranwachſenden und herangewachſenen Rindern gegenitber die zärtlichſte und auf:
opferndſte Mutter war, mag aud ibre Kiinftlernatur ihr oft die planvolle Geduld des
echten Pädagogen unmöglich gemacht haben. Ergreifend ſchildert fie uns die Beziehung
zwiſchen ſich und ihrem Sohne Moritz in reiferen Jahren. „Er und ich haben über
viele Dinge nicht die gleichen Anſichten, aber wir haben cine große Ahnlichkeit in
unjerer Organifation, in vielem den gleichen Geſchmack und die gleichen Bediirfniffe,
auperdem cin fo enges Band natiirlicher Liebe, dak cin Mißklang zwiſchen uns, welder
Art er auch fei, nicht einen Tag dauern fann und vor einer Ausſprache zwiſchen uns
nie Stand Halt. Und wo wir nicht den gleichen Raum in unferen Ideen und Gefiiblen
bewobnen, ijt zwiſchen uns iwenigitens eine große, immer gedffnete Tür: die einer
unendlichen Liebe und eines unbegrenzten Vertrauens.“
Es ift für George Sand cin Ariom, dah, mag die Gefellfchaft auch die Rechte
der Mutter nicht anerfennen, die Kinder der Mutter ungleich näher fteben, als dem
Vater. Und hier kommen wir yu dem Punft, den ich fiir einen der bedeutungsvollften
und meines Eractens den irrigiten in George Sands ganzer Auffaſſung balte: Der
atte, der Vater exiſtiert eigentlich nicht fiir fie oder Hat doc) mur cine febr unter:
qeordnete Bedeutung. Erklärlich, wie dies aus der Geſchichte ihrer Che wird, ſteht
es aud) mit ibrem ganzen Empfinden als Weib, ihrer Beziehung yu dem männlichen
Geſchlecht in engitem Sufanunenbang. Der Reis, den George Sand auf Dinner
ausiibte, ijt befannt. Die Muffet und Chopin fonnten von dem gefabrlichen Zanber
diefer Frau erzählen, der cin beredtes Beifpiel gegen die Mythe von der Geſchlechts—
loſigkeit und Ungefährlichkeit der geiſtig hervorragenden Frau iſt. „Da wollte ¢3 das
Unglück,“ leſen wir in der von Franz Liszt verfaßten Biographie Chopins, „daß er
eines Tages vom Zauberbann eines Blickes getroffen ward, der ihn in ſeine Netze
fallen ließ. Man wähnte dieſe Neve wohl anfangs vom feinſten Golde und mit
Perlen überſäet, aber jede ihrer Maſchen ward für ihn zum Gefängnis, wo er ſich
mit giftgetränkten Banden gefeſſelt fühlte. Vermochte auch dieſes Agende Gift ſeinen
Genius nicht zu lähmen, es zehrte doch an ſeinem Leben amd entrückte ibn zu früh
der Kunſt.“ Auf ähnlichen Ton geſtimmt ſind die vielen Berichte über die Beziehung
George Sands yu Muffet. In dem Buch Paul de Muſſets Lui et Elle“, das dag
Verhältnis ſeines Bruders Alfred unter bem Deckmantel des Romanes daritellt, heißt
es: ,Si j’étais le seul que cette femme eit mis en cet état, on pourrait me
citer comme une exception, un cas rare, mais regarde ol en sont aujourd'hui
quelle a aimés! Tous ne sont-ils pas sortis de ses mains plus ou moins meurtris,
défigurés, estropiés pour jamais? On en ferait une procession de fantömes.“
George Cliots und George Sands Frauenleben unter dem Gefichtspuntt modernee Probleme. 29
Man bat fic gewöhnt, George Sand als den miinnermordenden Vampyr zu
betrachten, aber ich gejtebe, dah ich cine tiefinnere Ungerechtigkeit in dieſen Be= und
Rerurteilungen ſehe. Fragqlos bat George Sand Muſſet geliebt — die Briefe nad)
dem Bruch mit ihm Flingen wie das Stöhnen eines verwiundeten Tiered, und Cine
geweibte nennen dieſen Bruch den ,,qraujamiten Schmerz ibrer Exiſtenz“ — fraglos
hat ſie auch Chopin, dem ſie in einer achtjährigen Beziehung nicht nur Geliebte,
ſondern auch Freundin und Krankenpflegerin war, leidenſchaftlich geliebt und unter
dem endlichen Zerwürfnis ſchwer gelitten. Und wenn ſie trotzdem dem erſten die
Treue nicht wahrte und dem anderen gegenüber ſchließlich als 42jährige Frau nach
langer aufopfernder Krankenpflege die Rechte ihrer eigenen Perſönlichkeit wieder vor—
treten ließ, ſo muß man fic) vor Augen halten, daß jie in erſter Linie als
Künſtlerin empfand und handelte. Als der Genius, der ſie war, durfte ſie auch
beanſpruchen, mit dem Maßſtab eines ſolchen gemeſſen zu werden und ſeine Rechte
zugebilligt zu erhalten.
Ein Bild George Sands, das ſie in der Mitte der dreißiger Jahre darſtellt
— alſo zu einer Zeit, als ihr Verhältnis mit dem viele Jahre jüngeren Chopin
begann — zeigt uns ein ſeltſames, tiefbrünettes Geſicht von orientaliſchem Typ. Ein
geheimnisvoller Zauber liegt in den unter ſchweren Lidern hervorblickenden Augen,
aber trotz des weichen, ſinnlichen Mundes birgt ſich etwas Rückſichtloſes, faſt Grauſames
in dieſen Zügen. Cine jener Frauen ſteht vor uns, die ſtärker find als ihr Partner,
weil im letzten Grunde die erotiſche Beziehung nicht Lebensinbalt fiir fie ift, fondern
das vornehmſte Geſetz ibres Lebens dod) der künſtleriſche Trieb und dejfen Betätigung
bleibt. Wie zart, fein und gebrechlich muten uns Muſſet und Chopin neben diejer
Arau an, die mit fouverdner Kraft, wie einem Naturgefege folgend, über fie weg:
ſchreitet und fich fiber alle Schmerzen Hin die Einheit ihrer Perſönlichkeit, die Freiheit
ihrer Künſtlerexiſtenz wahrt! Cine Geſchichte, die fie ſelbſt in der Histoire de ma
vie“ erzählt und die uns Liszt in anderer Beleuchtung in ſeiner Biographie Chopins
vorführt, ſcheint mir bezeichnender als vieles andere fiir die Natur dieſer Frau, für
die Bedeutung, die das Liebesleben und andererſeits die Anforderungen des künſt—
leriſchen Triebes für ſie beſaßen. Chopin war mit George Sand auf der Inſel
Majorka. Er konnte aus Geſundheitsrückſichten ſein Zimmer nicht verlaſſen, während
George Sand viel in der Gegend umherſtreifte. So verläßt ſie ihn auch eines Tages,
um in einem unbewohnten Teil der Inſel auf Entdeckungen auszugehen. Ein fürchter—
liches Unwetter bricht los, und Chopin verzehrt ſich in Angſt um das Leben ſeiner
Freundin. In dieſer Stunde der Qual ijt das wundervolle Präludium in Fis-moll
entſtanden. Liszt fährt fort: „Bei der Rückkehr der geliebten Frau verfiel Chopin
in eine Ohnmacht. Sie war mehr gereizt als gerührt durch dieſen Beweis einer
Anhänglichkeit, welche die Freiheit ihres Handelns, ihr zügelloſes Verlangen nach
neuen, gleichviel wo oder wie gefundenen Eindrücken einſchränken, ihr Leben
binden, ihre Bewegungen durch die Rechte der Liebe feſſeln zu wollen ſchien.“
Mit Recht ſagt Liszt, daß ihre Berichte über dieſe Reiſe die Ungeduld verraten,
die ihr bereits eine allzu ausſchließliche Zuneigung erregte, welche es wagte, ſich
ſoweit mit ihr zu identifizieren, daß ſie bei dem Gedanken, ſie zu verlieren, außer ſich
geriet, während ſie ſelbſt ſich doch das ungeſchmälerte Eigentumsrecht über ihre
Perſon vorbehielt und ihr Leben durch die Luſt an Abenteuern rückſichtslos in
Gefahr brachte.
80 George Efiots und George Sands Frauenleben unter dem Gefichtspuntt moderner Probleme.
Und doch war George Sand nicht der faltaicrige Vampyr, als ben man fie
darjtellen will, Cine unendliche Güte wird iby felbjt von ihren Feinden zugeſtanden,
cine ergreifende Warme lag in ibrem Weſen. Es gibt eben Perjinlicdfeiten, deren
Schidfal es ijt, dah ihr Weg mit Blut gezeichnet ſein muß, wenn jie der Menſchheit
das bejte, das fie iby geben können, offenbaren follen, mögen fie felbjt auc nod fo
jebr unter den Opfern, die ihre Natur ecinfordert, Leiden.
Es ijt etwas Fatalijtijdes in George Sands Erſcheinung. Sie, die ihre Romane
wie nachtwandelnd ſchrieb und cine Stunde vorber nods nicht wußte, welches Schicfal
fie in der nächſten ibre Gejtalten nebmen fief, bat auch in einer Urt Paffivitat alle
Handlungen ibres äußeren Lebens, fo auch ihre Eheſchließung, vor fic qeben laſſen.
Und es ift etwas in George Sand, das fie in cinem anderen Sinne als die Maffe
der Menſchen mit der Natur veriwandt erſcheinen läßt. Ich entlinne mid eines Tages
im Hochſommer, da ich in Vignau am Ufer des Vierwaldjtatter Sees war — dort,
wo man von der reinen, kühlen Höhenluft nichts abut und unter nicdrigen, früchte—
ſchweren Obſtbäumen die rubige, reifendDe Macht des Sommers fiiblt. Es war an
einem Tag nach langent Regen. Cine wunderbare Feuchtigfeit lag noch in der Luft.
Ich ſtand am Fenfter und blidte binaus, fab, wie von den Blattern der Baume
langſam runde, ſchwere Tropfen hinabſanken . . . Die ganze Natur atmete Frucht—
barkeit. In dieſer Umgebung trat mir mit einemmal George Sands Bild vor die
Seele . . . Natur wie dieſes! Teil des Großen, Notwendig-Wirkenden, Ver—
ſchwenderiſch-Reichen, Mütterlich-Fruchtbaren! Und, möchte ich hinzufügen: des
Unbewußt-Grauſamen.
Von Frau von Staël ftammt das Wort: „In der Liebe gibt es nur Anfänge.“
Wn George Sands Frauenleben gepriift, hat dies Wort ſeine Berechtiqung. George
Sands Liebe hatte im Grunde nur „Anfänge“ — einer dauernden Hingabe an einen
Mann fiir cin Leben war fie nicht fabig. Aufrichtig und wabr, wie fie ſich aud
in all ibren Liebesverhältniſſen zeigt, ſieht fle die einzige Unfittlichfeit in dem Aufrecht—
erhalten des Scheins der Liebe, wenn diefe felbjt hinweggeſchwunden ijt. Cin
qliibender Hak gegen die Che — mag fie felbjt auch bebaupten, fie wende fich nur gegen
die Ehemänner — flammt aus ihren Werfen hervor. Nirgends febe ich, daß fie die
Bedeutung der Che im Sinne einer Wealen Monogamie erfannt bat, nirgends jebe ich,
dah fie den untilgbaren Ewigkeitstempel gewürdigt bat, der dem Bund von Mann und
Weib aufgepraqt ijt, indent das Kind dure ibn gezeugt wird und als bleibende
Mahnung fiir die Bedeutung der lesten Hingabe daſteht. Lebensſchickſale wie Anlage
mögen bieran in gleicher Weife Schuld tragen. Reine leife, vernebme Hand bat zum
erſten Mal den Schleier von ibrer Perſönlichkeit gehoben, in zu rober Weije ijt fie
zum Weibe gemacht worden, als dak die Empfindung von dem berechtiqten Kern der
Che, dem Ewigkeitszeichen, das die legte Hingabe in tiefer empfindende Naturen cine
brennt, in iby bitte werden können.
Aber hat George Sand die letzte Bedeutung ciner idealen Monogamie nicht erfapt,
fonnte dies Ideal in ibrer ſonſt fo groß und rein empfindenden Seele nicht wachſen —
vielleicht nur, weil der zarte Boden dafiir yu frith zerjtért worden ward — fo bat fie
dafiir auch cinen letzten Schmerz nicht kennen gelernt. Jenen Schmerz, den ich fitr
cinen Der tiefiten balte, deffen das fo leidensfähige Hery des Menſchen fabig ijt —
den Schmerz, das Adeal Der Monogamie in feiner ganjen Reinheit und Kraft zu
fiiblen und auf der anderen Seite als Künſtler mit dem inftinftiven, uncinddmumbaren
George Eliots und George Sands Frauenleben unter dem Gefichtspuntt moderner Probleme. 31
BVerlangen des Künſtlers nach der Fille und Buntheit des Lebens, der Eindrucksfähig—
Feit fiir Neues, neues Wertvolle, in immer friſche qualvolle Gefabren fiir dieſes Ideal
zu geraten,
Dieſen Schmerz fonnte George Sand, iwie gefagt, nicht fiiblen. Ihre Starfe,
wie ibre Schwäche tritt uns bier flar vor Augen. All ihre Irrtümer wurzeln bier —
die fede Ignorierung des Gatten, des Vaters, die in unferer Generation fo itppig ing
Kraut geſchoſſen ijt, Denn wenn ich fagte, daß fich fiir George Clivt fewer eine
Hormel finden lief, fo ijt fie fiir George Sand geqeben. Mebr als das: bei aller
wunderbaren Cigenart diefer grofen Frau ijt etwas in ihr, das fle fajt als geniale
Vertreterin eines beſtimmten Frauentypus unferer Jestztzeit erſcheinen läßt. Ach
meine den Typ der Frau, für die ihre Arbeit und ihre Kinder die Centren des Daſeins
ſind und für die der Mann — oder vielmehr die Männer — nur eine ephemere Rolle
als Geliebter ſpielt. Was aber bei George Sand durch die Größe ihrer künſtleriſchen
Kraft verſtändlich und geadelt wird, iſt als Verallgemeinerung und zum Prinzip er—
hoben der Weg zur Entartung. Cs löſt das heiligſte und ſeelenvollſte Verhältnis,
das überhaupt zwiſchen Menſchen denkbar iſt, und ſpottet der geheimen Weiſung der
Natur, Blut iſt nun eimnal „ein ganz beſonderer Saft”. ,,. . . Nie fein Kind fein?
Aber es war ja dod fein Kind! Wober diejer harte, herriſche Ton, der jie an jenen
anderen erinnerte, gegen den ſich alles in ihr aufbäumte? Ich ſchieß Di dod!!
Sie fah das wollige bellbraune Haar — den ſchöngeſchwungenen Mund — fie ftdbnte
auf. Mochte ihr Knabe den Bater nie gejeben haben — er lebte in ibm! Er war
nicht aus ihm herauszureißen! nicht aus ibm herauszuzerren. Und wenn er jabrelang
ſchlief — irgend cinmal an irgend ciner Stelle fonnte er hervorbreden — unterdriidt
— niedergezwungen — aber elementar — übermächtig. Das Kind war cinmal fein
Blut — war fein Rind — mochte fie eS leugnen, mochte ſie es wehren .. . ....
Menjden, die Kinder baben, find nie gan; tot. Irgend etwas von ibnen lebt nods in
irqend einer Ede untilgbar, unzerſtörbar. Und die Gemeinſchaft lebt — in jedem
Blid, in jeder Bewegung des Rindes! — — —“
Ich habe dieſe Stelle anus meinem vor furjyer Zeit erſchienenen Roman
„Pilgerfahrt“ angeführt, weil fie veranſchaulicht, worauf ich hinweiſen möchte. Auch
die Heldin des Buches glaubt, nachdem ſie ſich in dem Mann enttäuſcht ſieht, dem ſie
ſich hingegeben hatte, ſich und das Kind von dieſem Manne loslöſen zu können und
erkennt erſt zu ſpät ihren Irrtum. Mit allen Theorien der Welt iſt und bleibt
ein Kind das Kind ſeines Vaters — und die „geprägte Form, die lebend
ſich entwickelt“, ſteht da als furchtbar lebendige Mahnung, daß die
beiden, die dies Gemeinſame ſchufen, eine Einheit wurden.
So führt uns George Sands Frauenleben zu den modernſten Problemen unſerer
Zeit. Und wenn wir bei George Sand in ihren Liebesbeziehungen die künſtleriſche
Kraft über das weibliche Empfinden triumphieren ſehen, ſo darf andererſeits nicht
vergeſſen werden, daß gerade das Verhältnis, in dem bei ihr geiſtiges und perſönliches
Leben zueinander ſteht, auf dem fruchtbaren Boden der Mutterſchaft erwachſen iſt
und daher jene Sonderzüge weiſt, die uns kein Mannesſchickſal offenbaren kann.
82
Ghomas Mann, der Dichter Jer BuddSenbrooks.
Bon
@ertrud Baumer.
Nadhbrud verboten. ——
njere künſtleriſche Genußfähigkeit iſt heute weniger als je durch eine Richtung
beherrſcht und beſchränkt. Wenn man in allen früheren literariſchen Epochen
ſich unter den Willen irgend einer Anſchauungsweiſe beugte, die gleichzeitig
Philoſophie und Geſchichte, Dichtung und bildende Kunſt zu durchdringen ſuchte, wenn
man von einem Zeitalter der Romantik und des Klaſſizismus reden kann, ſo iſt das
Zeichen unſres literariſchen Intereſſes eine wunderbar weite Vielſeitigkeit. Wir haben
es gelernt, uns dem Einzelnen hinzugeben, der Perſönlichkeit zu lauſchen, mag ſie
nun Maxim Gorki vder Maeterlinck oder Gerhart Hauptmann heißen. Wir fühlen
uns in beſonderer Weiſe erquickt und beſchenkt, wenn ein durch und durch naiver
Künſtler wie Frenſſen die Reichtümer einer ganz elementaren dichteriſchen Kraft vor
uns ausſchüttet — und doch empfinden wir die berechnete Kunſt in dem Schaffen
eines andern, auch eines Niederdeutſchen, deſſen Dichtung aus einer äſthetiſchen und
pſychologiſchen Feinfühligkeit erwächſt, wie ſie nur die raffinierteſte moderne Kultur
entwickeln konnte. Ich meine den jungen Hanſeaten Thomas Mann.
Es iſt nicht anzunehmen, daß ſeine Bücher hundert Auflagen erleben werden.
Sie ſind nicht dazu angetan, dem patriotiſchen Kulturhiſtoriker das Herz zu erquicken,
als Zeugniſſe einer tatfrohen und lebensmutigen Volksſeele. Kein ſiegesſicherer
Optimismus ſtreckt da ſeine ſehnigen Arme zu immer neuen ſchönen und großen Auf—
gaben. Im Gegenteil. Thomas Mann ſteht vor den bunten Schickſalen der Menſchen
mit einer Frage, deren Löſung wie die Entſchleierung des Bildes von Sais den Tod
bedeutet: mit der Frage nach dem Geheimnis des Lebenswillens. Sie umſpannt
ſeinen großen Roman: Buddenbrooks.) Jn welchem Sinn fie geſtellt iſt, verrät der
Untertitel des Buches: „Der Verfall einer Familie.“
Drei Generationen eines hanſeatiſchen Kaufherrngefdledts fiibrt der Dichter an
und voriiber. Ihre Geſchichte verläuft faſt ausſchließlich in dem eigenen in ſich und
nach außen feſt geſchloſſenen Kreiſe. Die Mächte, die an ihrem Geſchick arbeiten, liegen
in ihnen ſelbſt — ſelten nur und nicht im tiefſten Grunde entſcheidend, greift das
Weltgeſchehen in das Leben des ſtolzen Patrizierhauſes hinüber.
Wir finden die Buddenbroofs am „Familien-Donnerstag“ mit cin paar Haus—
freunden in dem Gefellichaftssimmer, — das „Landſchaftszimmer“ heißt es in der Familie,
nad) den arkadiſchen Schäferſzenen im Stil deS 18. Jahrhunderts auf den jartfarbigen
Tapeten. Thomas Mann hat es wundervoll verfianden, in jedem Wort, das geſprochen
wird, jeder Form, in der die Bezichungen diefer Menſchen fic) äußern, in jedem Stück
ihrer Umgebung eine vornebme, durch äußeres Anſehen und innere Kraft gefeſtigte
Familienkultur auszuprägen.
Da iſt das Familienoberhaupt, der ſiebzigjährige Johann Buddenbrook; cin
Stück der urwüchſigen, friſchen und zähen bürgerlichen Tüchtigkeit, mit der ſeine Vor—
väter fic) heraufgearbeitet haben, miſcht ſich in ibm mit der weltmänniſchen Gewandtheit
und Grazie des weitgereiſten Kaufherrn, der ſeine geſchäftlichen Erfolge nicht zum
) Berlin, S. Fiſcher Verlag.
Thomas Mann, der Dichter ber Buddenbrooks. 33
wenigften der Sicherheit und Eleganz ſeines Auftretens verdanft. Sein rundes, rofiges
Geficht mit dem bebaglichen Doppelfinn, feine heitere, ein wenig leictfertige Spottluft,
die Urt, wie er mit einem ,n’en parlons plus“ furjer Gand über den ungeratenen
Sohn zur Tagesordnung iibergeht, das alles zeigt ibn als cine unfomplizierte Natur,
der das Bewußtſein gejunder Kraft eine heitere Überlegenheit gibt, und die, ohne jemals
durch Sweifel an fic felbft beirrt gu werden, ihren Willen durchführt.
Aber fein Sohn, der Konſul, ift [don ein anderer. Jn wenigen, faum merklichen
Zügen verrat fic) in feinem Weſen ein Erlahmen der Lebensfraft, die fein Geſchlecht
bis dabin aufbliiben ließ. Cr iſt weicher, nervöſer, Ddifferengierter. In einer etwas
gewaltſamen Religioſität fucht fein minder felbjtjiderer Charafter Halt und Troft; bei
ibm beginnt die Liebe zur Vergangenheit feines Geſchlechts, die ſorgſame Pflege alter
Traditionen — eS ift wie ein unbewußtes Zuriidtreten von der Aufgabe, feinem Haufe
eine Sufunft su ſchaffen. In der Wahl feiner Gattin äußert fich eine Neigung zum
Befonderen, Diflinguierten. Cr fann nicht fo entfdieden und feelenrubig wie fein
Vater die Rückſichten der Firma gegen den pflichtvergeffenen Bruder geltend machen.
Es ift im unerträglich, daß er Dann der Getwinnende fein wird. Und fo wird der
Schatten, der an jenem Familien:-Donnerstag über dad zuverſichtliche, ſtolze Wobhlbehagen
ber Buddenbroofs hinhuſcht, von ifm allein wabrgenommen. Die Rede fommt auf die
früheren Befiger des alten Gaufes; fie find verarmt, beruntergefommen, fortgesogen.
Der Ronful weif, woran e lag. Die Familie war eben passée, fie hatte ab-
gewirtſchaftet, ihre Zeit war voriiber. Der legte, der die Kataftrophe herbeiführte,
war nicht mehr Herr feines Schickſals. Er handelte unter dem Swang einer unerbitt-
lidhen Naturnotwendigkeit. — Konſul Buddenbroof bringt fein Leben nicht auf fiebenzig
Sabre wie fein Vater. Er altert ſchon als Vierziger. Er wird als Geſchäftsmann
ängſtlich, übervorſichtig; der Zuſchnitt der Firma bleibt ftabil. Und er ftirbt in einem
Ulter, das fiir feinen Vater nod voller Plane und Unternehbmungen war.
Cine glanjende pſychologiſche Kunſt entfaltet Thomas Wann nun in der
Charafteriftif der Sdhne de3 Konſuls — jeder von ibnen Erbe ciner fiber ihr Maß
qefteigerten ariftofratijden Rultur. In dem einen, Chriftian, verjagt die Kraft, feine
Perjinlicfeit zu einheitlichem Wollen und Tun zuſammenzufaſſen, gang und gar. Sie
jcheitert an einer unheimlichen und maßloſen Empfindlichkeit, die ibn jedem körperlichen
und feelifdjen Cindrud ganz unterwirft, ein feinbefaitetes Inſtrument, auf dent ſich das
Leben in grotesfen, jerfabrenen Melodien reproduziert. Jedes Körpergeſühl, jede
Erregung verzerrt ſich ihm krankhaft durch eine unausgeſetzte nervöſe Selbſtbeobachtung.
So iſt er unfabig, au irgend emer Konſequenz det Anſchauungen, ju irgend einer
Feftigteit und RKlarbeit der Lebensformen zu fommen. Nur in immer neuen Senfationen
findet ex voriibergehende Genugtuung. Gein äußeres Leben iit verwirrt und zerſtückt.
Er ift überall nichts als der Bajazzo, der jedermann mit feinem fabelhaften Beobachtungs—
und Nadahmungétalent unterbalt — im übrigen aber den Namen der Buddenbrooks
durch unaufodrliche, immer offenfundigere Taftlojigfeiten fompromittiert. Thomas Mann
ijt unerſchöpflich in der fonfreten künſtleriſchen Durchführung dieſes mit wunderbarer,
man fann jagen, wiſſenſchafilicher Schärfe erfaßten Typus.
Der Trager des Gejchices der Familie Budvenbroof ijt aber Thomas. Intelligent
utd ebrgeizig, dabei ein durch und durch moderner Menſch, ſcheint er durch eine kühnere
und gemalere Geſchäftsleitung der Firma den alten Glanz auch unter den verdnderten
äußeren Vedingungen wieder erobern qu wollen. Seine Bildung, fein weiter Blid,
jeine geſellſchaftliche Sicherheit verſchaffen ihm an dugerem Anſehen, an Ehren und
Wiirden mehr, als einer feiner Vorfahren beſeſſen. Das Geſchäft blüht unter feiner
Hand fichtlich auf. Und im Gegenjag yu Chriſtian iit in ihm jene andere Ceite alter
Familienfultur ſtark ausgeprägt, nämlich das empfindliche Pflichtbewußtſein, das eine
Sharafterform wird, wo Generationen ju Trägern ſchwerer Berantwortungen erjzogen
werden mußten. Uber dieſe Strenge in den Anfpriichen an ſich felbjt bat bei Thomas
Buddenbrook dod) nod cine andere pſychiſche Grundlage, das tiberempfindliche Gefühl
fix eine gewiſſe äſthetiſche Abrundung und Vollfommenbeit jeder Leiſtung, das fic
danernd fritifdy gegen die eigne Perſon richtet. Mur aus der VBefriediqung dicier
3
34 Thomas Mann, der Dichter der Buddenbrools.
peinlich wagenden Selbjifriti€ erwächſt ibm fein Selbjtvertrauen und die Zuverſichtlichkeit
ſeines Auftretens. Er mug es fic in beftdndiger äußerſter Anftrengung feiner nervifen
Kraft erfimpfen. Und er gewinnt diefe 2** immer ſchwerer. Der Dichter
bat das in einer Menge feiner Einzelzüge bis ins Kleinſte und Äußerlichſte hinein
durchgeführt. In dieſem Kampf, der ſich mit Naturnotwendigkeit immer ſubtiler
— verzehrt ſich die letzte Lebenskraft, die das alte Geſchlecht aus ſich zu erzeugen
vermochte.
Hundert Symptome, von denen eins das andere trägt, eins unerbittlich aus
dem andern hervorwächſt, zeichnen den glänzenden, eleganten Thomas Buddenbrook
immer deutlicher als einen Verbrauchten, Aufgeriebenen. Die ererbte Neigung zum
Beſonderen, Außergewöhnlichen, zeigt ſich bei ihm als Vorliebe für das Raffinierte
und Extravagante, an die Stelle von ſeines Vaters gezwungener Gläubigkeit hat er
nichts Poſitives zu ſetzen, wohl aber liegt ein Reiz fiir ibn darin, ſich durch ſteptiſche
oder revolutionäre Bücher einmal über alle Werte, an die fein Leben gebunden ijt,
wegiegen zu laſſen. Nichts ſcheut er mebr alS Banalitdt oder ein unbeherrſchtes
Preisgeben feiner Innerlichkeit. Immer weidht er injtinttiv dem Einfachen und All—
tiglicben aus und fudt darüber binaus das Verfeinerte, Differengierte. Und er fieht
vor jeinem Geſchick als ein Wiffender. Das äußert fic) beſonders flar in dem Wider:
willen gegen feinen Bruder. Er fieht in Chrijtian den Sieg der Mächte, gegen die
er mit Aufbietung aller Energie kämpft, und das Verſiegen aller Krajtquellen, auf die
et angewieſen ijt, um fic) gu bebaupten. Und es zeigt fic) ebenſo carafteriftijd in
der reizbaren Ctrenge gegen feinen Cohn, den jarten fleinen Hanno, dem die
fiinftlerijdbe Beranlagung der Mutter als nod eine jehrende, aufreibende Macht ins
Leben gefolgt ift. Thomas Budbenbrook fieht, wie der cingige Erbe de} Namens
Buddenbroof von den Anfpriiden dieſes Namens erdriidt werden mug. Aber er will
ſich gegen diefe Einſicht mit Gewalt verſchließen, aus Selbfterbaltungétrieb, denn er
fann den Glauben an die Sufunft, den ftdrtiten Stimulus feiner verjagenden Kraft,
nicht aufgeben. — Und dann bricht doc auf einmal diefe immer wieder aufgepeitidte
Kraft jib zuſammen. Cin forperlicher Cingriff von graufamer und hobnvoller Gering-
fiigigfeit ijt genug, feinen Tod berbeijufiibren. Und der eine Hanno hat ſchon den
Anforderungen fener Schulfnabeneriftens feine Widerftandefabigkeit mehr entgegen=
sujegen. Cr zerbricht unter ihren Anjpriiden,
So vollzieht fic diefer „Verfall einer Familie” mit der flillen Sicherheit eines
Naturvorgangs. Keine grofen dugeren Ereignifje greifen gewaltjam vernichtend ein.
Langjam verjebrt ſich die gebeime, unfapbare Energie, dic dads Leben an ſich reift
und befiegt, eine immer feiner werdende ſeeliſche Konſtitution bringt taufend verzehrende,
aufreibende Spannungen, denen feine robufte Willensfraft mehr die Wage Halt.
* *
*x
Die Abhängigkeit unſeres Schidjals von jenem verborgenen, gleichjam organifden
Lebenswillen in uns — das ift das Grundproblem von Thomas Mann's Dichtung.
Aud in feinen Novellen febrt es immer wieder, Der Wille gum Glück halt den
Todfranfen gegen alle jogenannten natürlichen Gefege aufredt, bis das Glück fommt,
und das geipannte gldubige Warten auf den Tod zieht ibn pünktlich zur erwarteten
Stunde berbei. „Niemand ftirbt unfreiwillig. Das Aufgeben des Lebens und die
Hingabe an den Tod geſchieht ohne Unterichied aus Schwäche, und diefe Schwäche
iit ſtets die Folge einer Kranfbeit ded Körpers oder der Seele, oder beider. Man
jtirbt nicht, bevor man einverftanden damit iſt“ — — —. Das find zwei Novellen
aus ber erften, 1898 erjcbienenen Sammlung „Der fleine Here Friedemann“.)
In anderen wird das Grundtbema variert. Nicht nur Leven und Tod, aud
Rreude und Schmerz, Erfolg und Wiglingen, Kraft und Ohnmacht fteigt aus diefer
Tiefe des Lebenswillens. Und fo fcbeiden fich die Menjchen im die eigentlich Lebens-
) Berlin, S. Hither Verlag.
Thomas Mann, ber Dichter der Buddenbrools. 85
flarfen, die in frohbem Selbftgeniigen gu ibren Zielen ſchreiten, juverfidtlid) und darum
ftoly und ſchön, und die anderen, die dazu bejtimmt find, fich zu blamieren, im grofen
und im fleinen, vor fich felber oder vor der Welt. Und mit diefen legten, den
Verjpiclten und Mißratenen, den Unjuldnglicen und Ziellojen, bat der Dichter eS zu tun.
Wie fie mit Ddiefen LebenSfiarfen ringen in ſehnſüchtiger Liebe und berwundernder
Ergriffenbeit, oder in bitterem Neide, in Haß und ohnmächtiger Wut, das gibt den
Stoff fiir die glaingendfien feiner Novellen. Die erſte Skizze der zweiten Novellen-
fammlung') gehört dabin, ,Der Weg gum Friedhof“. Cin Symbol von erfchittternder
Wahrheit ift diejer verfommene, arme Schreiber, in feinem ohnmächtigen, unfinnigen
Born über den elegant an ihm vorbeijaujenden Radler, und man fann fic nichts
Ironiſcheres denfen, alS die Art, wie man fic) feiner prompt und ohne Umſtände
entledigt. Thomas Mann hat eine Vorliebe fiir jolche feltjame, verjweifelte Oppofition
eines einzelnen lächerlich unbebilfliden Menſchen gegen das Leben, das triumpbierend
in ſeiner grenzenloſen Ungerechtigfeit an ibm vorbeijchreitet, Herr Spinell in der feinen
Novelle ,,Trijtan”, aud) Hieronymus in , Gladius Dei” find folche traurigen Narren.
x *
*
Von dem Kiinftler Thomas Mann ijt nod) nicht die Rede gewefen. Jn feiner
Novelle ,,Tonio Kroger” hat er über das Wefen des künſtleriſchen Schaffens Worte
gejproden, die einem Gelbftbefenntnis nabe fommen. „Man arbeitet ſchlecht im
Frühling,“ fagt Tonio Kroger, ,gewif, und warum? Weil man empfindet. Und
weil der ein Stiimper ijt, der glaubt, der Schaffende dürfe empfinden. Seder edhte
und aufridtige Künſtler lächelt über die Naivetät Ddiejes Pfuſcher-Irrtums, —
melancholiſch vielleicht, aber er lächelt. Denn das, was man ſagt, darf ja niemals
die Hauptſache ſein, ſondern nur das an und für ſich gleichgiltige Material, aus dem
das aſthetiſche Gebilde in ſpielender und gelaſſener Überlegenheit zuſammenzuſetzen iſt.
Liegt Ihnen zu viel an dem, was Sie zu ſagen haben, ſchlägt Ihr Herz zu warm
dafiir, fo können Sie eines vollſtändigen Fiaskos ſicher fein. Sie werden pathetiſch,
Sie werden ſentimental, etwas Schwerfälliges, Täppiſch-Ernſtes, Unbeherrſchtes,
Unironiſches, Ungewürztes, Langweiliges, Banales entſteht unter Ihren Händen ....
Denn ſo iſt es ja: Das Gefühl, das warme, herzliche Gefühl iſt immer banal und
unbrauchbar, und künſtleriſch ſind bloß die Gereiztheiten und kalten Ekſtaſen unſeres
verdorbenen, unſeres artiſtiſchen Nervenſyſtems. Es iſt nötig, daß man irgend etwas
Außermenſchliches und Unmenſchliches ſei, daß man zum Menſchlichen in einem ſeltſam
fernen und unbeteiligten Verhältnis ſtehe, um imſtande und überhaupt verſucht zu ſein,
es zu ſpielen, damit zu ſpielen, es wirkſam und geſchmackvoll darzuſtellen. Die
Begabung für Stil, Form und Ausdruck ſetzt bereits dies kühle und wähleriſche Ver—
hältnis zum Menſchlichen, ja, eine gewiſſe menſchliche Verarmung und Verödung
voraus. Denn das geſunde und ſtarke Gefühl, dabei bleibt es, hat keinen
Geſchmack. Es iſt aus mit dem Künſtler, ſobald er Menſch wird und zu empfinden
beginnt.“ ...
Dieſe Gedanken find fiir die künſtleriſche Eigenart von Thomas Mann charakteriſtiſch.
Ich will nicht ſagen, daß ſie ganz mit ihnen identifiziert werden könnte. In einer
ſolchen Weite und Zartheit der Beobachtung und ſolcher Fühlung für feine Perſönlichkeits—
werte liegt viel mehr als das „kühle und wähleriſche Verhältnis“ des arbeitenden
Künſtlers zu ſeinem Stoff. Ihre Vorausſetzung iſt vielmehr gany die gleiche, wie bei
der „heiligen“ ruſſiſchen Literatur, von der Tonio Kröger mit melancholiſchem Neide
ſpricht: ein verſtehendes und liebevolles Umfaſſen des Lebens mit den Organen tiefer
und echter Menſchlichkeit.
Aber das bleibt beſtehen, daß in Thomas Manns Künſtlertum eine ins Feinſte
durchgebildete äſthetiſche Kultur ein ganz weſentlicher Faktor iſt. Auf Schritt und
Tritt empfinden wir die Mitwirkung dieſes höchſt anſpruchsvollen, höchſt wähleriſchen
') Triſtan. Sechs Novellen von Thomas Mann. Berlin 1903. S. Fiſcher Verlag.
3*
36 Thomas Mann, der Dichter der Buddenbroofs.
Geſchmacks: in den raffinierten Wendungen und Pointen feiner Erzählkunſt, bem Taft,
mit bem er andeutet, verfdweigt, umſchreibt; überall eine berednete Ausnugung der
StimmungSswerte, man möchte jagen jedes Wortes, wie fie in der modernen Novelliftif
ſonſt faum 3u finden fein dürfte. Und fo gelingen ihm die heikelſten künſtleriſchen
Exrperimente — es gelingt ibm, Stimmungen, fo flüchtig und unweſenhaft wie die,
aus der die Studie „Der Kleiderfdrant” rie nanos ift, gang klar und zweifellos
auszudrücken, ohne doch ihre verſchwimmende Zartheit gu verlepen.
Gine doppelte Gefabr liegt nad) meinem Gefiihl in diefer Art künſtleriſcher Ver-
anlagung. Gie ift nach der intelleftuellen Seite etwas gu ſtark belajtet. Sie macht
geneigt, die Dinge yu abftratt und theoretijd zu fagen, ſchwere Begriffsworte zur
Vermittlung von Stimmungen gu veriwenden. Dieſes Umſchlagen der künſtleriſchen in
bie wiffenidjaftlide Sprache fann als dichterifche Abſicht zuweilen von groper und
{hiner Wirkung jein — 3. B. wo in „Buddenbrooks“ vom Tode ded fleinen Hanno
bie Rede ijt. Störend tritt dieſe Neiqung aber juweilen in den Novellen Hervor,
— aud in der als Qnterpretation wundervollen Umidreibung der Triſtan-Muſik. —
Dann aber liegt in dem, wenn aud) feinfiihligen Spielen mit Effelten, in der Richtung
dieſer Kunſt auf überraſchende, jähe Beriihrungen dev Nerven eine Tendenj, immer
ungewöhnlichere, ftirfere Wirfungen aufjufuden. Thomas Mann wird der Gefabr,
dabei die fiinftlerijdje Rube und maze gu verlieren, ficherlic) nicht fo leicht erliegen,
wie die vermutlich nicht fleine Zahl derer, die es ibm nachmachen werden. Aber
„Luischen“ ftebt dod ſchon an der Grenje, wo die künſtleriſche Geftaltung nicht mehr
fiber die peinliche Brutalitat de} Motiv hinaushebt.
Im Roman, der e3 nicht mit der Herausarbeitung einer Pointe, fondern mit der
ganjen Fülle und Mannigfaltigfeit des Lebens gu tun hat, liegt diefe Gefahr nicht fo
nabe. ,,Buddenbroofs” ijt ausgezeicdhnet durd eine vornehme Rube der Charafteriftif.
Thomas Mann erfaßt feine Perjonen bei wenigen vielfagenden Ziigen und verfolgt
dann die Weife des Bildhauers, der feinen Meifel immer wieder an denfelben Linien
entlang führt, um fie immer mebr ju vertiefen. Tony Buddenbroof und Chrifiian,
Gerda Arnoldjfen und Seſemi Weichbrodt, auch der Eleine Hanno treten uns immer
wieder mit den gleiden — aud) wörtlich gleich) ausgedritdten — Merfmalen ihrer
Erſcheinung, ibrer Bewegungen, auc mit gleichen Redewendungen entgegen, und es iff
das, mit der techniſchen Sicherheit und dem Gefchmad eines Thomas Mann angewendet,
zweifellos ein gliidlider Runfigriff, uns die Perjintichfeiten immer wieder lebendig zu
machen und ibre Kontinuitat durch einen ſolchen Generationenroman feftzubalten.
* *
+
Nur wenige Ziige einer fo reidjen, vielfeitigen und komplizierten Dichterperſönlichkeit
fann ein furjer Aufſatz andeuten. Und in der Auswahl aus der Fülle des Hervor-
hebenswerten wird die eigene Neigung trog alles Willens gu objeftiver Darjtcllung
und Wertung ju fpiiren jein. Vielleicht tritt Thomas Mann anderen von anderer
Seite nabe — vielleicht ijt er auc) objeftiv nod) aus anderen Zentralpunften ju
erfajjen. Wher dem Lebenden, dem in der Gegenwart, heute und morgen gu uns
tredenden Dichter antworten die Cingelnen mit ihren individuellen Cindriiden. Später
wird einmal die literariſche Wiſſenſchaft ihr wägendes, umfaſſendes Urteil fprecen.
An Thomas Mann wird fie ficherlicy nicht voriibergeben.
87
huise von Sachsen-Weimar.
Bon
Maria von Bredow.
Raddrud verboten.
Zuf den ftrebenden Menfeben übt eine Biographie einen ftarfen Reiy aus.
F Dieſer Nei; entipringt nicht nur aus dem wiſſenſchaftlichen Werte der Arbeit,
* erwächſt auch nicht aus der Bereicherung der pſychologiſchen Crfenntnis,
jondern berubt auf der Befriedigung eines perſönlichen Bedürfniſſes. Die großen
Lebensfragen brennen in jeder ringenden Seele, ein jeder fiebt ſich vor der Aufgabe,
Die Menfeblichfeit in einer ibm gemäßen Weife darzuftellen. Das Gefühl der Ber:
antwortlichfeit aber treibt dazu, das Leben anderer zu ftudieren. Sind fie ihres
Schickſals Meijter geworden? Haben jie ibres Wejens Kern herausgehämmert, daß er
far bervortrat und lebendig zu wirken vermodte? Sind fie durchgedrungen zur
Harmonie oder ijt in ihrem Wefen eine Diſſonanz, in ihrem Charakter ein Bruch
geblieben?
Unſerem modernen Frauengeſchlecht aber eignet das Ringende, Taſtende, aus dem
Dunkel zum Lichte Strebende. Wir ſuchen die Menſchlichkeit in einer uns gemäßen
Weiſe zum Ausdruck zu bringen; darum iſt uns jede Biographie hervortretender Frauen
bedeutſam, gleichgiltig, ob ſie zur Vollentfaltung ihrer Kräfte durchdrangen oder in
ihrer Entwicklung und Wirkſamkeit ſich gehemmt und gedrückt ſahen.
Von dieſem Geſichtspunkte aus erſcheint die reiche Materialienſammlung, welche
Eleonore von Bojanowski in ihrem Buche: Luiſe, Großherzogin von Sachſen-Weimar!)
gibt, außerordentlich dankenswert.
Das Lebensbild dieſer Fürſtin ſtellt uns vor ein Problem. Aus eigener Wahl
reicht Lniſe von Heſſen als Achtzehnjährige dem jugendlichen Karl Auguſt von Weimar
die Hand und tritt dadurch in eine Umgebung ein, in der ſich das geiſtige Leben dieſer
reichen Zeit in einzigartiger Weiſe ſammelt. In dieſer Umgebung, in der Anna
Amalie ſich ſo wohl fühlt, in der ſie ihre Perſönlichkeit mit voller Kraft geltend machen
kann, ſteht Luiſe im Dunkel. Sie wird die Gemablin eines Fürſten, der, cine geniale
Natur, nach ſchwerem Entwicklungsgang ſich zur Tüchtigkeit ausreift und eine Kette
tiefſter Wirkungen zurückläßt. Und an der Seite dieſes Gemahls ſcheint der Lebens—
ſtrom in ihrer Bruſt zu verſiegen, wie Proſerpina nach dem ſymboliſchen Apfelgenuß
ſinkt ſie immer tiefer in das Reich der Schatten — des Mißtrauens, der ſcheuen Ver—
ſchloſſenheit, des einſamen Grams. Die Ziige der achtunddreißigjährigen Fürſtin zeigen
eine eingeſchloſſene, zurückgeſcheuchte Seele.
Und doch glaubte jeder, mit dieſer Ehe ein tiefes Glück für beide Teile begründet
zu ſehen. Die Zeitgenoſſen jubeln der Verbindung der jiingiten Tochter der „großen“
Landgräfin Katharina von Heſſen, die ihrer Mutter „an Herz und Geiſt gleiche“,
mit dem jungen, ſo viel verſprechenden Karl Auguſt zu. Die Prinzeſſin war in
Darmitadt aufgewachſen, zu einer Zeit, da ſich im Darmſtädter Leben cine geiſtige
Färbung bemerkbar machte, da der junge Goethe „als Wanderer“ mit Urania und
Vila ſchwärmeriſche Mondſcheinpartien machte und mit Merck in fruchtbarer Verbindung
) J. G. Cotta Rachf., G. m. b. H. Berlin und Stuttgart 1903.
88 Luiſe von Sadjen- Weimar.
jtand, da Herder ſich mit Karoline Flachsland, der „Pſyche“ Goethes, „der leichten,
vergniigten Unſchuldsgöttin, der Blume der Menſchheit“ verlobte. Die Landgräfin
Katharina hatte durch die von ibr veranlafte erjte Sammlung Klopſtockſcher Oden
ibren Anteil an der erwachenden deutfchen Literatur gezeigt, und fo erſcheint ibre
Tochter, die fecblanfe, anmutige Prinzeſſin, den Zeitgenofjen wie eine Verkörperung der
„ſchönen Seele”, der mafvollen Anmut, des Ideals der Weiblichfeit, wie es ſich dieſe
Beit geformt hatte. „Prinzeß Luiſe! Wahrlich, eine große Seele — icy bitte jie
küſſen mögen!“ ruft Lavater, „der Seelenkenner“, mit dem die jugendliche Pringeffin
in cinen brieflichen Gefühlsaustauſch tritt. Und. dod ift diefer ganze Anflug von
Empfindſamkeit ihrem Weſen fremd, eS ift ein Zug, der in fie von den Zeitgenoſſen
hineingetragen wird — Bliitenftaub, der von außen auf die nods weiche, unentwickelte
Knoſpe fallt, cine Weile haften bleibt, um von der fich entfaltenden Blume abjufallen,
ohne den leiſeſten Fruchtanſatz zu bringen. WAber diefer Bliitenftaub war geeiqnet, das
Herbe der jugendlichen Knoſpe liebevoll zu umbiillen, die Selbjtindigfeit ihrer Natur
zu verbergen.
Schon die Mutter, eid früh verjtorbene, vermift in ihrer Charafteranlage die
Weichheit. Jn ibren jugendlichen VBriefen tritt die Perſönlichkeit ſo wenig bervor, das
jie uns falt und fonventionell erfcbeinen. Diefe qebundene Zurückhaltung bewabrt Luiſe
lange Beit felbjt in dem vertrauteften brieflichen Verkehr. Sogar in den Briefen an
den geliebten Bruder, den Prinzen Chriftian, in denew ſich fonft einige feinere Farbungen
ibres Temperaments offenbaren, ſpricht fie nicht von den Menſchen des Hofes und
ibres Umgangskreiſes in Weimar. Erſt als reife Frau beginnt fie Goethe yu erwabnen.
Dieſe cigentiimliche Abgeſchloſſenheit und Keuſchheit, dieſes geringe Bedürfnis, ſich aus-
zuſprechen, die Unfähigkeit, ihr Weſen nach außen hervortreten zu laſſen, ſcheint der
ganz unentwickelten Perſönlichkeit ſchon zu eignen, ohne daß Die Wurzel dieſer Er—
ſcheinung gleich erkennbar wäre. Der junge Karl Auguſt ſchreibt in einem Briefe an
Wieland nach ſeiner Verlobung eine Charakteriſtik ſeiner jungen Braut: „Sie beſitzt
diejenige große Eigenſchaft,“ ſagt er deutſch in einem ſonſt franzöſiſch geſchriebenen
Brief, „welche Leſſing in Delheim ſo ſehr veredelt, nämlich nie von einer Tugend zu
reden, die ſie beſitzt, es ſei denn die höchſte Not.“ Dieſe Scheu, mit der ſie ihr
Innenleben verhüllt, hält fie zeitlebens dann im Schatten, bis der Augenblick ſchwerer
Bedrängnis fie zwingt, hervorzutreten, und der Heroismus ihres Charakters Napoleon
die bewundernden Worte abringt: „Voilà pourtant une femme, à laquelle nos
deux cents canons n'ont pas pu faire peur.“
Die Keuſchheit, mit der fie von ibren Tugenden ſchweigt, deutet aber nod auf
cine andere Seite ihres Weſens, nämlich auf eine ftarfe Wabrbeitslicbe, die in der
fittlics fraftigen Anlage der jugendliden Prinzeſſin begründet ſcheint, und die fie jeden
duferen Glanz, jede Effekthaſcherei fürchten läßt. Mit diejer intimen Dnnerlichfeit,
dieſem ausgeprägten Sittlichfeitsgefiihl, verbindet fics ein Sinn fiir das Schickliche, der
ſchon die ſechzehnjährige Prinzeß, „die zarte, leichtverlegliche’ mit „einer Mauer” um—
gibt. Die Landgräfin Katharina, der die Tochter ſo ähnlich ſein ſollte nach dem Urteile
Der Zeitgenoſſen, und mit der fie in Wahrheit wenige Züge gemeinſam bat, beluſtigt
ſich in ibrer frifehen, etwas derben Art über ihre ſcheue Empfindlichkeit und nedt fie,
indem fie ihr in Petersburg anläßlich eines Maskenballs, als Herr verkleidet, entgegen—
tritt und einen etwas feden Ton anſchlägt; fie weidet fich an der tiefen Entrüſtung
der faſt nod) kindlichen Prinzeſſin.
Dieſer Sinn für äußere Formen eignet ihrem Weſen in einer Weiſe, daß er
durch ihr ganzes Leben ein hervortretender Zug bleibt. Der Kanzler von Müller
zeichnet die Herzogin, wie ſie „die alte Hofſitte repräſentierend, den oft zudringlichen
Anforderungen wandernder, in der Genieherberge Weimars fleißig einkehrender Dichter
und Dichtergenoſſen den Damm des Hofgebrauchs entgegenſtellt.“ Schiller hat Bedenken,
der Fürſtin ſeinen „Handſchuh“ vorzuleſen, da ſie an der Schlußſtrophe Anſtoß nebmen
könne. Mit den zunehmenden Jahren ſteigert ſich die Förmlichkeit ihrer Haltung, aber
ſchon aus der jugendlichen Erſcheinung ſpricht „ein ruhiges Bewußtſein weiblicher und
fürſtlicher Würde, Das vereint mit der aufrechten Haltung ihrer mittelgroßen ſchlanken
Luife von Sachfen- Weimar. 39
Figur ibrer Erſcheinung trog ihrer Jugendlichfeit den Ausdruck ſtolzer Gelaſſenheit
verleibt.” Schiller ſchildert ſie Körner als eine edle Figur, „aber mit viel Stolz und
Fürſtlichkeit im Gange“. Und Schiller gegenüber tut ſich dieſes hochariſtokratiſche
Empfinden der Fürſtin des achtzehnten Jahrhunderts in charakteriſtiſcher Weiſe fund.
„Sie findet es ſchade, daß ein ſo anziehendes und hübſches adliges Mädchen (wie
Lotte von Lengefeld) Schiller, dev jest Profeſſor in Jena fei, heirate.“
Aus: „E. von Bojanowshi,
Luife, Grofhersogin ven Sadjfen- Weimar.”
J. G Cotta fhe Buchhandlung Nachfolger, G m. 6. O. in Stuttgart und Berlin.
So ftarf ijt dies Selbſtgefühl der Fürſtin, fo febr mit dem inneriten Kern ibrer
Individualität verwachſen, daß es ſogar im jtande ijt, ſpäter ibre Freundſchaft mit
Herder zu zerreißen, mit Herder, deſſen geiſtigem Einfluß fie viel Mube und Kraft zum
Ertragen verdantte. Die verſchiedenen Anſichten über die franzöſiſche Revolution
bracken das Verhältnis. Sie fornte Herder nicht ganz vergeben, dah er das Regen
einer neuen, qrofen Beit in ciner Bewegung fab, in welder fe mur einen gabnenden
Abgrund erblidte, in dem dic Lisherige Weltordnung zu verjinfen drobte.
Es war dies empfindliche fürſtliche Selbſtgefühl auc, das Luiſe veranlaßte, ibre
Hand Rarl Auguſt zu reichen, ja, durch die Generalin von Yrettlad auf cine Bee
40 Quife yon Sachfen- Weimar.
ſchleunigung ibrer Vermählung ju dringen. Da fie gar keine Besiehungen yu ibrem
Vater hatte, der, cin Sonderling, ſeiner eigenen Familie ſehr fern ſtand, war ſie nach
dem Tode ihrer Mutter an den Hof von Karlsruhe, zu ihrer Schweſter, der Erbprinzeſſin
von Baden, gezogen. Dort aber fühlte ſie ſich nicht an ihrem Platz, ihre Stellung
entſprach nicht ibren Wnjpriichen; fie hoffte in Weimar einen ibrer fiiritlichen Würde
gemäßen Wirfungstreis yu finden. Sie gieht Karl Augujt dem Erbprinzen von
Medlenburg vor. Ihre Mutter hatte fdon an eine Verbindung dieſer ihrer jungften
Tochter mit Anna Amaliens Sohn gedacht, und bei der Begegnung in Erfurt 1773
hatte der 16jäahrige Knaben— Jüngling Eindruck auf das halberwaͤchſene Maden gemacht.
Außerdem glaubt ſie ſich geliebt. Karl Auguſt war zur Zeit ihrer Verbindung noch
nicht in ſeine große Entwicklungsphaſe getreten, welche Goethe in „Dichtung und
Wahrheit“ und in „Ilmenau“ charakteriſiert. Roch ſtand er in der Tradition, eben
war er aus der Hand des Erziehers entlaſſen, am 3. September 1775 hatte er zwar
die Regierung übernommen, ſie während der Vermahlungsfeierlichkeiten aber in der
Mutter Hand suriidgelegt. Er war nods ganz jung, ganz unreif, feine Mutter wünſchte
die Verbindung mit Luije von Heffen. Ceine Stellung zu feiner Vermablung charafterifiert
fic) durch die Worte, die er an Dalberg febreibt: „Jedermann rühmt ihren Charafter;
jie wird mir belfen, meine Untertanen glücklich zu machen; Den angenebmen Cindrud,
den fie in Erfurt auf mich gemacht bat, babe ich nie vergeſſen. Wie fonnte ich Anjtand
nebmen . . .“ Ebenjo flingen die Worte aus einem Briefe, den er von Frankfurt aus
auf der Brautfabrt an die Mutter ſchreibt: „Jedermann fpricht unendlich viel Gutes
von Luife, und Seine Hobeit (der Crbpring von Medlenburg), mein Rebenbubler, war
ſchrecklich verliebt; ich würde ſehr gliidlid) fein, vorgeyogen zu werden.“
He Ht
a
So treten diefe beiden Kinder in dic Che. Die „dämoniſche“ Natur des Herzogs,
mit dem kräftigen Triebleben, dem ungeitiimen Begebren, läßt ſich durch die Che-
feſſeln nicht zurückhalten, ſich voll ausjuleben, um ſich — nach ſchweren Jahren
unablaffigen Ringens sur Entfaltung zu bringen. Der jungen Aran wird natitrlich
cin gleiches Recht des Cichentividelns nicht zugeſtanden. Sie ftebt in der engen
Sphäre fürſtlich— weiblicher Taätigkeit, von ihr wird erwartet, daß fie im weſentlichen
mit ihrer Perſönlichkeit fertig iſt, daß ſie jedenfalls das Maß innrer Harmonie, Güte
und Milde hat, das zu einem ehelichen Zuſammenleben nötig iſt, daß ſie ſich in den
Gatten einlebt, denn ſie iſt Gattin und wird Mutter.
Luiſe hatte ſo viel von Weimar erwartet, und gleich bet ihrem Eintritt ward
ſie enttäuſcht. Sie, die ſolch ausgeprägtes Gefühl für das fürſtliche Dekorum hatte,
fand kein ihr angemeſſenes Heim. Das Fürſtenſchloß war Ruine, das proviſoriſche
Wohnhaus ein ſchmuckloſes, nüchternes Gebäude. Dreißig Jahre mußte ſie, deren
Weſen durch Außerlichkeiten ſo leicht verletzt wurde, auf ein würdiges Heim warten.
Aber ſchlimmer als das, — ſie fand ſich in die Rolle einer Zuſchauerin verwieſen
an einer Stelle, wo ſie gehofft hatte, die Handelnde zu ſein. Wenn Anna Amalia,
die erſt in den Dreißigern ſtand, auch die Regentſchaft niedergelegt hatte, ſo wollte
dieſe hoch begabte Frau, die Weimar aus der kleinſtaatlichen Bedeutungsloſigkeit
gehoben hatte, natürlich nicht auf ihre führende Stellung in den geſellſchaftlichen und
literariſchen Kreiſen Weimars verzichten. In ihrem Palais hatte ſie einen Muſenſitz
geſchaffen, deren Mittelpunkt ihre geiſtvolle Perſönlichkeit bildete.
Neben der reichen, kräftigen Individualität der Vollentfalteten trat die jugend—
liche Erſcheinung der ſcheuen, verſchloſſenen, zurückhaltenden Herzogin in den Schatten,
Sie fühlt ſich bei den Feſten überſehen. Sie klagt ſpäter, man habe ſie in den erſten
zwanzig Jahren in Weimar kaum gegrüßt. Nie hat ſich ein warmes Verhältnis
zwiſchen Luiſe und ihrer Schwiegermutter ausgebildet; nie hat Luiſe einer bitteren
Schärfe Herr werden können, mit der ſie der Fähigkeit Anna Amaliens, Eindruck
zu machen, gegenüberſtand. Denn ihr fehlt die Gabe, durch welche die Frau auch
Luife von Sacdfen: Weimar. ; 41
im — Geſchick Glück finden kann, die Gabe, rein durch die Perſönlichkeit
zu wirken.
Die Wurzel, aus der all ihre Zurückhaltung, ihre Scheu, ſich auszuſprechen, ihre
Herbigkeit entſpringt, ſie zeigt ſich im Eheleben: Luiſe iſt eine völlig unſinnliche Frau,
ihr rinnt der Lebensſtrom nicht heiß durch die Bruſt, ihr fehlt jedes kräftige Trieb—
leben. Damit aber fehlt ihr die natürliche Wärme, der mütterliche Inſtinkt und die
Fahigkeit, ſich in cine andere Natur einzulauſchen, einzufühlen: jene Phantaſie, die dem
Menſchen ermöglicht, die eigene Pſyche der Pſyche des anderen anzuſchmiegen, unbewußt
oder auch bewußt die Färbung ſeines Weſens anzunehmen, und durch die Frauen, wie
Rahel Varnhagen, Charlotte von Stein, ſo außerordentlich wirkten. Sie ſteht immer
verſchloſſen, in der eigenen Perſönlichkeit gfangen. „Sie bat” — nach der Ausſage
ihres Gemahls — „kein Talent, welches ihr Weſen einölt und biegſam erhält.“ Aus
ihrer kantigen Selbſtändigkeit kann ſie nicht heraus. Sie wundert ſich einmal, daß
ſie überhaupt in den Fall kommt, anderer Anſicht zu ſein. Es erſcheint ihr unbegreiflich,
ein Rätſel. So überbrückt keine Liebe die Kluft zwiſchen ihrer Individualität und der
ihres Gatten. Wenn ihr feines Schicklichkeitsgefühl ſich durch das kraftgeniale Treiben
Karl Auguſts verletzt fühlt, jo tritt ihr Unmut ſcharf und bitter hervor. Stahl ſtößt
auf Stein. „Ich ſah in ihre Seele,“ ſchreibt Goethe Januar 1776, „und beqreife
nur nict, was ibr Herz fo zuſammenzieht, und doc, wenn ich nicht fo warm fiir fie
wire, ite bitte mich erkaltet.“
So fann fie wie Vila ,nicht bebalten, was iby das Schickſal gab, Liebe und
Güte flieht ibr wie flares Waſſer durch die dande. “Sice verliert ihren Gemahl, jie
muß ſehen, wie er, der Ehe nicht achtend, Nebenverbindungen cingebt. Das Gefiibl,
nicht wirken ju tinnen, nimmt ihr auch das Bewußtſein ihrer Lieblichkeit, ſie wird
ſteif und unliebenswürdig. „Ich nehme an mir wahr,“ ſchreibt ſie an Herder nach
den ſchweren Erlebniſſen ibrer Ehe, „daß ich immer sutriidthaltender und mißtrauiſcher
werde. Ich tadle mich deswegen, aber ich kann nicht Herr über dieſe ſchlimme Seite
werden.“ Sie glaubt ſich nicht fähig, Beziehungen wiſchen ſich und andern herzu
ſtellen. Sie ſehnt ſich in die Einſamkeit, das Leben in einem Kloſter erſcheint ike
lockend.
Rod erhofft fie viel von der Geburt ihrer Kinder. Sie freut ſich über ihr
erſtes Töchterchen, die Geburt de Erbprinzen erfüllt fic mit dem glücklichen Gefühl,
daß ihr Leben jetzt einen Inhalt habe — daß ſie den künftigen Herrſcher zu erziehen habe.
Aber bald ſchreibt jie wieder an Herder: „Ich und die Hoffnung, wir kennen uns
lange nicht mehr.“ Bergebens fucht Goethe feine Harmonie in ibre ,,qetrennte Gegen-
wart” zu tragen. Bei der Geburt des jweiten toten Prinzen ſagt ſie: „Es wäre
beſſer, ich wäre am Blutſturz geblieben, damit der Herzog cine andere Frau Heiraten
finnte” und febreibt an Herder: „Die ganze unglückliche Begebenbeit hat cinen Cine
dDrud auf mich gemacht, fiir welchen ich feine Worte habe, und der jich nie ganz ver—
lieren wird. Ich foll und fann nicht mebr hoffen, aber wie febn’ ich mid) nach Rube!”
Bon fieben Kindern blieben der korperlich zarten Frau mur drei; doch auch an der
Entwidlung diefer Kinder zeigt fie nicht die Freude, die jonjt eine Mutter befeelt.
„Das Organ fiir Kindesliebe ijt bei mir nicht febr ausgebildet,” fagt ſie einmal. Jn
ibr Mautterempfinden miſcht fich friih das fürſtliche Verantwortlichfeitsqefiibl fiir die
ſpatere Entwidlung der Kinder. Zudem hindert fie im Verkehr mit ihren Angebirigen
iiberbaupt, beſonders mit ihren Rindern, iby unbeſtechlicher Wabrbeitsiinn, ihr ſcharfes,
klares Urteil. Sie ſieht alle Schwächen und Fehler, alle Einſeitigkeiten ohne jede
Illuſion und tritt den Ihren mit Kritik und Anforderungen ſtatt mit Liebe entgegen.
Qu ihrer Tochter Karoline entwickelt ſich üuberhaupt fein Verhältnis. Kühl urteilend
itebt die „ugeſchloſſ ene und zuſchließende“ Ratur der Mutter diefem ,, holden Prinzeßchen“
gegenüber, dem ſich alle Herzen öffnen, und unter deren Zauber ſich die großen Geiſter
Weimars verjüngen. Dieſes Mißverhaltnis, „das — nach Goethe — als Naturerſcheinung
der Weiblichfeit anzuſehen und cin unwiükürliches geweſen fei” — führt Eleonore
pon Bojanowsti auf die tiefe Bitterfeit zurück, ,,mit der Luiſe als Frau, als Fürſtin
die Unvollfommenheit des weiblichen, mehr noch des fürſtlich weiblichen Loſes, die fle
42 Luiſe von Sadfen- Weimar.
an fics felbjt fo bart erjabren hatte, empfand.” „Vielleicht,“ urteilt die Biograpbin,
„daß fic unter dem Gedanfen litt, in ihrer Tochter Tantalus’ Gefeblecht aufwadjen zu
feben.” Es iſt nicht ausgefehloffen, dak das Bewußtſein, die Tochter einem „eng—
gebundenen“ Geſchick entgegenzuführen, auf die ſchwerleidende Mutter einen empfindlichen
Eindruck machte; an der Entwicklung ihrer Enkeltöchter nimmt ſie freilich ſpäter
lebhafteſten Anteil. Vielleicht, daß ihr, die überhaupt wenig mütterliche Inſtinkte
beſaß, die Kinder aus der ſie unbefriedigenden Ehe im ganzen wenig lieb waren, und
bei den Söhnen das Mißverhältnis nur weniger hervortritt, weil ihr ſtarkes Pflicht—
gefühl ſie Anteil an der Erziehung künftiger präſumptiver Thronfolger nehmen läßt.
Mit ihrem Sohne Bernhard verband ſie überdies die gleiche heroiſche Anlage.
* *
*
Es ijt dieſer Heroismus in ihrer Anlage, der fie nicht untergehen läßt. Ste
bleibt nicht ſtecken im Dunkel, im verbitterten Gram. Cin doppeltes Hilfsmittel bietet
ihr ihre Natur. Einſeitig iſt ſie, aber nicht arm; ſchon an der jugendlichen Luiſe
rühmt Katharina von Rußland den klugen Kopf. Dieſe Anlage befähigt ſie, einerſeits
ihrem Leben einen reicheren Inhalt yu verleihen, andererſeits aber, ſich auf die Höhe
der Betrachtung emporzuringen, in der das Glücksbegehren verſchwindet, in der der
Blick rein und frei wird, die Schwächen der eigenen Natur erkennt und milde auf
die Fehler anderer blickt. Das Heil kommt ihr von der geiſtigen Arbeit. Ihre
Intelligenz hilft ihr, ihre ſtarken ſittlichen Inſtinkte ins Bewußtſein zu heben, und ihr
Wille ringt nach Verwirklichung der gewonnenen Maximen. Herder iſt es, welcher
der einſamen Frau beim Aufwärtsſteigen die Hand bietet. Er lieſt mit ihr Shakeſpeare.
Ihr eigentümlich berber Geiſt wird vor allem von Julins Caeſar und Coriolan
ergriffen. Der ſtolze Heroismus des Romertums zieht fie an. So ſtudiert jie Die
lateiniſche Sprache und lieſt die römiſchen Schriftſteller. Die Arbeit bereitet iby Genuß.
Villoifon erzählt, die regierende Herzogin verbringe fait den ganzen Taq mit Lefer
und Studieren. Sie lernt, aus der Enge ibrer Perſönlichkeit herausjutreten, der
Gigenart anderer völlig gerecht yu werden. Mit Frau von Staél, deren Natur der
ibren fo völlig entgegengeſetzt ijt, befreundet fie ſich eng und Lift nicht nur die geiſt—
volle Scbriftitellerin, fondern auch dic temperamentvolle Frau obne Antipathie auf fich
wirfen. Cie felbjt geftebt, in früheren Jahren würde fie Frau von Staél nicht
qemodt haben. Ihre außergewöhnlichen Wanieren, dic Formloſigkeit, mit der fie ihr
leidenſchaftliches Innenleben ausſprach, batten fie abgeſtoßen. Der geklärte Geiſt Der
gereiften Fürſtin aber läßt die Eigenart der Franzöſin gelten, und die Gleichheit
ihrer politiſchen Anſichten und ihrer ſittlichen Anſchauung verbindet die beiden
Frauen.
Der außerordentlich hochentwickelte Sinn der Herzogin fiir Hiſtorie und Politik
ſollte auch das Verhältnis zu ihrem Gatten zur Freundſchaft werden laſſen. Dieſe
Umgeſtaltung ihres Bundes konnte aber erſt nach Jahren des ſchwerſten Ringens
eintreten. Erſt mußte die geiſtige Reife der Herzogin auf einer Hobe fein, welche fie
die ſo ganz anders geartete Perſönlichkeit des Herzogs werten ließ; und ein ſchwerer
Kampf ging vorauf, ehe Luiſe ihr Geſchick als Karl Auguſts Gattin überwand, che
ſie weder Glück noch Liebe mehr von ihm begehrte. Jedoch die außerordentliche
ſittliche Größe, die Selbſtbeherrſchung, die Luiſe in ſchweren Tagen zeigte, gewann
ihr die Wiirdigung des Gemahls. Ihre Natur, der die Leidenſchaft fremd, aber der
Sinn fiir Sitte und Konvention eingeboren war, mußte unendlich unter dem Hange
des Herzogs zu erotiſchen Abenteuern leiden. Aber ſie überwand ſich, ſie lernte auch
hier milde urteilen, weil fie die iby fremde Perſönlichkeit begreifen lernte. Ihre
Selbſtbeberrſchung charakteriſiert ſich durch einen Brief von Frau von Stein aus der
Zeit, in der die hochbegabte Karoline Jagemann ihre volle Wirkung auf den Herzog
ausübte und das Verhältnis öffentlich geworden war. Charlotte von Stein berichtet:
„Es war Cour, die Jagemann fang, und wie fie geendet batte, machte ihr Die Herzogin
cin ſehr bemerkbares Rompliment.” Ja, aus den Briefen, welche die Biographin ver:
Gifentlicht, gebt hervor, daß Luiſe es war, die Karoline Jagemann veranlafte, die
Luife von Sadhjen- Weimar. 43
Stellung einzunehmen, die fie als Frau von Hevgendorf mit dem Herzog verband.
Jedenfalls billigte fie die Verbindung und empfabl ſpäter auch cinen der außerehelichen
Söhne des Herzogs ihrem Bruder. Bei diefem Entſchluß kam freilich Luiſe ibre
Leidenſchaftsloſigkeit yu Hilfe, — ihre ſelbſtändige Natur lebte nicht im Gatten. Nichts—
deſtoweniger liegt in ihrer Haltung eine ſittliche Größe, welche der nach der Schlacht
bet Jena bewieſenen gleichkommt und ihr die von da an ſtets fteigende Würdigung
ibres Gatten erwarb. Bald verbinden fie die qemeinfamen politiſchen Intereſſen, Luije
— den Herzog in das Feldlager von Frankfurt, und ungern entbehrt Karl Auguſt
ihren Rat.
Die Freude am politiſchen Leben entſpricht dem klaren, hiſtoriſch geſchulten Sinn der
Fürſtin. Die Wirkung der Kunſt tritt in ihrer Entwicklung mehr zurück. Erſt als gereifte
Frau ſpricht ſie von dem literariſchen Leben Weimars und urteilt über die Werke, die
Goethe als goldene Früchte von ſeinem Lebensbaume bricht. Als der Dichter aus
Italien zurückgekehrt iſt, findet der Vereinſamte bei der Herzogin das reinſte Verſtändnis.
Er lieſt thr Taſſo unter bliibenden Bäumen im Park von Belvedere vor, und unendlichen
Genuß bereitet es der feinfinnigen Fiiritin, unter dem Sebleier Ferraras Weimars
Vild, in der Geftalt der tiefempfindenden, verſchloſſen duldenden Prinzeſſin manchen
Sug der ciqnen Seele yu finden. Der „Fauſt“ entzückt fic, und fie erwartet von dem
qeliebten Bruder, dah er zugebe, „daß es cin Meifteriverf feiner Art fei”. — Ja —
Goethe findet bei der milde urteilenden, gereiften Herzogin Verſtändnis fiir feine
Beziehungen zu Chrijtiane. Die Freundin Frau von Steins, die Verebrerin des Grund:
jages „Erlaubt oft, was fic ziemt“ bat jtets regen Anteil an Chrijtianens Geſchick
genommen. Und mit der geijtigen Weite und Vertiefung wächſt die Befcheidenbeit,
Die Der ftoljen, wabrbaften Frau ftets eigen war. Die Ehrfurcht vor fremder Größe
lebt in ibr, fle wagt es nicht, Goethe zu charafterijieren, „ein fo außerordentliches
Wefen in feiner Größe darzuſtellen.“
* +
*
So regelt ſich iby Verhältnis mit den Menfeben der Außenwelt. Freilich ibre
Zurückhaltung bleibt, ibve Sebeu, ſich auszuſprechen, iby Hang yur Cinfaméeit ijt nicht
zu tiberwinden, fo febr fie kämpft. So febreibt fie: „Je sens un poids sur mes épaules,
qui provient de ma bétise, de ma maladresse de ne pouvoir aisément et lentement
me faire & tout, aux hommes, aux femmes, aux filles et aux garcons, Mais
avec l'aide de Dieu j'espére devenir victorieuse de tous mes sentiments, de
toutes mes sensations et c’est au fond ce que je pense faire de mieux et de
plus sage.“ Diefe nicht überwindbare Zurückhaltung, dieſe Scheu, mit der fie ibr
Innenleben verbiillte, ließ nur wenigen die ſittliche Größe ibrer Natur offenbar werden.
Sie ware zeitlebens unerfannt im Schatten geblieben, wenn nicht ein Ereignis eine
qetreten ware, das ibren heroiſchen Mut, ihr hohes Pflichtgefühl offenbar gemacht hatte.
,Par ce jour ses vertus privées sont devenues publiques“ äußert Frau von Staél.
Die Schlacht bei Vena war gefdlagen. Der Herzoq war bei der Armee, auch der
jiingite Sohn Luifens, der viersebnjabrige Pring Bernhard, war als Freitvilliger dem
Stabe des Fürſten von Hobenlobe jugeteilt worden. Die Herzogin Anna Amalia, der
Erbprinz und die Erbpringejfin — alle waren abgereijt. Die Herzogin Luife aber bleibt
obne irgendwelche militäriſche Bededung im Schloß yu Weimar zurück. Sie verbarrt
auf dem ausgeſetzten Poften, auf den fie ſich von ihrer Pflicht als Landesmutter
verwiejen fiebt. ,, Unter ibrem Schutze verfammeln ſich im Schloſſe Hunderte von
Arauen und Kinderm . . . und in dem Gewirr bewegt fic die Herjogin wie cin
ſchirmender Genius.” Sie bleibt fich gleich, keinerlei Unterſchied gegen ſonſt ijt zu
bevbachten. So ftebt fie und barrt aus — ibr tapfrer Knabe, der im Feuer cine
hervorragende Haltung gezeigt bat, fommt auf einen Yugenblid. Cie bat fiir ibn
gefürchtet, bat ibn verwundet geglaubt. Tief ergriffen ſchließt fie den fleinen Helden
in die Arme — — cinmal tritt fo das Muttergefühl, der Mutterſtolz in ibr bervor,
— geweckt durch das Heldenbafte. —
44 , Luife von Sacdfen: Weimar.
Sie harrt aus, Untertanen und Freunden eine Stiipe in der Not — die Stadt
füllt fich mit Franzoſen, die Plůnderung beginnt, ſie hat 24 Stunden lang kein Brot.
Napoleon kommt mit ſeinem Stabe. Sie empfangt ibn auf der Treppe in gqemefjener
Haltung. Die alternde Frau gewinnt den Sieg über ‘den Sieger; immer wieder betont
der Korje, ev babe Weimar verfdont um der Herjogin willen.
Nach diefent bedeutfamen Ereignis erſt erfennen viele ihren Wert. Sie hat voll-
fommen recht, wenn fie jeden Dank, jede Huldigung abweiſt mit den Worten, fie babe
nur ibre Schuldiqteit qetan, und nichts fet natiirlicher gewefen als ibr Musharren.
Ihre Tat eniſpricht durchaus ihrem Charakter, aber ihr ſittlicher Mut, ihre Pflichttreue
waren wenig bekannt.
Und hat ſie ſich emporgerungen zu dieſer ſittlichen Höhe, ſo klingt doch in ihrem
Weſen eine Diſſonanz durch, cin Bruch ijt in ihrem Charakter geblieben. Das offenbart
fic) bet der Gelegenheit, da am Dabrestage der Schlacht von Jena 1825 Weimar
feine Fürſtin feierte. Das Portrat der Großherzogin auf der überreichten Medaille
war nicht gelungen, und der Großherzog, der fein Bild feiner Gemablin beſaß, wandte
ſich an Luiſens Bruder, den Prinzen Chrijtian, mit der Bitte, thm das in feinem
Beſitze befindliche Porträt jur Kopie zuzuſtellen. Da quillt die Vitterfeit in der alten
Fiiritin auf; fle, die ibr Leben fang gekämpft bat, um ibres Schickſals Meifter ju
werden, bat ſich innerlich noch nicht mit der glitdlofen Vergangenbeit abgefunden; fie
fann es nicht verwinden, daß erit das Alter iby gab, was fie in der Jugend fic
wünſchte: die Anertennung. yll est vraiment trés singulier“, ſchreibt ſie an den
Bruder, que, il y aura vingt ans de cela, toute la famille hors moi, fit gravée
et courut le monde, personne eut l’idée de vouloir avoir ma chétive figure
parcequ'elle n'en valait pas la peine, et voila que tout 4 coup je parais sur
l‘onde et sous differentes formes, tout à coup le Grand-duc se rappelle avoir vu
mon portrait chez vous...“ Cie fann nicht vergejjen, und fo ift auch ibr Lebens—
abend nicht frei von Bitternis — — und wenn fie fic) freut iiber die beranwachfenden
Enfelfinder, fo tritt im Verkehr mit den Ihren dod) oft Schärfe hervor. Sie leijtet
jede Pflicht; aber oft tut fie aus Pflichtgefühl, was jie aus Liebe tun könnte; ihr Wille
bleibt ſtets gejpannt.
So tritt uns aus der Fiille des Materials, das Eleonore von Bojanowsfi in
ibrem Buche bietet, das cigenartige Bild der @emablin Rarl Auguſts entgegen. Wenn
wir verſuchen, die Summe ibrer Exiſtenz yu ziehen, fo feben wir eine Frau, der bei
feltenen Geiſtes— und Willensanlagen dasjenige feblt, was im allgemeinen als weiblich
bejcichnet wird: die Mütterlichkeit, die Weichheit, die Biegſamkeit des Charakters.
Nichtsdeſtoweniger iſt dieſe Perſonuichten in ihrer ſcheuen, keuſchen Zurückhaltung, ihren
reinen, ſittlichen Inſtinkten, ihrer ſtolzen Würde und ihrem ausgeprägten Sinn für
das Schickliche durchaus Frau. Nur könnte man ſich vorſtellen, daß ſie mit ihrer
rückſichtsloſen Wahrheitsliebe, ihrer ſtarken Willenskraft und ihrer hohen Intelligenz
außerhalb der Ehe in einem geeigneten Wirkungskreis eher zur Vollentfaltung gekommen
wäre. Jedoch der Fürſtin — und vor allem der Fürſtin des 18. Jahrhunderts —
war durch Geburt und Tradition der Platz angewieſen, auf dem ſie wirken ſollte.
Das Bedeutſame iſt, daß Luiſe ihr Schickſal heroiſch uberwand und „jeden Mut fand
— — freilich nicht den Mut zur Freude.“
45
Ce dja. a —
Novelle von
Gevrg Rordenſvan.
Autorifierte uberſetzung aus dem Schwediſchen von E. Stine.
RNadorud verboten.
ie
E. war auf einem Atelierfeſte in dieſem
Winter, als ich der Malerin Aja Borgſtröm,
die ich ſeit unſerm Beiſammenſein in Paris |
vor fin, feds Jahren nicht gefeben hatte, .
twieder begegnete. Cine ihrer Rameradinnen
aus der Afademie hatte iby gu Chren das
kleine eft weranftaltet, auf dem man alte
Befannte treffen, gemeinfame CErinnerungen
burdleben und fid) wieder jung und forglos
fühlen follte wie in vergangenen Tagen.
Aja — der Robold, wie einer der Pro-
fefforen fie genannt batte — war feit jenem
Frühling in Paris geblieében — ja es war
wirtlid {don ſechs Sabre ber. Nun war
fic beimgefommen, um ju feben, ob ſich's aud
bier in Stodbolm fiir fie leben ließe und ob fie
Arbeit finde. Wenn nicht — fo blieb ja Paris
auf dem alten Flede fteben, und ihr bortiges
Atelier war fiir das ganze Jahr gemietet,
Sie war nod gang dicjelbe wie ehedem —
lebhaft und guter Dinge, vielleicht nod mebr
als früher — geſprächig und unbefangen,
mitunter ein wenig gedankenlos in ibren
Außerungen und fo gang und gar nidt bes
wanbdert in der Kunſt, fic) au verſtellen.
Wie früher wurde fie übers ganze Geficdt
rot, wenn ſie etwas Übereiltes oder Gewagtes
geſagt hatte — lachte darauf, um ihre Ver—
legenheit zu verbergen, und lachte ſchließlich ſo
herzlich über ihre eigene Unbeholfenheit, daß
ſie uns alle unfehlbar anſteckte.
Was fie denn über Stockholm denke, fragte
unſere Wirtin fie im Laufe des Abends —
während Aja Borgſtröms Aufenthalt in Paris
war jene daheim eine Dame der feinen Ge—
ſellſchaft geworden, die als Porträtmalerin
eine Poſition einnahm. Sie war elegant
und forreft und ſagte nie etwas, worüber fie
„O, Stodholm ift eine ſchöne Stadt, um
kurze Beit bier gu verbringen. Aber ſich's
lange bier wohl fein laffen, das geht wohl
faum. Die Leute hier haben feine Intereſſen.
Sie feben fo langweilig und fo gepflegt und
gebiirftet aus. Und alles ift fo reinlid und
ſteif. Und jeder gudt ben anderen an. In
Paris kümmert fic jeder um ſich ſelbſt. Ich
räumte höchſt eigenhändig mein Utelier auf —
bier ware bas unpaffend. Ich wohne nun
feit drei Sabren in einer Künſtlerlaſerne am
Boulevard Arago mit achtzehn AWteliers, eins
neben dem andern. WMedaillengefrinte wohnen
dort Wand an Wand mit Anfingern, und
des Morgens fommen fie von allen Seiten
zur Wafjerleitung im Garten angezogen, jeder
mit jeinem Waſſereimer. Das find freilid
feine Stodbolmer Gitten. Hier würde man
dadurch alles Anſehen verlieren. Ich babe
felbft mein Friibjtiid am Ramin gefodt und
Beefſteak und Krammetsvögel braten gelernt.“
„Das war rect, dah du wenightens etwas
dort gelernt baft,” fiel ein Wisbpld ein.
„Ja wabrbajtig,” ladte Aja Borgftrim,
„Krammetsvögel find meine Spegialitat.“
Unſere forrefte Wirtin meinte, man fonne
es wohl aud bier in Stodbolm angenehm
und gemiitlid) zu Hauſe haben,
„Ja, dad glaube id; wenn man fo viele
liebe Freunde bat wie du!” rief Wja, fprang
von ibrem Plage auf, nabm die elegante
Wirtin um die Taille und ſchwenkte fie herum.
„Übrigens“ — fie ftrid) das Gaar aus
ber Stirn, dag unbändige Haar, dad ibr immer
in die Mugen bing — „übrigens ift es ja fo
luftiq bier, wobin id) fomme. Ceitbem id
dabeim bin, ſtürze ich von einer Geſellſchaft in
die andere. Überall fleine Mittagstafeln und
Unterbaltungen! Und dann mug ich natürlich
hatte errdten oder andere hätten lachen müſſen. die neuen Cafés anfebhen, und dag nimmt Seit,
46
Es ſcheint hier fein Mangel an Kleingeld gu
fein. Aber fo ausſchweifend twird dod) fein
Stodholmer, dak er Bilder fauft.”
Sie lachte fiber ihren Ginfall und wir
anderen iiber ihr luſtiges Laden. Und nun
hatte fie fid) in cine Cofaede verfroden,
ein Glas Punſch in Greifweite — man mufte
bod) patriotifd) fein und Punſch trinfen —
und raudte cine Sigarette nad) der anderen,
pum fic) möglichſt lange friſch zu balten,“
twie fie meinte.
Mir ſchien fie aber dod nicht fo gang der
alte Robold, und aud die Stimmung bier
oben nicht jene ungeſucht friblide, wie früher
einmal bei ähnlichen Anläſſen. De weiter der
Abend voridritt, defto mehr fam etwas Ge-
zwungenes in die Stimmung, etwas Forciertes
in Die Heiterfeit.
ſchien es fo — als paften Ddiefe Menfden
nicht mehr recht zueinander und als fühlten
fie es und verfucten, es einander zu verbergen.
Eigentlich war es, feit Sven Richert wie
aus den Wolfen herunter in die Gefelljchaft
gefallen twar, daß id eine gewiſſe Unrube
in der Luft zu bemerfen glaubte. Cr war
den Tag zuvor von feiner Hochzeitsreiſe nad
Sizilien und Maroffo juriidgefommen, und
es gab grofe Uberrafdung, als er und feine
junge Frau plötzlich unter uns erſchienen.
Breitidultrig und ficer, fonnenverbrannt
und hünenhaft fam er daber, die perjonifizierte
Kraft und Friſche. Lebhafter Blid, feſter
Handſchlag, fraftige Bapjtimme, entichiedener
Ton, ſelbſtbewußte Haltung — alles in allem
ein junger Mann, der Glück gebabt und das
Glück gu zwingen verfianden, wenn es nicht
gutwillig geben wollte, und der nun feiner
Zukunft ſicher fein fonnte.
Seine Frau, cin ſchlankes und cleganted
hübſches Püppchen mit lichtblauen Mugen und
zarten Schultern, war fremd unter uns und
daber etwas feu, im übrigen aber recht
niedlich. Alles, was fie während der Reiſe
geſehen, war „entzückend“ geweſen. Ihre
bewundernden Blicke ſuchten immer wieder
ihren Mann und hingen an ſeinen Be—
wegungen. Er war offenbar doch das Ent—
zückendſte, das ſie aus Marolko mitgebracht.
Aja hatte eben mit Edvard Aſp geſprochen,
als die indiſche Binſendraperie, die die Vor—
Es war — mindeſtens mir
Aja.
zimmerrür bededte, ſich raſchelnd geteilt hatte
und Sven Richerts ſtattliche Geſtalt ſichtbar
geworden war. Ob es Einbildung von mir
war, wage ich nicht zu entſcheiden, aber mir
ſchien es, als tauſchten Aſp und ſie einen
Blick, der nicht nur Verwunderung fiber dies
unerwartete Wiederſehen ausdrückte.
„Sieh da, Aja!“ rief Richert. „Biſt du hier?“
Er ſtellte vor „meine kleine Frau —
Fräulein Borgſtröm“, und mit einem Blick
auf Aja ſagte er ſeiner Frau:
„Wir beide haben ſehr luſtige Tage mit—
einander verbracht, mußt du wiſſen.“
Als ich die drei, Aja zwiſchen Edvard
Aſp und Richert, ſo vor mir ſah, ſtand
der Konflikt, in den ich ſie verwickelt geſehen —
cin Heiner Ronflift, der ſich yu einem ganzen
Roman hatte entwideln finnen — fo flar
vor meinem Gedächtnis, als hatte die Geſchichte
qeftern gefpielt und nicht vor mebreren Jahren.
Und ald ich fpat bei Nacht — eine ſchöne,
jternflare, [que Winternacht — heimwärts
wanderte, ordneten ſich die mit dieſen drei
Perſonen verlnüpften Erinnerungen in meinem
Kopfe, und ich durchlebte nochmals jene Ge—
ſchichte, aus der ein Roman hätte werden können.
Was ich „durchlebte“, war folgendes:
2.
Es war zur Sommerszeit auf dem Lande,
alg id) Fräulein Borgſtröms Belanntſchaft
machte. Einige junge Künſtler — darunter
auch ſie — hatten ſich in demſelben Ort
niedergelaſſen, wo auch ich Quartier genommen.
Da malten ſie denn — mit mehr oder
weniger Fleiß — draußen im Freien ihre
Studien. Der faulſte unter ihnen war Niſſe
Linder — deſſen Aufgabe eigentlich darin zu
beſtehen ſchien, Unſinn zu treiben und jeden
von uns, ob er nun wollte oder nicht, mit
guten Ratſchlägen zu verſehen. Er hatte ſich
in Paris, wo er ſich im Frühling zugleich mit
Aja aufgehalten, mit modernen Theorien voll⸗
gepfropft und war nun nicht nur vollkommen
mit ſich im klaren, was und wie gemalt
werden ſollte, ſondern wußte auch ſonſt über
alles genau Beſcheid.
Unſere Belanntſchaft begann damit, daß er
mich in der beſten Methode des Brettſpieles
unterwies — daß er ſofort „matt“ wurde,
ja.
binderte ihn nicht im geringjten, die Unter:
weijung fortjufefen und dic guten Ratſchläge
fließen zu laſſen. Im übrigen Tiebte er es
ſehr, in Fraulein Borgſtröms Hangematte zu
liegen, Wermut au trinfen und ſeine Commer:
mufe zu geniefen. In dicfer Kunſt bewies
er eine derartige Fertigkeit, daß ich mich öfters
fragte, ob er ſich dieſe Sommermuße nicht
etwa auch im Winter vergönne.
Fräulein Borgſtröm dagegen war fleißig
für zwei. Unermüdlich geradezu! Und ſo
flinf, fo munter, fo gerade heraus! Wan
braudte fie nur anjufeben, und man befam
Luft ju laden und guter Dinge ju fein.
Schön war fie allerdings nicht. Nlein
und voll, mit gerundeten Wangen, Heinen |
munteren, braunen Mugen, feder Rafe, hoch—
roten Lippen, kräſtig geformtem Rinn und
einem vollen Halfe mit weiden Linien. Und
die Haarftrabnen fielen ihr in Stirn und Augen,
unmiglid au bandigen. Sehr ſchöne Hande
yon jenem Typus, den man auf italienifden
AT
lichjte aber war freilich, auf die Berge yu Elettern
oder im Boot gu liegen und fic treiben zu laſſen.
Mehr als cinmal bhielten wir damals Nadt-
wache. Es war ja Mittfommerjeit, die ſchönſte
Beit des Jahres! — Da bleibt es Abend bis
zum Morgen, und der Simmel ift fo flar, daß
es gar nicht not tut, das Lidt im Monde
anzuzünden und der mit feinem bleiden Pierrot:
geſicht ganz überflüſſigerweiſe dabeiſitzt. Da
ſtehen die Walder voll Anemonen und die Objt-
baume voll weifen Schnees, und es wird nicht
Nacht, und die Natur hat feine Zeit gu ſchlafen.
Oft famen wir erft nad Mitternacht von
unferen Bootfabrten nad Hauſe und blieben
dann draußen fifen, bis die Sonne uns recht
in die Augen lachte. Dann geſchah es wobl,
daß Aja Borgftrdm ihren Badeanzug über die
Achſel nahm, ſich vor den Herren verneigte
und auf dem Steg, der zum See hinabführte,
Gemalden aus der Renaiſſance ſieht, kleine
hübſche Füße, aber ziemlich ftarfe Taille und
durchaus fein elfenbajter Wuchs!
verſchwand. Mie twar es friſcher im Waffer
| als gleid) nad) Connenaufgang.
Oder fie blieh auch allein draußen in der
Hangematte, wenn wir anderen und nieder-
legten. Cie brauchte fic) twabrlid nicht zu
langweilen in ibrer eigenen Geſellſchaft. Wenn
Lachte fte nicht, fo trallerte fie beftandig |
vor fid) bin, batte in der Tafcbe immer einen
Vorrat an Sigarrenpapier, beniigte den Stod
ihres Malerſchirms als Spagierftod — er war
befonders dazu geeignet, fid) bei den Tieren
in Refpeft gu feben — trug ein weißes Barett
auf dem Rrausfopf und cine hochrote Blufe, die
fröhlich und fed in die Landſchaft hinausleuchtete.
Ammer war fie mit Leib und Ceele bei
ibrer Befchaftiqung, ob fie nun arbeitete oder
ſich in der Hängematte firedte, nachdem fie
bicfelbe umgelippt und Niſſe herausgeworfen
oder ibn auf andere Art herausgelodt hatte,
indem fie elwas Ef: oder Trinfbares auf den
Kaffeetiſch ftellte, welcher cinige Schritte davon
entiernt mit bem Fuße in die Erde feftgefeilt
war, ſodaß er nicht naber geriidt werden fonnte.
Nie hatte man den Cindrud, daß fie |
beſchäftigungslos fei, felbft wenn fie ausrubte.
Und alles machte ihr Vergniigen: cine Studie
malen, cin Bufett binden — eines ihrer ganz
cigentiimliden Bufetts —, Strümpfe ausbeſſern
eter was ſonſt immer.
Alles fand fieamiifant, felbft die Debatten mit
Niffe über Runft und anderes mehr. Das Herr-
id) Dann meine Gardine berablich, ſah ich die
glimmende Spitze ibrer Bigarette wie ein
Leuchtwürmchen berauffdimmern, während fie
unten in der Hangematie lag und fic ibres
forglofen Daſeins freute.
Cines Tages wußte Niſſe eine Neuigkeit
zu erzählen. Der Landfdaftsmaler Afp war
mit bem Dampfboot angefommen und iin
Gajthof abgejtiegen.
„Iſt ficher ein Langiweiliger Patron, twas?”
„So bejaubernd wie du, ift er natiirlid
nicht, Briiderlein,” meinte Aja. ,, Aber viel-
leicht Lift ſich doch etwas mit ibm anfangen.”
„Wenn er Wufheiterung braudt, werden
wir ihn Ihnen refommandieren,” fagte ic.
„Ein gefdidter Maler ijt er ſicherlich.“
„Jawohl, ,qefcbict’ ift bier juft der richtige
Ausdruck,“ antivortete Aja.
„Bah, er malt philiſtrös, er ift cin Düſſel—
dorfer,” wandie Niſſe ein.
„Du wirft ibn lehren, befjer zu malen,“
riet ibm Aja.
„Und dann iſt er Familienpapa, und das
ſoll ein Maler nicht ſein. Heirate nie, Bruder!“
„Bruder,“ das galt Aja.
48
Kannſt berubigt fein, Britderlein!” fagte
Aja und fab ibn mit ibren fleinen braunen
Augen an, die immer [adten und immer
glangten. „Wenn ich mid nicht in did) ver—
liebt babe, fo berliebe ich mid nie mehr,
verlag dich drauf!“
Sie ſprach gu thm twie 3u einem Chul:
tnaben, und „Brüderlein“ fand fid) obne Cin:
twendung in feine Rolle. —
Sh hatte Edvard Aſp letzten Winter in
Stodbolm fennen gelernt. Er gefiel mir vom
erfienmal an. Es war etwas Feines, Vor-
nebmes fowobl in feinem Ausſehen als in
feinem ziemlich ſchweigſamen, juriidbaltenden
Refen, das ibn dod nie hochmütig oder fteif
erſcheinen Lief.
Er hatte Erfolg gebabt, war als talent:
poller Künſtler in den Zeitungen befproden
worden und verfaufte Bilder an Runftvereine
und Privatperjonen.
Der Gefelligteit wegen fcien er nicht hier—
ber gefommen zu fein, es dauerte mebrere Tage,
bebor wir ihn trafen. Da aber jeigte er ſich
durchaus nidt als ,langtweiliger Patron”, wie
es Niffe beliebt batte fic) auszudrücken, und
fcdien aud keineswegs einer Aufbeiterung gu
bediirjen, ſodaß Ajas Fiirforge überflüſſig
geweſen wäre.
Wir begegneten ihm im Freien, und er
zog uns ſogleich auf einem mehrſtündigen
Streifzug durch die Gegend mit ſich. Mit
knabenhafter Lebhaftigkeit kletterte er bergauf
und bergab, ſprang den Eichhörnchen nach,
rief das Echo, pfiff Melodien aus „Fauſt“
und war froh wie ein Zugvogel, der ſein
Heimatland wiederſieht.
An etwas, das Kunſt genannt wird und
männiglich als ſehr heille Sache befannt iſt,
dachte während jenes Tages keiner von uns.
Wir empfanden nur, wie herrlich es oben auf
den Bergen oder drin im Schatten der Wälder
fet — an fold) einem Tage zur Mittfommerzeit.
Am Heimivege fragte Aja, ob Herr Aſp
nicht mit uns ju Mittag efjen wolle.
Danfe, nein, dad fonne er nicht. Er miijfe
an feine Frau febreiben.
Haus und Hof ausgerifjen bin. Niemand
fennt meinen Aufenthalt — es ift geradezu
cine Schande, dak ich nicht gefdrieben babe.”
Aja.
Seine luſtige Miene ließ jedoch auf kein
ſchlechtes Gewiſſen ſchließen.
„Jawohl, ich bin durchgebrannt. Niemand
außer Emma, meiner Frau, weiß von meiner
Ahreiſe, und auch ſie weiß nicht, wohin ich
mich gewendet habe. Ich fuhr eben ganz und
gar ins Blaue hinein und ſtieg hier ab, weil
es mir da gefiel. Heute aber muß ich
ſchreiben. — Schönen Dank, daß Sie mir die
Gegend gezeigt haben!“
Im Grunde genommen war er es, der
uns mit fic) gezogen und geführt hatte.
Tags darauf fam die Rede auf die Kunſt
Der große Theoretiler Niſſe war dabei, und
es dauerte nicht lange, ſo hatte er die neueſte
aus Paris mitgebrachte Gelehrſamkeit ausgepackt.
Aja ſekundierte ihm mitunter, aber mit weit
geringerer Sicherheit. Aſp hörte ſie mit
Intereſſe an; es war augenſcheinlich etwas
Neues für ihn. Als Niſſe aber zu Ende war,
meinte er, es ſolle überhaupt keine „Art“ zu
malen geben. Ohne alle Vorausſetzungen ſolle man
die Natur ſehen und einen wahren und ehrlichen
Ausdruck des Geſehenen zu geben verſuchen.
Dies die einzige Regel, die gu befolgen fei.
Nein, bie Sade fei durchaus nidt fo ein—
fad, wandte Niſſe cin. Cr fprad von
Impreſſioniſten und Luminijten und PointiDijten.
Schließlich wurden feine Wusfiihrungen fo
verividelt und nebelhaft, daß Aja fie mit einem
ſcherzhaften Worte abſchneiden mute. Wud
Aſp fdien von der Gelebrjamfeit genug gu
haben; er fragte, ob Niſſe einige feiner Ciudien
zeigen twolle, aber Niſſe hatte das Pringip, nie
ju zeigen, woran er arbeite — dieſes Pringip
fei nämlich das einzig ridtige, wenn man
feine Urſprünglichkeit bewahren wolle.
Dagegen bat uns Aja, eingutreten, bann
fénne Herr Aſp das wenige feben, das fie fertig
habe. Cie fürchte nicht fiir ihre Driginalitat.
Wir gingen in ibr Zimmer, das fie mit
| Draperien, Papierlaternen, Fadern und anderem
wohlfeilen Kram fo mobvern „pariſeriſch“ als
möglich ausgeltattet hatte.
Fünf, fechs neue Studien waren an den
| Wanden aufgeftellt.
„Ich muß nämlich gejtehen, dak ich von
Aſp blieb vor der erſten
ſtehen; es war eine Abendlandſchaft mit ſtarker
blauer Farbe über Wald und See und hie
und da zwiſchen den Bäumen angeſetzt. Die
zweite zeigte ein kleines flachshaariges Mädchen
Aja.
auf einer Wiefe im Sonnenſchein. Grelle
Farben, dag Ganze rob und robuft, aber voll
Saft und Kraft. Die dbritte war cine Strand-
partie mit einem weißen Boot im Schatten
der Weiden und im Boot eine junge Dame
in roſa Kleid und grofem Strobbute.
„Das bier ift Schund,“ fagte Aja bei
diefem Gemälde. „Nun brauden Sie es
nicht mebr gu fagen, da id) felbjt es gefagt.
Aber ic) denke, gerade diefe eine, nicdliche
Idylle paßt fiir das Publifum; es ijt fo recht
tin Bild fiir eine Großhändler-Herrſchaft,
wenn fie im Herbſt vom Lande jguriidfommt.
od muß zu verkaufen tracdten, nicht nur
malen, denn ohne Eſſen läßt ſich nicht leben.“
„Es geht jedem von uns cin wenig fo,“
meinte Aſp.
„Für nid gab es eben immer nur Arbeit
um das liebe Brot,” fubr Aja fort. „Als
id) flein war, war es mein Miitterlein, dads
fid plagen mufte, dann war die Reibe an
mir, Man muf fic forthelfen, fo gut man fann.
Wir haben nie cin Ore gebabt, das wir
und nicht felbft evarbeitet batten — es war
oft ſchwer genug fitr die alte Frau. Und
bod war fie voll Munterfeit und Poſſen,
wenn es ihr nicht gerade gar gu febr in die |
Nod als ich auf die Akademie
| aus der Gegend — ſteif und diirr, eine fo
Quere ging.
ging — damals war fie ſechszig Sabre —
lieben wir uns jutweilen einen Schlitten und
fubren binaus, wenn's duntel wurde, und
dann irgend cinen Hiigel binunter, daß der
Schlitten krachte.
Wenn ich an mein Mütterchen denke —
ſie iſt nun ſeit mehreren Jahren tot — dann
fallt mir immer dies und jenes Luſtige ein, |
fiber dad id laden mug. Was traurig war,
bab’ id) vergejjen. Cie verftand die Runft,
ten Kopf oben zu halten und ſich alles fo |
angenehm zu maden, als es in menfdlicder
Macht ftebt.
id nicht befommen — aber id bin wenigſtens
praltiſch geworden und made mir feine Sorgen —
um mid. Und etwas ift ja dod) aus mir
geworden, nidt wahr?“
Ich batte fie nie vorher fiber ihre perſön—
lichen Verhältniſſe, ihre Mutter und ihr Daheim
reden hören. Aber es ftand ihr gut; fie
erzählte alles ſo friſch und unbefangen — es
war, als wolle ſie, daß beſonders Aſp ſie
Eine beſondere Erziehung habe
49
kennen lerne, wiſſe, woher ſie gekommen und
warum fie fo geworden, wie fie war.
Gr jah die ganje Beit vor ibr, den
rubigen, ſuchenden Blid auf fie gewandt.
| Bielleicht bemerkte fie diefen beobadtenden
Ausdruck feiner Augen, denn plötzlich ging
fie auf ibre Arbeiten über.
„Sie feben aber, dah id nidt nur Bilder
jiir das Publifum male, nicht nur folche, die
Ausſicht haben, zu ‚gehen‘. Sehen Sie
bier ber! Das find Verſuche, Experimente.
G3 ift ja nur Schund. Aber das madt
nits... Ich fiible mitunter felbjt, daß
es etwas Unmiglides iſt. Wber eben weil
es unmöglich ijt, ijt es amüſant.“
„Es wird eben nie ſo, wie man es will,“
meinte Aſp.
„Nein, ſonſt würde man es auch bald
ſatt haben. Das Intereſſante iſt ja eben das
Verſuchen und immer wieder Verſuchen. Wird
es auch nicht ſo gut, hat man doch immer
etwas vor ſich. Ich will jest ein Kuhſtall—
Interieur‘ malen mit Maja in der Tür im
Sonnenſchein. Sie iſt ſo reizend und hübſch,
ganz das Gegenteil von mir.“
So lachte und ſcherzte ſie.
„Und dann habe ich ja auch Auftrag für
ein Porträt — ein gnädiges Fräulein hier
miſerable Figur, daß ſie ſich ſchämen ſollte.
Aber zweihundert Kronen als Belohnung.“
Aſp ſtand auf, um zu gehen.
„Sehen Sie wieder einmal her, wenn
Sie Luſt haben,“ bat Aja. „Es iſt nicht
gut fiir ben Mann, daß er allein fei.”
„Ich werde nicht mebr lange allein fein,”
fagte Wp. „Ich babe den Meinen geſchrieben
und beim Diller Wohnung fiir fie gemietet.
Aber id) werde wobl bald von mir hören laſſen.“
Ich ging cin Stiid Weges mit ibm. Gr
begann fogleid von Fraulein Borgitrim zu
ſprechen. „Sie ift angenchm im Geſpräch und
fiebt droflig aus mit ihrem Schelmengeſicht
und den munteren Augen — und rund und
voll ijt fie — fte braucht ſich nicht ihrer
wniferablen’ Figur zu ſchämen. In ibren
Studien aber ift etwas Grobes und Nobes —
3. B. dieſe große blaue, das ift ja nichts als
| aufgeftricbene blaue Farbe ftatt Luft. Es ift
| fo gugebauen, nichts Durdgearbeitetes, nichts
4
50
Perſönliches darin. Für mich hat es etwas
Abſtoßendes, die Natur fo ohne Gefühl und |
Liebe aufgefaft zu feben. Und fo in gan;
anderem Geijt gu malen, wenn es ſich um
Bilder handelt, die leicht verfaujlich fein follen,
das ijt cyniſch und unkünſtleriſch. — Uber
friſch und lieb ijt fie.”
3.
Vielleiht waren eben die Gegenſätze in
ibren Naturen — die feinige juriidhaltend,
rückſichtsvoll, friedlid, die ibre gedankenlos,
mutiviflig und laut — die Urſache, daß fic) eines
in der Geſellſchaft des anderen fo wohl fiiblte.
„Eine befondere Erziehung habe id nicht
befommen,” batte fie gefagt. Und fo twar fie
eben unternehmend, furdtlog, felbjtandig ge:
worden, obne fonderlid feine Anlagen ju
zeigen. Vielleicht fonnte fie nod) nadbolen, |
was die Erjiehung ihr zu geben verſäumt
hatte — bie Fabigfeit hierzu mangelte ibr nicht.
Dak Edvard ibr gefiel, fonnte man im |
Stodfinftern ſehen. Wir trafen uns sfters, fie
aber faben fic, glaube id, jeden Tag und
ſchienen nie um Geſprächsſtoff verlegen.
Aud von ibm fprad fie gerne. Es fei
etivas fo Sicheres, Verläßliches, Vertrauen—
erweckendes in ſeinem Weſen — er habe einen
ſo klaren und guten Blick. „Er gehört zu
denen, die, ohne die mindeſte Anſtrengung zu
machen, unterhaltend zu ſein, Behagen um
ſich verbreiten, nicht wahr? Es iſt ein Menſch,
den man lieb gewinnen kann.“
Sie habe ibn fiir konſervativ gehalten,
aber bad fei er durchaus nicht. Und ebenſo
wenig verſchloſſen und juriidbaltend, wenn man
ihn nur redt gu nehmen wiſſe. Er habe ibr |
cine Menge Dinge erzablt. Nur gar |
qu ritdfichtsvoll fei er, gu twenig fred) — im
Leben muß man ſich mit den Ellenbogen Blas
ſchaffen, fonft wird man verdrängt.
Sie ersiblte mir einen Zug aus feinem
Ditijeldorjer Leben, Wenn es ihm dort mit
der Urbeit nicht recht vorwarts ging und er |
niedergefdlagen und mutlos wurde, fo pflegte
er fortgureijen — den Rhein aufwarts oder
binaus aufs Yand — nur um nicht die anderen
mit feiner feblechten Laune zu verftimmen.
Nad einigen Tagen fam er wieder und nahm
die Arbeit mit frifden Kräften auf.
Wa.
Das erfte Jahr in Diifieldorf hatte er wie
ein Ginfiedler gelebt und nur gearbeitet, Gr
glaubte nichts gu finnen und fdien fid darum
nidt twiirdig, mit den anderen Riinftlern ju
verfebren. Auch ein Grund! Nach und nad
aber wurde er befannt; man jfprad von ibm
als von einem begabten Maler, und Projefjor
Dücher fagte ihm einmal, er pafje nicht nab
Diifjeldorf, er folle nad Paris reifen. Dummer—
weife befolgte er dieſen Nat nicht, fondern ging
jtatt deſſen nad) Stockholm.
Einjtweilen hatte er guten Abſatz fiir feine
Arbeiten gefunden und fic verheiratet. —
Einige Tage nad) feiner Anlunft zog die
Familie ibm nach. Aja fand dies durdaus
unverniinftig. Es fei nur zu deutlid, dak
er fid) in der grofen Familie feiner Frau in
Stodbolm nidt im Clement fithle.
„Er bat zwar verfidert, daß er feinen
Veriwandten recht gut fei, und doch kommt ein
gewiſſer unwillkürlicher Grol in feinen Ton,
wenn er von ibnen fpridt. Gr fiiblt — ob
er's aud) nicht eingefteben will — dah das
Leben, das er führt, ihm fcbadet, dak er nichts
unter dieſen Menſchen zu tun bat und feine
Urbeit eine andere Luft fordert. Cr hat feit
den letzten beiden Jahren nichts als fleine
Bilder gemalt — denn das Leben mit Familie
foftet in Ctodbolm viel Gelb — und twas er
gcarbeitet, hat ihn unbefriedigt gelaſſen.“
Aja wurde ganz warm, wenn fie mit mir
von alledem ſprach. Natürlich hatte er ibr es
nicht in diejem Tone gefagt, fie batten eben
beritber und biniiber von allem möglichen ge-
fproden, darunter aud von jeinem Ctod-
boliner Leben,
„Es ift der Ruin für einen Künſtler, in cine
Familie von Nichtkünſtlern yu fommen,” meinte
fie gang erregt. „Iſt es nicht fo?”
„Gewiß“, gab id gerne gu, „wofern nicht
feine Frau ibn verftebt und ihm aus der Ver—
wandtidaft beraus gu folgen vermag. Das
ift, glaube ich, dic einzige Löſung.“
„Frau Wp hat fich gewif fo eine Löſung
nie 3u denfen vermodt.”
Aja warf diefe Worte in wirklich veradt-
lichem Tone bin.
Edvards Frau war groß und ſchlank —
ein bleiches, regelmagiges Geficht mit grofen,
lichten, nichtSfagenden Mugen. Wir befamen
fie nicht oft zu Geſichte — meiftend ſaß fie
in ber Nahe ihres Mühlhofes an einem
Walbabbang und nabte, den Rindertwagen |
neben ſich.
Edvard dagegen fuddte uns oft auf, oder
wir trafen uns im freien. So beiter wie das
erftemal, al8 wir in den Bergen ftreiften und
er „Fauſt“ pfiff und Eichhörnchen jagte, war er
wohl nie mebr. Im Gegenteil, je weiter der
Commer vorſchritt, deſto verfdlofjener und
unzugänglicher wurde er, und defto ftarfer
trat der nervife Sug fiber feinen Augen
bervor.
Die Urſache davon war nicht ſchwer yu
finden. Ich fing an, ibn ju fennen.
Afp war ein Riinfiler von jenem Schlag,
der, nie von ber eigenen Arbeit gufriedengeftellt,
im ftetigen Rampf mit feinen Aufgaben,
unaufborlid von den Anjorderungen an ſich
felbft gebest wird. Gr hatte fid) eine folide
Technik angeeignet, er malte gut und elegant,
aber die Sdulgelehrjamfeit laſtete auf ibm
bei allem, twas er unternabm. Wenn er ein:
jam, nur bie Natur vor Mugen, etme Stimmung
auf bie Leintwand [egte, bann war es ibm cine
Luft und Freude, mit den Sebwierigfeiten ju
ringen. Cobald aber das Gemalde in feinen
Details ausgearbeitet werden follte, da fam
ber gelebrte Ballajt und drängte fic zwiſchen
ibn und ben frijden, grofen, ganzen Cindrud,
und bas Bild wurde enttveder eine folide
Diifjeldorfer Landſchaft mit harmonifder Farben:
ffala und effeftvollen Gegenſätzen oder cine
Freiluftſtimmung, dah man, davoritehend, die
friſchen Himmelswinde cinguatmen meinte.
Sein frühzeitiger Erfolg in Stockholm,
weit entfernt, ibm au Kopf zu fteigen — er jab
rect gut ein, wie viel derjelbe twert fei —,
hatte nur feine arbeiterfdwerende Selbſtkritik
gefteigert. Als Vertreter des gefunden, ebrliden
Realigmus, als den ibn die Kritik hervorhob,
war ed feine Schuldigfeit, durch ſeine Bilder
den allgemeinen Glauben an ſeine Künſtlerſchaft
zu redptjertigen. Er war nun vor die Wabl
geftellt: den Rubm, ben er unverdient erworben,
aufrecht gu erbalten, indem er in demfelben
Aja.
51
Geiſte wie bisher weiter malte — das wäre
ihm ja ein Leichtes geweſen — oder ohne den
Gedanken an weitere Anerkennung mit Liebe,
Energie und Geduld Schritt für Schritt den
Weg zu gehen, den ſein Gewiſſen ihm wies.
Edvard Aſp war vielleicht kein großes
Talent, aber er war Künſtler in ſeinem Denfen
und Empfinden, und er war ehrlich, au ehrlich,
um ju denen ju gebdren, denen der Erfolg
| leicht wird. Se mebr er arbeitete, defto höher
wudjen ibm die Schwierigkeiten — friiber
| war es ibm dod fo leicht, fo mitbelos gegangen —
und alles, was er zu ftande brachte, ſchien ibm
nur Stiidwerf.
Nervös und unfider, wie er fid) fühlte,
war er fo empfanglid fiir äußere Eindrücke,
daß er Ajas und Nifjes Reden über die gegen:
wirtiq in Paris durdbredenden Ideen weit
mebr Gewicht beilegte, als er fonft wobl getan
hatte. Aja begniigte fic) wohl damit, ibm
vorjubalten, der Maler babe nur Licht und
Luft gu fucben und ſich um nichts yu fiimmern,
alg um ben Totaleffeft des Motive — gan;
entgegen Edvards Anfdhauung, der haupt-
facblid) den Charafter der Landſchaft und
ber Gingelbeiten darjuftellen ftrebte. Niſſe
dagegen, gefdmeidelt von dem Ernſt, mit
weldem Edvard feine Darlegungen entgegen-
nab, pfropfte die Ohren „des Düſſeldorfers“
mit Theorien voll und malte in der Luft groß—
artige Landſchaften vor ihn bin mit deforativen
Yinien, welche bas Gefiihl des Malenden in
bie Seele ded Befchauers fuggerieren follten,
mit vereinfadten Tönen, die er ,,gemalte
Melodien” nannte, und jerlegten Farben,
fonftruiert aus einem verividelten wiffenfdaft-
liden Syſtem, das in der Runft Revolution
qu machen beftimmt tar.
Bu guter Letzt reifte Niffe mit feinen balb-
verdauten Ideen und feinen nie fertigen und
fiir niemanden fidtbaren Studien ab. Bon
den Riinftfern war nun auger Aſp nur nod
Aja da — in vierzehn Tagen follte auc fie
fortjabren.
Der Sommer begann fich feinem Ende zu—
quneigen. (Fortſetzung folgt.)
Seyler
4*
42
Nachdruck mit Guellenangabe erlaubt.
*Aus der lesten Gewerkſchaftsſtatiſtik ergeben
fic) fiir den Fortſchritt der Organifjation unter
den Urbeiterinnen folgende Refultate: Es gibt nob
bejchaftigten Arbeiterinnen dem Gewerkſchaftsver—
bande angebirt; im ganzen find Frauen erft in
26 Organijationsverbanden vorbanden, und zwar
28218 gegen 23669 im Vorjahre; d. h. erft
3,13 Prozent der tweiblichen Berufsangehörigen find
organifiert, gegen 17,29 Prozent ber mannlicden.
Immerhin aber ift der Zuwachs der weiblicen
organifierten Arbeiter gegen das Vorjabr ſtärker als bet
ben männlichen (19,2 Projent gegen 8,2 Prozent).
Von dieſen 26 Organifationsverbinden mit weib—
lichen Mitgliedern batten 15 eine Sunabme, während
11 einen Berluft aufzuweifen batten. Am Tapesier:
erwachſene UArbeiterinnen einen Umfang erreict,
der alle anderen Regicrungsbegirfe in auffallender
Weife iibertrifft. Nachdem nun fejtgeftellt worden,
: ; F daß mehrfach von den Bewilligungen nicht in vollem
cine ganze Anzahl Berufe, in denen nod) feine der |
gewerbe find die 84 Frauen, die 1901 organifiert |
waren, wieder verſchwunden. Die iweiblichen
Mafieure haben gerabe die Halfte (43) ibrer Mit:
glieder vertreten, desgleichen die weiblichen Sattler
(30), Die Bunabme ijt hauptſächlich darauf zurück—
gufiibren, daß die organifierten Tertilarbeiterinnen —
fich um 2636 vermebrt haben; fie zählen jest 6654
gegen 4018 im Yorjabre; aber trogbdem find bis
jest nur 2,11 Prozent der Tertilarbeiterinnen
organifiert. Die Gewerkſchaft der Metallarbeiter
und Handlungsgebilfen erbielten mit 993 und 568
einen guten Zuwachs an weiblichen Mitgliedern. Bon
den Schneiderinnen find 884 organifiert, d. h. 0,87
der Verufsangebdrigen; bei dem grofen Streife der
Schneidervereine in Berlin zählte die Organifation
bier allein mebrere Tauſend Mitglieder.
Den chriftliden Gewerkſchaften gehören in act
Organifationen 4040 wweibliche Mitglieder an, dem
chriſtlichen „Gewerkverein der Seimarbeiterinnen”
bagegen unter 1782 Mitgliedern 405 männliche.
* Gegen die Nberarbeit der erwadjjencn
Urbeiterinnen bat der Regicrungsprafident yu
Frankfurt a. O. folgende Berfiigung erlaſſen:
„Wie die Jahresberichte ber Regierungs: und
Gewerberate ergeben, bat im diesſeitigen Re:
gicrungSbesirt die Beivilligung von Uberarbeit fiir
+
Umfange Gebrauch gemacht worden ift, woraus
bervorgebt, daß mehr Anträge geftellt wurden wie
notivendig waren, ift fortan jeder Uberarbeitsantrag
zunächſt bem Gewerbeinjpeftor zur Bequtadtuna
vorjulegen. Es werden daber die diesbezüglichen
Gefuce nicht mebr cine fo ſchleunige Erledigung
wie bisher finden können.“
* Ginen vermehrten polizeiliden Schut der
Frauen gegen Beläſtigungen auf der Strafe
verlangt der Minifter des Innern vom Berliner
Polizeiprajidium. Mit der Uusfiibrumg follen nicht
die uniformierten Schugleute, fondern nichtuni—
formierte Rriminalbeamte beauftragt werden.
* Gine Polizeiafjijtentiu iſt in Stuttgart an-
geftellt worden. Als Ajfiftentin des zweiten Stadt:
arztes foll cine Rrantenpflegerin die Fürſorge fir
qefallene und gefangene Frauen iibernebmen und
ihnen die Rücklehr zu ebrlicher Arbeit nad Kräften
erleichtern.
* Die ftiindige Deputation des Deutſchen
Qurijtentages hat befdlofien, dab aud weiblide
Doctores juris einer deutſchen und deutſch—
ſchweizeriſchen Univerfitit als Mitglieder in den
Suriftentag aufgenommen werden können.
“Die Anftellung von Frauen als Armen-
pfleger wurde von der Schineberger Stadtver-
ordneten⸗ Verſammlung crortert. Die Verſammlung
beſchloß einſtimmig, den Magiſtrat zu erſuchen, die
notigen Schritte gu tun, um in kürzeſter Zeit die
Herangichung von Frauen zur Tätigkeit als Armen:
pfleger zu ermöglichen. Der Antrag wurde damit
begriindet, dak den Armenfommiffionen baufig
Walle unterbreitet werden, fiir deren Unterfuchung
Manner nidt die geeiqneten Perjonen find.
* Armenpficgerinnen anjuftellen beſchloß dic
Armentommiffion der Stadt Oberhaufen a. Rb.
Die Frauen jollen vorlaufig zur Unterftiigung ber
Armenpfleger herangezogen werden,
Bur Fraucnbeweguna.
* Maddhengymnafialfurfe von 3 Jahreskurſen
find in Bamberg errictet worden.
* Ron ben 631 mediziniſchen Doltoranden
reichsdeutſcher Univerfititen im Winterfemelter
1902/03 waren 3 Frauen.
* Gieben Abitnrientinnen entließen dic
Miindener Gomnafialfurfe, fünf die Leipziger
Realguinnafialturfe kürzlich nach gut beftanbdenen
Briifungen.
* Gir die Ymmatritulation ordnungsmäßig
vorgebilbeter Stubdentinnen erflirte fic) auf cine
Anfrage des bayeriſchen Minifteriums der Senat
ber Univerſität Erlangen.
* Wn der Univerſität Halle promovierte
art. Adele Jentſch, cine Genferin, mit einer
Differtation: „De Ja littérature didactique du
moyen ige, s’adressant spécialement aux
femmes‘,
* Nber die Frauen: Radjtarbeit verhandelte die
ungarifde Sektion ber Anternationalen Ber:
ciniqung fiir geſetzlichen Urbeiterfdug, und fam |
babet gu folgenden einftimmig angenommenen Thefen:
1. Die Nachtarbeit der Frauen in Grof: und
Kleinbetrieben ift yu verbieten. 2. Der Arbeitgeber,
welcher ber Arbeiterin in der Nacht gu verfertigende
Urbeiten mitgibt, oder die Arbeiterin, die fie über—
nimmt, find gu beftrafen. 3. Die zu Haufe fiir
fremde Rechnung geleiftete gewerbliche Arbeit —
Heimarbeit — ift gewerblic) gu regeln. 4. Als
Grfay der durch das Berbot ber Nadiarbcit ver:
forenen Urbeitagelegenheiten foll die gewerbliche
Ausbildung in jenen Induſtriezweigen vertieft und
ausgeftaltet werden, in denen fid größere Nacfrage
nad gründlich worgebildeten Franentraften zeigt.
Pet ber Induſtrieförderung mögen jene Induſtrie
zweige befonders berückſichtigt werden, bei denen
man Frauen vornebmlich verwendet. 5. Da dad
Berbot ber Nachtarbeit der Frauen unbedingt eine
gewiffe Ridwirfung auf die allgemeinen Arbeits—
verbaltnifje bervorrufen wird, bad wirkſamſte Mittel
yur Hegelung ber Arbeitdverhiltnifie aber dads
freie Berfammlungs: und Vereinsrecht ijt, fo ift
dieſes gefeblich au ſchützen.
* Gugland, Frauen in der Schulverwaltung.
Im Sufammenbang mit
Unterrichtsgeſetz, dad die Grafſchaftsrate (Provinzial—
verwaltungen) als lokale Unterrichtsbehörden cin:
fegte, ift in London neben dem Grafſchaftsrat, zu
dem neuen engliſchen
53
Anzahl Frauen fein. Außerdem müſſen ein
Drittel der Schulverwaltungsbeamten (managers)
fiir die öffentlichen Volksſchulen Frauen fein.
* Die Tatigheit der Sanitétsinjpeftorinnen
in England, die im Sabre 1897 zu dem Swede
aefdaffen wurden, die Uberwachung fiir die Snne:
haltung beftimmter geſetzlicher Vorſchriften zum
Schutze der Arbeiterinnen zu übernehmen, hat ſich
als eine ſo fruchtbare erwieſen, daß die Regierung
ihre Anzahl nunmehr bis auf 45 erhöht hat. Es
amtierten Sanitätsinſpeltorinnen in Birmingham 12,
in Viverpool 9, in Sheffield 7, in Leeds 6, in
Manchefter und Stodport je 2, im Bradford,
Oldham, Bootle, St. Helens, Middlesborough,
Norwid) und Rodale je 1. An ſechs anderen
Stadten ſteht ibre Ernennung in ficherer Ausſicht.
Die Beamtinnen treten in unregelmäßigen Swifden-
räumen ju einer Konferenz gufammen, um durd
Ideenaustauſch ihre Amtstätigkeit gu fordern und
qu wertiefen. Die erſte ſolche Ronfereny fand im
April 1901 in Leeds, die siveite im November des
nämlichen Jahres in Sheffield, die dritte 1902 in
Liverpool ftatt. (Soziale Praxis.)
* Die Froude, die befannte ganz von Frauen
qeleitete Parifer Tageszeitung ftellt nach ſechsjährigem
Beſtehen ihr Erfceinen cin. Dah das über fury
oder fang notwendig werden würde, war bei der
Art der Fundierung diefer Scitung vorauszuſehen.
Es ift im Antereffe des Anſehens der frangofiiden
Frauenbewegung gu bedauern, daß ein mit jo viel
lang und Pritenfionen begonnencd Unternehmen
in diejer Weife Fiasto gemacht bat.
* Weiblide Stationsvorjteher, Der ruſſiſche
Gifenbabnminifter Sat in jüngſter Seit die Ber
fügung erlaffen, daß auch Frauen in Rußland jum
Dienfte als Bahnhofschefs gugulaffen find. Es
wurden alsbald nad Erlaß der Verfügung jofort,
natürlich nur auf kleinen Stationen von Neben—
babnen, praltijde Verſuche angeftellt, die febr be:
friedigende Hefultate ergaben. Der Minifter bat
deshalb jest feine Bestimmung erneut veröffentlicht
; betwequng
dem Frauen bis jeyt noc) nicht wablbar find, cin |
Central-Education-Committee eingeſetzt,
Mitglieder zum Teil dem Grafſchaftsrat angebören,
jum Teif von diefem fooptiert werden. Bon den
fovpticrten Mitgliedern müſſen eine beftimmte
deffen
und weitgebendfte Anwendung derſelben empfoblen,
Eine in der däniſchen Frauen:
befannte Witarbciterin, Kirſtine
Wrederiffen, die Herausgebcrin ver Heitung
wKvinden og Sumfundet*, ftarb kürzlich auf einer
Reife in Umerifa. Sie hat an der Konftituicrung
* Totenfdjan.
des Internationalen Frauenbundes 1888 in
Waſhington teilgenommen und den Daäniſchen
Frauenbund mit begründet und geleitet.
1g Wale te
Quternationaler Franenbund.
Wie bereits mitgeteilt, fand die diesjährige
Vorſtandskonferenz des Internationalen
Frauenbundes (International Council of
Women) in den Tagen vom 17.—20. Auguſt in
Dresden, Hotel Savoy und Penfion Yim, unter
außergewöhnlich zahlreicher Beteiliqung ftatt. Bon
den in London 1899 gewählten Vorjtandsmitgliedern
waren anweſend: Mrs. May Wright Sewall:
Indianapolis (Ver. Staaten), VBorfigende; Lady
Uberdcen-London, ftellvertr. Borfigende; Frl.
Helene Lange-Berlin, Schahmeijterin; Miß
Wilfon-London, 1. Sehriftfiivrerin. Das Wmt
der 2, Schriftführerin verjab fiir Mademoifelle
Vidart-Genf Mig Emily Fanes-London. Mit
Ausnabme von Franfreich, NeusSiid- Wales und
Neujeeland waren ſämtliche bis jest angeſchloſſenen
Nationalverbinde durd) ire Vorfigenden oder durd
cigene Delegierte vertreten: Bereinigte Staaten
(Mrs. Wood Swift), Canada (Mrs. Digna),
Deutſchland (Frau Marie Stritt), Schweden
(Fröten Maria Cederſchiöld), Grofbritannien
(Mik Olga Herh), Danemarf (Fru Norrie),
Holland (Mad. van Dorp: Verdam), Tasmanien
(Mrs. Dobjon), Stalien( Mad. Graffi), Argentinien
(retin von Beſchwitz), Viktoria (Mrs. Martin:
dale), außerdem dic nod nicht angeſchloſſenen
Verbinde von Ofterreid) und Norwegen (Frau
Marianne Hainifd und Friten Gina Krog).
Auf Cinladung der Vorſitzenden nabmen als
Zuhörerinnen an den Situngen teil: die Mitglieder
des Bundesvorftandes Frau Helene von Forſter
(jtellvertr. Vorſitzende) und Frau Anna Simſon;
ferner die Vorſitzende des Lokallomitees fiir den
Berliner Kongref Frau Hedwig Hevl- Berlin,
die Borfitende der Sittlichkeitslommiſſion des
Bundes Frau Katharina Seven, Frl.Gertrud
Baumer: Berlin, Frl. Sdneider und Frau
Krieſche-Dresden und 3 Ginnerinnen des
J. ©. W. Mrs. Peirce, Mrs. Sharp (Ver.
Staaten) und Conteffa di Brazza (Atalien).
Die 4tagigen 3. T. höchſt interefjanten, englifd |
und deutſch gefiibrten Berhandlungen, die mit cinem |
vom Bunde deutſcher Frauenvereine veranftalteten
|
|
|
Empfangsabend auf der Brühlſchen Terrafje cine |
geleitet und mit cinem gemeinjamen Ausflug nach
der Albrechtsburg-Meißen beſchloſſen wurden, galten
in erfter Linie zwei widhtigen Aufgaben: 1. Der
Reranjtaltung und Fejtitellung der Tagesordnung
ber nächſten Generalverfammlung des J. C. W.—
bie als Abſchluß der laufenden 5 jährigen Geſchäfts—
periode im Sommer 1404 in Berlin ſtattfinden
wird, und 2. der Verſtändigung mit dem Bunde
=
deutſcher Frauenvereine fiber die bereits getroffenen
und nod) 3u treffenden Vorbereitungen, das Arrange:
ment und Programm bes daran anſchließenden,
vom Bunde einguberufenden Qnternationalen
Frauenkongreſſes, gum Swed einer einbeit:
lichen Ausgeftaltung und Durchführung der Heiden
widhtigen Unternebmungen.
Die Sigungen der Generalverfammlung des
J. ©. W. wurden auf den 9., 10. und 11. Juni 1904
feftgefett, der Kongreß wird unmittelbar darauf
folgen und bie Tage vom 12. bis intl. 18 Quni
umfaſſen. Sn Bezug auf das Programm des
legteren fei an Ddiefer Stelle auf unfere fpateren
diesbezüglichen Mitteilungen bingewiejen. Der
Qnternationale Frauenbund wird aufer feinen
geſchäftlichen Sigungen, gu denen alle Mitglieder
von angefdloffenen Rationalverbaénden Zutritt
baben, drei grofe allgemein zugängliche Verjamm:
lungen veranjtalten, und gwar: einen offiqiellen
Empfangsabend fiir die Delegierten am 8. Quni
(Yofal nod) unbeftimmt), bei welder Gelegenbeit
bie Vorfigende Mrs. Wright Sewall iiber den
Anternationaliamus fprechen wird; — ferner
Rerjammlungen am Y., mit Wnfpraden und
turzen Bericten der verfcdiedenen National
verbande — und am 10. Suni eine Demonftration
fiir die internationalen Friedensbeftrebunger,
die aus allen Kräften yu fordern der Jnternationale
Frauenbund als cine jeiner Hauptaufgaben betrachtet.
Es find fiir diejen Abend cine deutfche, eine engliſche
nnd cine franzöſiſche Rednerin in Ausſicht genommen.
Die beiden legteren Verſammlungen und die geſchäft
lichen Sifungen, fowie auc alle Beranftaltungen
des Kongreſſes werden in den Salen der Phil:
barmonie ftattfinden.
Die iibrigen Beſchlüſſe ber Konferenz betrafen
u. a: jablreiche wichtige Statutens und We:
fmhaftsordnungsanderungen, die auf die
Tagesordnung der Gencralverfammlung geſetzt
werden follen; die Cinrichtung cines eigenen
Bureaus (head-quarter) in einem dafür sur
Verfügung qejtellten Gebäude der Weltausſtellung
von St. Louis, um in regelmäßigen Zuſammen
fiinften mit Referaten und Diskuſſionen und durch
Berbreitung der einfeblagigen Literatur die Ideen
des Anternationalen Weltbundes in Wort und
Schrift gu propagieren; die vorlaufige Anmeldung
von vier neuen Nationalverbanden gum J. C. BW:
der Bunde ſchweizeriſcher, öſterreichiſchet
und norwegiſcher Frauenvereine und des National
Council von Sitdauftralien; die Ernennung
von Honorary Vice-Presidents (offiziellen Ber:
| treterinnen des J. ©. WW.) in den noc nicht an
Verfammilungen und Bereine.
acidfoffenen refp. noch nicht organifierten Ländern:
Chile, Peru, Merifo, Japan, Türkei und Bulgarien |
— um aud dort im Sinne ded 9. ©. W. auf
weitere Frauenfreife zu wirlen.
Allgemeines Ynterefje erregten die Qabred:
berichte der ſtändigen Kommiſſionen: fiir Friedens—
beftrebungen (erftattet von Wrd. Sewall), fiir
vergleichende Unterſuchung der rechtlichen Stellung
der Frau und Mutter (Vorſitzende Freiin
55
nefende oder Erholungsbedürftige gegen Penſions—
zahlung und 10 Mitglieder gang freien Mufenthalt.
Im Londoner Heim wohnten durchſchnittlich vier:
undzwanzig Lebrerinnen per Wore, entweder als
Stellenfucbende, Tageslebrerinnen, oder um fic an
| den vortrefflicen Kurſen, welche der Verein zur
pon Befdwig) und der Preffefommmiffion (Vorfigende |
Mrs. Cummings Canada) — gang bejonders die
beiden legteren. Freiin von Beſchwitz gab cine
liberfichtlicbe Daritellung aller die Frauen be:
treffenden GeſetzesU Anderungen und Fortſchritte in
den Rulturldndern wahrend ded Jahres 1902, die
mit grofem Beifall aufgenominen wurde. Ebenſo
wurde der Vorſchlag von Mrs. Cummings auf
Herausgabe und moaglichft weite Berbreitung eines
vierteljabrlidy erfcbeinenden Bulletins mit authen:
tifchen Mitteilungen über die Frauenbeiwegung aller
Vander begriift und der Plan eingebend be:
iproden.
Manes Bemerlensiwerte boten auch die Bericdte
der Nationalverbande, unter denen der anſchauliche,
iiberjichtlide Berit aus Holland beſonders
bervorgeboben fei, aus dem bervorging, dak die fo
baiufige falſche Wuffaffung der Siele und Aufgaben
ber Nationalverbande immer nod als eine typiſche
Exrideinung zu betracten iſt und alle Bundes—
feitungen damit yu fampfen baben. An den Bericht
aus Tasmanien knüpften ſich höchſt intereifante
prinyipielle Museinanderfegungen iiber die Sulajfig:
{cit Der Mitgliedſchaft der vier auſtraliſchen National:
verbande auf der bisherigen Bafis, nachdem die
betreffenden Staaten nunmehr gu einem einjigen
großen Gemeinweſen vercinigt find. Die Frage
wird jedenfallS auf der Berliner Generalver:
fammlung ibre endgiltige Löſung finden.
Den Schluf der Tagung bildeten die Bor:
ſchlage (Nominations) fiir die nächſtijährigen Wablen
au den BVorftandsamtern.
Amt zwei oder mebrere Randidatinnen aufgeftellt,
um der Generalverfammlung möglichſt Freie Sand
su laſſen. Für den Vorſitz im nächſten Guin:
quennium wurden Lady Aberdeen und Fraulein |
Helene Lange vorgefclagen. Weitere Vorſchläge
fiir alle Amter werden bis 4 Monate vor der
Generalverfammlung aud nod von den einzelnen
Nationalverbanden erivartet.
Das deutſche und das franzöſiſche Lehrerinnen:
heim in London,
Rad dem uns vorliegenden 26. Jabresberidt
deS Vereins deutſcher Lebrerinnen in England
ſchreitet die Bereingarbeit in allen Srweigen riiftig
weiter. Es find im verfloffenen Jahr 220 Stellen
mit deutſchen Lebrerinnen bejegt worden, Im Sa:
natorium und Nefonvaleszentenheim fanden BL Ge-
Es wurden fiir jedes |
Erlernung der engliſchen Sprache fiir Lebrerinnen
cingerichtet bat, zu beteiligen. Leider find durch
den Krieg und ſeine Folgen aber alle Lebens—
bedürfniſſe febr gejteigert und bie Abgaben enorm
erhöht worden. Es find auch viele Jahresbeiträge
flir bad Sanatorium und bas Nefonvalessentenbeim
von englifden und aud) deutſchen Gönnern ded
Vereins feit den Kriegsjahren weagefallen.
Der Verein hat, wie wir aus anderen Berichten
erfeben, ftarf gegen die vermehrte Konkurrenz anderer
Rationen gu arbeiten, Much die franzöſiſche Re—
gicrung macht energiſche Anitrengungen für ver:
mebrte Anſtellung franzöſiſcher Lehrer und Lehre—
tinnen und fiir Verbreitung der franzöſiſchen Sprache
in England.
Wie hod die Republil die Bedeutung franzö—
ſiſcher Lebrerinnen in dieſer Hinficht wertet, das
zeigt nicht mur bas neu errichtete franzöſiſche
Lehrerinnenheim, das, wie es als Eigentum
ſchuldenfrei daſteht, ein großartiges Geſchenl von
200 000 Marf an ben Verein repräſentiert, ſondern
dad beweifen noc mebr die Worte, die der Brafident
ber Nepublif Loubet kürzlich bet einem Beſuch im
dortigen Heim gefproden bat:
der franzöſiſchen Regierung fowohl wie dem
franzöſiſchen Bolt fei wobl befannt, wie febr der
biefigen franzöſiſchen Rolonie die Berbreitung und
Kenntnis der franzöſiſchen Sprache in England am
Herzen liege. ES fei died cin edles Werk, denn je
mehr man Frankreich und feine Sprache befannt mache,
defto mehr würden die beiden Lander fic) gegen:
feitig fchagen fernen, defto inniger wiirden fie mit
cinander verbunden fein.“
Nbrigens waren fowobl bet der Einweihung ded
franzöſiſchen Heims, als auch bei dem Beſuch ded
Präſidenten Youbet die Vorfigenden ded deutſchen
Deims, Frl. Helene Adelmann und Frl. Gaudian
anwejend, um der follegialen Gefinnung, die fie
mit den franzöſiſchen Lehrerinnen verbindet, herz—
lichen Musdrud zu geben.
Möchte das franzöſiſche Beifpiel auc bei uns
bas Antereffe fiir die wichtigen nationalen Aufgaben
bes engliſchen Lebrerinnenvercings nod immer mebr
werden; gerade jest bediirfen deuticbe Intereſſen
auf englijcbem Boden jeder nur möglichen Hilfe
vom Baterland.
Deutſche Lebrerinnen weifen wir noc beſonders
auf die im deutſchen Lebrerinnenbeim ervichteten
Rurfe bin, die fiir dad erfte Studium der engliſchen
Sprache das denfbar Befte find. Die alle 13 Woden
abgebaltenen Schlußprüfungen mit Abgangszeugniſſen
find jet ſchon zweimal über alle Erivartungen gut
auggefallen. Im erften Rurjus waren es 8, im
zweiten 12 Rurfijtinnen, die beftanden haben.
Ee
7
‘)
¥
{
Mene Nietjdhe-Literatur. Mit der dritten
UAuflage ded erſten Banded der Niewi dhe: Briefe
(„Friedrich Nietzſches Gefammelte Briefe’. Berlin
und Leipzig. Schuſter und Locffler), die von
Clifabeth Förſter-Nietßzſche und Peter Galt
herausgegeben ijt, erfebeint zugleich der zweite
Band, bei deffen Herausgabe Frisk Schöll der
Mitarbeiter von Nietzſches Schwefter war. Der
erjte Band, der bon Felir Poppenberg bereits
ausfiibrlich im Aprilbeft 1401 dieſer Zeitſchrift be:
fprochen wurde, ijt in ber dritten Wuflage um cine
größere Zahl von Briefen vermehrt. Der neu:
erſchienene zweite Band umfaßt den ganzen Brief:
wechſel zwiſchen Nieſche und Erwin Rhode.
Es iſt natürlich unmöglich, von dem Reichtum grade
dieſer Sammlung, in der ſowohl Nietzſches wiſſen⸗
ſchaftliche Intereſſen als die zarteſten Züge ſeiner
Perſönlichkeit ſich konzentrieren, in einer Beſprechung
auch nur annähernd ein Bild zu geben. Dem
Nietzſchekenner gibt ſie eine ganze Fülle von Licht
für des Philoſophen perſönliche, wiſſenſchaftliche und
künſtleriſche Entwicklung — eine künſtleriſche Ent:
wicklung ſowohl in muſikaliſcher als aber auch in
dichteriſcher Hinſicht. Enthält dod z. B. der Brief:
wechſel mit Rohde jenen intereſſanten Schlüſſel zu
dem Problem des Zarathuſtraſtils: „ich bilde mir
cin, mit dieſem Zarathuſtra die deutſche Sprache
zu ibrer Bollendung gebradt yu haben. Es war,
nad Luther und Goethe, nod cin dritter Scbritt
gu tun. . ſieh ju, ob Kraft, Gefchmeidigteit
und Wobhllaut je ſchon in unferer Sprache fo bei:
cinander geweſen find. Lies Goethe nad einer
Seite meines Buchs — und du wirſt fühlen, daf
jenes Undulatoriſchet, dad Goethen als Zeichner
anbaftete, auc dem Spradbildner nicht fremd blieb.
Ich babe die ftrengere, männliche Yinie vor ibm
voraus, obne boc, mit Luther, unter die Riipel qu
geraten. Mein Stil ift ein Tang; cin Spiel
der Symmetrien aller Art und cin Überſpringen
und Berfpotten diefer Symmetrien. Das geht bis
in bie Wabl der Bofale.” Dem Laien ift diefer
Briefwechſel ein wundervolles Dofument feinſter
menſchlicher Beziehungen, wie alle Freundſchaften
Nietzſches zu einer Tragödie geſtempelt durch ſein
letztes Wort, das wie ein Fazit den Band beſchließt:
nod babe jest 43 Jahre hinter mir und bin
genau noc fo allein, wie ich es alS Rind geweſen
bin.” — Die feine biographijche Stigye iiber Nobde
aus der Feder von Crufius (Verlag von J. C. B. Mohr,
Tilbingen und Leipzig) ijt gerade rechtzeitig erſchienen,
unt dieſen Briefwechſel zu interpretieren und die
Seite gu beleuchten, die fiir das groéfere Publifum
naturgemäß mebr im Dunfel fag. — Cine erite
Einführung in Nietzſches Perſönlichkeit und Werte,
—
Le §
PAYS Be,
bie in ihrer flar zuſammenfaſſenden Art ibren
Swed ſehr gut erfiillt, ijt kürzlich von Raoul
Richter herausgegeben unter dem Titel ,, Friedrich
Nietzſche. Sein Leben und fein Werf. (Leipzig
Verlag der Diirrichen Bucbbandlung.) Tas Buc
ift weniger durch geniale Sntuition gelennzeichnet,
als burd die geiviffenbafte und im beften Sinne
treue Snterpretation ded Forſchers, deſſen Dar:
ftellung durchweg auf eindringendeds Studium ver:
läßlich gegründet iſt. Das Buch ijt jedem, der
fih nit nur an dem Glanz Niehzſches erfreuen,
fondern feine Arbeit verfteben will, warm ju
empfeblen.
„Briefe, die ihn nidjt errcidjten’’, 14. Auflage.
(Berlin, Gebriider Bactel.) Man wird heute felten
einen Band aus der Hand legen mit dem Geſamt
urteil: das ift cin vornehmes Bud. Hier ſteht
man durdaus unter diefem Eindrud; man verliert
wabrend des Lejens nie das Gefiibl, fich in befter
Geſellſchaft au befinden, und man ſcheidet ſchließlich
von einem Menſchen, den man fennen möchte. —
Ob das Buch tatſächlich feiner feinen pſychiſchen
Cigenart den grofen Erfolg feiner fic jagenden
elf Muflagen verdankt oder der Wltualitat feiner
Handlung, mag dahin geftellt bleiben; jedenfalls
ift cS gelungen, beide gu cinem [ebendigen Ganzen
zu verſchmelzen. Die fein empfindende Frau, die
alle Ereigniſſe im fernen China verzeichnet, in dem
fic den gelicbten Mann in ſchwerer Gefahr weiß,
ſchildert die uns allen nod in [ebendiger Gr
innerung ftebenden Wirren mit der Sicherbeit
beS Cingetweibten. Sie zeigt fich der realen Seite,
der politiſchen Betradtung der Dinge ebenfo ge
wachſen, wie der Betrachtung sub specie aeterni,
die die Eleinen Gefcbebniffe der Erde in den
Ewigleitsrahmen cinguriicen weif, die langes Dulden
und Warten eine melancholiſche Weisheit gelebrt,
die ſchließlich doch dem tiefen Lebensſchmerz erliegt.
So wird der Roman, dem auch äußere Spannung
ein glückliches Geſchick verheißt, weit über die Hobe
der gewöhnlichen Tageslektüre hinausgehoben.
„Agave“. Bon Marie von Ebner-Eſchen—
bad. Berlin 1903. Schon mander deutſche
Riinftler und Dichter hat in Gtalien eine zweite
Heimat gefunden, ſchon manden bat das ewige
Rom die Reinheit der Lebensatmofpbare gegeben,
dic in unferer Enge und Rerriffenbeit, in unferen
fauten Tagesfampfen mit ibrer häßlichen Gewalt
ſamkeit verloren geht. Dieſer Rube bedurfre die
Dicterin nicht, die in ihrer ſchönen Ausgeglichenbeit
bon Nraft und Wollen, von Gedanfen und Form
das in unferer modernen Literatur fo feltene Seiden
Bücherſchau.
ded „Klafſiſchen“ von jeher an ber Stirn trug.
Aber wenn Marie Ebner in dieſem jüngſten Werf
bei der italieniſchen Renaiſſance einkehrt, fo ſpürt
man doch das tiefe Genießen, die innige Freude,
mit der ſie ſich in dieſe Welt verſenkt hat. Und
auch hier bleibt ihre Kunſt echt und wahr, ſie
wächſt hervor aus einem ſelten reinen inneren
Schauen der Geſtalten und ihres Weſens. Jede
von ihnen traat die klaren Konturen und die warmen
Farben, die Marie Ebner all ihren Figuren zu
geben gewußt hat, und jede ſchreitet ſicher und
eindrudsvoll, ſich ſelbſt bid ind einzelne getreu,
an uns vorüber. Und dieſe Kraft und Klarheit iſt
in der Entfaltung eines Problems feſtgehalten, in
dem die „Modernen“ ohne Neuraſtheniſches und
Vathologiſches kaum fertigwiirden; es ijt die Geſchichte
eines Künſtlers, deſſen Kinnen durch leidenſchaftlichſte
Liebesglut über ſich ſelbſt zu einem einzigen großen
Werl hinaufgehoben wird — um dann hilflos in
die alte Gebundenheit zurückzuſinken.
„John Ruskin: Praeterita““. Bb. 1. Aus
bem Engliſchen von Anna Henſchke Verlegt
bei Eugen Diederichs. Leipzig 1903. Als ſechsten
Band der ausgezeichnet angelegten und vornehm
ausgeſtatteten deutſchen Ruslin-Ausgabe ded be—
lannten Verlages erſcheint der erſte Band der
Selbſtbiographie Ruslins von der Überſeherin, die
ſchon den Kranz von Olivenzweigen“ bearbeitet
batte. Es iſt ganz beſonders wertvoll, daß in
dieſer Biographie, die gleichſam das allerperſönlichſte
und intimſte Zeugnis über Ruskins Weſen und
Wollen iſt, keine Kürzungen vorgenommen find,
die man in bezug auf das Formaliſtiſche und
Dogmatiſche in den „Modernen Malern“ nur als
einen Vorzug empfand. Cin Schriftſteller wie
Rustin, der auf fo unendlich vielen Lebensgebieten
qu Hauſe ift, der fie auf allen eigene Wege fucht,
der Den modernen Geiſt nicht nur in feinen feinften
Ruancen aufnimmt, fondern ſelbſtändig weiter bildet,
ftellt die groften Anforderungen an Sorgfalt, Jn:
tuition und Kenntnis des Aberſehers. Anna Henſchke
zeigt fich dieſen Anſprüchen in jeder Beziehung ge
wadfen, fo daß felbjt ſolche, denen die englifde
Ausgabe jugdngli tft, fic mit Genus in die
deutiche vertiefen werden,
Wahrheit’. Roman von Emile Bola.
2 Bande. (Preis geb. 6 Mark, geb. 8 Mart.
Stuttgart. Deutſche Verlagsanſtalt) Das, wad
an Solas fegtem Roman zunächſt am meiften
intereffteren wird, ijt bas Stoffliche. „Wahrheit“
entbalt cine bié ing einzelne durchgeführte Barallele
qu Dem Dreyfus Fall. Sum Verſtändnis nicht ded
Romans felbft — er ift ein in fich geſchloſſenes
Ganze aud) ohne feine Tatfacengrundlage — aber
der Intentionen Solas wird deshalb die Leltiire
einer in demjelben Gerlag erſchienenen Sammlung
von Solas Außerungen zur Dreyfſus Afſäre „Der
Siegeszug der Wahrheit“ gu empfehlen fein. —
Uber bas Buch tft natiirlich viel mehr als ein
Dokument dieſes fenfationellen fin de siécle-Gr:
eigniſſes. Es iſt zugleich ein hochintereſſantes
RKulturbild des modernen Frankreich, des Kampfes
einer nach Humanität und Gedankenfreiheit in
modernem Sinne ringenden Bevölkerung gegen den
Zwang einer geiſtigen Macht, die zugleich eine
politiſche im eminenten Sinne ijt.
Hinter dieſen
57
Vertiefung zurück, wie immer bei Zola, wenn auch
die Schilderung des Zuſtändlichen lebhafter
individueller Züge nicht entbehrt. Gerade dieſer
Roman Zolas wird fiir bas deutſche Volk, das
Volk der Gedanfenfampfe, feine bejondere Wn:
ziehungslraft haben.
„Geſammelte Auffite zur Philofophie nud
Lebeusauſchauung“ von Rudolf Euden. Leipzig.
Verlag der Diirrichen Buchhandlung. 1903. Die
Aufſätze des befannten Jenenfer Philofophen wenden
fic) an den Laien. Sie fucken dent Webildeten die
verwirrten, Ddrangenden Fragen ber Heit in das
Elarende Licht einer in fid) gefcblofjenen Welt:
anſchauung gu riiden, obne diefe Weltanfdbauung
ſelbſt ſyſtematiſch-wiſſenſchaftlich aufzubauen. So
greifen ſie mitten hinein in die geiſtigen, ſozialen,
politiſchen Bewegungen unſerer Zeit, dies und jenes
Problem hervorhebend, ſei es die Stellung des
modernen Menſchen zur Religion oder zur Arbeit,
zur Weltpolitik oder zur Ethik. Und über allen
liegt ſowohl die Friſche einer menſchlich tiefen und
lebendigen Teilnahme an allem, was die Zeit be—
wegt, als die vornehme Ruhe und die reife Klar—
heit der wiſſenſchaftlichen Perſönlichkeit. — Wo ſich
die Aufſatze an Perſönlichteiten hefien, an Goethe,
Fichte, Friedrich) Fröbel, Nuneberg u. a., feblt bei
der Kraft abjtrafter, ſyſtematiſcher Zuſammenfaſſung
der geiftigen Leiſtung dod) nicht das feine künſt
leriſche Gefühl fiir individuelle Farbungen. Cuden
ift wie twenige unſerer Fachphiloſophen berufen,
feine Wiffenfebaft ju einer Lebendigen Macht auch
fiir die Menge der Nicht Gelehrten zu machen, und
jeder, der fein Buch lieft, wird ibm diefes Hinaus—
treten aus der ariſtokratiſchen Abgeſchloſſenheit der
ftrengen Wiffenfehaft aus warmem Herzen danfen.
„Aus Wald und Flur“. Marden fiir finnige
Veute. Von Elijabeth Gnauck-Kühne. (Minden.
Allgemeine Berlags-Gefellfdaft m. 6. H.) Für
allegoriſche Märchen ift das künſtleriſche Empfinden
der Gegenwart nicht gerade ſehr empfänglich. Das
Verſtandesmäßige, das in der Beziehung des Bildes
ju feinent tieferen Sinn liegt, beriibrt uns als
cin frembded und ftirendeds Element, es fei denn,
daß eS dem Dichter gelingt, das Lebrbafte durch
bic Feinbeit ber Geftaltung gu verdeden. Das ift
in diejen Mareen ,, Mus Wald und Flic” gelungen.
In einer ſchlichten und künſtleriſch reinen Form
gibt die Verfaſſerin kleine, trauliche Alltags—
beobachtungen; und ſie ſieht in ihnen die inneren
Erfahrungen ſich verkörpern, die den Weg jedes
Menſchen bezeichnen, der ſeine Lebenswerte im
Geiſtigen und Ewigen ſucht.
„Das Land der Zuknnuft“. („Was können
Amerika und Deutſchland voneinander lernen?“) Bon
Wilhelm v. Polenz. (Berlin, F. Fontane & Co.
Preis 6 Mark, geb. 7,50 Mark.) Wilhelm
v. Volenz ift uns bisher nur als Romanſchrift—
{teller entgegengetreten und bat als Berfajfer des
„Büttnerbauer“ und des „Pfarrer von Breitenfeld“
verdiente Erfolge erzielt. Auch das vorlicgende
Bud, das ihn von einer gang neuen Seite zeigt,
wird cin Erfolg fein. Poleng ijt cin ausgezeichneter
Beobachter; er bat überdies feine eigenen Eindrücke
an der Hand gründlich orientierter Fachleute
fontrolliert — wir nennen nur War Sering: ,, Die
landwirtſchaftliche Konkurrenz Nordamerifas”, der
Wedantenfimpfen tritt notiwendig die pfychologiſche fiir den entiprechenden Teil des vorliegenden Buches
‘
58
qrunblegend geweſen gu fein ſcheint. Als ein nicht
geringerer Vorzug des Buches muß die nie er:
miidende, ſtets gu intereffanten Vergleichen anregende
Darjtellung bhervorgeboben werden.
zwecklos fein, über den Inhalt qu orientieren, da
cr nicht weniger als ein Mefamtbild der amerifanifden
Verbaltniffe bietet; das Buch muß gelefen werden.
Was Amerifa und Deutſchland nach des Verfaffers
Anſicht voneinander lernen finnen, fann erft nad
folder Kenntnisnahme ciner fiderlid nicht un-
intereffanten Nacbpriifung durch den Lefer unter:
zogen werden,
„Beate und Mareile“. Von E.v. Keyſerling,
Buchſchmuck von Chriftophe. (S. Fifer Berlag,
Berlin.) Geb. 3,50 Mark, geb. 4,50 Mart.
Kevferling bebandelt in der fein ftilifierten, zurück
baltenden Weife, die ibm eigen ift, cin in unferer
Literatur nicht feltenes Motiv: den Monflitt des
Mannes, den die unfinnliche, iiberfeinerte ariſto—
fratijde Gattin nicht allfeitig genug zu feſſeln
bermag, um ifm gegen den elementaren Sauber
der lebengliibenden Inſpeltorstochter unempfindlich
gue machen. Der Verfaffer entfaltet beſonders in
der Zeichnung de Helden, des verwöhnten, immer,
auch in der Leidenſchaft, balb unbewußt pofierenden
Grafen Gilntber, cine Kunſt der Charakteriftit, dic
ſcharfſinnig ijt und cigene Wege gebt, fo dah die
„Schloßgeſchichte“ bis zuletzt ben Reiz einer feinen
pſychologiſchen Studie bewahrt.
„Gedichte in Proſa“ von Turgenjeff. Inſel
Verlag. Leipzig 1903 (Preis 1 Mark). Die
tigenartig gedanfenvollen Parabeln find bei und
fo wenig befannt, daß es cin Berdienft ijt, fie
in Diefer Ausgabe geboten yu haben. Die (ber:
fegung von Th. Comichau ijt ſehr gut. Am reiz—
volljten erſcheinen die Gedichte in Brofa, wo fie
Momentbilder, Stinumungsbilder geben, deren Sinn
nur leiſe angedeutet wird, 3. B. „die Seefabhrt”.
Als Sammlung bieten fie cin reiches Spiel von
Medanten, Cindriiden, Crlebnifjen, in das man
fic) immer wieder gern vertieft.
Die deutſchen Künſtlerſteinzeichnungen (Verlag
B. G. Teubner, Leipzig) haben ſich in der deutſchen
Schule ſchon ein Biirgerrect erworben. Und mit
Hecht. Denn es diirfte kaum ein befferes Mittel
geben, dic Rindesfeele ohne verftimmende padagogifde
Abſichtlichkeit zum fiinftlerifden Seben und Auf—
faſſen zu bilden, als die ftete Gegenwart diefer
fraftigen und Elaren Bilder im Schulzimmer. Wher
was für das Schulzimmer gilt, gilt auch fiir das
deutſche Haus, fiir die Familienftube, fiir die Ainder:
ftube, Mus cinem Bild, wie Hans v. Rolfmanns
wogendes Kornfeld, das die Sommerſtimmung
verforpert gleich cinem Stormichen Gedicht, ſpricht
die Cigenart der Heimatlandſchaft in zarteſter und
zugleich eindrucsvolliter Werle, fo dah es manches
anjprucsvolle und teure Bild in der Kraft feiner
friedengebenden Stimmung weit iiberbietet. Es
fiibrt, wads man eigentlich von cinem Bild will,
aus der Haft des Alltags immer wieder zu er
erſcheinungen nennen wir nod Trübners „Alt—
Heidelberg, ou Keine”, das Schloß und Flug
und das ferne Rheintal in warmer Abendftimumung
Es wiirde |
| TeilS find
friſchendem ſeeliſchen Ausruhen. — Unter den Neus |
Bücherſchau.
zeigt, und Julius Bergmanns Seeroſen. Wir
machen ferner auf ein Blatt der kleineren Ausgabe
aufmerkſam, Hermann Peet: Wm Stadttor, das
befonders in der Farbenfompofition von wunder:
finer Wirfung ift. Die Preife der groperen
Ausgabe find 5—6 Mark pro Blatt, das Meine
Blatt toftet 2,50 Mark,
„Paul Heyfe, Homane und Novellen“. Wohl
feile Ausgabe. Erſte Serie: Nomane. 48 Liefe-
rungen ju je 40 PF. Alle 14 Tage eine Lieferuna.
(Verlag der J. G. Cottafden Buchhandlung Nach:
folger Gam b. H. in Stuttgart und Berlin.) Die
nene wohlfeile Geſamt⸗Ausgabe von Paul Hevies
Romanen gebt ibrem Abſchluß entgegen. Auf die
beiden grofien Romane „Kinder der Welt und
„Im Paradieſe“ folgt, mit Lieferung 33 endigend,
„Der Roman der Stiftsdame”, gleichyeitig enthalt
diefe Lieferung den Anfang von ,, Merlin’. Selbft
two bie von ben „Neuſten“ nad anbderer Richtung
gedrängten literariſchen Bediirinijfe des Publitums
von heute in Hepfe nicht mehr volle Befriedigung
finden, wird die bewußte Kunſt feiner Technik und
bie Feinheit feiner dichteriſchen Ausdrucksmittel
ihre Wirkung auf den wirklich gebildeten Leſer nicht
verfehlen. Eine Geſamtausgabe ſeiner Werke bildet
cin unentbehrliches Stück jeder Bibliothel, die das
literariſche Leben unjeres Volls wirklich umfaffen foll.
„Friedrich Spielhagen Romane’ — Neue
Folge. — Woblfeile Lieferungsausqabe in 50 Heften
& 35 Bf. Wile vierzehn Tage cine Lieferung (Verlag
von &. Staadmann in Leipzig). Die Lieferungen 15
bis 22, welde uns vorliegen, bringen die Fort:
fesung und den Schluf der Novelle „Suſt“, ſowie
den größeren Teil des Romans „Opfer“.
Die Romane zeigen, daß Spielbagen, der Dar:
fteller des Kulturlebens der ſechziger und ſiebziger
Jahre, auch die Fühlung mit dem letzten Jahrzehnt
ſeines Jahrhunderts nicht verloren hatte, auch bier
noch lebendige Bilder und Typen zu geben weiß.
„Die Tiere der Erde“. Bon Profeſſor
Dr. W. Marfhall (in 50 Lieferungen a 60 Pf.)
Stuttgart, Deutſche Verlagsanftalt. Das fiir die
naturwiſſenſchaftliche Bildung weiterer Vollstreife
auferordentlich nutzliche Werk ift nunmehr bis sur
12. Vieferung erſchienen. Die Frifebe der Darftelluna,
die itberall das Sntereffante und Charatteriftifde
aliidlicd herauszuheben weiß, cine gründliche
Belehrung gibt, ohne den Leſer mit zuviel gelehrten
Einzelheiten zu belaſten, macht das Werk ganz
beſonders geeignet, die Wiſſenſchaft zu populariſieren.
Wir verweiſen auf Abſchnitie, wie „Die Lemuren“,
die „Ratte der Pharaonen“, „Lumpenſammler
unter den Nagern“.
„Für ound wider Die Reformkleiduug“.
Sonderdrud aus der Ailuftrierten Seitung. Verlag
vor J. J. Beber in Leipzig. Preis 50 Pf. Diefer
Sonderdrud enthalt cine grofe Sabl von Gut:
achten fiber die Reformfleidung aud allerlei Kreiſen
und pon allerlei bervorragenden Perſönlichleiten.
es einfache Geſchmacksurteile, teils
mediziniſch oder äſthetiſch eingehend begründete
Gutachten von Autoritäten. Jedenfalls find ſie
für den Stand der Bewegung zur Reform der
Frauenkleidung außerordentlich intereſſant.
— =e
—
59
fiir Haus und Familie.
Die Wobhnungsverhaltnifie der Grofftadt haben
die gleichzeitige Benugung mander Räume jum
Wobnen und Schlafen fiir viele notwendig gemacht.
Befonders die auf , Moblierte Zimmer” angewieſenen
Grofftadthewobner oder Familien mit vielen Kopfen
find zum grofen Teil auf Hilfamittel angewiejen,
Da find alle Crfindungen, die den Raumen den
Schlafſtubencharalter nebmen, eine Erhihung des
häuslichen Bebaaens fiir
Tauſende. Cine ſolche Er:
finding bat die durd
ibre „Patent Möbel“ ſchon
rühmlichſt belannte Firma
R. Jaekel's Patent:
Möbelfabrik, Berlin S.W.,
miteinem,,Banfett Bett”
gemacht. Es hat eine
Zwiſchengröße zwiſchen
Sofa und Seſſel und füllt da cine fühlbare Lücke
aug, wo der Naum fiir Aufſtellung eines Sofas
nicht vorhanden ijt, man aber Wert auf cin Bett,
von bequemer Breite (90 cm) und normaler Bett:
höhe legt. Der Preis betragt je nad der Aus—
ftattung TO—1L00 M.
Tie moderne Hygiene bat gegen die Gewohnheit
vieler Menſchen, wabrend der Nadtrube ibren
Körper mit ſchweren Federbetten yu belaften, ſehr
entidieden Front gemacht, und dagegen bie leichte,
luftdurchläſſige und dabei aleichycitig wärmende
Steppdede empfohlen. Nicht den kleinſten Anteil
an ber Einführung derfelben bat die renommierte
Wiener Steppdedenfabrif Bernhard Stroh—
mandel, Berlin S., Wallftrafe 72. Ihre Be:
milbungen nad) diefer Richtung find infolae reeller,
gediegener und dabei preisiverter Arbeit durch den
ftetig fics vergréfernden Umſatz belobnt worden,
die es wiedcrum bem Anbaber der genannten Firma
sur Pflicht machten, feine Verkaufs- und Fabrif:
räume um mebr alé das Doppelte yu vergropern.
Tie ſtilvoll eingerichteten Verkaufsräume bicten
bas Bild ciner Mufterausftellung von Geſchmack
und Eleganz. Hier findet man die cinfadften
neben den prachtvollſten Steppdeden aufgeſpeichert
zu duferft niedrigen Preiſen. Man verlange
zu näherer Orienticrung die foftenfreie Zuſendung
einer Breislifte,
60
Kleine Mitteilungen.
Wir weifen auf die in dieſer
Nummer enthaltene Angeige der
Haudelsſchule für Mädchen unter
der Leitung von Guſtav Brühl
(Berlin, Mathieuſtr. 13) bin, bie
in einjabrigem Rurfus in allen
kaufmänniſchen Fächern Unterricht
erteilt. Proſpekte über nähere Be—
dingungen ſind bei der Direltion
ju erhalten.
Im Verlag von Ernſt Wunder—
lich, Leipzig, ſind neu erſchienen
von A. Reukauf und E. Heyn:
„Bibliſche Geſchichten“ für
die Mittelſtufe gegliederter Schulen
mit einer Karte von Paläſtina.
Preis 40 Pf., geb. 60 Py.
„Leſebuch aus dem Alten
Teſtament“ fiir die Oberftufe
gegliederter Schulen. Preis 40 Pf.,
geb. 60 Bf.
,Lefebud ans dem Neuen
Teſtament“
gegliederter Schulen. Preis 60 Pf.
geb. 80 Pf.
„Die Behandlung der
Schwachſinnigen in der Bolfs-
ſchule“. Gortrag, gebalten auf
ber Jahresverſammlung ſächſiſcher
Schuldirektoren gu Bautzen 1902.
Von Schuldirektor Dr. M. Heym.
Preis 50 Pf.
[ira ie ie ——
Diefer Nummer fiegt cin
Profpelt:
Der Runftwart
(Verlag Georg D. W. Callwey,
Minden)
bei, den wir beſonders gu be—
adjten bitten,
Liste neu erschienener
Biicher.
Beſprechung nad Raum und Gelegenbeit
vorbebalten; cine Hildfendung nicht bee
ſprochener Bilder ift nicht moglicd.)
Mabel, Maric. Das Cinfoden ber
Fruchte. Die Bereitung der Frucht⸗
jafte, Hausſchnapfe, Creme, Lompotte 2c.
ber in Eijig cingemadten Fruͤchte wie
ber in Blechbuchſen cinqemachten Früchte
und Gemuſe. 21. Auflage. Preis 50 Pf.
3. Rarb’s Verlag Bacnang
Vellſtändige Rartoffelfiide, Rad
eigener bieljabriger Erfabrung, heraus⸗
gegeben von Marie Mabel. Neue Huss
gabe. 154.160. Taufend. Preis
60 BF, Bachnang: J. Rath's Verlag
Baars, Paftor Ernft, Was wir wellen!
fiir die Oberftufe |
Bortrag in der Berfammlung os |
Alfobolacgnerbundes zu Bremerhaven
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Run und Moral, Brichvediel zwiſchen
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Sirmint, Zurich.
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matif mit fuageriercnden (tdbeograpbilit.)
Seiden, Gebdd. 2.40 Wart. BWeriag:
©. Habderland, Leipjig.
Mlarney, Torean de. Premier Pas
vers la langue universelle par des
signes suggestife. Sprechubungen
fir Anſanger im Anſchluß an oie Lore
fide pes Zages, erlautert durch ideo⸗
graphiſche Heiden. 382 Seiten ss". Yrewd
Brojsmiert 1 Mart. Verlag von E. Havers
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Dlarrot, A. Wer twill Gefundheit und
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Mut Bergespohen. Boman. Herlag
ben Dito Sanfe, Berlin
Mittelitacdt, Auna. Anweiſung px
faddftanbigen Bermodgensverwaltung tite
dic allcinftebente Frau, Zehn Frauen⸗
bricfe. Beriag von Carl Mever Guftav
Prior), Hannover
Roervifage Zauberringe. Yon Mrdfin
mH S—S. Milufiriert von Grajin
H—4. H. 2 Mart. Kommiffiondvcrlag
Bb. H. Baldbaueriden Bb., Paſſau
Salmé-Bayfen, H. Ein Howdjeitstay’
Roman. Yreis 4 Wark, «leg. gebo.
6 Wart. Geriag vou Richard Taentler,
Serfin W. 10,
Nociner, De. mod. G, Bie wird rein
Rind grog, flart, geſund Prattiſcher
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tungen. Solide Breife. Belle Referenyen.
ene Bahuen
Organ des Nogemeinen Peul(dhen
FPranenvercins.
Das Blatt erſcheint 14 tägig und
foftet pro Jabr (24 Nunumern) 3 Pit.
| durd Poft ober Budhandel, —
| Leipzig. Mlorik Shafer.
62
Driginalresept. Kräftiges
cinfades Kalbfleiſchgericht.
6 YPerjonen. Zubereitungszeit
1'/,—1'/, Stunden. Bon 3 Pfund
Kalbfleiſch aus der Keule ſchneidet
man ungefähr talergroße Scheiben
und brat fie ſchnell in einer
Kajjerolle in fteigender Butter
nebjt einer mittelarofen — fein:
geſchnittenen Zwiebel braun, dann
gießt man fodendes Wafer oder
cine aus 1, Magagi-Bouillonfapfel
durch Aufgiefen von focendem
Waſſer bereitete kochend beife
Bribe darauf, fiigt Pfeffer, wenn
ndtig, nod etwas Sal; dazu und
apt das Fleiſch auf mafia beifer
Stelle cine Heine Stunde langjam
ſchmoren; ſchmeckt es ab, würzt
mit Teelöffel Maggi-Würze
und richtet es gu Bratfartoffein
oder durchgerührten Kartoffeln in
ticfer Schüſſel an. v. Bg.
Ausing aue dem
Stellenvermittlungeregifter
deo Aligemeinen deutſchen
fehrerinnenverscine,
Jentralleitung:
Berlin W. 57, Culmftrafe 5 pt.
Offene Stellen an Schulen.
1. File eine höhere Privat-Maddens
ſchule in tleiner Stadt Ritteldeutſchlands
wird zum balbigen Antritt cine evan:
geliſche, wiſſenſchaftlich gepriifte Lebrevin,
die Englijch im Ausland erlernt hat,
gefucht. Gebalt 1200 Wart.
tn ber Proving Hannover wird jum
14. Ottober eine cvangelifie, wiſſen⸗
ſchaftlich gepriifte Yebrerin zur Vertretung
bis Oftert 1904 gejucht. Bet Zufriedenben
fefte Anſtellung. Die Schule bat Ausſicht,
ſtadtiſch gu werden. Gebalt 1100 Mart
P. & und 100 Mark fir Penfionataffe,
3. Fur ein neugegriindetes Minders
heim mit Haushaltungs ſchule in Pommern
wird zum 10, Oftober eine erfabrene, evans
gelijche, wiſſen ſchaftlich gepriiite Yebrerin
gefucht, die aud die erwachſenen Maoden
fortbildet. Giebalt 6—800 Wark neben
voller freier Station.
4. File cine hoͤhere Privat ⸗· Nadchen⸗
ſchule in Pommern wird gum 10. Ottober
tine ebangeliſche, wiſſenſchaftlich aepritite
Lebrerin geſucht. 28 Stunden gu ertetlen.
Gebalt 1050 Wart.
5, File eine höhere Privat Madden:
ſchule mit Penfionat in Pommern wird
zum fofortiqen Antritt eine evangeliſche
wifſenſchaftlich geprufte Lehrerin fir dic
V. Klaſſe geſucat. Gutes Franzöſiſch
Bedingung. Gehalt 600 Wart mit freier
Station, 40 Mart fiir Mafibe,
6, Fur cine hödere Maodenfdule
mit Penfionat in ber Pfaly wire jum
18. Ottober cine erjabrene, cvangelijde,
2 File cine hdbere Mädchenſchule
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Gewerbe 4 Lebrerinnenftellen gu
beſetzen und zwar:
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haltunggunterricht,
1 Stelle fiir Sandarbeit und
Zeichnen,
1 Stelle fiir Maſchinennähen,
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nötigen praltiſchen Erfahrungen
verfügen und ſchon in ähnlichen
Stellungen mit Erfolg tatig ge—
weſen find, wollen ihre Geſuche
bid gum 15, Oftober d. Is. unter
Veifligung eines Gefundbeits:
attejtes, eines ſelbſtgeſchriebenen
Lebenslaufes und von ZJeugnis—
abſchriften an uns einreichen.
Die Stellen find penſions—
berechtigt nach Maßgabe der fiir
die preußiſchen Staatsbeamten
geltenden Beſtimmungen. Die
Annahme erfolgt zunächſt auf
Probe gegen cine jabrliche Re:
muneration von 1200 Mark. Bei
feſter Anſtellung beträgt das Ge—
halt 1430 Mark und ſteigt von
3 zu 3 Jahren um je 200 Mark bis
zum Höchſtbhetrage von 2630 Mart.
Yebrerinnen, welche ſich ſchon
in fefter penſionsberechtigter Stel:
lung befinden, können mit einem
ihrem gegenwärtigen Einkommen
entſprechenden Gehalt ſofort pen—
ſionsberechtigt angeſtellt werden.
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afes ſucht gum baldigen Antritt eine
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wifen{dattted geprifee Erzieherin file
4 Marden von 4211 Jabren. Reiſe
besabls, Berpilidtung jur 2 Jabre. Stelle
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Stadt oer Wark fudt gum ſolortigen $i
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Im XVL Jahrgange erschein: # * Wereins- Zeitung des Pestalozzi-Frébel-Hauses * 4
Expedition im Sekretariat, W. go, Berlin-Schoneberg, Barbarossastr. 74. Die Zeitung erscheint vierteljfhrlich itm ersten Monat jeden Quartals
und geht den Abonnenten unter Kreuzband zu. Der jahrliche Abonnementspreis betragt einschliesslich Porto: Far Berlin a M. fOr Deutschland
2.50 M., far das Ausland 3 M. Anfragen, Bestellungen, Beitrige (auch die Geldbeitrage) und Mitteilungen sind an die Expedition zu richten,
Berantwortlic fiir die Redaftion: Helene Lange, Berlin. — Verlag: BW. Mocjer Budbandlung, Berlin 8. — Druct: W. Woefer Buchdruderei, Berlin 8.
ap 11. 2 Heft? om ay Va November 1903 od
Rerausgegeben 8 2* 2 95° Verlag:
eee
bon
W. Moeſer Sudhbandlung.
Foeleme Cange. Berlin s.
ase.
Moderne Sifflichkeitsprobleme.
Bon
Jha Freudenberg.
Raddrud verboten.
an bat ſchon oft Verwunderung dariiber ausgefproden, dah unſere Beit,
"7% die doc fo viel Geift und ein faſt allmdchtiges Können auf allen Gebieten
betatigt, nod feinen Dichter von allererjtem Range hervorgebracht hat, der im ftande
wire, all das gropfartige Umwälzen und Fortſchreiten der Gegenwart in ebenjo
grofartigen Geftalten und Handlungen darzuſtellen.
Vielleicht fann man mit einigem Rechte fagen, dah die Menſchheit heute ibr
eigner Dichter und Denker, Deuter und Darjteller ijt, daß fie felbft das Wort ergriffen
hat und von dem, was fie bewegt, Runde gibt, viel lebendiger, viel Fraftvoller, viel
padender, als das die Stimme eines Cinjelnen vermöchte. Dieje mächtige Geſamt—
ſtimme unſerer Seit ijt unfer öffentliches Leben; in ibm reden die Maſſen. Der
allgemeine, jeden Tag neue Möglichkeiten bietende Verkehr ſchafft tauſend Zuſammen—
hänge, verbindet die Sleichdenfenden, die Wleichjtrebenden, die unter gleiden Ver—
hältniſſen Arbeitenden, die unter gleicher Not Leidenden, wenn fie auch räumlich weit
von einander getrennt find; ein Wort, das vielen aus der Seele gefprocen ijt, wird
jum Schlagwort, cin Vorſchlag, der vielen Fortſchritt verfpricht, yum Programm.
Und jo, in Schlagworten und Programmen, reden in unferem öffentlichen Leben
gewaltige Cinbeiten miteinander, die Millionen von Individuen in fic begreifen, und
der Sujammenflang dieſer Einbeiten bringt eine natürliche Wirfung bervor von folcber
Unnittelbarfeit, Wucht und Bedeutung, wie fie feine Kunſt jemals erreichen würde.
Gs ift über dics Denfen und Reden der Maffen ſchon viel Abjprechendes geſagt
worden; feine und ſcharfe Geijter fiiblen ſich abgeſtoßen von dem mehr oder weniger
5
66 Moderne SittlichfeitSprobleme.
qroben Sufchnitt, ber dent Majjfengedanfen notwendig anbaftet, und Niewiche bat das
verächtliche Wort von den ,viel zu vielen” in Die Welt gerufen. Wher fo manches
wundervoll Neue und Babnbredende wir Niebfde auch verdanfen — mit diefem
Worte hat er der heutigen Menſchheit feinen Dienſt erwiefen. Denn unfere Zeit it
nun einmal cine Beit der Maffen; fein Machtipruc eines einzelnen fann dem Zu—
cinanderbinjtreben der in ibrem Denfen oder in ibren Intereſſen Verwandten Cinbalt
qebieten. Anſtatt darüber zu febelten, follte man lieber verftehen, daß in diejer
Summierung alles Gemeinfamen, in diefem Fefthammern der Prinzipien durch taujend-
fade Wiederholung etwas Titanifees liegt, cine Steigerung ins ganz Große, Schickſal—
mächtige, Daf unfere Zeit fich eben auf diefe Weife die ungebeuren, weltbewegenden
Kräfte fcbafft, die fie zur Vollbringung ibrer Aufgaben braudbt.
Much das, was feither recht eigentlich und ausſchließlich die Domäne der Kuni
und dev Dichtung war, und was fich feinem innerjten Wejen nad gegen jede
verallgemeinernde und gleichmachende Behandlung ftrdubt, auch das perſönliche
Gefiiblsleben, das Verhaltnis von Menſch yu Menfeben, des einzelnen yur Familie,
— aud) dads drängt ſich heute zum offentlichen Worte, aud die Heryensfonflifte der
Menjcbeit werden vor Hunderten von Hörern oder Lejern befprocden, und das
Innerſte und Intimſte ijt in gewiſſem Sinne ebenfalls Maffenangelegenbeit geworden.
So eng find in unferen itbervilferten Staaten, in unferen Millionenjtadten die Menſchen
zuſammengedrängt, einander durch gleiche Erziehung, gleiche Tatigteit nabe geriidt, in
dem bewegten Fluidum unferes geijtigen Lebens fo intenſiv auf einander aufmerfian
qeiworden, dak jeder viel viel mebr als früher auch mit feinem cigenften Tun und
Denken der Gejamtbeit angebirt und ibr verpflichtet tit. Die gleichartigen Berufs- und
Erwerbsverhältniſſe, in welche dieſe Maſſen fich ordnen, bedeuten auch eine gewiſſe
Gleichartigkeit des Lebensganges, dieſelben Schwierigkeiten, dieſelben Gefahren und
Erfolge für viele, und ſo ergibt ſich die eigentümliche Erſcheinung, daß, während
unſre geſteigerte Bildung den einzelnen ſo viel freier und unabhängiger macht als er
in früheren Zeiten jemals war, er gleichzeitig durch tauſendfache Zuſammenhänge ſich
auch wieder viel mehr mit der Allgemeinheit verbunden fühlt; er ſpürt, ſo zu ſagen,
ſeine Nebenmänner im Gliede unmittelbar neben ſich, hört ihren Schritt und Tritt,
lebt ihre Gedanken mit; er geht ſie und ſie gehn ihn aufs nächſte an. Darum iſt es
kein Widerſpruch, wenn unſre Zeit zwar die Freiheit des perſönlichen Denkens und
Fühlens als Grundſatz aufſtellt, zugleich aber mit Nachdruck darauf aufmerkſam macht,
daß der Gebrauch, den jeder von dieſer Freiheit macht, keineswegs ſeine Sache allein,
ſondern die Sache vieler ijt. Die beiden Faktoren, auf deren Mit: und Aufeinander:
wirfen aller geijtige und moraliſche Fortſchritt beruht, Individuum und Wigemeinbeit,
find miteinander gewad fen. Die reichen Vildungsmittel der Gegenwart ftellen jedes
Individuum auf die eignen Füße — aber die Allgemeinheit ift auch nicht mebr das
form: und leblofe Gebilde friiherer Seiten, fondern eine Fleiſch und Blut gewordene,
ſehr reale Macht, deren Walten fic) in unferm reid) bewegten sffentliden Leben
deutlich und ausdrudsvoll fund gibt.
Daf} nun in diefem Hifentlichen Leben auch die perfdnlichen und innerliden
Menſchheitsfragen immer mebr yum Worte kommen, das hängt in bobem Grade mit
der Teilnabme der Frauen zuſammen. Man könnte aud umgekehrt fagen: Tie
Notwendigkeit, das ganze fosiale Leben der modernen Menſchheit bis in alle Einzel—
verhältniſſe binein mit neuem friſchem Geijte yu durchdringen, es auf unfrer jo total
Moderne Sittlidifeitsprobleme. 67
verwandelten Wirtſchaftsweiſe neu aufzubauen, und die ganze Fiille äußerer Kultur,
die das letzte Jahrhundert uns gebracht bat, wun auch yu wabrer, innerer, individueller
Rultur zu verarbeiten — Ddiefe Notwendigkeit hat die Frauen in die Offentlichfeit
qerufen, Auch die Frauenbewegung ijt cin Verfuch, Bediirfnijfe, die von ganzen
Maſſen geteilt werden, auf cinen verhältnismäßig einfachen, gemeinſchaftlichen Ausdruck
zu bringen und den Willen vieler Taufende zuſammen ju ſchweißen ju einer einzigen
qropen, belfenden und umgeſtaltenden Macht. Die Frauen find an allen Fragen ded
Einzel- und Familienlebens am unmittelbariten intereffiert, die Pflege alles Reine
menfeblichen, dev perſönlichen Sittlichfeit innerhalb der großen Menfebbeitsfamilie war
von jeber ihre Pylicht, und fie genügen nur diefer Pflicht, wenn fie fich jest aufmachen,
um an der Pflege eines fittlichen Geſamtbewußtſeins mitzuwirken, iwelches im Begriff
ijt, fic) gu bilden, und cine Kraft von höchſter Leiftungsfabigteit ju werden.
Das Aufwerfen der cigentlichen Sittlichkeitsfrage ift Denn auch zumeiſt ibr Werk.
Dank dem faft iibermenfeblichen Mute einiger Vorkimpferinnen, die es wagten, die
ticfften Abgründe unferes Gejellfchaftslebens aufzudecken, baben wir gelernt, uns unferes
jittlicben Lebens im engeren Cinne, alfo der perjinliden Besiehung der Geſchlechter
zu cinander, als einer Gejamtangelegenbeit bewußt 3u werden, die, mehr als irgend
eine andere, grade unter den heutigen Zeitverhältniſſen ein ernjiliches Durchdenken
erfordert. Je gründlicher wir dieſe Zeitverhältniſſe darauf anfeben, um fo mebr
enthiillen fic uns Liebe und Che als cin Maffenproblem von riefigem Umfang und
von tiefiter Bedeutung. Die beiden Mächte, die nad) Schiller die Welt umtreiben,
Hunger und Liebe, halten fic auch innerhalb deS ganzen Gewoges fozialer Fragen,
die unfere Seit in Spannung verjegen, durchaus das Gleichgemicht.
Die Frauen aber haben zu jenem Maſſenproblem zunächſt nod ein gan;
befonderes Verhältnis. Cind fie dod) in der Lage, ſich überhaupt eine gan; nene
Ethik aufbauen ju müſſen, ſich Gefese zu fchaffen fiir die ganz neuen Wege, die fie
heute au geben baben, fiir Unſicherheiten und Nonflifte, die es früher im Frauenleben
einfach gar nicht gab. Mit der feblichten Weisheit aus unferer Grofmiitter Zeiten
finden wir uns in den fomplizierten Verhaltnifien der Gegenwart längſt nicht mebr
surecht; im Gegenteil, ein ftarreds Felthalten an dem, was vor hundert oder nod vor
fünfzig Sabren recht und gut war, ijt in unzähligen Fallen geradezu ein Unrecht, denn
es macht uns unfibig, den Anforderungen der Seit wabhrbhaft yu geniigen, in der wir
Doc leben, deren Kinder wir find, und deren Seqnungen wir dod) aud in vollen
Zügen geniefen. Die Frau ftebt dent ganjen Leben heute anders gegenither als frither,
weil die wirtſchaftlichen Verhältniſſe fics total gedndert haben, — und diefer Wandel,
deffen Einfluß ſchon in der Kinderſtube cinfest, unfere ganze Erziehung umzugeſtalten
beginnt, Millionen von Frauen aller Stände ju eigenem Erwerb nötigt — dieſer Wandel
kann gar nicht anders als auch für das Verhältnis zum Manne von Bedeutung ſein.
Aus vertiefter Bildung, aus beruflicher Tätigkeit, aus wirtſchaftlicher Selbſtändigkeit
wird auch cine größere Selbſtändigkeit des Charakters hervorgehen. De mehr die
Frau vom Leben verſteht, je mehr ſie durch ſich ſelbſt, durch eigenes Denken und eigene
Arbeit erkannt hat, um ſo mehr wird ſie fordern, ernſt genommen und als aufrechter,
ſelbſtverantwortlicher Menſch geachtet zu werden. Eine Frau, die denkt, wird auch über
ihr eigenes Gefühl nachdenken, ſie wird ſich all das Tiefe und Starke, was in ihr
lebt, bewußt zu eigen machen umd wird die höchſte perſönliche Sittlichkeit darin
erkennen, auch in der Liebe ganz und ehrlich ſie ſelbſt ſein zu dürfen. Daß das eine
5*
68 Moberne Sittlichkeitsprobleme.
andere Art von Hingebung bedeutet, als die man der Frau im allgemeinen jeither
sur Pflicht gemacht bat, und die cigentlich cin Aufgeben und Auslöſchen der eigenen
Perſönlichkeit vorfebrieh — bedarf Feiner naiheren Ausführung. Mit diefem Selbſtändigkeits—
fireben, mit dieſem Perfinlichfeit-fein-Wollen der Frau wird cin tief- und weitreichender
Anſpruch in Ehe und Familie bineingetragen; wir finnen uns dariiber nicht täuſchen,
ein Unfpruch, der der Menfebbeit im allgemeinen leider fo neu und befremdend ift,
bak cr zu feiner befriedigenden Crfiillung cin bobes Mah von gutem Willen bei
Mann und Frau vorausfest, und der den Frauen namentlicy die Pflicht auferlegt, die
Welt dariiber qu berubigen, dah man vor dieſer Befreiung nicht yu erzittern braucht,
wie vor der des Slaven, der die Kette bricht, fondern daß fie inzwiſchen auch qelernt
bat, ſich zu dem Grundfage ſozialer Gefittung ju bekennen, den cine der bedeutenditen
Frauen unferer Zeit in dem Worte ausgefprocen bat: Freibeit iſt Verantwortlichkeit.
Dod diefe rein ethifehe Seite unferer Frage, fo wefentlich fie iff, und fo febr
jie aller Menſchheitskultur an die Wurzeln gebt, fie tritt als eine interne Angelegenheit
unwillkürlich zurück vor den viel Derberen, aufdringlicheren Gufferen Formen, in
Denen das Liebes- und Ebeproblem vor uns ſteht. Biel lauter als die ftillen Seelen—
kämpfe der verbeirateten Frau ſpricht die Mot Dderjenigen Majfen des weiblicden Ge-
jeblechtes, die gegen ihren Willen heute nicht mebr zur Che gelangen. Auf die Urſachen
diefer Erſcheinung, die, wie wir alle wiſſen, zum weitaus größten Teile die gebildeten
Klaſſen trifft, können wir hier nicht naber eingehen; genug: fajt die Halfte aller Frauen
Der Mittelſtände muß auf Che und Mutterglück verzichten. Und alle diefe Oundert:
taufende bat man nod) gelebrt, dag der Beruf der Hausfrau und Putter der einjige
jei, Der ibnen cin Recht aufs Dafein gewähre! Nun überläßt man eS ihnen, je nad
Temperantent und Erziehung, ficy mit rubiger Gelaſſenheit anderen Lebenssielen zu—
suivenden, oder in ungeberdigen Jammer geiftiq und körperlich zu grunde zu geben.
Wenden wir uns zum Manne, fo begegnen wir auc bier einer Maſſenerſcheinung,
Die man mit Recht cine ſoziale Tragddie genannt bat: es iſt die auf ganzen Berufs—
und Criverbsflajjen lajtende Unmöglichkeit, gerade in den Jahren der geſundeſten
Rraft und des leidenfchaftlichjten Gefühls zu Che und Familiengriindung febreiten yu
können. Der Beamte und Angeftellte ſowohl als der Vertreter der foqenannten freien
Berufe muß jabrelang auf eine cigene Häuslichkeit warten, er muh, wie oft, daraui
versichten, bei feiner Heirat einer wirfliden Neigung ju folgen. Auch bier geben wir
an einer Stätte vorüber, wo viel bittere Herzensnot begraben liegt.
Auch der Mann hat Grund zu einer berben Anklage gegen die Gefellfchaft, der
vielleicht im Vertrauen auf feine Gefchiclichfeit im Berufe und auf die fleipigen Hände
der Frau fich das Recht des Herzens genommen und feine Liebe heimgeführt bat, wie's
nur eber zum Nötigſten yu reichen febien, den aber bald der Kinderſegen und Krank
beiten aller Art in ſchwere Bedrängnis ſtürzen und der nun von allen Seiten mit
Vorwiirfen wegen feiner leichtfinnigen Heirat und unverantivortliden Familiengriindung
freigebig bedacht wird. Liebe und Wirtſchaft find eben zwei Faktoren, deren bar:
moniſche Ubereinftimmung zwar im Intereſſe ciner geregelten bürgerlichen Ordnung
dringend zu wünſchen, aber in unſerer Zeit ganz außerordentlich erſchwert iſt, dadurch,
dah zur Führung eines Haushaltes fo viel mehr Mittel erforderlich find als in der
friiberen Beit der felbjtproduzierenden Hauswirtſchaft. Der ftets wachſende Anſpruch
an die ganze Lebenshaltung, den der zunehmende Wohlſtand in allen Volksklaſſen erzeugt,
droht aber, die Rückſicht auf das wirtſchaftliche Gedeihen bei der Eheſchließung weit
Moderne Sittlichteitsprobleme. 69
mebr an die erjte Stelle zu rücken, alS es im wabren Intereſſe Der Menſchheit ju
wünſchen ift. Das innerjte und beiligite Gejes der Natur will ja, daß die Menfeben
ſich nach) wabrer Suneiqung verbinden, damit aus folcher echten Che cin lebensfähiges
Geſchlecht hervorgehe, in dem dads Weſen der Cltern ſich zu feſtgefügter fraftvoller
Einheit innig durchdringt. Und wenn dieſes Ideal auch niemals vollſtändig und für
alle erreichbar ſein wird — ſo wenig wie irgend ein anderes auch, wie z. B. das
Ideal der ganz uneigennützigen Nächſtenliebe —, ſo zeigt es doch die Richtung an, in
der alles Streben nach Vervollkommnung ſich bewegen ſollte, und gibt uns einen
Maßſtab dafür, in wie hohem Grade der herrſchende Geiſt unſerer Zeit der tiefſten
Abſicht der Natur entgegenwirkt. — Aber freilich, die Ehe, die aus Liebe geſchloſſen,
aber dann in Armut und drückende Abhängigkeit geſunken und darüber verwildert iſt,
wo der Mann in ſeinem Vorankommen gehindert, die Frau überanſtrengt iſt und keine
Mittel vorhanden ſind, den Kindern eine genügende Erziehung zu geben — ſie bietet
ein kaum weniger troſtloſes Bild als jener andere Typus, dem wir hauptſächlich in
den mondainen Kreiſen unſerer Großſtädte begegnen, wo die aus ſogenannten Vernunft—
gründen eingegangene Ehe mit der Zeit cine bloße Form geworden it, mit der manches—
mal cin frivoles Spiel getrieben wird. Selbſt da, wo feinerlei Not und Unfreiheit
Der Menſchheit webrt, nach dem deal zu greifen — jfelbjt da feben wir die Liebe
keineswegs als allmächtige Ciegerin fiber alle anderen Intereſſen — ja es gibt be-
kanntlich Leute genug, die bebaupten, es werde im Bereich der Entbehrungen ver—
hiltnismapig viel mehr nach Liebe gebeiratet als im Bereiche des UÜberfluſſes.
So fehen wir alfo ganze Scbichten der Bevdlferung durch die Macht der Vere
hältniſſe zum Stärkſten und Elementarjten, zur Natur in ibnen — in ein durchaus
unnatürliches, verſchrobenes Verhältnis gebracht. Die Natur gönnt jedem ſein Herzens—
glück; unſere Kultur verwehrt es dem einen und verleitet die anderen, es um äußerer
Annehmlichkeiten willen mit Füßen zu treten. Aber die Natur läßt ſich nicht unter—
drücken, und je hochmütiger und verſtändnisloſer man ſich ihr gegenüber verhält, um
ſo tückiſcher nimmt ſie ihre Rache. Wenn wir genauer zuſchauen, bemerken wir mit
Schrecken, welch' breit entfalteten und zum Teil grauenhaft gearteten Erſatz ſich die
erzwungene Entbehrung dieſer einen und der frivole Verzicht dieſer anderen geſchaffen hat.
Damit kommen wir zur furchtbarſten Seite unſeres Problems.
Von jeher, ſeitdem es cine bürgerliche Ordnung gibt, bat auch immer ein Uberſchuß
yon Roheit und Unbändigkeit beftanden, der ſich in diefe Ordnung nicht einfügen wollte;
Diebe und Verbrecher weiſt die menfebliche Gefelifeaft immer und auf allen Gebieten
auf, auch auf dem der CSittlichfeit; fle ſelbſt erzeugt fie ja in inumer neuer Geitalt.
Die Natur wird und Fann niemals vollitindig und ohne Reft in der Kultur aufgeben;
das weif} jeder, Der Geſchichte yu leſen verftebt. Was wir aber heute feben, was in
unſeren Großſtädten auferbalh der biirgerlichen Ordnung und Citte heute fein Wefen
treibt, das geht über dad erträgliche Maß hinaus; das bedeutet micht mehr einen
notiwendigen Abfluß gefabrdrobender Säfte, durd den der Gefellfchaftstorper gereinigt
wird, das ift felbjt cine fürchterliche Krankheit, die das Volkstum zu entnerven und im
Kern zu zerſtören droht; das ijt fein notwendiges und bei der Mangelhaftigkeit alles
menſchlichen Weſens entſchuldbares Ubel, fondern wildeſte Entartung; nicht mebr
unvollkommene, ungeläuterte Natur, ſondern ſelbſt üppigſte, raffinierteſte Kultur, deren
gefährlicher Reiz, deren glänzender Schimmer weltmänniſcher Ungebundenheit Unzählige
zur Vergeudung der Mittel verlockt, mit denen ſie bet gutem Willen einen eigenen
70 Moderne Sittlichfeitsprobleme.
Hausbalt ſehr wohl batten gründen können. So febr aber hat fics die Geſellſchaft
mit Ddicfer Freibeit vor und neben der Che ausgeſöhnt, daß alle Verfuche, ihr mit rein
fittlichen Waffen entgegenzutreten, von den meiſten aufgeklärten und lebenskundigen
Leuten immer nur beldchelt worden find. Neuerdings kommt dicfen verlachten
Sittlichkeitsbeſtrebungen allerdings cin mächtiger Bundesgenoſſe gu Hiilfe: die Angſt,
die furchtbare Angſt vor den Folgen! Cin verbheerendes Gift ſchleicht durd alle Klaſſen,
durch Familien und Generationen, ſchont nicht Rang und Stand, und trijft die
Unſchuldigſten mit jabem Berderben. Bald müſſen ſich alle Eltern, wenn fle den Sohn
ins Leben hinausziehen laſſen, ebrlich fagen, daß es fajt cin glücklicher Zufall ijt, wenn
er ihnen an Leib und Seele geſund bleibt, und wenn fic ibve forgjam gebiitete Todster jum
Altar geleiten, fo müſſen fie ficr in banger Sorge die Frage vorlegen, ob jie fie nicht
in wenig Jahren als gebrodene, mit lebenslangent, qualvollem Cicchtum gefdlagene
Rranfe wiederſehen werden.
Denn, während die natiirlidien Wege yur Erlanqung der ,Mrone de3 Lebens“,
wie Goethe fagt, immer ſchwieriger und labyrinthiſcher werden, während ſich dafiir
immer breitere und gangbarere Seitenwege zu cinem bequemen „Sich-Ausleben“ auftun,
ift das allgemeine Verlangen der Menſchheit nach Lebensglück und Lebensgenuß immer
heifer, drängender und ffrupellofer geworden, im Berhaltnis, wie auch unfer ganzes
Dafein fic immer genupreicher, farbiger, intereffanter um uns ausbreitet, Wenn wir
antlagen wollen, fo baben wir vor allem unſere aufregende Zeit anzuklagen; die enorme
Vervollkommnung der äußeren Zujtinde, die fich in folchen Rieſenſchritten vollzogen
bat, daß das phyſiologiſche Vermögen der Menfebbeit, über dieſe Fülle des Erlebens,
über dieſen Reichtum an Eindrücken Herr zu werden, daß unſere Nervenkraft dahinter
zurückgeblieben iſt. Das Leben der zweiten Generation vor uns kommt uns heutigen
Tages bereits wie ein beſcheidenes Idyll vor.
Mit der Möglichkeit, ſo viel mehr Lebenswert umd -Anbalt zu erfaſſen, wächſt
natürlich auch der Wunſch danach; unſere Weltanſchauung lehrt uns nicht mehr: wer
cin Leben im wahren Sinne führen will, der flüchte aus der Sinne Schranken in das
weltferne Reich der Gedanken und der Phantaſie, ſondern fie lehrt uns umzuſchauen,
die Wirklichkeit, die bedeutungsvolle Gegenwart zu lieben, die uns nach Jahrhunderten
der Entbehrung und Einſchränkung aller Art ſo freigebig mit Wohlſtand und Schönheit
überſchüttet. Eine warme Sinnenfreudigkeit durchſtrömt ung; die Weite, in die wir
hineinſehen, dehnt und belebt unſer Gefühl. Prof. Sombart kündigt in ſeinem Werke
über die Volkswirtſchaft des 19. Jahrhunderts geradezu das Anbrechen einer ſinnlich—
künſtleriſchen Epoche an. Junge Menſchen, vor deren empfänglichem Geiſte ſich die
unermeßlichen Schätze modernen Wiſſens entfalten, die zum erſtenmal die berauſchenden
Töne, die brennenden Farben moderner Kunſt auf ſich wirken fühlen, die packt's wie
ein Taumel — ſie möchten ſich dem Leben in die Arme werfen und ſeine Herrlichkeit
in ſich aufnehmen. Und dic Armen, die Mühſeligen und Beladenen, fiir die es früher
feine Freunden gab, auch fie baben das Fordern qelernt; es iſt ja fo viel ſchwerer,
ausgeſchloſſen yu fein, wenn fo viele geniefen! Sie feben fo viel Bebagen und Wohl—
jein vor Augen, cine fo ſouveräne Herrſchaft über alle Sdvige der Welt — follte
Diefer faft erdrückende Reichtum an Lebensgiitern niet bet gerechter Verteilung fiir
alle geniigen?
Wie aber bei einem von allen Seiten ftrdmenden Regen die Grundwäſſer fteigen,
jo haben all die tanfendfachen Kulturniederſchläge der legten Jahrzehnte aud bas
*
*
Moderne Sittlichleitsprobleme. 71
Ticfite und Innerſte in der Menfebbeit zum Steigen gebracht; dag perſönliche Glücks—
verlangen bebt fics in jedem eingelnen, es verſtärkt fic) durch das Sicheinsfühlen mit
Gleichgefinnten ringsum zu cinem Gefiibl des Rechtes, des unbeftreitharen Menſchen—
rechtes auf lid und Freude. Das CEntfagenmiiffen wird fiir Taujende jum
unertrigliden Martyrium — und fo, aus diefem Aufeinanderprallen von leidenſchaft—
lichem Begebren und tauſendfacher Hemmung ergibt fich cin chaotiſcher Zuftand, dem
als dunkles Sphinrratjel die Frage entfteiqt: Was foll denn nun werden??
* *
*
Wenn wir die Vielgeſtaltigkeit unſeres Maſſenproblems ins Auge faſſen, ſo
werden wir nicht erwarten, daß einer von den zahlreichen denkenden Köpfen, die ſich
an ſeiner Löſung mühen, ein Mittel gefunden babe, welches aller Not mit einem
Schlage abzuhelfen vermöchte. Es iſt klar, daß nur durch viele verſchiedene Einflüſſe,
von vielen verſchiedenen Stellen aus, eine allmähliche und teilweiſe Beſſerung der
Zuſtände erreicht werden kann. Die Notwendigkeit, uns auf unſer eigentliches Thema
zu beſchränken, zwingt uns, hier abzuſehen von den Theorien, die alle Hoffnung auf
dic Umgeſtaltung unſerer ganzen Geſellſchaftsordnung ſetzen, die der UÜberzeugung
entſpringen, daß mit dem wirtſchaftlichen auch das ſittliche Elend verſchwinden oder
doch ſich bedeutend vermindern müſſe — ſo wichtig ſie auch für unſere Frage wären
und fo viel unbeſtreitbar Wahres fie auch enthalten. Wenn ein moderner Großſtaat
möglich wäre, der fo vollſtändig, wie es vielleicht für einen antiken Kleinſtaat aus:
fiibrbar oder dod) denfbar war, die Sorge für Unterbalt und Erziehung der Kinder
auf ſich nibme, fo wäre allerdings die Familie in hohem Grade entlaftet und der
traurigen Verwahrloſung gefteuert, unter welder die Qugend der arbeitenden
Bevölkerung heute fo fewer leidet. Es wire cine größere Freibeit der Eheſchließung
gewährt — mur liege ſich dariiber ftreiten, ob es nicht einen prinjipiellen Widerfprud
bedeutet, daß jie erfauft wird durch cine Maffenerziehung der Kinder, die nicht anders
als febablonenbaft fein fann, und ob jene individuelle Freiheit nod ihren vollen Wert
bitte fiir diejenigen, dic von vornberein durch dieſe Erziehung zu Maſſenmenſchen
geſtempelt worden find. Auf diefe Theorien, die zum Teil ins Politiſche übergreifen,
sum Teil nur einen beſchränkten Kommunismus anjtreben und etwa in der Form von
Haushaltungsgemeinfcbaften den arbeitenden Familien die Wirtſchaft zu erleichtern
ſuchen — darauf dürfen wir bier nur hindenten, ebenjo wie auf das Wiederaufleben
der Malthus'ſchen Bevdlferungslebre, deren Vertreter den unbeilvollen Queritand
bekämpfen möchten, daß gerade die armen und ärmſten Klaſſen durch Kinderreichtum
immer wieder erbarmungslos proletariſiert werden, während mit dem wachſenden
Wohlſtand notoriſch die Zahl der Kinder abnimmt, obgleich dort Hunger und frühe
Arbeit, hier ſorgſame Pflege und freie menſchliche Entfaltung ihrer wartet.
Alle dieſe Theorien bedeuten ja auch größtenteils nur erſt ein unſicheres Vor—
waärtstaſten, bei dem das Gefühl, daß eine vielfache Verbeſſerung unſerer ſozialen Zu—
ſtände zu wünſchen iſt, ſtärker und deutlicher wirkt als die Vorſtellung von dem, was
denn nun eigentlich zu geſchehen bat, und wie die Verbeſſerung beſchaffen fein ſoll.
Aber da ſoziale Zuſtände ſich überhaupt nicht nach Vorſchriften regeln, ſondern
organiſch entwickeln, ſo genügt jenes Gefühl ſchon, um überall friſche Säfte zum Kreiſen
zu bringen. Kräftig dringt der ſoziale Geiſt in Staat und Gemeinden ein und bringt
ihnen die Pflicht der Fürſorge für die großen Maſſen zum Bewußtſein, die Pflicht
72 . Moderne Sittlidfeitsprobleme.
eines wirflichen Rulturitaates, jedem einzelnen cin menſchenwürdiges Daſein durch dic
Möglichkeit ausreichenden Erwerbs zu fichern und die Dugend des Volfes vor ver-
robenden und entſittlichenden Einflüſſen yu ſchützen.
Wir müſſen alfo verjuchen, einen fliichtigen Blick in die Gedanken derjenigqen
Manner und Frauen yu werfen, die die Menfebbeit yur Erlöſung aus allem Wirrjal
auf ibve eigenen, perſönlichen geiftigen und moraliſchen Kräfte verweiſen; die uns
yurufen: werdet ibr nur erjt felbft in eurem Denfen und Fiiblen gefund und gerecht,
dann werden auch die Berhialtniffe gefunden! Und da verdient an erjter Stelle die
Frauentliteratur der legten Jahrzehnte genannt zu werden, die jene befondere Stellung
Der Frau yur Liebes- und Chefrage als Hauptgegenitand erfaft, und die namentlich
mit ebenſo viel dichteriſcher Kunſt als ſittlichem Ernſte gefebildert hat, wie die moderne,
zum Selbſtbewußtſein erwachende Frau den MWbergang aus der vollftindigen Unwiſſen—
heit, in der Erziehung und geſellſchaftliche Sitte fie gefangen bielten, zur wirklichen
Erkenntnis des Lebens und feiner Erſcheinungen erfabrt und — iwabrlid! — erleidet.
Ohne Ausnabme haben dieſe Schilderungen den Charakter ciner furchtharen Antlage
gegen Familie und Gefellichaft. Man bat das junge Madchen erjzogen, als ob ein
ficheres Eheglück ihrer warte, — man bat damit dem gangen Frauenleben jenen une
feligen Fatalismus als Grundzug eingepragt, der timer glaubt, irgendwo da draußen
miiffe das Olid fiir ibn bereit liegen, während jedem Knaben als bejter Galt die
Erfenntnis cingepraigt wird, daß der Menſch alle Lebensiverte in ſich felber trägt.
Cin geijtreiches Frauenbud der allerlegten Zeit enthalt den Sag: Frauen figen eigentlich
immer Da und warten, ob die Türe aufgebt und jemand Fommt.
Kann man die tiefe Bitterfeit, die heute durch die ganze Frauenwelt geht, Me
Sehnſucht nach Erlöſung aus der Qual dieſes tatenlofen Harrens und der Hilflofen
Gebundenheit erfebiitternder ausſprechen? Und liegt nicht eine Welt von Troft und
frober Suverficht in dem VBertrauen, dak es uns gelingen wird, die Erziehung der
Frauen fürs Leben mit einem ganz anderen Geiſte zu durddringen? Dah es cin
Ende haben wird mit dem Brachlieqen und Verkümmern fo viel guter Frauenkraft,
weil jedes junge Mädchen gelebrt wird, fich in frifeher, tapferer Arbeit einen eigenen
Weg zu bahnen — fei ¢3 als häusliche, fet es als erwerbende Tätigkeit, jet es als
irgend cin Studium — cinen Weg, der, wenn er auc nicht ju Liebe und Che bin:
fiibren follte, doch feinesiwegs in Cinfamfeit und Herzensöde zu enden braucht. Die
Welt ift weit und ſteht heute jedem offen; fie bietet dem regen Geifte fo viel und dem
warnten Herzen nod mebr. Die Menſchheit braucht Arbeit, braucht Gedanfen und
helfende Liebe in Fille! Gerade der in uns fo jtarf gewordene Drang, dies reiche
moderne Leben zu verſtehen und zu geniefen, lebendigen Anteil daran zu haben,
Den gilt es in Die richtigen Bahnen zu lenfen, ihm den Zugang ins Grofe und Alle
gemein-Menſchliche su eröffnen. Beſchränkt auf den Eleinen perſönlichen Gefühls- und
Intereſſenkreis, in dem man die Frau feither gebalten bat, muh er jum Unbeil aus:
ſchlagen, cine rückſichtsloſe, leidenſchaftliche Selbſtſucht entfachen. —
Unſere Literatur, die uns in fo mancher ergreifenden Geftalt das junge Mädchen aus
quter Familie vorgeführt bat, welches durch fortwabrende trügeriſche Hoffnungen, durch
jolchen egoiſtiſchen Kultus de cigenen Gefühls in cine krankhafte Empfindſamkeit qeraten
ijt und das ſich Dann von derſelben Familie und derfelben Geſellſchaft, die fie ſyſtematiſch
in dieſe Gefühlsüberreizung bineingefteigert baben, mit Unwillen und Hohn zurückgeſtoßen
fühlt von dem Tage an, wo ibre Jugend verblüht ift und jene Hoffnungen fie lächerlich
Moderne Sittlicdlcitsprobleme. 73
erſcheinen laſſen — unſere Yiteratur läßt uns ebenſo furchtbare Ehetragödien erleben
in denen wir die Frau, ohne Verſtändnis für das wahre Weſen der Liebe, vertrauens—
ſelig und befangen in romanhaften Vorſtellungen, von den Erlebniſſen der Ehe in ſinnloſe
Beſtürzung verſetzt ſehen. Niemand hat ſie auf die großen Rätſel des Menſchenlebens
vorbereitet, niemand hat ihr vow den Verheerungen der Leidenſchaft erzählt — fic
war de3 naiven Glaubends, dah mit der Ehe alles geordnet fei, ibr ganzer künftiger
Lebensqang flar und obne jegliche Abgriinde vor ibr daliege — und aus diefem
Findlichen Wahn herausgeriſſen, vernichtet durch Erfabrungen, die fie nicht zu deuten
weiß, iſt fie ſelbſt diejenige, die ibr und ihres Gatten Leben zerſtört. Konſtanze Ring
in dem bekannten Roman von Amalie Skram kann die Erkenntnis nicht überwinden,
daß das Gefühlsleben des Mannes anderen Geſetzen gehorcht, als das der Frau;
aber ſie ſpricht in ihrer Todesſtunde doch das herbe Zugeſtändnis aus: „hätte ich nur
beſſer Beſcheid gewußt über das, was eine ſo große Rolle im Leben ſpielt — dann
wäre es mir beſſer ergangen!“
„Hätte ich gewußt“ — aus wie vielen Herzen mag ſich dieſer Notſchrei ſchon
emporgerungen haben! „Gebt uns Wahrheit“ — lautet ein anderes Schlagwort,
welches durch eine kürzlich erſchienene Flugſchrift ausgegeben worden iſt. Die Frau
fordert Ehrlichkeit — Ehrlichkeit von der Erziehung, Ehrlichkeit vom Manne; jie bat
das Gefühl: wenn nur erſt einmal all das Falſche, Verſteckte, dies unheimliche
Einverſtandenſein der Wiſſenden, mir, der Unwiſſenden gegenüber, aus der Welt iſt,
dann wird alles tauſendmal beſſer ſein! Was Natur iſt, was fein mug, das muh
ids auch wiſſen, das muß ich ertragen können. Natur fann nicht abſcheulich fein —
abſcheulich ijt die Heuchelei, dex gewiſſenloſe Betrug, der die Frau mit cinem Sebein
von Achtung unigibt, aber in Wirklicfeit ihrer ſpottet. Es gibt nichts, was fo
unfittlich ware als Unwabrbeit. —
Nod einen Schritt weiter geben diejenigen, welche die jftrengen ſittlichen
Anforderungen, die der Mann von jeber, bet wilden und bei jivilifierten Volfern, an
Die Frau geftellt bat, mun auch auf ibn anwenden, und fagen: nur durch qleiche Moral,
nur durch gleiche ſittliche Reinbeit bei beiden Geſchlechtern kann die Menſchheit aus
Det ticfen Erniedriqung erboben werden, in die fle verjunfen ijt. Und es find nicht
etwa mur Frauen, die dicfe Forderung ausſprechen; cin großer nordiſcher Dichter bat
feine Kunſt mebr als einmal in ibren Dienst geftellt und der Frau das Recht
suerfannt, cin reines Leben vom Manne zu fordern; und unter den mancherlei
Abjtinensbejirebungen unferer Zeit, die cine Gefundung unſeres Volfslebens von innen
heraus anzubahnen fuchen durch Enthaltung von allen entnervenden Genüſſen, durch
Riidfebr yu Einfachheit und durch Härte gegen ſich felbft — darunter verdienen wahrlich
dic — meift ſtudentiſchen — Berbindungen junger Manner, die fich ein enthaltjames
Yeben zum Geſetz machen, mit befonderer Achtung genannt yu werden. Unfere heutige
Menſchheit were auch in der Tat cin febwades Gefchlecht — „unwert der Ahnen“,
unwert Der alten germanifeben Vorfabren, die an fittlicher Reinheit vor anderen Ur—
völkern bervorragten, unwert unferer großen Ethiter, dic uns das Ideal Der unerbittlicven
fategorifdien Pflicht vorgezeichnet haben, wenn in ihrer gejamten ſittlichen Selbſt—
erziehung jener höchſte, ſtärkſte und feierlichſte Imperativ der gleich ſtrengen Moral für
Mann und Frau und mit ihm der tiefe Ernſt fehlte, der von ihm ausgeht.
Wer freilich die allgemeine Verſchiedenheit der Geſchlechter, die unendliche
Mannigfaltigkeit der Individualitäten bedentt, wer bedenkt, dah Liebe fo verſchieden
74 Moderne Siltlichleitsprobleme.
ift, wie Menſchenherzen und Charaftere und Temperamente verfchieden find, der wird
aud) von dieſem Ideal nicht erwarten, daß fie ihm dic Diillionen fiigen. Es gereicht
unjerer itberfeinerten, verweichlichten Seit yur Ehre, dah fie Die Kraft gebabt bat, es
hervorzubringen und vor die Maſſen hinzuſtellen, und die fcharfe Luft, die von ibm
wie von einem hochragenden, cisgefrinten Bergriejen ausgeht, fann wobl flarend und
befreiend in die Dumpfheit und Schwüle unferer Grofitadtatmofphiren hineindringen.
ES ijt ſchon viel gewonnen, wenn man die Apoſtel dieſer Lebre als Helden und nicht
mehr als bloße Narven anjieht; wenn etwas von der furdtharen Ungeredhtigheit,
Die mit der fogenannten doppelten Moral zuſammenhängt, vor jenem fehneidenden
Hauche jergebt; wenn man nicht mehr dem einen alles, Den anderen nichts verzeiht;
wenn man nicht mebr die dreifte Frivolitit nachſichtig belichelt, und den unbedadten
Leichtjinn, der — wie oft — mur Leichtgliubigfeit ijt, und der über feinerlei
Raffurement verfiigt, um fic nach aupen bin su febitgen, um fo unbarmberziger von
ſich ſtößt. Es iſt ſchon viel gewonnen, wenn der Cynismus der Weltleute cin wenig
eingeſchüchtert und das Pharifdertum der Wohlgeborgenen, Unverfuchten, ein wenig an
ſich felbjt irre gemacht wird, denn dieſe beiden ftehen in unferem Gefellichaftaleben
wie zwei ftarre Klippen, an deren Kälte und Unzugänglichkeit Taufende von Schwachen,
Strauchelnden, Halbjfehuldigen, denen emporzuhelfen ware, in Verzweiflung ſcheitern
und vollends untergeben. Wenn auf irgend einem Gebiete, fo follte auf dem Gebiete
der perſönlichen Sittlichkeit gleichſam als Kommentar yu den allgemeinen Normen aud
der Grundſatz Geltung haben: es fei jeder möglichſt ftrenge gegen ſich ſelbſt und
möglichſt milde gegen die anderen.
* *
*
Es gibt eine alte Sage, die in verſchiedenen Geſtalten bei verſchiedenen Völkern
wiederkehrt, wonach eine Wunde immer nur durch die Berührung mit der Waffe geheilt
werden kann, die fie geſchlagen hat. So ſagen und ſchreiben auch heute mance, und
zwar ſolche, die an die urſprüngliche Güte der menſchlichen Natur glauben: die
Wunden, die die Liebe der Menſchheit ſchlägt, können auch nur durch Liebe geheilt
werden, nicht durch Strenge; man lehre die Menſchheit, ſich auf die echte Liebe beſinnen, die den
ganzen vollen Menſchen, mit Leib und Seele, fiir ſich verlangt, dann wird die Herrſchaſt
jenes widerlichen Zerrbildes gebrochen ſein, dem viele nur deshalb anzuhängen im
ſtande ſind, weil ſie ihr eigenes Weſen zerriſſen, in zwei Teile geſpalten haben, einen
höheren, edleren und einen niedrigen unreinen, die beide nichts voneinander zu wiſſen
brauchen, von denen jeder, wie man annimmt, ohne Schaden für den andern getrennte
Wege gehen kann. Ein jahrhundertlanges, von einem Geiſt weltabgewandter Askeſe,
von übertriebener Gewiſſensangſt eingegebenes Mißverſtehen der menſchlichen Natur
hat uns dahin gebracht, in den tiefften, vitalſten Gründen unſeres Gefühlslebens Unrecht
und Sünde zu erblicken und ſie weit aus dem Bereiche alles deſſen zu entfernen, was
uns als gut und ſchön gilt. Wir haben einen Teil unſeres Weſens ſo zu fagen
preisgegeben; was an ſich unſchuldig und natürlich iſt, dem haben wir den Stempel
der Häßlichkeit aufgeprägt, und es dadurch auch wirklich häßlich gemacht und aller
Anmut beraubt, daß wir unſer beſſeres Selbſt vollkommen von ihm zurückgezogen
haben. Aber dieſe Sinnlichkeit, deren jeder ſich ſchämt, und die jeder hinausgeſtoßen
hat — die hat ſich draußen vor unſeren Türen zuſammengefunden und iſt eine Macht
in der Welt geworden, die mun dem fo äugſtlich gehüteten Hauſe mit viel, viel
wr,
Moderne Sittlichfeitsprobleme. 75
ſchlimmeren Gefabren droht. ener künſtliche Zwieſpalt int einzelnen hat ſich zu einem
unheilvollen Zwieſpalt im großen ausgewachſen; wir ſehen cine Sphäre reiner
Geſittung in Haus und Familie und eine Sphäre zügelloſen Genießens draußen,
zwiſchen denen, trotz anſcheinend abſoluter Getrenntheit, die verderblichſten Zuſammen—
hänge ſpielen — ſind es doch häufig dieſelben Menſchen, die in beiden leben. Wir
ſehen das weibliche Geſchlecht eingeteilt in Frauen, die man ehrt und hochhält, und in
ſolche, die man verachtet und verlengnet, obgleich man fie nicht entbehren will; ſchon
der heranwachſende Jüngling erfabrt, dah es Frauen ven gang anderer Art gibt als
jeine Mutter und feine Schweſtern find, und er gewöhnt ſich an cine Schätzung des
ganzen weiblichen Gefcblechtes, die cine Art von beſcheidenem Mitteljuftand zwiſchen
den beiden verſchiedenen Klaſſen berjtellt,
Mn diefem allem feid ihr felber ſchuld! fagt man uns. Erziehet die Jugend zu
qefundem, ungeteiltem Empfinden — das ift die wabre Unſchuld! Ihr follt euch des
Natürlichen, Dunkeln in euch nicht ſchämen, fondern es verſtehen und mit den belleren
Geiſteskräften durchdringen, es ift Der Beredelung fähig; ja, es wird das Verſtändnis,
das thr ihm widmet, überreich vergelten, indem es ener ganjes Sein mit Wärme und
Freudigkeit erfüllt. Wenn jeder einzelne cin ſolcher ganzer Menſch von vollem,
unverkrüppeltem Empfinden wäre, dann wäre kein Geſchmack mehr da für das Gemeine,
fiir Das Untermenſchliche — dad Liebesleben der Menſchheit wäre mit einemmale auf
cine höhere Stufe gehoben. In dieſer Apologie eines freien, ſchönen, natürlichen
Menſchentums, deſſen begeiſtertſter Verkündiger Carpenter geworden iſt mit ſeiner
Schrift: „wenn die Menſchen reif zur Liebe werden” — lebt cin Hauch antiken Geiſtes,
von griechiſcher Heiterkeit und Lebensfreude, und ſie iſt namentlich bei künſtleriſch
gearteten Naturen einer hinreißenden Wirkung gewiß; während ihr die ernſthafte,
ſchwerblütige Gefühlsweiſe nordiſcher Vöolker in mancher Hinſicht entgegenſteht,
und entgegenſtehen muß, weil ihr heiligſtes Ideal doch immer die Treue iſt, die
lebenslange Treue gegen das einmal erwählte Glück, die einmal übernommene Pflicht,
und weil ſie im allgemeinen bereit iſt, dieſer Treue mehr Freiheit, mehr Recht der
eigenen Perſönlichkeit zum Opfer zu bringen, als ſich mit dem Grundſatz der vollen
eigenen Entfaltung verträgt; eine Gefühlsweiſe, bei welcher die Sinnlichkeit deshalb
zurücktreten muß, weil den Mächten des Gemüts die erſte Stelle gehören ſoll. Jene
Lehre der freien individuellen Entfaltung ſetzt notwendigerweiſe neben die Forderung
der ungebrochenen leidenſchaftlichen Neigung als Grundbedingung einer wahrhaft ſittlichen
Ehe — die andere Forderung, daß eine Ehe nicht länger aufrecht erhalten werden
dürfe, als dieſe Neigung dauere. Jeder Zwang in der Liebe ſei im tiefſten Grunde
unſittlich.
Den ſtärkſten Ausdruck fiir dieſe Auffaſſung finden wir in der modernen Kunſt;
Sicglinde in Richard Wagners Walfiire will vor Scham vergeben — nicht weil fie
die Che gebroden hat, fondern weil ibr jest, nachdent fie Die wabre Liebe Fennen
qelernt hat, die Che mit dem ungeliebten Mame als bitterite Schmach erſcheint. Im
ſchroffen Gegenſatz hierzu bat cin befannter Philoſoph der Neuseit gegen die Craltation
proteftiert, deren fics diejenigqen febuldig madsen, die die ungebinderte Freibeit der
Leidenfdraft — dieſes vergänglichſten aller Gefiihle — zum leitenden Geſetz des menſch—
lichen Ehelebens machen möchten. Wirkliche, große Leidenſchaft ſei vor allen Dingen
nur wenigen gegeben, und mit jenen extremen Forderungen, mit jenem Brandmarken der
Pflichtehe als einer Unſittlichkeit maße ſich ein leichtfertiger Radikalismus ein durchaus
76 Moderne Sittlicdfeitsprobleme.
ungeredtes Urteil an ither Taufende von Männern und Frauen, denen Fein leidenſchaft—
licheS Glück befebieden war, dic cinen Lebensbund aus rubiger Erwägung gefdloffen,
auf Achtung und Vertrauen geqriindet, und ebrlic und redlich gebalten haben. Und
die Vertreter diefes Opportunismus können fich mit Fug und Recht darauf berufen,
dah der größte Deutſche, Gvethe, einer Che entſproſſen ijt, die viel mehr den Typus
einer Vernunftehe als eines leidenſchaftlichen Liebesbundes trigt.
* *
*
Zu denjenigen Sittlichkeitsprogrammen, die zur Erlöſung aus der quälenden
Spannung der ſozialen Verhältniſſe das natürliche Gefühl anrufen, und die der Uber—
zeugung ſind, die Menſchheit brauche nur den Panzer von Engherzigkeit und Vor—
urteilen abzulegen, in den ſie ſich eingeſchnürt hat, um ſofort freier und leichter zu
atmen, zu dieſen Programmen gehört endlich auch eine Forderung, die in Frauenkreiſen
laut und ſtark geworden iſt, und die das Recht der Mutterſchaft für jede Frau in
Anſpruch nimmt. Ausgehend von den unverſchuldeten Leiden derer, fiir die es keine
Ehe gibt, denen ein grauſames Schickſal das höchſte Frauenglück verweigert hat, eigne
Kinder zu beſitzen, unter Berufung ferner darauf, daß man mit allen Mitteln der
Erziehung alle anderen Intereſſen aus dem Gefühlsleben der Frau fern gehalten hat,
fo dak ſich ihre Entbehrung nun ins Tragiſche ſteigern muß — fo rufen die An—
hängerinnen dieſer Forderung der Geſamtheit der verheirateten Frauen zu: mit welchem
Rechte verweigert ihr, die ihr ohne ener Verdienſt glücklich ſeid, uns, den Über—
gangenen, Vergeſſenen, die Hand nach dem Rechte auszuſtrecken, das mit uns, wie mit
end, geboren ward? Wir verlangen ja nicht Wohlſtand und Fürſorge, wir wollen
felbjt fiir unfer Rind arbeiten, mit taujend Freuden ein Leben bindurdh; mur nicht
allein fein müſſen, nur nicht diefe grauenbafte Leere des Herzens, diefe ode Swed:
Lojiqfeit des Dafeins. Sie weiſen darauf bin, wie im grellſten Gegenfag yu ibrer
Mot, gleichfam ihnen zum Hohn, und unter den Augen der Gefellfcbaft die wabre
Unſittlichkeit ihr Wefen in der Welt treibt und treiben darf, und auch fie ſtellen den
Yeitfag auf: man gebe der echten Liebe Freiheit, und fie wird ihr gemeines WAbbild
verſcheuchen — die freie Frau und Mutter wird die Dirne verdrangen.
Vor Jahren wobnte cinmal cine beriilinte Sebrijtitellerin, die aud in cinem
herrlichen Buche fiir das „Recht der Mutter” eingetreten it, einem Frauentage bei
und nabm an einer Verjammlung teil, die dev Cittlichfeitsjrage qewidmet war. Weder
ihr künſtleriſches, noch iby menſchliches Gefühl fand ſich jedoch befriedigt von dem,
was fie da hörte, und fie febrieh bald danach, es fei zwar erfreulics, daß es ſich
endlich unter den Frauen yu regen beginne — aber was cin Sturm fein folle, daa fei
vorerjt dod) nocd cin armſeliger dünner Luftyug, obne rechte Kraft, ohne den grofen
weltiiberwindenden Willen. „Gebt der Frau Arbeit, bet der iby die Seele weit wird,
und ein Rind, das ibr das Hers froh macht. Schützt fie — und fie ijt geſchützt,
ſagt, fie ijt ebrbar, und fie ijt ehrbar. Breitet cure Flügel aus,” ruft fie Den in der
Bewegung arbeitenden Frauen zu, ,,bereitet Dem jungen, jtarfen Weibe cin Neſt —
und aus dieſem kleinen Neſte wird cine neue ftarfe Menfebheit fommen.”“ — Cie, die
wie feine andere das Hohelied der Mutterliche gefungen bat, darf jo ſprechen, denn
aus iby ſpricht die Künſtlerin, die alles Menſchliche verſteht, und fpricht mebr nod
das tief fühlende Weib, in dem fich der Geift feines ganzen Geſchlechtes dariiber
empört, daß wir mit den Schlägen, die Der UnfittlichFeit qelten, auc) fo oft die echte
Moderne Sitttichfeitsprobleme. 77
Miitterlichfeit treffen, die fich in Liebe aufopfert; dah wir fo oft im ftande find, der
notoriſchen Leichtfertigkeit und ſittlichen Sfrupellofigfeit unfer Haus yu öffnen und die
Mot wirflicher Liebe mit barten Worten von unferer Schwelle zu tweifen.
Aber unjerer Bewegung bat fie dennoch Unrecht getan, und gar aus diefer
Forderung: cin Kind und Arbeit fiir die Fran allein — ein foyziales Programm
machen woller, wie man’s getan Kat, das beift dod wobl, die Kunſt mif-
veriteben; Die Frauenbewegung wenightens müßte diefes Programm aufs entſchiedenſte
ablebnen, wenn fie ihren boben Zielen treu bleiben will, Die Frauenbewegung bat
ein Ideal fiir Taufende, cin Menſchheitsideal aufzuſtellen, und dies Fann fein
anderes alS Die Che fein, die volle Lebensqemeinfcaft zwiſchen Mann
und Frau, zwiſchen Vater und Mutter, Nicht nur das leiblicie, auc) dad geiſtige
Yeben muß das Kind von beiden Eltern empfangen, wenn es ein ganzer voller Menſch
werden ſoll.
Die Franenbewequng fann ſchon deshalb nicht daran denfen, die Sorge fiir die
Rinder der Frau allein aufyubiivden, weil damit ja die Mutterliebe gezwungen wiirde,
ſich in wirtfcbaftlicher Fronarbeit aufyureiben und in Wabrbeit auf alle höheren
Veijtungen ju verzichten, Wir wollen ja gerade dazu helfen, daß in den armeren
Rlajjen, die über feine häuslichen Hilfstrafte verfiigen, die Mutter von der Erwerbs—
arbeit entlaftet werde, die fie Dem Hauſe und dem Ihrigen allzu febr fern Halt, damit
fie wieder mebr in dic Lage kommt, ibre Kinder yu gefunden und tüchtigen Menſchen
zu erziehen! Wir find der Anſicht, daß keine Staatsfürſorge jemals der Menſchheit
die häusliche erſetzen wird, auch im idealſten Zukunftsſtaate nicht, und daß gerade das
Familienleben und die Familienerziehung der unentbehrliche Faktor ſind, um das Maß
von Individualismus, von perſönlicher Eigenart in die Welt zu bringen, deſſen wir
als Gegenkraft gegen die uniformierende, gleichmachende Tendenz des Maſſenweſens be—
dürfen. Gerade weil die Frauenbewegung die Frauen zur Mitarbeit an den all—
gemeinen Kulturaufgaben heranziehen will, gerade weil ſie neues aufbauen, höher
emporkommen möchte, darum muß ſie ſorgfältig darauf bedacht ſein, daß kein Stein
verloren gehe von dem, was bisher an echter ſozialer Geſittung erreicht worden iſt.
Jedes Rütteln an dem Grundſatze aber, daß Mann und Frau fürs Leben zuſammen—
gehören und daß die Sorge für die Kinder ihre gemeinſame Pflicht iſt, würde eine
ſolche Gefährdung tiefſter und wertvollſter Menſchheitskultur bedeuten. — Die Frauen—
bewegung bat die Abſicht, yu ſozialiſieren, nicht yu atomiſieren.
Ein anderes gutes Frauenbuch aus amerikaniſcher Feder, „Mann und Frau“,
hat ja aus der Kulturgeſchichte den Nachweis geführt, daß die Hingebung und Unter—
ordnung, zu der der Mann die Frau urſprünglich und in Urzeiten auf roheſte Weiſe
gezwungen hat, unverſehens das Mittel geworden iſt, ihn ſelbſt ans Haus zu feſſeln,
ibn dahin zu bringen, daß er ſich mit ber Sorge fiir dieſe unſelbſtändige Frau und
ihre Kinder belud und auch ſeine Freiheit der Familie zum Opfer brachte. So iſt in
Jahrtauſenden zunehmender Kultur die Einehe erwachſen, und wenn wir heute daran
gehen, jenen Typus aus der Urzeit, der durch die Verfeinerung der Sitten längſt
überholt ijt, endgiltig zu erſeßen durch den Typus der Che, die zugleich die rechte
Freundſchaft der Gatten in ſich ſchließt, in der alſo Mann und Frau als gleiche,
einander ebenbürtige Weggenoſſen durchs Leben wandern und in welcher die Autorität
der Mutter von den Kindern, auch von den Söhnen, der des Vaters völlig gleich
geachtet wird — wenn wir dieſen Typus heute als den normalen anerkannt ſehen
78 Moderne Sittlihlertsprobleme.
möchten, fo foll damit von der gewonnenen und der Menſchheit in Fleiſch und Blut
iibergegangenen Innigkeit und Feſtigkeit be Bundes nicht das Geringſte preisqeqeben
werden,
Auch die Forderung, die die Frauenbeivegung an die Gefebgebung rictet, dap
die illegitimen Kinder aus ihrer Rechtlofigfeit erhoben und daß es den Vätern diefer
armen Fleinen Wildlinge dev Gefellfdbaft immer mehr erſchwert werden mige, fic ihrer
Fiirjorgepflicht gu entziehen — auch diefe Forderung entfpricdt ja jenem CStreben,
dem ehelichen Bunde Dauer und Würde zu fichern und dem leichtiinnigen Cingeben
ſolcher loſen, von vornherein nicht ernſtgemeinten Beziehungen zu ſteuern.
Die Frauenbewegung iſt ſich ferner bewußt, einen in hohem Grade verſittlichenden
Einfluß auf das Liebesleben der Menſchheit dadurch auszuüben, daß ſie der Frau
cine größere Freiheit der Wahl qu ermöglichen ſucht. Indem fie das weibliche
Geſchlecht zu beruflicher Tätigkeit erzieht, unterſtützt ſie einerſeits die Eheſchließung,
denn die arbeitende und erwerbende Frau kann zum Haushalt beitragen, andererſeits
verſchärft und verfeinert ſie den perſönlichen Anſpruch; das junge Mädchen, welches
fühlt, daß es ſich zur Not auch allein durchs Leben ſchlagen könnte, wird vielleicht
nicht ſo ſehr geneigt ſein, den Erſten als den Beſten zu ſuchen, und daß ſolche Ehen
von vornherein auf einen höheren und edleren Ton geſtimmt ſind, bedarf keiner
Verſicherung.
Ja, wir ſind des frohen Glaubens, daß der ganze Verkehr der Geſchlechter
überhaupt ſich unwillkürlich auf einen ſolchen reineren Ton ſtimmen wird, je mehr ſich
auch eine Gemeinſamkeit geiſtiger Intereſſen, eine Gemeinſamkeit des Strebens und
Arbeitens zwiſchen ihnen entwickelt. Die hübſchen kameradſchaftlichen Beziebungen,
welche ſich heute ſchon an manchen Univerſitäten zwiſchen Studenten und Studentinnen
herausgebildet haben und welche von allen Beteiligten gerühmt werden als eine ihnen
unvergeßliche Zeit harmlos-herzlichen Behagens und gewinnbringender Anregung —
ſie könnten uns zum Beweiſe dienen, daß eine ſolche geiſtige Gemeinſchaft zwiſchen
Mann und Frau möglich und für beide Teile von Nutzen iſt. Wir wiſſen es alle
recht gut, daß das Niveau unſerer Geſelligkeit deshalb vielfach niedriger iſt, als es
nach unſerem ganzen Bildungsſtande ſein müßte, weil der geiſtige Anteil, den die
Frauen herzubringen, eher eine Subtraktion als eine Addition bedeutet — es iſt bitter,
uns das eingeſtehen zu müſſen. Es hat ſeinen guten Grund, daß bedeutende und
anſpruchsvolle Geiſter ſo leicht dahinkommen, die Geſellſchaft zu meiden. Und unſere
jungen Männer ſagen's uns ja auch mit aller nur wünſchenswerten Offenheit, daß ſie
oft nur deshalb die ſchlechte Geſellſchaft aufſuchen, weil ſie ſich in der guten langweilen
— und daß hier ein Berfehlen von ſeiten der Frauen vorliegt, darüber iſt wohl kein
Zweifel; ein Verfehlen freilich, an dem ſie nur zur kleineren Hälfte Schuld ſind. Die
größere Hälfte der Schuld trägt unſere unſelige Erziehungsweiſe, die die Geſchlechter ſo
vollſtändig trennt, daß ſie einander fremd werden müſſen, daß jedes ſeine Wege geht
und auch in allen gemeinſamen großen Menſchheitsfragen die rechte Fühlung für das
andere verloren bat. Alles was wir tun, um dieſe Kluft zwiſchen den Geſchlechtern
zu tiberbriiden, dadurch, daß wir die Frau aus der ibr aujgeswungenen geiſtigen
Einſchränkung erlöſen, dadurch, daß eS ihr gelingt, den Mann davon ju überzeugen
— nicht nur, daß der geiſtige Verkehr mit iby Freude fiir ibn bedentet, fondern daß
er es iby ſchuldig ijt, fie auch an feinem intelleftuellen Yeben teilnebmen zu laſſen
— alles was in dieſem Sinne geſchieht, bedeutet fiir Liebe und Ehe neue Schönheit
—
Streifzüge durch die dramatiſche Saifontiteratur. 79
und eine Fülle neuer Glücksmöglichkeiten. Und darum glaubt die Frauenbewegung
mit der durchgängigen Hebung, mit der geiſtigen und moraliſchen Kräftigung des weiblichen
Geſchlechts das beſte zu tun, was von ihr zur Löſung der Sittlichkeitsfrage getan
werden kann.
Wie dieſe Frage der perſönlichen Sittlichkeit von ſeiten des Mannes zu löſen
iſt, das muß ſie natürlich in der Hauptſache ihm überlaſſen. Aber eine Macht iſt der
Frau gegeben, die bei rechtem Gebrauche von beſtimmendem Einfluß auch für ſein Denken
und Fühlen werden könnte — die Macht der Mutter über ihren Sohn. Sie hat ſeine
Seele in der Hand gerade dann, wenn ſie weich und eindrucksfähig iſt — möge ſie
dieſe koſtbare Zeit zu nützen wiſſen; vielleicht entziffert Mutterliebe und Mutterwitz
noch am meiſten von jenem Sphinxrätſel, an dem ſchon ſo viel Weisheit zu ſchanden
geworden iſt. —
“GE
Streifziige Surch die Spamatische Saisonliferatur.
Bon
Elfe Halle.
Nachdrud verboten. nen
&: gibt feinen anderen Reichtum als Leben.” Dieje Erfenntnis prangte von
— Alters her in Goldſchrift über den Eingangstoren zum Pantheon der dramatiſchen
Literatur, und in den verſchiedenen Epochen ſchwankten nur die Meinungen darüber,
wohin das Leben führt, was es lehrt und welches ſein Sinn und höchſter Inhalt fei.
Im Gegenſatz zur Vergangenheit, wo jeweils dieſe oder jene Anſicht vom Leben
die herrſchende war, iſt in unſerer Zeit aus dem Kampfe der Lebensauffaſſungen noch
keine recht als Sieger hervorgegangen. Die intellektuelle Nervoſität, das ſpezifiſche
Kennzeichen modernen Geiſteslebens, läßt den Menſchen ſelten zu glaubensſtarker Ent—
ſcheidung in Sachen der Lebensanſchauung kommen. Das Leben iſt jo bunt, jeder
Tag zeigt uns eine andere Seite desfelben und verindert unſeren Standpunft. UÜber—
dies bat der reiche Zufluß an Ideen cin Bedürfnis nach febnellem geijtigen Stoffwechſel
zur Folge, und die fleberhaft raſche Verarbeitung, der kurze Verbrennungsprozeß nimmt
den eins und ausgebenden Gedanfen und Anſchauungen viel von ibrer nabrenden Kraft.
Die Geijter bleiben ewig hungrig, lechzen unaufhörlich nach Abwechſelung und qoutieren
ſchließlich alles. Bor den bunten Wandelbildern de3 Lebens verjtummt die ſonſt fo
vorlaute Stimme der Kritif; man findet jeden ,coin de la nature‘, jeden Yebens-
ausſchnitt intereffant, fichtet und wertet nicht mebr und verlernt es zuletzt, den Edelſtein
vom Glasfderben zu unterſcheiden.
Solche Kritiflofigheit geqeniiber den Lebenserſcheinungen Fonnte auf die Dramatif
nicht obne Einwirkung bleiben. Borurteile (als welche auch die Werturteile angejeben
wurden!) gegeniiber Ddiefer oder jener Lebenstatſache wurden als unkünſtleriſch verworfen;
nad Solas Vorgang follte die Vorausfegungslofigfeit des Forſchers auc auf die leben—
ſchildernde dramatiſche Dichttunjt angewendet werden; neben dem ,roman expérimentel*
entitanden die erperimentellen Dramen — Bilderbiicher der Wiſſenſchaft! Balzacs
Kunſtgeſetz: die Ablöſung der Welt vom Menfeben und Flauberts Berdift: daß weder
des Dichters Naturell noch irgend eine Auffajfungsvoreingenommenbeit fich zwiſchen ibn
und die Dinge jtellen diirfe, madten fo lange Schule, bis die künſtleriſche Wirfung des
Dramas derart verfladt und das Stoffgebict fo ſtark trivialijiert wurde, daß man
80 Streifyiige durch die dramatiſche Saifonfiteratur.
fich in anderen Sphären nach documents humains“ und tranches de vie‘ umzu—
feben begann. Nietzſches Sturmwort: „Wirf den Helden in deiner Seele micht weg!
Halte heilig deine höchſten — und Roſtands ſchalkhafte Mahnung:
Car n’avoir pas dime —
C'est horriblement eunuyeux!*
waren nur Ausdrucsformen fiir den Umſchwung der Stimnning: aus dem Naturalismus
und Verismus jtrebte man hinauf yur Neuromantik wd yum Symbolismus. Die
ganze Technik des dramatiſchen Aufbaues wurde nun verdndert, durchgeiſtigt, wenn auch
immerhin fompliziert und die Frage: was ift dramatiſch, was tragiſch? trat in cin
neues Stadium. Tberall werden eS nun verinnerlichte dramatiſche Faktoren, dic
Handlung bewirfen; verfeinerte Gewiſſensbedenken und Zartgefiiblstonflifte find an der
Tagesordnung, wie eben nur cin Geſchlecht mit fenfitiven Merven fie ausbilden fonnte;
man wendet Den ,,doppelten Dialog” an, wobei durdy alltdgliche Worte gebeime Zwie—
gefprace der Gedanfen und Empfindungen hindurchklingen müſſen und gewöhnt fich
wieder an das Doppeltieben: binter begrenzten äußeren Formen foll die Unendlichkeit
ihres inneren Gebalts, inter der Alltagsbegebenheit das Seelenfebidjal, binter dem
bewußten Gebabren ſollen tiefinnerite unbewupte Fabigfeiten, höhere Grundfrifte,
vorabnende Inſtinkte und dad leiſe Leben gebeimnisvoller Crinnerungen aufgezeigt
werden.
Das Stoffgebiet diefer Dramengattung umfaßt Museinanderfepungen zwiſchen
Seal und Wirflidfeit, Ich und Welt, Individuum und Geſellſchaft, Sitte und
Sittlichfeit, Wijjen und Glauben, Kunſt und Leben; eS wird gebandelt vom Walten
duntler Gefühle, von der Sehnſucht nach ciner innigeren Seelengemeinſchaft von Mann
und Weih und von den Menſchenrechten der Frau. Der echte Sumbolijt führt uns
jreilid) meijt binein in Regionen, wo das reale Leben fich verflüchtigt, alle fefte Formen
perdiimmern, wo der Wille erliſcht und ein blumenhaftes Getriebeniverden, cin nacht—
wandleriſches Dabingleiten an ſeine Stelle tritt, wobei denn alle Kraft und dramatiſche
Aktivität verloren gebt.
Maturalismus und Symbolismus ftellen in ibrer heutigen ertremen Form zwei
nicht weiter verfolqbare Nichtungen dar — auf der cinen Seite der Zynismus eines
Strindberg, auf der anderen das vijiondre Träumen cines M zwiſchen denen
cine ganze Heerſchar von Vermittlern fich tummelt.
Es ift interefjant, an einzelnen typiſchen Dramen und dramatiſchen Fiquren der
letzten Theaterfaifon fidy das Hine und Herwogen der — man darf bald nicht mebr
ſagen „Richtungen“ — jondern Yebensauffaffungen gegenftindlich yu machen. Die
Reit der „Ismen“ dürfte fiir die Bühne facht woriibergeben; denn der wabre Ernſt
des Lebens iſt von der Stätte am wenigſten lange zu verbannen, wo das Leben in
ein Spiel aufgelöſt werden ſoll.
Unter den lebenden Autoren iſt freilich Björnſon ſo ziemlich der einzige, der,
obſchon Tendenzdichter, an allen Richtungen vorbei ſich eigene Wege ſucht und zu den
wenigen gehört, die dem Theater ernſte Bildungsaufgaben zumuten, die es aus einer
Stätte ſeichter Unterhaltungen und verlogener Lebensdarſtellung, aug einem Sport:
plag, wo eit flaches Machwerk das andere yu Tode best, zurückreſormieren möchten ju
einem Tempel de Lebens, an deſſen Pforte die künſtleriſche Gewiſſenhaftigkeit
Wache halt.
Nach dem großen Erfolg von Aber unſere Kraft“ gab man in der letzten
Saiſon u. a. Laboremus“ * » Kaul & Lange und Tora Parsberg”’, „Auf Stor-
hove“, idealiſtiſch gehaltene D Dramen, die die Frage des ſeeliſchen Kraftaustauſches der
Geſchlechter und einige Formen der Selbjthebauptung des Weibes bebandeln, wobei
freilich das Pathologijde leicht geftreift wird. Nicht in Ibſenſcher Wrt, denn bei
Björnſon find die Schilderungen des Morſchen und Perverfen erträglicher durch den
edeln Sorn, der — manchmal unkünſtleriſch — binter den mit fibler Sachlichkeit
bingeworfenen Erijtenzidilderungen bervorbricbt.
Streifzüge durch die dramatiſche Saifontiteratur. 81
Björnſon zeigt, auf welcher Schwelle dem modernen Menjchen feine Gefpeniter
begeqnen müſſen: „Ich glaube, daß dads Glitd viele Schwächen großzieht. Und die
werden dann febuld an unferem Unglück.“ Beweisobjeft ijt ihm die veriveidlichte,
verwöhnte, arbeitslofe Frau —- Maria in „Auf Storbove’, die Vorläuferin der
Yudia in „Laboremus“, Angebsriqe der Kaſte der Zerſtörer, hyſteriſche, reizbare
Menſchen, die wie übelgeartete Kinder und Betrunkene, Neidiſche und Aberluſtige ihre
Freude am Vernichten haben, weil ſie nichts ſchaffen mögen, und deren ſenſations—
hungrige Nerven wollüſtig erzittern, wenn ſie ſich ſagen können: „Es war ſo ſpannend.“
Keine Ahnung von jener geiſtigen Welt, deren edelſte Kraft in der Sittlichkeit ſich
auslebt; wenn ſie die Mittel ſchlau erfundet haben, womit fie anderen ſchaden uͤnd
ihren damoniſchen Egoismus befriedigen können, ſäen ſie Zwietracht, zerſtören ſie
wertvolle Dokumente, legen ſie Feuer an wie Maria oder richten, wie Lodia, die
dämoniſche Seite ihrer Kunſt auf ein wehrloſes Leben. Das alles nur aus Sport,
zum Zeitvertreib, aus Herrſchſucht. Sie bleiben immer unfruchtbar, und der alte
Wisby, deſſen Willen die treuloſe Lydia feſſelte, ſpricht es aus: „Wir ernten fo, weil
wir nicht geſäet haben. Wir ernten Unkraut. Ich habe in meinem Leben nicht
qearbeitet. Das gibt ungejunde Inſtinkte.“ Der gefunde Menſch eben „wählt
Arbeit und Frau aus demfelben Juſtinkte berans.”
Der Mann tragt Schuld an ſolchen Frauen aber auch dort, wo er muir fitt
ſich cin MArbeitsleben wollte, „ein Arbeitsleben mit einem Maͤrchen darin“. Das
Märchen narrt ibn. Cr will „die große Naturſehnſucht, die im Märchen lebt, erlöſen“,
aber er reißt nur die Damme der Leidenſchaft ein. In „Laboremus“ ijt es Lydia:
Undine, die „die Hande zum Himmel redt nach mehr”, und weil fie den Himmel
nicht erreicht, wieder binabtaucht, umſchlingend und fliebend, begehrend und weichend,
eine blinde, ſeelenlöoſe Naturfraft, beqabt mit dem Recht des Naubtieres, menſchliche
Schranken nicht anerfermend und obne Verſtändnis dafiir, daß der Menſch nach höheren
Geſetzen lebt. Lydia gewinnt erft Wishvs und dann Langfreds Seele, um durch beide
Anteil an höheren Lebensformen yu erlangen, aber fie macht Den Männern das Her;
falt, fie bat die Wärme nicht, die nad und nad in das Leben der Menſchen binein:
gekommen ijt; Jahrtauſende der Entwidlung liegen zwiſchen ihr und jenen. Abr
genußfrohes, herriſches Yebensevangelium mug ohne Echo verflingen vor dem alt:
ehrwürdigen Liebesgeſetz in unſerem Gemiit: dent das Leber, mag es nod fo
ſieghaft loden und triumphieren, bebalt nicht recht, wenn es bas Feinſte, Heiligſte
verletzt — die Treue, die Barmherzigkeit, die Ekbtfurcht. Sein begehrlich wildes
Anſtürmen muß wie die Welle zu Schaum zerſchellen am Demantfelſen unſerer ſitt—
lichen Gefühle.
Moderne Dichter behandeln mit Vorliebe die Rechte der elementaren Natur.
Aber wenige erkennen ſo ſcharfblickend wie Björnſon ihre Rechtsgrenzen, jenſeits deren
Kultur und Leben rettungsloſem Untergange verfallen ſind.
Superlative der Lydia und Maria finden ſich in der „Salome“ Oskar
Wildes, des unglücklichen und exzentriſchen engliſchen Dichters, in Strindbergs
„Fräulein Julhie“ (womit im Hamburger Theater ein Verſuch gemacht wurde)
und „Rauſch“ (Berliner Kleines Theater), vor allem in Frank WedekFinds
„Erdgeiſt“, der dasielbe artiſtiſche Grundgeprige trigt wie Wildes Dichtung:
parador, wild, qraujam, finnlich. Das find Herxentänze eines diaboliſchen Zunismus,
wo alle Leidenſchaften verwegen durcheinanderquirlen. Die dichteriſchen Gejtalten
ſtehen außerhalb der Geſellſchaft, der Tradition, des Geſetzes; es ſind Abnormitäten,
deren Weſen und Schickſal jenſeits der Menſchlichkeit —* und die darum unfähig
ſind, menſchlich zu ergreifen. Es ſpielen ſich da Lebensgeſchichten von männer—
mordenden Meſſalinen ab, die ſinnlos und gefühllos alles hinopfern, was ihnen in
den Weg läuft, und deren ganzes Tun ein Hohn auf die erbärmliche Schwäche ihrer
Opfer iſt. Immerhin iſt der Wedekindſche Peſſimismus der Ausfluß einer einheitlichen,
wenngleich pechſchwarzen Weltanſchauung, und ſeine wüſten Fratzen haben Stil, obwohl
jie in ein pathologiſches Muſeum gehören. Dagegen tragen Strindbergs Geſtalten
noch Menſchenantlitz. Die Henriette in „Rauſch“ hat wenigſtens den Ehrgeiz, ihre
6
82 Streifzüge durch die dramatiſche Saifonliteratur.
Kleinheit an Männergröße wachſen zu laſſen, und die Szenen, wo die Liebe der beiden
Schuldiggewordenen in Haß umſchlägt, weil das Mißtrauen wie eine giftige Saat
zwiſchen ihnen emporwuchert, erhalten einen großen Zug durch die Erkenntnis, daß
die Schuld, mag ſie äußerlich ſtraflos bleiben, ſich im Innern rächt durch Lebens—
entziehung — Liebe, Ruhe, Freiheit welken dahin. „Soviel Bosheit und Lüge er
in ſich trägt, ſoviel ſtirbt auch in ihm ab,“ ſagt Emerſon vom Miſſetäter. Strindbergs
„Fräulein Julie“, mit pſychologiſchem Raffinement angeſchaut und dialogiſiert,
bleibt dennoch unverdaulich: die verwahrloſte Seele, in Moderluft aufgewachſen, die
fofett und feige das Niedrige will und auc nicht will und nach begehrlich geſuchtem
Und widerwilliq erduldetem Fall ſich bange aus dem Leben febleicht, (aft uns in
einen Fatalismus hineinſchauen, dem die Adee der fittlichen Freibeit nod nicht von
ferne dämmerte.
Dieje noch in den SOer Jahren herrſchenden Anſchauungen muften jene Kunit-
form zeitigen, Deren Swed es febien, jaubere pſychologiſche Praparate zu liefern, durch
genaue Analyſen die Kenntnis pſychophyſiſcher Zuſammenhänge zu erweitern, yu jedem
Willensmotiv den zugehörigen phyſiſchen Anſtoß aufzufinden und überhaupt das
Bedingtwerden des Menſchen von außen und innen feſtzuſtellen, um die angeblich
metaphyſiſche Natur des Schickſals in Kauſalbeziehungen aufzulöſen. Dieſer einſeitige
und radikale Determinismus, der in jo ſcharfem Gegenſatz ſteht yu Hamlets edler
Freiheitslehre: —
„Die Abung kann
Faſt das Gepräge der Natur verändern,
Sie zähmt den Teufel oder ſtößt ihn aus
Mit wunderbarer Macht —“
dieſes Sichohnmächtigfühlen gegenüber den Leidenſchaften, dem Unglück, dem Laſter
hinterließ dem Menſchen freilich nichts als Ironie, Bitterkeit, Stumpfheit — entweder
er rettet ſich hinein in eine tiefe Nirwanaſehnſucht, oder er geht im Taumel des
Genuſſes unter.
Um die determinierenden Mächte weniger brutal und materiell erſcheinen zu
laſſen, nahmen einige jum Überſinnlichen ihre Zuflucht; fo Schnitzler, der Renner
des modernen savoir vivre, in ſeinem wirkungsvollen Einakter: Die Frau mit
dem Dolce”), wo cine Dame, fewanfend ob fie den Ehebruch begeben foll,
vor Dem Renaiſſanceporträt der „Frau mit Dem Dolche“, Das ihr in jedem
Suge gleicht, in hypnotiſchen Schlaf verfinft: durch ihre Seele sieht das
Schickſal jener, im deren Leib einſt ihre Seele wohnte und was fie in ihrer
Präexiſtenz ſann und tat, das muß fie mun wieder tun: fie erwacht und willigt in
den Ehebruch.
Maeterlinck arbeitet aud mit myſtiſchen Mächten, obne freilich Anleiben beim
Spiritismus zu machen zu dem Zwecke, den Libertinismus zu befchinigen; er verliert
ſich Flopfenden Herzens in die Tiefen der Seele, um zu erforſchen, mit welcherlei
Banden „das Leben an feinem Urgrunde und an feinen Myſterien hängt“ und „auf
welchen ſtummen tiefen Gewäſſern Die dünne Rinde des tiglichen Lebens rubt’;?) das
innere Königreich ijt feine Welt, deren Schönheitswunder, deren unſichtbare Giite und
geheimes Wijfen, deren unmeßbare Tiefen er mit überfeinen Sinnen ertaſten möchte.
Cr erſehnt fiir Den Menſchen den „Inſtinkt der übermenſchlichen Wahrheiten“ und ſteht
als Grenzwärter an jener Stelle, wo unſer dämmerndes Wiſſen und Empfinden in die
purpurne Finſternis der Ahnungen übergeht; er findet, daß wir das ſchmerzlich geſuchte
Jenſeits in uns ſelber tragen und fühlt ſich als Entdecker der vierten Dimenſion
innerhalb der Menſchenſeele, als Dichter des ſechſten Sinnes. Traumwandelnd gehen
ſeine Geſtalten durchs Leben, ihr Daſein verläuft lautlos, con sordini, von Schauern
des Wunderbaren umſchwebt; es find präraphaelitiſche Typen, die nicht lächeln können;
ihre Gefühle ſind wie Nebelrauch von der Asphodeloswieſe, wo die Schatten wandeln.
—
a
\"
) Mus dem Soklus „Lebendige Stunden”.
2) Ugl den Eſſay „Zur Tragif des Alltags“. („Schatz der Armen.)
Streifzüge durch die dramatiſche Saiſonliteratur. 83
Fernliegende Analogien werden dazu gebraucht, Stimmumg zu erzeugen, und die Hand-
lungen fpinnen ſich bin wie narfotijierende Muſik: träumeriſch, einförmig, das Gemüt
in qualvolle Spannung verſetzend, als ſollten wir ſchwere Laſten aus einem tiefen
Rätſelgrund emporheben und reichten dod nicht hinab.
Uberdunkle Myſtik bat manchmal das Ausſehen einer — Myſtifikation. Jedenfalls
iſt dem Dichter ſein Programm- über den Kopf gewachſen: er kann ihm nicht folgen,
und ſein Verſuch, das Spiel der Leidenſchaften aus dem Drama zu entfernen, iſt ihm
nur etwa im „Eindringling“ oder den „Blinden“ (wenn auch nicht bühnengerecht)
gelungen; ſeither iſt er in praxi mehr und mehr von ſich abgefallen. Man hat jüngſt
wieder Verſuche mit „Peleas und Meliſande“ genmacht, einem durch und durch
ſymboliſtiſchen Drama, das eine Perlenreihe poetiſcher Bilder aufweiſt, an deutſche
Märchen (3. B. Rapunzel) anklingt und ſich ſehr feſt an eins der feinfühligſten Gedichte
Goethes anlehnt:
„Warum gabſt du uns die tiefen Blicke
Unſre Zukunft ahnungsvoll zu ſchauen,
Unfrer Liebe, unſerm Erdenglücke,
Wabnend ſelig, nimmer hinzutrau'n?
Warum gabſt uns, Schickſal, die Gefühle,
Uns einander in das Herz zu ſehn
Und durch all die ſeltenen Gewühle
Unſer wahr' Verhältnis auszuſpäh'n?“ )
Der Dichter erzählt zwar wieder eine Leidenſchaftsgeſchichte — die alte Geſchichte von
zwei jungen Seelen, ihrer ſchuldvollen Liebe, der Qual des getäuſchten Gatten, dem
Brudermord aus Eiferſucht; aber wie er die materielle Oberfläche von Leidenſchaft,
Wut, Tränen, Tod von innen ftiigt und unter der heftigen Wellenbewegung menſchlichen
Fühlens und Handelns ewige Tiefen abnen läßt, das kennzeichnet ibn als einen Neuerer.
Der äußere und innere Dialog, dejfen funjtvolle Handhabung und Miſchung Maeterlinck
an Ibſen bewundert, it bier mit faft raffinierter Geſchicklichkeit angewandt: die Yippen
ſpielen mit gqleichgiltiqen Eleinen Worten, die Mugen bemerfen dies und das, was der
Handling fernzuliegen febeint, und doch qewinnt alles Bedeutung fiir die entſcheidenden
Ereigniſſe in den Tiefen der Seele. Maeterlincks verdienſtliches Strebven, fich „dem
Mittelpuntt der Seele zu nabern,” fiibrte ihn zu einer tieferen Weibauffaſſung, und er
scichnet vor allem Melijande als das Weib, dem ,feine Seele immer yur Hand iit,“
Das der Wabrbeit näherſteht als der Mann und deſſen Wurzeln viel unmittelbarer
binuntertaucden in alles, was nie Grenzen batte.
Tas Verwachfenfein von Inſtinktivität und Wille veranjebaulicht Moeterlind
aud an Monna Vanna; aber auf diefer Geftalt bat mebr Sonne geleqen, und im
geſunden Licht potenzierten fic ibre Bewußtſeins- und Willensfrajte, ſodaß Banas
perjonticbe Rechts- und Pflichtgefühle ſich jedem Drud und Stoß von Vorurteilen,
Sittenzwang und brutaler Verkennung gewachſen zeigen. So wie Naturgejeve wirfen —
geräuſchlos, affektfrei, ſelbſtverſtändlich — fo wirft ihr Gefiibl auf ihren Willen,
und fle gehorcht mit ebenſo rubiger Energie dem Mitleid, das fie antreibt, ſich dem
hungernden Bolfe zum Opfer zu bringen, als fie ſpäter das Verhängnis einer
Lüge auf ſich nimmt, um den zu retten, Der ihr groper, freier, edler ſcheint als
Die anderen.
Ter erjte Entwurf ſchloß damit, dak Banna ver zweifelt über den Unglauben des
Gatten an die bewabrte Reinheit ſich den Tod gibt. Das war cine Löſung, fo wie
fie Hebbel in dem (jüngſt wieder aujgefiibrten) Drama „Goges und fein Ning” gibt.
Auch bier bandelt es fic) um die Schambattiqkeit des Weibes. Nbodope, Dem auf—
kläreriſchen Wahn ibres über feine Zeit binausbegebrenden atten cin Opfer, vernichtet
ſich und den Vernichter ihrer heiligen Schamhaftigkeit. Oebbel, qetreu feiner Definition
des Tragifcben als des ,durchaus Unauflösbaren,“ yeigt bier, wie die beiliqqebaltene
Idee über Das Leben und über den „vorwitzigen Storer” ſiegt. Waeterlind, mebr
) Brietweehjel mit Charlotte von Stein.
84 Streifzüge durch dic dramatiſche Saifonliteratur.
Individualiſt, erfegt in dem Augenblick, wo durch den Antagonismus der Naturen
Vannas und Guidos die Idee der Wattentreue an Wert verliert, das alte Gebot durch
einen perſönlichen Entſchluß feinesy Heldin, die der Natur mebr gehorchen muß als
der Sitte. Der legte Aft endet mit der Erpofition zu einem zweiten Teil der Tragddie
— denn der ,, Triumph des Lebens”, den WMaeterlind ſchildern wollte, Fann nicht voll:
kommen fein, wenn er ſich auf eine Liige griindet.
Cin vollentwideltes fittliches Kraftbewußtſein befigt Bjsrnfons Tora Parsberg.
Ihre Würde gründet ſich auf Wahrhaftigkeit. An der großen Welt mit febenden Wugen
aufgewachjen, bat fie ihre Erfabrungen in einem bewußten Geiſtesprozeß durchlaufen
und führt iby Selbjtbeftimmungsrecht wie ein Szepter. Cie findet den Jugendgelicbten
wieder und bietet ibm mit ſelbſtſicherer Grazie ibre Hand an; im Begriff, fic ihm yu ver-
binden, wird er ihr durch niedere Antriquen geraubt: feiner boben Stellung verlujtig,
unvermbgend, feine bisberige Politik yu verbeſſern und mit feinen Taten ibrem boben
Geiſt genugzutun, aus Furcht, iby unebenbiirtig zu bleiben, nimmt er in feiner Selbyt-
qual ſich das Leben. Und Tora, die Lebensfennerin, wußte doch, daß über Selbjtqual
der Weg yur Gripe fiibrt:
„Du weißt nidt, wovor ic Inie. Bor bem, was ſchwach in dir ift umd dich jest fo ungliidlid
macht. Im innerften Innern ift das das Befte, was du haſt. Nur daß es die Geſellſchaft, in die es
bineingeraten ijt, nicht mehr vertrigt. So empfindlich, fo feinfiihlig miiffen die fein, die entdeden
tinnen, daß anbere leiden und daß Gefabr vorbanden ijt. So ängſtlich, fo ſchwach in fic) müſſen fie
fein, die ſchwachen Gefäße werden auserwählt, nicht die eifernen Keſſel, um Heilmittel yu tragen. So
wenig ſelbſtiſch ſchwer müſſen fie fein und da find fie oft ſchwach .. . . Cin Mann ift nicht der
ſtärkſte, weil er fiegt. Die ſtärkſten find die, die im Biindnis mit der Qufunft find und in die Gewiffen
faen .... Wir entfinnen uns deffen, wir Frauen, bier triffft du mit und gufammen. Richt mit
denen von uns, die efjen, ſchlafen und aus ſich felber Ausftellungsgegenjtinde madden, fondern bie, in
denen der Anftinft der Raſſe am ftarfiten ift. Die Sufunft barrt in ibrer Sehnſucht wie die
Statue in Marmor. Bisher gumeift im Stillen und oft in Tranen. Zuweilen aber — zuweilen tritt
cine Frau bervor aus der Reibe. Nimm mich mit, fagt fie, Deine Ideale find unfere ewigen
Ideale! Wit dir für fie!”
Für jede Periode, wo fich ſittengeſchichtliche Umwälzungen vollziehen, gilt das
Wort: ,, Wenn über die Völker der eijerne Wagen der Gefchichte rollt und die feſten
Burgen ftiirjen, dann bhoffen die gebeugten Wanner auf die Frauen.“') Moderne
Dramatifer machen ſich yum Sprachrobr folcher Hoffnung. Weibliche Natürlichkeit foll
uns emangipieren von Der boblen Form, weiblicher Individualismus foll dem Ge—
feblechtaverbaltnis einen neuen fittlichen Inhalt ſchaffen, weibliche Lebensanſchauung
joll gegen die riidfichtsloje ftarre Selbſtſucht zu Felde ziehen, und die Mutter Erden-
Wärme der Frau foll die Verftandesfilte verdrängen.
Cine Frau, die den beiligen Geijt Der Weiblichfeit ausgiefen möchte fiber die
Welt, bat aud Wildenbrud in feinem „König Laurin” zeichnen wollen —
peine Konigin! Bon der Natur
Mepragt gum Geben und gum Uberſtrömen,
Woran man köonigliche Menſchen kennt!“
und fähig zu beweiſen, daß „Seele mehr im Menſchen kann als Sinn“. Amalaſunta aber
paktiert mit dem Ehrgeiz, und auf ihrem „großen Schickſalsgang“, als ſie dem Kaiſer
Juſtinian die Hand zum Lebensbunde reichen will, zum Wohle der Völker, zertritt ſie
die Liebe — und bereitet ſich ihren Fall hierdurch wie durch die Phantaſtik, mit
welcher ſie Unmögliches zu verwirklichen trachtet und nächſte Aufgaben — Beſänftigung
der Zwietracht, Belebung der Tatkraft ihrer Goten — überſieht. Es fehlt dem
Drama nicht an heroiſchen und leidenſchaftlichen Geberden, wohl aber an den feineren
pſychologiſchen Motivierungen.
Verborgener fließen die Glutſtröme der Leidenſchaft im „Armen Heinrich”
von Gerhart Hauptmann, aber ſie furchen auch tiefer.
) Weinhold: „Geſchichte der Frauen tin Mittelalter“.
Streifzüge durch die dramatiſche Saifonliteratur. 85
„Narben find
Koſtbarer als der Purpur. Ja, ich griff
die Wahrheit tauſendſach, und was ich pacte
ſchnitt Runen mir ins Fleiſch. Was unten gärt
an Angſten, giftigen Krampfen, blutigem Schaum
id) lenn's. — Ich ſah!! — Joh wälzte felber mich
verzweifelt in ben Bulgen ber Berdammten
bis bah die Liebe, die uns alle ſucht,
mid fand.“
Der Grundgedanke lautet bier: wir fommen alle aus den Tiefer des Wahns, der
Leidenſchaft, des Peſſimismus, wir find alle Rranfe, aber iver fic überwindet und,
durch Liebe belehrt, die Selbſtſucht entſcheidend niederjwingt, defjen Krankheit ſchwindet.
Dann fommt das Leben wohl einmal zu ihm wie ein Maientraum unter dem
Hollerbuſch.
Neudichtungen alter Stoffe werfen meiſt ein intereſſantes Schlaglicht auf den
veränderten Zeitgeiſt. Das Epos Hartmanns ging ganz auf Verherrlichung der Opfer—
treue, die dem Mittelalter als vornehmſte Tugend galt. Der moderne Dichter da—
gegen achtet immer mehr auf das Leben als auf die Idee; er ſchildert das, was
werden kann und muß, wenn dieſe und jene eigenartigen Naturen zuſammentreffen
und ihren Willen, ihre Triebe yu einem Schickſal verflechten. Was ibn am tiefiten
intereſſiert, ijt nicht die Loſung, ſondern die Entwicklung, und fo bolt er fidy aus
Dem Bereich jeiner Menſchenkenntnis Perſonlichkeiten von ſo ſtarker Eigenfarbe, daß
der Typus der alten Geſchichte durch ſie ein ganz neues, junges Gepräge erhält. Es
wire darum unzeitgemäß, wollte man an Hauptmann tadeln, daß er aus des alten
Hartinann ſchlichtem Mägdlein und Mitter einen durch alle Hollen de3 Zweifels und
der Versweiflung Gejagten und ein Kind gemacht hat, das zugleich Weib und Heilige,
von den Schauern nabender Jungfraulichfeit und dem Hieber religidfer Cfitaje auf die
Hobe ihres Entſchluſſes geführt wird.
Spezialartiſt im kecken Schnellmalen kleiner, raſcher, ſchickſalsvoller Entwicklungen
aus dem Leben der „Freieſten“ und Strupellojen ijt Arthur Schnitzler, deſſen
vielgefpielte, wienerifdy Lebendige Komödien der Moral oft lujtige kleine Fragen
ſchneiden. Seine Landsmännin Marie Eugenie delle Grazie, mit dem gleichen
Viibnentemperament begabt, die fic ebenfo ſcharfſichtig wie er in Einaktern über das
Wiener Biirger- und Halbiveltsleben ausfprict, hat jedoch des Dafeins bittere. Hefe
geſchmeckt und ijt durch ibr perſönliches Miterleben und ibre philojophifcde Nlarbeit
immer auch auf den ethiſchen Kern ibrer Probleme aufmerkſam geworden. Sie weicht
der Tragif nicht aus.
Ihr Dramolett „Mutter“) ſchärft der modernen Geſellſchaft, die gegen den
Opfergedanken revoltiert, wirfungsvoller als Hauptmann, der Nur-Poet, die Notwendigteit
des Opfers ein. Dak eS obne Opfer fein Glück, feinen menfeblichen Zuſammenhalt,
keine Yiebe geben fann und dah, wer Treue und Caritas beijeite fest und immer nur
tut, was ibm am bequemften ijt, feine reichjten Yebensquellen verſtopft, zeigt fie mit
künſtleriſcher Feinbeit. Cine Schauſpielerin bat einer vorteilbaften Verbindung wegen
ihre natürliche Tochter im Stich gelaſſen und nun, krank und verraten, verzehrt ſie
ſich in Sehnſucht und Gewiſſensqual nach derjenigen, die als ibr Geſellſchaftsfräulein
unerfannt, freudlos, verbittert neben ibr binlebt.
Mutter” erinnert int Grundgedanfen an ,. Wenn wir Toten erwacen’;
Ibſen vervolljtindigt denjelben durch den Zuſatzt wer in der Frau das Weib tötet,
mordet in iby jugleid) Die Mutter — und ijt fie dort falt und jtarr geworden, wo
ibre höchſte Lebensglut flammen ſoll, dann breitet ſich der Eiſeshauch über ihr ganzes
Weſen, und fie wird irr und entmenſcht wie die arme, einſt fo opferjelige Arene oder
leichtjinnniq und hohl wie Maja. Und der Mann, der blind an den Idealen und
Myſterien der Weibesjeele vorbeigeht, kann fein eigenes Höhenmaß als Menſch und
Riinftler auch nicht erreichen —: dev Bildhauer Rubek ſchafft nach der Trennung von
) Mus dem Zytklus „Zu ſpät“.
86 Streifzüge durch dic dramatiſche Saijonliteratur.
Irene nur noch „Menſchen mit heimlichen Tiergeſichtern!“ — Ibſens whe Björnſons
Epilog iſt immer derſelbe Seufzer: der edlere Teil der Menſchheit, der in die Höhe
ſtrebt, wird tragiſch vernichtet; Ne anderen jteigen berab in die Niederungen und leben
dort das Leben dDer Halbmenſchen unbehelligt weiter — warum gelingt die Empor—
bildung des Menſchengeſchlechts nicht in grader Linie? warum dic tauſendfachen
Umwege? warum verſchleudern die Robuſten ihre Kraft an Wertloſigkeiten, und warum
werden die Wiſſenden und Könnenden durch ſoviel Leiden geſchwächt?
Dennoch aber wird das Excelſior! immer wieder mit Feuerworten gepredigt.
Bei Gorki ſcheint's mur eine ſtumme Mahnung zu ſein — und doch cine Predigt!
Sein düſteres Nokturno „Nachtaſypl“ bat erſchütternd gewirkt. Es iſt Fein ſtilgerechtes
Drama — ſeine Romane find oft viel dramatiſcher. „Szenen aus der Tiefe des
Yebens” nennt er fein Stück, ans dem fo viel Selbſtergriffenheit zu uns ſpricht. Es
ind Zuſtandsſchilderungen, Bilder aus dem Leben der von Wott und Menjeben
Verlajenen, zu denen de Gitte im Gejtalt des alten PBilgers Luca hinabſteigt und es
fertiqhringt, ſchlummernde Gottesfunken in den ausgebrannten Seelen zu ween.
Was doch ein Guter für ſeine Brüder vermag! Gorki erkennt freilich: das Elend ſelbſt
iſt nicht aus der Welt zu verbannen, es gebiert ſich immer neu, ſelbſt wenn Tauſende
es erdrücken und erſticken wollten, weil es da ſein muß, weil es ſeine unentbehrlichen
Funktionen im großen Le benspro; wh bat. Aber yu feinen Funftionen gehört, dah es
Die Kampfkräfte aufreizt, dah eS fic) Feinde macht — möglichſt viele. Denn die
Kämpfer werden doch fo viel erreichen, daß das Elend fies wandelt, daß es ſich
verfeinert, daß die Leiden mehr nach innen ſchlagen. Leichter werden ſie dadurch
nicht, aber fie verroben den Menſchen nicht mebr, fie veredeln ibn,
Die religiöſe Tiditung gewinnt auch Vordergrund. Seit man pſychologiſch bell:
ſichtiger wurde, iſt die Lebensfülle der erhabenen Geſtalten der Bibel gleichſam neu
entdeckt worden. Es wirkt einigermaßen humoriſtiſch, daß die Zenſurbehörde des
chriſtlichen Staates gerade dieſe Dramengattung verfolgt. Paul Heyſes „Maria
yon Magdala“ wurde verboten und ebenſo aud Eliſe Schmidts Drama „Judas
Iſchariot“!), cine Dichtung, die, ſchon 1876 erfebienen und feitdem fait vergeſſen,
cine großartige Gedankenlyrik und weit kühnere Charakterzeichnungen enthalt als das
Hevſeſche Drama, Hier iſt Judas nur der litfterne Mann mit dem weltlichen Ehrgeiz,
dort Der geiſtige Weltumfegler, der große Menſchenveräachter, der Machtgierige, zu
ſteptiſch aber, um tatkräftig yu fein, ein Luziferiſcher Typus, der den Größeren nicht
erträgt, weil an deſſen Güte alle damoniſchen Gewalten sunichte werden.
Das Theater erbebt ſich allmählich wieder yur Bildungsſtätte. So foll es fein.
Das Bühnenſpiel foll Bewegungsſpiele in unferem Gemüt anregen, Klänge von dort
jollen Widerfldnge erregen — dann greifen wir begebrlich- wehmütig nach all' den
bunten Farben, womit das Leben der Dichtergeſtalten geſchmückt iſt; ein freitätiges
Miterleben und Nachſchaffen, ohne bewußten Swed, aus bloßer Freude an den
mouvements de l'âame, weckt alle Kräfte unſeres Geiſtes, und fo entwickelt ſich leicht
und unmerklich, indem die Seele ſich in erhabene und rührende Empfindungen hinein—
träumt, aus äſthetiſchen Reizen, aus Sehnſucht, Erinnerung, Willensantrieben, Wohl—
gefallen an den klaren Linien geſunder Menſchenart, jene gehobene Stimmung, in
welcher die ſittliche Tatkraft gedeiht und der Blick des Nachdenklich-Gewordenen das
Leben freier und tiefer erfaßt.
) Reclam Nr 1246,
—— Uja. — —
VNovelle von
®evrg Dordenfvan.
Autorifierte Überſetzung aus dem Schwediſchen von €. Stine.
Nadbrud verboten.
4,
— Sie eine Taſſe Kaffee mit mir
trinfen!” ſagte Aja eines Nachmittags, als
wir von einem Spaziergang zurückkehrten.
Als wir in ihr Simmer traten, fap Edvard da.
Sie war fo froh überraſcht! „Wie hübſch
pon Ihnen, dak Sie auf uns getwartet haben,”
brad fie aus und fdbiittelte ibm bie Sand.
Govard hatte mebrere ibrer Studien von
ber Wand genommen. Gr ſaß vorn beim
Fenſter und bejah fie.
Die Urfache feines Kommens war offenbar.
Die Arbeit war ihm nidt von ftatten gegangen,
er hatte die Pinſel weggeworfen, und da es
ifm felbftverftandlid) nicht angenebm fein
fonnte, fener Frau yu fagen, er könne nidt
arbeiten, twar er bierbergefommen, um mit ibr
qu ſprechen, die es verjtand, was es fiir cinen
Künſtler heißt, zu twollen und nicht gu fonnen.
Sie fragte nichts der Art — ein inftinftives
Gefühl jagte ir, wie er bebanbdelt werden
mitjje —, fondern begann bon gang anderen
Dingen zu reden, aber die Freude über jein
Rommen vermodte fie nicht zu verbergen —
fie leuchtete ihr aus den Mugen, fie ſprach
aus ihrer Stimme, weldje eine Warme an:
genommen, die fie fonjt nicht beſaß.
— — —
Mir war's, als hätte ſie zu ihm hingehen
und ihm mit weicher, kühler, ſchützender Hand
fiber die Stirn ſtreichen mögen, wie cine
Mutter ihrem Knaben tut, um ibn gu tréften,
wenn die Welt hart und böſe gegen ibn
geweſen.
Und ihm ſchien es eine Erholung, ſo bei
uns zu ſitzen. Er wurde bald geſprächig und
heiter, wie er es fein fonnte, wenn er nicht
an ſeine Arbeit dachte.
Er ſagte fein Wort
(Forticgung von Seite 56)
bariiber, noc) iiber Wjas Studien, die er dod
eben betrachict hatte, Und dod freifte das
Gejprich um das, was die Urſache feines
Befudes war und von dem die beiden fid,
troy ibrer Scheu, es zu berühren, dod) nidt
ganz losreißen fonnten.
Wir hatten ſchon ziemlich lange geplaudert,
alg es an bie Tiir flopfte. Es war Edvards
Frau, die nachzuſehen fam, ob er bier fei.
„Nehmen Sie Pla, Frau Aſp!“
Cofort erhielt das Geſpräch einen anderen
Ton — es glitt auf die lokalen Verbaltniffe
liber, man fprad von Nachbarn und Sommer:
gajten, von Dingen, die keinen unter uns
intereffierten.
Frau Aſp fah fic mit grofen Augen im
Bimmer um; es war augenfdeinlid, daß fie
defjen Ausſchmückung mit woblfcilem Larifer
Rram ziemlich fonderbar und geſchmacklos
fand, und Aja, welcher dieſe ſtille Muſterung
nicht entging, nahm ihre Zuflucht zu forciertem
Geplauder über alles und nichts, bis nach
einer Weile Edvard aufſtand und gute Nacht
wünſchte.
Ich ſah die beiden ſtumm nebeneinander
ihres Weges gehen. Er natürlich wieder in
ſeine Gedanken verſenkt, die mit ihr zu teilen
er keine Veranlaſſung hatte, fie, wie mir
ideinen wollte, ohne vielleicht felbft gu wiſſen
warum, ebenfalls ein wenig gebdritdt und
niedergefdlagen, twas nod) verftimmender auf
ibn wirfte, ba er fie betrübt jab und ſich
auper ſtande fühlte, fie aufzuheitern.
Ich bin überzeugt, daß er, als er ſo dahin—
ſchritt, eine gewiſſe Abneigung gegen Aja zu
fühlen glaubte, weil ſie jene Keckheit beſaß,
die ihm ſo gänzlich fehlte. Mußte es ihn
88
nicht reigen, fie als die Sichere gu feben, die
berechtigterweiſe mitleibig auf fein ungewiſſes
Umbertappen herabblidte ?
Obne das Oberflächliche ihrer Runjt ju
verfennen, beneidete er fie wohl um die un—
befangene Leichtigheit, mit der fie alles behandelte,
was ihm fo endlofe Schwierigkeiten bereitete.
Ober war eS dads Weib in ibr, bei dem er
Aufmunterung fudte?
Da wanderte er nun beim gu feinem Sool. —
„Haben Sie Herrn Aſp heute gefeben?”
jragte mid) Aja um die Mittagdsftunde ded
folgenden Tages.
Mein, id) hatte ibn nicht gefehen.
Aber fie war ibm begegnet.
» Aber nun raten Sie, twieviel Ubr es war?
Drei Ubr morgen’. Cin Rendezvous ju
nidilider Stunde!”
Sie hatte in der Hangematte ein Schläfchen
gemadt, war bei Morgenfiible aufgewacht und
sur Gartentür gegangen.
Da hatte fie Alp fommen gefeben. Gr
finne nicht fcblafen, fagte er, und wolle fid
darum bier ein wenig umfeben. Aber Gefellfdhaft
twolle er feine — das fagte er gerade heraus
— „nicht einmal meine angenehme Geſellſchaft
ließ er ſich gefallen”.
Einige Wochen hindurch kam er nicht zum
Vorſchein. Aber er hatte ſich mit dem Dampf—
boot eine große Leinwand herausbringen laſſen,
und wir wußten, daß er täglich punkt vier Uhr
aufſtand und hinaus an die Arbeit ging.
Unſere Gefellfchaft fuchte er nicht.
Da fam eine Regengeit. Es war unmöglich
dDraugen gu malen, und fo befam id) eines
Tages fein gropes Gemalde, das er im Saal |
des Müllers aufgeſtellt hatte, gu feben.
Es ftellte das Erwachen der Natur dar. |
Nod ijt die Sonne nicht aufgegangen, aber |
ſchon glimmt und gleift es an dem glashellen
wolfenlofen Himmel, auf bem bie und da nod |
ein Bleicher Stern juriidgeblicben ijt. Der
See cin Spiegel fiir das Farbenfpiel des
Himmels, fiir Baum und Schilf! Wiles fo
flar und rein! Friſche, Rube und Schweigen
iiber der ganjen Natur! Cie ertvartet die
Sonne, die rofige Sonnenglut iiber Himmel
und Gee...
Und er, der diefe Stimmung fo groß und
fiibn, fo voll Empfindung auf die Leinwand
—
kam und klopfte an meine Tür.
Mya.
gelegt, er bencidete Aja Borgſtröm und ihre
Malerei. Er gramte fid, nichts zu fonnen.
Ich mufte verjpreden, iby nidt cin Wort
von dem Bilbe gu fagen. Indeſſen war fie
e8, die mit mir davon anfing, obwohl fic es
nod nidt gefeben. Welch grofen Pla er
fon in ibren Gebanfen einnabm, zeigte fid
in ibren Reden, die fic) in jenen Woden gar
viel um feine Perfon drebten und folgende
Tonart batten:
„Nun regnet e8, und er bat das Bild in
fein Simmer genommen. Wabrideinlid fann
er es nicht tiber fid) bringen, das Malen jest
qu laſſen. Gr muß ja jeben, daß es fid
drinnen ganz anders ausnimmt als im Freien;
daß feine Emma nidt den Verftand bat, ibm
Pinjel und Farben wegzuſperren und ibn, fo
lange e8 regnet, cin twenig gum Gefelligteitstier
ju maden. Ctatt fiir fie Mufter yu zeichnen
ober das Kind gu malen oder wie ein vers
niinftiger Menſch mit uns Vira ju fpielen,
wird er nun anfangen, mit dem Bild qu
experimenticren, wird die Farben nad bem
Stubenliht andern, wird wirfungsvolle Gegen—
fage bineinfomponieren, um eine recht ſchön
abgeténte Farbenffala herauszubekommen —
und wird eines ſchönen Tages wieder dabinter
fommen, dah er auf bem beſten Wege iſt,
eine Chic-Landſchaft zu malen, und bag fein
Bild cin Switterding ijt. Cs ift zu traurig!
Sie werden fehen, dah id) recht bebalte. —
Ich fange an, ihn gu fennen. Cr malt gar
gu gewandt, das ijt feine Schwäche. Er fann
nicht ſchlicht und geradezu malen.“
Das Regenwetter wollte fein Ende nehmen,
und fo fam der Tag von Ajas Abreife. Cie
Nein, fie
fonnte fic) nicht zurückhalten, fie mußte ſich
Luft maden,
„Ich babe das Bild gefeben; id) gab mid
nicht jufrieden, eh’ ich nicht hineindurfte.
Seben Sie, dak id) recht hatte? Er bat
daran gemalt, bis das Friſche der Stimmung
verſchwunden ijt. Gerade, twas er betonen
wollte, was er zum Wusgangspunft genommen,
gerade bas feblt jest. Und er weiß ¢3 jebr
wobl, id fab es ibm an. Gr twar fo nervös,
als ob er beifen wollte. Sagen Sie nur’
gerade heraus, daß es ſchlecht ift; Sie
wenigitens fürchten fich nidt, die Wahrheit
Aja.
zu ſagen, rief er.
mid ſchlagen — und id wußte einen Augen—
blick nicht, was tun.
Aber nun hören Sie! Es kam mir der
Einfall, ihn zu reizen, um ſein Selbſtgefühl,
ſeinen Künſtlerſtolz zu wecken. Ich ſagte im
faltejten Ton, den ich herausbringen fonnte,
dag dies durchaus nidjt das fei, toad id von
ibm erwartet batte, und dah ich twiifte, wad |
id) ibn tun fiche, wenn er mein Schüler
ware. Es war koloſſal unverſchämt, aber
jedes Leder braucht feine Schmiere. Das
Ende war: Nehmen Sie ein Meffer, Fragen
Sie alles das ab und maden Cie es dann
in cinem Bug fertig. Ich war fo fred, dah
id mid) vor mir felbft ſchämte, aber ich war
bofe — wie fann das alled zu einem Refultat
führen!“
Sie war ſo erregt, daß ihr ganzes Geſicht
glühend rot war und die Tränen ihr in den
Augen ſtanden. —
Aja reiſte ab und die Regenzeit hörte auf.
Edvard blieb unſichtbar.
Eines Tages machte ich auf dem Mühlhof
einen Beſuch und traf ſeine Frau allein. Edvard
ſei ausgegangen, er ſei ſeit letzter Zeit ſo
ruhelos und fortwährend außer Haus. Dad
Bild habe er wieder begonnen, aber niemand
dürſe es ſehen. Und er habe jetzt keinen
anderen Gedanken als daran. Nachts gönne
er ſich keine Ruhe zum Schlafen und ſtehe
einmal ums anderemal auf, um zu ſehen, ob
der Himmel ſich bewölle.
Aus ihrem Ton ſprach die äußerſt korrekte
Ergebenheit einer vernachläſſigten Frau, die
dennoch anzudeuten verſteht, daß ſie ihr
Schickſal mit Demut und Würde trage.
Am Heimweg begegnete ich Edvard. Er
war jerftreut und nervds.
„Das Bild? Ich babe alles verwiſcht und
es neu angelegt. Alles hangt jest davon ab,
ob wir ſchöne Morgen baben — der Barometer
ftebt gliidlidermeife bod) — andernfalls ijt
der ganze Sommer verloren . . .”
Von da an intereffierte ich mich eine Beit:
lang beinabe ebenfo fiir die Witterung wie
er. Seber Taq mufte benust werden, wenn
bas Bild fertig werden follte. Denn ſchon
war die Beit da, wo die Birlen hie und da
gelbe Zweige befommen und die Morgen:
Gr fab aus, ald tvolle er |
geſehen.
RY
und Abendfarben Anfabe gu Harte und Schärfe
zeigen. Der Hochſommer begann in den Spät—
fommer überzugehen.
Mls ic) Edvard das nadftemal begegnete,
war er in fo rubigem Gleidgewidt, wie id
ibn nur twabrend der erften Woche hier draußen
Er hatte fic) entidlofjen, das Bild
fo zu lafjen wie es war und feinen eingigen
Pinfeljug bingugufiigen.
Aja hatte mir bei ihrer Abreiſe eine halb-
qeleerte Chartreuſeflaſche vermacht, und cin
Glas des goldenen Trunkes leerten wir auf
das Reſultat dieſes Sommers. Dak das Hod
aud ifr galt, nab id) als auggemadt an. —
Nad) meiner Uberfiedlung in die Stadt
jah ic) meine Sommerbefannten felten. Eines
Mittags aber begegnete ich Aja auf der Strafe.
Ich fonnte ibr cine Neuigfeit mitteilen:
daß ich einen Wufenthalt in Paris über den
Winter vorhätte.
„O wie angenehm! Und wenn id gut
verfaufe, fomme id vielleicht aud im Frühling
bin, da wollen wir aber Luftiq fein!”
Mud) fie batte etwas Neues ju bericdten.
Sie begann mit der Frage, ob id Aſps
» Morgenftimmung” gejeben.
Ich fannte es nod) nicht.
„Denlen Sie ſich alſo, es iſt gut, es iſt
wirllich gut. Ich war ſchon lange über
nichts ſo erſtaunt. Erſtens, daß es fertig iſt,
und zweitens über dieſen Rachdruck und Schwung
darin. Ach, ich war ſo froh, ich hätte den
Menſchen umarmen können.“
Auch von anderer Seite hörte ich die
Beſtätigung dieſer Neuigkeit. Edvard Aſp
hatte eine tüchtige Arbeit geliefert.
Das Bild überraſchte nicht durch etwas
Neues, aber es war ſolid und ehrlich, wahr
und fein wie ſeine eigene Perſönlichkeit. Sogar
diejenigen, welche die Eleganz ſeiner Technik
herausfordernd fanden, neideten ibm den Erfolg,
Es wurde zum Herbſt fiir das National-
mufeum angefauft, und wenige Tage fpater
meldeten die Beitungen, der hervorragende
Landſchaftsmaler Edvard Aſp, welder in fo
reichem Maße die Crivartungen, die er erregt,
befriedigt batte, fet nad Baris abgereift, „um
dort feine Kunſt yu vervollfommnen.”
So war aljo fein Sommer fein verlorener
geweſen.
5.
Sn Paris angefommen, nabm id) in ber
Nähe des Boulevard Clidy Wohnung.
Ginige Sfandinavicr, die in dieſer Gegend
wobnien, batten ein Eleines Reftaurant nabe
bem Place Blande gum Cammelort gewable.
Hier pflegten wir uns um die fiebente Stunde,
. Gili, feine Furcht fannte.
sum Diner yu treffen.
Auger Edvard Aſp unb feiner Frau —
das Kind batten fie in der Obhut der Schwieger—
mutter und der Berwandten gelajjen — famen |
nod) einige andere junge ſchwediſche Maler und
finniſche Malerinnen bin. Gelegentliche Gäſte
waren Sven Ridert, der ſich gewöhnlich zu
einer Noterie junger Franjofen bielt, und ein
Norweger, der fich in Sfandinavien unmöglich ge-
macht hatte und nun bier den Märtyrer fpielte. Er
hatte unter bem Titel ,, Decadence” eine Serie
Novellen aus dem Braſſerie-Leben im Quartier
latin geſchrieben, welche fonfissiert wurden und
teiltweife dadurch eine gewiſſe Berühmtheit er-
langt batten. Gegenwartig beſchäftigte fic
ber Berfajfer ausſchließlich damit, das Pariſer
Pflaſter yu treten, die Menſchen gu veradten
und jedem zu verfiinden, dak er mit bem
Leben fertig fei.
Er hatte ein rundes, bartlofes, knabenhaftes
Geficht mit höhniſchem Ausdrud, trug das |
Haar in die Stirn bherabgejtriden und legte
es darauf an, durd fein ganged Auftreten als
bohémien zu wirken. Zeichnete ſich auferdem
durch eine unwiderſtehliche Begierde aus, in
Gegenwart von Damen beſonders gemein zu
fein und fühlte ſich im übrigen von den |
weniger Genialen unter uns „nicht verftanden”.
Richert, der ibn in Schutz nahm, bebauptete,
ber Noriveger fei ein guier Junge und cin
von Grund aus feiner Junge, der auperdem
das Verdienſt befige, vor nichts zurück—
zuſchrecken, und ber felbft in jenen Winkeln
der Stadt Beſcheid wüßte, welche weder
Fremde noch Pariſer kannten, noch kennen zu
lernen wagten.
In ſeiner Geſellſchaft hatte Richert ver—
ſchiedene, ſowohl durch ihre Ungewöhnlichkeit
als durch ihre Gefahren reizvolle Abenteuer
durchgemacht. Mehr als einmal hatten ſie
ſich in den Champs Elyſées zur Nachtzeit mit
herumſtrolchendem Geſindel zuſammengetan, ſich
in Spielhäuſer und Banditenhöhlen einführen
Berührungspunlte.
Aja.
laſſen, und als einmal ein ſolches Neſt um—
ſtellt und die Geſellſchaft eingezogen wurde,
waren ſie nur mit knapper Not — ihre Flucht
ging über Dächer und Gartenmauern — der
Polizei entgangen. Alles in dieſem Stil
war nach Richerts Geſchmack, der, im Ver—
trauen auf ſeine Fäuſte und auf ſein gutes
Während ſeiner erſten Jahre in Paris
war es unmöglich geweſen, mit ihm aus—
zukommen. Seine überquellende Grünjungen—
laune pflegte ſich in der Weiſe zu äußern,
daß er bei einem Feſte die gefüllte Waſſer—
flaſche an die Wand warf, oder, im Wagen
ſitzend, die Scheiben mit den Ellenbogen
durchſchlug, um ſich Luft zu ſchaffen — die
Scheiben ganz einfach herabzulaſſen, wäre zu
wenig genial geweſen —, oder daß er einmal
von ſeinem Atelierfenſter im ſiebenten Stock
auf einen Balfon des fiiniten Stockwerkes
Eletterte, um ein paar dort in Penſion lebende
engliſche Miſſes zu erſchrecken.
Mit der Zeit hatte nun dieſes Stadium
von Verrücktheit nachgelaſſen, er trat nun
nicht mehr ſo prahleriſch und übermütig auf,
und es war etwas Friſches und Gemütliches
in ſeiner Jungenhaftigleit. Er war jetzt eine
Miſchung von gamin und Pariſer Künſtler,
kleidete ſich elegant und hatte ſich unter dem
jungen Frankreich Freunde erworben.
Als Maler ebenfalls unbändig und
unberechenbar, hatte er doch entſchiedenes
Talent, dem nur Reife und Selbſtbeherrſchung
mangelten.
Derzeit war er Intentioniſt und Synthetiſt
und verachtete das Naturſtudium. „Die nichts—
ſagende Wirklichkeit“ war zu banal für ihn
und ſeine Koterie.
Aſp und Richert hatten keine näheren
In Stockholm war Aſp
vor ein paar Jahren der einzige geweſen, der
Richerts Partei genommen, als alles über ſeine
gewaltſamen Effektbilder lachte und ſogar viele
Künſtler — jene echte Stockholmer Clique,
die ſich gegen alle unnötigen neumodiſchen
Einführungen mißtrauiſch verhält den
Burſchen fiir verriidt erflirten. Bu jener Beit
war Richert mit Haut und Haar Impreſſioniſi.
Unter groper Unjtrengung war es Aſp einmal,
als Ricert fic) in Geldflemme befand, gelungen,
Nia.
einige von defjen Bildern zu verkaufen. Seit
nun Richert unter die jungen Pariſer Umſtürzler
gegangen, verachtete er naturgemäß Bourgevis: .
funft, bie Aſp reprafentierte, und hatte einen |
Ton gegen ihn angenommen, der den Älteren,
Verniinitigeren verdriehen mufte.
Edvard fonnte bier in Paris nicht rect
ing Gleidhgewidht fommen. Er fühlte fid fo
auperbalb ftehend, fo zurückgeblieben angeſichts
dieſes fieberbafien Rampies um Erfolg und
Fortſchritt, in welchem ihm weniger die große
Bewegung, die ehrliche raſtloſe Arbeit, das um
Moderichtungen unbekümmerte Streben der
ſelbſtändigen Künſtler vor Augen trat, als vor
allem die Begierde, überall dabei und obenan
ju fein und in erſter Reihe gu ſtehen unter
den Mannern des Fortſchritts. Mit dem
Strome ju ſchwimmen, jedem Windftoh gu
jolgen, jeder Modelaune fich yu unterwerfen,
bas, ſchien ibm, hatte fic) die Augend zu
ihrer Hauptaufgabe gemadt. Und er, dem
alles, was Humbug und Prablerei heißt, cin
Greuel war, ev ereiferte fics, wenn von der
Kunft des Tages die Rede war, und nabm
die alten Maler in Schutz, ob er gleich inſtinkt—
mäßig dasfelbe anftrebte, wie die Beſten unter
ber Dugend: den MWusdrud fiir bas cigene
Gefühl, fiir die cigenen Natureindrücke.
Und er erfannte innerlich und geftand aud
mir, daß feine mifgliidten Verfude ibn gegen
jene aufgebracht batten, denen die Gabe des
Fanatismus und der Gedanfenlofigfeit das
Gelingen foviel leidter madt. Dieſen Winter
hatte ex wenig arbeiten finnen; er batte ſich
in Grperimente, die feiner Natur zuwiderliefen,
verirrt, fidd in Wugenblidsftimmungen, in Luft:
ſtudien verſucht, und nichts war ibm gealiidt.
Aber er beklagte fic nicht, und ein Wort der
Teilnabme ware gerade das geivefen, was er
am twenigften ertragen hatte. Ad) fannte nun
dieſe allju empfindliche und ſcheue Natur, die
es nicht über fid) gewann, ſich zu enthiillen
und die Hand auszuſtrecken nach dem Mit—
gefühl, nach dem ſie dürſtete; eine jener Naturen,
die verurteilt ſind, allein zu wandeln; eine
jener ſtummen Naturen, die ſich danach ſehnen,
zu ſprechen.
Eines Tages zu Anfang März kam Aja
Borgſtröm an, voll Entzücken, wieder in Paris
gu fein und in einem RNeſt in Clichy ſpeiſen
91
zu können, mit dem Boulevardlärm, den
Trompetenſignalen der Pferdebahn, dem heiſeren
„u—up“ der Kutſcher, dem Rufen der Zeitungs—
jungen, dem Geſchwätz und Gelächter der
Vorbeigehenden vor den Fenſtern. — —
Die ganze Geſellſchaft ward von ihrer
munteren Laune angeftedt — Frau Emma
natürlich ausgenommen. Sie machte zwar bei
Ajas etwas lauter Heiterkeit keine oftentativ
mißbilligende Miene und lachte mit uns über das
mit Hurrah begrüßte Präſent der Neuange—
kommenen — eine hermetiſch verſchloſſene
Blechbüchſe mit Eierkuchen — echten ſchwediſchen
Eierluchen — aber ihr ganzes Weſen zeigte,
daß ſie ſich in ihrer Umgebung nicht wohl
befand und dads Bewußtſein mit ſich trug,
nicht bierber ju gebdren und die Intereſſen
der anderen nicht gu teilen. Ihre Abweſenheit
hatte nidt die geringite Lücke hinterlaſſen.
Aber obwobl fie dies fühlte, gab fie ficd feine
Miibe, ficd beliebt gu madden. Co ging denn
aud die allgemeine Anſicht dabin, dah jie cin
langtweiliges Geſchöpf und Edvard zu be:
bauern fei.
Mir befdhlofien den Tag im Divan
Japonais. Es war cin Vergniigen twie cigens
fiir Aja beftellt. Das dort verfammelte Publi—
kum ſchien nur gefommen, wn Speftafel yu
machen, und die Auitretenden fahen aus, als
feien fie nur dazu angeftellt, um die Späße
ded Publikums herauszufordern. Liefer bleiche,
ehemalige Tenor mit den hungrigen Augen,
dieſer Folojjale, bligende Reger mit dem eleganten
Auftreten und dem entgiidt lächelnden Mande
von einem Obr bis gum anderen, diefe jaferige
Straßendirne, die Yoette Guilbert zu fopieren
ſuchte! — Das Publifum überſchrie die Sanger,
applaudicrte wild, fdrie aber „non ~assez!“
wenn man mit Dacapo-Nummern drobte.
Es war cin wildes Konzert. Sogar
Edvard wurde von der allgemeinen Aus—
gelaſſenheit mitgeriſſen. Für Aja, die direlt
aus Stodbolm fam, war all das neu und
merkwürdig — diefe gange Gefellfcbajt junger
Leute beiderlei Geſchlechts, die da aus voller
Reble fangen, pjiffen, krähten und gaderten,
obne dod den ganzen Abend mehr als cine
Taſſe Kaffee oder cin Glas Bier zu trinfen.
„Ja bier gibt's Anregung, um ju arbeiten,
was dad Seug halt,” brad Aja aus, als wir
2
wieder auf Place Blande ftanden. Yon
Moulin rouge fdallte Mufit heriiber, und
che twit touften wie es fam, tangten tir auf
dem Pla Walzer — Aja und Cdvard an
der Spite. Und als Hintergrund fiir das
improvifierte Ballet ragte die rote Mühle in
ſcharfer Beleudtung gegen den WAbendhimmel,
und ibre mit fleinen, bligend roten eleftrifden
Lidtern befesten Flügel ſchnurrten iby ,Will-
fommen im frobliden Paris‘.
* *
*
Aja hatte ein paar Landſchaften für den
„Salon“ mitgebracht. Edvard hatte zwar
nichts fertig, aber die Erlaubnis, fein Muſeum—
bild vom vorigen Sabr in Paris auszuſtellen.
Richert dagegen veradtete den ,, Salon” und
wollte fid) feinem Refus ausfeben — felbjt-
redend wären feine Bilder der herrſchenden
Philiftermajoritat in der Jury nur cin Greuel
geweſen.
Aja hatte begonnen „zu arbeiten, twas
das Zeug hält“. Vormittag malte fie Modell,
und um ihre Nachmittage auszufüllen, hatte
fie ein großes Porträt von Emma Aſp an—
gelegt.
Sie malte Emma in Edvards Atelier
fibend, in ber doppelten Beleuchtung zweier
Fenſter, beren eines einen Streiſen der Mittags-
fonne bereinliep, welcher in die falten, grauen
Tine des Ganjen cine Menge luftiger Reflere
bradhte.
Emma war cin Muftermodell. Cie ſaß
Stunde fiir Stunde geduldig da — Aja
Borgſtröm wollte durd ihre Geftalt den
Cindrud träumeriſcher Melancholie hervor—
rujen. Bisher hatte ihre Figur aber nod
gar einen Ausdruck befommen, denn die
Connenjtrablen, die in dem grauen Atelier
ihr fréblides Spiel trieben, batten Ajas Auf:
merfjamfeit ausſchließlich gefeffelt. Die Auf—
gabe war neu und ſchwer, und ed freute fie
immer, fid) an dem Unmöglichen yu verſuchen.
Govard ſaß wor jfeiner Staffelet, cine
deforative Landſchaft fomponierend.
Ich fab fie nicht oft, meine Wege fithrten |
mid) nad anbderer Ridtung und nur felten |
in dad Reftaurant des Boulevard Clidy. |
Ricert fab ic gar nicht, und fragte man |
nad) ihm, fo grinfte ber Nortweger fein über⸗
Aja.
legen ironiſches Lächeln und meinte, er ſei
von Germaine in Anſpruch genommen.
Ich hatte ſie einmal geſehen, dieſe Germaine:
ein kleines Modell, erſt fünfzehn Jahre alt,
aufgewachſen und erzogen in Ateliers und
unter Künſtlern, ein echtes Zigeunerkind, eine
Mignon im modernen Pariſer Stil — aber eine
Mignon, deren Sehnſucht nicht nach einem
Märchenſchloß unter Lorbeer und Orangen
ging, fondern nad einem Heinen, eleganten
Haus beim Pare Monceau mit Equipagen und
Groom und einer disfreten Kammerjungfer.
Anfangs gefiel UWja dem Norweger. Er
verleitete fie, Abſinth gu trinfen — Wbfinih
war dad eingige, was ihm das Leben erträglich
machte — und fie ſchnitt bem griinen Gepanticde
eine Grimafje und meinte, man müſſe es wobl
in die unrechte Keble befommen, um redt ju
erfennen, wie gut es fei. Als er aber einmal
eine Stunde bei ihr geſeſſen und ihr auf feine
Weife von verjdiedenen Seiten des Parifer
Lebens erzählt hatte, die fie nidt fannte und
die ihre Reugierde reigten, ba wurde fie mit
cinemmal böſe und gebot ihm zu ſchweigen.
Und als er darauf beleidigt ihr etwas fagte,
was cr ,,cine Wabrbheit” nannte und damit
feines Weges ging, da entlud fie ihre Ent-
riiftung uns anderen gegentiber mit einem
Gefiibl und einer Überzeugung, die id) faum
von ibr ertwartet bitte. Sie hatte die Tranen
in ben Augen, und ihre Lippen zilterten:
„Ich glaube nicht, dak ich zimperlich bin,
id bin aud faum cine von den ,befferen
Leuten‘, und cine ingénue bin id auch nicht,
aber fiir fo unfein und ungebildet bat bod
niemand das Recht, mid gu balten, dak id
daſihen und die Gemeinheiten dieſes Tolpels
anbiren müßte.“
Cie ftand auf und ging aus dem Zimmer,
um und nicht gu geigen, wie kindiſch fie fei
und twie twenig fie fich zu beherrſchen wiſſe.
6.
April war gefommen und man begann den
| Frithling in ber Luft zu fptiren.
Eines Wbends, als wir an unferem Ver-
ſammlungsort anlangten, waren weder Edvard
und Emma nod Aja da. Erſt nachdem wir
uns draußen im Freien gum Kaffee nieder—
gelafjen batten, twurden wir Wjas anſichtig,
Nia.
die von einem Omnibusdadh herab und ju-
wintte. Sie hatte Edvard bei fich oben.
Sie fprang berab, fonnverbrannt, warm |
pon der Frühlingsluft. Cine ganze Beute
eben aufgeblithten Flieders fiibrte fie mit fic.
„Es lebe der Frilbling!” riefen wir. Und
fie nabm bas Kompliment mit ftrablender
Miene und einer gropartigen Verneigung gegen
das Publifum entgegen.
Bis hierher in die Boulevards brachten fie
die Friiblingsluft. — Aja hatte Covard ju
früher Morgenjtunde in einem Omnibus erblice,
und augenblicklich erratend, daß er im Begriffe
fei, durchzubrennen, war fie ebenfo augenblicklich
zu ihm in den Omnibus geſprungen, und ,,fo
war ber arme Rerl geswungen, dem ganzen
Tag mit ihr herumzuziehen“. Übrigens war
es gang „ertra luſtig“ geweſen.
„Ja, es war herrlich auf dem Lande!“
ſtimmte Edvard ein. Und er beſchrieb die
Landſchaft, wie ſie noch vor ſeinen Augen
ſtand, kleine zarte Motive vom Seine-Uſer.
Die ganze Au ringsum ein einziges Bukett
von Frühlingsblumen, ein ganzes Beet er—
blühenden Flieders unter der Veranda, auf
der ſie gefrühſtückt hatten. Und wie dann die
Dämmerung ſich ſo ganz leicht in zitternder
Durchſichtigkeit über die Landſchaft gu legen
begann und hie und da die Lichter angezündet
wurden, während der Himmel noch ganz hell
in Roſafarbe über Hügel und Fluß lag —
geradezu bezaubernd!
„So habe ich die franzöſiſche Natur nie
vorher geſehen! Und auch Paris nie ſo, wie
es heute da lag, als wir im Dampfboot in
das blaue Dämmerlicht hineinfuhren mit der
Botſchaft, dak der Frühling gekommen fei.“
„Wo iſt Emma?” unterbrach er ſich plötzlich.
Dieſe Frage kam ſo unbewußt komiſch
heraus, daß eine allgemeine Lachſalve ibm ant—
wortete. Edvard lachte mit — er hatte Emma
wirklich gang und gar vergeſſen gehabt.
„Ich will binaufgeben, feben, ob fie gu
Hauſe ift.”
Gr fam nicht wieder.
Nächſten Mittag ging id in fein Wtelier.
Ob Frau Aſp geftern vielleicht auf eigene
Fauſt ausgegangen fei, das Parifer Leben zu
fiudieren ?
D nein, fie fei qu Hauſe geblieben, ant:
93
| wortete fie, fie batte gar feine Yuft gum Aus—
geben gebabt.
Edvard fan wieder auf die denfiviirdigen
Ereignijje ded geftrigen Taged juriid. Gr
zeigte uns auf einer Karte, wobin fie gefabren
und welche Wege fie gegangen waren. Gin
tiihtiger Marj! Emma hatte nicht fo tveit
geben können.
Da Elopfte e8. Es war Wja, die einen
impofanten Einzug biel,
„Haben die Herrfchajten je etivas fo
Elegante geſehen? Haben Sie gefalligft die
Güte, verbliifft gu fein!”
Ja wahrhaftig, fie war neu bom Scheitel
bis zu den Sehen, in einem ultramodernen
Pariſer FriiblingSfoftiim, von dem mit
Ariblingsblumen umivundenen Hute bis berab
zu den Heinen, lichten Schuhen. Cbif, ertra
| if! Und fie ſelbſt ſtrahlend von Zufrieden—
heit! Die fofette neue Schale ſtand ihr merk—
würdig gut, ſie ſah ſich nicht ähnlich, ſie war
beinahe ſchön!
Ihr zu Ehren wurde das am wenigſten
unwürdige Fauteuil des Hauſes herbeigerollt,
in welchem ſie ſich mit viel Würde niederließ.
Ja ja, da hatte ſie eben einmal den Ehe—
mann unter ihre Flügel genommen. Hoffent-
lich ſei Frau Emma nicht böſe über die
Entführung, durchgebrannt aber wäre er ja
auf alle Fälle. So ſei ſie ihm noch als
rettender Engel in den Weg gekommen und
habe den ganjen Tag nad ihm gefehen: Er
babe aud gar feine Dummheiten gemadt,
fie könne es bezeugen.
„So luſtig bab’ id ihn dod) noch nie
gefeben. Wie ein freigelajjenes Kalb im Früh—
jabr! Die Frau und die Garcons in dem
Reftaurant, two wir friibftiidten, haben uns
nadgequdt und gelacht. Was fie fagten, hirte
id) nicht; daß fie fic) aber über ung unter:
hielten, fonnie cin Blinder feben. Aber das
war dein Febler, denn meine Wenigheit war
äußerſt if.”
Sie begegnete cinem verwunderten Blicke
Emmas, der dem unbefangen bingetvorjenen
„Du“ galt. Da ift dod nichts gu iwundern!
Und doc wurde Aja verlegen und errötete —
wie immer unfähig, ihre Gefiible gu verbergen.
Es war offenbar, dak fie fic von Emmas
Urt, fie angufehen, unangenebm berithrt fühlte.
94
Sofort ging fie zu einem anderen Gee |
ſprächsſtoff über.
„Ich bin heraufgekommen, um zu ſagen,
daß ich heute nicht an dem Vorträt malen
fann. Begreiflicherweiſe bin ich zu aufgeregt
über dieſe unerhörte Eleganz und daher nicht
in der Gemilisgibe, die man zur Arbeit
braucht.“
Sie bat uns, die Staffelei mit ihrem Bilde
ins hellere Licht zu rücken.
„Übrigens ijt es Stümperei, wie Sie ſelbſt
ſehen. Schlecht angelegt vom erſten Anfang
an. Gin paar Kinder, die im Sonnenſtrahl
ſpielen, wären beſſer geweſen. Parijer Kinder,
ausgelaſſen — wie id.“
So plauderte und lachte ſie unaufhörlich,
nahm dann Abſchied und verſchwand in all
ihrem Glanz.
Beim Diner kam ſie nicht zum Vorſchein,
und auch einige der Herren fehlten. „Vielleicht
bat Fraulein Borgſtröm fie aufs Land entführt,“
fagte eine der Malerinnen.
Am nächſten Tag jedod tauchte Wja wieder
wieder elegant und hübſch und fo ftrablend
lächelnd und luftiq und geſprächig, dab
ibre muntere Stimmung fofort anftedte.
Sie und Edvard, der ein Stiid von ihr entfernt
fag, wechſelten fein Wort miteinander, aber
id) bemerlte, wie fie ifn einigemal verftohlen
anjab mit cinem Blid, der auf verſchiedene Art
au deuten war, als eine Frage, cin ungewiſſes
Bedenten. An ibren Augen war etivas, twas
id) nie vorher gefeben, etwas fo Warmes und
Hingebendeds und dod zugleich Scheues!
Vielleiht war es Cinbilbung von mir, aber
mir fdien, alS ob bas Knabenhafte in ibr
ciner weichen Weiblichkeit Platz gemacht hatte.
Nein, es war nicht Einbilbung: dieſe Beiden
waren offenbar während des geftrigen Tages,
an dem fie fich frei und jung gefühlt, einander
nabergefommen, —
So wie Cdvard fic) wabrend ber nun
folgenden Seit zeigte, batte ich ibn nur einmal
vorher gefeben, an jenem Tage, als wir ibn
juerft trafen, dabeim in Sweden.
Gr parabdierte nicht im mindeſten mit feiner
Aufgeräumtheit, er wurde nidt faut und
lärmend wie Wa, wenn fie einen Ausflug für
ibre Yebengluft fudic. Seine Freudighcit
äußerte fic) barin, daß cr an allem, was er
auf,
und
uns
—
Aja.
ſah und hörte, Intereſſe nahm, daß er, ohne
| nad) Worten zu ſuchen, ſeine Anſichten mit
Nachdruck und Beſtimmtheit jum Ausdrud
brachte.
Der Druck, der faſt immer auf ihm lag,
war ganz und gar verſchwunden. Sein
Lächeln war fo unrefleltiert, fo ohne jeden
| Verfuch, feine Empfindungen ju verftellen, daß
, man nicht anders fonnte, als es ibm ebenſo
jroh, ebenfo wnrefleftiert zurückgeben. Wie
Sonnenfdein lag es auf ibm.
Seine plötzlich erwachte Lebensluſt machte
ſich in dem doppelten Verlangen nad Arbeit
und nad Unterbaltung Luft. Mitunter war
er auf ein oder zwei Tage verſchwunden und
fam dann vom Lande zurück mit fleinen
Stubien, die cinen Schwung, eine Friſche,
einen jugendliden Trotz jeigten, welche ibm
| fonjt durdaus nicht eigen waren.
An dem Pariſer Leben fonnte er ſich nid:
fatt feben. Alles fand er zu jener Zeit
interefjant, das Volfsgewiibl, die Typen und
CStimmungen in den belebten Parks und in
den ſchwülen Gajjen, die Eleganz der großen
Boulevards und die elenden Baraden der
Vorftddte, den Aushli€ vom Montmartre über
| dad Steinmeer bei verfdiedenartiger Beleuchtung,
— und alles war carafteriftif fiir Paris,
von den Thermen im Palais Cliny bis yu den
kleinen Gorjtadttbeatern und dem lebhaften
Gewimmel auf dem Lebfudenmartte.
Paris zeigte fid aud in jenen Tagen in
fener beriidendften Frühlingstracht — laue
Abende, Blumenduft, die Boulevards wie ein
Salon und die Gärten wie eine einzige große
Kinderſtube, und Lebensluſt und Freude, wohin
man fant.
Da war feine Beit, im Simmer vor der
Yeinwand zu fifen und die Lippe hängen yu
lajjfen, weil man nicht alles fonnte, tras man
zu können fich wünſchte, feine Beit an die Su:
funft gu denfen, wo die Gegenwart fo herrlich
war, da hieß es binaudeilen, den intenfiven
Rauſch des Augenblicks geniegen.
Emma hielt fic mehr als je von ung ent:
fernt. Cie legte feinen Wert darauf, etivad
zu feben oder mitzumachen. In ihren Mugen
war Baris ficher nichts weniger als binreifend.
Und fie wurde bleids, befam eingeſunkent
Wangen und dunfle Schatten um die Augen.
ja.
„Was feblt Shonen? Sind Sie frank, Frau
Aſp?“ frug ich eines Abends, als fie in das
Heftaurant fam.
„O nein, ſicherlich nicht; es wird mix nur
ſchwer, nachts yu ſchlafen. Es iſt fo geräuſch—
voll auf der Straße,“ antwortete ſie mit ihrem
gewohnten ruhigen, ergebenen Wusdrud.
Aja ſaß uns gegenüber. Ich bemerlte,
wie ſie bei meiner Frage aufſah und Emma
mit einem verwunderten Blick betrachtete. Sie
ſchien bisher gar nicht bemerkt zu haben, wie
abgezehrt und blaß Emma ausſah. Sie errötete,
war dann über Tiſch zerſtreut, aß wenig, ließ
den Wein ſo gut wie unberührt ſtehen, und
als Edvard eine Promenade vorſchlug, wollte
ſie nicht mitlommen.
Sie ging dann doch, und wie gewöhnlich
hatten er und ſie einen Vorſprung vor uns
anderen. Das langſame Gehen fiel ihr ſo
ſchwer — bei jeder Straßenecke mußten ſie
ſtehen bleiben und auf uns warten, und hatten
wir ſie erreicht, ſo waren ſie gleich wieder
voran.
„Wohin wollen Sie gehen?“ fragte ich Frau
Aſp, als wir alle beratſchlagend an einer
Straßenecke ſtanden.
„O ich will gar nichts, — ich habe keine
Stimme hier unter dieſen Menſchen, wie Sie
wohl bemerlt haben werden,” erwiderte fie
leiſe, fo bak nur id) fie hören fonnte.
Cie und id waren hinter den anderen
juriidgeblieben. Und obne irgendwelche Cin:
leitung, obne mic) anjufeben, fubr fie fort:
„Ich bin eine Null unter ibnen, ich habe
bier nits ju tun. Es ift cin Ungliid, dah
Edvard mid jur Frau befommen bat. Ich
fann ibm bad nicht fein, was er von feiner
Gefährtin verlangt.”
„Warum nicht?
Willens!“
Sie ſchüttelte den Kopf und fuhr ruhig
und lalt fort:
„Nein, dies beruht auf Verſchiedenartigleit
der Naturen.
was ſeine Gedanken ausfüllt, mir fremd iſt,
und daß er nicht mir ſagt, was er fühlt. Ich
möchte ja gern alles für ihn tun, aber ich
fann ja nicht. Ich bin ihm nur cin Hindernis,
bad ihm ben Weg erſchwert und fann es bod
nicht ändern.“
Das iſt Sache des
Ich weiß ſehr wohl, daß das,
95
Was follte ich ertwidern? Was id) dadhte,
fonnte ich) ibr nicht ſagen. Auch begehrte fie
ja tweder Troft nod) Rat, nur ausfpreden
mufte fie’s einmal, was ihr beſtändiger Ge-
danke war.
Wieder hatten die Borangebenden uns
erivartet, fo dap fie mir nur nod zuflüſtern
fonnte:
„Ich kann — ich will fie nicht feben.”
„Ich will nad Hauſe,“ fagte fie ju
Edvard.
Nein, krank fet fie gar nicht, habe nur
feine Luft mebr, draußen yu fein. Und das
jagte fie ganz offen, fie, die fonft fo Nach—
giebige und Rückſichtsvolle.
Sie gab mir die Hand und fagte den
anderen gute Nacht. Wjas Anweſenheit aber
jebien fie nicht 3u bemerfen, fab fie nicht an,
wandte ibr den Rücken und ging.
Edvard jolgte ibr. Aber aud Wja hatte
nun die Luft verloren, fic zu unterbalten, und
fo traten wir beide den Ruckweg an.
Sie war erregt und nervös. Ihre fröhliche
Laune war wie abgeftreift. In ihre Gedanten
verticft, birte fie gar nicht, was ich ſprach,
bis ich endlich fragte:
„Was denfen Sie von Sdvard?”
Da antwortete fle obne einen Augen:
bli€ ded Schwankens und ohne mid anzu—
ſehen:
„Was ſoll ich von ihm denfen, ald dah
er nie dahin gelangen wird, fich frei gu fühlen
und fic) ganz hinzugeben, niemals das Bejte
und Tieffte aus fich berausholen wird, dad,
was feine Anjtrenqung, keine Urbeit jutage
fordert, twas ganz von felbjt von da drinnen
fommt, aus dem allerinnerften Herzen. Cr
wird bingeben und fich grämen und fic ser:
fplittern und jinfen — er gebdrt gu denen,
bie leicht finfen, weil fie mebr von fic ver-
angen alS fie geben fonnen. Und andere
werden gute Arbeiten madden, und er wird
suriidbleiben — und ic fann es nicht dndern,
ih darf es ja nicht ändern.“
Tie letzten Worte hatte fie kaum hervor—
zuſtammeln vermocht. Die Stimme ftodte ihr
in der Kehle, und ſie brach in Tränen aus,
in kindiſche, unaufhaltſame Tränen.
Das war eine andere Stimmung, als die
in Emmas Klage Ausdruck gefunden.
96
*
„Sie halten mich wohl für närriſch, daß
ich mich auf offener Straße hinſtelle und heule?“
fuhr ſie fort, in dem Beſtreben, zu verwiſchen,
was ſie ſoeben geſagt. „Die Pariſer Luft hat
mich ſo nervös gemacht. Und ich plappere ja
ſoviel, daß es keine Bedeutung hat, was ich
plappere.“
Sie ſuchte ihren gewöhnlichen Ton anzu—
ſchlagen, aber ihre Stimme zitterte.
„Muß es einen nicht irritieren, zu ſehen,
wie ein Menſch Talent hat und nichts daraus
zu machen verſteht? Man kann ſich einer
geringfügigeren Urſache wegen aufregen. Ich
glaube nicht, daß Edvard je Glück haben wird,
er macht ſich die Arbeit gar ſo ſchwer.“
Und ſie fuhr fort, darüber zu ſprechen, wie
er ſich durch ſeine fortwährenden Kämpfe,
ſeine Selbſtquälerei martere. Aber ihre Ge—
danken gingen nicht denſelben Weg wie ihre
Worte.
„Ich fahre aufs Land,“ war der ziemlich
überraſchende Schluß, nachdem fie bisher aus-
ſchließlich von Edvard und faſt ausſchließlich
von ſeiner Künſtlerſchaft geſprochen.
„Und er? Wie, glauben Sie, ſoll ſich ſein
Leben geſtalten?“
Cie ſah mich forſchend an.
„Das ift es ja — es ift zu traurig!”
brad fie nach einer Weile aus, von neuem
jajt weinend. „Was foll id tun? Glauben
Sie, dak ic ihr feindlich gejinnt bin, glauben
Sie, dak aud nur eine Spur von Berechnung
darin gewejen? Und wenn er untergebt und
ich fonnte ibm auf trodenes Land belfen, fo |
dürfte ich es ja dod nicht, weil ich nicht das
Recht hatte, es gu verfuden. Und er gebt
unter — geiftiq gebt er unter — er braudt
cine andere Art Energie, alg er fie befigt, um
fid) in feiner Lage oben zu balten.
Ich vertrage dieje Urt Refignation nidt —
Opjerivilligfeit nennt man fie aud. Gott
bebitte einen davor! Wahrhaftig, es dantt
einem niemand fiir bas Opfer — am wenigſten
bie, fiir Die man es bringt. Cie tritt einen
nod unter die Füße, ja, das tut fie. Und fo
qleitet cinem bas Leben aus den Handen, und
man muß ſich fo durchſchlagen obne jede
Lebensluſt, die ja auch Lebenskraft gibt, und
Aja.
das alles einzig und allein darum, weil es ſo
ſein ſoll.
Was kümmern mid ſeine Bilder! O ja,
! fie lümmern mid wobl auc, ſelbſtverſtändlich . . .
Gr bat eben nicht die Kraft, bart gu fein,
er gehört yu denen, die ohne Licht [eben können,
die aber darum nur balb leben. Wann lebt
er denn? Nur, wenn er fiir einen Augenblick
bergipt, wie es mit ibm fteht — es ijt fo
jammervoll, fo unſäglich jammervoll, wenn
man fein ganzes Leben darauf aufbauen muß,
fid) gu betduben, fid) ſelbſt zu entfliehen. Das
heißt von Morphium leben, das heißt tot fein.”
Sie ſprach fo verfdieden von bem, twas id
vorher bon iby gehört, fo verjdieden in Ton
wie in Worten, Yd erfannte die frobfinnige
Aja nicht wieder. Aber nun hatte fie fidd in
eine getwiffe Rube geſprochen; es war nicht
mebr der entjagende Rummer in ihrem Tonjall,
fondern etwas Hartes und Rauhes, als fie
fortfuhr:
„Ich will Emma gewiß nichts Böſes zu—
fügen. Das iſt eben das Unglück, daß ich
nicht das Herz habe, irgend einem Menſchen
etwas Böſes ju tun.
„Legen Sie keinen Wert auf meine Worte,“
fügte fie hinzu. „Ich ſchwatze ing Blaue
hinein. Übrigens können Sie beruhigt ſein,
ich werde mich verſtändig benehmen. Ich
weiß, was ich will, und ich kann tun, was
ich will.“
„Was meinen Sie damit?“
Aber auf dieſe Frage erhielt ich keine
Antwort. In dieſem Augenblick rief eine
kraftvolle Baßſtimme quer über die Straße:
„Diener, Fraulein Borgitrim. Wohin?“
Es war Richert. Er kam zu uns herüber,
wie immer ſtrahlend von Geſundheit.
„Ich will nach Hauſe!“
„Nach Hauſe geht man des Morgens!“
lachte er. „Nein, wir wollen noch beiſammen
bleiben.“
Ich ſagte „Gute Nacht“ und ſah noch,
wie ſie ſich den großen Boulevards zuwendeten.
In dieſem Augenblick fiel mir ein, daß er viel—
leicht zur rechten Stunde gekommen ſei.
Aber ihr würde wohl dieſer Einfall ſchwer—
lich kommen. (Schluß folat.)
— —
97
Ver CoIner Prauentag.
Bon
Helene Tange.
Nachdrud verboten. peat
XS ebr vielleicht als alle anderen Frauenverbainde hat der Allgemeine
Deutſche Frauenverein in feinen Beſtrebungen ftets die enge Verbindung
awe Wwifden Bildung und fosialer Stellung der Frau betont. Wenn man
früher dieſen Zufammenbang vor allem in bezug auf die Berujfstitigfeit der Frau
bervorbob, wo er ja auf der Hand liegt, gilt es jest — und das leuchtet den meijten
Frauen viel weniger cin — die Bildungsqrundlagen ju ſchaffen für den Cintritt der
Arau in das öffentliche Leben, fiir ibre Aufgaben als Biirgerin in Gemeinde und
Staat. Die Betonung diejes Zuſammenhangs trat in den Verbandlungen der
22. Generalverjammlung des Allgemeinen Deutſchen Frauenvereins und des damit
verbundenen öffentlichen Frauentages in Cöln (27.—30. September) immer wieder
bervor.
Die Generalverjammlung bot zunächſt die notwendigen Berichte über die laufenden
Geſchäfte und die jtindigen Arbeitsqebiete des Vereins: Realgymnaſium, Rechtsſchutz,
Stipendientommijfion, Kaſſe. Am iibrigen aber lagen auch ibre Verbandlungen durchaus
in Der angegebenen Richtung.
Von der gefamten deutſchen Frauenbewegung wird es als eine der nächſten
Aufgaben betrachtet, das fommunale Arbeitsfeld der Frau dure) cine möglichſt breite
und rege Agitation yu erweitern. Schon die Eiſenacher Generalverfanumlung vor zwei
Jahren batte beſchloſſen, durd ein Flugblatt fiir den Cintritt der Frau in Armen:
und Waifenpflege in breiteften Kreiſen zu wirken. Das Flugblatt, das zugleich
Propaganda: und erjtes Orientierungsmittel fiir die Frauen felbft fein follte, ijt in
40 000 Eremplaren verbreitet worden und hat, wie veriichert wird, überall gute Dienite
qetan. In ähnlicher Weife foll jest De Zulaſſung der Frauen zur fommunalen
Schulverwaltung in Angriff genommen werden. Schon vor swei Jabren hatte der
Allgemeine Deutiche Lebrerinnenverein diefe in einzelnen Frauens und Lehrerinnen—
vereinen ſchon vielfach erörterte Frage als Verbandsthema feinen Sweigvereinen yur
Bearbeitung gejtellt. Es fam auf der lester Generalverjammlung der deutſchen
Yebrerinnen in Dresden zur Verhandlung. Innerhalb des Bundes Deutſcher Frauen:
vereine bat der Verein Frauenbildung: Frauenftudiume die Frage durch einen Antrag
an Die Wiesbadener Generalverjanunling anf die Tagesordnung gebracht. Der
Allgemeine Deutide Frauenverein wird in Erfüllung diefer Aufgabe nun feinerjeits
verjuchen, durch cin Flugblatt die Frauen ſelbſt — für die Lebrerinnen ift es bereits
geſchehen (val. Februarbeft des vorigen Jabrgangs dev Frau) — über die Notwendigfeit
und die Art ihrer Mitarbeit in der formmunalen Schulverwaltung aufzuklären und ihnen
7
98 Der Cölner Fraucntag.
die in Der Organifation der fommumalen Körperſchaften begründeten Wege fiir ibren
Cintritt in dicfe Arbeit nach Möglichkeit ju zeigen.
Mnf dem Gebiet der fosialen Erziehung liegt auch cine andere Aufgabe, die der
Allgemeine Deutſche Frauenverein durch feine Tagung in Cöln in fein Arbeitsprogramm
aufgenommen bat: die Bekämpfung des AlFoholismus durch die Schule. Nach dem
Grundfag von Virs. Mary Hunt, der Borkimpferin diefer Bewegung in den
Vereinigten Staaten: „J do not want preaching, I want teaching“, find wir der
Uberzeugung, daß die Veranderung der Trinffitten am wirkſamſten durd die Erziehung
herbeigeführt werden fann. Cine Kommiſſion foll mit Hilfe gleichſtrebender Lebrerinnen
und Lehrer unterfuchen, was in deutſchen Schulen bereits nach diefer Nichtung bin
geſchieht und eventuell weitere Schritte anbabnen belfen. |
Auch auf einem Gebiet weiblicher Berufstitigheit, auf dem der Dilettantismus
der Vorbilbung yu einer ſchweren Gefabr yu werden drobt, ijt ſchon feit längerer eit
dure den Allgemeinen Deutſchen Frauenverein gearbeitet worden: Ju Eiſenach war
befcblofjen, den Reformverjuchen in der wweltlichen Krankenpflege dic Unterjtiigung des
Vereins, foweit das möglich ijt, 3u gqewabren. Frau Elsbeth KRrufenberg, die
damals mit dieſer Aufgabe betraut wurde, bat feitbem an den Organifationsverjuchen
der freien Pflegerinnen cifriq mitgearbeitet. Aus ihrem Bericht über die Fortichritte
auf diefem Gebiet und der fic) daran ſchließenden Disfujfion ging bervor, daß die
Notwendigfeit einer ftaatlid) qarantierten Befabiqung cinerfeits, einer freteren und
geſicherteren Lebensjtellung der Pflegerinnen andererfeits yu cinem Progranunpuntt der
Offentlicen Meinung zu werden beginnt.
* *
*
Generalverſammlungen mit ihren vielen rein geſchäftlichen Verhandlungen, mit
den mancherlei notwendigen und zeitraubenden Formalitäten find meiſt nicht geeignet,
den Draußenſtehenden die Gedanken, die der Arbeit des Vereins ihren inneren
Zuſammenhang geben, in ihrer Weite und Fülle nahe zu bringen. Aus dieſer Erkenntnis
heraus hat man ſchon ſeit lange mit ſolchen Verſammlungen einen öffentlichen Frauentag
verbunden, der ein Geſamtbild der Ziele und der aktuellen Aufgaben der Frauen—
bewegung aufrollt. Der Cölner Frauentag hat denn auch die Fühlung mit den
Frauen und Männern von Cöln in ſeltener und unſere Erwartungen weit übertreffender
Weiſe hergeſtellt.
Auch hier ſtanden die Vorträge unter dem Grundgedanken, daß die ganze
Geſtaltung des ſozialen Lebens und die Stellung der Frau innerhalb ſeiner Rechts—
ordnung im engſten Zuſammenhang mit Bildungsfragen ſtehe, und zwar ganz beſonders
mit der von unſerer Zeit mehr als je geforderten Heranbildung zum ſozialen Denken.
Unter dieſem Geſichtspunkt ſtand der Vortrag von Helene von Forſter-Nürnberg:
„Wie erzieht das Haus für das ſoziale Leben?” Der Zuſammenhang von Berufs—
bildung und Berufsſtellung — oder, was bei der Frauenarbeit vielfach noch dasſelbe
bedeutet, Berufsnot — war das Hauptergebnis der Ausführungen von Alice
Salomon über „Frauenlöhne“. Dak die Mitarbeit der Frau in der Wohlfahrts—
pflege ſich ſozialpolitiſch vertieft in engem Anſchluß an ihre wachfende geiſtige und
praktiſche Schulung fiir und durch dieſe Arbeit, jeigte die Schilderung von Marie
Hecht über die „ſoziale Frauentatigfeit im Often Deutſchlands“. Auch die Betractung
Der Cölner Frauentaa. 99
der Cittlicfeitsfrage in dem Vortrag von Ika Frendenberg über ,,Moderne’
Sittlichfeitsprobleme’!) ging einmal nidt von der hygieniſchen oder wirtſchaftlichen
Seite der Frage aus, fondern beleuchtete die feinen inneren Zuſammenhänge zwiſchen
Weltanſchauung und Sittlichfeit, die unter den groben Zügen des fozialen Ausdrucks
dieſer Probleme fich oft verbergen. Die Aufgaben der Frauenbewegung in bezug auf
dieje pſychologiſchen Grundlagen der Sittlichfeitsfrage ſuchte auch fie in der Erhöhung
aller geiſtigen Intereſſen und Fähigkeiten der Frau durch eine tiefere und geiſtig
fraftiqere Erziehung. Und der VBortrag „Die Frau als Bilrgerin,” der die Forderung
der vollen politiſchen Rechte fiir die Frau vertrat, wies zugleich nach, daß nach der
bisherigen Entwidhing der Dinge in Deutſchland die Betonung des ftaatsrectlichen
Standpunkts ibve Wirkung verfeblen müßte, wenn nicht von Seiten der Frauen fozial-
politiſch wertvolle, anf qriindlicher politiferer Bildung berubende Leiftungen hinzu—
kämen.
Selbſtverſtändlich bedeutet dieſe allen Vorträgen gemeinſame Grundanſchauung
über die Verknüpfung unſeres Fortſchrittes mit geiſtigen Vorbedingungen keineswegs
eine Verkennung der anderen, für den Realpolitiker mehr in die Augen ſpringenden
außeren Faktoren. Aber andererſeits wird es dod, je mehr die Frauenbewegung ſich
in die Breite entwickelt, eine ernſte Gefahr für ſie, daß man über dem Fordern das
Arbeiten vergißt, daß man neue Inſtitutionen ſchaffen will, ehe die Menſchen dafür
von innen heraus reif geworden ſind. Schon hat man damit manchen Erfolg illuſoriſch
gemacht, manche Errungenſchaft wieder in Frage geſtellt. Solchem gefährlichen „real—
politiſchen“ Dilettieren gegenüber kann die Notwendigkeit ſozialpolitiſcher Schulung
gar nicht ſtark genug betont werden.
Vielleicht liegt der Grund fiir dieſe Verdeckung der wirklichen praktiſchen Schwierig—
keiten des Fortſchritts unter bequemen und leicht yu handhabenden Schlagworten darin,
daß die Frauenbewegung zu viel mit Propagandaverſammlungen arbeitet, die in
Reſolutionen oder Petitionen ein greifbares Reſultat aufweiſen wollen, um auf die
oft in fo naiver Weife geftellte Frage: „Was bat der Verein getan?” cine — ebenjo
naive — Antwort bereit yu baben. Cine Musfprache über die Sittlichkeitsfrage, die
der Verein in Cöln in geſchloſſener Sigung veranjtaltete, bewies, wie viel fruchtbarer
unter Umſtänden cine Beratung unter denen ift, die auf bejtimmten Gebieten gearbcitet
baben. Das NHefultat diefer Sigung war die Aufnabme einer Anregung der Tilfiter
Sweigvereine de3 Allg. Deutſchen Fraucnvereing, die Frauen möchten eine gemeinfame
Uftion gegen § 3616 des Reichsſtrafgeſetzbuches unternehmen. Aus cinem Referat
von Frau Dr. Flemming: Hamburg über eine Reform der Reglementierung wurden
einzelne Punkte als allen Richtungen der Sittlichkeitsbewegung gemeinjame angenommen.
Im Anfeblug an den öffentlichen Vortrag über die SittlidFeitsfrage zeigte fic) die
Stellung des Bereins auch nad aufen hin in der entſchiedenen Zurückweiſung des
Rates, Den einer der Diskuffionsredner den Frauen erteilte: fie möchten von der ganzen
Atage der Reglementierung ,,die Finger laſſen“. Man befannte ſich unter lebhafteſter
Sujtimmung zu der Anſchauung, dag gerade bier eine unabweisbare Pflicht fiir die
Frauen liege. ,
—
) Wir haben die Freude, den in Coln mit fo großem Beifall aufgenommenen Vortrag ſchon in
dieſer Rummer unſerem Leſerkreis bieten zu köͤnnen. Da auch verſchiedene andere Vorträge der Tagung
an dieſer Stelle veröfſentlicht werden ſollen, fo verzichten wir hier auf bie Wiedergabe des Inhalts.
7*
100 Denhwilrdigteiten eines Wrbeiters.
Wenn eine öffentliche Verfammlung ihrer Beftimmung entſprechen ſoll, fo muh
fie jene lebendige Fuühlung zwiſchen Rednern und Hörern bhergeftellt haben, die allein
cine Biirgfchaft fiir bas Weiterwirfen der Qocen gewabrt. Bon dieſem Gejichtspuntt
aus war die Cölner Tagung ein voller Erfolg und wird ju den ſchönſten Erinnerungen
ded Vereind zählen. Wenn diefe Fühlung fics fo febnell berjtellte, fo fag das vor
allem an dem Vertrauen, das uns in Cöln entgegengebradt wurde. Und died
Vertrauen, das fic) an die bisherige Entwidlung unfered Vereins fniipfte, an den
Geiſt, von dem feine Arbeit geleitet worden ijt, war uns inumer wieder wie ein
Vermächtnis unferer fo tief betranerten Führerin, Auguſte Sdmidt, deren Büſte,
von Grin umgeben, fic) neben bem Vorftandstifd) erhob, deren Name immer wieder
durch die Verbandlungen flang. Dies Vertrauen hat dem Verein die Statte bereitet.
Und wenn ganz in der bei Mannerfongreffen itblichen Weiſe Regierung und ſtädtiſche
Behörden den Verein begrüßten, wenn die Stadt Cöln ibn durch glänzende Gajt-
freundfebaft ebrte, fo bradjte der Berlauf der ganzen Tagung die Uberzeugung, daß
man mit den Frauen al$ einem fiir das öffentliche Leben bedeutjamen Faktor zu
rechnen beginnt, daß man fie ernftlich willkommen heißt, wo fie ernſtlich ibren Wnteil
an den ſozialen Pflichten auf ſich nehmen wollen. Das Gefiibl eines warmen Danes
gegen das Stadtoberbaupt, Herrn Oberbiirgermeijter Beder, und feine Frau, die als
Vorfigende des Ortsausſchuſſes fics bei den vorbereitenden UArbeiten an die Spige
gejtellt hatte, gegen Frl. Mathilde von Meviffen und Frl. Elifabeth von Mumm
und ibre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wird fic mit der ſchönen Crinnerung an
die Cilner Tagung dauernd verfniipfen.
Venkwadrdigheiten eines Arbeiters.
Bon
W. Fred.
Nachdruck verboten.
in nitchterne3, unromantiſches Leben wird aufgerollt. Man hört von einer
m gedriidten Jugend, herabgefommenen Cltern, einer Erziehung, im der die
C4 YPritgelfuppe die größte Rolle fpielt, und einem UArbeiterdafein, dad mit dem
fiinfjebnten Lebensjabre in Not, Elend und Demiitiqung beginnt und mit dent fechsigiten
auf die gleiche Weije beendet wird. Umberwandern und Arbeitsfuce, Ounger und das
milbjame Wufrechterbalten des Lebens, Krantheit und ein wenig Sonntagsvergnügen
der allerbefcheidenjten Art, bas ift alles, woran fid) der Sechzigjährige erinnert, der
dieſe ,, Denkwiirdigfeiten eines Arbeiters“ aufgefchrieben bat, als feine Hinde die
jbwere Fabrifarbeit nicht mebr leiſten können und eine neue Zeit den alten Mann
aus Dem Berufe gedringt hat. Cin nüchternes und unromantifdres Leben. Und dod
bat diefer alte Mann, cin Here Karl Fifcher, in den Tagen feiner Invalidität, zwiſchen
geringer Landarbeit, die er fiir feine Verwandten, bei denen er lebt, yu verrichten hat,
den allerbeftiqften Drang verfpiirt, aufjunotieren, was er erlebt hat, wie fics ibm und
Denlwürdigleiten cines Arbeiters. 101
gerade ihm das Leben gewieſen bat. Nur ein Durchſchnittsmenſch ijt er geweſen und
nur cin Durdfdnittsleben bat er gelebt, und dod) bat Herr Paul Göhre, der died
Buch der Denkwiirdigfciten im Verlage von Eugen Diederichs (Leipzig) jest heraus—
gegeben hat, durch dieſe Veröffentlichung der deutſchen Nationalliteratur eine ungemein
wertvolle Gabe vermittelt.
Das Schinjte, was von diefem Buche yu ſagen ijt, mag vielleidt fein, dah es
ein fo ganz unliterariſches Buch iſt. Nicht cin Ton in diefem Buche ijt fiir den Lefer
ummoduliert, nicht cine Setle verdantt einer Pofe die Entitebung. Aus den tiefiten
Drängen kommt jedes Wort und aus einer barten Erfahrung und vielem Griibeln die
paar Reflerionen, die eS enthalt. Und deren find gar wenige in dem diden Bande;
denn dem Arbeiter Karl Fiſcher ijt gar nichts daran geleqen, eine Moral zu geben,
und nod weniger daran, ſich in cinem befonderen Lichte yu zeigen. Er ſchrieb einfach
auf, was ein Durchſchnittsmenſch, ciner, der um das tägliche Brot ſchuften muß, in
den Jabren von 1841 bis 1885 erduldet, und indem er das getan bat, bat er uns
den grofen Dienft erwiefen, die typiſchen Leiden cines arbeitenden Manned unferer
Zeit in einer Weife ſinnlich zu geftalten, wie es Feinem Dichter hatte gelingen
fdnnen.
Biograpbhien und Autobiographien beriibmter Manner und folcher, die fic dafiir
balten, baben wir genug. Auch an Werfen, in denen einer feine Erlebniffe innerhalb
eines Berufstreifes, den er im fpdteren Leben überwunden bat, febildert, ijt fein
Mangel. Dak aber jemand, der fein Lebtag Arbeiter gewejen ijt und Arbeiter
qeblieben ijt, nod während des Sehreibens nicht über den Dingen ſteht, die er
befcbreibt — das ijt das Neue und das Wertvolle an diefen Denfiviirdigfeiten. Ihr
Ton ift der einfachſte; manchmal bebt er fich cin wenig, wenn der Menſch nod) in der
Erinnerung der Leiden, die er ausgeftanden bat, de3 Unrechtes, das er dunkel empfindet,
ein Beben verfpiirt; aber das gefchieht nur wenige Male, und fonft herrſcht ein fach-
lier und rubiger Ton vor, der fo ebrlich und natiirlid) ijt, daß es der einleitenden
Verſicherungen Göhres, er hatte nichts an dem Terte gedndert, gar nicht bedarf. Der
Stil aber, in dem diefe Denkiwiirdigfeiten aufgezeichnet find, fann mit feinem befferen
Worte charafterifiert werden, als mit dem des Herausgebers, der an die Luther: Bibel
erinnert. Qn der Tat, man merft es auf jeder Seite, dag dieſes Buch die maßgebende
Lektüre des Arbeiters Karl Fiſcher geweſen iſt. Hart und tnorrig, dann wieder etwas
nachdenklich und trog allem fo gar nicht gefiiblsfeliq und gar nicht künſtlich find die
Worte dieſer Denfiwiirdigfciten, ob nun die Jugendjabre gejdildert werden, ob Menſchen
gezeichnet, die Dem Schreiber begegnet find, oder eigene Mühſal, eigenes Leid mitgeteilt.
Daf diefem Buche jegliche Sentimentalitat feblt, jegliches Mitleid mit der eigenen Perjon,
ijt vielleicht der allerſchönſte Beweis fiir die Kraft ded Menſchen, der da von fich felbjt
erzaählt. Dieſe Harte und Niichternbeit gibt auch des Karl Fiſcher ganze Weltanſchauung,
foweit er eine im laren Bewußtſein bat, und gibt den Scbliiffel dazu, wie diefes Buch
entitanden ift. Dieſer Arbeiter gebdrt ciner Beit an, in der die Wertſchätzung der
einzelnen Snbdividualitét nod gar nicht body war. Der Kampf des Einzelnen gegen
ſeine Zeit und Mitwelt, der jeded moderne Bekenntnisbuch charafterifiert, ijt bier
faum gejtreift. Hier ift der Kampf cines Standes, und an anderen Möglichkeiten
und der beutigen Niiance gemejjen, fann man nur ſagen: ein Langit hiſtoriſch ge—
wordener Kampf. Durch diefe ganzen Denkwürdigkeiten qebt immer wieder ein höchſt
primitiv-fosialer Sug. Man veritebe mich recht: es ijt feine Spur von ſozialiſtiſchen
ire Denkwürdigkeiten eines Arbciters.
Meinungen in dieſen Denkwürdigkeiten. Das ſozialiſtiſche Bewußtſein, das ſich aber
dennoch und unabſichtlich ausdrückt, liegt eben darin, daß auf den einzelnen Menſchen
fo gar keine Obacht gegeben wird. Kaum drei—- oder viermal im ganzen Verlaufe
dieſer proletariſchen Memoiren wird ein Einzelſchickſal erzählt. Und überdenkt man,
was überhaupt dieſem Manne erzählenswert erſchienen iſt, als er am Lebensabend ſein
Taſein rekapitulierte, ſo findet man: er bat nur Typiſches einer Aufzeichnung wert
gefunden, nur das, was einem jeden ſeines Standes in dieſen Jahren paſſiert iſt, hat
paffieren müſſen. Und weil er vielleicht ein Dichter geworden ware, wenn er in einen
anderen Stand bhincingewadjen ware oder cin halbes Jabrbundert fpater fein Leben
geführt bitte, fo lief es thn nicdt ruben, und er mußte das Bild der Welt, wie es
ſich in ibm geformt batte, malen. Aber das Bild” der Welt war ibm nicht das Bild
eines einzelnen, ſondern das Bild der vielen, der grofen, bart um fargen Lobn
ſchaffenden Schar.
Die Jugend wird erzählt; das Wenige, was er von den Eltern und Großeltern
weiß, ſchreibt er ganz nüchtern auf. Die Familie iſt den Weg nach abwärts gegangen,
und ſie war ganz unten, als er ſelbſt ſein Daſein begann. Er hätte den Stamm vielleicht
wieder hinaufführen ſollen; aber die Säfte waren ſchon faſt verſiegt. Der Vater ein Spieler
und Spekulant, der immer ſeine Lebenslage verbeſſern will und in einen immer tieferen
Sumpf gerät. Die Mutter von edlerer Art, aber in der Ehe erniedrigt, abgeſtumpft,
verbraucht. Die Voreltern Bürger, ſelbſtändige Menſchen, die das wechſelnde Schickſal
jener Jahre bald in die Höhe bringt, bald in die Tiefe treibt. Auch Arbeiter gibt
es unter ihnen und mancherlei unaufgeklärtes Geſchick. Das bekümmert den Memoiren—
ſchreiber wenig, und er macht auch nicht viele Bemerkungen über die ſchlechte Ehe, die
der Vater und die Mutter geführt haben. Wie dieſer Karl Fiſcher überhaupt Menſch—
liſches beurteilt, das iſt etwas Wunderſchönes. Er hat jene Weisheit, die Menſchen
höherer Stände ſelten gegeben iſt und in dieſer Natürlichkeit auch ſelten gegeben ſein
kann; denn fie fommt aus dem Zwange barter äußerer Erlebniſſe. Vom Großvater, der
einen Treubruch begangen hat, ſteht auf der erſten Seite der Denkwürdigkeiten: „Dieſes
Stück, was mein Großvater da gemacht hat, das hat mir in meiner Jugendzeit, und
noch viele Jahre nachher gar nicht gefallen, und ich wünſchte oft, da ich ohnehin ſo
wenig davon wußte, ich hatte Das auch nicht gehört; denn mir kam's nicht anders vor,
als unrecht und undankbar. Erſt fpater, als ich felber ſchon viele Jahre qearbeitet hatte,
da machte ich mir andere Gedanfen davon, und da jab ich cin, daß ich meinem Grog:
vater fein Richter nicht bin.” Und diefer Grindjag, „daß ich meinem Grofwater fein
Richter nicht bin”, gebt durch das ganje Bud. Es iſt eine cinfiltige, primitive
Pſpchologie, und in ihr birgt fich ein tiefed und ernjtes Nachdenken über die Grenze
unferes Willens den Moralgeboten gegenüber.
Man erfibrt font nicht viel fiber Großvater und Großmutter, denn die allerhand
Spinnjtubengefcbichten, die Ddiefer Familie wie faſt jeder ihr dunfles Relief geben,
werden nicht mitgeteilt, und Genaues wußte er nicht, „denn auch meine Mutter fprach
ſonſt felten oder nie von ſolchen alten Geſchichten; fie hatte allescit genug anderes zu
bedenken und gu tun”, Von den Eltern birt man naturgemäß mebr. Denn diefer
beiden Leben ijt mit feinem eigenen aufs engite verknüpft, und was dicjer Menſch
(und den meiſten von uns gebt ¢3 ja auf die gleiche Weife) in den friibejten
Jahren erlebt bat, das gibt die feitejte Grundlage fiir die Art, in die er ſpäter
hineinkommt; und wenn diefer Karl Fiſcher nicht eine fo kreuzunglückliche Ehe geſehen
Denhwviirdigheiten eines Arbeiters. 103
hätte, dann wäre er wohl kein ſo ernſter und harter und nüchterner Mann geworden.
Mit einer Offenheit, die tief ans Herz greift, ſpricht er da aus, wie es mit ſeinen
Eltern geweſen iſt. „Wenn ſich zweie ſtreiten, ſo hat nicht einer allein die Schuld,
aber hier hatte mein Vater ſicherlich die meiſte; es war einfach ſcheußlich, wie er ſich
gegen meine Mutter betragen hat, und wie er ſie behandelte, oft weder menſchlich noch
viehiſch, ſondern einfach teufliſch. Es fällt mir gar nicht ſchwer, das von meinem
Vater zu ſagen, aber es fällt mir ſchwer, meinen Vater und meine Mutter richtig zu
beſchreiben, damit ſich niemand eine falſche Vorſtellung davon macht; denn mein Vater
hat das mit der Wahrheit bei mir immer ſehr genau genommen.“
Der Niedergang der Familie ließ ſie durch mehrere Städte wandern. So ſetzt
ſchon früh ein Nomadenleben ein, das er dann auch, ein ganz unreifer Burſche von
dreizehn oder vierzehn Jahren, ſchon ſelbſtandig aufnehmen muß. Und mim lernt
man die Geſchichte kennen, wie einer früh ein Mann wird, wenn er früh in jenem
Kampfe ſteht, den man damals ja noch weder den Klaſſenkampf noch den Konkurrenz—
kampf genannt hat. Er zieht auf der Landſtraße herum, arbeitet bald an einem Bahn—
damm und bald an einer Flußbrücke, hilft Karren ſchieben und geht dann wieder die
Landſtraßen entlang, von Herberge zu Herberge, von Arbeitsſtelle zum Spital. Manchmal
hat der Lohn auch nicht gereicht, um das Logis oder die Koſt zu bezahlen, dann muß
er natürlich dem Wirte durchbrennen, und ſeine Moral weiß allmählich wenig dagegen
zu ſagen. Als es das erſtemal geſchieht, da macht es noch Eindruck auf ihn. Das
erzählt er denn auch: „Mit Recht habe ich es immer für Glück gehalten, daß der
Wirt an dieſem Morgen noch nicht aufgeſtanden war, denn zurückgehen konnte ich nicht
mehr, und hätte er mich hindern wollen, da hätte ich mich gewehrt, und wenns ihm
lein Spaß war, mir erſt recht nicht, aber lebendig hätte er das Geld von mir nicht
gekriegt. Denn ich dachte nicht mehr an die andere Welt, von der ich in der Schule
gehört und von der Jeſus Chriſtus ſo viel geſprochen hat, und war ſo nicht mehr,
wie ich in die Fremde ging, wo ich die zwei Taler Reiſegeld viel lieber meiner Mutter
dalaſſen wollte, und nachher meiner Tante damit aus der Not half, nein, das war
vorbei, ſolche Dummheiten hatte man mir in Hanau gründlich abgewöhnt. Na, mein
lieber Straß in Starkenburg, lebſt du noch, oder biſt du ſchon abgeſchieden aus dieſem
Kampfe ums Daſein? Geld habe ich immer noch nicht, aber vergeſſen habe ich dich
nicht, und daß ich dazumal habe bei dir Unterkommen gefunden. Ich habe immer
noch das alte Notizbuch, was ich bei dir hatte, wo ich alles anſchrieb, da kann ich es
immer noch ſehen, was ich verzehrt habe, und am Ende ſteht der Reſt 4 Taler und
4 Sgr., dazu 7 Taler 26 Sgr. 3 Pp, macht zuſammen 12 Taler 3 Py. Schuld. Das
war eine feblechte Tour fiir dich, aber ich fonnte felber nichts dafiir.” Ach weiß,
nidt, ob es viel ſchlichtere Beferntnifje gibt als diefe Worte, in denen ohne jegliches
VBeiwuptfein die ganze Lehre von der Willensunfreibeit der Notleidenden aus:
geſprochen ijt.
* *
Mancherlei Menſchen miſcht das Leben in ſeine Geſellſchaft, aber nur wenige
prägen ſich ihm ſo ein oder erſcheinen ihm ſo ſeltſam, daß er in den Denkwürdigkeiten
von ihnen erzählt. Deſto genauer teilt er die Methoden der Arbeit mit, welchen Lohn
er bekommen hat und wie man das meiſte aus der Arbeit herausbekommen konnte und
was übrig blieb, wenn man cine Woche fang ſich gemüht batte, Meiſt ja nicht mehr,
104 Penhwiirdighciten eines Arbeiters.
als der Sdrenfenwirt die Werktage iiber gelieben batte und was man dann fiir die
notdiirftigfte Kleidung brauchte. War aber cine Arbeit getan, fo mußte man miibfelig
auf die nächſte Wanderſchaft geben, nach irgend cinem Ort, wo, wie man gebdrt hatte,
cine Brücke gebaut, cine Eiſenbahn gefiibrt wurde. Die Zeit des Eiſenbahnbaues pragt
ſich ja überhaupt aufs deutlichjte in dieſem Buche aus, jene Seiten, wo Arbeitskräfte
geſucht waren und die qrifte Freigiigigheit der Tagelöhner etwas Selbſtverſtändliches
und Notwendiges war. Mehr als fünfundzwanzig Sabre sieht Karl Fiſcher fren; und
quer in Deutſchland herum, obne das Handwerk, das er cigentlicy gelernt bat, yu
niigen. Cr war feblecht und recht Baeergejelle geworden, weil ja auch der Vater cine
Baderei qebabt hatte. Aber wie er nur wenig von dem Handwerk verftand, fo bat er
es auch faum zu anderem Sivede gebraucht, als um fic auf der Wanderſchaft ein
Zehrgeld, die Bäckergroſchen, zu holen, wenn er ganz obne Mittel war. Die Krankbeit
hat er auch fermen gelernt, nicht ecinmal, fondern immer wieder, und von manderlei
Spitilern, quten und ſchlechten Arzten, Ordnung und feblechter Wirtichaft weif ex yu
erzählen. Und wer das Buch in die Hand nimmt, wird mit vieler Bewegung leſen,
wie er ſich cinmal von der Polizei bat beim Betteln abfangen laſſen müſſen, wm auf
dem Untivege iiber das Gefängnis ing Spital yu fommen und furiert zu werden. Und
dod ging es ibm nod beffer alg mandem anderen. So iſt wenigitens fein Gefiibl
davon geweſen. Deshalh ijt ¢3 auch etwas tief Ergreifendes, wenn er von einem
erzablt, der noc elender tar, dem das efle Leben noch beftiger zuſetzte und der auf
feine Art in die Hobe kommen konnte. Das war ein Mann namens Scharentin, der
mit ibm arbeitete, als er in Hinsbek Wagen zog. „Der arme Junge ging Anfang
November wieder fo weg, wie er im Fritbjabr gekommen war, barfuß. Cr ſtammte
aus Pommern und war zwiſchen 40 und 50 Jabre alt, und ſprach ziemlich durd die
Naſe und hatte einen ganzen Kablfopf. Seine Kleidung beftand aus ciner Hoſe und
einer Wejte, an welder ſich aber fein eingiger Knopf befand, und einem Rod, welden
er fiber Der Bruſt an cinem einzelnen Knopfe zuknöpfen fonnte, und ciner* Miike obne
Scirm; aber weiter batte er nichts, iweder Schuh, nod) PBantoffelu, noch Striimpfe,
nod Hemd, noch Jade, nod) fonft was. Die Miitge ſetzte er felten auf, aber den Rod
zog er jeden Morgen an, wenn er nach der Arbeit ging, wenn er aber bei feiner
Rippfarre angelangt war, zog cr ibn wieder aus und legte ibn beifeite, bis er zum
Frühſtück oder Mittag oder Feierabend wieder in die Budife ging, da zog ev ibn wieder
an, und trug ibn immer zugeknöpft. Und wenn er mit ſeinem Rameraden angezottelt
fam mit dem vollen Wagen und mußte fich ins Zottelzeug legen, da feuchtete einem
die fable Platte entgeqen, und ſchon ganz von weitem fonnte man ibn daran erfernen,
und an den bloßen Armen und der blofen Brujt, wenn ev einem entgegenfubr. Aber
alle die Febler vergak man gleich, wenn man mit ihm verfebrte. Er hatte febon den
ganzen Sommer fiber die Abjicht gebabt, fic) cin paar Hemden anzuſchaffen, aber er
war nicht dazu gekommen. Aber alS der Sommer yu Ende ging, da machte man ibn.
cines Abends ernithaft auf den Winter aufmerfiam, und daß er dod mindejtens Sade,
Hemd und Fußwerk haben müßte. Da gab er Beifall und freut fich tiber die Teil-
nahme und glaubte alles und fagte: ‚Ja, das iit wabr, ihr babt alle recht, ſo gebt
es nicht mebr, das muß anders werden mit mir. Was der Menſch braucht, das muß
er haben, aber Ordnung muß fein und Reinlichkeit. Ich babe mir das ſchon lange
genug vorgenommen, das könnt ihr wabrbhaftiqen Gott glauben; aber ich fann nicht
alles auf cinmal faufen, das gebt nicht, das müßt ibr bedenfen, dad gebt bloß nach
*
Denlwiirdighiten eines Arbeiters. 105
und nad, da kann ich alles anſchaffen, was ich brauche; twenn ich jest bloß erft etwas
babe, nachher gebt es ſchon beſſer. Aber zuerſt will id) ein paar Hemden haben,
Schuhwerk, das bat nods Zeit. Da fragte ibn fein Landsmann, cin anderer Pommer
mit einem großen, ſchwarzen Bollbart: Wann willſt du dir denn die Hemden ane
ſchaffen?‘ Da fagte Scharentin: ‚Gleich zur nächſten Zablung’; da fragte fei Lands-
mann: ,Wollen wir wetten, dah es nicht wabr iſt?‘ Aber wetten wollte Scarentin
nicht und fagte, es ware nicht nötig. Da fragte ibn Milde: Du kriegſt aber sur
Zablung dein Lebtag Fein Geld beraus, und der Kaufmann nimmt doch feine Puchinen,
wie willjft du das denn machen? Da fagte Scharentin beleidiqt: ‚Du frägſt ja, als
wenn du Feine hundert Fuß weit von bier yu Gaufe wärſt; das wirit du ſchon feben,
wie ich's made.’ Aber da machte Scharentin Ernſt und zottelte wader den ganzen
Tag und die ganze Zahlung, da gab's zum Feicrabend Geld und da befam er 2!'/, Taler
ausbesablt, da bat er ſich in der Budife gar nicht feben laſſen und fam aud nicht jum
Abendbrot, fondern hatte fic bloß ſeine Mütze aus der Bude gebolt und war gleich
nad dem cine halbe Stunde entfernten Städtchen gegangen, um fich Hemden yu faufen,
und hatte Ecinem Menſchen was davon geſagt. Da find wir beinabe die ganze Nacht
aufgeblicben, aber Scharentin fam nicht wieder, und fam auc am Sonntag nicht
wieder; aber am Montag hörte man im Schachte von einem einheimiſchen Arbeiter,
dev hatte ibn am Samstag in dem Städtchen ſehen aus cinem Laden kommen mit einem
Paket, und aud) cin anderer batte ibn am Sonntag Morgen fo im Städtchen gejeben.
Aber mehr fonnte man nicht erfabren, und als er aud) am Montag nicht zurückkehrte,
Da gingen wir vier Mann hod nach dem Abendejfen ins Städtchen, um ibn zu fuchen,
und gingen zunächſt nad) dem Laden, aber fonnten weiter nichts erfahren, als dak er
ſich dort cin Hemd fiir 15 Silbergroſchen gekauft hatte. Da gingen wir in die
Wirtſchaften, und in einer davon hörten wir, da war er den ganjyen Sonntag
geweſen und wäre erjt ſpät abends weggegangen und batte auch nach Hauſe gewollt,
aber Das war alles, was man erfabren konnte, und gingen beforgt wieder nach
unſeren Buden.
Mber am Dienstag Abend fam er an, ganz erſchöpft, und fab kläglich aus, jum
Erbarmen, und wußte felber wenig davon yu fagen, wo er gewejen war. Aber foviel
wußte er zu fagen, dak er am Sonntag Ahend an dem verfebrten Ende aus der
Stadt geqangen fein müßte, und hatte fic gan; und gar verlaufen, und war fein
Weg und Steq mehr, und hatte fich gefallen in Graben und in einen Wafferqraben,
und hatte fein Gemd und feine Miige verloren, und iſt liegen qeblieben und eingeſchlafen,
und ift am bellften Tag wieder aufgewacht, und wußte nicht wo, und hat fein Geld
mebr gebabt, und bat den ganzen Tag nach ſeinem Hemd und feiner Mütze gefucht,
aber vergeblich, und hatte nicht Beſcheid gewußt und wire die Nacht da liegen ge—
lieben, und hätte heut den ganzen Taq laufen müſſen und fragen, dah er wieder
hergefunden hatte, Da nabm man ihn aus feiner Bude mit nach der Budife, und
jeder war frob, da er wieder da war, und einer ließ ibm einen großen Sdmaps
geben, und cin anderer Brot, und ein anderer Wurſt, und als er fich wieder erbolt
hatte und wieder fprach, da vergaß er fein Elend, und es gab nods einen beiteren
Abend. Aber es war ibm zuletzt yu arg, er hatte aud feine PBuchinchen, und ging
früher alS gewöhnlich nach feiner Bude. Da fagte einer bedauerlich: ,Ovchjtens nod
ein paar Jahr, da ift er bin’; da rief Mücke: Gach, fo lange gebe ic ibm gar nicht
mehr, ich vermute ſtark, daß er dieſen Winter ſchon abgebt.‘”
106 Denkwürdigleiten eines Arbeiters.
Das ijt das cine Mal, wo er von einem fremden Sebidjal berichtet, und dann
geſchieht es noch cinmal, vielleicht das einzige Mal, wo es cin rechteds urperſönliches
Erlebnis iſt, das ihm der Mühe des Aufſchreibens wert erſcheint. „Da waren zwei
Schlachtergeſellen, der eine hieß Mücke und ſtammte aus Schleſien oder Poſen, der
andere hieß Mucho und ſtammte aus Prenzlau oder Paſewalk, und’ Mücke erzählte
dem anderen, wie er vor ein paar Jahren längere Zeit in Nordhauſen gearbeitet hätte
in einer großen Schlachterei, wo noch mehr Geſellen waren, und wie er da eine
Meiſterstochter yur Braut hatte, und wie er da plötzlich wäre fremd geworden. Da
wäre er eines Tages kurz vor Tiſche nach der benachbarten Wirtſchaft gegangen, um
einen Nordhäuſer zu trinken, und batten den Morgen viel zu tun gehabt und hatte
nicht eher gekonnt, und traf da Bekannte und babe noch mehr Nordhäuſer getrunken,
und kam zu ſpät zu Tiſche, und die anderen waren gerade fertig mit Eſſen. Da lag
wohl ſeine Bratwurſt auf dem Teller, aber in der Schüſſel bloß noch 4 Kartoffeln und
wenig Sauerkraut. Da bat er Spektakel gemacht und geſchimpft, und daß das Fein
Eſſen wire, und bat nicht angefangen zu effen. Da batten fie es dem Meijter gefagt,
der iſt gefommen und bat auch geſchimpft und bat gefagt: Kartoffeln und Sanerfraut
ijt in Mordhaujen cin Feiertagseffen, aber warte mur, du follit gleich was anderes
haben. Da ging der Meijter raus, und als er wiederfam, hatte er cine große Schlacht:
ſchüſſel voll Wurſt, lauter Schlackwurſt von der erjten Corte und hatte einige lange
Schlackwürſte zerſchnitten in lauter handliche Enden und ſetzte ihm die Scbhiiffel vor,
Da war Miide erſchrocken, und fiiblte fich beleidigt, und hörte auf yu arbeiten. Aber
nad Jahresfriſt iit er wieder nad Nordhauſen gekommen, aber abgerifien und verlumpt
und bat ibn feiner mebr gefannt, und mußte notgedrungen alle Schlächterläden ab—
bettefn, und fam aud in den Laden, wo feine Braut wobnte, und als die Ladentiire
geflingelt batte, fam fie felber, und er fagte: das ware fein Spa geweſen, und er
hätte fics abwenden müſſen, als fic ibm die Bettelpfennigqe jugereidt bat. Aber als
er aus Dem Laden ging, da hatte fie ihn erfannt und Auguſt gerufen, und wenn
fie ibm da gleich nachgekommen wäre, bitte fie ibn erreicht; denn als er kaum zwei
Häuſer weiter war, da mute er ftehen bleiben, und feine Füße ſchwankten, und mußte
jic> an das Haus anlehnen, um nicht niedersufallen; da war ein Fleiner Gang oder
Schlippe, dabin ftellte er fics, und lebnte fic an die Wand. Da fam fle gelaufen
und hatte ſich ein Tuch umgeſchlagen, und lief die Straße binunter, da raffte
ev ſich auf und ging in entgegengefester Richtung aus der Stadt, denn er brauddte
nicht wieder nach dev Herberge, weil er feinen Berliner hatte, und bat uns das alles
ganz ausführlich erzählt.“
Dieſes iſt die einzige Stelle in den Denkwürdigkeiten, wo mit einiger Ausführlichkeit,
ja ſogar Innerlichkeit, von der Beziehung eines Mannes zu einer Frau die Rede iſt.
Denn es iſt geradezu verblüffend und aufs höchſte abſonderlich, daß in dieſen ganzen
höchſt offenen und nichts weniger als prüden oder zurückhaltenden Memoiren nicht von
einem Mädchen oder einer Frau die Rede iſt, zu der es dieſen Mann auf die eine oder
andere Art gezogen hat. Nichts vom Sexuellen ſteht drin, nichts vom Erotiſchen, nichts
yom Seeliſchen (wenn man nämlich durchaus ſolche hartherzige Teilung machen will fir
dieſe cine Triebkraft des Lebens). Cr bat ein Vagabondenleben geführt, und von der
„Schickſe“ ift fein Wort yu hören. Cr ijt dann ſechzehn Jabre als ſeßhafter Arbeiter
in einer Fabrik in Osnabrück geweſen, und er bat mit keinem Weib zuſammengelebt
und feine geebelicht. Cr erzählt aber auch von feinem Schickſal, dad ihm widerfabren
Tenhwirbdiglciten eines Arbeiters. 107
ſei in ſolcher Hinſicht und das vielleicht den Grund zu ſolchem Hageſtolzleben gegeben
bitte. Rein Wort ijt von einer Frau geſagt, fein Wort von Erotik ſteht in dieſen
Denhwiirdigfciten. Richt, was ibn felbjt betrifft, und faſt nicht, was andere anbelangt.
Dieje treibende Kraft des Lebens fpielt nach dem Welthilde des UArbeiters Karl Fiſcher
feine Rolle. Herr Paul Göhre, den ich deswegen anfragte, weil es ja möglich geweſen
wire, Da dicfe Stellen aus dem Manuſtript geſtrichen worden feien, bat mir freund—
fichft sur Untwort geaeben, da es niemals in Dem Manuſkripte auch nur eine An—
dentung ſolcher Art gegeben babe und auch in Briefen und mündlichen Gejprachen,
die er mit Dem Verfaſſer geführt batte, keinerlei Erwähnung erotijcher Dinge geſchehen
ſei. Man muß alfo in das Bild, das man von dieſem Menſchen befonunt, diefen
Sug aufnehmen, wie er uns ebrlids gegeben wird: er hat von Frauen nie etwas
gewupt, nie etwas gefpiirt. Die Romanſchreiber mögen ſich derlei ſehnſuchtsloſes
Schickſal anmerfen.
Sechzehn Fabre figt Karl Fifer in Osnabrück in einer Fabrif, in der Steine
qeformt werden, Gefäße gemadt, getöpft. Er fommt binein als cin Mann, der feinen
Handgriff fam, in jener Beit eben, in der eS nods Feine fejte Regelung der Arbeit
gibt. Die FKabrifen find eben exit im Entitehen, die Preife der Materialien ſchwanken,
die Preife der Erzeugniſſe find ebenſo wenig felt wie die Löhne. Bald arbeitet man
auf Afford, bald dem Tagelobn nach, aber je nach der Ronjunftur werden die Löhne
gekürzt, und des Arbeiters Leben bat feinerlei Sicherheit. Daven erfabrt man denn
aud vielerlet, cbenfo wie von den kleinen Durchdrückereien zwiſchen den Werkmeiftern und
den Urbeitern, und bier feblagt noch immer wieder das Gefühl de nicdrigen Fabrif:
arbeiters Durd, der Das Mißverhältnis zwiſchen feiner Arbeit und dem Erträgnis der
ganzen Unternehmung fpiiren muß, und jene Verachtung gegen die Direftoren wird
laut, Die nicht veriteben fann, dah cin Mann, der felbjt Frum cinen Stein yu machen
im ftande ijt, Der Leiter ciner ganzen Steinfabrif fein fann. Bon ſozialiſtiſchen Bor:
ftelluiigen oder gar Forderungen ijt noch feine Rede. Nur das dunkle Empfinden eines
allgemeinen Unrechtes, Das Dem ganzen Stande geſchieht, ciner Bedrückung ift natürlich
ſchon vorhanden. Dian fpiirt aufs deutlicjte die Nberqangsyeit, in der dieſer Karl
Fiſcher arbeitet. Er wird alt, während die junge Bewegung der Arbeiterorganifation
cinfest, und er fann ſich weder innerlich noch äußerlich ihr anſchließen und bat nod
feine Ahnung von dem Werte des Zuſammenſchluſſes von Menſchen der qleichen Klaſſe.
Schon frither, als er noch cin Arbeitsnomade war, bat er ja gelernt, daß man fic
nicht Lange mit jenem aufbalten diirfe, der in feinem Berufe yu qrunde gebt. Er ijt
einfach einer unter den vielen, und wenn im Schachte bei der Arbeit cin Mann
erſchlagen worden ijt, fo gebt das Leben und die Arbeit dennoch weiter, kaum dah
cin Menſch dem Geftorbenen das Leste Geleite gibt. Der einzelne ift eben nicht viel
wert. ‚Die elende Maſſe iſt um des Cinen, des Beften willen dat — aber dieſe
Vagantenweisheit des Gorkij iit dem deutſchen barten Verftande des Zufrühgeborenen
fremd. In der Fabrik wird er alt, überzählig, Menſchen kommen und geben, nur
er bleibt, weil er morſch iff amd kaum mebr weg kann. Bon cinem Zweige der
Tatigfeit der Fabrik fommt er zum anderen, die Libre werden immer geringer, feine
Arbeit immer weniger geſchätzt. Denn Arbeiter, die die beſten Handgriffe gelernt
haben und in dieſem befonderen Handwerke auferzogen worden find, treten neben thin
108 Dentwiirdighiten cined Arbeiters.
cin, und bie können es beffer machen. Er wird immer frember in feiner Umgebung,
immer einſamer. Cine neue Zeit ift angebroden, und die Arbeiter geben fogar
wählen. Wher fiir die politiſchen Rechte hat diefer Mann nod fein Verſtändnis.
Derlet ijt ihm gleicbgiltig. Doch eS ijt wertvoll zu hören, wie ¢3 damit zu—
gegangen iſt.
„Als ich nad Osnabrück fam, da hatte ich noch keinen Verſtand: weder von
Politik noch von den Parteien, denn ich hatte mich nie um dergleichen gekümmert und
war auch kein Zeitungsleſer. Da war ich nicht wenig verlegen, als 1871 die
Reichstagswahl war, da bekamen wir am Wabltage ſchon mittags Feierabend, damit
wir alle wählen fonnten. Zwar war auf dem Stablwerf nicht das geringite befannt
gemacht oder angefdlagen: wen man wählen follte, aber weil wir deswegen itberbaupt
Urlauh befamen und cinen balben Tag feiern mußten: da nabm ic die Cache ernft
und bedachte, da ich wählen müßte. Aber derzeit war id) nod) bei den Maurern
und mit einer ganzen Anzahl derfelben im Wirtshaus in Quartier, und es ging
wabhrend und nach dem Eſſen laut genug ber, und ich hörte, daß fie alle wählen
wollten. Aber die meijten davon ftammten aus dem Göttingenſchen und waren fatholifd und
waren auch welfiſch Gefinnte darunter, und ich merfte, daß wobl die Katholiſchen und die
welfiſch Geſinnten zuſammenhielten, um ein und denfelben ju wählen. Aber da id
nidt katholiſch noc welfiſch, ſondern bloß gut preußiſch gefinnt war, da mufte ich den
anderen wablen, aber der gefiel mir freilids auch nicht fonderlics, denn er war zwar nicht
katholiſch und auch nicht welfifeh, aber er war Biirgermeifter in Osnabriid, und die
Biirgermeifter hatte id) im Magen, wenn ich auch nicht davon ſprach. Wher es war
weiter keine Muswabl, da ging ich die Treppe binauf und zog mich etwas um, und
als ic) wieder berunterfam, hatte ich Durſt gefriegt von dem Pökelknochen, und blieb
im OHausflur vor dem Ladentijeh fteben, weil die Wirtin gerade im Laden war und
ließ mir ein Glos Bier geben, da trank ich das Bier halb aus, da fragte mich die
Wirtin: ‚Na, foll’s jur Wahl geben?! Da bejahte ich und tranf mein Bier aus, da
fragte fie: ,Wen wählen Sie denn? Da fagte ich unbefangen: ,Miquel’, dba fagte
fie faut im belebrenden Tone: Ach, wählen Sie dod) den Schweinehund nicht!’ Da
wollte ic nadberes von der Frau erfabren und wollte fie fragen und fagte: Ja, ich
traue ibm aud) nicht recht, aber da wurde fie in dic Küche gerufen, da ging ich febr
beflontmen aus dem Hauſe. Aber ich fannte den Kandidaten gar nidt und war bloß
deswegen miftranife, weil er zu den Biirgermeifters gehörte, aber meine Wirtin
mufte das doch wiſſen, Da verlor ich dad bißchen Luft wieder und modjte den
Viirgermeijter aud) niet mehr haben und beſchloß: gar nicht yu wablen, und anjtatt
nad dem Wabllofal ging ich ins Gartlager Holy fpazieren. Da war ich ſchnell
meine Beklommenheit wieder los, und wunderte mich nicht wenig fiber mich felber,
und wie ich anf die Gedanfen gekommen war, dah ich hatte wählen wollen, und
wollte mich in Zukunft nicht wieder mit ſolchen Gedanten befaffen.
Aber drei Jahre ſpäter ging das nämliche Stück wieder los, mur weit feierlicher.
Da hatte ich mir ſchon ziemlich dad Reitungslejen angewöhnt in der Wirtſchaft und
hatte daraus qelernt, dah die eine Partei ultramontan und die andere Liberal hieß,
und jede Partet hatte cine Seitung, und beide Zeitungen kamen täglich nach der
Wirtſchaft; aber dad will id) verfichern! da gingen mir die Augen über! denn ich
nahm das ailes fiir Ernjt, und las ſich auch nicht anders als ob es Ernſt wäre.
Aber am legten Tage vor der Wahl hatte der Meijter in der Werkſtatt cine Befannt-
Denkwilrdigkeiten cines Arbeiters. 109
madung mitgeteilt, die ich nicht mit angebirt hatte, da fam er nach mir bin und
fagte mit lauter Rommandojtinme: ,Gabt ibrs gehört Michel? Alfo morgen friih
fauber antreten, um zehn Ubr mit Gut und Stod! Mann fiir Mann, da ſollt ibr
wiblen! dba gebt’s im Suge nad) der Stadt, da wird gewablt! Da hörte ich: dah fich
morgen das ganje StabhverE verſammeln und im Zuge mit Fabnen und Muſik yur
Stadt ziehen follte sur Wahl, aber dazu hatte ich feine Luft und wollte mit dem
ganzen gräulichen Cpeftafel nicht das geringite yu tum haben, und blieb bei meinem
Vorfag: nicht zu wählen. Da wurde am Wabltage gar nicht qearbeitet, man hatte
den ganjen Tag fret und ic war froh, daß ich cinen ganzen Tag lang aus dem
Staube herausfam, und machte cinen weiten Weg und febrte erjt abends beim. Da
qing icy amt anderen Morgen wieder zur Arbeit, aber ich hatte kaum angefangen, da
fam ein Befannter aus einer anderen Werfftatt und fragte mich: warum ich nicht
gewählt hätte. Da mufte ic) anid) wundern, wober der Freund das wiſſen fonnte
und fragte ibn danad, da hörte ids: daß die liberale Partei geftegt hatte und fie
waren geftern Abend alle anf dem Schützenhof geweſen und batten das Bier umſonſt
befommen und Butterbrote dazu und fie batten viel Spaß qebabt, und einer bitte
zuviel getrunken und wollte immer nod) mebr haben, da batten fie ibn rausgeworfen
und da hatte er gerufen: Was? mitgejtimmt: und ic werde bier fo bebandelt? na
wart mut, das werde ich mir merfen!! Aber vor Schluß hatte der Herr Direftor ein
Verzeichnis erhalten, in welchem diejenigen Arbeiter verzeichnet waren, die nicht gewählt
hatter, da bitte er die Namen derfelben laut verlefen, und Daher wupte der Freund,
dag ic) nicht gewählt hatte. Da wurde ich etwas ängſtlich, daß ich am Ende von
ber ganjen Gefchichte nod) Unannehmlichkeiten hatte, aber das dauerte bloß bis Frühſtück.
Denn bald nach Friibjtiid fam der Meifter ohne Rod und ohne Tabakpfeife, aber
aufgeregt und mit rotem Geſicht und ging mit großen Sebritten vor meinem Plage
auf und ab und war augenſcheinlich bei febr ſchlechter Laune und hatte ſich den
ganzen Morgen noch nicht feben laſſen in der Werkſtatt, fondern war anf feinem
Simmer geblieben; da merfte ich Gewitterluft und wünſchte, dap id) geſtern gewählt
hatte. Da hielt der Meiſter in feinem Gang time und fragte mich mit erzwungener
Rube, aber nicht unfreundlich: Wo ſeid ihr denn geftern gewejen, ich habe eud)
ja garnit gefeben?? Da fagte id: Ich bin geftern über Land geweſen, ich batte
einen notwendigen Gang über Land.‘ Aber da legte er (oS und rief mit gewaltiger
Stimme jorniq und wütend in die Werkitatt: Das paffiert mir nit wieder! Ihr
ganzen Kerls feid alle jufammen feinen Schuß Pulver wert! Co cine verfluchte
Wirtſchaft wie hier han ich noch nit erlebt! Deh han mich geftern geſchämt vor die
Yeute in der Verſammlung. Wie ein Hornvieh läuft man mit dem Zuge durd die gauge
Stadt! Laßt mir nur den Michel laujen! Der iit gerade fo wie ich, der hat mehr
Berftand wie ibr alle zuſammen. Das ijt gerade mein Mann! dev bat ganz meine
Medanten: wenn er ſich nur anders machte!‘ Da unterbrads fic) der Meijter, denn
er fab durchs Fenjter den Fleinen budligen Sebreiber grade auf die Steinfabri€
zukommen, und er trug ein groped blaues Geft unterm Arm, da fagte er: Ma was
bringt denn dev? Da legte der Schreiber cine Lilte vor, in welder ſich jeder mit
cinem Beitrag yu der geftrigen Muſik cintragen follte, aber als der Meijter das hörte,
da ſchrieb er ſchnell cine fibergrofe Null auf die Liſte und wies darauf bin und fagte:
So, das gilt fir meine ganze Werkftatt!’ Da nahm der Sehreiber das Heft wieder
unter Den Arm und ging damit ab. Da fagte der Meifter etwas beſänftigt: ,Das ijt
110 Denfwiirdiateiten cines Arbeiters.
ſchnell gegangen, wenn er überall ſolche Gefchafte macht, da laßt die Mujifanten
jeben, two fie das Geld herkriegen, id) habe keine Muſik beftellt!’ Da wollte der
Meifter weggeben, aber da wandte er fied noch einmal an mich und fam mir mit dem
Geſicht gan; nabe und ſagte wieder laut und böſe: ‚Da hättet ihr nur vorgeftern
nur ein einziges Wort yu fagen brauden, da war's gut, da fam die Sacre anders!
Damit ging er weg. Da war ic wegen der Wahlgeſchichte Lerubigt und hatte mir
nods dazu Die Gunft des Meifters erworben.“
* *
*
In die Worte des Berichtes kommt, wenn Karl Fiſcher von ſeinem Sonntags—
vergnügen erzählt, ſo etwas wie ein leiſer poetiſcher Hauch. Das deutſche Gemüt dieſes
Mannes, man kann es wohl nicht anders nennen, wird wach. Werktags begegnet ihm
ſein ganzes Leben hindurch immer wieder der Druck, die Ungerechtigkeit. Aber auch dann,
wenn er ſich am Sonntag hinausflüchtet, wird ſein Lebensgefühl gepreßt. Er möchte
fiſchen und hat zu erfahren, daß es dazu eines Rechtes bedarf, und das hat er nicht.
So bleibt ihm denn ſchließlich nur das Betrachten und das Genießen der ſtillen und
einſamen Natur. Die Kraft aber, mit der ſich dieſe Eindrücke in ſeine Seele geprägt
haben, offenbart ſich in den Sätzen, die er da aufzuſchreiben vermag: „Wenn ich die
ganze Woche Staub geſchluckt hatte, ſo blieb ich Sonntags nicht gern im Hauſe oder
in der Wirtſchaft. Wenn das Wetter nur einigermaßen gut war, ging ich über Land,
und zur Sommerszeit ging ich oft angeln, da konnte man ſich auf ſo mancher Stelle
dabei niederſetzen und fic) in der ſchönen, reinen Wald- und Wieſenluft ausruhen, das
war ganz was anderes als in der Werkſtatt.“ ‚Das war ganz was anderes‘ —
können denn Dichter beweglichere Worte erſinnen? .....
Sechzehn Jabre bat er gearbeitet, und dann bat er keinen Wert mehr fiir die
Menfchen, für das Unternehmen, fiir das er bisher gearbeitet hat. Er wird auch wirr
im Nopfe und mide, „Da vergingen die Jabre weiter, da war aud jene Beit ſchon
längſt vergangen, an welder alles qut war, da verging mir alle Luft, noch flanger
das mitanjufeben und zu hören, denn meine Arbeit nützte mir ſchon jabrelang gar
nichts mebr.” Er befommt nur nod die feblechteft bezahlten Dinge yu tun, und
immerfort gibt e3 Reibungen mit dem Werfmeiiter. Immer öfter heißt es vom Leben,
eS fei cel”, und jenes Bewußtſein von der Realitdt des Lebens, den Konſequenzen
alles Tuns, das ev fonft aufs ſchärfſte qebabt bat, fangt an nachzulaſſen. Cr denft
aufs beftigite dariiber nad, wie er aus dem Elend, aus der Sackgaſſe, in die er geraten
iit, herausfommmen finnte, aber ibm fehlt die raft, num wieder ins Ungewiſſe hinaus—
zugehen. est wendet fic diefer Mann, der fein Lebtag lang nüchtern geſchafft hatte,
im Alter zu Gebeten, zu Gott, yu Träumen und yu Viſionen, und in einer feltjamen,
balb abergliubijden, balb frommen Weije fonunt ibm das Gebot, er folle aufbeqebren,
und das Unrecht, das ibm geſchieht, Laut bei der Arbeit vor allen Genoſſen dem
Meifter verkünden. Wher natürlich geſchieht da nur das cine, daß man ibm kündigt
und er nad vierzehn Tagen weggeben muß. Da wird fein Geift natürlich nod un—
Flarer, und er fann es nicht begreifen, wie man ibn jest plötzlich nach Jahren binaus-
jtopen fann. Die vierzehn Kiimdigungstage tut er fein Werk, dann will er mit dem
Direftor der Fabrif Abrechnung halten. Cr muh alferlet mit anfeben, bevor er mit
dem Manne fprechen fann, und es gelingt ibm nicht zu begreifen, wie wenig diefer
entlafjene Arbeiter in Dem großen Betrieh bedeutet. Raum, dag er im Zimmer des
Kunjtersichungsfragen. 111
Direftors ijt, ijt er auch febon wieder draufen, und ec fann nur nod durchs Fenſter
jeinen Zorn in beftigen Worten entladen. Dann muß er wieder hinaus in die Armut,
in Die Mot des Alters. Die Tragif ſeines Lebens aber, daß wabrend der fiinfund-
vierzig Sabre feiner Arbeit die Seiten fic) geändert baben, er aber nicht in ibnen,
merft er felbjt wohl nicht. .
Nüchtern, wie es begonnen bat, endet das Buch. Rein pathetiſches Wort ſteht
Darin, und viclleict gerade darum fann man nicht zwei Seiten daraus lejen, obne
cin ftart wirfendes Gefühl vom Leben zu erhalten.
BE
Kunsterzichungsiragen.
Bon
Gertrud Baumer.
Radorud verboten.
unt zweitenmal baben Niinjtler, Kunſtfreunde, Kritiker und Literaten fich mit
dem Lehrer vereinigt, um cinem großen neuen Prinzip in der Erziehung des
Rindes Zur Herricaft zu verbelfen: der Runit. Ich jage einem neuen Prinjip,
denn es bandelt fics nicht um neue Lehrgegenſtände — auch nur in beſchränktem
Mage unt neue Stoffe, fondern es handelt jich um eine nene Auffaſſung der Erziehungs—
aufgabe überhaupt, um eine neve Auffaſſung ibrer pſychologiſchen Grundlagen, ihrer
Bicle und ibrer Methode.
Der erjte „Kunſterziehungstag“ in Dresden vor zwei Jahren hatte ſich die
Aufgabe geftellt, iiber die neue Bedeutung der bildenden Kunſt fiir die Schule yu
ſprechen. Wan batte cine Anzahl von Männern, die man aus irgend cinem Grunde
fiir Sachverſtändige balten durfte, cingeladen und die Teilnabme an den Verhandlungen
auf diefe Cingeladenen beſchränkt.
Die fiir died Verfabren maggebenden Grundſätze wird jeder billigen, der wei,
wie in Verjammlungen mit unbeſchränkter Oifentlichbfeit die Distuffion durchaus nicht
immer von denen beherrſcht wird, die wirflids etwas zu fagen haben, fondern vielfads
von folcen, bei denen die Sachveritindigfeit nur cine ungerechtfertigte perſönliche
Uberzeugung iſt.
Für den Kunſterziehungs- Kongreß dieſes Jahres, der vom 9.—11. Oktober in
Weimar tagte, war man den gleichen Grundſätzen gefolgt — mit dem einen löblichen
Unterſchied, daß, während der Dresdener Tag Frauen iiberhaupt in der Lijte der Sach—
verſtändigen ausgelaſſen batte, man diesmal wenigitens Vertreterinmen des Allgemeinen
Deutſchen Lebrerinnenvereins, Lebrerinnen des Peſtalozzi-Fröbelhauſes zu Berlin und
cinige Sebviftitellerinnen eingeladen hatte. Auf dem Programm der Tagung ſtand
„Deutſche Sprade und Didtung”. Unter den Vortragenden waren u. a.
Web. Cber-Regierungsrat Prof. Dr. Waetzoldt, Otto Ernſt, Landtagsabgeordneter
Hadenberg, Heinrich Hart, Lichtwark.
112 Aunſterziehungsfragen.
Wenn man die Weite und Tiefe des neuen Prinzips bedenkt und wenn man
bedenkt, daß hier Menſchen der verſchiedenſten Sphären geiſtigen Lebens und geiſtiger
Tätigkeit ſich die Möglichkeit einer gemeinſamen Arbeit an dieſem Reuen zu ſchaffen
batten, fo begreift man die Schwierigkeit, an zwei kurzen Vormittagen zu irgend
welchen, wenn auch nur ideellen Ergebniſſen zu kommen. So kennzeichnete denn auch
den Gang der Diskuſſion ein gewiſſes unſicheres Taſten nach Verſtändigung; feine
Fäden, die hier und da von einem Redner zum anderen ſich ſpannen, wurden durch
ein Mißverſtehen in Einzelheiten jäh wieder zerriſſen; immer wieder trat hervor, daß
man wohl das Prinzip ſelbſt gefühlsmäßig erfaßt, es aber noch keineswegs in ſeiner
Anwendung ganz durchdacht hatte; die Verſchiedenheiten der äſthetiſchen, literariſchen
und pädagogiſchen Durchbildung erſchwerten ein Zuſammentreffen der Anſichten. Es
war gut und nüßlich, daß der Vorſitzende ſich durch Fein Drängen yu Abſtimmungen
und Reſolutionen bejtimmen ließ. — Aber trog all dieſer Schwierigkeiten: es wehte
doch durch die ganzen Verhandlungen ein friſcher und feiner Geiſt; das Bewußtſein
von dem, was der modernen Schule, der Schule der Zukunft, not tut, war, wenn
auch oft noch nicht geklärt, doch um ſo intenſiver und tatendurſtiger. Man ſpürte es,
die Schule rückt hinein in die Sphäre, in der ſich die geiſtigen Lebenskräfte der Zukunft
emporringen, und die Weimarer Tage bedeuten, dah eine neue Kraftſtation fiir dieſen
neuen Geiſt in unferer Pädagogik geſchaffen wurde, von der die Strdme kräftig binaus-
ftrablen werden in Schule und Familie.
Das Programm ſchloß ſich eng an den Grundgedanfen, den der Kunſterziehungs—
tag fiir feine neue Pädagogik geprägt bat: Erhöhung der perſönlichen Ausdrucksfähig—
feit, in erſter Linie durch Bildung des Ausdrucks iiberbaupt, in weiter durch Einführung
in da8 Charafterijtijche des künſtleriſchen Ausdrucks. So fpracen nad den ecinleitenden
Worten des Geb. Rats Waetzoldt am eriten Tage Otto Ernſt über Lefen, Vorleſen
und mündliche Wiedergabe des Kunſtwerks, Landtagsabgeordneter Pfarrer Hadenberg
fiber den mündlichen MWusdrud (das freie Sprechen), Prof. Dr. Dies; über den
ſchriftlichen Musdruc (den Aufſatzz; am zweiten Tage Heinrichs Hart über die
Auswahl, Prof. Dr. Rudolf Lehmann fiber die Behandlung der dichterifehen Kunſt—
werfe in der Schule, Hauptlebrer Wolgaft ber Jugendſchrift, Schulbibliothek und
billige Buchausgaben, der Direftor des Berliner Schillertheaters Dr. Raphael
Liwenfeld über Schiilervorftellungen.
Diefe Zwanzigminuten-Referate fonnten ibren Gegenjtand natürlich keineswegs
erfcbdpfen, oder aud nur jeinem Wefen nach alljeitig beleuchten. Cie mußten fic
beqniigen, andeutend nur die Umriſſe zu geben, und bier und da ein einzelnes
auszuführen. Bei ſolchem Zwang zu ſummariſchem Verfahren fiel naturgemäß cin
größeres Gewicht auf Kritik und Theorie, als auf poſitive Vorſchläge und praktiſche
Erwägung, und auch die Diskuſſion pflegte mehr bei der Erörterung der Prinzipien
zu verweilen, als auf die Möglichkeiten und Wege ihrer vraktiſchen Durchführung
einzugehen.
In den Grundanſchauungen zeigte ſich Einſtimmigkeit oder beſſer geſagt:
Harmonie. Daf die Schule das Kind ſtumm macht, ftatt die naive Kunſt ſeines
ſprachlichen Wusdruds zu ebren und zart zu entwickeln, ijt fecbon eine Einſicht, die von
unendlicher Tragiveite fiir unfere ſprachliche Sebulineijteret werden kann. Werden
fann, denn die conditio sine qua non: ein Yebrer und nun gar ein Yebrerftand,
der nicht nur von diefem neuen pädagogiſchen Grundjag durchtränkt ift, wie fein miß—
Kunſterziehungsfragen. 113
adteter Vorganger von der Formaljtufenweisheit, fondern feinfiiblig genug ijt fiir
jolche int eminentejten Sinn künſtleriſchen Aufgaben, der ijt nicht fo ſchnell hingeftellt,
wie clit Grundſatz ausgeſprochen und verbreitet wird. Und wenn mm dies Stumm—
werden des Kindes in der Schule und durch die Schule, die Störung ſeines innigen
und lebendigen Verbaltniffes zur Sprache auf die falte, rationaliſtiſche Redſeligkeit
und die gegen den Dichter und das Kind qleich indistrete, yerfafernde Fragewut
unferer Yebrmethoden zurückgeführt wird, fo wird das vielleicht belfen, daß die Rechte
des Vrrationellen, des Umvdgbaren, Stimmunghaften aud in der Schule ein wenig
mebr geachtet werden, dak Sinnenfreudigfeit und Humor nicht mebr Rontrebande im
Tempel der reinen Vernunft find, an deffen Pforte das, nicht fiir die Schule, fondern
fiir Dad Leben lernen wir” ſich oft fat cin wenig ironife machte.
Natürlich fprac in der Begeiſterung für dieſes Eintauchen der ganzen Pädagogik
in Schönheit und Freude auch ein wenig das Pathos der Oppoſition mit, und der
Proteſt gegen den Drill nahm mit deutlicher Vorliebe die Geſtalt eines Proteſtes gegen die
Gewalten des Grünen Tiſches an. Auch ging man in einem gewiſſen äſthetiſchen Puritaner—
tum cin wenig zu fanatiſch gegen alle anderen als die rein äſthetiſchen Faktoren im
Deutſchen Unterricht vor. Cine übergroße Nervoſität gegen das Tendenjidfe verurteilte
aud da, wo die Tendenz Fiinitlerife ihr Recht hatte. Der Individualismus geriet
Dabet zuweilen mit fic) felbjt in Widerfprucd: auf der cinen Seite foll die
Auswahl des Leſeſtoffs ſich nach der Neigung der Kinder richten, auf der anderen
ſoll ibnen dod) nur dad Kunſtwerk geboten werden, den dreizebnjährigen Kleiſts
Kohlhaas oder Hermann und Dorothea. Ya, es wurde fogar einmal verlangt, es follte
dem Lehrer überlaſſen fein, Religions: oder Gedichtitunde zu geben, wenn et in der
Stimmung dagu fei.
Mir ſcheint dic GHauptgefabr fiir die ganze Bewegung darin yu fliegen, da man
Bedürfniſſe und Fähigkeiten der Wenigen als Norm feet, fowobl in bezug auf Lebrer
als auf Rinder, und fied über die durch Die Vielen beſtimmten Möglichkeiten der Ber:
wirklichung binwegfest. Und — was damit zuſammenhäugt — daß aus der Kunſt—
erziehung wieder cine Doktrin gemacht wird, die andere Erziehungsfaktoren hochmütig
beijeite fcbiebt, und das cigene eigentliche Wefen ded Neuen, die immer bereite leiſe
Anpaſſungsfähigkeit in einem Zwang eritarren läßt, der vielleicht noch bedenflicher ijt,
wie der unferes berrfchenden Intellektualismus.
Die Frage der Kunſterziehung iſt eben nicht — wie immer wieder geſagt wurde —
vor allem cine Frage der Schulverwaltung: vor allem ijt fie cine Frage des
Yebrers. Dah die große Maſſe unferer Lehrer und Lebrerinnen jest ſchon den feinen
Aufgaben, die ibnen die neue Bewegung ftellt, gewachſen feien, wird niemand bebaupten
wollen. Immerhin zeigt die Friſche und Begeiſterung, mit der gerade in ibren Kreifen
dieſe Aufgaben in Angriff genommen werden, dak bier innere Kräfte dem Neuen
entgegenformen, auf die man ficherlicy allerlei ſchöne Zukunfthoffnungen bauen fann,
114
Cine landwirtschaffliche Schule fiir Prauen in @ngland.
Ben
RA. I. Schmidt.
Raddrud verboten. —
An England ſowohl wie in Deutſchland wird die bellagenswerte Tatſache der Ent:
X vilterung des Landes immer augenjdeinlider, und viele Verſuche find bereits
gemadt worden, um dem Strom der Auswanderung der Landbewohner nad den grofen
Stadten Ginhalt zu tun. Nicht am wenigiten erbofft man bei diefen Verſuchen von
der Mitwirfung der Frauen, auf die eS ja jehr wejentlidh anfommt, wenn alle Umſtände
fic) vereinigen ſollen, um die Landwirtidaft yu einem lohnenden und zugleich reizvollen
Beruf zu machen. Befondere Riidjicht nimmt man in England naturgemäß auf folche,
bie den Wunſch haben, hinausjuziehen fiber das Meer, um dort dem Boden eine
Eriftens abjugewinnen, die ibnen das Mutterland nicht (anger gewabrieiften fonnte.
Auch dabei wird auf Frauenhilfe gerechnet, denn nur zu häufig ift die Tatigfeit einer
weibliden Perfon in den Riederlaffungen der Rolonijten von ebenjo weitgehender
Bedeutung wie diejenige des Manned.
Unter diefen Verhaltniffen Hat fich in den legten Jabren aud) in England in den
Anfhauungen fiber landwirtidhaftlide Frauenarbeit ein Umſchwung volljogen, jo daß
man es beutzutage gang ſelbſtverſtändlich findet, wenn Frauen ſich gleichscitig mit
Männern in den verfchiedenen Gebieten der Landwirtſchaft theoretijd und. praktiſch
ausbilden, befonders, wenn es ſich Darum handelt, fich einen Erwerbszweig dadurch zu
verſchaffen. Wohl haben gebildete Frauen unter dem Drucd der Verhältniſſe ſchon
öfter größeren landwirtſchaftlichen Betrieben vorgeftanden und Tiichtiges darin geleiftet,
obwobl fie mit bedcutenden Schwierigfeiten dabet zu fampfen batten. Jetzt denft man
aud daran, durch geeignete Uusbildungsanftalten auc) Frauen andrer Bevdlferung?-
klaſſen in ftand zu jfegen, die Landwirtidaft zum Lebensberuf zu machen, gu einem
qefiinderen und Llobnenderen Beruf zweiſellos, als der Frau der gebildeten Stände
jonft bei der grofen Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt offen ftebt.
Bu dieſem Zweck hat Lady Warwid, die fic) bereits durch verſchiedene praktiſche
Cinridtungen, das Erwerbsgebict der Frauen betreffend, cinen Namen erworben hat,
zu Reading in Berkjhire, in der Nähe Londons, eine Acerbaufdule fiir gebildete
Frauen der befferen Stände ing Leben gerufen. Cine befondere Ubteilung ift fiir
jolche beftimmt, die fic) mach den RKolonien begeben wollen, da fic) neuerdings in
Siidafrita und andern Anfiedlungen des britiſchen Weltreichs fiir alleinftehende, tiichtig
praktiſch vorgebildete Frauen gute Ausſichten erſchloſſen haben.
Unter dem Namen ,,Lady Warwick Hostel, Reading“ ijt dieſe Unjtalt vor
ungefahr vier Jabren begriindet worden, und ihre guten Erfolge berechtigen gu der
~ Erwartung, dah cine Ausdehnung diefer VBeftrebungen fich nicht bloß als ein Gewinn
fiir bie erwerbehden Frauen, fondern aud) als ein Segen fiir die Wobhlfabrt ber Nation
eriveifen wird.
Es war bie Fiirforge fiir den weniger begiiterten Teil der Landbewohner, welche
auerft bei Lady Warwid die Idee erwedte, ibnen eine mehr ihren Bedürfniſſen ent-
fprechende Ausbildung yu geben. Cine Art Fortbildungsſchule follte fic) der in dieſer
Hinſicht mangelhaften Clementarbildung anſchließen und zugleich bezwecken, die Kinder,
welde man zur Vervollſtändigung ibrer Erjiehung nach der Stadt fchidte, dem Lande
Eine landwirtſchaftliche Schule fiir Frauen in England. 115
zu erhalten. Jn diefer Schule werden die Zöglinge in den Zweigen der Natur:
wiſſenſchaften unterricbtet, welche fic) befonderd fiir die aderbautreibende Bevilferung
eignen. Mathematik, Phyſik, Chemie, Biologie 2c. in Verbindung mit prattifden Lehr:
furjen aller Urt geben den Schiilern eine griindliche Vorbereitung fiir die Berufe des
Landwirtes, de Viehjiichters und Gartners. Dieſe febr erfolgreiche MAnftalt beftand
erft in Dunmow, Eſſex, dem Privathefig der Stifterin, fie ijt jest aber aud) nach
Reading verlegt, um dort denen al Vorbereitungsflafje yu dienen, weldjen e3 an den
nötigen Vorfenntniffen fiir die höheren Zweige der Landwirtſchaft feblt. In ihr haben
wir den Keim, aus dem die höhere landwirtſchaftliche Schule fiir Frauen bervor-
gegangen ift.
Der LeHrplan der Ackerbauſchule umfaft in erfter Linie Obſt- und Gartenbau
mit all feinen verfdiedenen Zweigen, wie folder in der ausgezeichneten Anſtalt von
Fraulein Dr. Elvira Caftner, Marienfelde bei Berlin, fchon feit ciner Neihe von
Jahren mit großem Erfolge gelehrt wird. Daran ſchließt fid) die Unterweifung in der
Geflügelzucht für den einfachen Marfthedarf und fiir Ausſtellungszwecke; der Vienengucht
ift ebenfalls ein grofeS Feld eingeräumt. Milchwirtſchaft, Butter- und Kajebereitung
werden auf wiſſenſchaftlicher Grundlage gelebrt. Die Viehzucht nad den neueften
Syftemen in der Filtterung der Kühe, Schafe und Schweine gehört nebſt der Boden-
fultur ju den widhtigiten Fadern de8 Studiums. Jn den Induſtriezweigen, die fic
aus dem Land- und Gartenbau entwideln, wie die BVereitung von Obfiweinen aller
Art, von Obft- und Gemiijefonferven und Dörrfrüchten, wird gewiffenbafte Belehrung
erteilt. Auch gedenft man in der Weiterentwidlung Hanf und Flachs anjubauen und
die veralteten Bejdhaftigungen des Spinnen und Webens, die in den Langen Wintern
auf den einjamen Farmftdtten immer nod ihren praftijden Wert haben, wieder
aufzunehmen.
Einer der wichtigſten Punkte im Unterrichtsplan iſt der Abſatz der Erzeugniſſe,
und eine gewiſſenhafte Vorbereitung in der zweckmäßigen Verwertung der Landes—
produkte ſchließt ſich den übrigen Unterrichtsgegenſtänden an. Alle Erzeugniſſe der
verſchiedenen Abteilungen des Inſtituts, die zum Verkauf beſtimmt ſind, werden nach
dem Marktgeſchäft, Berkley Avenue Weſt, geſandt, von wo aus viele Haushaltungen
mit Garten- und Landfrüchten, mit den Ergebniſſen der Geflügelzucht und Milch—
wirtſchaft und mit Konſerven aller Art verſorgt werden. Auf dieſe Weiſe beabſichtigt
man im Lauf der Zeit den Zwiſchenhandel, der Konſumenten und Produzenten bei
der Verwertung der Landesprodukte gleich ſchädlich iſt, auszuſchalten und nach und
nad) einen Ddireften Verkehr zwiſchen den beiden intereſſierten Parteien herzuſtellen.
Lehrkurſe volkswirtſchaftlicher und kaufmänniſther Art führen in den geſchäftlichen Teil
des landwirtſchaftlichen Betriebes und geben den Schülerinnen Gelegenheit, ſich in der
Geſchäftsmethode und Warenkenntnis genügend auszubilden und die verſchiedenen
Märkte fiir die Erzeugniſſe, die Wet des Ein- und Verkaufs, die Eiſenbahntarife ꝛc.
kennen zu lernen.
Bei der Vorbereitung für das Leben in den Kolonien wird neben der Kenntnis
im Land- und Gartenbau beſonders eine tüchtige Ausbildung in allen häuslichen Ver—
richtungen angefirebt. Die Behandlung der Wäſche, die Anfertigung von Kleidungs—
fliiden jeder Urt, Kochen u. f. w. gebdren gu den Lehrgegenfidinden. Häusliche Hand-
fertigfeiten und der Gebrauch von einfacden Werkzeugen, auch leichte ZimmermannSarbeit
werden gelehrt, damit man bei der RKonftruftion von Gefliigelbaujern, Bienenfirben,
Rahmen fiir Mijtheete und Gewächshäuſer u. fj. w. bet dem Mangel an Handwerfern
auf den einfam gelegenen Unfiedlungen nidt in Verlegenheit fonunt. Alle Hilfsmittel
fiir die praftifde Arbeit in dieſen Zweigen find einfacher Natur und folcher Art, wie
Rolonijten fie oft zu gebrauchen gezwungen find. Der Unterricht ijt in jeder Hinficht
ben Erforderniffen des Lebens angepaft und wird von einer Dame erteilt, die in den
Kolonien geboren und erjogen wurde und mit allen LebenSbedingungen dort aufs
befte vertraut ijt.
Der fpezielle Lehrplan in der Landwirtſchaftsſchule tft dem unſrer Jnftitute, die
bemfelben Swede dienen, Abnlidh. Das gu der Anjtalt gehörige Land bietet jede
8 *
116 Unverjaibrbar.
Gelegenbeit zur praktiſchen Arbeit in den verfdiedenen Abteilungen. Die Milch—
wirtſchaft in allen Cinjelbeiten, Bakteriologie u. ſ. w. werden in einer grofen Meierei
theoretifd) und praktiſch gelehrt. Für die fic) daran ſchließende Vieh- und Landwirtidaft
find die umfaffendften Unterrictseinridtungen getroffen. Genug, die ganze Anftalt ift
durchaus fiir die vielfeitige Musbiloung der Aſpirantinnen muftergiltig eingeridtet, und
am beften ſpricht der außerordentliche Erfolg, von dem dads Werk, troy ſeines erft
kurzen Beſtehens, gekrönt ijt, fiir feine Notwendigfeit und Vorzüglichkeit.
Schon hat ſich eine Aderbaugefellidaft von Frauen (Agricultural Association
of Women) gebildet, die mit der Abſicht gegriindet worden ift, die in Land- und
Gartenbau und verwandten Berufen beſchäftigten Frauen gu organifieren und ibnen
mit Rat zur Hand zu geben. Yor Organ, The Woman's Agricultural Times, die
einmal monatlich erſcheint, bat bereits zahlreiche Abonnenten und hat fic) als außer—
ordentlich foördernd bewährt. Bon faft nod) größerem Nugen find ein Wrbeitsnadweis-
bureau und ein folded fiir Auskunft in allen landwirtſchaftlichen Angelegenbeiten, das
Mitglhedern der Geſellſchaft bis gu einem beſtimmten Umfang unentgeltlich zur Verfiigung
ftebt. Auch werden durch das Bureau Erfundigungen eingeyogen im Intereſſe von
Mitgliedern, die ſich anfaufen wollen. Ebenſo plant man Genoſſenſchaften fiir
Anjiedlungen zu griinden. Schon haben fic) einige der erften Schülerinnen der Anſtalt
auf ibren eignen Beligungen ſelbſtändig mit gutem Erfolge verfucht, weil fie durd)
eine vielfeitige Verwendung ihrer Kenntniſſe in den verſchiedenen Sweigen der Land-
wirtſchaft die Ertragsfabigfeit ihres Befigtums hinreichend auszubeuten verfteben.
In England und jeinen Kolonien ijt ein reiches Arbeitsfeld für Frauen, welche
ſich die gründliche zwei- bis dreijährige Musbildung der Anſtalt zu nuge gemadt haben,
fei ¢8, dag fie ibre Renntnijfe auf eignem Beſitz verwerten, oder in Verwalter-
ftelungen eintreten, oder ſchließlich, da die Anſtalt aud Abſchlußprüfungen abhält und
Unterricdtsdiplome erteilt, den landwirtſchaftlichen Lehrberuf ergreifen.
Yedenfalls diirften die ganzen Beftrebungen, von denen Hier ein Ausſchnitt
gegeben ift, fic) zu einem nicht gu verachtenden Faltor in der inneren und äußeren
olonijation und als cin wirfjames Mittel gegen ungefunde Landflucht entwideln und
fo von fegensreicem fosialen Einfluß werden.
eet
Unverjahrbar.
—8
Heilt endlich auch die tiefſte Wunde,
Schließt endlich ſich der tiefſte Schnitt — —
Die Varbe ſchmerzt noch manche Stunde
Und ſpricht mit ihrem blaſſen Munde
In jeder Cuſt des Lebens mit.
Was du auch tuſt! Du fühlſt ein Wehren,
Als hätteſt du ein Recht erſtrebt,
Das dir nicht zukommt zu begehren!
Denn niemals kann der Schmerz verjähren,
Und nichts iſt tot, was einſt gelebt!
Leunore Frei.
= ee
117
Die 1V. Generalverfammiung des Deutſch—
Evangeliſchen Frauenbundes
fand vom 24.—26. September in Bonn ſtatt. Der
Jahresbericht, erftattet von ber zweiten Vorjigenden,
Wel. A. von Bennigſen, ftellte feft, daß der
Bund jest 35 Ortsaruppen und 3400 Mitglieder
qablt und demnach in der letzten Geſchäftsperiode
in 8 neuen Gruppen 900 Mitglieder gewonnen bat.
Das erfte diedjabrige Verbandsthema Bur
Wobnungsfrage” behandelte Frau Stcinbaufen-
Hannover. Die Vortragende fiibrte die Wohnungs—
not auf die Verſchiebung der Wobnungsverbaltnific
durd) den Hug vom Land zur Stadt zurück. Alle
Klaſſen litten unter diefer Not, und alle bisherigen
Maßnahmen batten fied als unzulänglich erwiefen.
Die Dienjtbotemvobnungen feien ebenfo menſchen—
univiirdig, wie die Kleinwohnungen in ben großen
Stidten. Durch Bauordmungen müßte der un:
gezügelten Bodenfpefulation und durch Wohnungs⸗
geſetze der Steigerung der Mieten und der damit
zuſammenhängenden bedenklichen Wohnungszuſtände
abgeholfen werden. Es ſei Sache der Vereine,
beſonders ber Sittlichkeitsvereine, ſich der Wohnungs⸗
not der Dienſtboten energiſch anzunehmen. Die
Rednerin forderte eine beſondere Aufſicht der
Dienſtboten Schlafräume, die weniger als Polizei—
maßnahme auftreten ſoll, ſondern als fommunale
Wohlfahrtseinrichtung, bei der die Frau als
Affiftentin der Wobhnungsinfpeftion anzuſtellen ift.
Der Antrag der Ortsqruppe Weimar: ,, Die
Generalverfammlung wolle beſchließen, daß der
Deutſch⸗Evangeliſche Frauenbund tätigen Anteil
nebine an den Beſtrebungen, die die Ladenbeſitzer ver:
anfafjen, fiir binreicbende Citgelegenbeit ihrer
Berlauferinnen Sorge zu tragen und die Orts—
gruppen verpflicten, ihren Einfluß in dieſer Richtung
geltend zu machen,“ wurde mit dem Hinweis auf
bas ſchon beſtehende Geſez angenommen. Der
Bundesvorſtand wurde ermächtigt, in dieſem Sinne
bet den HandelSfammern vorſtellig zu werden,
Frau Ufer-Geld fprach fobann iiber dads
Thema: „Wie heeinfluffen wir bie Miitter unſeres
Volkes 2"
Sn einer öffentlichen Abendverſammlung fprad
Fräulein Paula Miller über: „Die Pflichten
und Rechte der Frau in der kirchlichen und bürger—
lichen Gemeinde”. Sie forderte nicht nur eine
vermebrte und planinagfigere Herangichung der
Frauen im dffentliden Leben, befonders auf dem
Gebiete der Wrmen: und Waifenpflege und der
Jugendfürſorge, fondern auc) die dementſprechenden
Redte, wie die Wählbarleit gu lommunalen Ehren:
ämtern, dad Wablrecht fiir bie firdlice Vertretung
und fiir bie Pfarrwahl.
Der Korreferent, Here Paftor Pfeiffer: Berlin,
unterftiiste umd ertuciterte die Forderungen der
Vortragenden und brachte folgende Refolution ein,
die bon der Verfammlung angenommen twurbe:
„Der Deutſch⸗Evangeliſche Frauenbund ruft die
Frauen auf, fic) ben zuſtändigen kirchlichen und
biirgerlichen Behörden yur Verfiiqung gu ftellen und
in der Mitarbeit den Beweis ihrer Unentbebrlicfeit
ju liefern, aber aud zu forbdern, daß ibre Arbeit
berufsmäßig in bic Gemeindeorgane ecingegliedert
und ibnen die entiprecbenden Rechte gefichert
werden.”
Sn Ergänzung dieſer Refolution wurde am
folgenden Tage befdloffen, an die Generaljpnode
jofort mit cinem Antrag auf CEriveiterung der
Rechte und Pflichten der Frau im kirchlichen Leben
heranzutreten.
In den Verhandlungen des zweiten Tages wurde
beſchloſſen, bei den Schulleitungen darauf hinzu—
wirfen, daß die abgehenden Schülerinnen vor leicht:
finniger Benugung von Stellenvermittlungsbureaus
gewarnt würden.
Der zweite Antrag forderte vom Bundesvorſtand,
eine Petition um Abſchaffung der Reglementierung
an zuſtändiger Stelle einzureichen. Den Aus—
führungen, daß die Reglementierung geſundheitlich
und ſittlich verderblich ſei und zur Demoraliſierung
des Volksgewiſſens beitrage, wurde lebhaft gu:
geſtimmt und der Antrag angenommen. Dem
Vorſtand bleibt der Zeitpunkt zur Eingabe der
Vetition überlaſſen. Der Bund beſchließt, in der
Sittlichkeitsfrage mit allen dahin zielenden Be:
ftrebungen Fühlung zu halten.
Das Referat zum zweiten Verbandsthema der
Generalverſammlung: Die Arbeiterinnenfrage, batte
die Gewerbe Inſpeltions⸗Aſſiſtentin Frl. W. Reichert
aus Berlin übernommen. Die in der lebhaften
Diskuſſion gegebenen Anregungen — Erziehungs—
und Fürſorge-Heime fiir Fabrikarbeiterinnen, Auf—
ſichtsſchweſtern in den Fabriken, vermehrte Fürſorge
für die vielfach des Anſchluſſes und Haltes bedürftigen
Heimarbeiterinnen — führten zur Annahme einer
Reſolution: „Die vierte Generalverſammlung des
Deutſch-Evangeliſchen Frauenbundes bittet dic
Ortsgruppen-Vorſtände, die Griindung und den
weiteren Ausbau von WArbeiterinnen: Vereinen und
Heimititten ins Auge zu faffen und zu fordern.
Sie fiebt Darin auch ein Mittel, auf die Arbeiterinnen
in religidfer, fittlicher und ſozialer Beziehung cin:
zuwirken, fie durch Organifation gur Selbftbilfe ju
erziehen und ibnen dadurch gu wirtſchaftlichen Ver—
118
befferungen und möglichſt giinftigem Arbeitsvertrag
au belfen.”
Den Schluß der anregenden Tagung bilbete cin
Bortrag ber Oberlebrerin Frl. M. Martin: Trier:
Die Pſhchologie der Frau. Im ganzen genommen,
geigte die Tagung des Deutſch-Evangeliſchen Frauen:
bunded eine fo erfreulide innere Entwidlung der
jungen Organifation, daß man feine Filbrerinnen
nur baju beglückwünſchen fann.
If. Generalverſammlung
des Berbandes fortſchrittlicher Franenvercine,
Die Rerfammlung begann am 28. September mit
einem Bortrag von Frl. Dr. jur Duenjing iiber
die rechtliche Lage ded unehelichen Kindes. Dore
yon gruͤndlichem Wiſſen und reifer ſozialpolitiſcher
Einſicht zeugenden Ausfiibrungen dienten der Be-
griimdung und Belcuchtung folgender Forderungen:
I. 1. Die Entſchädigungspflicht bes Verfiihrers
qegeniiber der Berfiibrten ijt auszudehnen
auf die Fälle der Fehlgeburten;
2. in den Fallen hervorragender nachgewieſener
Befähigung des unebelichen Kindes ju boberen
Berufen fann die Alimentation auf eine
lingere alé im § L708 Abj. 1 feftgejepte
Daucr nach Maßgabe der Erforderniffe der
nötigen Borbereitung beanfpruct werden;
3. die Eltern und Grofeltern ded unebelichen
bem unebelichen Kinde geqentiber;
Verjammlungen
und Gereine.
oder Familiencinfommen unter 3000 Mart betragt.
Die genofjenichaftliden und gewerkſchaftlichen
Arbeiterorganifationen follen bas Unterjtiigungs:
weſen mit Berückſichtigung der Mutterfdaftstaffen
und der weiblichen Intereſſen ausbauen.
Es war auferordentlid bedauerlich, daß die
ſachlich wenigſtens disfutablen Forderungen von
Atl Lüders durch die in der aniclichenden
Distuffion geäußerten ſozialpolitiſch maßloſen
Wünſche von Frl. Dr. Augspurg der Offentlichkeit
geqeniiber in ein falſches Licht gefest find. Tie
Preßberichte haben fich leider mebr an dieſe Utopien,
alé an die, wenigſtens in vicler Hinſicht, aftuellen
Fragen des Referats gebalten. ber die Frage,
wie da’ politifde Intereſſe der Frauen gu
weden fei, ſprach Frl. Luiſe Zietz. Auch fie ging
von ber Anficht aus, daß die nächſte Aufgabe eine
politijde Erziehung der Frau durch alle gur Ver—
fiigung ftebenden Mittel und Weae fei. Uber die
| Sittlichfeitsfrage nad der moralijd-rectlicen und
der gejundbeitlichen Seite ſprachen Frl. Heymann
und Dr. Blaſchko, ber Wobnungsfrage und Sitt:
lichfeit Prof. Fleſch, über die Arbeit der deutſchen
Manner: Sittlidleitsvereine Frl. Scheven. Aus
den Bortrigen der öffentlichen Verſammlungen ijt
nod der von Fri. Liſchnewska über bie Cinbeits:
ſchule zu erwaͤhnen. Im Anſchluß an die Ber:
handlungen des fortſchrittlichen Verbandes fand
die Generalverſammlung des Vereins fiir Frauen:
4. die Einrede der mehreren Zuhälter iſt einem |
nad $ L717 in Anſpruch Genommenen ju
verjagen.
Die gefeslichen Bejtimmungen des B. G. B.
fiber die Annabme an Kindedsftatt find dem
folgenden Vorſchlage gemäß gu andern:
Die Adoption des unebhelichen Kindes durch
feine Mutter ijt dadurch yu erleictern, dah
bie geſetzliche Vorausſetzung eines beſtimmten
Lebensalters der unehelichen Mutter gegen:
über prinzipiell wegfällt.
Das Leipziger Syſtem des kommunalen Schutzes
der unehelichen Kinder iſt überall einzuführen.
Die landesgeſetzlichen Beſtimmungen gegen den
Konkubinat müſſen wegfallen; auf dem Wege
I.
III.
IV.
charitativer Tatigtcit tft bie Legitimierung der
Konkubinate anzuſtreben und zu fördern.
Frl. Dr. Stöcker ſprach ſodann über „die
ſoziale Stellung der unehelichen Mutter“. Die
Verhandlungen des zweiten Tages galten der
„Mutterſchaftsverſicherung“. Frl. Elſe
Lüders forderte für die Ausführung dieſes
Programms Ausdehnung des reichsgeſetzlichen
Arbeiterinnenſchuzes auf mindeſtens acht Wochen
nach der Entbindung, Arbeitsverbot in allen das
Mind gefährdenden Betrieben cine gewiſſe Zeit vor
der Entbindung, ſowohl fiir Fabrikarbeiterinnen
wie filr Heimarbeiterinnen, Landarbeiterinnen, Dienſt⸗
angeſtellte 2., und file dieſe Zeit Gewährung einer
Rente aus einer ſtaatlichen Mutterſchaftskaſſe, die
der Hobe des Lohnausfalles entſpricht. Die
Mutterſchaftslaſſen follen im Anſchluſſe an die
Landesverfiderungs - Unftalten geſchaffen werden;
Pramienjahlungen aller Staatsbiirger zwiſchen dem
20, und 50. Jabre, ſowie cin Staatszuſchuß follen
die Roften der Rente deden. Anſpruch auf Ber:
ficherungégelder batten alle Frauen, deren eigenes
Vaters haften fiir die väterliche Wlimentation ſtimmrecht ftatt.
Der deutſche Verein fiir das höhere
Mädchenſchulweſen
tagte in den letzten Septembertagen in Danzig.
Gehören die Beſprechungen dieſes Vereins auch
mehr dem ſpeziellen pädagogiſchen Fachgebiet an,
ſo iſt diesmal doch ein Hauptpunkt der Tages:
ordnung von allgemeinerem Antereffe. Here Direftor
Doblin (Hagen) fprach iiber die Frage: „Welche
Forderungen der mobdernen Frauenbewequng in
bezug auf die höhere Mädchenſchule fann dieſe
anerfermen?” Hierzu lagen folgende Leitſätze vor:
1. Die Forderung, die höhere Mädchenſchule
ſo umzugeſtalten, daß ſich an ſie ein Oberbau
angliedern läßt, der zur Berechtigung des
Univerfisateftudiums fiibrt, ift anzuerkennen.
2. Die Forderung, eine beſſere geiſtige
Schulung durch Vertiefung des mathematiſch—
naturwiſſenſchaftlichen Unterrichts gegenüber der
bisher fo einſeitig betonten literariſch-äſthetiſchen
Richtung herbeizuführen, iſt anzuerkennen.
3. Die Forderung, die höhere Mädchenſchule
in der Richtung des Realgymnafiums (mit
fafultativem Lateinunterricht) umjugeftalten, ijt
anjuerfennen; cine Gabelung der Oberjtufe in
wei Wbteilungen iſt abzulehnen; praltiſche
bungen für den künftigen Hausfrauenberuf
find in beſondere Anſtalten gu verlegen.
4. Die Forderung einer gemeinſamen Erziehung
von Rnaben und Mädchen iſt abzulehnen.
WS Korreferentin verſuchte Frl. Sprengel
ben Verein fiir das höhere Mädchenſchulweſen von
ſeinen UnterlaffungSfiinden in bezug auf die
Stellung der höheren Mädchenſchule zur Frauen:
frage rein zu waſchen. Die Verſammlung nabm nad
langerer Debatte folgenden Antrag Wychgram an:
„Die Frauenbewegung verlangt in bezug auf
dic höhere Mädchenſchule:
Verfammtungen und Vereine.
1. Bertiefung der Bildung der Frau fiir ibre
allgemeine Bejtimmung.
2. Borbercitung der Frau auf das Univerfitats-
ſtudium.
Der deutſche Verein fiir das höhere Mädchen—
ſchulweſen teilt dieſe Forderungen und hält eine
Erweiterung beziehungsweiſe Umgeſtaltung der
höheren Mädchenſchule in dieſem Sinne für nötig.“
Das iſt allerdings eine etwas unbeſtimmte, aber
doch die ſortſchrittlichſte Erklärung, gu der ſich der
Verein bisher entſchloſſen hat. Sie wird auf die
endliche Verwirklichung der lange verſprochenen
Mädchenſchulreform gewiß nicht ohne Einfluß
bleiben und ſei darum mit Befriedigung begrüßt.
Der Münchener Verein für Verbeſſernug der
Frauenkleidung,
gegründet am 15. Januar d. J. mit etwa 150 Mit:
gliedern, veranſtaltete in den Tagen vom 20. Sep:
tember bis 12. Oktober eine Ausſtellung in den
Studienräumen des neuen Rationalmujeums. Der
leitende Gedanke für dieſe Ausſtellung war, gewiifer:
maßen cine Anſchauungsleltion über Kleiderreform
zu geben, ausgehend von den hygieniſchen Miß—
ftanden und der äſthetiſchen Anfechtbarfeit der
Taillenfleiouna, die Neformtracht fowobl in ibrer
hiſtoriſchen Entwicklung, als in ibrem äſthetiſchen
und ſanitären Wert ju zeigen. Im Wai ob. J.
begannen die Borarbeiten, fie gedichen rafch, cine
Fille von Anmeldungen lief cin auf die erlaſſenen
Cinladungen. Das Minifterium fiir Kirche und Schule
überwies Parterre und auch den erſten Stod vom
Studiengebdiude des neuen Nationalmuſeums, damit —
| omit Erfolg unterworfen.
alle Gegenſtände anſchaulich geordnet werden fonnten,
War fomit die Lage des Unternehmends an der
ftattlichen Bring Regentenftrafe aufs giinftigite ge:
ftellt, fo bat auch der rege Befuch gezeigt, daß der
rene Gedanke erfreulich anfangt, weiteren Boden
zu fafjen.
Tas erſte Zimmer jeigt uns in ciner Niſche
an Abbildungen, Modellen und PBraparaten die
Wirfung des alten Korſetts und der ſchnürenden
Pinder und Taillengurte. Iſt man fic) über die
Wirfung des Korſetts ſchon etwas flarer, fo pflegt
man bod die Bander und Gurte der Unterfleider
nod fiir unſchuldig zu balten; aber auch fie richten
Schaden an: cine praparierte mormale Leber zeigt
bie volle, runde Wolbung ciner Halbfugel Cin
benachbarted Praparat jeigt, wie die febniirenden
Bander in der glatten Wölbung cine tiefe Cin:
fenfung verurſacht haben, fo dap fie mun fajt wie
cine Doppelfemmel ausſieht.
Weiter zeigt der erfte Raum eine Fille von
Heformforfetts, fie reichen nur bis in die Taille
und find mit Knopfvorrichtung an den Seiten des
unteren Randes verfeben, um daran die Gurte der
Untertleider zu befeftigen. Denn das Hauptpringip
der neuen Kleidung berubt ja darauf: die Hüften
und Taille vom Drude der Gewander zu entlaften,
und den Schultern cinen Teil ded Gewichtes zu—
zuweiſen. Alſo gebiibrt vor allem der Neuordnung
der Unterfleider die erfte Mufmerffamtcit.
ines neuen Stoffes gu Untertlerdern aus der
indifchen Neffelfafer fer auch gedacht. Er wird als
119
Hefonders gefiind gerühmt, fühlt ſich kühl wie Lein
an, hat gelbliche Farbe und wird zu feſtem
und luftdurchläſſigem, trifotartigem Gewebe ver:
arbeitet.
Der folgende Raum zeigt an geſchichtlichen
Koftiimen, daß die neue Tracht fich ſchon an friihere
Borbilder anlehnt, namentlich an die Empirezeit.
Aus Familienbefis wurden mebrere ſchöone, foftbare
Seibentleider ausgeftellt. Dazwiſchen zeigt cin
echtes Dachauer Kleid die ſchädliche Wucht des
unendlich diden Faltenrokes. Einen wirkungs—
vollen Gegenſatz dazu bildet ein modernes ſogen.
Sansventre:Koftiim. Das neue Nationalmuſeum
fpendete cine grofe Heibe von Wbbiloungen und
Schriſten aus dem Gebiet der Frauenkleidung fonft,
jest und in Sufunft.
Den letzten grofen PBarterreraum befchicten
mebrere kunſtgewerbliche Ateliers und Wertitatten,
und wir feben, wie fich dem neuen Schnitt auch
neue, geſchmackvolle Verzierungen in Applifations:
arbeit und Stiderci anpafjen. Bor allem aefallen
uns die von Fri. Clifabeth Beyſchlag ent—
worfenen Gewänder. Cin Dinertleid von bläulichem
Sammet weift hübſche Ornamente von grauem
Yeder und gelblicher Seidenſtickerei auf. Cine bell:
mattgelbe Seidentoilette ift mit Blattgeranfe in
grüner Tafftapplifation geſchmückt. Auch cine
praltiſche Schürze nad neuem Schnitt, von den
Schultern glatt herabhängend, von grauem
Lein, iſt im Seidenkettſtich mit Muſter nach
neuem Stil geſtickt. Frau Olga Schirlitz—
Behrend ſteuerte ein gelbſeidenes Ripskleid mit
Schleppe bei, reich mit Ornamenten in grünlichen,
bläulichen, grauen und rötlichen Tönen prangend.
Sugar die Sportkleidung wird dem neuen Prinzip
Das engärmelige Hemd
ſchließt am Halſe und ift aus gröbſtem Yein in
Ivoirefarbe. Darüber ſchmiegt fic ein graues
Lodengewand dem Körper loſe an. Rote
und grüne Lederſtickereien geben einen luſtigen
Aufputz. Die Schneiderſchule Berg Viibl lieferte
zu einem dunlelgrauen Jackenanzug die genaue
Anweiſung, wie Rock an Jacke zu befeſtigen iſt.
Im erſten Stock find Mantel, Jacken, Pelzſachen,
Schmuck- und Beſatzſtoffe zu ſehen. Der Verein
für weibliche Induſtrie in Weimar ſandte eigen—
artige Stoffe fiir Kinderkleider aus hellem Zeug
mit eingewebten, abgepaßten bunten Streifen.
Auch die Verbeſſerung der Fußbelleidung iſt
mit in die Ausſtellung einbezogen, und cine Reihe
pon Firmen, Ddarunter folde aus Berlin und
Hannover, macht anſchaulich, wie die ſchmale Schuh—
ipite die Zehen verkrüppelt, dagegen die runde
Spitze dem Fuße ſeine von der Natur gegebene
Form erhält und ſchützt.
Plaſtiſche Kunſtwerle, die überall an Treppen,
Fenſtern, Türpfeilern ſtehen, helfen den mit über—
zeugen, der ſehen fan and will; fie reden deutlich
ad oculos, und der Benus von Milo göttlicher
Leib predigt laut von der Heilſamkeit und Schonbeit
der neuer Reformtracht.
Die Leitung der Ausftellung bat vom Minifterium
dic Erlaubnis erbalten, die Wusftellungsraume im
Nationalmuſeum ned bis yum 20, Oftober fort:
beniiten zu dürſen. Bon München aus geben die
*
Schauſtücke nach Berlin, J. B.
⸗
cnt 400 *
Radrrud mit Quellenangabe erlaubi.
* Die Madden. und Franen- Gruppen fiir
foziale Hilfsarbeit gu Berlin (Vorfigende:
Wl. Alice Salomon) Hliden im Oftober
dieſes Jabres auf ihr zehnjähriges Beſtehen
zurüch. Ihre Entwicklung, über die cine kleine
Denkſchrift (im Selbſtverlag des Vereins), die ſo—
eben erſchienen iſt, einen ÜUberblick gibt, reflettiert
in einem kleinen Spiegel eine der wichtigſten Um—
wandlungen im Frauenleben unſerer Gegenwart:
das Erwachen des ſozialen, ded Bürgerbewußtſeins
in ber Frau, das Aufſteigen der Erfenntnis, dah
dieſe Pflichten mit einer planlos und gedantenlos
geitbten Charitas nicht erfiillt find, fondern dap es
baju einer ernften fosialpolitifden Schulung bedarf.
Unter der Leitung von Frau Jeannette Schwerin
ift in der Organifation der Arbeit cine Grundlage
fiic bie Durchfiibrung dieſer Gedanfen gegeben
worden, auf der. die Gruppen fich weiterentwidelt,
die fie dauernd verbreitert und gefeftigt baben.
Ihr wefentlides Merkmal ift die Schulung ibrer
Mitglieder durch theoretiſche Kurſe einerfeits, durch
praftifde Arbeit in allen Arten von Woblfahrts:
anftalten, Auskunftſtellen, bei Enqueten se. andererfeits.
Die Zahl der Helferinnen bat fich bis auf faft 500
geboben, und, was nod mebr bedeutet, ihre Arbeit
bat fic iiberall als fo wertvoll erwiefen, daß man
fie jetzt von allen Seiten über bie zur Berfiiqung
ftehenden Kräfte binaus fucht, wibrend die Leitung
in den erften Qabren Schwierigkeiten hatte, ibren
Helferinnen die erforderlichen „Lehrſtellen“ in ge:
niigender Zahl zu verſchaffen. Zugleich beweiſt
nicht nur das Entſtehen gleicher Vereinigungen in
Bremen, Köonigsberg, Hamburg, Frankfurt, Caſſel,
Leipzig, ſondern auch die Ubernahme des in den
Gruppen verkörperten Prinzips durch alle Arten
anderer lonfeſſioneller und interkonfeſſioneller
Wohlfahrtsvereine und Bildungsanſtalten für
Frauen, daß der dort eingeſchlagene Weg ein tiefes
geiſtiges und ſoziales Bedürfnis unſerer Zeit in
zweckmäßigſter Weiſe zum Ziel führte.
Was in den Gruppen von Frauen geſchaffen
worden iſt, beruht gewiß auf den Kenntniſſen
i > FRALIE (Ze
(he — CA
ey
*
i 54
—
und der Organiſationsfähigleit ihrer Leiterinnen
Jeannette Schwerin und Alice Salomon;
eS ijt aber in nod höherem Make eine Schöpfung
eines tiefen fosialen Gefühls und eines ernjten
fojialen Gewiſſens, bad in den Leiterinnen eine
(ebendige Kraft war und von ibnen aus dem ganjen
Kreife der Mitarbeiterinnen das Geprage gegeben
bat. Die deutſche Fraucnbewequng darf ſtolz auf
bad fein, was bier — wenn auch nicht unmittelbar
und abſichtlich — fo doch im tieferen Sinne in
ibrem Dienft geſchaffen worden ijt.
*Zwanzig Jahre im Dienſt der Lehrerinnen:
fade, Cine Reitidrift, die an der CEntividlung
unjerer Lebrerinnenbewegung einen gang bervor-
ragenden Anteil bat, hat im Oftober ibren 20. Jaber:
gang vollendet. Die „Lehrerin in Schule und
Haus", das jehige Organ ded Allgemeinen Deutſchen
Lebrerinnenvereing, iff 1884 von Frau Marie
Loeper-Houffelle gegriindet worden. Sie bat
unter ben größten Schivierigkeiten, in einer Reit,
wo der Lebrerinnenftand nod nicht yum Trager
eines eigenen Organs gereift war, die deutfden
Lebrerinnen ju felbftandigem Erfaſſen ibrer Berufs—
und Stanbespflichten zuerſt erjieben elfen, fie bat
die raſche Entwicklung bes Lebrerinnenftandes jtets
verftebend und firdernd begleitet. Der Heraus—
geberin fei auc) an diefer Stelle im Namen der
Frauenbewegung cin warmer Dank ausgeſprochen.
* Zuriidsichung der weibliden Beamten vom
Fahrlartendienft. Der preußiſche Minifter der
dffentliden Arbeiten hat, wie Berliner Blatter
melden, an die nachgeordneten Eiſenbahndireltionen
cine Berfiigung erlafjen, nad der die weiblicen
Beamten im Cijenbabndienft von den Fabrlarten:
ſchaltern zurückzuziehen und im inneren Dienjt ju
verwenden find. Diefe Maßregel foll fobald wie
möoglich in Kraft treten, wenn geniigend mannfide
Beamte fiir den Schalterdienft ausgebildet find und
fiir diefen verwandt werden können; es foll died ge:
ſchehen, , damit die weiblichen Beamten moglichſt wenig
in direkte Berührung mit dem Publifum kommen.“
Zur Fraucnbewegung.
* Urmenpfiegeriunen. Auf Antrag des Bereins |
„Frauenwohl“ gu Witten beſchloß die Stadtverord:
netenverſammlung am 1. Ofteber, Frauen verſuchs
weife zur Teilnahme an ber ſtädtiſchen Armenpflege
zuzulaſſen. Seit einem Jahre bereits ſind mehrere
Frauen als Vormünderinnen tätig.
* Franenftudium ant den bayerijdjen
Univerjitdten, Bom Winterfemefter 1903/04 an
werden aud an den baberifeben Univerfitdten
weiblide Stubierende, welche bas Reifezeugnis
eines deutſchen humaniſtiſchen Gymnafiumd oder
eines deutſchen Realgymnaſiums beſitzen, zur
Immatrikulation nad § 4 der Studien-Sagungen
zugelaſſen. Das iff cin groper Fortſchritt der
Cache des Franenitudiumsd, der boffentlicd aud auf
andere Staaten feine Wirlungen nit verfeblen wird,
* Freiburg i. Be. Coedneation, Im ab:
gelaufenen Schuljahr beſuchten 5 Schiilerinnen dic
Oberrealſchule in Freiburg i. Br. Ihre Leiſtungen
ſtellten ſich am Schluß des Schuljahres als duferft
befriedigend heraus, indem von den 4 Schülerinnen
der Unterprima eine den zweiten, eine den dritten
und cine ben vierten Platz in ihrer Klaſſe inne:
balten, während bic Sebiilerin der Untertertia den
erften Nlafienplay erbielt. Auch das Berhaltnis
zu Lebrern und Mitſchülern bat ſich in febr
befriedigender Weiſe geftaltet.
*Zu 8 8 des preußiſchen Vereinsgeſetzes.
Der Maurer A. B. zu Lauenburg, welcher Vor—
ſihzender eines Gewerkſchaftslartells iſt, erſuchte die
Ortspolizeibehörde im Sommer vorigen Jahres,
ibm die Genehmigung zur Abhaltung eines Gewerl⸗
ſchaftsfeſtes mit Konzert und Ball erteilen zu wollen.
Die Polizeibehörde verfagte aber die Genehmigung,
ba das Gewerkſchaftslartell ein politiſcher Verein
im Sinne des 8 8 ded Bereinggefeted fei. Frauen,
die gu cinem Ball erforderlich feien, diirfen nad
politiiden Bereinen nicht beiwohnen. Nach frucht—
fofer Beſchwerde erbob B. gegen den Regierungs:
prifidenten Klage mit der Ausführung, das Mewert:
ſchaftskartell gehöre nicht gu den politifden Vereinen,
121
Gewerlfdbaftstartell aus phyſiſchen Berjonen beftebe
und bexwede, wie die Alten der Polizeibehörde
beweiſen, politiſche Geqenftande in Verſammlungen
zu erörtern. Das Oberverwaltungsgericht wies
auch die von B. erhobene Klage gegen den
Regierungspräſidenten als unbegründet zurück.
(Soz. Praris.)
* Tiber dic tägliche Arbeitszeit der in Berlin,
Charlottenburg, Schöneberg und Rirdorf beſchäftigten
Urbeiterinnen hat ber Gewerberat Hartmann Gr:
mittclungen angeftellt, deren hauptſächlichſte Er—
acbuiffe folgende find. In 4752 Betrieben, von
denen 2753 auf das Bekleidungs und Reinigungs—
gewerbe entfallen, waren 63264 UArbeiterinnen
befdaftigt und gwar 25.850 in 1832 Betrieben mit
neunfliindiger Arbeitszeit und darunter. 30414
arbeiteten in 2391 Betrieben zwiſchen 9 und 10
Stunden, TOO] in 489 Betrieben 10 bis 11 Stunden.
ine Wittagspauje von 1—I1'/), Stunden batten
19249 Arbeiterinnen in 1944 Betrieben, 11/,—2
Stunden BOBS in 475 Betricben. Die Durch—
ichnittsarbeitsjcit betragt 9'/, Stunden. Cine iiber
bas Normale oft hinausgehende Arbeitszeit wird
bet ber Konfektionstätigkeit beobachtet. Im ganzen
iſt jedoch für Berlin und die Vororte der Sehnjtunden:
arbeitstag ſo gut wie durchgeführt, ſodaß ſeine
geſelzliche Feſtlegung einen Schwierigleiten begegnen
würde.
*Das kirchliche Frauenſtimmrecht im Kanton
Waadt wurde mit einer Petition gefordert, die
5000 Unterſchriften trägt. Bekanntlich iſt in der
Schweiz dieſe Frage, die im Kanton Zürich zuerſt
angeregt wurde, ſchon ſeit längerer Zeit auch in
theologiſchen Nreijen in Fluß. Auch die General:
verſammlung des Bundes der ſchweizeriſchen Frauen:
vereine, bie focben ftattgefunden bat, bejchaftigte
ſich damit.
8 8 bed Vereinsgeſetzes den Verſammlungen von |
bie bezwecken, politiſche Gegenſtände in ibren Ber: |
fammlungen gu erdrtern, Das Gewerkſchaftskartell
bejtebe aus Delegierten verſchiedener Berbande,
welche ſich gegenſeitig unterftiipen wollen, Wenn
ferner im BereinSgefese beftimmt werde, Frauen,
Schüler und Lehrlinge dürfen den Berſammlungen
und Sitzungen von politiſchen Vereinen nicht bei—
*Weibliche Studenten an holländiſchen Uni—
verſitäten. Die Zahl der weiblichen Studenten
beträgt an den verichiedenen Univerſitäten in Holland
wie folgt: in Amſterdam 86, darunter find 24
fiir dieſen Murfué neu cingetragen worden; in
Utredt in der mediziniſchen Fatultat 20, in der
Mathematif 25, in der Philologie 12 und in der
Theologie J. In Leiden jtudieren 79 Damen
und in Groningen 36. (Haarlemer Courant.)
* Den Anteil der Fran am Kleingrundbeſitz
zu erforſchen, bat der Konig von Schweden Fri.
wobnen, fo fonne eine Tanjluftbarteit nicht als,
cine Berjammlung ober Sitzung cines Bereing an:
gefehen werden. Der Regicrungsprafident beantragte
bingegen die Abweiſung der Klage, da dad fragliche
Karoline Brafoord cinen Reiſezuſchuß von 400 Kronen
bewilligt.
*Die Zahl der weiblichen Arzte in Jowa
iſt in den letzten 4 Jahren von 98 anf 155 geſtiegen.
tse -
122
Die Mütter“.
yon Hedwig Dobhm. Berlin, S. Fiſcher Verlag.
In ciner Reibe cingelner Aufſätze bebandelt die
qciftvolle Vorlämpferin — bier bedeutet das viel:
mifbraudte Wort cinmal wirklich etwas — der
Frauenbewegung Fragen der Erziehung, des Ber:
Beitrag zur Erziehungsfrage
haltniſſes von Mutter und Kind. Sie bewahrt
aud in diefem Buch den Charafter, der all ibren
Eſſays ihren Reiz gibt. Einzelbeobachtungen von
frappierender Scarfe und Feinbeit wirft fie in die
Wagſchale, wo die angebetete Theoric, die fable
convenue, fdeinbar fdon den Ausſchlag gegeben
bat, und das Zünglein beginnt noch cinmal
bedentli zu ſchwanken. Und fo find ibre
Beobachtungen wobl geeignet, die ſoziologiſche Be—
tradtung durch die individuelle Erfabrung ju
forrigieren und ju ergänzen. Der Reig einer aus:
geſprochenen Andividualitat ficat auch über Stil
und Darftellung. Die Cffavs find wie bervor:
qegangen aus der Unterhaltung, und man meint
ordentlich gu feben, wie die Verfaſſerin ihren Wegner
durch irgend cinen uncrivarteten, — auch unerivartet
wabren Einwand matt fest. Fein und anmutig ift der
Aufſatz über ,alte Frauen”.
„Grundrißt der Religionsphiloſophie“ von
D. Dr. A. Dorner. Leipzig, Verlag der Diirrichen
Buchhandlung. 1903. (448 S.) Preis 7 Mart.
Borliegendes Buch macht den Berfuch, vermittelft
einer Kombination religionsgeſchichtlicher und
religionspſychologiſcher Forſchungen mit meta:
phyſiſchen Betracdtungen die Frage nad Wejen,
Wert und Wabrbeit der Religion yur Entideidung
su bringen. Abgeſehen von der Einleitung, die
der Religionsphilofophie thre Stelle tm ganzen der
Philoſophie itberhaupt anweift, glicdert ſich die
Schrift in folgende vier Hauptteile: A. Die Dar:
ftellung der Religion als Verbaltnis Mottes und
des Menſchen (Phanomenologic des religiöſen
Bewußtſeins der Menſchheit); B. die Begründung
der Religion in Gott (Metaphyſik der Religion);
C, pſychologiſche Betradtung des religiojen Subjetts
und feiner Wetitigungen; TD. die Geſetze des
religtofen Lebens. Wir heben des beſchränkten
Raumes wegen nur einiges Charatteriftiide heraus.
Dazu gehört in erfter Yinie der energiſche Kampf
gegen die auf der Grundlage eines antimetaphyſiſchen
Agnoftizismus und naturaliftijden Evolutionismus
ſich erbebende cinjeitige pſychologiſche und hiſtoriſche
Betrachtungsweiſe, ferner der Proteft gegen dtc
durch den Neufantianismus, insbeſondere die
Theologie Albrecht Ritſchlo, yur Herrſchaft gebrachte
Auffaſſung der Religion als vor allem und
weſentlich praktiſcher Große, endlich die ſtrilte
Ablehnung jedes rein anthropologiſchen Erflarungs:
verſuchs. Nach dieſem iſt die Religion cin meta:
phyſiſch begründetes Bhanomen, an dem alle
piychologiſchen Funktionen gleichermaßen beteiligt
ſind. Der hiſtoriſche Entwidelungsprozeß iſt nichts
weiter als die immer völligere Verwirklichung des
religiöſen Ideals. Im Chriſtentum, deſſen Prinzip
von den mannigfachen Erſcheinungsformen unter
ſchieden werden muß, iſt der Nulminationspuntt
des religiöſen Werdeganges erreicht. Das Ideal,
die volle Gottmenſchheit, iſt verwirllicht. Darum
iſt das Chriſtentum abſolute Religion, ſeinem
Vrinzip nach unüberſchreitbar. Der einzigartige
Wert der Religion in theoretiſcher wie praktiſcher
Rückſicht, ihre Unentbehrlichleit für die Bildung
ciner . cinheitlichen Weltanſchauung wie auc fiir
cinen ſegensreichen Fortſchritt in fultureller, ins:
bejondere moralifder Beziehung werden vom Ber:
fajier unter fteter Bezugnahme auf die vielfad
anders gericteten Tendenzen der Gegenwart gleich—
falls sur Sprache gebracht. Wer fied fiir religions:
philoſophiſche Fragen intereffiert, wird aus dem
Buche mandes fernen fonnen.
Widminnen, O.P. M. Luar, Prediger.
p Die Riniginnen von Kungahälla“. Novellen
pon Selma Lagerlsf. Einzig beredstigte Uber:
ſetzung aus dem Schwediſchen von Francis Maro.
Albert Langen, Verlag fiir Literatur und Munjt.
Minden 1903. Die feltene und cigenartige
Fähigleit, alte Sagenftoffe neu zu geftalten, die
Selma Lagerlöf ſchon in Gifta Berling bewieſen,
berührt uns auc in dieſer Sammlung wieder mit
kräftigem berbem Saud. Selma Lagerlof befigt
wie wenige moderne Schriftſteller — wie wenige
moderne Menſchen — die innere Ganzheit, die
Unberührtheit durch Problemſucht und zerfaſernde
Reflexion, die zu reinem, ſtarkem und in gewiſſem
Sinn naivem Dichter und Geſtalten die Kraft
qibt. Sie fiebt die Fragen unſeres ſeeliſchen und
Medantenlebens in cinfachen und großen Formen,
und ſie fieht ibre Geftalten Mar und ſchlicht und
ſinnlich. So darf jie es wagen, an den Helden
alter Seiten weiter zu bilden, fidjer, ihr Wejen
nicht zu zerſtören. Einfach und unwillkürlich fügt
ſich auch das, was fie bincintragt in die alte Welt,
ibrem Stil und ihrer Wert.
„Allein ich will’, Roman von Frieda Freiin
yon Bülow. Dresden und Leipzig. Verlag von
Rarl Reifiner, 1905. Frieda von Bülow führt in
ibvem neuen Homan wieder in das Milieu, das
iby vor allem vertraut ijt, die Kreiſe Ded thüringiſchen
Yandadels. Die Meftalten dices Kreiſes ftellt fte
in gewobnter Lebendigfcit und in einer typiſchen
Biicheriebau.
Treue hin, die man wie bei cinem quten Bortrat |
empjindet, aud obne das Urbild yu fennen: die |
fraftige, {are Gunne, cin Freiluftgeſchöpf von
raffiger Schinbeit und Gangbeit, die alles gewalt—
titig proteaierende Grafin Dieter, deren Innerlich—
feit in einem reizvoll problematijden Dunfel bleibt,
der alte Graf in feiner umerichiitterlichen bof:
minnifden Oaltung, deren Züge die Spuren abr:
bunderte alter Trabditionen zeigen. Ausgezeichnet
ift auc) der Typus der kleinen Dorfdiafoniffin ge-
ſchildert, wabrend der cigentliche Held, der Pfarrer
Vaca, troy vieler lebendiger und unmittelbar
fprechenber Siige etwas Gedantenhaftes, nicht ganz
zu Fleiſch und Blut Gewordeneds bat. Der Geſamt⸗
cindrud, den „Allein ic will’ binterlaft, ift der
cines nach Form und Inhalt feinen Buches.
2e Congrés International des Oeuvres ot
Institutions Féminines tenu au Palais des
Congres de l'Exposition Universelle de 1900,
Compte rendu de Travaux par Mme Pégard,
Paris. Imprimerie Typographique Charles Blot.
7, Rue Bleae, 1902. Die vier ftattliden Bande |
(jeder ift 500-800 Seiten fang) der Verbandlungen
des vor Mle Monod geleiteten internationalen
Kongreſſes geben cin Bild, weniger derinternationalen
Frauenbewegung, al der franzöſiſchen, da das
franzöſiſche Element bier mehr als ſonſt wobl die
Gigenart des Landes, in dem der internationale
Kongreß ftattfindet, in ben Vordergrund trat. Ait das |
cin Abbrud nad der Seite des Anternationalismus,
fo erhöht es doch dad Charafteriitijde diefer Ber:
handlungen und ihren Wert fiir die Renntnis gerade
der franzöſiſchen Bewegung, iiber die uns font
nidt viel Material vorliegt. Der Bericht folgt
chronologifd) dem Programm der Verbandlungen,
nicht der Berteilung auf die Seftionen, wie cd
vielleicht tiberfichtlicher gewefen ware. Die Seftionen
umfajjen Philanthropie et Economie sociale;
Legislation et Morale; Education; ‘Travail;
Lettres, Sciences. Cine Menge brennender Fragen
der Frauenbewegung aller Lander werden erdrtert.
Die Gegenjage ftofen gum Teil heftig aufcinander,
das madt das Bild um fo bewegter und die Dis:
tuſſion um fo vielſeitiger. Beſonderes Intereſſe
haben die Verhandlungen über Frauen: und Kinder:
arbeit, über die Sittlicifeitsirage, iiber die Frau
im Familienredht. Man lernt für die Wrbeit tm
cigenen Lande febr viel aus dev Kenntnis frember
Anjdauungen und Sujtinde, Forderungen. und
Fortſchritte auf dem gleichen Gebiet. An Bereins:
bibliothbefen und ,,Bibliothefen zur Fraucnfrage”
follte das Werf unbedingt vorbanden fein.
„Geſchlecht und Charafter’’. Cine pringipielle
Unterfudung von Dr. Otto Weininger. Wien
und Leipzig, Wilhelm Broumiiller, A. u. K. Hof:
und Univerfitats Bucbandler 1903. Cin 600 Seiten
ftarfer Band unter diefem Titel muß allen, die an |
der „Frauenfrage“ cin Intereſſe baben, zunächſt
als eine hochwilllommene Gabe erſcheinen. Iſt
dod) die Frage nad der geiftigen Differenjierung
der Geſchlechter gugleich fo brennend und fo ſchwer,
daß cin Beitrag zur Loſung von außerlich fo
burchaus wiſſenſchaftlichem Geprage unter allen |
Umſtänden wertvoll erſcheinen mus. Cin wenig )
ftusig macht nun ſchon die Borrede. C8 jollen
nicht die Ergebniffe der erperimentellen Pſychologie
verivertet, jondern es foll „die Ubleitung alles |
123
Megenfabes von Mann und Weib aus cinem
einzigen Prinzip“ verfucht werden, Trotzdem will
der Berfaffer nicht ,,induftive Metapbyfit’, fondern
„ſchrittweiſe pſychologiſche Vertiefung“ geben. Cr
will wohl von der Erfabrung ausgeben, ſogar vom
„Alltäglichſten und Oberflächlichſten“, aber er will
fie dann philoſophiſch deuten. Was dabei berauss
fommt, erinnert etwas an die pbhilofopbifden
Gedichte der Gnoſtiker: cine willkürliche Anwendung
philoſophiſcher Begriffe auf Gebiete pfychologiſcher
Erfabrung, bet der fic) die allerwunderbarſten
Rejultate ergeben, cin Mißbrauch der Wiſſenſchaft,
gegen den fic von ihrem Standpuntt aus vielleicht
nod das Wort ergreift — wenn cd ihr lohnt;
ein Spiel mit logiſchen Formen, bet dem man nur
nicht begreift, wie der Verfaſſer, der cine äußerlich
fo reiche philoſophiſche Bildung befigt, im Weſen
feiner geiftigen Arbeit fo durchaus unwiſſenſchaftlich
fein fann, Und fo ift das Buch fiir die Lofung
der Frage „Geſchlecht und Charafter” im Grunde
vollfommen wertlos — von dem Zynismus, mit
dem der Berfafier feine CErfabrungen über die
Frauen gemacht und verivertet bat, gar nicht ju
reden. Seine Definition ded Weiblicden tft das
Ungebeuerlicite, was je über die Frau gejagt
worden ift. Sie ernft nebmen hieße fic) lächerlich
machen.
„Deutſches Familienrecht“. Von Dr. Ocinrig
Dernburg, Geb. Juſtizrat, Prof. a. d. Universitat
Berlin, Mital. d. Herrenhauſes. Halle a. S. Buch—
handlung des Waifenbaujes, 1903, Preis gebunden
12 Markl. Das neue bürgerliche Geſetzbuch ijt und
bleibt im feiner rein juriſtiſchen Faſſung den meiften
Yaien cin Buch mit fieben Siegeln. Das möchte
am meiften beim Familienrecht zu beflagen fein,
deffen Vorſchriften die innerlichſten Antereffen der
allerbreitejten Bevolferungsfreije unter Umſtänden
beriihbren fénnen. Das Buch des befannten Juriften
| Dernburg hat ſich die Aufgabe geitellt, das Familien:
recht des neuen bürgerlichen Gefegbudes zu er:
tlären; fowobl in beyug auf feine Bedeutung fiir
die im Buchftaben des Geſetzes gar nicht auedriic:
baren hundert verſchiedenen individucllen Falle des
lebendigen Lebens, als auch vor allem in bejug
auf die Abjidten ded Geſetzgebers, die bei der
Schaffung ded biirgerlichen Geſetzbuches mafgebend
geweſen find. Er jcigt und in der objettiven Be:
leuchtung der Wiſſenſchaft die verſchiedenen rid:
laufigen und forticbrittlidjen Stromungen, die bet
ber Entſtehung qeaencinander wirften, und lebrt fo
jeden Paragraphen verſtehen als cin hiſtoriſches
Dofument gewiffermafen. Gerade wer, wie wir
Frauen, an die Notwendigleit ciner ſchnellen Weiter
entwidlung des Familienrechts glaubt, wird aus
diefen klaren, fachlichen umd von vornehmem twiffen:
ſchaftlichen Gift getragenen Darftellungen den
größten Nugen ziehen fonnen, aud wo man dic
leiſe angedentete ober doch durchblidende Stellung
ded Verfaſſers yu dieſer oder jener Frage nicht
teilt. Renntnis nicht nur ded Wortlauts, fondern
auc der fojialen und biftorijden Bedeutung des
herrſchenden Familienrechts ift aber die erfte Not:
wendigfeit, wenn die Frauen binnen furyem mit
neuen — oder gum Teil mit den alten — Wiinjden
an die Geſetzgebung berantreten wollen. Wir fonnen
bem Buch, das diele Renntnis wie fein anderes
vermittelt, nur in unferm cigenften Sutereffe dic
weitefte Berbreitung wünſchen.
14 Bucherſchau. — Anjeigen.
„Mutterrecht, Frauenfrage und Welt—
auſchaunng““ von Dr. Mar Thal. Breslau,
Schleſiſche Berlagsanftalt von S. Schottlaender,
1903. Der Verfaſſer gebt aus von einer Daritellung
des Mutterrechts im Anſchluß an ein new er:
ſchienenes juriftifdes Buc von Paul Wilutzky,
deffen erfter Teil: Mann und Weib, diefe Frage im
Sinne von Bachofen cingehend behandelt. Die
feit Bachofen viel betonte Bedeutung des Ber:
baltnijfes von Mutter und Kind fiir die Entwidhing
ſozialer Gefittung wird auch bier ftarf bervor:
achoben. Die Gegner Bachofens ſcheinen cin wenig
zu flüchtig abgetan, als daß der Laie ein klares
Bild von den Grundlagen ihrer Einwände erhalten
fonnte. Im zweiten Abfebnitt gebt der Berfaffer
unter der Überſchrift: „Frauenfrage und Zeitgeiſt“
auf die Gegenwart iiber. Gr fieht die Urſachen
der josialen Stellung der Frau in der Gegenivart
in antbropiftifdben, ökonomiſchen und ſittlichen
Momenten, die er dann in großen Zügen — gerecht
und vorurteilsfrei, aber beſonders in bezug auf die
dlonomiſche Seite der Frage ein wenig zu
ſummariſch — beleuchtet. Mudd in der Art der
Sceidung von bürgerlicher und proletarifder
Wrauenfrage, bei der dte gange Frage der Frauen:
Lobne als „Frauenfrage“ nicht anerfannt wird,
liegt vielleicht vom formal juriſtiſchen Standpuntt
aus cine gewiffe Berechtigung, aber die volfswirt:
ſchaftlichen Sufammenhange werden durch dieſe
Scheidung nicht Mar herausgeftellt. Die Forderung,
daß die Musbeutung der weiblichen Arbeit durch
nicdere CEntlobnung fiir gleichwertige Leiftung
bejeitigt werde, fann als eine „offenſichtlich
nur ſozialiſtiſche“, die mit der Frauenfrage
eigentlich nichts zu tun babe, nicht wobl aufgefaßt
werden. Etwas zu niedrig ſcheint der Verfajjer
auch die Bedeutung der Mutterſchaft für die
Erwerbstätigkeit der Frau einzuſchätzen. Aber über
dieſe einzelnen Fragen müſſen tm Augenblick die
Meinungen mit Notwendigkeit auseinandergehen Die
Hauptſache iſt, daß an die Betrachtung der Tat—
ſachen ohne vorgefaßte Meinungen und Urteile heran—
gegangen wird. Und das iſt hier durchaus der Fall.
„Der alte und der neue Glaube“. Ein Be—
lenninis von David Friedrich Strauf. Bolts:
ausgabe in unverlürzter Form. „Das Leben
Jeſu“. Für das deutſche Volk bearbeitet von
David Friedrich Strauß. Zwei Teile. Volks—
ausgabe in zwei Banden. (Preis 2 Mark.) Bonn,
Verlag von Emil Strauf. 104. So boc man
bie biftorifdbe Bedeutung von David Fricdric Straus
einſchätzen mag, fo ſcheint es faum gerechtfertigt,
ibn heute in Maffen unter das Volk gu verbreiten.
Strauß felbjt bat fied cinmal peinlich beriibrt ge:
funden, als ihm feine aud wiſſenſchaftlicher Arbeit
und inneren Kämpfen geborenen Anjehauungen
wieder entgegengebracht wurden von einem leicht⸗
fertigen, flachen Radilalismus, den fic weder wiſſen—
ſchaftliche, noch Gewiſſenskämpfe getoftct batten.
Und etwas Ahnliches tut ihm eine ſolche Volks:
audgabe doc) wieder an. Beſonders das , eben
Jeſu“, iiber deſſen wiſſenſchaftliche Methode die
Theologic in ebrlicer Arbeit binausgefommen ijt,
follte dem deutiden Bolt nicht nod einmal als
etwas vor der Wiſſenſchaft Giltiges — fo wird es
dod natürlich aufgefaft — Ddargeboten werden.
Dem reifen Menfchen, der von der Cinfeitiateit der
Meinung die Bedeutung der Perſönlichleit qu trennen
vermag, Strauß in feinen biftorifden Sufammen:
hang zu ftellen, ibn als cine Erſcheinung in der
Sntwidlung des deutſchen Geiftestebens zu erfajjen
verftebt, dem mag die billige Musgabe wertoll
fein. Uber das find dod) nur twenige.
Die Ubhiirtung der Kinder’, cin Mabnivort
und Wegweifer von Dr. Rudolf Heder, Privat:
dozent ber Minderbeilfunde an der Univerfitat
Minden. Gebauer⸗Schwetſchke, Hallea.S 1,60 Mt.
Der Verfaſſer gibt aus feiner reidbaltigen
Erfabrung wertvolle Ratſchläge ſür Mütter und
Erzieher. Cr tft durdaus nicht gegen die Wb:
bartung der Minder, wendet fic) aber auf das
entidicdenjte gegen die fogenannte ſyſtematiſche
Kaltwaſſerabhärtung fleiner Kinder, aus der nad
ſeiner Erfabrung, von der er zablreiche Beiſpiele
beridjtet, weit mebr Schaden als Nugen bervorgebt.
*
Mit
olchen friſchen Mundes Pracht,
Mit ſolchen blanfen Zähnen lacht,
Wer täglich, namentlich vor Nacht,
„Odol“ fic zum Geſetze macht!
Bücherſchau. — Anjeigen. 125
Schering’s Pepsin
nod Dorfdrift vom Geh«Rath Profeflor Dr. O. Ltebreich, befcitigt binnew kurzer Bett Verdanungs-
beſchwerden, Sodbrennen, Magenverſchleimung, dic dolgen von Unmsgigtels tm Shien
und Trinken, und ijt gang befonders Frauen und Madchen zu cnpfeblen, die rnfolge Bleichſucht, Hofterie und aͤhnlichen
Suhduden en nerviter Magenſchwäche tciven. Preis Fl. 3 Ol, Jl. 1,50 M.
4 ’ 3*43 Berlin N.,
Schering's Griine Apotheke, chaniice- Sreae 2.
Niederlagen in faft fimtlichen Mpothefen und DrogenhanMungen,
Man verlanae ausdrilig 2 Sdyering’s PeplineCfiens. Wes
„Handarbeit der Mädchen“. pene — —
Reformpläne. Bon Johanna Sprachkranke Kinder | J Zum Abiturium
Hipp. Mit 166 Abbilbungen. | find. griindl. Meilunterricht vu. ena. Vorbereit. flr Madchen
Stragburg, Friedrid) Bill. Cin | liebevolle Aufnahme bei Johanna | Pension. Villa mit grossem Garten.
Bud, das dem Handarbeitsunter: | LOK: ker. Tociterschals und Dr. math, F. Haft und Frau.
richt neue * weift, bie ibn | Strasse al Beste Empfehl.
aus dem hergebrachten Schematis⸗ ;
mus befreien, der fo oft das tep poeden Familien-Penfion J. Ranges
Intereſſe Der Kinder tötet. Wiles, von {#1
was zu lernen ift, wird an saath dana. cae wales? Elifabeto Voadhimstgal
Gegenftanden geiibt, die praktiſch — ta ber Rabcié BERLIN
zu verwerten find, dadurch wird 72 WBauſtraße 72, wo Potsdamerftr. 35 I. rests
— au natdictich | gearbeitet — — — —3——— Vlerdebahnverbindung nad allen Rid
bedeutend erhöht. Das Wert ift | Bertin gS. 14. Suite. Preisfatalog gratid. | tungen. Eolide Breife. Befte Referenpen.
jedenfallS allen Handarbeits lehr ··ü — — — —
rinnen ſehr zu empfehlen, weil ⸗ 6
ſie eine Fülle von Anregung Damen Wo nungen.
daraus ſchoöpfen werden, 1—4 Zimmer mit Kochgelegenheit, vollſtändig in ſfich abgeſchloſſen. Billlger Lebens-
unterbalt durch gemeinf, Haush. Schutz file Perfor und Eigentum. Gemeiniame Inter ⸗
Im Verlag von Ernſt Wunder: 2
lich, Leipzig, ſind neu erſchienen Uusbeutung,
von A. Reufauf und & Hevn: | Gefelliger
pp Die Madchen: Fortbiloungs- aerate
ſchuie“. Bortrag gebalten un A; Bejdrantung,
Bezirkslehrerverein Schneeberg- — Stift
Reuftadtel und Umgegend am = Ff So ae ondern ges
29. November 1902. Von Julius i seme
Queifier, Dircftor der ftadtiiden | ff —
S i id | H eberg,
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Pouillonfapjel zuſetzen fann, weich
gekocht. Unterdefjen ſchält man
5—6 grofe, weinſäuerliche Apfel,
nimmt das Rernhaus heraus,
ſchneidet fic in Scheiben und laf
fie in wenig Butter weid werden,
fiigt dann foviel weißen Wein
dazu, wie man Sauce baben will,
nad Belieben Suder und | bis
2 Löffel gewajdene Sultaninen,
verfoct alles gehörig zu einer
dickflüſſigen Sauce, die man nad
Geſchmack mit einigen Tropfen
Sitronenjajt und 2—3 Tropfen
Maggi⸗Würze abgeſchmeckt und yu
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Serantwortlig filr die Redattion: Helene Lange, Berlin. — Verlag: BW. Mocser Buddsanodlung, Berlin & — Drud: B. Moefer Budsrucerci, Bertin S.
ee 11.Jahrg. Heft? opm QV ice derember 1903 ed
DIE FRAU |
— Te XS) pv;
Aecrausgegeben as ——
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pon W. Moeſer Budhaudlung.
DMelene Lange. Berlin 8.
“es
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Rofa Maypreder.
RNaddrud verboten.
an könnte als Erklärung fiir die erftauntichen und unbegreiflicen Widerſprüche
in Den Ausſagen über „das Weib”, die das Problem der Gefchlechts-
pſychologie ju einem der verworrenjten madden, die Begrenztheit des individuellen Er—
fabrungsgebietes und die Sufdlligfeiten annehmen, die da mitſpielen. Aber nicht,
daß die Ausjagen fiber „das Weib” fo widerjprucsvoll find, ijt das Beſondere
und Auffällige daran, fondern dah fie gewöhnlich in der Form apodiktiſcher Urteile
auftreten, als Generalijationen mit dem Anſpruch auf allgemeine Giltigfeit. Und doch
jind die Unterfediede unter den einzelnen weiblichen Jndividuen fo grog, dah auch
Die denfbar reichjte Erfabrung nicht die Möglichkeit bietet, alle Frauen fennen ju
fernen.
Welche Schidjalstiide mun ijt e3, die fiir die meiften eine ganz einfeitige Aus—
wahl trifft? Warum widerfabrt den einen von den Frauen foviel Seblechtes, den
anderen foviel Gutes? Welches geheime Geſetz regelt die Begeqnungen, aus denen
jeder Mann die Summe jeiner Frauenfenntnis zieht?
Deutlicher als überall offenbaren fich hier die beiden, dad menſchliche Geiſtesleben
in feinen Untergriinden am ftirfiten bindenden Cigentiimlicfeiten: Die Abhängigkeit
alles Denkens von det angeborenen Cigenart des einzelnen, und die RNeigung, die Er-
gebnifjfe deS eigenen Denfens für obieltive Wahrheiten zu halten. Wenn die
„Wahrheit“, die eine individuelle Intẽlligenz hervorbringt, immer durch eine beſtimmte
Weſensart bedingt iſt, muß nicht der verborgene Zuſammenhang zwiſchen dem ſogenannten
y
130 Das fubjettive Geſchlechtsidol.
objeftiven Denfen und der geiſtig-körperlichen Konſtitution dort am unbedingteften
fein, wo ¢3 fic) nicht um Prinzipien des reinen Erfermens bandelt, fondern um
eine fonfrete Erſcheinung, die den Mann perſönlich fo nabe angebt, wie „das
Weib”? —
Der geiftige Prozeß, der fic abwidelt, wenn eine Verallgemeinerung zu ftande
kommt, wenn einzelne Daten der Erfabrung, in ein gemeinfames zuſammengefaßt, zu
ciner Schlußfolgerung beniigt werden, iit von der Perjon de3 Erfabrenden nicht yu
trennen; font fonnten die gleichen Tatſachen von verfchiedenen Beobachtern nicht ganz
verſchieden gedeutet werden,
Aber auch jene, die vermitteljt aprioriſcher Aufftellungen iiber ,,die wabre Natur
des Weibes” Ausfunft geben, das „Weſen des Weibes“ aus den „Prinzipien der
reinen Vernunft“ begriinden oder gar von der „platoniſchen Adee des Weibes”
ausgeben, müſſen der Frage unterworfen werden, welches die urfpriinglicen
Bedingungen find, fraft deren ſolche Ideen in einer individuellen Intelligenz auftauchen,
die Frage, wie weit ihre Cubjeftivitat ſchon bei der Entitebung jener allgemeinen
Vorausfepungen mitgewirkt bat.
Es war der Cinfedler von Sils Maria, der Mann der „ausſchweifenden Hed:
lidsfeit”, Dex darauf hinwies, daß in diefen Dingen jeder nur zu erkennen vermag,
was bei ibm darüber ſchon ausgemadt, was in der Tiefe feiner Wefensbefebaffenbeit
beſchloſſen ijt:
„Im Grunde von uns, ganz da unten’ gibt e3 etwas Unbelebrbares, cinen
Granit von qeijtigem Fatum, von vorberbejtimmter Entſcheidung und Antwort...
Tiber Mann und Weib yum Beifpiel fann cin Denker nicht umlernen, fondern nur
auslernen — nur ju Ende entdeden, was dariiber bei ibm ,fejtitebt’. Wan findet
beizeiten gewiſſe Löſungen von Problemen, die gerade uns jtarfen Glauben machen;
vielleicht nennt man fie fürderhin feine ‚Aberzeugungen‘. Spater — fiebt man in
ibnen nur Fuptapfen yur Selbjterfenntnis, Wegweifer yum Probleme, das wir find —
richtiger, zur großen Dummheit, die wir find, zu unjerem geiftigen Fatum, zum
Unbelehrbaren ganz joa unten‘.“ (Jenſeits von Gut und Bafe.)
Er ſchickt diefe Bemerfungen jenem einfeitigen und ungerechten Urteile voraus,
das er über die Vertreterinnen der modernen Franenbewequng fallt, und unterſtreicht
folcbergeitalt ausdrücklich, daß es nur fein fubjeftiver Geſchmack ijt, der da redet.
„Auf diefe reichliche Artigkeit hin, wie ich fie eben gegen mich felbjt begangen habe,
wird es mir vielleicht cher ſchon geftattet fein, fiber das Weib an fich' einige Wabrbeiten
herauszuſagen: gefest, da man es von vornberein nunmehr weiß, wie febr es eben
nur — meine Wabrbeiten find.”
Dod lange vor Nietzſche hat Goethe su Edermann das merfiviirdige Wort
gejagt: „Die Frauen find filberne Schalen, in die wir goldene Apfel legen. Meine
Idee von den Frauen tit niet von den Erſcheinungen der Wirklichkeit abjtrabiert,
fondern fie ift mir angeboren oder in mir entitanden, Gott weiß wie“.
Und bet Grillparzer findet fic) der Ausſpruch: „Was ijt es auch, ein Weib? ...
Gin Etwas, das nie etwas und nie Nichts, je demnach ich mir’s dente, ich, nur ich.”
(Cin Bruderzwiſt in Habsburg.)
Behaupten wir alfo eimmal: Die Stellung, die der einzelne Mann in der Theorie
wie in der Praris dem Weibe gegeniiber einnimmt, berubt nur zum geringiten Teile
auf Erfahrungen — nod mehr: Die Erfabrungen, die jeder macht, find ſchon im
Das jfubjeftive Gefchledtsidol. 131
Vorbinein durch eine urſprüngliche Anlage feiner individuellen Natur beftimmt. Außere
Erlebnivje können dieſe urſprüngliche Anlage nicht erbeblicher verdindern, als die
Cigenart felbjt durch dufere Einflüſſe zu verindern ijt. Ohne eine Wandlung in der
Ronjtitution, wie fle allenfalls durch Alter oder Krankheit entſteht, wird ſchwerlich
jemand über das andere Gefchlecht von Grund aus umlernen, was immer Gutes oder
Schlimmes ibm geſchehe. Der befebrte Weiberfeind ijt zwar in der Romantiteratur
cine baufige Erſcheinung; in Wirklichkeit dürfte diefe Bekehrung aber fo jelten fein
wie jene fundamentale Wandlung religidfer Art, die felbjt der chriſtliche Glaube nur
durch einen Aft der göttlichen Gnade bewirkt werden apt.
Jede Qudividualitdt reagiert auf bejtimmte Reise anders. Unter der Bezeichnung
des fubjeftiven Geſchmadces ijt diefe Tatiache ja eine der landläufigſten Beobachtungen.
Bei den gewöhnlichen Menſchen, deren Bewußtſein in Hinſicht auf ihre Sexualität
ſich nicht viel über die Dumpfheit des Inſtinktlebens erhebt, bleiben auch die durch den
jubjeftiven Geſchmack beſtimmten Vorſtellungen über dad andere Geſchlecht dumpf und
unentwickelt. Cie übernehmen das konventionelle, dad heißt, dad durch die Mehrzahl
geſchaffene Urteil und behalten es häufig auch dann, wenn es ſich nicht recht mit der
Praxis ihres Lebens deckt, weil fie nicht aufgeweckt genug find, um ſich ihres
perſönlichen Empfindens reflexiv bewußt zu werden. Wo aber Phantaſie und Leiden—
ſchaft oder ein geſteigertes Abſtraktionsvermögen ſich zur Individualität geſellen wie
bei den geiſtig produktiven Menſchen, füllt ſich das Bewußtſein mit beſtimmteren und
deutlicheren Vorſtellungen.
Der Rompler von Eigenſchaften, der unſere beſondere, von allen anderen ver—
ſchiedene Perſon ausmacht und ſich als Juhalt unferer Ichvorſtellung im Bewußtſein
ſpiegelt, erzeugt, gewiſſernaßen als Nebenprodukt, mehr oder minder ſcharf begrenzt
cin ergänzendes Bild, das wir in Me Außenwelt projijieren und in den Individuen
des anderen Geſchlechtes verwirklicht ſuchen. Das gilt gleicherweiſe vor männlichen twie
vom weiblichen Geſchlecht. Da das männliche Bewuftfein aber das mitteilfamere,
das erpanfivere iit, und viel mebr von feinem Inhalt als gedankliche Schöpfungen nad
außen richtet, läßt ſich dieſer Borgang eber bei Männern beobachten, umfomebr, als
feine Konſequenzen vermöge der Machtftellung des männlichen Geſchlechtes fiir die
Allgemeinheit größere Bedeutung haben.
Bei der fubjeftiven Voritellung über „das Weib“ hilden die Erfahrungstatſachen
bloß das Baumaterial, der Bauplan iſt durch die Individualität feſtgeſetzt. Nach
dieſem Plane werden alle Erfahrungstatſachen interpretiert; alle Wahrnehmungen
ordnen ſich auf dieſe Weiſe geſetzmäßig zu einem Typus. Was ſeinen Typus be—
ſtätigt, ergreift jeder mit Aufmerkſamkeit und bewahrt es mit willigem Gedächtnis:
Eindrücke, die dieſen Typus beſchränken oder gar aufheben könnten, werden als
ſtörend, als hemmend, als unangenehm empfunden, werden vielfach gar nicht apperzipiert,
und wenn, ſo ſchwinden ſie raſch wieder aus der Erinnerung.
Nichts iſt ſo bezeichnend wie die unfehlbare Sicherheit, welche die meiſten
Männer bei ihren Generalurteilen über „das Weib“ leitet, Männer ſogar, die allen
anderen Erſcheinungen der Erfahrungswelt gegenüber die vorſichtigſte und gewiſſen—
bafteſte Denkerzurückhaltung bewahren. Dieſe Sicherheit zeigt, daß fie ohne weiteres
das empiriſche Weib mit dem immanenten verwechſeln. Das empiriſche Weib, das
reale Einzelweſen weiblichen Geſchlechtes, iſt eine vielfältige und in ſeiner Vielfältigkeit
ebenſo inkommenſurable Erſcheinung wie der Mann; das immanente Weib hingegen,
g*
132 Das fubjeltive Geſchlechtsidol.
das Geſchöpf der Cinbildungstraft, iſt jedem bekannt und vertraut wie fein eigenes
Ich, weil es ja aus diefem Ich hervorgegangen und organife mit ihm verwachſen tt.
Allen Generalurteilen eines Mannes fiber das Weib kommt in eriter Linie eine
Bedeutung alS Symptom feiner eigenen pſychoſexuellen Anlage yu; fie baben mebr
einen biograpbifden als einen normativen Wert. Was er vom Weibe hot und
fürchtet, wünſcht und vorausſetzt, feine Meinung über das, was das Weib fein „ſoll“,
geftattet einen ziemlich untrüglichen Schluß auf feine cigene Weſensbeſchaffenheit.
Es ijt ein Bedürfnis nach Ergänzung, iwelches als oberites Geſetz das pſychiſche
Verhältnis der Geſchlechter beherrſcht. Diefem Bediirfris gemäß tragt das Idol, das
die Phantafie jedes Cingelnen von den Perfonen de3 anderen Geſchlechtes ſchafft, jene
Blige, die cine Ergänzung, in gewifjer Hinficht fogar eine Umkehrung feines eigenen
Weſens bilden; es entſteht in der Pſyche wie die fomplementare Farbe im Auge.
Richard Wagner, dejjen theoretiſche Schriften fo viele Beitrage zur Dichter- und
Muſikerpſychologie enthalten, gewabrt einen bemerkenswerten Cinblid in die Entitebung
eines fubjeftiven Geſchlechtsidoles in der ,, Mittetlung an meine Freunde,” wo ev feine
Dichtung ju Lohengrin al’ Symboliſierung eines innerlichen Erlebnijfes fchildert. Den
tieferen Sinn diejer Dichtung bezeichnet er, indent er fein eigenes Empfinden in der
Gejtalt des Lohengrin verfdrpert, als die Sehnfucht aus der einfamen Hobe der reinen
Ritnitlerfehaft nad) der Tiefe des allgemeinfamen menſchlichen Lebens. Und von diefer
Hobe gewabrt fein verlangender Blid — das Weib. „In Elfa erjab ic von Anfang
herein den von mir erjebnten Gegenfag Lobengrins — natürlich jedoch nicht den
dDiejem Wefen fern abliegenden, abjoluten Gegenſatz, jondern vielmebr das andere Teil
feines eigenen Wefens, den Gegenfag, der in feiner Natur überhaupt mit enthalten
und nur die notwendig von ibm ju erſehnende Ergänzung ſeines männlichen befonderen
Wejens ijt. Elſa ijt das Unbewußte, Unwillkürliche, in welchem das bewußte, twill:
kürliche Weſen Lohengrins fic) zu erlöſen febnt.”
Wie charakteriſtiſch iſt es für die Individualität Richard Wagners, deſſen Gefabr
als Künſtler eben in der doktrinären Bewußtheit fag, daß er das „wahrhaft Weibliche“,
dem er in Elſa „mit Sicherheit auf die Spur zu kommen“ glaubte, im Unbewußten,
Unwillkürlichen erblidt! Das Nberwiegen der Verſtandestätigkeit, die für den künſtleriſch
produktiven Menſchen ein ſo ſtörendes, beläſtigendes, hinderndes Element iſt, erſcheint
ihm als das, wovon er „erlöſt“ werden möchte. Da aber eine ſo mächtige Einwirkung —
wenn jie überhaupt denkbar ſein ſoll — nur durch cine pſychoſeruelle Verſchmelzung
herbeigeführt werden kann, projiziert er das, was er ſich erſehnt, in die Geſtalt eines
Weibes, „des Weibes“, des „wahrhaft Weiblichen“ —. Allerdings ijt er ferne davon
geweſen, dic Verkörperung dieſes wahrhaft Weiblichen ausſchließlich in weiblichen
Individuen zu ſuchen, oder gar, es als Norm zu betrachten, nach welcher in der
Realität die „echten“ von den unechten zu ſcheiden wären.
Darin iſt ſein Empfinden viel tiefer und reicher, oder wenn man will, gerechter
geweſen, als das ſeines Gegners Nietzſche. Daß ſich aber auch hinter dem Idol
Nietzſches ein Weſensgegenſatz, das Bedürfnis nach „Erlöſung“ verbirgt, beſtätigt er,
deſſen ſchickſalsvoll entſcheidende Eigenſchaft der Drang nach unbedingter Wahrhaftigkeit
und Redlichkeit des Denkens war, durch die Vorſtellung: „Nichts iſt von Anbeginn
dem Weibe fremder, widriger, feindlicher als Wahrheit — ſeine große Kunſt iſt die
Lüge, ſeine höchſte Angelegenheit iit der Schein und die Schönheit. Geſtehen wir es,
wir Männer: wir ebren und lieben gerade diefe Runft und diefen Inſtinkt am Weibe:
Das fubjettive Geſchlechtsidol. 133
wir, die wir es febwer haben und uns gerne yu unferer Erleichterung yu Weſen
qejellen, unter deren Händen, Blicen, jarten Torbeiten uns unfer Ernſt, unfere Schwere
und Tiefe beinabe wie eine Torbeit erſcheint.“
Diefe Verberrliduing der weiblichen Lügenhaftigkeit und Oberflächlichkeit gehört
zu den feltjamiten Beifpielen der Geſchlechts-Idolatrie. Man vergleiche damit den
Grimm und Abſchen, mit dem die Männer des Mißtrauens und der Unehrlichkeit —
inSbefondere jenc, die an ibrem eigenen miftrauifden und unehrlichen Weſen leiden,
die fich gerne darüber erbeben möchten — von den qleichen weiblichen Eigenſchaften
reden, wie body jie die Cinfalt und Gefiiblsticfe am „echten“ Weibe preijen. Nicht
anders die Unmäßigen, die Zügelloſen, dic Lafterbaften unter den Männern, die
das Weib als Adol des febdnen Maes, der Züchtigkeit, der Reinheit anjubeten
pilegen. |
Die Herridaft, die das fubjeftive Phantaſiebild im Seelenleben des Einzelnen
ausübt, erreicht zuweilen dic Gewalt einer firen Idee; aber auch wo es nicht diefen
wabnbafter Charatter anninunt, bleibt es cine der ſtärkſten und unüberwindlichſten
JIlluſionen. Stebt es doch in inniger Beziehung zu der wichtigſten Angelegenbeit, die
pas menſchliche Triebleben aufer der Selbjterbaltung kennt: yur geſchlechtlichen Auswahl.
An den Liebesbeszichungen gewinnt dad fubjeftive Gefcdlechtsidol ſeine größte Bedeutung;
Da ijt auch die Verblendung, die es bewirft, am leicteften yu beobadsten.
Nichts anderes als dieſe Gerrjchaft des immanenten Weibes in der Liebe meint
Macterlind, wenn er fagt: „Vergebens werden wir rechts oder links, in den Höhen
oder Riederungen wablen, vergebens werden wir, um aus dem Zauberfreis beraus-
yufommen, den wir unt alle unſere Lebensäußerungen gezogen fühlen, unferen Inſtinkt
vergewaltigen und cine Wahl gegen die unferes Sternes zu treffen verfucben — wir
werden doch immer dic vom unſichtbaren Geftirn berabgeftiegene Frau erfitren. Und
wenn wir gleich Don Quan eintanfenddret Frauen küſſen, werden wir (zuletzt) einfeben,
daß immer diefelbe Frau vor uns ift, die gute oder die böſe, die zärtliche oder die
grauſame, dic Liebende oder Die ungetrene.”
In feiner ſchwülſtig-ekſtatiſchen Manier ſpricht Prybiszewski davon: „Bevor ich
dich fab, warſt du in mir... lagſt du fo in unbefleckter Reinheit als ein Urbild
keuſch in meinem Gehirn, eine rein angeſchaute Idee . . . und in einem Nu hatteſt
du die Fäden zwiſchen meinem ſchaffenden Gehirn und der ſchlummernd brütenden Tier—
ſeele des Geſchlechtes geſponnen . . . und du, Geſchlechtstier, biſt mit dir, dem Urbild
meines Hirnes, zuſammengefloſſen und wurdeſt eine große Einheit.“ (Vigilien)
Hier läßt ſich zugleich ein unheilverkündender Ton vernehmen; denn es kann
nichts Gutes bevorſtehen, wenn ein „Geſchlechtstier“ und eine „rein angeſchaute Idee“
zuſammenſließen.
Das ſubjektive Phantaſiebild beſtimmt das individuelle Verhältnis zwiſchen dem
einzelnen Mann und dem Weibe ſeiner Wahl: zum Glücke der Beteiligten, wenn die
reale Perſon des Weibes dem Idole entſpricht — als Verhängnis, wenn ſich das
Idol mit der unrechten Perſon verknüpft. Wn den Irrtümern, die den mißglückten
Liebesverhältniſſen zu Grunde liegen, hat die Herrſchaft des ſubjektiven Phantaſie—
bildes einen großen Anteil. Der Kampf zwiſchen dem immanenten und dem empiriſchen
Weibe wird oft in ſeiner ganzen Gewalt aus den leidenſchaftlichen Anklagen und Vor—
würfen ſichtbar, aus dem verzweiflungsvollen Schwanken zwiſchen Haß und Liebe,
welches den Auflöſungsprozeß ſolcher Verhältniſſe begleitet.
134 Das ſubjektive Geſchlechtsidol.
Bis zum Außerſten geſteigert, mit einer abſtoßenden pathologiſchen Note, aber
großer künſtleriſcher Aufrichtigkeit, erſcheint dieſer Kampf in Strindbergs „Beichte eines
Toren.“ Aus der Verworrenheit, Inkonſequenz und Launenhaftigkeit der Leidenſchaft,
die Da bald mit Wutausbrüchen, bald in ohnmächtiger Ratloſigkeit an das Urteil des
„aufgeklärten Lefers” appelliert, tritt bald das Idol, bald die reale Perfon des Weibes
bervor, je nad den Umſtänden, in welchen der Autor [ebt. Wenn er mit feiner
Geliebten bauernd beiſammen ift, verdringt die reale Perſon das Idol und erfiillt ibn
mit argwöhniſcher Uncube; wenn er ſich von iby entfernt, „ſteigt das Phantom des
bleichen, jungen Weibes, das Spiegelbild der Jungfrau Mutter” vor ibm auf; „das
Bild der zügelloſen Komödiantin“ ijt aus feinem Gedächtnis weggewiſcht. Man kann
erraten, daß dieſe Frau ſich unter dem ſuggeſtiven Einfluß feines Idoles anders gibt
als fie ijt; fobald fie aus der Rolle fallt, wird fic fiir ibn ein Gegenſtand des Abſcheus
und der Verachtung. Er vermag abjolut nicht, fich irgend cine flare und zutreffende
zorſtellung won ibrer wirklichen Beſchaffenheit zu machen; ſchon allein der Gedante,
daß fie ſexueller Regungen fähig fein könnte, bringt ihn außer Nand und Band: „ſollte
dieſe kalte und wohllüſtige Madonna zur Klaſſe der geborenen Dirnen gehören?“ —
Es gibt keine Unwürdigkeit, die er ihr, während er mit ihr vereinigt iſt, nicht nachſagte;
er ſchäumt vor Bosheit und Tücke wider fie, vergleicht fie mit Der Spinne, die ihren
Mann auffript — und kaum iſt er von ibr getrennt, wiederbolt ſich dasſelbe Spiel:
pote Madonna meiner erjten Liebestrdume taucht empor, und das gebt fo weit, dah
id) bet cinem Sufammentreffen mit einem alten Rollegen von der Journaliſtik geſtehe,
Daf ich durch cin edles Weib demiitiger und reiner geworden bin.”
* *
*
Alle die unendlich verſchiedenen Frauencharakteriſtiken, die als Ausſagen über
„das Weib“ in der Literatur aller Zeiten niedergelegt ſind, ſie geben auch Zeugnis für
die Mannigfaltigkeit der Idole, welche die männliche Phantaſie hervorbringt. Dian
Fann dieſe Idole nach dem Rangverhältnis gruppieren, das ſich in ihnen ausſpricht,
jenem Rangverhältnis, in das ſich der Mann als Perſon zu dem Weibe als Perſon
jest. Da dad männliche Geſchlecht gemäß der äaußeren Ordnung der Dinge das erſte
und herrſchende iſt, wird gerade das geſchlechtliche Rangverhältnis, wie es ſich in der
Vorſtellung des einzelnen Mannes vollzieht, zu einem individuellen Kennzeichen von
beſonderem Gewicht. Gemäß der äußeren Ordnung der Dinge kann der Mann das
Weib nur unter ſich ſtellen. In dieſer Ordnung herrſcht das Idol der Leibeigenen.
Trotzdem ſpielt in der Kulturgeſchichte das Idol, das der Mann über ſich ſtellt, das
Idol des „höheren Weſens“ oder der Gebieterin, cine nicht yu unterfchavende Rolle,
ebenſo wie das Idol, das der Mann neben ſich ſtellt, die Gefährtin. In dieſen drei
Geſtalten ſind allerdings nur die allgemeinſten Umriſſe des Verhältniſſes gegeben, aber
jenen drei Gruppen entſprechend, in welche ſich die Männer nach ihrer Geſchlechtsnatur
ſcheiden, und die ſich als Die herriſche, dic ritterliche und die kameradſchaftliche bezeichnen
laſſen!).
Da der Rang und Wert der einzelnen männlichen und weiblichen Individuen
ein völlig relativer iſt, könnte jeder Mann, fefern er in der Tat objeftiv wäre, unter
den Frauen der Wirklichfeit nad Belieben ſolche finden, die über ifm, wie ſolche,
1) Siebe meinen Artifel Die Dame”, „Zukunft“, 1901, Nr Hl.
Das fubjeftive Geſchlechtsidol. 135
die neben oder unter ibm ſtehen. Der gewöhnliche unbedentende Mann müßte alfo
am eheſten dazu kommen, das Weib fiber fich zu ſtellen; während nur die Manner
auf den höchſten Gipfeln der menſchlichen Vollendung, wie fie von Frauen bisher nie
errveicht worden ijt, unbedingt das Weib unter fic) erbliden diirften. Aber gerade
das Gegenteil ijt dex Fall. Die niedrigiten und erbärmlichſten Wichte fühlen ſich in
der Negel dem Weibe überlegen und genießen ibr herriſches Selbſtgefühl in brutalen
oder boshaften Aten; indes viele der edelften und vornehmſten Reprafentanten dev
Mannlichfeit das Weil als Gebieterin oder als Gefährtin dachten, alſo ein Idol über
fic) hinaus febufen.
Je tiefer und reicher die erotiſche Sphäre in einer Perſönlichkeit entwidelt ijt,
deſto reicher und individualifierter wird auc das Phantafiebild fein, das fie von dem
anderen Gefdlechte hervorzubringen vermag. Cine diirftiqe, ſpröde, cinfeitige Erotik
empfindet das Weih immer nur als inferivres, fiir die Swede ded Manned gefchaffencs
und von ihm grundverfchiedenes Weſen. Sie kann weder ein inbaltsvolles noch cin
harmonifdes Bild des Weibes entwerjen; tm beften Fall wird es mit gan; allgemeinen,
ganz oberflächlichen Geſchlechtsqualitäten ausgeſtattet fein, im ſchlimmſten tiberbaupt
nichtig, ohne jede eigene Weſenheit, ein leeres Blatt, auf das erſt der Mann ſeinen
Willen ſchreibt.
Das Bild der Leibeigenen, das ſubjektive Geſchlechtsidol des herriſchen Erotikers,
iſt das älteſte, das verbreitetſte und vulgärſte, es beſtimmt auch die Stellung, die dem
weiblichen Geſchlecht, wenn ſchon nicht in der Geſellſchaft, ſo doch vor dem Geſetze
eingeräumt iſt.
Wenn die Leibeigene ihr völliges Gegenteil in der Vorſtellung der Gebieterin,
dem Idol der ritterlichen Erotik, findet, ſo vollzieht ſich dabei, wie denkwürdig immer
dieſe Umkehrung fein mag, doch an dem Grade der Fremdheit im Verhältnis der
Geſchlechter keine weſentliche Anderung. Die Voritellung der weiblichen Schwäche,
die bei dem herriſchen Mann dominiert, gibt auch für das ritterliche Idol den
Ausſchlag; nur ijt fie hier mit der Vorſtellung der ſittlichen Nberlegenbeit des Weibes
qepaart und bewirft, daß der Herr und Meijter jum Diener und Beſchützer wird,
der fic) in freiwilliger Unterordnung gefällt, foweit er ſich als Beſchützer fühlen fann.
Aber die Vorftellung eines weitgehenden, ja unitberbriidbaren Unterſchiedes liegt
tief im Wefen des ritterlichen Idoles; eS wurzelt in dem Bedürfnis nad) Abjtand wie
das herriſche Idol, nur die Richtung, nach welcher es sielt, tt cine andere. Ohne
~
dic Bewahrung einer gewiſſen Entfernung zwiſchen ſeinem Trager und der Perjon, an
die es ſich beftet, Fann es nicht bejteben — weshalb Nietzſche meinte: „Der Sauber
und die mächtigſte Wirkung der Frauen ijt. . . cine Wirkung in die Ferne, eine
actio in distans; dazu gehört aber, juerit und vor allem — Diftans.”
Die rubmvolljten Geftalten, die dad ritterliche Idol je angenommen hat, Dantes
Beatrice und Petrarcas Laura, verleugnen dieſe Dijtany nicht; wie denn als die
cigentliche Domine des ritterlichen Jodoles, das Berührungen mit der Realitat am
ſchlechteſten verträgt, die Poeſie erſcheint: indes der herriſche Crotifer, der, bar aller
Romantif, feine Vorſtellungen aus dem Lehm des täglichen Lebens fnetet, ſich das
Weib ganz fiir den Hausgebrauch zurechtgemacht bat.
Vielleicht das einzige, das in ſich ſelbſt die Bedingungen eines wirklichen Ver—
ſtändniſſes, eines wirklichen Naheſeins zwiſchen Mann und Weib enthält, iſt das Idol
der Gefährtin, die fubjeftive Vorſtellung, daß das Weib nicht über, noch unter dem
186 Das fubjettive Geſchlechtsidol.
Mann, fondern neben ibm ftebt, in einer menfeblichen Gemeinſchaft, deren feruelle
Differengierung ebenfo wenig aus feiner intelleftuellen wie aus feiner phyſiſchen UÜber—
legenheit entfpringt. Diefes Idol wird öfters, und namentlich von den Rigorijten
unter den herriſchen Grotifern, fiir cine ſchwächliche Erfindung des modernen iweiblichen
Denkens ausgegeben, oder auch fiir ein Verjfallsproduft, weil es erſt feit den
Tagen der grofien franzöſiſchen Revolution exiſtier. An Wabrbeit ijt es aber
yon weit älterer Mbfunft; einige der berrlichften Geijter des WAltertumes — wie
Plato und Plutarch — haben es gefannt; und wenn man der Erzählung von
Raria und Martha cine fumptomatijde Bedeutung beimejfen darf, fo bat auch Jeſus
den Willen sur geiftigen Gemeinfamfeit am Weibe dem Willen zum Dienen vorgezogen:
„Maria bat das beffere Teil erwählt, das foll nicht von iby genommen werden,”
Diefe drei Typen treten in Wirklichkeit weder fo ftreng gefondert, nod fo
deutlich ausgefprodien hervor; aud erſchöpfen fle keineswegs die Mannigfaltiqfeit der
fubjeftiven Idole. Bon anderen Kennzeichen ausgebend, bat Ria Claagen in cinem
der geiftreichjten und — fiir jene angemerft, die dem weiblichen Geijte die Originalitit
abſprechen — eigenartigften unter den Beitrigen zur Geſchlechtspſychologie (das Frauen:
phantom des Mannes, Ziircher Diskuſſionen LV) drei andere Typen gezeichnet, die fic
nad) ibrer Meinung immer gleich bleiben und ju allen Seiten wiederbolen: das Phantom
pom Weibe des Siindenfallg, das Phantom der Jungfrau-Mutter, und als „ab—
fcreulichjtes Phantom, das je in Menfebenbirnen umging,“ das des nurgeſchlechtlichen
Weibes — „bequemſtes Objet fiir den Sultan Geſchlechtstrieb“ . . .
Die Rachſucht, die Schwärmerei und die platte Gemeinbeit, die jeweils den
Gejhlechtstrieh des Mannes begleiten, find in diefen drei Geftalten glänzend wieder:
gegeben; nur die freundlichen, zärtlichen, kameradſchaftlichen Vorſtellungen, die doch
aus dem Verkehr der Geſchlechter nicht wegzuleugnen find, geben bei Ria Claaßen leer
aus. Daber gipfelt ihre Auffaſſung des Geſchlechtsverhältniſſes in der düſteren
Prognoſe: „Das Schopenhauer - Strindberg'fehe Phantom, das Phantom von dem
Weibe ded Siindenfalls itberbaupt, ijt wie das Altejte, fo auc das modernite, das
Rukunftsphantom. Denn nicht größtmögliche Intimität der Geſchlechter ijt die Loſung
der nächſten Zeit, fondern größtmögliche Fremdbeit, wenigitens in ibren boberentiwidelten
€remplaren.”
Es ijt wabr, die moderne Literatur bietet Anzeichen genug, die darauf ſchließen
laffen, da die Wabnvoritellungen über das Weib in den Köpfen der herriſchen
Erotifer nichts von der alten Schärfe des Gegenſatzes eingebüßt baben. Sollte aber
das Frauenphantom, wie es aus dem Kopfe John Stuart Mills oder Bebels
oder Björnſons oder Walt Whitmans bhervorging, an foszialer Bedeutung dem
Schopenbauer-Strindbergiden nicht gleichkommen —? Und er, der vollendetite Re—
prijentant der erotiſchen Genialitit, Goethe, follte fiir kommende Geſchlechter nicht
mebr vorbildlicy fein —? Mifverftindlicerweife — und vielleicht war es cin williges
Mifveriteben, mit deffen Hilfe ſich das deutſche Philiitertum der Autorität Goethes
bemächtigte — gilt ganz allgemein das Wort: ,,Dienen lerne beiseiten das Weib,”
als dad fiir Goethes Stellung jum iweiblichen Geſchlecht bejeichnende, während ev es
doch einem heroiſchen Madden als Ausdruck freiwilliqer Selbſtbeſcheidung im den Mund
legte — jener Dorothea, an der Humboldt tadelte, daß fie unweiblich genug war, im
Augenblic der Gefabr gleich einem Manne ju den Waffen yu qreifen. Wie Goethes
fubjeftives Idol ausſah, erbellt unzweideutig ans feiner Anſchauung: wenn die Frau
Das fubjettive Gefchlechtsidol. 137
pibre übrigen Vorzüge durch Energie erbeben fann, entftebt ein Wefen, das fich nicht
vollkommener denfen (apt... Der Ausfpruch yer foll dein Herr fein’, ift die
Formel einer barbariſchen Beit, die Lange voriiber ijt; die Männer fonnten fich nicht
villiq ausbhilden, ohne den Frauen gleiche Rechte zuzugeſtehen“ — und feine Werke
geben reichlics Zeugnis davon, dah er es veritand, ,,mit Mannesgefühl die Helden:
größe des Weibes” zu tragen.
* *
*
Und ſo wäre „das Weib“ nur ein Produkt des männlichen Gehirnes, eine ewige
Täuſchung, cin Schemen, das alle Geſtalten annehmen kann, ohne doch jemals eine
davon wirklich zu beſitzen?
Das Weib als Abſtraktion, als Objekt des Denkens eriſtiert nur im Kopfe des
denkenden Subjeftes und iit fo abhängig von dieſem, wie es in der Natur des
Denfens liegt; das Weib als Individuum bejtebt fiir fic, und ijt fo edel oder fo
gemein, fo begabt oder fo dumm, fo ſchwach oder fo ftarf, fo gut oder fo bife, fo
ähnlich dem Manne oder ihm fo entgegengefest, fury, fo verſchiedenartig, als es in der
Natur der menfeblichen Gattung liegt. Erſtaunlich genug — dieſe einfache Beobachtung,
die tauſendfältig durch das Leben wie durch die Darſtellung des Lebens beſtätigt
wird, kann ſich nur in den ſeltenſten Fallen gegen die Macht des ſubjektiven Idoles
durchſetzen!
Nichts muß den Frauen ſo angelegen ſein, als gegen die Abſtraktion zu
kämpfen, in die fie beſtändig durch das männliche Denken verwandelt werden. Gegen
das Weib als Idol müſſen ſie kämpfen, wenn ſie als reale Perſonen ihr Recht in der
Welt erobern wollen. Das bedeutet, aus der Paſſivität hervorzutreten und das
Schweigen über ſich zu brechen, ſelbſt auf die Gefahr hin, daß fürs erſte wenig Er—
bauliches dabei herauskommt. Viele Männer halten es fiir die große Schamloſigkeit
der modernen Frauen oder auch für ihre große Torheit, daß ſie mit Enthüllungen
und Bekenntniſſen den Schleier zerreißen, den die männliche Phantaſie um ſie gewoben
hat. Das Schweigen mag ſeine Vorteile haben; aber alle Vorteile der Welt werden
ein Weſen, das ſich ſelbſt als Perſon zu fühlen beginnt, nicht damit ausſöhnen, für
etwas anderes gebalten zu werden, als es iſt.
Vergebens wäre es freilich, zu hoffen, durch irgend welche Argumente die Macht
des ſubjektiven Idoles zu brechen.
Es iſt eine Sache der Weſensbeſchaffenheit, nicht der beſſeren Erkenntnis, ob
Mann und Weib einander als freie Gefährten oder als Herr und Untertan gegenüber—
ſtehen. Doch könnte es wohl eine Sache der beſſeren Erkenntnis ſein, das Verhältnis
von Mann und Weib als ein Verhältnis von Perſon zu Perſon aufzufaſſen, das ſich
vernünftigerweiſe nicht generaliſieren läßt, eine Sache der beſſeren Erkenntnis, ein—
zugeſtehen, daß die Subjektivität hier das Unüberwindliche iſt.
138
Vie Verwandlungen der use.
Bon
Felix Poppenberg.
Raddrud verboten.
‘ ur cin Bilderbogen mit flüchtigem Tert, abgerijjenen
AN Rotijen, ſchnell firierten Cindriiden äußerer
oe Momente ijt das ſchmale Buch, das Luigi Rafi
iiber dic Dufe gefebrieben. (Berlin, S. Fiſchers Verlag.)
Hugo von Hofmannsthal und Hermann Babr haben
dic Erſcheinungen diefer tragiſchen Menſchlichkeit tiefer
erlebt und dieſe Erlebniſſe voll überrieſelnder Gegen—
wartsſchauer zwingender gebannt, als dieſer Schau—
ſpieler, der ihr perſönlich weit näher gekommen, der
mit ihr zuſammen geſpielt und in gemeinſamem Nach—
bilden dramatiſcher Geſchicke ihre Hände auf ſeiner
Stirn gefühlt. Cr ijt nur, im Sinne des Niebeſchen
Wortes, ein ,,verebrendes Tier”, cin getreuer Vaſall,
cin ebrlicher Freund, der wohl auch der Gefeierten
den Tribut der Aufrichtigkeit nicht vorenthalt und
bewundernden Zweifel und zweifelnde Berwunderung in
Die Dufe von A.M. Rouſſoſſ. ſeine Hymnen miſcht.
— ramping ear’ — D'Annunzio fang das Lob der Berge, Flüſſe und
&. Filter Berlag, Serlin. der lateiniſchen Erde, Luigi Rafi fingt die Laudes der
Duje. Im Flächenſtil find fie qebalten; der ſie anhebt,
hat wobl den guten Willen zur Hingabe, wir glauben ihm die Starke der Empfänglichkeit,
aber den Ausdruck, die Vibration des Wortes hat er dafür nicht gefunden. Er vermag
unferem Gefiibl von der Duſe nichts hinzuzufügen. Und dod legt man died Heft
nicht teilnahmslos beifeite. Es ift nicht felber fritchtereich, aber es bewegt die
prangendjten, edeljten Baume im Garten der Erinnerung, daf fie die goldenen Blatter
Flingen laſſen. Es weckt Reminiszenzen und Langballende Ecos. Es läßt mit der
Fille der mannigfaden Bilder, die es nach Photographien, Zeichnungen, Gemialden,
Büſten bringt, einen Reigen vor uns aufziehen, wechſelnd ſchickſalsvoll, die Ver—
wandlungen der Duſe. Und eine jede ſpricht ein anderes Wort und aus den Worten
bildet ſich mit drängender Gewalt ein abgrundtiefes, mitternächtiges Lied von
Menſchenleben.
Und hinein klingen begleitende Stimmen, Spiegelbilder ſteigen auf, den realen
Aufnahmen ſtellt ſich herriſch übermächtig das imaginäre Porträt entgegen, das ein
großer Künſtler von der großen Künſtlerin geprägt, — Gabriele d'Annunzio in „Fuoco“, —
und das ihr neue weitere und erhabenere Möglichkeiten darſtelleriſcher Kunſt verkündete
Die Verwandlungen der Duje. 139
und fie aufrief aus dem Alltag de biirgerlichen Dramas zu Königsdrama und Höhen—
ſchickſal, sum Feier- und Fejttheater aus Marmor in den albanijcben Bergen . . .
Verſchlungene Wege find es, die yu dieſer übervollen Gegenwart der Dufe fiihren,
Wege der Vollendungsfebnjucht. Mit Schauſpieler-Anekdoten beginnen fie in der Luft
Die Dufe nach cinem Olgemilde vou Gordigiant.
Mus: Luigi Rafi, die Duje. CS. Fiſcher Verlag, Berlin.
J
italieniſcher Wander-Komödianten und yur Sphäre einer comoedia divina ſteigen jie
auf und münden in der goldenen Pforte der Francesca von Rimini.
1K *
*
„Figlio dell’arte“, cin Theaterkind, iſt die Duſe und wie Vorbedeutung
künftiger Unſtäte, der gegeben, an keiner Stätte zu ruhen, erſcheint es, daß ſie in der
Eiſenbahn zur Welt kam, am 3. Oktober 1859. Mit vier Jahren tritt ſie ſchon als
Coſetta in einem nach dem Victor Hugo-Roman bearbeiteten Drama „J Miserabili*
140 Die Verwandlungen ber Dufe.
auf. Qu Chivggia, der Fifcherinfel, deren roftrote Segel über dad Adriatiſche Meer
leucbten, Deven marmorweife Felsblide am blauen Geftade die Stimmung griechiſcher
Inſeln bringen, fpielt die Dufe ibre erſten Rinderroflen. Abr Grofvater Luigi war
der richtige italieniſche Komödiant der alten Schule, cin Hijtrione, cin legter Ausläufer
der Goldonizeit, Der den Stil und die Tradition des altvenctianijden Theaters in
vellfommener Echtheit bewabrte. Er gehörte zu jener Gruppe, die aus Beobadhtung und
Charakteriſierungsſchärfe typiſche Figuren ſchaffen und alle markanten Raſſeeigenſchaften
einer beſtimmten nationalen Art ſtark koloriert im Hohlſpiegel zeigen. Er bildete die
Maske des venetianiſchen Giacometto aus, einer Parallele zu der des mailändiſchen
Menegbino. Cin Bild zeigt ibn uns in dieſer Rolle in ſchwarzer, ungeſcheitelter,
qlatter Periide, in ein ganz dünnes Zopfſchwänzchen auslaufend, mit ſchwarzfleckigen
Augenbrauen, dunfelblauem Goldoniwams, bunter blumengeſtickter Weſte, roten Knie—
bofen, weißen Strümpfen und ſchwarzen Lederſchuhen mit Silberſchnallen.
Er hatte eine Familientruppe zuſammengeſtellt, und in ihr war Eleonore das
Theaterkind, Figlio dell'arte; cin abgezehrtes blaſſes Mädchen mit verſchüchtertem
Blick in dürftiger Kleidung, ſo ſtellt ſie eine kümmerliche Photographie aus dieſer
Zeit dar.
Luigi Raſi ſchildert die erſten Wanderfahrten, die richtige Zigeunerzeit mit aller
Miſere und Ode der fahrenden Leute, voll Unluſt und grauem, hoffnungsloſem Verdruß.
Dod einmal blühen Roſen auf, und cin Schimmer fällt in die Trübſal. In einer
Romeb⸗Vorſtellung ju Verona erwacht etwas, cin Strahl von jenem Weſen, das dann
viel ſpäter mit Liebeslaut die Welt entzückte und d'Annunzios Frauenlob „O grande
amatrice“ weckte. Als Julia erſchien die Duſe mit roten Roſen, und ihr wortloſes Spiel
mit dieſen langgeſtielten Kelchen, der Gefühlsausdruck, der die Blumen ſprechen ließ,
gab eine Vorahnung jener ſpäteren großen Kunſt, die den unbelebten Dingen Seele
und Leidenſchaft einhauchte, fd dak die ganze Atmoſphäre um fic mit einer Fülle des
Fühlens durchſtrömt wird.
Ihre Bahn geht aufwärts. 1879 im Teatro Fiorentini in Neapel geſtaltete
ſie das erſtarrte Grauen der Tereſe Raquin, mit ſchreckensvoller Wahrheit, daß das
Publikum wie gebannt ſaß und nicht zu klatſchen wagte.
Mit dieſer Vorſtellung hatte die Duſe ihrem Namen Bedeutung gegeben. Ein
Phänomen ſchien das denen, die fie kannten, cine ganz plötzliche Befreiung aus einem
unbewußten Puppenzuſtande, aus einer vegetativen, dumpfen Exiſtenz, die fie bis dahin
„ſtumm, verſchloſſen, ſich in ſich ſelbſt verkriechend“ geführt hatte, mit den „großen,
ſchwarzen, unbeweglichen Augen und den in die Höhe gezogenen geſchweiften Augen—
brauen“.
In Raſis Schilderung begleiten wir ſie weiter. Wir ſehen ſie nun als Frau
Duſe-Checchi im Teatro Carignano zu Turin in der Roſſi-Geſellſchaft. Sarah
Bernhard tritt auf dieſer Bühne auf, von ihr geht für die Duſe alle’ Vorſtellung von
Ruhm und Größe auf, alle Elemente ihres Weſens werden entbunden, und in „la
femme de Claude ſpielte fie erſchütternd auf der ganzen Skala menſchlicher Affekte.
Das Konvulſiviſche vor allem brachte ſie damals mit erregender Echtheit zur Erſcheinung:
„die von einem unmerklichen Zucken bewegten Augen blickten unruhig von einer Seite
auf dic andere, Röte und Bläſſe wechſelten mit unglaublicher Schnelligkeit auf ihren
Wangen. Die Naſenflügel bebten, die Lippen zitterten, ſie biß die Zähne zuſammen,
das ganze Geſicht war in fortwährender Bewegung. Und die Geſtalt bewegte ſich in
Die Berwandlungen ber Dufe. 141
ſchlangenhaften Windungen oder wie in völliger Erſchlaffung, und fie folgte dabei
jeder Mefte, jeder Bewegung des Armes, Der Hand, der Finger, jedem Zucken der
Geſichtsmuskeln.“
Und 1892 erringt die Duſe den großen Wiener Sieg, mit dem ſie Europa erobert.
+ *
*
Raſi analyſiert gewiſſenhaft weiter, wie ſie ihre Rollen ſpielt und geht als
getreuer Vaſall mit ihr von Dumas und Augier bis ju den leßten Wandlungen, zu
den Dramen d'Annunzios, zum Traum eines Frühlingsmorgens, zur Gioconda,
zur toten Stadt, zur Francesca. Doch hier, wo wir ſelber geſchaut und erlebt,
vermag er nicht uns zu bereichern. Seine Reproduktionen dieſer Geſtalten haben nur
matten Abglanz. Dies „geſteigerte Scheinleben“ der Duſe in der ſtarken Seelen- und
Schickſalsſphäre ihrer letzten Bühnengeſtalten kann nur ein Gefühlskünſtler von
geſpannteſter Intenſität aus einer ſchwingenden Empfänglichkeit wiederſpiegeln. In
d'Annunzios Buch „Fuoco“ iſt es bleibend im koſtbaren Schrein bewahrt.
Was Raſi uns aus dieſer ſpäteren Zeit zu bieten hat, ſind nur Zeichen des
außeren Lebens. Momente der vie privée, Einzelzüge.
Er erzählt von der Herrſchaft der Duſe während des Spiels und er gibt der
dilettantiſchen Auffaſſung von der Schauſpielkunſt damit eine heilſame Erkenntnis.
Primitiv iſt die Annahme, daß die großen Darſteller völlig reſtlos in ihren Geſtalten
aufgehen. Cin viel geheimnisvolleres Bhanomen begibt fic. Cine Art Doppeleriſtenz ſpielt.
Gewiß deckt ſich Haltung, Sprache, der mimiſche Ausdruck des Erlebens ganz mit dem
vom Dichter geſchaffenen Weſen, aber es iſt immer noch, ohne dieſes zu beeinträchtigen,
cine Art Uberbewußtſein da, das ganz genau jeden Schritt und jede Bewegung verfolgt,
das wie eine immanente Gottheit in der ſchauſpieleriſchen Schöpfung wohnt, und jeden
Augenblid cingreifen fann als eine, im Verhältnis zur Scheinnatur der Bühne über—
natürliche Macht. .
Es mag ähnlich fein, wie bei gewiſſen febr intelleftidsarfen und analytifd
geſchulten Menſchen im wirklichen Yeben, die ſelbſt in bewegten Affekten, wenn ihr
Körper vor Erregung bebt und die Hände ſich ballen, ganz genau mit dem Gehirn ſich
beobachten, ſich zuſehn, und die Worte, die der Mund aus aufgewühltem Inneren
haſtig herausſtöhnt, wie die eines Fremden anhören.
Rafi gibt von dieſer Erſcheinung des Doppel-Ichs auf der Bühne mance Proben
und zeigt, wie Dic Duje felbjt in einer Situation, wo fle mit allen Fiber aus vollem
Fühlen beteiliqt iit, immer mit dem überſchwebenden Bewußtſein, den Gang des Stites
verfolgt, fic Den Worten der ſchwächeren Künſtler anpaßt, den Vergeßlichen zuflüſtert,
ihnen eine Bewegung, eine Betonung ins Gedächtnis ruft, wie es Raſi einmal ſelbſt
erging, der, offenbar ohne dieſe ſouveräne Gabe, in „Antonius und Cleopatra“, als
Bote ſo von den Zorn- und Leidenſchaftsausbrüchen ſeiner Partnerin überwältigt
wurde, daß er ſich nicht zur Zwiſchenrede faſſen konnte.
Wir hören fie reden und ſich unterhalten. Mber die Schweigſame ſcheint von
Zeit zu Zeit ein nervöſer Reiz zu kommen, eine Furie überſtürzten Sprechens, cin
Stimulieren durch Worte bis zum Ermatten. Sie überläßt ſich dann allen Sprüngen
der Einbildung, eine faſt erſchreckende Beredſamkeit iſt's, die „mit ihrer wilden Strömung
Menſchen und Dinge mit ſich fortreißt“. „Sie verherrlichte Byron und Shelley, ſprach
über Chriſtentum und Heidentum, behandelte die Korſettmode, würzte die Unterhaltung
durch einen Brocken Shakeſpeare, ſtreifte den Tod des Fürſten Ghika, die Dogane, die
142 Die Verwandlungen der Dufe.
Bigeuner, den Kornzoll, die lateiniſche Raſſe, die orientalifdse und landete endlid
erſchöpft bei Dantes Vita nuova, Den „eigenen ſcharfen kindlichen Ton” der Duje
halt Raji fet, als er fie fiber den Zahnſchmerz Hagen läßt: Wher das ijt cin ſchwäch—
licheS Leiden! Bon den Würmern gefrefjen zu werden, ehe man tot ijt! Denn was
ijt die Caries weiter? Es ijt cin Wurm, der uns lebendig benagt!”
* *
Andere Worte kennen wir aber noch von ihr, tiefere, weſenhaftere als dieſe etwas
phonographiſch genrehaft und anekdotiſch reproduzierten. Hermann Bahr bat mit feinerem
und weicherem Nachempfinden dieſe Stimme der Duſe nachklingen laſſen. Ihre Sehnſucht
ſpricht in dieſer Stimme „ſo demütig feierlich, mit ſolcher innigen Angſt um das innere
Leben, um die Fragen der Seele, um den letzten Sinn und die Abſichten unſeres
Schickſals“:
„Wenn die Seele einmal etwas geträumt hat, iſt ſie wie ein kleines Kind, dem
man etwas verſprochen hat. Sie gibt nicht mehr nach, ſie läßt ſich nicht mehr
beſchwichtigen. Sie geht neben einem her und zupft einen am Kleide, daß man nicht
vergeſſen ſoll. Und man kann iby geben was man will, es nugt nichts, fie verlangt,
was man iby verfproden bat. Und man zeigt ibr die ſchönſten Dinge. Man zeigt
ihr die Hoben Berge und Wilder und das Meer, das ewige Meer. Aber die Fleine
Seele will nicht. Cie mag die Berge nicht und die Walder nicht und das Meer nicht.
Sie will, was man ibr verfproden bat: fie will ibren Traum, Und wenn man ibr
ibren Traum nicht gibt, ijt fie trauriq und weint.”
Diefer Traum der Duje ijt cin Theater, jenfeits der Alltagstrivialitat, jenfeits
der Dramatif bürgerlicher Konflikte, die fie fich tibergefpielt und die ibe jum Cfel
find. Yon cinem Theater träumt fie, das gleich der antifen Schaubühne die Menſchen
im Böcklinſchen beiligen Hain zu einem Felt des Lebens vereinigt, von dem teatro
d'Albano, dem teatro di marmo sul colle romano. Und der Schaujpieler ftiinde
„wie ein Priefter, wie ein Seber, mit frommen Gebärden begliidende Worte verteilend,
königlich ausitreuend, was der Dichter in feine Hände gelegt“.
Der Dichter — nach ibm bungerte ihre Seele. Demütig beugte fie fic und
jpradh von der Ohnmacht der Schauſpielkunſt: eine große Welle kommt rauſchend
heran und nimmt alles mit. Und dam verrinnt fie. Dann find nur nod) fleine
Kreiſe, immer fleiner, immer jtiller, inuner leiſer. So eine Welle ijt die große Sarah
gewefen . . . Und dann id. Ich auch. Und die Welle möchte alles mitnebmen,
Die ganze Menſchheit forttragen, fort aus diefem Leben, ins Unendliche, in die
Schönheit fort. Aber wir fonnen es nicht. Nein, die Schaufpieler können es nidt.
Allein können fie es nicht: Denn fie find dod) nur wie Scbiffe, ganz fleine Schiffe und
größere Schiffe, aber alle brauden die Flut der Dichtung . . .”
Was bier ans einer gebobenen Stimmung innerer Cinkebr Flingt, das deutet
Rajt auch an, den fürchterlichen Uberdruß der Dufe an dem Theater von beut mit
Rulifien und Schminke und falſchen Lampen, dieſen Uberdruß, der ſich (nur ein
pſychologiſcher Laie kann über den Widerſpruch lächeln) doch eint mit der Une
miglichfeit, je von dicjer Stitte ſtärkſter Qual und ſtärkſter Gefühlsbetätigung ſich
freizumachen: „Ihr Genie und ihr Fatum müſſen fie erbarmungslos verdammen, das
Joch der Bühne weiter zu ſchleppen“; zu einem ſchmerzensreichen Glück ohne Ruhe
und einem erſt an den Leiden zum ſtärkeren Gefühl erwachſenden Daſein iſt ſie
gezeichnet.
J
Die Verwandfungen ber Dufe. 143
Und ant tiefften fpracd dies Schickſal Hugo von Hofmannsthal aus: „Von Jabr
zu Nabr, vor Land gu Land febeint fie blindlings zu fallen, ‚wie Waſſer von Klippe
zu Klippe geſchleudert“ Abr Kommen und Verſchwinden ijt aufregend wie das Herab-
taumeln eines verwundeten Sturmvogels auf das mit Menſchen überfüllte Verde
eines Schiffes. Sie ijt das ruhmbeladenſte Geſchöpf der Erde und das ruheloſeſte;
ihre Reiſen ſind Triumphzüge, und ſie gleichen einer Flucht. Wie der Fieberkranke
ſeine Kiſſen, wechſelt fie die Vander der Welt und findet nicht fußbreit, ſich auszuruhen.
Es iſt, als hätte dieſe ganze Welt nicht den Garten, der ſie umfrieden kann, nicht den
Brunnen, an deſſen Rand ſie die fiebernde Schläfe kühlen, nicht den Baum, in deſſen
Schatten fle einſchlummern wird” ..
* x
*
Bei der Bahrſchen Zeichnung der Duſe voll „demütiger Feierlichkeit und inniger
Angſt“ denkt man unwillkürlich an die Geſten der Florentiner Kunſt, die ſie ſo liebt,
an die harrende ergebungsvolle Haltung der Annunziaten, die ihre Berufung gläubig—
empfänglich erwarten, an jene Annunziata vor allem im Hof des Findelhauſes von Luca
della Robbia, vom Fruchtkranz umgeben über der Gnadenpforte.
Der Eleonore Duſe-Annunziata ward ihre Berufung, ſie kam ihr aus dem
herriſchen Werke Gabriele d'Annunzios. Die rätſelvollſte aller modernen Perſönlich—
keiten ſcheint er; er gleicht im äußeren wirklich, wie Bahr es ausſprach, einem
berechnenden Spekulanten, ſicher iſt er herzenskühl und verſchlagen; ſeine Menſchlichkeit
läßt ſich nicht greifen und halten und entſchlüpft jeder Neugier ſpielend gewandt,
aalglatt. Künſtliche Züchtung und hochmütige Selbſtſteigerung, einen eiſigen Ideen—
Egoismus, eine mit wahnſinnigem Raffinement fazettierte Eitelkeit ſpürte man an
dieſem Menſchen. Aber er hat vielleicht heute die ſublimſte künſtleriſche Intelligenz;
ſeine Vorſtellungen und Anſchauungen der Dinge ſind höchſt entwickelte Kultur. Er
iſt kein ſeherhafter Dichter, des „Antlitz mit Träumen ganz beladen“, aber er iſt
durchtraänkt mit den erleſenſten Eſſenzen der früchteſchwerſten Kunſtperioden. Cin
fürſtlich prunkender Erbe, thront er über den Schatzkammern, die ſich an den geiſtigen
Rleinodien aller Beit bereichert haben, und ſouverän febaltet feine Gand init ihnen
und prdgt fie unt sum Ornamente feines eigenen Werkes. Sein Sehen aus diefer Fille
heraus ift fo aſſoziativ, fo begleitet von Klängen und Gejichten, dap ſich in thin alle
Erſcheinungen reicher, vielfaltiger ſpiegeln.
Die Natur wird jum Kunſtwerk darin, fie jteht nicht als Iſoliertes, Clementares,
Urjpriingliches da, fie wird immer ald malerifder oder klaſſiſcher Wert, immer als
cin Phänomen, als Seelen- oder Gefiiblsdeutung der großen Künſtler empfangen.
Wie das gemeint ijt, das kann man an feiner Spiegelung Venedigd in „Fuoco“ feben. Er
fpriht bier von „Venedigs Seelchen“, da3 in dem Guitarrengirpen der Gondoliere
ſchwebt, Venedigs Seele aber hat Giorgione und Tijian und Veroneſe geſchaffen, mit
ibren Augen muß man die wunderbare Stadt feben: ,,bimmelblau, purpurn und gold,
meerentitiegen, mit marmornen Armen und taufend grünen Gürteln“, und aus dem
verblichenen Goldton in diifter befchattetem Marmor ſteigen die Viſionen alter Pract,
Der Fefte auf den Bildern des Carpaggio.
D'Annunzios Voritellungen find nie unmittelbare, naiveurfpriinglice, fie haben
immer die Latina edler Bronje, den Niederſchlag vergangener Jahrhunderte. Doch it
dies nicht epigoniſches Weſen, nicht Kopiſtentum, fondern wirkliches Amalgam des
Lit Die Verwandlungen der Dufe.
Gefühls, Steigerung der Gegenwart durch prunfendes Piedeftal der Vergangenbeiten.
D'Annunzio fugt feine künſtleriſchen Inkruſtationen ähnlich wie Klinger, der feine
Amphitrite, die armlofe Göttin mit dem wifjenden Geſicht, die alle Nervenreize moderner
Seit, Aubrey Beardsley, Oscar Wilde und Baudelaire gu fermen febeint, aus einer
autifen Marmorſtufe bildete.
Das muß jedenfalls von d'Annunzio gelten, maq man ibn nun fir einen
Schöpfer oder nur fiir cine Selbſtzüchtung balten, ec bat dem modernen künſtleriſchen
Erleben cinen höheren Stil gewiefen, er bat es in tinenden Zuſammenhang gebracht,
ev bat cin Reich von weitem gejeigt, wo das Alte neu erlebt wird, der Abgrund der
Seiten fic feblicht, die antife Seele die Lebendige Seele beriibrt, wo All- und Cinbeit
ſich geftaltet und die künſtleriſchen Mächte ftarfer find als das zufällige Alltagsleben.
„So bin ich Dabingefommen” fagte er, „Tragödien ju febreiben: um in einigen
sornigen und edlen Gebdrden etwas Erhabenbeit und Schinbeit aus dem flutenden,
zudringlichen Schwall Des Gemeinen zu retten, der heute die auserlefene Erde bededt,
auf der Leonardo feine gebietenden Madonnen und Michelangelo feine nie bezwungenen
Helden bildete.”
Und das iit es, dieſe Lebensfteigerung, die aus dem Banalen und Zufilligen
jum Bedeutungsvollen, zu ciner Fille des Anſchauens fiibrt, das traf die Dufe fo
jtart. Gleiche Wege fuchte ihre Sehnſucht. Jn d'Annunzios Dramen fand fie die
Worte dafiir, und ibm ward es Triumph, durch ſolchen Mund verfiindet yu werden.
„Ein dunfelndchtiges Geſchöpf auf goldnem Amboß von Leidenſchaften und Träumen
geſtaltet“, ſo fühlte er ſie, er erkannte in ihr „das dionyſiſche Geſchöpf, den lebendigen
Stoff, der bereit ijt, die Rhythmen der Kunſt zu empfangen.“
Und die Annunziata nahm die Botſchaft ſolcher Kunſt tief auf und bewegte ſie
in ihrem Herzen. Und in neuen Verwandlungen voll ſchmerzlich erlebter Innigkeit
erſchien ſie.
Sie wandelt als Blinde über das verdorrte Land von Argos, über den ver—
ſchütteten Reſten der „Toten Stadt“, die von verwegener Hand berührt, ihre Königsgruft
öffnet und mit Kaſſandras Sehermaske, Klytämneſtras Geſchmeide und dem goldenen
Herrſcherhelm des Agamemnon das antike Schickſal, den Tantalidenfluch auf die
Vermeſſenen ſchickt. Die Erneuerung des antiken Schickſals an den Menſchen, die ſich
leidenſchaftlich und phantaſiegeſtachelt in ſeinen Bannkreis wagen, wird bier großzügig
verdichtet. In dieſen Menſchen, die ein ſolch geſammeltes innerliches Leben führen,
leben die Toten, denen ſie ſich mit aller Leidenſchaft hingegeben, wieder auf „mit dem
ganzen entſetzlichen Leben, das Aeſchylos ihnen eingeflößt, ungeheuerlich, ohne Unterlaß,
verfolgt von dem Schwert und der Fackel ihres Geſchicks.“
Große Vorſtellungen wechſeln hier und Situationen voll klingender Tiefe, voll
einer Gegenwart, die umrankt wird von den Ahnungen ferner mythiſcher Frühzeit.
Und unvergeßbar iſt das Bild, wie Bianka Maria der blinden Anna, die von der
Duſe wie ein bebender Blütenzweig, erzitternd unter den Schauern dieſes Erlebens,
dargeſtellt wurde, die Klage der Antigone vorlieſt, auf der Marmorloggia angeſichts
der chyklopiſchen Mauern und des Löwentors, und wie draußen Brauſen und Freuden—
ſchreie ertönen und Leonardo viſionär erſchüttert hereinſtürzt und von den eben auf—
gefundenen Gräbern der Atriden jäh ſtammelnd Kunde gibt.
Und fie irrte im Traum eines Frühlingsmorgens als Wahnſinnige, mit Blumen
jpielend, durch die Büſche, ganz mit Grün behängt, und fie ſchien cin liebliches
Die Verwandlungen der Duje. 145
Waldwunder, das der Unrajt de3 Lebens entriidt, daz ftille Wefen der Blumen und
Baume teilt, unendlich fanft und Heiter, von der Sonne mit taujend goldenen
Fingern, mit taufend warmen und flinfen Fingern umfpielt. Und ihr Antlitz glich
der Büſte der Madonna Dianora des Defiderio. C3 war wie cine Mandel, in deren
Die Dufe als Francesca do Rimini.
Photographie bon Sciutto in Genua.
Mus: Luigi Naf, bie Duſe. S. Fiſcher Berlag, Berlin.
halbgedffneter Schale die zarte Frucht ſichtbar ijt, ganz eingehüllt in glatte Haare,
wie in einer Scale. Und in der „Gioconda“ erjebien die Duſe als verjtiimmelte
Schinheit, die qeopfert ward, als Silvia Settala, in langem, aſchfarbenem Gewand,
deſſen weite Yirmelfalten die Stiimpfe der von der Givconda-Statue zerſchmetterten
Hinde verbiillen. Auch der Statue find die Arme zerſtört. Ihr Schöpfer, Lucio
10
146 Die Verwandlungen der Taye.
Settala, reftauriert fie nicht: ,,fo mie fie jegt daitebt anf ihrem Piedeſtal, ſieht fie
wirflich wie cin auf einer der Cykladen ansgegrabener antifer Marmor aus. Cie
hat etwas Tragiſches und Gebeiligtes, nachdem das göttliche Opfer an ibr vollbracht
worden”,
Die rithrend hilfloſe Schönheit antifer Torji ijt bier in der Bildſäule und in
Dem Frauenbild gleichermaßen yu cinem neu erlebten und gefiiblten Einklangſchickſal
umigedentet, Und tief ſchöpfte die Dufe aus den äſthetiſchen Reizen ſolcher Voritellungen
(fie find dem Artiſten d'Annunzio die Hauptſache) min ibrerfeits alle Gefühlsmöglichkeit.
Die ſchmerzensreiche Mutter war fie, die ihr Rind nicht mehr umarmen fann,
das fich yu ihr drängt und das Geheimnis der faltigen Armel nicht ahnt. Webe,
Zärtlichkeit durchwühlt fie, und nun begibt ſich's, wie cin Wunder, dak aller Ausdruck,
der in den Hand- und Armbewegungen der Menſchen liegt, ſich in den Zügen diefer
Frau fonsentriert zu ciner gefteigerten Innigkeit. Kinn und Hals wird fofend,
ſchmeichelnd, ein ftrebender Umarmungszug ringt fic) von ibm zur fleinen Beate.
Und ergreifendſte Schmerzensgewalt, ganz verinnerlicht, ganz aus der Seelenfphare,
liegt in diefer Darftellung, die auf die bewährten tragiſchen Mittel der Geſte und
Gebärden ganz verzichten muß und in erftarrter Haltung alles Fiblen von innen aus:
jtrablen muß ...
Aus den Strudeln des Inferno tauchte fie zuletzt auf als Francesca von Rimini
und umgab fic) mit Brofaten und Cdelgerait, den Glanz trunfener Seiten yu erneucn;
und Träume und Leidenfebaften, jähe Angſt, aufloderndes Rajen und dunfel-weiden
Liebestod, hinjinfend mit verſchlungenen Leibern, Mund anf Mund, ließ fie erleben, —
ein ungebeures Sein. Und wieder kommen Worte aus ,Fuoco*® in die Crinnerung:
„In einem einzigen Mugenblid bat ſich hier alles, was in der Unermeßlichkeit des
Lebens zittert, weint, hofft, ſehnt, raſt, zuſammengedrängt.“
* *
*
Und nun kehren wir zum Schluß noch einmal zu dem Buche Raſis zurück und
durchblättern die Seiten mit den vielen, vielen Bildern der Duſe. Verwandlungen,
vielgeltaltiq und wechſelnd, wie die Affefte des Menſchen. Der „Gioconda“ febeint
dies Proteusweſen gleich, von der es heift: „Sie iſt immer verjebieden, wie cine
Wolfe, die Div von Sefunde ju Sekunde anders erfebeint, ohne dak du gewabrit, wie
fie ſich andert. Sede Bewegung thres Körpers zerſtört cine Harmonie und ſchafft cine
andere ſchönere. Du bittejt fie ftehen zu bleiben, ſich nicht zu rühren, und durch ibre
Regungsloſigkeit flutet ein Strom geheimnisvoller Kräfte, wie die Gedanken durch die
Augen fprechen. Begreifſt du? Begreifſt du? Das Leben des Anges iit der Blick, diefes
unfaghare Etwas, ausdrudsvoller alg jedes Wort, als jeder Ton, unendlich tief und
dennoch pliglich wie der Wig, ſchneller als der Blitz, unendlich allmächtig. Nun ftelle
dir vor, daß ihr ganzer Körper das Leben dieſes Blickes ausſtrahlt. Stelle dir dieſes
Geheimnis über ihren ganzen Körper qebreitet vor; jtelle dir alle ibre Glieder, vom
Sebeitel bis sur Zehe vor, fprechend von diefem flammenden Leben! Kannſt du den
Blick meifeln? Die Alten ftellten ibre Statuen blind dar. Und nun — ftelle dir vor —
iby ganger Körper ijt wie der Blid . . .“
So durchwandeln auch die Bilder der Duſe alle Reiche menſchlichen Gefiibls-
ausdrucks, feelifehe Portraits geben fie, Die „hundert Masten”, die wechſelnd ibr
Antlitz unter gelebten und dargeſtellten Schickſalen annimmt, find bier feitgebalten.
Die Arche Noah. 147
Das fonvulfivifehe Gejicht erfebeint mit in die Hohe gezogenen Augenbrauen,
frampfigen Gilgen, von Sudungen der Errequng gefebiittelt, man denft an die Sebherinnen,
über die der heilige Wahnſinn und die iiberwaltigende Raſerei des Gottes kommt und
jie bis ins Mark durchrüttelt.
Und daneben taucht aus irdiſchem Gran die müde, verhirmte Frau, die, fatt
ded Theaters, von einem ſtillen Frieden, von einem Ausruhen träumt, dag ibr der
eigene aufſtachelnde Damon nie gewähren wird.
Und dann dic grande amatrice, die leidend viel gelernt, mit ſchmerzhaft
gefpannten Angen, dem bitteren Mind, die Heldin der großen Paffion, der tristi
amori, dic endlich welffabl, yu Aſche verbrannt, in ſich zuſammenſinkt. Dann ivicder
Charme und Rokokograzie leichter, tänzelnder Momente, wenn die ſpielende Kind—
lichkeit des Sinnes frei wird, und fie plaudert und lacht und in die Hinde ſchlägt;
wenn fie cin Glücksgefühl vor ſchönen Dingen, wor Bildern und Objets d' Art
genießt und deren feine Anmut auf fie zurückſtrahlt. Und endlich aus der gefteigerten Welt
der letzten Erlebniſſe die Meduſenmaske, beladen mit den Leidenſchaften und Schmerzen
der ganzen Welt, vom Schlangenhaar umzüngelt, und wie durch ein Fatum mitten im
Raſen, im Ausbruch elementaren Sturms jab verſteinert.
Wie cin Gleichnis amd cin lebendiges Symbol geheimſter unausgeſprochener
Gefiihblsmvfterien febeint uns dieſe Frau, und wir fühlen mit Hofmannsthal, daß „in
ibrer Seele noch größere Möglichkeiten find als im Bereiche ihrer Kunſt.“
ee coe
Vie Arche Doah.
Zon
Elfe Hildrich.
Nachdrud verboter. —
Quaigein nichtsnutziger Bengel!“ rief auf, wenn er mit dem mageren, langen Ge—
Frau Domberg, indem fie Helmchen mit der | ſellen in Streit geraten war. „Schäbiges
einen Hand das Butterbrot, mit der anderen Längſel, Satansbraten,“ murmelte dann der
einen ziemlich heftigen Stoß in den Rücken Kurze, machte ſolche Augen und eine ſolche
gab, fo daß es wieder einmal zur Türe hinaus, Schnauze, und nachher prügelten ſie fid.
ben Hausgang entlang auf die Straße ſtolperte. Helmchen trottete die Goſſe entlang, um
Es knurrte Schimpfworte vor ſich bin, obgleich zu ſehen, wie hoch bas Waſſer über ſeine
ihm die raſche und mühloſe Beförderung über Schuhe ging. Es ärgerte ſich darüber, daß
ben ziemlich ebenen Boden cin gewiſſes Be- | fie nicht voller war und hich mit einer Gerte
hagen verurjadte, das es recht in die Lange | binein, die es morgend im Müllkaſten gefunden
zu ziehen werfudite durch miglidft geringen | hatte. Das fprigte bis an die Haufer beran;
Widerſtand gegen dic treibende Kraft. das frifd) getünchte, weiße Haus, das etwas
Gejtern war es bis an die Pumpe ges | vorgebaut mar, fonnte man fein naß befommen,
flogen, heute ftand es febon im Rinnitein ftill | Helmchen hatte grofe Freude, wenn die Waſſer—
und biß in fein Butterbrot, um während des | tropfen an der Mauer binunterliefen und ſchwarz—
Rauens nod cin Weilchen fort gu ſchimpfen graue Streifden hinterließen.
und dabei die Drobende Miene zu verfucen, | Gleich fommt ſicher jemand und twill mid
die es dem breiten, kurzen Gefellen von gegens | priigeln, dadte es dabei; dann mup id fo
über abgefehen hatte. Der fegte fie immer ſehr fprigen, daß man mid) nicht friegen fann,
10*
148
Die Aree Noah,
ober id) muß Iaufen! Da um die Ede, durd | aber auc) einen ſchönen roten und cinen
bie grofe Straße und über den Platz in die
Gaſſe binein; da fol mid mal einer friegen;
und dann anders berum juriid. Es fam aber
niemand, um ibn zu greifen. Das weiße
Häuschen war nod unbewobnt, die Gaffe leer;
nur ein paar gang fleine Kinder ftanden in
ber Nähe und faben feinem Treiben gu. Er
taudte recht tief ein und ſchlug nad ihnen
aus. Da fapten fie fid) bei den Handen und
liefen aus feinem Bereich, um in einiger Ent:
fernung bon neuem Poften zu faffen. Er
madte ibnen eine [ange Rafe, die fie täppiſch
ertviderten; bie neuen Grimajjen, die er ihnen
gegeniiber verfudte, wollten ibnen nod weniger
qliiden, fo dag ibm die Beſchäftigung bald
langweilig wurde und er ſich von neuem den
Pfützen hingab.
Früher batten fie es wiel beffer gebabt,
als fie nod) auf der Bachſtraße wobnten. Da
waren Maſſen von Rindern, immer Rarren
mit Pferden und Hunde. Da war immer
etwas gu tun geweſen. Einmal twar cin Pferd
gefallen; da batten fie febr lange gugefehen;
und cin Begräbnis gab’s aud) oft.
Hier batten fie nichts aufer dem Laden;
ja, ben batten fie. Im Laden war's hübſch,
wenn dic Gefcbwifter in der Schule ſaßen und
bie Mutter heraus war. Helmden hatte einen
Weg ausfindig gemadt, um an die Dinge ju
gelangen, die auf Brettern neben und über—
einander in den beiden Fenftern ftanden. Der
Käſe war leicht gu erreichen, aber der ſchmeckte
nicht gut; am beften waren dic Zuckerklümpchen,
bie ju oberft ftanden; den Tiſch mute man
porriiden und bie fleine Banf hinauf beben,
bas war ſchwere Arbeit, und viele zuſammen
burfte man nicht cinmal nehmen, fonft bitte
bie Mutter etwas gemerft,
Weit in der linfen Ede auf dem oberften
Brett ftand das Glas voll einer, hunter
Steinfugeln. Helmchen hatte einige davon
gum Geſchenk erhalten und fie ungefdidter-
weife am felben Tage in den Abfluß des
Pumpenjteines rollen laffen. Wls er den
Wunſch nad neuen ausfprad, wurde er auj
Sonntag vertrdftet; aber er hatte gar feine
Luft gebabt, den Sonntag abjuwarten. Wit
grofer Mühe war es ihm gelungen, das Glas
in der linfen Ede zu erreichen; nun hatte er
blauen.
Helden griff in bie Hoſentaſche, lich die
angenefbme Rundung ber Steine einigemale
burd feine Hand wirbeln und warf jie dann
blind von fid, aber nur foweit, daß fie gewiß
wieder ju finden waren. Cr war gefpannt,
welden er guerft entdecken würde und ftellte
heimliche Wetten an. Als er fie gerade jum
ſechſtenmale getworfen hatte, tourde er von
der Mutter gerujen; fie ftand in der Titre und
winkte ihm mit dem Ropfe, bereingufommen,.
Helmchen febiittelte den Ropf in entgegen:
geſetzter Ridtung; es war ibm nod viel yu
bell, ind Bett gu gehen. Cie rief lauter und
lauter und eilte fdlieflid mit drobender Ge—
berde auf ibn gu; hätte cr feine Steine gebabt,
fo würde er jest in einem grofen Bogen um
fie berum gelaufen und lange vor ibr ju Haufe
angefommen fein. Den blauen hatte er; aber
ber rote? Als er ihn eben fab und greifen
wollte, fiiblte ex ſich febr feft am Arme gefaft
und fortgejogen. Gr ftemmte fic, ſchrie fo
bod er fonnte, und jtellte fic, indem er ge-
fcleift wurde, das große Schwein vor, bas
fie vorige Wode vom Rarren geladen und an
beiden Obren in die Metzgerei gezogen batten.
Bu Hauje befam er einige Hiebe „du Bengel,
willft bu geborden, wenn ich dich rufe; cin
verdammter Quälgeiſt bift bul” „Du aud,“
fagte Helmchen und rich feinen ſchmerzenden
Arm. Da fodte die Suppe über und praffelte
auf den Herd. Frau Domberg rif den Dede!
ab, und Helmeen dudte fic, als könne das
beife Ding in ihrer Hand direkt feinem Kopf
begegnen. Gr gab unter ber Mutter gar zu
grimmiger Miene den Plan, bei erfter Gelegenbeit
gu entipringen und ben roten dod nod zu bolen,
auf, und liebaugelte mit dem Glas in der
linfen Ede auf dem oberften Brett. „Nächſtes
Mal nehme ich mir einen gelben,” dachte
2 ee
Die Geſchwiſter waren ſchon alle mit
Löffeln und Tellern bereit, den heißen Suppen—
ſtrom zu empjangen. Helmden wollte feine
efjen, fab gu, wie fein gefiillter Teller im
Schrank fiir morgen friih verſchwand und
wandte fid) dann den Geſchwiſtern yu, um ju
verſuchen, ob er fie nicht ftéren finne in ibrem
Genus.
Die Arde Noah.
149
Nachdem er ſich vergeblic) bemiibt hatte, | mal bineinfperren wollte, hatte er mit Füßen
den einen oder anderen durch Geſichterſchneiden
jum Laden ju bringen, fam ibm bad baumelnde
Bein des grofen Peter gelegen, der auf dem
Tiſche fag; er tiff in das Bein, nur fo eben,
aber der Huh des großen Peter fprang vor
und traf Helmdens Nafenbein. Diesmal
britllte es, twirflide Tranen vergiefend und
hatte feine Vorſtellung als die feines Schmerzes
und nod griferen Zorns.
Mls Frau Domberg bas Geräuſch nicht
mebr ertragen fonnte, bielt fie dem Schreier
einige Augenblide den Mund gu, zog ihn dann
mit baftenden Fingern aus und febidte fid) an,
ihn in die bintere Stube gu tragen. „Ich bin
nod kalt,“ brachte Helmchen, fein letztes
Schluchzen unterdriidend, heraus, befreite ſich
durch heftig zappelnde Bewegungen und ſtellte
ſich an den Herd, wie es allabendlich ſeine
Gewohnheit war.
An dem warmen Herd mit blitzenden
Meſſingteilen und ſurrendem Waſſertopf, beim
Lampenlicht und Lärm der Geſchwiſter war
ihm viel wohler als in der Stube nebenan;
um keinen Preis mochte er auch nur für
Augenblicke allein im Bette liegen; ſchon bei
Tage war ihm in der hinteren Stube bang.
Sie war ſo voll von Möbeln und ſeltſamen,
dunteln Winkeln und hatte nur ein einziges
Fenſter, das wenig Licht einließ und faft
niemals geöffnet wurde. Denn gleich jenſeits
des winzigen Hofes ſtieg das Hintergebäude
auf, in dem gemeine Leute wohnten, wie die
Mutter ſagte. „Sie ſehen einem ſonſt herein,“
hatte ſie geſagt und noch ein paar graugelbe,
vielfach geflickte Gardinen vor das Fenſter ge—
hängt. Und dann war das Ding da, auf der
Wand an Helmchens Bett! Erſt hatte es klein
hinter demſelben hervorgeguckt, wie eine Hand
ſo groß und war dann langſam die Wand
heraufgewachſen. Bei ganz hellem Licht ſah
es wie ein Flecken aus, aber meiſtens war es
der Kopf von einem rieſigen Kerl mit allerlei
Auswüchſen und zerrauftem Haar. Den einen
Arm hatte er ſchon hervorgesogen und hob
ibn höher mit jedem Tag. Nun fam ſicher
bald der zweite und dann plötzlich der ganze |
Rerl und ſtieß mit dem Kopf an die Dede an,
Helmchen modte um feinen Preis allein in der
runzelnd, eines ber Brotchen aus dem Schau—
binteren Stube fein; als die Mutter ibn ein-
geftoben und gebrüllt, er ſchlüge bas Fenſter
entzwei; da unterließ fie es. —
Nachdem das Licht mit Annchen und Bertha
in die Stube gebracht worden twar, fagte
Helmaen, nun fet ihm gang warm und jtoljierte
ibnen mit recht laut klatſchenden, nadten Füßen
nad. Er mute die Gelegenbeit, dah die
Briider nod nidt zur Stelle waren, benuten,
um auf bem grogfen, freien Bett feine vielen
Turnfunftjtiide zu verfuden und fid dann
ganz nah an den vorderen Rand ju legen,
alg ob er fcblicfe. Cr wußte, dag fie ibn
dort nicht liegen ließen, wegen bes Heraus—
und Hereinſpringens nicht, ebenſo wenig wie
in der Mitte, wo er Gelegenheit gehabt hätte,
ſtatt eines zwei zu quälen. Bald wurde er
aud angeſaßt und an die Wand gewälzt, wie
jeden Abend mit ihm gefdab, und der grofe
Peter fam in die Mitte neben ibn. Der lag
wie cin Klotz fo breit und feft; wie febr fid
auch Helmchen in feiner Enge wand und ſtieß,
der rührte fic) nicht. Che es ſich gum Schlafen
beruhigt auf die Zimmerſeite legte, warf es
einen ſchnellen Blick nach dem Kerl an der
Wand: Ob er auch nicht zu viel gewachſen
wãre! —
Helmchen trat von der Straße ins Laden—
zimmer und fand den großen, feinen Herrn
bet der Mutter, ber dann und wann fam und
Brotmarfen brachte. Zwei braune und eine
gelbe Münze legte er auf den Tiſch und jprad
bann längere Seit mit der Mutter; ebe er
ging, gab er ibr zuweilen nod etwas in dic
Hand, wobei er rot zu werden pflegte.
Helmchen drgerte fich iiber feine Anweſenheit;
er hatte fid) auf bas Butterbrot gefreut; nun
wiirde er warten miifjen.
Nachdem er fein Anliegen einige Male mit
fibellauniger Geberde ju ibnen binaufgemurmelt
hatte, ſuchte er durch beftiges Bearbeiten von
Frau Dombergs Schürze deren Auge und
Ohr, die in der Hobe fo gar beſchäftigt waren,
zu fic) herabzuziehen. Cie ftreifte weiter
ſprechend dic laftigen Finger herunter, wonad
Helmden fic) durch das Ausftofen frampf-
hajter, weinerlider Tone gu belfen fudhte.
Endlich fragte der große Herr, was ihm
jeble, tworauf Frau Domberg, die Stim
150
fenſter rif und in die ausgeftredten, ſchmutzigen
Hinde driidte. „Nun if und halt did |
ſtill.“
Was ſie nur immer noch beſprechen mußten
da oben in der Höh! Helmchen hatte nod
feine Buiter ju feinem Brot. Jn jede fleinjte
Pauſe ihrer Reden ſtieß er fein , Butter” binein, |
immer beftiger, immer grimmiger; ſchließlich
griff ex wieder die Schürze an, aber feſt dieſes
Mal, daß man ibn nicht wieder fo abjtreifen |
fonnte. Frau Domberg faßte mit ber Hand
an ibre Stirn: ,, Der macht einen nod) verritdt.”
Cie gab ibm aber die Butter aufs Brot, und
Helmchen fing an gu eſſen und zwiſchendurch
zu fingen und mit bem Stocheiſen an den
Herd ju Tlingeln, Wenn die Mutter ,,fei frill”
rief, bielt er einen Augenblick inne und fubr
dann leiſe fort, allmablidh anſchwellend, die
Broken gefpannt im Auge behaltend, twas fie
wohl endlich) mit ihm anfangen würden.
Sie fpraden nod immer fort. Der Herr
jah mit grofen Mugen ju Helmchen herüber
und fdbiittelte Dann und wann den Kopf; nun
merlte er, dak von ihm die Rede war. Frau
Domberg jagte, dak fie es aud bald nicht
mebr mit ibm ausbalten finnte. „Das ift
cin verfebrter Bengel, wild und eigenfinnig;
der wird wie fein Vater; der war aud fo.”
Helmchen wußte fon Tange, dap er wie fein |
Vater werden follte; er würde aber fdlauer
fein als ber; ibn würden fie nicht friegen, tie
er laufen fonnte!
„Wie lange bat ibr Mann jest nod?”
jragte ber Herr. Frau Domberg fing an ju
rechnen. „Seit Oftober fift er; nun nod
adt Monate”, jagte fie. ,,Seben Sie, wenn |
id) nur den da nicht dabei bitte; mit den |
anderen wollte ich ſchon fertiq werden.”
„Sie müſſen ibn gu erziehen ſuchen,“ fagte |
ber Herr, „haben Cie ibn eigentlidd ſchon
einmal gehörig durchgeprügelt?“
„Den?“ Frau Domberg rif Helmchen aus
ſeiner Ecke, wo es eben begonnen hatte, ſich
mit Abreißen der Tapete zu beſchäftigen, her—
vor. „Der? Grün und blau iſt der ſchon
geweſen, der Taugenichts!“ Der Herr nickte
vor ſich hin und ſah Helmchen wieder mit
großen, ernſten Augen an, worauf dieſes eine
Grimaſſe ſchnitt. „Da ſehen Sie es,“ ſagte
Frau Domberg. — —
Tie Arche Noab.
Helmden ſuchte zu entidliipfen, als der
Herr wieder einmal da war. „Er fonnte mid
am Ende priigeln,” dachte er, wurde aber auf
dem Weg zur Titre aufgebalten. „Guten
Tag, Wilbelm, id habe dir aud) etwas mit-
gebracht.“
Helmchen ballte ſeine Hände auf dem
Rücken, zum Zeichen, daß er keine Luſt hatte,
eine davon zu geben und ſuchte mit den
Augen nach einem zum Schlagen geeigneten
Gegenſtand, der etwa für ihn mitgebracht ſein
könnte. Auf dem Tiſche lag etwas von
beträchtlicher Ausdehnung in gelbes Papier
gehüllt, deſſen Geſtalt entfernt an das Stück
Lebkuchen erinnerte, das zu Weihnachten ins
Haus gekommen war.
Der Herr löſte das raſchelnde Papier und
brachte ein langgeſtrecktes Häuschen zum Vor—
ſchein mit grellrotem Dach. „Haſt du ſchon
einmal cine Arche Noah geſehen?“ Helmchen
wußte nicht, was das war, ſondern warf große
Blicke auf das Häuschen, das an der Längs—
ſeite gemalte Fenſter hatte mit weißen Gardinen
und bunten Blumentöpfen dazwiſchen. Da
wurde die Geſchichte von dem froͤmmen Mann
erzählt, der mit ſeiner Familie und allen Arten
von Tieren in der Arche Zuflucht vor dem
großen Waſſer fand. „Nun wollen wir ſehen,
ob fie nod drinnen find.”
Wie der Deel langſam geboben wurde,
britdte fic) Helmchen langſam beran, ſchob
jeinen Ropf vor und erblidte in dem offenen
Häuslein ein feltfames, buntes Gewimmel.
Da holte es die eine feiner Fäuſte vom Riiden,
jtedte den Schürzenzipfel in den Mund und
fab von dem Gewimmel in dad Geficht des
fremben Herrn, von diefem auf dic Mutter und
dann twieder in das Gewimmel hinein. „Sind
nod) bdrinnen,” widte es; dann wurde aus-
gekramt.
„Elefant, Eſel, Löwe“ nannte der Herr
und reihte fie auf der Tiſchplatte paar: und
paarweiſe bintereinander; das gab cine [ange
Prozeffion; Herr Noah und feine Familie
madten den Schluß, eine Manner und
Frauen in fteifen, bunten Roden.
M3 fie alle ftanden, war Helmchen bis
didt an die Knie des fremden Herrn vor:
gedrungen und faute, wn dad Laden gu
verbeifen, beftiq auf feiner Schürze herum.
Die Arche Roab.
Nachher hatte er das wieder gefiillte
Hausden auf den Armen. „Danke fagen”
befabl die Mutter. Helmchen ließ den Kopf
hangen und ftierte auf das rote Dad. „Sonſt
nimmt er fie wieder mit.” Da dritdte er fie
ſehr feft an fic und ſtieß das danke bervor. —
Nun hatte er etwas. Peter beſaß die
filberne Ube vom Paten, Karl und Marie
Schreibtafel und Katechismus, Helmefen alle
Tiere und die ganze Arde. „Zeige fie dod
cinmal” fagte die Mutter, als die Geſchwiſter
verjammelt waren. Helmchen grinfte, jog fie
aber erſt aus der Ede neben dem Schranke
bervor, alg niemand fie mebr dringend ju
ſehen wünſchte. Während er fie leerte, ftanden
alle um ihn herum. Er ſuchte aus mit
täppiſchen Fingern und hatte ſehr viel Arbeit,
die richtigen Paare zuſammen zu finden. „Das
iſt ja eine Kuh; er ſtellt den Eſel zur Kuh“
fagte Peter und ſtürzte einige Paare, indem
er verbeſſernd in die Reihen griff. Helmchen
ſchlug nach ihm und ſchimpfte ſehr, indem es
nach der Mutter ſchaute, ob deren große Hand
nicht ſchon an ſeinem Rücken ſei. „Nun laßt
ihn auch, es iſt ja ſein“ ſagte da die Mutter.
Ihre Hände waren auf dem Tiſch und
framten die gefallenen Tierchen zurecht.
Helmchen ſah ſchnell nacheinander alle Ge—
ſchwiſter an, führte den Löwen, den es eben
aufgenommen hatte, zum Mund und nagte mit
den Lippen an ſeinen Vorderbeinen herum.
Neben ihm und ſchräg hinab ſah er blau und
blau mit weißen Sprenfeln darin, der Mutter
Kleid, und hinauf bis an die grauen Schürzen—
bandel und dritber binaus [outer blau und
weiß und bie Arme entlang, die ausgeſtreckt
waren weit fiber den ganjen Tiſch hinüber.
Das alles war die Mutter und aud) nod der
aufgeitedte Sopf, der gang in ber Hobe gu
feben war. Sie war eine ſehr grofe, ftarfe
rau; wenn fie nur wollte, könnte fie Helmchen
tot fdlagen; aber fie beſchützte ihn. Der
gelbe Lowe gab einen häßlichen Geſchmack;
Helmchen putzte die Lippen an dem Rücken
ſeiner Hand und das Tier leiſe an der Mutter
grauer Schürze ab. Es war ſein Tier, und
die Mutter hatte ihn beſchützt.
Mehrere Tage überlegte er, welcher der
beſte Platz für ſeine Arche ſei; er verſuchte
hier und da; auf dem Kleiderſchrank in der
151
bintern Stube gefiel fie ihm endlich fiir die
Nadt. Sobald die Mutter fic) anſchickte,
Annden und Bertha mit der Lampe zur Rube
qu tragen, räumte er fie fiir diefen Tag end-
giltig jum [egten Male cin, nahm fie unter
den Urm und erflomm vorſichtig die Fußlehne
pon Mutters Bert, von wo aus er fie an
ibre Stelle bringen fonnte. Cr riidte fie ganz
dict an den vorderen Rand und drebte fie
fo, dah er bon feinem Schlaſplatz die Langs:
feite gut iiberbliden fonnte. Ihr rotes Dad
blinfte in feine Mugen, wenn er bequem auf
dem rechten Obr da lag.
Es jolgten eine Anzahl von Regen:
tagen, an welchen Helmdjen nicht auf der
Strafe fpielen durfte. Jn ſolchen Seiten war
es früher bon der Langetveile gezwungen
worden, durch Ausführung aller möglicher
Einfälle die Aufmerkſamkeit der Mutter auf
ſich gerichtet zu halten. Nun hatte es mit
ſeiner Arche Beſchäftigung genug.
„Er macht ſich“ fagte Frau Domberg eines
ſolchen Tages, „man fann ibn ſchon einmal
ruhig allein im Zimmer laſſen,“ und ging
während des Waſchens von der großen Bütte
fort, um Seife nachzukaufen. Es war ſehr
ſtill, als Helmchen ſo ganz allein zu Hauſe
war. Eine Weile ſtaunte er und lauſchte dem
heimlichen Kniſtern, das aus der Bütte fam.
Dann ſchleppte er die kleine Bank herbei, von
ber aus er den Seifenſchaum gut feben fonnte
und beobadtete die vielen Blasden, deren
größte rote und blaue Lidtlein trugen und
bie bas Kniſtern verurfadten, indem fie plagten.
Er taudte die Hand in das iweide, warme
Geflod bis babin, wo bas gewöhnliche Wafer
beginnt und dann fiel ibm plötzlich cin, die
Arde, die dod eigentlich auf das Wafer
geborte, in der grofen Bütte gu verfuden. —
Cie ſchwamm wirklich und ſchwankte leiſe in
dem weißen Geſchäum, während Helmchen hin
und wieder ging, um die Tiere zu holen und
einzuladen. Als er mit der letzten Handvoll
das Biinkden beſtieg, war in der Mitte des
Seifenſchaums cin Fleden dunkeln, trüben
Waſſers, von der Arche aber feine Spur mehr
gu feben. Da griff ex erfdbredt auf den Grund
und brachte juerjt die Arde, die feinen Boden
mebr hatte, dann dieſen Boden felbft und
bann nadjeinander die Tiere herauf. Die
152 Die Arde Noah.
AÄrmel feiner Sade waren nak bid oben
hin, die Tiere jarbten das Bettud, an dem
er fie trodnen wollte.
nad Haufe fam, ftotterte und ſchluchzte er
faut, nun fei fie faput,
Ta cr dod) ſchon weinte, gab fie ibm
feine Prügel, fondern fprad nur, während fie
ibm die Conntagsjade anjog, viel davon,
was fiir cin Dummer und ſchmutziger Junge
er fei, Als er aber danad nod immer weiter
jammerte und verjuchte, durch Aufeinander-
driiden die getrennten Teile wieder yu ver-
binden, gab fie ibm 5 Pfennig in die linke |
Hand und bie Arde famt bem Boden auf
den rechten Arm und ſchob ihn yur Tiir
binaus. „Da, mun made, dak du jum
Schreiner Franjen fommit, dah er fie dir
wieder zuſammenleimt.“
Man hatte ibm nod nie Geld anvertraut;
er bielt die Hand feft gufammengeframpft, um
es nicht zu verlieren. Gigentlich fürchtete
er den Schreiner Franzen, den er früher
zuweilen ausgeladt batte, wenn er von ibm
von den Stufen feiner Haustiire, auf denen
er feine lauten Spiele zu treiben pflegte, ver-
jagt worden war. Yangfam und ernjthait
trat er in die Werkftatt binein, ſchob die |
Trimmer und das Geldftiid ſchweigend auf
die Hobelbanf, an der der Meifter beſchäftigt
war und blidte in grofer Beſchämung auf
den Boden, wo die Spine lagen. Der
Meijter nabm die Caden und ging fort
damit; als er nad ciniger Seit wiederfam,
jagte er, nun müſſe das Ding febr vorſichtig
getragen und zu Hauſe ruhig hingeſtellt
werden bis jum folgenden Tag. Da trug
Helmeben fie febr vorſichtig mit beiden Sanden
fiber die Straße und fob immer ängſtlich auf
fic berab, Su Hauſe ſtieß er mit bem Fue
gegen die Titre, damit die Matter fame, ibm
qu öffnen. Die mufte laden, als fie ihn fo
bebutiam und gerade vor fic blidend cine
treten fab. „Der wird mal tüchtig,“ dachte
fie. —
Es regneie tagaus, tagein, fo daß Helmchen
faum mebr toute, wie es ſich auf der Strafe
fpiclte, Zuweilen froftelte ihn aber bei feinem
Yeben in der Stube, und dann ſtellte er ſich
vor, wie gut ed ſein würde, wenn ned ein:
mal bie Sonne fdien. Er würde Me Arche
Als Frau Domberg |
Helmeben, er wälzte ſich bin und ber.
Bett verlaſſen,
und alle Tiere mit hinausnehmen, ſobald es
ganz troden wire; er fab fie deutlich im
ellen Lichte auf ben Steinen fteben, und alle
Rinder der Straße rundberum. Neben fid
müßte er cinen Sto haben, um feine Sachen
vor ibnen zu beſchützen. Er fragte Frau
Domberg haufig, ob nod immer nicht gutes
Wetter würde, und dieſe febiittelte bei ben
Nadbarinnen ben Kopf und fagte, es fet
cigen mit dem Wilhelm, er werbe fo finnig
in letzter Beit. —
Den Rerl an der finfen Ceite feines
Bettes hatte ex gang vergefien, bis er eines
Abends bemerfte, dak nun aud der andere
Arm Hervorgefommen war. Da durchriefelte
es ibn; er driidte fic nabe an Peter und
jafte bie bunte Wrebe ganz feſt ins Auge; er
zählte ihre Fenſter und die gemalten Ziegel
des Dads und wünſchte, die Lampe würde
nidt ausgelöſcht. Nachdem es dann dod auf
einmal dunfel geworden war, bielt er den
Atem an und ftarrte mit weiten Augen, ob denn
gar nichts gu unterideiden wäre. Allmählich
gewahrte er dad Fenjter, dann den Schrank
und ſchließlich über demſelben cinen dunfeln
Flecken; bas mußte die Arche fem! Er ftellte
ſich lebbaft das Not ihres Daded vor und
die bellen Gardinen; zu ſchlafen batte er
gar keine Rube.
Nach längerer eit ward die Stube
Icbendig. Yon dem Sdranf ber famen fie
gezogen, gan; groß und beweglich, alle auf
Helmchens Bett yu und über feine Dede weg;
die meiften waren verfebrt gepaart; der Hund
ging mit dem Kameel zuſammen; das argerte
Auch
waren ſie ihm ſo ſchwer auf der Bruſt und
waren doch ſeine Tiere, er möchte ſie gerne
ſtreicheln, ſeine Tiere! Er wollte nicht ſehen,
wohin ſie gingen; er wußte, wohin! Der
ſchwarze Kerl nahm ſie eins nach dem anderen
und zog ſie hinters Bett hinunter; alle, eines
nach dem anderen. Zum Schluß langte er
nach Helmchen ſelbſt; der wollte nicht unters
Bett, wo es ſo dunkel war; er rückte noch
naber an Veter heran und wurde heiß und
ſeucht.
MIS es ganz bell war, waren die Ge—
ſchwiſter ſort. Helmchen hätte aud gern das
wußte aber nicht, wie das
Der junge Herder und de Sprachkunſt. 153
au madjen fei. Da tweinte er und befam von | ins Spital. Frau Domberg fagte zaghaft,
der Mutter naſſe Tiicher auf die Stim. Dann | jie wolle es Lieber zu Hauſe bebalten. Wenn
lag er ftill, der Zimmerſeite zugewandt. | fie es im Spital batten, wußte fein Menſch,
Einmal war eine laute Stimme an feinem | was mit ihm gefdab. Das ginge nicht
Dbr; er wurde beftiq aujgeboben von jemand, | wegen der Anſteckungsgefahr, fagte der Wrgt,
der nicht die Mlutter war. Er taftete über er werde fofort den Wagen ſchicken. —
etwas Weides, Glattes; das twar nicht der | Am Cypital erfubr Frau Domberg nad
Mutter fattunenes Kleid. Dann war er einigen Tagen, daß Helmden den Typhus
irgendiwo anders als fonjt; er fannte fich nicht | babe und einige Tage ſpäter, daß er daran
und fudte umber, „Er fucht die Arche“ wurde geftorben fei. Cie jammerte bei den
geſagt. Darauf erjdien wieder der rote Fleden | Nachbarinnen: ,,gerade jest, wo er fid fo
und bas ganje bunte Ding. Nun fannte er machen wollte”.
fidh und war zufrieden. — Der Arzt fagte | Durd das Suchen einer neuen Wobnung
rau Domberg laute und heftige Worte über | hatte fie febr viel Sorge und Arbeit. Schließlich
die feuchte Wand, an der das Kind gefdlafen | entſchloß fie fie, den Laden aufjugeben und
hatte. Die Polizei werde ihr bas ungefunde | mictete einige bodgelegene Simmer, die Sonne
Lod) nod) heute fcbliefen, fie möge die Betten | batten. Die Arche befam im Glasfdrant
beriibertragen laſſen. Dads franfe Kind milffe | ihren Plas. —
GE
Ver junge herder und sie Sprachkunsf.
Bor
Helene Herrmann.
Raddrud verbotes.
& rzeugen will ich dem anderen Gedanten, aufrufen in ihm Bilder, in ibm Ideen
"Ser ſchaffen — niet aber meine Gedanten bloß eryiblen, meine Bilder vorframen,
meine Empfindungen bingqaufeln.”
Der Lebenshauch eines ganz modernen Wortes weht aus diefen Sagen, die vor
mehr als 130 Jabren cin junger Prediger und Schulmeiſter in Riga niederfebrieb.
Als Herder in einem enthujiaftifeben Nachruf auf einen Friibverftorbenen, der ihm viel
gegeben atte, dem er fic) weſensnah fiiblte, fo die evofatorifde Kraft befeclter Rede
pries, fagte er feiner Beit etwas Neues. Etwas ganz Rewes, fo febr die Wanner des
falten Rationalismus, gegen dic er auch auf ſprachlichem Gebiete erbittert Eimpfte, tic
flarer, iiberredender Wortgeſchicklichkeit, deutlicher Ausdrucksfähigkeit rühmen mochten.
Daß die Sprache, auch die des Denkers, nicht nur überreden, Gedanken vermitteln
ſolle, nein, daß ſie Gedanken ſchaffen, ganze ſeeliſche Welten im Hörer wie aus dem
Nichts hervorzaubern könne, — das war verblüffend. Das zog Herder den Hohn
ſeichter Vernünftler auf ſeine eigene, ungezähmte Feuerſprache zu, das entzückte die
Jugend, die ſeine Schriften las und die ſich freudig bewußt wurde, daß ſie für ihre
entfeſſelten Seelenkräfte die Waffe ſelbſt hämmern und ſchweißen könne.
Uns aber glänzt das vor ſo langer Zeit geſprochene Wort mit dem Schimmer
eines Wunſches, in deſſen Verwirklichung auch für uns noch Lebensreize liegen. Denn
154 Der junge Herder und die Sprachkunſt.
wir lauſchen heute Rednern und Schriftſtellern, die zwar nicht im engeren Cinne
Künſtler find, aber auc ihre Sprade nicht nur als Ausdrucksmittel eines reichen
Gedankenbeſitzes kultivieren, den ſie mitteilen wollen. Es werden auch nicht bereits
fertige Gedanken rhetoriſch belaſtet mit dem ſchweren Prunkmantel einer „ſchönen“
Sprache, — nein, aus ihren Worten ſcheint das Gefühlte, Geſchaute, Gedachte erſt
aufzuſteigen wie aus einem friſchen, lebendig bewegten Meere, noch verwandt dem
erzeugenden Element, ebenſo beweglich, jugendlich glänzend. Noch ſcheint im Ausdruck
die letzte Schwingung des pſychiſchen Prozeſſes nachzuzittern, wir glauben Zeugen dieſer
Geiſtesgeburt zu ſein, ja mehr: ſie in unſerer Seele zu erleben.
So erreicht der moderne Redner das Ziel, das ſich der junge Herder ſetzt: er
erregt unſer intellektuelles Temperament, er ſteigert die viſionäre Fähigkeit des Geiſtes.
Der geheimen, belebenden, befruchtenden Kräfte, die im Worte ſchlummern, bewußt,
zwingt er uns, angefangene Gedankenreihen weiterzudenken und über das, was direkt
geſagt wird, hinaus ſeinen Intentionen nachzuſchaffen. - Und mit einer beglückenden
Wirkung, die ſonſt nur die Kunſt hat, macht der Offenbarer den Empfangenden zum
Schöpfer — auf Momente. Dieſe ganz eigentümliche Kraft der Rede, ſie nährte ſich
am Born einer neuen Kunſt, die im Klang und Zuſammenklang der Laute, im Rhythmus
und in den Biegungen des Satzbaus, in den auserwählten und ſtarken Bildern aufs
neue Wirkungen erkannt hat, die noch nicht ihre belebende Macht voll erproben durften.
Eine Entdeckung über das ſinnliche Material der Dichtkunſt, ebenſo erregend wie für
den Bildhauer die Erkenntnis, daß er dem Marmor und der Bronze, deren Sprache
man generationenlang voll zu kennen glaubte, neue Ausdrucksmittel entriſſen habe.
Dieſe moderne Sprachkunſt, die aus der Sphäre des Künſtlers auch in die des
Aſthetikers und Philoſophen hinübergeglitten iſt, — ſie trägt freilich ein ganz anderes
Gepräge als die, mit der ſich der junge Herder beſchäftigte. Er wollte die urſprüngliche
Lebenskraft des Ausdrucks, die er in der „hüft- und markloſen Sprache“ ſeinerzeit
vermißte, viel mehr als wir heutzutage aus der primitiven, zielſicheren Rede unkultivierter
Völker wieder ergänzen, von deren Art, „den ganzen Gedanken mit dem ganzen Wort
und dies mit jenem“ zu umfaſſen, er nur noch bei Kindern und beim Volke Spuren
zu finden meinte. Aber das Ziel, die Sprache zu einer Erweckerin, Beleberin zu
machen und ſie zu ſolchen Wirkungen zu brauchen nicht als ein an ſich gleichgiltiges
Werkzeug, ſondern als ein Medium von eigenem Weſen und Wert, ähnelt dem der
heutigen Beſtrebungen, und es lohnt ſich wohl, die Außerungen des jungen Herder
über Sprachkunſt im Zuſammenhange zu betrachten.
Ex ſelbſt freilich hat nirgends in zuſammenhangender ſyſtematiſcher Weiſe darüber
geſprochen. Aber wenn wir die zahlreichen Schriften, im denen ev ſich mit der Sprache
beſchäftigt, dDurchblittern, feben wir überall irgend eine Beziehung zu dieſer Frage, eine
hingejtreute Außerung dariiber.
Gr bat das Problem: wie fann die Sprache in der Hand eines Geftalters zu
einer lebendigen Kraft werden? nach verſchiedenen Seiten bin erwogen. Cr bat die
Sprade als Material an ſich betrachtet, auf ibre Bildungsfähigkeit bin gepriift. Er
bat auch den ins Auge gefaßt, der Das Material formen ſoll. Gefiihrt wurde er
zunächſt auf das techniſche Problem durch cin allgemeines wiſſenſchaftliches Intereſſe
an der Sprade. Cin Ideal feiner gärenden Jugendſeele war es, cine Geſchichte des
Menſchengeiſtes zu ſchreiben, eine hiſtoriſch-empiriſche Pſychologie. Sie follte fich aus
allen erreichbaren Suellen nähren, aus allen Offenbarungen der fultivierten Nationen
—
Der junge Herder und die Sprachfunft. 155
wie aus den Lebensbetatigungen wilder Naturvélfer, aus den Bekenntniſſen reifiter
Genies wie aus den unartifulierten Auferungen der Kindespſyche. Unter allem Material
ſchien ihm die Sprache das wichtigſte.
Seine erſte Schrift, die ibn weiterhin befannt machte, die Fragqmente iiber
nenere deutſche Yiteratur, beginnt mit Betrachtungen tiber die Sprade. Sie ijt das
Vebifel unferer Geiftesbilbung; mit iby und durch fie lernen wir denfen. Darum:
wer den Geiſt, die Seele eines Bolfes fennen will, der ftudiere feine Sprade. Qn
ihren Idiotismen offenbart fic fein Nationalgeiit, das eigentümliche Gepräge, das
jein Weſen durch Klima, Lebensbedingungen, individuelle Anlage bat. Die Sprache
ijt der Niederſchlag der Geiſtesgeſchichte. Untrennbar find ſeeliſcher Gebalt und
Ausdruck verbunden. Er könnte fiir die Frage: ijt ein beftimmtes ſprachliches
Material durch Mberfesungen, Nachbildungen aus fremden Sprachen ju bereichern?
ſchon aus dieſen erjten Betracdtungen das Refultat gewinnen: fein Inhalt, feine
Form Fann aus fremden ſeeliſchen Welten im unſere übernommen werden, dem fich die
Welt unjerer lautlichen Gebilde, wie fie als notiwendiges Produkt unferer Geijtes-
geſchichte da find, nicht von felbjt dDarbietet. Denn ebenſo eng wie zwiſchen Juhalt
und Wusdruc ijt umygefebrt das Band zwiſchen Ausdrud und Inhalt gefniipft. Diefes
Ergebnis erreicht Herder aber erſt, nachdem er nod eine andere Betrachtung angeftelit
hat. ber die nationale Bedingtheit des ſprachlichen Materials blidt er binaus und
entwirft cin Bild von den Lebensaltern der Sprache, wie es ibm vorſchwebt. Dede
Sprache durchlebt vier Perioden, entfprechend wieder den notiwendigen feelifden
Entwicklungsphaſen, die jedes Volk durchmißt. Zuerſt die Nindbeit, die Periode
leidenſchaftlich unmittelbarer Triebe und ſtärkſter Senjibilitat fiir alle Sinnesreize; in
der Sprade Überfülle finnliden Ausdrucks; Gefang ijt die Rede, Geberde unterjtiist
fie: eine Sprache „für Auge und Obr, fiir Sinne und Leidenfdaften.” Im Jünglings—
alter cines Volkes, in der Zeit, da „die Denkart ihr raufchendes Feuer ablegt”,
bleibt die Sprache immerhin nod eine Wrt Gefang: „Der Dichter erhöhte nur feine
Akzente in cinem fiir das Ohr gewablten Rhythmus, die Sprache war ſinnlich und
reich an kühnen Bildern, fie war noc ein Ausdrud der Leidenjchaft, fie war nod
in den Verbindungen ungefeffelt . . .“ Das ift nach Herder das Blütenalter poetiſcher
Volfstraft. Cine Sprache in ibrem männlichen Wlter iſt „ſchöne Proje’. Sie
braucht den Reichtum ibrer Jugend maßvoll, ſchränkt die Jdiotismen ein, mindert
Die Freiheit der Inverſionen, bereichert den Schatz abjtrafter Worte. Auf der Stufe
endlics, auf der ein Bolf zu philoſophiſcher Entwicklung durchdringt, erhöht die
Sprache von felbjt nicht mehr ihre Schönheit, ſondern ibre „Richtigkeit“: fie gewinnt
mebr Klarbeit des Satßzbaus, Reichtum an Begriffsbezeichnungen und verliert an
phantajieerregender Kraft.
Indem mun Herder den völkerpſychologiſchen Gefichtspunkt und den allgemeinen
hiſtoriſch-pſychologiſchen verbindet, kommt er yu den vorber charafterijierten Schlüſſen
und fiigt bingu, es fei notwendiq zu wiffen, in welchem Lebensalter cine Sprache
jtebe, wenn man fie willfiirlidy formen, als Musorucdsmaterial bereichern will Er
felbit pritft eine Reibe frembder Viteraturen daraufbin, was bei Uberſetzungen aus ihnen
und durch die Renntnis ibres ſpeziellen Weſens fiir feine Mutterfpracde zu gewinnen
fei. Er kritiſiert nach feinen Uberzeugungen den Nat der damaligen Sprachverbefferer,
die Spracdformen einfad an die oder jene fremde Junge angupajjen. Sein Ideal
ift offenbar, daß cine Sprache, Die wie die deutſche im Seitalter der „ſchönen Proje”
156 Der junge Herder und die Sprachfunft.
ſteht, harmoniſch ausgebildet werde ſowohl nad der Seite ded braujend jugendlid
dichteriſchen Ausdruds als nad der der altersflaren Verftdndlichfeit. Cinen wabren
Abſcheu bat er vor dem rationaliſtiſchen Sprachideal, das nur fiir körperloſe Geifter
qut fei, „die ſich Begriffe in die Seele redeten”.
Dieſe allgemeinen Betrachtungen dariiber: was fiir Vorausfegungen der Sprach—
funjt find rein durch die Vedingtheit ibres Materials geqeben? werden dadurds vertieft,
daß Herder fics angelichts bejtinunter zeitgenöſſiſcher Leiftungen fragt: wie foll man
iiberjepen? Es ijt befannt, dah er juerjt nachdriidlid) ein echtes Cinfiiblen vom
Nberfeser verlangt, cin Hineinſchmiegen in die Seele des fremben Autors, in feine
nationale und zeitliche Bedingtheit, in den Geijt feiner Spracde, ein Vergeſſen dagegen
und Wufgeben aller fulturellen Selbjtverftandlichfeiten, in die ihn jeine cigene Lebensform
eindämmt. In den Fraqmenten, die feine Jugendperiode cinleiten wie in den Volfs-
liederabbandlungen, mit denen fie ausklingt, in zahlreichen Resenfionen von Tber-
febungen aus dem Lateinifehen, Griechifechen, Hebräiſchen wiederbolt er diefelben
Forderungen in anderer Form. Aber er fühlt auch ftets aufs neue die Schwierigkeiten,
die ſchon allein durch den verſchiedenen Geſamtrhythmus zweier Sprachen, durch ihren
heterogenen Stil einer künſtleriſchen Erfüllung diefer Forderungen entitehen.
Dah felbjt cin Menſch, defen Seele all das fremde, reiche Leben in fich su
fajjen vermichte, am ſprachlichen Material febeitern fann, beflagt er in feiner Borrede
zur Volksliederſammlung in ſchönen, bewegten Worten: „Homer, Hefiodus, Orpheus, ich
febe eure Schatten dort vor mir auf den Inſeln der Ghidfeligen unter der Menge und
hire den Nachhall eurer Lieder; aber mir feblt das Schiff von euch in mein Land
und meine Sprache. Die Wellen auf dem Meere der Wiederfabrt verdimpfen die
Harfe, und der Wind webt eure Lieder zurück, wo fie in amaranthenen Lauben unter
eigen Tänzen und Felten mie verballen werden.” Oder mit nod gefteigertem Rei;
des fprachlichen Musdruds wariiert er diefe Rlagen, wenn er von der Übertragung
griechiſcher Chorgefinge fpricdt: „Aber wer fommt yum Bilde? Wer fann’s aus der
Hobe feiner Tine haſchen und cinverleiben unferer Sprache? Co auc mit Pindars
Geſängen, von denen meines Wiſſens nod) nichts entfernt Ahnliches in unferer Sprache,
vielleicht aud nicht in unſerem Obr da iſt. Wie Tantalus fteht man an ibrem
Strome; der Flingende Strom fleucht, und die goldenen Früchte entziehen fich jeder
Berührung.“ Untrennbar aljo, das erfennt evr von jedem einzelnen Werk, fei’s
höchſtgeläuterte griechiſche Poeſie, fei’S ,der Natur roher abgebrochener Schrei“ wilder
fremder Raſſen, ſei's langgezogener Klagelaut Oſſianiſcher Geſänge aus wogendem
Waſſernebel „von den Hügeln der Kaledonier“, ſei's üppig blühende Dichtung
orientaliſcher Leidenſchaft, — untrennbar ijt ſeeliſcher Gehalt und jede Form des
Ausdrucks.
Mehr zwiſchen den Zeilen zu leſen als deutlich ausgeſprochen iſt die Erkenntnis,
wie viel eben durch dieſes Ringen mit Geiſt und Melodie der fremden und der eigenen
Sprache für die Sprachkunſt gewonnen wird. Nichts iſt zu überſetzen, dem ſich das
ſprachliche Material völlig entzieht — wohl, aber der Sprachkünſtler muß auf dieſe
Weiſe die Kleinodienfülle eigenen Beſitzes kennen lernen, ja er muß hinabtauchen in
den verſchütteten Schacht der Vorzeit und von da vergeſſene Reize, verlorene Ausdrucks—
fähigkeiten heraufholen, damit er dag fremde Geſchmeide nachformen kann. Und was
erſt nur Mittel zu dieſem Zweck war, wird ibm nun ein eigener Beſitz, deſſen er ſich
frei und ſpielend bedienen kann.
Der junge Herder und die Sprachkunſt. 157
Auf diefe Weife gewinnt die Sprachkunſt Unſchatzbares ans den ber:
ſetzungen.
Herder wünſchte ein hiſtoriſches Werk, in dem das Werden, die Erlebniſſe der
deutſchen Sprache geſchildert würden und das auch die Frage beantwortete: „Wie
weit iſt die Sprache als Werkzeug der Literatur, wenn man ſie mit anderen Nationen
vor und neben uns vergleicht? wie weit als Werkzeug der Literatur, ſofern ſie ver—
ſchiedenen Gattungen angemeſſen wird? wie weit für den Dichter, für den Proſaiſten,
wie weit fiir den Weltweiſen? ..... Was fliegen in ibr fiir Schähe von Gedanfen,
fiir robe Maſſen zu Gejtalten fir ungebrauchte Formen, zu neuen Schreibarten .. . .. —
Ich möchte hier die Frage aufwerfen, ob dieſe ſorgfältige Erwägung des Aus—
drucksmaterials nicht überhaupt cin Typiſches in Herders Kunſtbetrachtung iſt, das
nur durch die ſpätere Entfernung von der bildenden Kunſt auf dieſem Gebiete nicht
zur vollen Entwicklung gelangte. Denn in ſeinen Jugendwerken über bildende Kunſt,
dem ungedruckten vierten „Kritiſchen Wäldchen“ und der ſpäter daraus erwachſenen
„Plaſtik“, klingt dieſe Saite an. Der Hauptinhalt dieſer Werke iſt zwar eine Be—
qriindung der verſchiedenen Schönheitsgeſetze der Malerei und Plaſtik aus dem Weſen
der verſchiedenen Sinne, die beider Künſte Urſprung ſind, dem Weſen des ſehenden
Auges und der taſtenden Hand. Aber es wird doch erwähnt, daß die Gebundenheit
und die Ausdrucksfülle plaſtiſcher Kunſt mit ihrem Ausdrucksmaterial zuſammenhange.
In einer ſehr kritiſchen Betrachtung von Winckelmanns Würdigung egyptiſcher Kunſt
bebt er hervor, man müſſe bei einem echt geſchichtlichen Vorgehen beachten, wie dieſem
Volk ſein Land zur Hand gegangen ſei „mit ſonderbarem Material für die Idee und
die Ausführung der Idee“.
Aber Herder hat die Sprachkunſt nicht mur nad den gleichſam objektiven
Bedingungen bin beachtet, die das Material ſchafft. Er wußte, wie viel beim
Zuſtandekommen ſprachkünſtleriſcher Leiftungen das fubjeftive Clement bedeutet, daß
das Werkzeug ſich wandelt in der Hand, die es braucht. Cr rit einem Schriftſteller
feiner Tage, der den Tacitus mit Fleif und Verjtandnis, wie er ihm jugejtebt, über—
fest bat, fic Lieber cinem anderen römiſchen Autor zuzuwenden, deſſen Wejen und
Rede dem Geſamtſtil feiner Sprache mebr adäquat fei. Wertvoller als ſolche
Außerungen ijt es uns, wenn Herder die individuell verfcbiedene Befähigung zur
Sprachgeftaltung mit folgenden Worten abjchagt: „Jeder Kopf, der felbjt denft, wird
auch felbjt fprechen; er wird feiner Sprache Merfmale von feiner Seb: und von den
Schwächen und Tugenden feiner Denfart, kurz, cine eigene Form eindrücken, in welche
fics feine Ideen hineinſchlugen. Nun habe ich durch Erfabrungen bemerft, daß nicht
bei jedem, Der da denft und fprict, Gedanfe und Wusdrud auf eine gleich fefte Art
zuſammenzuhängen ſcheinen, daß nicht bloß bei dem einen der Vortrag loſer und
biegjamer ift als bei Dem anderen (Denn dies ijt zu befannt und leicht zu erklären),
fondern daß bet diefem der Gedanfe felbft mebr an dem Worte klebe und gleicsfam
Die ganze Denfart ſymboliſcher und jeichendeutender fei ald bei dem anderen . . . und
wenn wir aud) nur einige Sebriftiteller von Rang und Anſehen fegen, die ibve
Gedanken der Sprache oder die Sprache den Gedanfen auf fo cigene Art anpaijen,
jo gibt e3 notwendig im Fleinen und grofen beträchtliche Phänomene.“ Auch bier
wieder bet Betracdtung der fubjeftiven Bedingungen der Spracfunjt fiebt Herder
die organiſche Cinbeit von Gedanten und MAusdrud als beſonders wichtige
Erſcheinung an.
158 Der junge Gerber u-d die Spracdhfuntt.
Wir erfabren aber an anderer Stelle noc Intereſſanteres darüber, wie er fic
das cigentliche Zuftandefommen eines ſolchen Sprachgebildes denft. Herders Meiſter—
biograph Haym bat erfannt, dak wir es bier, wo er den Stil eines anderen
charafterifiert, mit einer aus Selbſtbeobachtung geflofienen Schilderung ju tun baben:
„die Bilder drangen fic) von allen Seiten herzu, fordern Anſchauen und Bemerfung,
eines ſtößt an das andere, daß es Flingt; aber endlich) machen fie ſich doch Raum.
(Sedanfen zeugen Gedanfen, dieſe treten wider unfjeren Willen in Sprüchen bervor;
bier kommt eine Metapher yu Hiilfe, weshalb foll ics fie abiveijen? Dort ein Zug
aus einer Gefchidte, icy will ihn bebalten. Aber dag das Gefolge nicht ſchleppend
werde wie Darius’ Kriegsheer, muß ſich jedes einen Fleinen Raum gefallen laſſen:
das Gleichnid wird zur Metapher, die Metapher yum Beiwort, die Gefchichte Crempel,
das Exempel Anfpielung in einem Suge, die Meinung wird Gedante und. der
Gedanke Spruch.”
Kinnte man nocd zweifeln, ob er dieſes Bild aus dem Spiegel genommen babe,
jo witrde cine Stelle aus feinem Heifejournal (1769) ung überzeugen, wo er berichtet,
wie durd die ſprachliche Formung in der Unterredung mit einem jungen Reiſe—
gefährten chaotiſche Gedanken erſt zum Gebilde wurden: „Der Plan ward lange
umhergewälzt, und es ging ihm alſo wie bei allen Umwälzungen: zuerſt werden ſie
größer, nachher reiben ſie ſich ab. Einen Abend gab ich meinem ſchwediſchen
Jüngling davon Ideen, die ibn bezauberten, die ihn entzückten; das Geſpräch gab
Feuer, der Ausdrud gab Beſtimmtheit der Gedanken.“ Cr ſchätzt am Sprachgeſtalter
mebr dieſe innere Kraft, diefe Fähigkeit, das ſeeliſche Gebilde gleichſam aus dem Wort
heraussuloden, als die Kunſt, den ſprachlichen Ausdrud an fic reizvoll zu glätten.
Spracpolierer find ibm Spracwverderber. „Das ſchöpferiſche Vergnügen, unter feiner
Feder Gedanken entitehen werden, Bilder su feben, paart fic felten mit der fparfamen
Genauigkeit, Gedanfen zu ordnen, Bilder yu feilen.” Hier redet Herder febr pro
domo, denn ſeine Sprache, fo febr fle lebt, vibriert, die Phantaſie erregt, bebalt
nad der Seite der Ausgeſtaltung immer etwas vom Torfo. Man ſpürt, daß die
eftalt los möchte aus dent fedweren, unbebauenen Stein, aber die Feffeln nicht
ſprengen fann.
Nicht nur die perſönliche Wrt des Sebriftitellers kommt fiir die Sprachkunſt in
Betracht, auch der Swed, dem das Spracgebilde dient. Herder fcheidet zwiſchen der
Sprache der ftrengen Wiſſenſchaft auf der einen Seite und der des Künſtlers und des
Redners und Schriftſtellers für das lebendige wirffame Leben auf der anderen.
Wer Menſchen reichen Geiſtes- und Gefiiblsinbalt aus ſeinem Schatze fpenden will,
obne fie aus den Zufanunenbaingen des fie umgebenden praktiſchen Lebens völlig
herauszunehmen, defjen Sprache foll verwandt fein mit der Redeweiſe des Künſtlers.
Er ſelbſt will folch cin Redner fiir die Menſchen fein. Die Metaphyſik aber und die
abjtratte Wiſſenſchaft brauchen mur eine Sprache eindeutiger Begriffsvermittlung, von
unabirrbarer Richtigkeit, cine ars characteristica, wie fie Leibniz wollte. Hier ſteht
Herder dem modernen Streben recht fern.
Umſo näher ijt er uns mit dem Wiſſen, daß der Hörer unendlich viel zum
Suftandefommen jener myſtiſchen Berbindung von Ausdruck und ſeeliſchem Gebalt
beitrigt. Denn der Menſch hat nicht nur als Einheit cin beſtimmtes Verhältnis yu
Dem geſamten fprachlichen Material, deſſen er ſich bedienen foll: auch das einzelne
Wort hat cine Geſchichte und zwar nicht nur in der großen Rulturentividlung eines
J
Der junge Herder und die Spradjtunft. 1h9
Volfeds, fondern auch in der Seele des einzelnen. Herder weiß, dak cin Wort dem
einen nichts zu fein braucht als eine woblige Klangwirkung, dem andern cinen
einzelnen feſtumriſſenen Inhalt gibt, dem dritten endlich beladen ijt mit dem Gebalt
voll durcblebter Mugenblice, der bald Entzücken, goldne Erinnerung fein fann, bald ein
unbegreifliches Graujen. Er weiß, daß namentlich and dämmerhaften Kindheitsſtunden
Geſpenſter des Erlebens auffteigen, fic) fo an die Worte hängen, daß cine völlig
andere Wirfung erjielt wird, als der Redner erwarten könnte. Gr ſpricht davon in
jeinem genialſten Jugendwerk: , Bom Urjprung der Sprache”, deſſen wiſſenſchaftlicher
Gebalt hier beifeite bleiben fan, in einer ganz beiläufigen Bemerkung: „Dieſe Worte,
diefer Ton, die Wendung diefer graufenden Romanze u. ſ. w. drangen in unferer
Kindheit, da wir fie das erjtemal hörten, ich weiß nicht, mit welchem Heere von
Nebenbegritfen des Sdhauders, der Feiler, des Schreckens, dev Furcht, dev Freude in
unfere Seele. Das Wort tönt, und wie eine Schar von Geiſtern fteben fie alle mit
einmal in ihrer dunkeln Majeftat aus dem Grabe auf; fie verdunfel den reinen,
bellen Begriff de3 Wortes, Der nur obne fie gefaßt werden fonnte. Das Wort ijt
weg, und der Ton der Empfindung tint.“ Das fann eine ganz andere Wirfung
haben, als der Redner beabſichtigt, es kann — cin Fall, den Herder hier ins Auge
faht — zu einer unerivarteten Verſtärkung werden.
Sch habe hier aus den meiiten Herderſchen Augendfehriften cine Anzahl Muperungen
über Sprachbehandlung ifoliert und in einen Zuſammenhang gruppiert, den jie beim
Autor nicht haben. Dazu berechtigt wohl der gemeinjame Sug, der durch alle dieſe
Worte geht, mögen fie vom Material, vent Zweck der Sprachfunft, von ibrer Wirfung
oder vom Weſen des Sprachgeftalters handeln: das Problem, wie ſeeliſches Leben
den Ausdruck bildet, in ibm lebt, von ibm gewedt wird. Darum mag am Schluſſe
dieſer Betrachtung, die weiter auszudehnen uns bier verwebrt ijt, eine Stelle aus dem
Dithyrambus ftehen, der in Herders Crjtlingswerk diefem Thema geweibt ijt. Dieſer
Hymnus auf die Cinheit von ſeeliſchem Gebalt und Ausdruck beim Dichter entflamunte
die Begeifterung deS jungen Goethe. Wir wiſſen min, daß dieſe Worte, die zunächſt
fiir den Dichter gefprochen find, bei Herder Geltung fiir cin Gebiet auch außerhalb
dex Dichtfunft haben:
„Gedanke und Ausdruck! verhalt es ſich hier wie ein Kleid zu feinent Körper?
Das beſte Kleid iſt bei einem ſchönen Körper bloß Hindernis. Verhält es ſich wie die
Haut zum Körper? Auch noch nicht genug, die Farbe und glatte Haut macht nie die
Schönheit vollkommen aus. Wie eine Braut bei ihrem Geliebten, wenn derſelbe,
ſeinen Arm um fie geſchlungen, an ihrem Munde hangt? Wie zwei zuſammen Vermählte,
Die ſich einander mitteilen; ein paar Zwillinge, die, zuſammen gebildet und erzogen,
ſich lieben und begleiten wie Shakeſpeares Freundinnen? Dieſe Bilder ſind bedeutend,
aber, wie mich dünkt, noch nicht vollſtändig. Wohl! es fällt mir ein Platoniſches
Märchen ein, wie der ſchöne Körper ein Geſchöpf, ein Bote, ein Spiegelbild
einer ſchönen Seele ſei, wie in ihm die Gegenwart der Götter wohne und die himmliſche
Schönheit einen Abdruck in ibn geſenkt, der uns an die obere Vollkommenheit erinnert,
ich ſete dieſe ſchönen Sokratiſchen Bilder zuſammen und zeige meinen Leſern ein Bild,
daß Gedanke und Wort, Empfindung und Ausdruck ſich zueinander verhalten wie
Platons Seele zum Körper!“
AIR +
160
Vie Dachtarbeit der Prauen.’)
Bon
Rlire Salomon.
Nahdrud verboter.
in ————— —88 — der —58 nicht arbeiten jolten
Die Gewerbeordnungs-Novelle vom J. Suni 1891 verbot die Nachtarbeit von Frauen
in Fabrifen, Hiittenwerfen, Baubdfen, und ſeit 1900 ijt diefes Berbot auch auf Werk—
ſtätten ausgedehnt, in denen durch elementare Kraft beweate Triebwerfe nicht blof
vorübergehend zur Verwendung kommen, und auf das Perfonal in offenen Verkaufs⸗
ſtellen. Unter Nachtarbeit verſteht die Gewerbeordnung Arbeit in der
Seit von BY, Uhr abends bis 5'/y Uhr morgens.
Aber diefe Beſtimmungen haben die Nachtarbeit der Frauen nicht zu beſeitigen
vermocht; ſie haben Lücken in dem Schutzgebäude gelaſſen, durch die Nbcranitrengung
und Gefabrdung hineindringen können. Und wenn die internationalen Bemühungen
nad einer gemeinfamen, einbeitlichen Regelung des Arbeiterſchutzes in allen induſtriellen
Rulturlindern ſich das Verbot aller und jeqlicher Nachtarbeit fiir Frauen als erſte
Aufgabe gewählt haben, fo wird auch dic deutſche Arbeiterivelt Nutzen daraus ziehen,
trotzdem die Nachtarbeit der Frauen bet uns dem Buebjtaben nach verboten ijt.
Nach swei Richtungen geht ein Riß durch die deutſche Geſetzgebung, foweit fie
die Frauen-Nachtarbeit betrifft. Der BPerfonenfreis, dem das Verbot umfaßt, iſt
zu Flein, und auch fiir die geſchützten Betriebe find gewiſſe Ausnahmen zuläſſig.
Dev Kreis der geſchützten Perjonen iit zu eng, fo lange die nichtmotoriſchen
Werkſtätten, alfo cin grofer Teil des RKleingewerbes, den VBeftinumungen fiber die
Machtarbeit nicht unterliegen, fo lange fie nicht auf die geſchloſſenen Rontore, auf die
Galt: und Schankwirtſchaften ausgedebnt find. Zwar ijt die Möglichkeit qeqeben, das
Verbot der Nachtarbeit — wie auch andere Schutzbeſtimmungen — durch kaiſerliche
Verordnung mit Zuſtimmung des Bundesrats auf andere Werkftatten ausyudebnen.
Hiervon ijt aber mur fiir die Werkftatten der Kleider- und Wäſchekonfektion?) Gebrauch
gemacht worden. Dagegen bleibt gerade in den faſt ausſchließlich weiblichen Gewerben,
in Der Näherei, Schneiderei, Putzmacherei, Wäſcherei und Plätterei die Mehrzahl der
Arbeiterinnen ungeſchützt.
Auch in den Fabriken und Werkſtätten, für die das Verbot der Nachtarbeit
ergangen iſt, kann von einer radikalen Abſchaffung dieſer Arbeitsform nicht die Rede
ſein. Eine Reihe von Ausnahmen find vont Geſetzgeber vorgeſehen, die den Zweck
hatten, die Durchführung der Beſtimmung zu erleichtern. Die Praxis hat aber
gezeigt, daß ſie weit eher den Anlaß zu weiteren Mißbräuchen und Abertretungen
gegeben haben.
Unter den zuläſſigen Ausnahmen ſind zwei Kategorien zu unterſcheiden: allgemeine,
Die ganzen Induſtriegruppen durch den Bundesrat zugebilligt werden, und ſpezielle,
die für einzelne Unternehmungen und Betriebe bei den Verwaltungsbehörden
nachzuſuchen ſind.
Die gewerbliche Nachtarbeit ber Frauen. Sm Wuftrage der internationalen Geſellſchaft fiir
Arbeiterſchutz herausgegeben yon Prof. Bauer. Dena 1903,
2) Dev Beariff der Konfeltion iit dabei jo eng gefaßt, da ſelbſt fabrifartige Betriebe, die an
100 Arbeiterinnen beſchäftigen, niet von Geſetz erfaht werden, foferm fie Maßarbeit ausführen.
Die Nachtarbeit der Frauen. 161
Allgemeine Ausnahmen find fiir Gewerbesweige zuläſſig, die nach der Wrt des
Retrieds auf regelmapige Tag: und Nachtarbeit angewiejen find. Hier fann fiir
Arauen cine Nachtſchicht von 10 Stunden eintreten. Von der Kompetenz, ſolche Aus—
nabmen zu bewilligen, bat der Bundesrat nur fiir die Vergwerke des DOppelner
Bezirks und fiir die Zucerfabrifen — jedoch in fufjefjiv immer beſchränkterem
Umfang — Gebrauch gemacht. Ferner kann der Bundesrat allgemeine Ausnahmen
vom Verbot der Frauen-Nachtarbeit für Fabrikationszweige geſtatten, in denen regel⸗
mäßig zu gewiſſen Zeiten des Jahres ein vermehrtes Arbeitsbedürfnis eintritt. In
ſolchen Saiſon- und Kampagne-Induſtrien iſt aber Nachtarbeit nur für 40 Tage
im Jahr und nur in der Form zuläſſig, daß Erlaubnis zur Aberarbeit über 8'/y Uhr
abends hinaus erteilt wird. Doch darf in dieſen Fällen die tägliche Arbeitszeit einer
Arbeiterin nicht mehr als 13 Stunden betragen.
Dieſe Ausnahme bedeutet alſo nicht nur eine Durchbrechung des Verbots der
Nachtarbeit (ſofern man die Arbeit nach 8'/y Ubr abends als ſolche anſieht), ſondern
auch des Prinzips eines elfſtündigen Marimalarbeitstages. Sie ijt Daber vielleicht als
nod) bedenflicer anzuſehen als die oben angefiibrte zuläſſige Nachtſchicht; denn ſie
bedeutet nicht nur Arbeit zur Nachtzeit, ſondern gleichzeitig eine übermäßig ausgedebnite
Arbeitszeit. Die Saiſon- und Kampagne-Induſtrien, fiir die ſolche Ausnahmen geſtattet
wurden, ſind: Ziegeleien, Molkereien, Konſervenfabriken, ſowie die Konfettions:
werfitdtten, die jogar an 60 Tagen jahrůch die Arbeit bis 10 Uhr abends aus—
dehnen dürfen.
Außer den allgemeinen Ausnahmen für ganze Induſtriezweige können beſondere
für einzelne Betriebe von den Verwaltungsbehörden zugelaſſen werden. Namentlich
iſt bier die Erlaubnis zur ÜUberarbeit wegen außergewöhnlicher Haufung der Arbeit zu
nennen, die ebenſo wie in den Saiſoninduſtrien für 40 Tage im Jahr erteilt werden
kann und an die Bedingung geknüpft iſt, daß die tägliche Arbeitszeit nicht länger als
13 Stunden währt und um 10 Uhr abends beendet iſt. Solche Bewilligungen zur
Nberarbeit ſollen nur erteilt werden, wenn die außergewöhnliche Arbeitshäufung nicht
vorherzuſehen war oder wenn ſie durch wichtige wirtſchaftliche Gründe veranlaßt iſt,
wie Die Gefahr des Verderbens der zu verarbeitenden Stoffe, Rückſicht auf Transport—
gelegenheiten, Rückſicht auf öffentliche Intereſſen u. dgl. Dagegen ſoll die Nberarbeit
nicht bewilligt werden, wenn die Arbeitshaufung durch ungeſchickte Dispoſition herbei—
geführt iſt.
Dieſe Beſtimmung, die ſicherlich aus dem vorſichtigen und gerechten Abwägen
eines Geſetzgebers hervorgegangen iſt, der nicht der Induftrie ſchaden will, während
ex Dem Arbeiter nützt, Hat ſich in der Verwaltungspraris doch als febr anfechtbar
und bedenklich erwieſen. Es ijt eben undenfbar, dah die Organe, die fiir die Bewilliqung
der [berarbeit zuſtändig find (in einzelnen Staaten — Württemberg und Sachſen —
ſind es die Ortspolizeibehörden), immer die nötige Sachkenntnis und Zeit zur Vor—
nahme einer Priifung der Verhältniſſe beſitzen. Und fo waltet denn häufig bei den
Bewilligungen eine zu große Milde, die Anforderungen an die Arbeiterinnen ſtellt, ohne
bah es im Intereſſe der Induſtrie notwendig iſt. Der beſte Beweis dafür ijt, daß die
Arbeitgeber vielfach die Erlaubnis zur Überarbeit nachſuchen, ohne alsdann die
bewilligte Uberarbeit in vollem Umfang oder überhaupt auszunutzen. Mit vollem
Recht äußert ſich Max Hirſch in ſeinem Bericht über die Nachtarbeit der Frauen in
Deutſchland) hierzu: „Es fann wirklich keine ſchärfere Kritik beborduͤcher Uberzeit⸗
bewilligungen geben, als die Tatſache, daß die Arbeitgeber ſelbſt in gröͤßerem Umfang
auf beantragte und zugeſtandene UÜberarbeit verzichten.“ Alſo dieſe Ausnahmen haben
ein Loch in das Schutznetz geriſſen, das ohnedies nicht groß genug gewebt war, um
den ganzen Kreis der Schutzbedürftigen zu bedecken, und ſo harren noch verſchiedene
Formen der Frauen-Nachtarbeit der geſetzlichen Regelung.
* *
*
1) Bgl. Bauer a. a. O. S. 53.
11
162 Dic Nachtarbeit ber Frauen.
„Eine zehnſtündige Nachſchicht“, „Zwei Stunden Nberarbeit’! Trodne Worte
und Zahlen. Und doch ſprechen fie Bande, enthiillen fie Tragödien wenigitens dem,
der die Sprache der Arbeiterflafje verſtehen gelernt bat; dem, fiir den dieje Worte
und Sablen zu Begriffen geworden find.
Was bedeutet die Nachtarbeit — in einer der gefchilderten Formen — fiir die
deutſche Arbeiterin? fiir das deutſche Volfsleben?
Die Verdffentlichung der Internationalen Vereinigung fiir geſetzlichen Arbeiterſchutz,
dic umfaſſende Berichte über die deutſchen Verhältniſſe vom badifden Fabrifinjpeftor
Fuchs und von Mar Hirjch enthalt, führt eine Fille von Bildern an, die den durch
obige Gefepesparagraphen geſchaffenen Sujtand fonfret machen. ,, Die Rachtarbeit bat
nicht nur dieſe oder jene ſchädlichen Folgen“ — fo beift es Darin, — „ſie ijt an ſich
cine Sdadlidfeit und gwar eine naturwidrige” Unter der Nadchtarbeit ſeufzen
aud) jtarfe und barte Manner, und doppelt leiden die Frauen darunter. Die Form
der Nachtarbeit von Frauen, die in Deutſchland am häufigſten vorfommt, ijt die
Nberarbeit, aljo die bis in die fpaten Abend: und Nachtjtunden ausgedehnte Tages-
arbeit. Diefe, die gum Teil in Fabrifen, aber mebr in dem weiten Bereich der
ungeſchützten Betriebe der Hausindujtrie (Werkſtätten- und Heimarbeit) vorfonunt,
enthalt alle nachteiligen Einflüſſe der gewerblichen Arbeit iiberbaupt, veritirft durch
Die Schädlichkeit der Nachtarbeit, und zwar der auf die volle Tagesarbeit noch auf—
gewälzten Machtarbeit.” Wenn man zunächſt die verheirateten Frauen oder die Mütter
tnt allgemeinen in Betracht zieht, fo bedarf es nicht vieler Worte, wn die Wirfungen
pon „zwei Stunden Überarbeit“ zu ſchildern. Das beift 13ſtündige Arbeitsseit; das
beift mit Einrechnung der vorgefcbriebenen zwei Stunden Pauſe „fünfzehn Stunden”
Mujfenthalt in Fabrif oder Werkſtätte; das heißt unter Surechnung der fiir den Weg
vom und jum Arbeitsort nötigen Zeit „ſechzehn- bis ſiebzehnſtündige Ab—
wefenbeit vom Hauſe.“
Dap eine Mutter, die des Morgens um 6 Ubr iby Heim verlaft, wm abends
qeqen LL Uhr dorthin zurückzukehren, fiir die Pflege und Erziehung ibrer Kinder in
Feiner, auch nicht in allerbefcbeideniter Weiſe forgen fann, liegt ja auf der Hand,
und die Schädigung des Hausiwefens und der Kinderpflege nimmt progrefiiv nit der
Länge und fpesiell mit der abendlicsen Dauner der Fabrifarbeit yu. Und alle Firforge-
cinvichtungen, Die Rrippen, Kindergärten und Horte können nicht die Verwahrloſung
der unter ſolchen Verhältniſſen lebenden Kinder verbiiten, da fie nur wabrend einer
normalen Arbeitszeit — in den Tagesitunden — für die Kinder eintreten können.
Ant Abend müſſen fie die Kinder dem Haus zurüchgeben können, und ſo bleiben
Diefe denn ſchließlich doch unbeaufſichtigt, unverpflegt, vernadlaffigt, oder der Obbut
irgend eines halbwüchſigen Kindes oder ciner gebreddlicen, arbeitsunfabiqen Ane
verwandten überlaſſen. Namentlich die Erndbrungsverbaltniffe der Cauglinge
pflegen unter ſolch übermäßig ausgedebnter Arbeitszeit der Mütter yu leiden. So
dupert fic) ein Arzt des Bezirks Aue dahin, dak die Miitter, um nachts von der
ermiidenden Arbeit ausfdlafen zu können, fajt allgemein ibren fleinen Nindern den
jogenannten Berubigungstee geben (trodene Mohnköpfe), der ficher — auf die Dauer
gegeben — Die Rinderiterblicdfeit erhöht. “Und aus Plauen berichtet cin Arzt, daß
Den Kindern Schnaps eingeflößt wird, um fie yu berubigen. Auf den Zuſammenhang
von Dberarbeit der Miitter und Sauaglingserfranfung weiſt auch die Tatfache bin,
dah die Besirfe, in denen Frauennactarbeit grafjiert, zugleich Hauptſitze
Der Kinderſterblichkeit find.
Ruin des Familienlebens, Gefabroung der körperlichen und geiſtigen Entwicklung
Der Ninder, und ſchließlich nicht zum wenigſten ein ficheres Untergraben der Gefhundbeit
Der arbeitenden Frauen und Madchen felbjt: das ijt das Ergebnis der noch
bejtebenden Nachtarbeit, obgleic fie in Deutſchland ſchon in größerem Umfang ein:
geſchränkt tft. . .
) Bgl.: Die gewerblice Nachtarbeit. S. 29.
Die Nachtarbeit der Frauen. 163
Aber neben den gejundbeitlicben und ethiſchen Schaden der Nachtarbeit muß auch
nod ihre Wirkung auf das geijtige Niveau der Arbeiterin ins Auge gefaft werden.
„Auch jest noch”, fo fagt der Bericht, „im Seitalter ded Frauenitudiums und der
Mädchengymnaſien wird viel zu wenig daran gedacht, wie febr auc im Arbeiterftande
das weibliche Geſchlecht der Bildung bedarf, einer weiteren, tieferen und vor allem
auch praftifderen Bildung, als ibm in der Volksſchule yu teil wird. Während die
männlichen Arbeiter in Fortbildungs- und Fachſchulen, in Bildungs: und Gewerk—
vereinen, in Verjanuntungen aller Art zum großen Teile ihre Schulkenntniſſe fic
erhalten, neue niigliche und erbebende Kenntniſſe, Anſchauungen und Ideen erwerben,
geſchieht von alledem febr wenig fiir und jeitens der Arbeiterinnen. Diefe, denen dod)
von Natur dieſelben Geijtes: und Herzensanlagen verlieben find, wie ibren befigenden
Schweſtern, und ywar anders nuangjierte, aber gleichwertige wie den männlichen Volks—
genoſſen aller Stande, vegetieren zum größten Teile in Unbildung und Stumpfheit
weiter, als hatte die grofe foziale Emporbebung des letzten Qabrbundertsdrittels nur
fiir jene anderen ftattgefunden. Dadurch vertieft fic nicht nur die Kluft zwiſchen den
Nlajjen, fondern eS bildet fics eine folche zwiſchen den beiden Geſchlechtern, die wabrlicd
nicht jum Woble der VBeteiliqten und jum allgemeinen Beften dienen kann.“
Gewiß it es nicht die Nberarbeit in den ſpäten Abend- und Nachtftunden allein,
die ſolche Wirkungen hervorbringt; aber fie verftarft und unterftreicht die
Schäden, die die iiberlange Fabrif: und Erwerbsarbeit obnedies zeitigt. Und das
Plus an Schaden, das allmählich angehäuft wird, wird ſchließlich yur drohenden Gefabr!
* *
*
Stehen aber dieſen Nachteilen der Nachtarbeit nicht erhebliche Vorteile gegen—
über, die ſie ausgleichen und die gegen ein Verbot dieſer Arbeitsform ausgeſpielt
werden müſſen? Von zwei Seiten ſind derartige Einwendungen gegen dieſe wie gegen
jede andere ſtaatliche Regelung des Arbeitsverhältniſſes der Frauen gemacht worden;
von den Mancheſtermännern, die eine jederzeit kampfbereite Vertretung in
einigen Unternehmer-Organiſationen beſitzen, und von ſtark feminiſtiſch denkenden
Frauen, die namentlich außerhalb Deutſchlands mit Energie — und leider auch
manchmal mit Erfolg — „gegen jede Beſchränkung der perſönlichen Freiheit der Frau“
eingetreten ſind.
Die Unternehmer-Organiſationen ſtellen ſich auf den Standpunkt, daß die
Nachtarbeit wirtſchaftliche Vorteile für die Induſtrie mit ſich bringt, und daß
ein Verbot derſelben die Konkurrenzfähigkeit gegenüber dem Ausland ſchwächen, die
Lage der einheimiſchen Induſtrie verſchlechtern und damit die Wohlfahrt von Arbeit—
gebern und Arbeitnehmern gleichermaßen ungünſtig beeinfluſſen würde.
Der Feminismus erblickt dagegen in einem Verbot der Nachtarbeit, das die
Männer nicht in demſelben Maße wie die Frauen trifft, eine Beſchränkung der
Arbeitsgelegenheit der Frau und damit die Möglichkeit, ſie vom Arbeitsmarkt
verdrängt, in cine ſchwierigere Poſition gebracht zu ſehen.
Die Berechtigung beider Einwände läßt ſich am beſten prüfen, wenn man
verfolgt, wie das Verbot der Frauenarbeit, oder richtiger geſagt ihre bisherige
Beſchränkung, in dieſen beiden Beziehungen gewirkt hat.
Es iſt ein hervorragendes Verdienſt der internationalen Vereinigung für geſetzlichen
Arbeiterſchutz, daß ſie gerade dieſe wichtigen und ſo ſchwer zu bearbeitenden Probleme
durch eine vergleichende Zuſammenſtellung des einſchlägigen Zahlenmaterials aus allen
Kulturländern der Löſung nahe gebracht hat. Darnach ſcheint eine irgendwie erhebliche
Schädigung der Induſtrie durch das Verbot der Frauen-Nachtarbeit nirgends herbei—
geführt zu ſein. Nachtarbeit iſt für die Volkswirtſchaft nur in einem Fall produktiv
und wünſchenswert, nämlich wo eine techniſche Notwendigkeit nächtlicher Produktion
beſteht wie bei Hochöfen, bet kontinuierlichen chemiſchen Prozeſſen u. dal. Dieſe
Form der Nachtarbeit ijt aber durch das Verbot der Beſchäftigung von Frauen in
feiner Weiſe beeintrichtigt worden, da Frauen in folden Betrieben ohnedies nicht
nachts beſchäftigt waren. Dagegen fann fiir die Nachtarbeit mur cin cinfeitiges
11*
164 Die Nachtarbeit ber Frauen.
Unternehmerintereffe angefiibrt werden, wenn fie lediglich den Swed bat, die
Gebäude, Maſchinen u. f. w. ſtärker auszunutzen. Aber felbjt vou diefem Standpuntt
iit nocd gegen die Nachtarbeit — fofern fie in einem Produftionssweig yur Regel
wird — anjuflibren, daß die allgemein verminderten Broduftionsfojten auch zu cinem
Sinten der Preiſe qu fiibren pflegen, alfo weniger der Induſtrie als den Konſumenten
zu gute kommen. Ferner aber wird der Unternebmervorteil auc dadurch geſchwächt,
daß dic Nachtarbeit nad Quantitat und Qualität gany allgemein minder-
wertiger als Tagesarbeit ju fein pflegt.
Es hat ſich denn auch gezeigt, dag die deutſche Juduſtrie das im Jahre 1891
erfolate Verbot der Frauen-Nachtarbeit, dad befonders die im Unternehmerintereife
lieqende Nachtarbeit traf, ohne erbebliche Schwierigfeiten tragen fonnte. Jedenfalls
bat die Konkurrenzfähigkeit der deutſchen Induſtrie qegeniiber Der ausländiſchen
nicht gelitten; denn die Ausfuhrſtatiſtik lagt erfernen, daß eine Hemmung des
Erports in dem auf das Verbot folgenden Jahrzehnt nicht eingetreten iſt. Allerdings
ſind gewiſſe Schwierigkeiten und vorübergehende Unzutraglichkeiten für einzelne Induſtrien
entſtanden. Dieſe haben ſich entweder entſchließen müſſen, die Retriebe zu erweitern,
oder ſie haben an Stelle der Frauen männliche Arbeiter für die Nachtſchichten ein⸗
geſtellt, was allerdings mit Mehrkoſten verbunden war. Damit iſt wohl der Beweis
zu erbringen, daß die Unternehmerkreiſe durch das Verbot belaſtet wurden, nicht aber,
daß die Induſtrie ſelbſt dadurch gelitten hat.
Die Tatſache, daß Frauen verſchiedentlich durch Männer bei der Nachtarbeit
erſetzt wurden, ſcheint nun aber klar zu legen, daß der Einwand der Feminiſten
nicht der Berechtigung entbehrt, die Frauen könnten durch ſolche Schutzgeſetze
arbeitslos gemacht werden. Solche Möglichkeiten ſind jedoch mur dann richtig zu
beurteilen, wenn man das geſamte Bild des Arbeitsmarktes — nicht mur einen
kleinen Teilausidmitt — der Beobachtung unterwirft. Es zeigt fic) aud in der Tat,
daß in Robjucerfabrifen über 50%, der beſchäftigten Frauen nad dem Verbot der
Nactarbeit entlaffen wurden. Sn anderen Branchen, wo von den Webeiterinnen
auch frither nur teihveife Nachtarbeit qeleiftet wurde (in Form von Überarbeit), fand
nur ganz vereinzelt Erfag der Frauen durch Manner ftatt. Auf dieſe Weiſe evlitten
cinjelne Arbeiterinnen anf kürzere oder längere Yeit einen Verdienſtausfall. Diefer
wurde aber trop des damaligen flauen Geſchäftsganges bald ausgeglichen, da viele
Betriebe infolge der verfiiryten Arbeitszeit vermebrte Arbeitskräfte brauchten und anf
Diefe Weife die meiſten Entlaſſenen bald wieder Arbeit fanden. Tatſächlich bat die
Sabl der Andujtricarbeiterinnen im ganzen Feine Abnabme, fondern
vielmebr cine Zunahme erfabren, und gwar nicht nur abjolut, fondern auch im
Verbaltnis zur männlichen Arbeiterſchaft. In den Jabren von 1882 bis 1895 ſtieg
die Quote des weiblichen Induſtrieperſonals in Deutſchland von 13,31 anf 16,65 %,.
Auch in den Saifoninduftrien, in Denen durch Die Beſchränkung der Oberarbeit zuerſt
cine Lohnverkürzung fiir wiele Arbeiterinnen cintrat, bat diefe ſich nicht yu einer
Schaädigung der Arbetterinnen qeitaltet. Denn da in diefen Geſchäftszweigen durch die
geſebliche Regelung cine gewiſſe Ausgleichung zwiſchen der Arbeitszeit in der Saiſon
und der ſonſt flauen Geſchäfteperiode gefördert wurde, fom aud) cine gewiſſe Stetig—
keit in den Verdienſt.
Dieſe Erfahrungen, die alle gegen das Verbot der Nachtarbeit erbobenen Ein—
wendungen widerlegen, müſſen fiir den künftigen Fortſchritt des Arbeiterſchutzes in
Deutſchland wie auc in anderen Kulturſtaaten von Bedeutung werden, umſomehr als
Die induftriclle Cutwidlung anderer in bezug auf die Schutzgeſetzgebung vorgeſchrittener
Mander dasielbe erfreuliche Bild zeigt.
* *
*
Aus der am meiſten geſchützten Induſtrie Englands, der Tertilinduſtrie, wird
berichtet, daß ſich fein Erjag der gefestich geſchützten Arbeiterinnen durch ungeſchüßtzte
Arbeiter vollzog. Die Quote der männlichen Arbeiter iſt faſt nirgends geſtiegen, die
der Frauen überall — in der Baumwoll-, Wollwaren-,, Flachs- und Juteinduſtrie —,
Dic Nahtarbeit der Frauen. 165
und zwar auf Koſten der jugendlichen Arbeiter. Auch in Oſterreich, Frankreich
und den Vereinigten Staaten zeigt ſich dasſelbe Bild der Stetigteit in der Ver—
wendung vor Frauenarbeit trotz der gefeblichen Regelung: überall cine abſolute Zunahme
det Frauenarbeit und eine mindeftens ſich gleicdbbleibende Quote im Verhältnis zur
Mannerarbeit. An den Niederlanden, wo feit 12 Jabren cin weitgebendes Verbot
der Frauen-Nadhtarbeit in Kraft ijt, bat ſich die Frauenarbeit gerade in diejem Zeitraum
ganz erheblich — auch im Verhaͤltnis zur Männerarbeit — vermehrt. Auf 1000 in
der Induſtrie beſchäftigte Männer entfielen dort 1889 nur 113 Frauen; zehn Jahre
{pater 124,
Nur ein Land kann einen ziffernmäßigen Rid gang des Frauenanteils an der
Induſtriearbeit feititellen. Es ijt die Schweiz, in Der zweifellos die Urjache dieſer
ſingulären Erſcheinung in dem ſtarken Anwawſen von Induſtrien liegt, die ihrer Natur
nach nur Männer verwenden können, und in der Einführung komplizierter Maſchinen
in die Stickerei, die von Frauen nicht bedient werden. Aber auch hier zeigt ſich in
der übrigen Textilinduſtrie ein abſolutes und relatives Anwachſen der beſchäftigten Frauen.
Dieſe ganzen Ziffernreihen, die für ſamtliche Laänder mit einem beachtenswerten
Arbeiterinnenſchutz in dem Bericht angeführt werden, deuten darauf bin, daß das
Verbot der Frauen-Nachtarbeit das Arbeitsfeld der Frauen nirgends in
ſeiner Geſamtheit geſchmälert und dak es auf die Gliederung der Geſamt—
arbeiterſchaft keinen erkennbaren Einfluß ausgeübt hat.
Warum dieſe Entwicklung ſich vollziehen mußte, warum die Fabrikanten
trotz der ihnen unbequemen Geſetze weiter an der Frauenarbeit feſthielten und feſthalten
mußten, warum ſchließlich die Frauen eine ungünſtige Wirkung ſolcher Beſtimmungen
für abſehbare Zeiten nicht zu fürchten brauchen, das läßt ſich nur aus einem tieferen
Einblick in das ganze moderne Wiriſchafieleben erkennen. Eine Reihe von Urſachen
haben bier zuſammengewirkt: die Billigkeit der Frauenarbeit, die Differenzierung
der Arbeit, ihre immer fortſchreitende Zerlegung, die Männer und Frauen für
beſondere Verrichtungen beſonders geeignet macht, und ſchließlich die noch viel zu
wenig beachtete Tatſache, dak in den induſtriellen Ländern die männliche Be—
völkerung bereits jo vollſtändig von beruflicher Arbeit abforbiert ijt,
daß von einem Erſatz arbeitender Frauen durch Manner im erheblichem Umfange gar
nicht Die Rede fein kann. Vielmehr fann eine Steigerung des WArbeitsperfonals, die
ſchneller als die Bevdlferungsvermehrung fortichreitet, nur durch eine vermebrte Heran—
ziehung von Frauen möglich gemacht werden, und fein Scbubggefesy wird deshalb
Die Sphire der Frauenarbeit verengern.
Wenn die Mitglieder der engliſchen Liberal Federation® und die An:
hängerinnen der franzoͤſiſchen Frauenbewegung, die ſo heftig und ſo erbittert gegen
den Schutz der arbeitenden Frauen eintreten, die oben angeführten Zahlen kennen,iſt
ihr Standpunkt nicht gut zu begreifen. Wenn jie ibn aber erjt durch die Yer:
öffentlichung der Anternationalen Vereiniqung zugänglich werden, fo muß man gejpannt
fein, ob und mit welchen neuen Argumenten fie ibre Poſition verteidigen werden.
Ebenſo überzeugend find die Tabellen fiber die Stetigkeit des Erports
Der geſchützten Andujtrien in den einzelnen Landern, die geeiqnet find, die Argumente
Der Induſtriellen zu widerlegen. Nicht nur fiir Deutſchland, fondern auch fiir die
anderen Staaten, die cin Berbot der Nachtarbeit erlaffen haben, kann eine Ver—
langſamung in der Exportbewegung nicht nachgewieſen werden; vielfady ijt fogar eine
Steigerung yu verzeichnen. Dagegen (aft ſich mun allerdings nod vorbringen, dah
diefe Steigerung obne die Geſetzgebung bitte betraddtlicher fein können; daß fie es
zum Teil in Induſtrien gqewejen ijt, die von den Schutzgeſetzen nicht betroffen wurden,
weil fie weniger in Fabrifen als in der Hausindujtrie ibren Sig haben (Kleider—
fonjeftion, Spielwarenindultrie u. ſ. w.) Aber gerade in dieſen Induſtriezweigen ijt es zu
fo ruindjen Preistimpfen und Lobnreduftionen gekommen, gerade da findet fic eine
jo fürchterliche Uberarbeitung in der Saiſon und erſchreckende Arbeitslofiqfeit und
Elend in der toten Zeit, dah die Erportitcigerungen teuer erfauft erſcheinen.
Sie find erfauft mit Gefundheit und Lebenstraft weiter Volksſchichten, mit einem
ein Die Nachtarbeit ber Frauen.
Ruin des Familienlebens, mit einer Hemmung der geiftigen und ſittlichen Entwidlung
der Vevilferung ganzer Landftriche, und damit find fie zu teuer bezablt.
Ungeſchübte Fraueninduſtrien find paraſitiſche Bndujtrien, die am Mark des ganzen
Volles zehren. J
*
Somit febvint einer weiteren AUusdehnung des Verbotes der Nachtarbeit
fein ernitbaftes Bedenfen im Wege yu fteben.
Fur Me angeltrebte Erweiterung des Perfonenfreifes, fiir die AUsdehnung
der Geſeßgebung auf Die Kleinbetriebe und fiir dic Befeitiqung der Nber-
arbeit, Me in Deutſchland als wichtigite Forderungen gelten können, iſt die Feititellung
aud von Bedeutung, dah der Mangel an einer Organijation des inneren Bedarfs
viel mebr Nadtarbeit zur Folge bat, alS die fo ſtark befiirehtete ausländiſche Konkurrenz.
Mls Den Anlaß yur Nachtarbeit nennt der Bericht in allererfter Reihe die Damenmode,
die in der Schneiderei, PBugmacherei, Runithlumenfabrifation, Handſchuhnäherei und
dergleichen mebr zu ſpäten Beftellungen und damit yu einer immer kürzer zuſammen—
gedrangten Saifon führt. Ebenſo iit die Nachtarbeit in der Wäſcherei und
Buglerei auf feblechte Cinteilung der Arbeit, auf yu kurze Lieferungsfrift zurückzuführen.
Uber Die Mißſtände in den Kleinbetrieben diefer Gewerbe jtimmen die Mitteilungen
aus allen Ländern vollftindig überein. Zu ibrer Befeitiqung ijt nod fajt nirgends
etwas getan. Der deutfche Berichterſtatter Mar Hirſch tritt mit aller Energie fiir die
Regelung diefer Verhältniſſe ein. „Eine der haufigiten und umfaſſendſten Veranlaſſungen
yur Arbeitshdufung bilden befanntlic) die Feſtzeiten“ fo fagt er, „auch fiir ſolche
Erzeugniſſe, die längere Zeit im voraus bergeltellt und feilgeboten werden können.
Dennod pflegen die Aufträge erjt wenige Tage oder Wochen vor dem Fefte und dann
natürlich im Therma gemacht zu werden. Uber ijt das unverinderlich, unvermeidlics?
Für den einjelnen oder wenige Unternebmer. allerdings; fie können der Citte, der
Gewobnbeit, der Mode nicht gebieten. Aber wenn dem gemeinfamen Drangen der
Ronjumenten cin gemeinfamer, gefdloffener Widerjtand der Produzenten, fei e3 aus
freiem Antriebe, fei es durch Not oder Zwang, entgegentritt, wie dann? Wenn die
Konſumenten und Kaufleute infolge folchen Vorgehens entweder auf die begebrten
Produfte verjichten, oder von der gewohnten Veripatung abgeben miiften, fo werden
wobl die meijten oder alle ſich yu legterem entſchließen und die ganze Kalamität hat
ein Ende.“ ,, Wenn unfere Damen fic den renommierten Geſchmack und die bewährte
Gefchidlichfeit erjter Rleiderfiinjtler nicht anders zu fichern wiſſen, als durch frithscitige
Peitellung, fo werden fie Monate vorber in die Bazare und Ateliers eilen.“ Zum
Widerftand gegen Unſitten der Konſumenten fann es aber feinen cinbeitliceren,
ywingenderen Impuls geben, als die gejeblice Fejtlequng der Arbeits-
zeiten; darum tritt der Referent fiir cin Reichsgeſetz ein, das die Nachtarbeit
verbietet, obne an allen Eden durch Ausnabmen wieder Mißbräuche hineinzulaſſen.
Den beften Beweis dafiir, dak die bisherige deutſche Gefesqebung nicht genügt, erblidt
et Darin, dak fie nod) immer Ausnabmebewilliqungen yu Uberſtunden und yu Nachtarbeit
in fo erbeblicem Umfange möglich gemacht bat. Cr weijt mit vollem Recht darauf
bin, daß felbjt in den letzten Jahren der ſchweren geſchäftlichen Depreffion die
bewilliqte Tberarbeit nicht erbeblicy gegen frithere Jahre juriidgegangen ijt. Es ijt
ein Unding, wenn in Zeiten bodgradiger Unterarbeit die Uberarbeit floriert
und in einer Seit, in der die Verteilung des Lobnes auf möglichſt viele Perjonen die
Wirkung der Kriſe abſchwächen fann, ein Teil der Arbeiterſchaft yu Nberarbeit beran-
gezogen wird, während anderwärts Taujende arbeits: und brotlos werden. Und jo
fordert er denn Die Vefeitiqunug der Ausnabmen vom Verbot der Frauen:
Nadtarbeit und die Ausdebnung der geſetzlichen Beſtimmungen auf andere
Gewerbesweige, und ¢3 jtebt zu boffen, dak die internationalen Anregungen und
Bemühungen, die auf ein Verbot der Frauen-Nachtarbeit in allen Yandern hinzielen,
auch Deutſchland bald yu einer Erfiillung dieſer Wünſche fiibren mögen.
Die deutſche Geſetzgebung ging davon aus, die Nachtarbeit der Frauen zunächſt
da zu verbieten, wo fie cine neue und nod wenig verbreitete Erjdeinung war,
— *
Die Nachtarbeit der Frauen. 167
daber relativ am leichteſten unterdriidt werden fonnte. Durch diefe Berhinderung
weiteren Anwachſens der Frauen-Nachtarbeit in der Induſtrie bat fie fics cin qrofes
Verdienſt erworben. Jest aber erwächſt ibr die Aufgabe, die Frauen-Nachtarbeit da
zurückzudämmen, wo es ſich um verbreitete und alt eingewurzelte Zuſtände
bandelt. Noch immer gibt es Unternehmer, die „für die Leiſtungsfähigkeit der Maſchinen
und MArbeitstiere ein feines Verſtändnis haben’, besiiglich des höchſten Motors aber,
der menfeblichen Arbeitsfraft, beachten fie nicht einmal die einfachſten Erfahrungen.
Hier muß Me Gefegqebung einen Riegel vorſchieben. Biel und Richtung ijt ibr fiir
dieſe Aufgabe gewiejen.
* *
*
Die internationale Bewegung für cinen gefeglichen Arbeiterſchutz, die feit kurzem
cine feſte Organijation gefunden, bat es fic) zunächſt sur Aufgabe gemacht, die
Vejeitiqung der Frauen-Rachtarbeit in allen Rulturlandern anjuitreben. Die große
Agitation, die fle entfaltet, fann fiir Deutſchland nur inſoweit Pionierdienfte Leijten,
als durch ein Vorivartsdrangen der in der Schuggefesqebung juriidgebliebenen Staaten
aud das vorgejdrittene Deutſchland yu einem weiteren Ausbau der Geſetze veranlaft
werden fann. Die Vereinbarungen, die auf internationalem Gebiet ftattfinden können,
müſſen zunächſt für unfere Verhältniſſe obne direften Einfluß bleiben; denn inter:
nationale Regelungen find mur dann möglich, wenn man Forderungen jo bod jtedt,
daß fie Den ſchwächſten und zurückgebliebenſten Landern exfiillbar find. Aber auch ein
ſolches Heben der indujtriell weniger entwidelten Lander fann den höher ftebenden yu qute
fFommen; es fann ibre Aufnahmefähigkeit fiir neue ſozialpolitiſche Pflichten
qejteiqert werden, wenn Konkurrenzländer aud auf diefem Gebict cinige
Zugeſtändniſſe madden. In erjter Linie werden fic) aber die Lander vorwärts
treiben laſſen müſſen, die fich jest in Der Ubergangszeit befinden, in der die Umivandlung
des Rleinbetriebes in fabrikmäßige Gropinduftrie in vollem Gange ijt, die in induſtrieller
Beziehung auf demfelben Boden jteben, diefelben Schreckniſſe durchmachen, die Groß—
britannien vor 100 Jabren, Deutſchland einige Jahrzehnte ſpäter durchlebte.
Nber den Stand der Gefesgebung und iiber die Zuſtände der Frauen:
Nachtarbeit in jenen Landern gibt die Verdffentlichung der internationalen Vereinigung
cingebende Berichte. Bon befonderem Anterefje find dabei die Mitteilungen aus Japan,
das jo recht cigentlid) im Augenbli als daz Land des Nbergangsitadiums bezeichnet
werden fann. Ferner tiber Rußland, wo zwar die Grundſätze des Arbeitsſchutzes
jormell anerfannt find, wo aber durch Ausnahmebeſtimmungen und andere Romplifationen
die Wirkfamfeit des Geſetzes faſt anmulliert wird. In bezug auf die japaniſche
Induſtrie ift die Tatſache befonders auffallend, dah die Sahl der weiblichen Induſtrie—
arbeiter Die Der männlichen ganz erbeblicd überſteigt. Es übertrifft die Sabl
weiblicher Arbeiter die Der männlichen in Motorbetrieben wm rund 50 Prozent, in niet
motorifcben ijt das Verbaltnis cin nod ungiinitigeres. Als Urfacden der Zunahme
weiblicher Arbeit werden erjtens Die nNiedrigen Löhne, zweitens die Leichtigkeit der
medanifaden Arbeit qenannt; dazu kommt, daß Spinneret und Weberei als Monopol
weiblicher Arbeit betrachtet werden. Cine Regelung der Nadtarbett von Frauen
ift war in einem Geſetzentwurf bereits enthalten geweſen, aber nicht yum Geſetz erboben
worden. Sie fcbeiterte an dem Widerjtand der Unternebmer, namentlich der Baunnvoll-
jpinnerei-Fabrifanten. Zwar fiibrten diefe unter anderem als Grund an, dah die
Nachtarbeit wegen der geringeren Hike im Sommer von den Arbeiterinnen felbjt
vorgesogen wurde. Dieſe und andere Einwände werden aber von dem Verichterjtatter
als unjutreffend zurückgewieſen.
Im iibrigen febildert er Die Arbeitsverhältniſſe namentlich in den Spinnereien
als geradezu entfeplicd. Kinder und Erwachſene, Manner und Frauen arbeiten die qleiche
Stundenzabl. Der Durchſchnitt der Arbeitsdauer beträgt 12 Stunden, das Marimum 17,
Dieſes findet man hauptſächlich in den CSeidenbetrieben der Proving Shinjbion,
in Der Seidenwürmerzucht und Spinnerei in denfjelben Handen liegt. Dort it die
Saijon aus verjcbiedenen Gründen febr fury; man debnt deshalh die Arbeitszeit der
168 Die Nachtarbeit der Frauen.
Arbeiter aus, um fie nad Schluß der Saifon ju entlaffen. In einigen Spinnerei-
gefellfcbaften ijt die Bebandlung der Arbeiter ſehr bedrückend, die Nahrung feblecht, und
die ſchmutzigen Schlafſäle gleichen Gefängniſſen. Diefe Gefellfechaften betrachten ibre
Arbeiter als eine Art Maſchine und fpannen fie wie Sflaven von morgens bis abends
cin. Die gebriuchliche Methode de3 Anwerbens der Urbeiter, befonders von jungen
weibliden Perſonen ijt die folgende: Die Verforgung der Spinnereigefellfchaften mit
UArbeitern wird von Vermittlern in die Hand genommen. Dieſe ziehen durch das
Land und iiberreden arme, unwiſſende Madden, die ihren Cltern bei der WArbeit belfen,
ſich von einer Spinnereigeſellſchaft anjftellen gu laſſen. Dabei verſprechen fie ihnen
wenig Arbeit, Vergniigen in den Fabrifen und hohe Löhne. Eltern und Töchter
werden auf dieje Art vollig betrogen, und die Madden werden weit weg von ihrer
Heimat in irgend eine Fabrif gefandt. Der Vermittler befommt feine Provijion, die
armen Madden aber leiden, meiſt abgefdloffen vom Verfehr mit der Aufenwelt, viele
Sabre fang in den gefdngnisartigen Fabrifen. Cinige von ibnen entfliehen dieſer
Gefangenſchaft, andere baben fic getitet.') Auf der anderen Seite kommt aud Diebftabl
geſchickter Arbeiterinnen durch die verſchiedenen Fabrifen vor. Der wichtigſte Puntt
der Urbeiterfrage Japans liegt nach den Mitteilungen des Berichterjtatters in den
Sypinnereien. Es ijt yu boffen, daß eS vielleicht auf Grund der internationalen An—
requng gelingen wird, diefe Verhältniſſe bald zu fanieren, ehe die indujtrielle Entwidlung
auch bier zu einer Entartung ganzer Volksſchichten führen müßte.
Solchen Mitteilungen gegenüber ſtehen ausführliche Referate über die Wirkungen
des Verbotes der Frauen-Nachtarbeit in den fortgeſchrittenen Staaten, wie England,
Holland u. ſ. w. Hier ſind überall nur Lücken auszufüllen, die dem Geſetzgeber zuerſt
entgangen ſind. Dazwiſchen ſtehen die Berichte all der Staaten, in denen der Arbeiter—
ſchutz bisher nur fiir einen kleinen Bruchteil der weiblichen Arbeiterſchaft beſteht. Es
ijt ſchon an anderer Stelle darauf hingewieſen, wie aud unter ſolchen Verhältniſſen
überall die Wirkungen des Verbotes der Nachtarbeit nur günſtige geweſen ſind; daß
die Arbeitsgelegenheit der Frauen nicht vermindert, die Entwicklung der Induſtrie nicht
gehemmt worden iſt. Aber ferner wird in dem Berichte gezeigt, daß da, wo Lücken
im Geſetz geblieben ſind, ein Schädling im Volksleben fortwuchert und wächſt, und
daß es an der Zeit iſt, ihn auszureißen. So heißt es aus Belgien, in dem überhaupt
noch ſtark mancheſterliche Ideen die leitenden Gewalten zu beherrſchen ſcheinen, daß
überall, wo die Frauen-Nachtarbeit vom Schutz frei geblieben iſt, dieſe Arbeitsweiſe ſich
mehr und mehr einzubürgern beginnt; daß ſelbſt Induſtrien, von denen zu wiederholten
Malen geſagt wurde, daß ſie die Verwendung der Frauen-Nachtarbeit verſchmähen, jetzt
zu ihr * So werden aus England geradezu erſchreckende Mißſtände über die
oe aaa mitgeteilt, auf die das Verbot der Nachtarbeit noc) nicht ausgedehnt
worden ift.
Und jo iſt es denn weit weniger die wachſende Cinfict in die üblen Wirfungen
der Nachtarbeit der Frau, die Veranlajjung ju einer Criveiterumg der Geſetzgebung
qibt; es ijt vielmebr die wadjende Beteiliqung der Frau am Erwerbsleben, ibr
Cintreten in UArbeitsgebiete, die früher als yu anftrengend erachtet wurden, Die cine
Regelung diefer Frage immer brennender und dringender erjdseinen - lat Mage
diele Regelung fo ſchnell erfolgen, daß die erſchöpfenden und belebrenden Berichte der
internationalen Vereiniqung in furzer Zeit nur nod) „die Bedeutung ſozial-geſchichtlicher
Dofumente” befipen mögen.
1) Bergl. a. a. O. Seite 276.
: $22
169
Ce ja. ——
Novelle von
@®evrg BRordenfvan.
Autorifierte liberfegung aus dem Schwedifchen von €. Stine.
Nachdruck verboten.
ri
J. jenen Tagen wurde die Entſcheidung
der Jury des „Salons“ belannt gegeben.
Aſps Effet de matin en Suéde“ war an—
qenommen; ,mademoiselle Borgstroem* jedod
erbielt einen jener fleinen gedruckten Briefe, in
welden die Künſtler höflich erfucht werden, die
cingefandten Bilber wieder absubolen.
Ich erfubr durch mebrere Tage nidt, wie |
fie dies Mißgeſchick aufgenommen. Cin paar:
mal war id bet Edvard oben, traf fte jedoch
nie.
in einer Ede.
Aud bei unferen Mittagsverfammlungen
erfcbien fie nicht.
Ginmal ded Nachts — es war halb ein
Ubr und id war auf dem Heimweg vom
Theater — ward id Edvards anfidtig, der
auf bem Boulevard Clidy auf und abging.
Pei jedem fünften Sebritt drebte er fic) um
und fpabte in die Quergafje, in welder Aja
wobnte. Mid fab er nicht. Als ich mein
Haustor erreidht hatte, wandte ich mid) wieder |
guriid, um ibm Vernunft zuzuſprechen. Er
fpajierte nod immer auf und ab, nun aber
in ihrer Gaffe, die ftumm und leer dalag.
Und id wandte mid nodmals und ging
nad Hauſe. ,
M13 ic) ibn tags darauf traf, fab er ge-
altert aus, war geiftesabwefend und zerſtreut;
Emma wie immer blak und ergeben. Sogleich
nad Schluß des Diners gingen fie ibres
Weges,
Emmas Portrait ftand zurückgeſchoben
Schluß von Seite 94.)
der mir nicht völlig ungeſucht ſchien. Es war,
als wolle ſie den anderen zeigen, daß ſie es
gar nicht vermeide, mit ihm zu ſprechen, daß
ſie ſich durch ſeine Nähe nicht im geringſten
befangen fühle.
Dann verſtrichen wieder einige Tage, ohne
daß id) fie und Richert zu Geſichte belam.
Aber ſchon fing man an, im Kreiſe der in
Paris lebenden Skandinavier von ihnen zu
reden. Während des Winters hatten einige
Damen aus dem Norden — es waren dies
jedoch leine Schwedinnen — durch ein ziemlich
rückſichtsloſes Auftreten an öffentlichen Orten,
beſonders in einem von den Slandinaviern
ſehr beſuchten Café, wo man fie bald allgemein
fannte und bezeichnete, Anſtoß erregt. Dan
begann über die nordiſchen Damen Gerüchte
auszuſprengen, und es fanden ſich immer
Perſonen, die die Augen offen und die Ohren
geſpitzt hielten.
Schon früher hatte mand einer an Ajas
freiem Benebmen Anſtoß genommen — fie fei
gegen Herren gar gu kameradſchaſtlich, hieß
es, fie rauche nie eine Sigarette, fondern immer
mebrere, fie fibre cine gar freie Sprade. Die
,allgemeine Anſicht“ ging dabin, dah fie fic
Am nächſten Tag taudten Aja und Richert
_ des Parifer Lebens forderten.
wieder auf. Ich bemerfte etwas Angeftrengtes
in Ujas Heiterfeit.
Edvard gegeniiber ſchlug
fie einen freimütig klameradſchaftlichen Ton an,
durch ihre Unvorſichtigleit fompromittiere —
um den gelindeſten Ausdruck zu gebrauchen.
Der Vertreter der allgemeinen Anſicht in
unſerer Geſellſchaft war ein neu hinzuge—
kommener ſchwediſcher Philoſophielandidat,
der Aſthetil ſtudierte und in einer Penſion
wohnte, deren übrige Inſaſſen mittels genauer
Uberwachung ihrer Landsleute ihr Studium
Was Fräulein Borgſtröm beträfe — erklärte
der Kandidat — ſo mache ſie ſich durch ihr
170
Wja.
fortwabrendes und beſtändiges Beifammenfein | eigens um Edvards willen veranftaltet war.
mit dem jungen Herrn Ricert, der nidt den |
beften Ruf babe, in geſetzter Geſellſchaft un:
möglich.
„Ach was, Altweibergeſchwätz!“ warf ich ein.
Da wurde der Kandidat böſe.
Sollte es ein Radilalmittel fein, wn ibn von
fic) gu entfernen, um fic) felbft zum Bergefjen
qu zwingen? Hatte fie wirklich denjelben Ge-
danken gebabt, dah Ridert zur rechten Stunde
ihren Weg freuzte?
„So? Iſt dad vielleicht Altweibergeſchwättz,
wenn man die Herrſchaften um 11 Uhr des
Abends in Mademoiſelles Tür hineingehen
und ibn um 1 Ubr wieder berausfommen
fiebt? Wenn bas Altweibergewäſch ift, fo
müſſen Cie wenigſtens zugeben, dak die Be—
treffenden Anlaß dazu gegeben haben.”
Das Männchen ſah ganz animiert aus bei
der ſchönen Gelegenheit, ſeine Anſicht zu ver—
teidigen. Seine Auglein glänzten vor Bufrieden:
heit, und hätte er ſich nicht zufällig in
Künſtlergeſellſchaft befunden, ſo hätten wir
wohl ſicher einen oder den anderen wohl—
gewählten Ausdruck fiber Künſtler- und
beſonders Künſtlerinnenmoral zu hören be—
fommen.
Ich fragte, mann
Vifite bemerft habe.
„man“ Ddiefe ſpäte
Selbſtwerſtändlich hatte er ſowohl Tag als
Stunde in feinem Gedadtniffe verjeidnet. Es
war diefelbe Nacht, als id) Edvard gegen ein |
Norweger.
Uhr vor Ajas Hauſe Poſten halten ſah. Er
hatte ſie alſo geſehen.
Dies Geklatſche machte einen äußerſt un—
behaglichen Eindruck auf mich. Ich wußte,
wie unbedacht Aja fein fonnte, wie wenig ſie
ſich darum kümmerte, was ſich „ſchickt“ und
nicht ſchickt: ich kannte ja auch ihre Vor—
liebe, die Nächte gu durchwachen.
Dak es
Anlaß gu tibelwollenden Auslegungen geben —
mufte,
Abendbefuch ing Wtelier lub, daran dachte fie
nit. Und verging Dann die Beit fo ſchnell
beim Plaudern, daß man, ebe man ſich's ver:
jab, tief in den Nachtſtunden war, fo ging’s
wobl aud niemanden an. ,,Sie wollen ſchon
geben?" hieß es immer,
Nacht“ fagte, — war aud die S
aufgegangen.
Und dod zweifelte ic,
wirllich Gedantenlofigkeit geweſen.
ganz im Gegenteil Berechnung ſein. Bei
Ajas Leidenſchaftlichkeit war es leicht an—
zunehmen, daß dies Umherziehen mit Richert
Sonne ſchon
ob es diesmal
wenn man „Gute
wenn fie ihren Begleiter auf einen
Innerhalb unjerer Roterie — die übrigens
nun fo gut wie gefprengt tar — rief dads
Geſchwätz eine gewijje Verſtimmung bervor;
derartige Gerüchte brachten ja cinen Fle auf
bas Anſehen der flandinavifdien Koterie. Der
eingige, Der ſich des Geborten freute, war der
Er gudte uns ladelnd mit den
ftedhenden Augen an.
„Richert wire ja närriſch, wenn er fie
nicht nähme. Gie ift ja fo gliidlid mit ibm,
bah fie auf der Straße, ftatt neben ibm her—
zugehen wie ein anderer Menſch, fic) ſchwenkt
und hüpft wie ein Kälbchen.“
Und als einer von uns böſe ward und
ein Wort von Verantwortung hinwarf, fuhr
er in ſeinem überlegenen Tone und mit un—
erſchütterlicher Überzeugung fort:
„Sind Sie nun wieder einmal da mit
Ihren dummen Empfindungen von Verant—
wortlichkeit? Wir Menſchen haben einfad
feine Berantivortung, wir haben das Recht
nad unferen Anlagen ju leben” u. ſ. w. in
diefem Stil.
Edvard klopfte ftumm und nervös auf den
Tiſch — er fonnte heute die Hande gar nit
rubiq balten. Much Emma war da — was
fie wobl benfen mochte? Ach glaubte etwas
wie Schadenfreude in ibren ſonſt fo rubigen
Augen ju entheden — fiir fie fonnte ja and
nichts Befferes cintreten, als daß Cdvard,
erregt und berlegt von dieſen Gerüchten —
modten fie auch nod fo untwabr fein — gu
glauben begann, Wa habe mit ibm gejpielt
und, fobald fie einen Amüſanteren gefunden,
ibn beifeite geworfen. War einmal feine
Kritik ihr gegeniiber gewedt, fo fonnte er nidt
anders als ibr miftrauen,
Aber gerade, wie ich da fo fife und mir
' cinrede, daß Frau Emmas Gedanfen diefelbe
Es fonnte |
Ridiung geben und dah fie fic fo recht im
Herzen diefer lesten Wendung der Dinge freute,
da fagt fie gang rubig, aber beftimmt:
, Mein, Daran fann dod niemand glauben,
bak bas wahr ift.”
ja.
Die anderen veritummten. War ed wirklic |
die fleine Frau WA fp, die etwas gefagt? Und |
in ber Abſicht, Fraulein Borgſtröm in Shug
zu nehmen?
„Aja iſt nur unüberlegt,“ fuhr ſie fort,
„und kümmert ſich nicht darum, was man von
ihr ſpricht. Es macht ihr Vergnügen, ſich
jeder Art Konvenienz zu widerſetzen. Aber
171
| nod! Da war auch ein Spaßvogel — er hieß
Bigot oder ſo ähnlich — der lud uns für
morgen auf cin Maskenfeſt, ein Privatkünſtler—
| mastenfejt, in feinem Atelier Rue Vaugirard
, ein. Man foll eben -alled feben und dad
Luſtigſte wählen.
den Humor behalten.
von da iſt ein weiter Schritt bis — bis zu
dem, weſſen man ſie beſchuldigt und was na—
türlich unwahr iſt . . . und ed iſt cine Schande,
ſo etwas zu verbreiten.“
Sie war glühend rot geworden vor Be—
wegung und vor Ungewohnheit, ihre eigene
Stimme zu hören. Der kleine Kandidat errötete
und machte eine Miene, als ſei ihm zu nahe
getreten worden. Der Norweger glotzte die
kleine Bourgeoiſe mit überlegenem Mitleid an
und öffnete gerade den Mund — er war
wahrhaftig nicht der Mann dazu, zu ſchweigen,
wenn er etwas zu ſagen hatte, und das
hatte er immer — als die Titre aufging
und Aja Borgſtröm, gejolgt von Ridert,
cintrat,
»Bonsoir la compagnie.“
Sie liefen fic) nieder.
„Was haben Sie eben vor?” begann fie.
„Und Sie felbft?” fragte ber Norweger.
„Wo haben Sie während diefer Tage geftedt?”
Aja lachte. „Ich Habe gar nirgends .qe-
ftedt’. Am Gegenteil! Denfen Sie nur, was
fiir unerbirte Dinge ic, dank diefem jungen
Gentleman bier, mitgemadht babe. Borgejtern
Abend cinen gewaltigen Wtelierjur bei Monſieur
Gasque, dem Symboliften.
cine Dame mitnehmen, und Monfieur Richert
nabm mid. Es gab dort cin Schattenfpiel
der ſchönſten Parifer Modelle.“
» Wir wollen nicht fragen, twieviel fie an: |
batten,” fiel einer ein.
pein, tin Sie bas nicht,” meinte Ricert.
„Aber luftig war's!” bebauptete Aja. „So
eine pudelnärriſche Gefellichaft! Diefe Pariſer
Kiinjtler finden nidt ihresgleichen, was tolled
Poſſenzeug betrifft. Zuletzt wurden die übrig—
gebliebenen Speiſen veraultioniert. Für mid
fiel ein Hammelbraten ab, dem zu Ehren
geſtern bei mir eine Geſellſchaft ftattjand. Im—
provifiertes Frühſtück fiir jeden, der cine feine
Nafe Hatte und fom. Aber nun Hiren Sie
Seder Herr durjte
Hier in Paris lernt man
Der Tod ertwartet did
ja bod) einmal — Beit genug, dann die
Lippe hängen zu laſſen.“
War das nicht alles auf Edvard gemünzt,
dieſes übermütige Auftreten, dieſe ausführlichen
Berichte, wie ſie ſich in Richerts Geſellſchaft
und immer wieder in Richerts Geſellſchaft
unterhielt? Um mich los zu werden — ſollte
Edvard ſich denken; um eine unüberſteigliche
Mauer zwiſchen ihm und ihr zu errichten —
das war meine Überzeugung. Mir hatte ſie
geſagt, als ſie an jenem Abend von ihm ge—
ſprochen und von ihrer Verzweiflung, nicht
das für ihn tun zu dürfen, was ſie konnte:
„Ich weiß, was ich will, und ich fann tun,
was ich will.“ Ich war nun überzeugt, daß
ſie ihren Vorſatz durchführen werde, koſte es,
was es wolle.
Es geſchah in ganz offenbar oſtentativer
Abſicht, daß ſie nach dem Kaffee Richerts
Arm nahm und, uns anderen zum Abſchied
zunickend, an ſeiner Seite hinausſchlüpfte.
Man mußte zugeben, daß ſie füreinander
paßten, dieſe beiden, beide gleich unermüdlich
und unerſättlich im Genuß des Vergniigens.
In Richert hatte Aja den Kameraden nach
ihrem Sinn getroffen.
Auch die Gedanken der anderen gingen
wohl in dieſer Richtung. Der Norweger pfiff
vergnügt vor ſich bin, und der kleine Kandidat
ſah ſich mit triumphierenden Blicken um —
„nun, hatte id) etwa nicht recht?“
Edvard ſaß bleich und ſtumm da, und
Emma hatie Tränen in den Augen.
Wohin ſollte all das führen? —
Einige Tage ſpäter ſchlenderte ich, vom
Odéon kommend, den Boulevard St. Michel
entlang und trat in dad Café Rouge ein,
das gu dieſer Nachtſtunde gedrängt voll war.
3 gab dort Mufif, der niemand zuhörte,
bie Damen rauchten, und es herrſchte die
lebbaitefte und lautefte Unterbaltung. Das
Publifum bier war ein gang anderes, als in
ben Boulevard-Cajés des nördlichen Seine—
172
ufer$; es war bie Jugend ded Quartier Latin,
bie bier berrjdte und Ton angab.
. Man jah Siudenten der oberen Klaſſen,
Jünglinge von getoandter und forrefter Elegan;,
einige in Fradangiigen, wie es dem Parifer
der mondaine geziemt und anftebt, blafiert,
bleid) und dünnhaarig; daneben ungefdorene,
mit genialer Achtloſigkeit gefleidete Genies;
ländliche Biiffler mit glattgebiirftetem Haar;
ältliche, abgeſchabte Philoſophen, die in bem
Gajé ju Hauſe waren, alle Seitungen laſen
und Gäſte und Kellner beim Vornamen riefen.
Man ſah bier die Minijter bes morgigen
Tages, die Talente und die fleinen Beamten
und an der Seite dieſes ober jened irgend
eine blaſſe Schönheit in moderner Frithlings-
toilette; aber auch gang baugbaden und einfad
gefleidete junge Madden, alle in frober Laune
und ohne Spur von Schläfrigkeit.
Man fpielte Karten und Domino und
tranf wenig. Die Beitungen gingen von
Hand ju Hand, feinen Augenblick frei; man
visfutierte Politif, Literatur und Tagesfragen.
Wolfen von Tabafsraud, fein Tag, die
Ellbogen unterzubringen, und dazwiſchen immer
neue Gäſte, die, mit Gelächter und Witen
bewillfommt, Herren und Damen obne Unter-
fchied bie Hände fcbtittelten.
Eben im Begriff ju geben, erblidte id
Edvard, hinter einem Kreis des zukünftigen
Frankreich eingejperrt, einſam an einem Tijde
figen. Ich nidte ihm gu und fragte, ob tir
miteinander nad Haufe geben wollten, Worauj
wir uns auf bie Gajje binaus Bahn brachen.
Er hatte fid) auf einem Spaziergange
bierber auf dad linke Ufer verirrt. Co bradte
er alfo jetzt, feit es nicht mehr der Muhe lohnte,
Fräulein Borgſtröm gu behüten, ſeine Abende gu.
Allein er war nicht der Mann dazu, mir,
ſowie ſie es getan, ſein Vertrauen zu ſchenken.
Er ſchien müde und gedankenleer, und es fiel
hauptſächlich mir zu, das Geſpräch in Gang
gu halten, während wir durch die laue Nacht
über Pont des Arts, am Louvre vorbei und die
Boulevards entlang unferem Viertel zuſchritten.
Beim Anblide des bunten Schildes auf dem Café
des décadents fam mir der Cinfall, cin wenig
hineinguquden — man batte dort immer
Gelegenheit, etwas aufzuſchnappen, und Cdvard
braudte Zerſtreuung.
Aud bier war es geftedt voll. Wir
famen bon ben Stubenten ju den Künſilern,
pon Quartier Latin nad Clidy, von cinem
Milien von Berlaine in ein folded von Villette.
Aud bier Lärm und Bewegung: von Müdigkeit
und blafierter Gleidhgiltigheit nicht die mindefte
Spur. Beitungen fah man nur wenig, und
hörte man bier ftreiten, fo war es nidt über
Politif, fondern iiber das Runftideal ded
nächſten Jahrhunderts.
Das Schattenſpiel war fiir heute Abend
gu Ende und der Vorbang fiber der fleinen
Bühne gefallen.
Viele der jungen Herren hatten Damen bei fid.
Man fah neben anſpruchslos aber nett ge=
fleideten Mädchen auc) wieder andere, deren
ertravagante Toiletten in ihrer wilden und
lacherlichen Rarifatur der neueſten Moden
bennod Gefdhmad und Stil aujiviefen. Etwas
Entitellendes fab man nirgends.
Und rund berum um und ein wildes
sarbenballett auf Dad und Wänden! Nirgends
cin leerer Fleck yu entdeden! Überall groteste
Bizarrerien, ausgelafjene Phantafien einer
Kunſt, welde laut lachend Purzelbäume ſchlägt,
lange Naſen dreht und doch, ob ſie ſich auch
nichts weniger als anſtändig geberdet, nie plump
oder vulgär wird.
Die Götttin des Lofals iſt la femme. La
femme, mit rotem Barett, Sigaretten und ge:
waltigem japanifden Sonnenſchirm, — und nichts
anbderem. La femme ſchlittſchuhlaufend in einer
midtigen Boa, die ftattliche ornamentale
Linien um fie berum bilbet, in Muff und
hoben Stiefeln — und fonjt nits. La femme
auf Goldgrund in hohen ſchwarzen Striimpjen,
langen Handſchuhen und mit einer fleinen Maske
bor dem Geſichte — und fonjt nichts — auger
bem Worte ..hors concours‘ als Schild auf
den Goldgrund gemalt. Qn Je forét vierge‘
fpagiert la femme — fie felbft alles eber als
vierge — in webmiitigen Gedanfen einber.
Bizarre Kompofitionen, Karikaturen der Kellner
des Lofals, deforative Phantaſien in Malerei
und Sfulptur, in twelden rote Rieſenhummer
ibren Spul treiben, wie die ſchwarze Rage im
Chat noir, Burlesfe Phantaftercien, ein un—
gebemmter Strom echter Parifer Schnurren, alles
mit Schwung und franzöſiſcher Qiinglingslaune
gemalt,
Aja.
173
„Das bier ijt fin de siècle, fo gut wie | ift als anderwärts. Ich aber paſſe nicht bierber.
Fräulein Borgſtröms Atelierfeft,” ſagte id).
„Ich finde es ekelhaft,“ antwortete Aſp
heftig. „Das heißt die Kunſt entwürdigen.
Was ſoll aus dieſen Knaben werden, die in
dieſer Luft zu Künſtlern heranwachſen?“
„Elelhaft oder nicht,“ meinte ich, „ſo bat
es dod) ſeinen Charafter für ſich, und ich
denke, es miifte fiir einen Maler von Intereſſe
ſein, dieſe Pariſer Jugendnatur zu ſtudieren, die
fo verſchieden von der unfrigen, fo verſchieden
von der deutiden ift, Du willft bod die
franzöſiſche Kunſt wohl nicht nad diefen Pofjen
beurteilen? Vergiß auch nicht, daß dieſe
Nachtſchlemmer nicht die einzigen ſind, die die
Kunſt des morgigen Tages zu tragen haben.“
„Ubrigens weißt du, dab die Pariſer
Jugend mit mehr Nerv und Energie und
Ausdauer arbeitet, als man bei uns zu Hauſe
auch nur eine Ahnung hat, daß man arbeiten
könne.“
Er aber hörte nicht auf mich.
„Es elelt mich an,“ fuhr er fort. „Es ijt
ſo weit entfernt von allem Natürlichen und
Friſchen, wie eine Dekadenzgeneration es nur
ſein kann. Übrigens was haben wir mit den
Pariſern gemein? Wir ſind ihnen nicht ähnlich
und tun am beſten daran, ſie nicht zum Muſter
zu nehmen. Ich habe genug davon, ich reiſe
meiner Wege.“
„Komm, geben wir!” unterbrach id ibn.
' frage erbielt.
Auf der Gaffe angelangt, fragte ih: „Reiſeſt
du wirllich?“
„Jawohl, ich fahre nad Hauſe.“
Eine Weile ging er ſtumm vor ſich bin.
Als aber die roten Mühlenflügel des Moulin
rouge im Hintergrund der Straße ſichtbar
wurden und wir nur mehr wenige Schritte
zu gehen hatten, ſagte er:
„Ich leugne nicht — und es wäre dumm,
es zu leugnen — daß es von Nutzen iſt, hier
zu ſtudieren, von Nutzen, neues zu ſehen und
Eindrücke zu ſammeln. Aber ein neuer Menſch
wird man nicht, wenn man ſich auch eine neue
Art zu malen aneignet. Und es wäre auch
gar nicht erfreulich, wenn man es würde. Es
find die inneren Fähigleiten und nichts anderes,
worauf ſich bauen läßt.
„Zugegeben, daß hier mehr Leben, mehr
Vielſeitigkeit, mehr Moglichkeit zur Entwicklung
Es iſt zuviel Haſt, man ertrinkt in all den neuen
Strömungen und weiß nicht, wo aus und ein.
Das gebt fo weit, dak ich mit wirflichem Be:
dauern an bie Rube des fleinen Diifjeldorj
denfen fann. Dort wußte man nidts von
Bwiefpalt — dort wufte man, wie jeded Ding
gu machen fei, und man machte ¢8, fo gut man
fonnte und es einem gelebrt wurde.
„Nein, du wirſt mid verjteben, dag id es
nicht fo meine — nur mitunter, wenn id müde
und unlujtiq werde, wenn ich die Wrbeit von
Woden und Monaten faffieren muß und jeder
Tag, der vergeht, meine Irritation fteigert, bis
id aus reiner Verzweiflung, nur um zu fühlen,
daß id) dod) nod etwas tauge, irgend cine
Kleinigleit male, von der ich wenigitens weif,
dah id fie malen fann, die ich aber feinem
der Kameraden jeige . . . da fann ich mandymal
das alte Düſſeldorſf vermiffen, obwohl es ein
Loch war.
„Ich reife beim, im vollften Ernft, fobald
ih den Salon gefeben. Ich babe cin Anz
erbieten von dabeim, cine Malerſchule in einer
griperen Stadt gu übernehmen — ich dari
nod) nichts näheres fiber den Blan fagen, ba
es fid um ein ganz neues Unternehmen
handelt. Es ift ein Monat, feit ich die An—
Zuerſt gedachte id) fofort mit
nein zu antivorten, jest werde id) aber dod
wahrſcheinlich zuſagen. Es fommt fiir uns
alle eine Seit, wo wir cine Anjtellung, die
ben Vorteil mit fic bringt, viermal des Sabres
feinen Gebalt in barem ju erbeben, nidt von
der Hand weiſen.
„Wenn ich es als Dialer gu nichts bringe,
fo fann id) dod wenigſtens ein tüchtiger
Lehrer werden und mid bejireben, cin wenig
Kunſtintereſſe dabeim in Krähwinkel zu ver—
breiten.
„Ein Schelm gibt mehr, als er hat.“
Der Salon öffnete ſeine Pſorten, und ed
herrſchte Jubel und Entzücken, Hoffnungs-—
freudigkeit, Zufriedenheit oder Verdruß unter
den Teilnehmern und Hohn oder angenommene
Gleichgiltigleit unter jenen, die nicht mit dabei
waren.
Edvards „Morgenſtimmung“ vom vorigen
Sommer hatte einen ehrenden Plas an der
Gimaife erbalten und erwarb als gute, ge-
174
biegene Arbeit allgemeine Anerkennung. Ridert
hatte in der „Exposition des Indépendents*
ausgeftellt, wo feine Bhantafien — „Geſichte
und Traume” nannte fie der Katalog — durch
ibre—geivaltjamen und fdbneidenden Farben:
zuſammenſtellungen und die auf den Rahmen
geſchriebenen Erlduterungen Auſſehen erwedten
und feine in affeftiert findlider Technif ge- |
baltenen Pariſer Strafenbilder ibm viel Schimpf
Man ladte ibn aus, |
und die Witzblätter farifierten feine Bilder, |
und Spott eintrugen.
aber zumindeſt wurde er nicht totgeſchwiegen,
und die Verniinftigen mußten eingeftehen, dak
jedenfall Talent in ben Bijarrerien ftede.
Am lesten Abend der Anweſenheit Edvards
in Paris batten ſich mehrere Landsleute ver-
fammelt, um ibm gliidlicbe Reife gu wünſchen.
Der Norweger fand fic aud cin. Er hatte
eine Nenigfeit gu melden: Richert war an die
Küſte gereift und zwar in Geſellſchaft Germaines
— , Sie wiffen dod, Germaine, dad fleine
Mädel, die ibn vor einem Monat aujgeaeben
bat, um dag high lifes gu foften und an der
Seite eines Wmerifaners, einen Negerfnaben
riidiwarts im Wagen, ing Bois de Boulogne |
zu fabren. Angwifden tft fie auf beſſere Ge-
danken gefommen, und fo baben fic) die Herr:
ſchaften ans Meer begeben, um Seebäder ju
nebmen.”
Aja fam fpat. Dak fie nervös und ibe
Scher; aufgejagt und erfiinftelt war, war jest
fo twenig neu an ibr, wie der ſcharſe, elwas
höhniſche Tonfall ibrer Stimme. Ich bemertte,
daß Edvard fie mebreremal mit
forfdenden Blide anfab, den ich öfters an ibm
beobadtet hatte. Es war nicht fewer ju
erraten, was er in ihrem Antlitz fuchte.
Die Stimmung wollte nidt lebhajter werden,
Wir gaben Aſps bas Geleite bis gu ibrer
Tir; diedmal aber gingen Gdvard und Aja
nicht cin Stiid voraus. Sie fcbieden, obne ein:
ander gejagt yu haben, twas fie gu fagen batten.
Naddem wir Edvard und feiner Frau
adieu gefagt, begleitete id) Aja bis yu ihrer
Ecke. Und als ih ihr die Hand zur guten
Nacht reichte, fragte ich:
„Nun, baben Sie eS jest fo, mie Sie es
wollten 2”
„Ja,“ antwortete fie ohne Saudern und
jab mir gerabe in die Augen.
jenem |
Aja.
8.
Und nun — feds Jabre nadber — traf
id) alle drei auf dem kleinen Wtelierfeft in
Stockholm. Edvard ſtill und verfeblofjen wie
ebedem, Ridert felbftbemupter als je, Aja
Borgftrim ein wenig grotest und iiberreif, aber
nod immer den Ramen „Kobold“ mit Be—
redtigung tragend.
Viele Stiirme waren feit jenem Friibling
in Paris tibers Land geblaſen — fpurlos waren
bie ſechs Jahre an feinem der drei voriiber-
gegangen.
Govard ift in ciner griferen Stadt an-
faffiq, fiir deren Kunſtverein und -fcbule er
tatig ift. Jedes grifere Gemälde, das er
beginnt, tvird pon den beiden Seitungen der
Stadt in achtungsvollen Ausdriiden bejproden
— daran ift er ſchon fo gewöhnt, daß es ibn
faum mebr drgert. Ob er will oder nicht, er
muß feinen Ruhm als eine der Notabilititen
der Stadt tragen.
Sm Sommer wohnt er auf dem Lande,
wo er fleipig malt und große Motive breit
und kühn in ftarfen faftigen Farben anlegt.
Da fann er dann fiir einen ober zwei Tage
beiter und aufgerdumt fein, mit den Rindern
— fpiclen und abends mit der ganjen Familie
auf den See binausfabren. Sowie aber das
Bild fertig ijt, findet er es unjrifd) und
„gemacht“. Trohdem wird es feiner Corg:
faltigfeit und zugleich Naturtreue wegen beliebt,
um feiner echt ſchwediſchen Stimmung willen
qelobt und zu billigem Preis an irgend einen
Runftverein oder cine Privatperjon verfaujt.
Edvard ijt jedod cin allzu ehrlicher Künſtler,
um ohne Bedenfen aus ſeiner Geſchicklichkeit
Nutzen zu ziehen. Er hat mehrere Bilder bei
ſich zu Hauſe, die ſich ſehr wohl zu gefälligen
und leicht verläuflichen Publikumsbildern eignen
würden, wenn er ſie leichtfertig vollendete,
aber er gibt fie nicht aus ber Hand.
In feiner Stadt gilt er als liebenswürdiger
| und angenebiner Mann, der in Familien gerne
gefeben ijt und auch feine Freunde gern um
ſich ſieht. Gr hat zwei Kinder, und an feiner
| Che ift nichts auszuſetzen. Seine Frau ift
| bei den iibrigen Frauen der Stadt beliebt,
, fie ijt anſpruchslos und befaßt ſich nie mit
Butragercien. Cie ift immer mit ibrem Mann
zuſammen, twenn er fie bei ſich baben will,
Aja.
und auch er ſcheint ſeine alte Paſſion am
Ausreißen und ſeine Liebe zur Einſamkeit
überwunden zu haben.
Er lieſt im Klub die Zeitungen, iſt Mitglied
des Viraquartetts des Reltors, intereſſiert ſich
ſür die ſozialen Fragen der Zeit und ſpricht
gern ernſt mit den Ernſten, iſt im übrigen
ein Ehrenmann, der ſich die Muühe nicht ver—
drießen läßt, anderen zu helſen und der mit
Gleichmut — wenn auch nicht ohne einen
Schimmer von Bitterkeit — ſieht, wie andere
es verſtehen, fein Wohlwollen auszubeuten.
Er ſcheint auf dem Wege, ſeine großen An—
forderungen an ſich ſelbſt zu überleben —
und wird eines Tages finden, daß er alt und
ſein Platz unter den Reſignierten ſei, unter denen,
die nichts mehr vom Leben zu erwarten haben.
Mit Aja Borgſtröm hat er heute lange
geſprochen. Ein ruhiger Gedankenaustauſch
unter alten Freunden und Kameraden, die ſich
nach mehreren Jahren wieder begegnet ſind
und hören wollen, dag es ihnen beiderfeits
wobl ergangen. —
Aja ijt feit jenem Frühling in Paris ge-
blieben. Sie bat fic eifrig auf die Arbeit
geworjen und bat auf verfdiedenen Ausſtellungen
franzöſiſcher Kleinſtädte Medaiflen befommen,
Ihre Bilder haben nod immer mebr Kraft
als Feinheit; etwas Urfpriinglices, cinen per:
ſönlichen Charafter ſucht man vergebens darin.
Nbr Auftreten ift nod ungenierter geworden.
Gang junge Herren ſuchen ihre Geſellſchaft mit
Vorliebe; das Lebbafte und kameradſchaftlich
Areie Ajas giebt fie an. Bn Frauengeſellſchaft
bewegt fie fih gar nicht, und diefe oder jene
ber ſchwediſchen Pariferinnen bezweifelt, ob es
paſſend fei, mit ibr zu verfebren. Wer fte
jedoch fennt, iweif, daß Aja, wenn aud cin
wenig „toll“, dod) „verſtändig“ iſt und daß
ſie eine Art hat, freier zu erſcheinen, als ſie
tatſächlich ijt. Reiner ihrer näheren Befannten
wird fie einen Mugenblid im Verdacht eines
Verhaltniffes zu cinem jener Herren haben,
fiir welche fie im Laufe der Jahre nach jenem
böſen Gerede, das ihren Namen mit bem Sven
Riderts in Verbindung gebradt, geſchwärmt
gu baben bebauptet.
Cine wirllide Hingebung bat fie nicht gu
erringen vermodt, — fie bleibt die ftets bet
jeite Gefchobene, fo wie fie der gute Ramerad
174
bleibt. Cine ftarfe Liebe hatte die Fähigkeiten
diefer ftarfen Natur gejammelt — nun jere
fplittert fie ihre Empfindungen in Scherz und
Spiel und fudt in eifriger Arbeit und ebenfo
energifdem Streben nad Unterhaltung Erſatz
fiir das, defjen fie verluftig gegangen.
Denn ibre Lebenslujt ijt fo unbändig wie
nur je, ja wird nod ſtärker in bem Grade,
als fie fiiblt, daß Beit und Jugend ihr aus
den Händen gleiten. Der ,, Kobold” verſteht
es, Das Leben von der heiteren Seite zu nebmen,
aber bet alledem bat er gang ficber dad Gefiibl
davon, daß er nicht geworden, wad feinen
Anlagen nad aus ihm hatte werden können.
Rauchen ift Ajas grofe Paffion, fie raucht
wie ein Schornſtein von friih bid Abend,
und Nachtwachen ijt nod immer ibre Spezialität.
Hat fie Geſellſchaft bei fic, fo ſchicken die
ſchläfrigſten Gäſte fic) [chon um vier Uhr an
abzuziehen, die letzten aber fagen um acht Uhr
gute Nacht oder bleiben gum Frühſtück da.
Schlafen fann man genug, wenn man alt ijt, —
Sven Richert hat in vollem Mage feine
Verjpredhungen, Auffeben gu erregen, eingelöſt.
Er bildet nod) immer ein ſtändiges Streitobjelt
zwiſchen jenen, die feine Art affeftiert und nur
auf Effekt berechnet finden, und feiner eigenen
Partei, die in feinen Bilbern einen Strahl
der Morgenröte ſieht, im ber die Kunſt des
neuen Sabrhunderts über der neuen Menſchheit
herauffteigt.
Er ijt Weltmann geworden, madt nicht
mebr folden Lärm wie friiber, zeigt aber
durch feine iiberlegene Haltung, dah er feine
Stellung als Führer und Vertreter der neuen
Runjt fennt.
Seine junge Frau — eine reiche Grof-
händlerstochter — ijt febr nicdlid) und ſehr
hübſch und fiebt ju ihm auf als zu dem
bedeutenden Mann, der er ijt. Wenn er feinen
Arm beſchützend um ihre Schultern legt, lade
ex fein jugendfrifdes Lachen, gufrieden mit thr
und mit fic felbjt.
„Dein Wobl, Wat” Man hort feine
ftarfe Stimme aus all dem Gefumme heraus.
„Weißt Du nod, damals in Paris? Da war
id nabe daran, mich in did) zu verlicben.”
„Ein Glück fiir deine Frau, dab du es
nicht tateſt!“ antivortet Aja in ibrem aller:
frobgemuteften Ton.
oe
176
Gin biographiſcher Beitrag zum
Vibliothefarinnenberuf.
Von Alice Bounffet.
Nachdrud verboten,
—~
Die Septembernummer des vorigen ahr’
gangs ber „Frau“ brachte cine Notiz fiber dad
Thema ,,Bibliothelarin”. Qn dieſer Notiz wurde
darauf hingewieſen, daß der nod) ziemlich neue
Frauenberuf, in dem bis jegt erſt eine fleine
Anzahl von Damen Anjtellung gefunden bat, zur
Beit geringe Ausſichten biete. In Anbetracht der
viclfeitigen und boben Unforderungen fiir die Fach:
bildung ift es ficerlic) cine Forderung der Ge—
wiffenbaftigteit, auf dieſen Umſtand hinzuweiſen.
Andererſeits dürfte es aber auch Intereſſe haben
zu zeigen, wie ſich Frauen, die mit Sprachtalent
und literariſchen Neigungen begabt find, im
Bibliothelsfach einen angemeſſenen Wirkungskreis
zu ſchaffen vermögen. So mögen einige Mit—
teilungen über den Bildungsgang einer Frau, die
auf eigenen Wegen dieſes Ziel erreichte, manchen
zur Ermutigung dienen.
Helene Höhnk, die den Leſerinnen der „Frau“
ſchon durch mehrere, meiſt kulturgeſchichtliche Bei—
trage belannt iſt, ſtammt aus Dithmarſchen, dem
Lande des „Jörn Uhl“, in dem ihre Borfabren
feit [anger als 2'/, Sabrbunbderten anſäſſig waren,
in dem fie felbft mit der ganzen Cigenart ihres
Weſens wurjelt. Der Tried nach Wiffen und
Crfenntnis lies fie nach erlangter Selbſtändigkeit
mit Cifer Mittel und Wege ſuchen, um die Liiden
ibrer mangelbaften Schulbildung auszuſüllen. Qn
Dresden, wobhin fie fich zunächſt begab, tried fie |
ziemlich planlos alles, was in ibren Ideen- und
Geſichtskreis trat, doc) ftanden hiſtoriſche, funft:
geſchichtliche und ſchöngeiſtige Qntereffen ſchon
damals im Vordergrunde. Cin längerer Aufenthalt
in London wurde hauptſächlich jum Studium der
engliſchen Geſchichte und Literatur benugt, wabrend
fie fich im Franzöſiſchen als Hofpitantin an der
Univerfitat in Genf vervollfommnete. Dann be:
fafite fic fic) mit der Erlernung der nordifden
i,
/ — ⸗
AON
Sprachen und erwarb gute Kenntniſſe im Schwediſchen
und Danifechen, fowie in der Literatur beider Lander,
was ibr bei ſpäteren archivariſchen und bibliothe-
farijden Foridungen zu grofem Rutzen gereidte.
Durd ihre Beiträge gu Reins pädagogiſcher
Encyllopadie zeigte fie ihre Kenntnis der pada:
gogifchen Literatur; ihr Qutereffe fiir die Frauen:
bewegung machte fie zur Mitarbeiterin verſchiedener
Frauenzeitſchriften.
Die Bibliographie erſchien ihr ſchon damals
wichtig genug, um ſie zu eifrigem Sammeln der
auf die Frauenbewegung bezüglichen Literatur:
erſcheinungen gu veranlajfen, fo daß ibre Bibliothef
die Broſchürenliteratur in ziemlicher Vollſtändigkeit
umſaßt.
Das Hauptgebiet von Helene Höhnks literariſcher
Tätigleit wabrend der letzten Jahre iſt mehr und
mehr die Familiengeſchichte geworden, mit deren
Aufſtellung reſp. Bearbeitung ſie von verſchiedenen
Seiten betraut wurde. Perſönliche freundſchaftliche
Beziehungen zu einem livländiſchen vornehmen
Hauſe vermittelten ihr den Auftrag, deſſen Familien-
chronik zu ſchreiben, wodurch fie gu eingehenden
genealogiſchen Forſchungen in verſchiedenen Archiven
und Bibliotheken des In⸗ und Auslandes veranlaßt
wurde. Dann unterzog ſie ſich, im Beſitz einer
guten techniſch wiſſenſchaftlichen Vorbildung, einem
mehrmonatlichen Lehrkurſus unter Leitung des
Univerfitats-Bibliothefars in Jena, und jo aus—
geriiftet, fonnte fie in der Folge die ibr mebrfad
angetragene Aufgabe iibernebmen, Familienardive
und VBibliothefen gu ordnen, foftematifde Kataloge
anjufertigen und alle einſchlaägigen Wrbeiten gu
übernehmen. — Helene Höhnks bisherige Tatigfeit
in diefem Fach volljog fic innerhalb der Kreiſe
des hohen holſteiniſchen Adels, in den Schlöſſern
der Grafen ju Rantzau Vreitenburg, v. Brocdorff—
Ahleſeldt und des Barons v. Donner in Bredeneck.
Ihre Dienſte ſind außerdem ſchon von kleineren
ſtädtiſchen Körperſchaften in Anſpruch genommen,
und die Ordnung eines Kirchenarchivs in ihrem
jetzigen Wohnort Wandsbed wird fie demnächſt be—
ſchäftigen. — Der bis jet nod) ziemlich feltenc
Verſammlungen und Bereine.
Fall beweift, daß die Möglichkeit privater Titigteit
fitr Damen, die im Bibliothekfach ausgebildet find,
vielerorten vorbanden ift; Angebot und Nachfrage
lichen fic) auch auf dieſem Gebiete gewiß in zweck—
entipredender Weife regeln. — Das Gebalt ent:
ſpricht dem ciner erften Bibliotbefarin an den
neugegriindeten Bücherhallen, es betragt 2500 bis
8000 Mark jährlich. Die von Helene Höhnk in”
ihrem Aufſatz: „Bücherhallenbewegung und Biblio:
thefarinnen”') ausgefprodene Forbderung, daß die
Arauenvereine fich überall der Griindung von Volts:
biblivthefen annehmen follten, iſt neuerdings in
der anfangs erwähnten Notiz wiederholt worden. |
Die AHffentlichen Biicherhallen (deren Bedeutung
gegenwärtig cine größere Wufmertjamfeit gewidmet —
wird) fteben in Deutſchland der Zahl nad immer
nod beträchtlich hinter anderen Aulturftaaten zurück.
Ihre an fich ſehr wünſchenswerte Bermebrung
wiirde einer griferen Anzahl berufsmapig aus:
gebildeter Frauen Beſchäftigung geben; dicjenigen, |
welche durch Abfolvicrung aller den Mannern vor:
geſchriebenen Studien bis zur Erlangung des
ty Die Frau“, Jahrg. 1900, Heft 7.
177
philologiſchen Doltorgrades die Anwartſchaft auf
Unftellung an Staatsbibliothefen eriverben, haben
gleichfalls cine gweijabrige praktiſche Bolontararbeit
im Sffentliden BibliothetSdienft yu leiſten.
*
Die Höhere Handelsſchule fiir Madden in Cöln
bielt kürzlich ihre Semefterprilfung ab, welche,
ebenfo wie die friiberen, cin erfreuliches Bild von
dem Leben in der UAnftalt gab. Der Priifung
wobnte aud) ein Mitglied der Cölner Schul—
deputation bei. Man fab, wie der reichbaltige
Lehrſtoff in gründlicher Weije nach verftandiger,
auf freien, dauernden Beſitz abjielender Metbode
verarbeitet wird, und wie die Schiilerinnen mit Luft
| und qutem Erfolg den Wnfordecrungen der Schule
| gerecht gu werden fich beftreben. Auch finden die
Riele wie die Leiftungen der Wnftalt in immer
| qweiteren Kreiſen Wnertennung, und die abgebenden
Schiilerinnen erhalten, fofern fie es wünſchen,
ſamtlich austimmlicd befoldete Stellungen in ane
| gefebenen Häuſern. Für das gu Oftern 1904 be:
| ginnende neue Schuljabr fliegen fdon jest An:
| meldungen von Schitlerinnen aus allen Teilen des
| Reichs und aud dem Auslande vor.
— ——
Versammlungen und Vereine.
Der oſtdeutſche Frauentag,
ber vom 9.—12. Oktober in Bromberg tagte, ver:
banbdelte über bie Frauenarbeit im der Armen: und |
Waifenpflege, iiber das weibliche Fortbildungsſchul⸗
wejen und über Organifationsfragen im Anſchluß
an drei Neferate über die ſtädtiſche Armenpflege |
iiber die Frau als |
(Frau Eſch en bach Pofen),
Vormünderin (F (Frau Hubner: Bromberg) und iiber
die pᷣflichten der Frauen in der Armen: und Waiſen—
pilege in Stadt und Land (Frau Fran: Danjig).
Die von den Rednerinnen aufgeſtellten Thejen hoben
befonders die Notwendigkeit einer Vorbiloung der
Frauen fiir diefe Amter hervor. Am Schluß wurde
folgende Reſolution angenommen:
Die auf dem erſten oſtdeutſchen Frauentag
verſammelten Frauen halten es fiir wünſchens—
wert, daß ein Ausſchuß für die Vorbereitung
zur Ausiibung der Armen- und Waiſenpflege
gebildet werde.
Uber die lönigliche GHewerbeſchule in Poſen berichtete
rl. Ridder Poſen, über das hauswiriſchaftliche
Fortbildungsſchulweſen ſprach Frau Prof. Bohn-, |
uber das gewerbliche Frl. KRicd- Gefen, über das |
sm |
taufmanniſche Fri. von Roy-Königsberg.
Anſchluß daran wurden folgende Reſolutionen gefaßt:
1. Kaufmänniſche Fortbildungsſchulen mit
obligatoriſchem Tagesunterricht für weibliche
Handlungsgehilfen ſind zur Hebung der ſozialen
und wirtſchaftlichen Lage dieſer Berufsgruppe
ale dringend notwendig zu bezeichnen. Die heute
verſammelten Frauen des oſtdeutſchen Frauen—
tages beſchließen daher, für die Gründung ſolcher
Anſtalten in den großen und mittleren Städten
nachdrücklich einzutreten.
2. Der oſtdeutſche Frauentag befürwortet die
Einführung der obligatoriſchen allgemeinen und
hauswirtſchaftlichen Fortbildungsſchule für
Mädchen, die nach Bedarf da, wo es die örtlichen
Verhaltniſſe geſtatten, in gewerbliche und kauf—
mannifde Fortbildungsſchulen ausgebaut werden
ſollen.
Uber die an den oſtdeutſchen Frauentag zu
ſchließende Organiſation der Frauenbewegung in
den Oſtprovinzen ſprachen Frl. Schnee und Frau
Hecht. Im Anſchluß daran wurde beſchloſſen:
1. Der oſtdeutſche Frauentag iſt eine loſe
Vereinigung der Frauenvereine der drei Djt:
provingen mit regelmäßig, mindeftend alle zwei
Sabre, nach beſtimmtem Turnus wiederfebrenden
Berjammlungen.
2. Cin Ausſchuß von ſechs Mitglicdern, aus
jeder Proving zwei, trifft alle erforderlidyen Vor—
bereitungen fiir die nächſte Taquna.
3. Die Borfipende fowie die anderen Mus:
ſchußmitglieder werden von den Delegierten
gewählt.
Es wurden ferner drei Arbeitsausſchüſſe gebildet
und zwar:
1. fiir Armen- und Waiſenpflege und Vor—
mundichaft;
2. fir Fortbildungsſchulweſen für Mädchen und
3. fiir Propaganda.
12
178
Wis Ort fiir den nächſten Frauentag wurde |
Elbing in Ausficht genommen, als Vorfigende Frl.
Schnee gewählt.
In drei öffentlichen Verſammlungen ſprachen
Frau Krukenberg über die Mutter als Erzieherin,
Frl. Pohlmann über die Vorbildung oer Frau
au höheren Berufen und Frl. Pappritz über die
Fürſorgeerziehung.
Der erſte ſchleſiſche Frauentag
fand am 22. und 23. Oftober in Breslau ſtatt. Er
bat zur Konftituicrung eines ſchleſiſchen Frauen:
verbandes gefiibrt, der es, wie die anderen beftebenden
Provinjialverbande, als feine Wufgabe anfiebt, tm |
engen Anſchluß an örtliche Berhiltniffe und in
planmäßiger Sufammenfajjung der lokalen Einzel—
beſtrebungen ſür die Frauenbewegung zu wirken.
Das Programm der Verhandlungen war vor allem
unter dem Geſichtspunkt aufgeſtellt, die Einzel—
vereine, die in verſchiedenen ſchleſiſchen Städten
beſtehen, einander näher zu bringen durch Mitteilung
ihrer Arbeitserfahrungen und Erfolge. So berichteten
dic Frauenvereine von Gorlitz, Liegnitz und Kattowitz
über ihre Rechtsſchutzſtellen, Frl. Großer-Breslau
über den dortigen Verein für weibliche Angeſtellte 2.
In einer öffentlichen Verſammlung ſprachen Frau
Stritt über „Frauenfrage und Kulturfortſchritt“
und Frl. Pappritz über „Die ſittliche Gefährdung
der Jugend und die Fürſorgeerziehung“. Der
ſchleſiſche Frauenverband umfaßt 9 Vereine mit
insgeſamt etwa 3000 Mitgliedern. Die Vorſtands—
wahl hatte folgendes Reſultat: 1. Vorſitzende Frau
Wegner-Breslau, 2. Vorſitzende Frl. von Prittwit-
Gorlitz, 1. Schriftführerin Frau Handel, Kaſſiererin
Arl. Richter Breslau, Beifiserinnen Frau Ladenburg:
Breslau, Frau Hegenfcbeiot Gleiwitz, Frau Alara
Reifier, Fri. Grofer, Frl. Nefjel, Frau Heilberg—
Breslau, Frau HirſchLiegnitz.
Die deutjdje Nationalfonferens zur Bekämpfung
— des Mädchenhandels,
bie am 27. und 28, Oftober in Berlin tagte, zeigte
einen anerfennendsiverten Fortſchritt der Wrbeit auf
dieſem Gebiet. Uber die Arbeit des National:
fomtitees berichtete Major a.D Wagener. Troe
ber, auferordentlichen Schwierigkeiten, die die
Schlaubeit der Madchenbandler und -Handlerinnen
jeder Nachforſchung bereitet, ift es mit Hilfe der
Beborden, die fich überall dem Komitee zur Ver:
fügung geſtellt baben, gelungen, 42 Händler felt:
quftellen und 56 Madden gu retten. Die Titigtcit
des Romitees bat vor allem die Beauffidtiqung
der Vabnbdfe und Hafenplage umfaft. Die Bahn-
bofmiffion babe dabei gute Dienfte geleifiet. Was
auferdent zunächſt geſchehen fonnte, fet die Anſtellung
eines gewandten, mit den Verhältniſſen ciniger: |
mafen vertrauten WAgenten als cine Art Deteftiv
fiir den Mädchenhandel, der vor allem auch die
deutſchen Kolonien tm Ausland auf die Verbaltniffe
hinzuweiſen babe, auferdem Durchführung der
Beſchlüſſe ber Pariſer Konvention in allen Ländern.
Unter den Bericten der Lofalfomitees war der ded
Sanitatsrats Maregti über die Belampfung des
Madchenbandels, oder vielmebr feiner Urfachen in
der verelendeten jüdiſchen VBevollerung Galiziens
Verfammilungen und Bereine.
befonders intereffant. Gr ſtützte fich auf die Er:
gebniſſe ciner Studienreife, die Frl. Pappenbeim
| aus Frantfurt gemadt hat, um die Bevslterung
und por allem die Nabbiner über ben Madchen:
handel aufjutlaren und dafür gu arbeiten, daß der
Kampf gegen Unwiffenbeit und Mangel bier aud
von anbderer Seite aufgenommen werde.
Gegen cine Außerung des erften Berichterſtatters,
ber Verein fonne nicht den Kampf gegen Bordelle
und reglementierte Proftitution aufnebmen, wendeten
fi Frau Scheven, Frl. Papprig und Grafin
Puͤckler vom deutſch-evangeliſchen Frauenbund mit
dem Einwand, es fei Halbbeit, gegen den Madden:
handel zu fampfen, wenn man die Verhältniſſe.
| aud denen er mit Notwendigheit immer wieder
bervorgeben müſſe, rubig fortbefteben laſſen wolle.
Hicrauf ſprach Profeſſor Dr, Ullmann
(Minden) iiber: Die ſtrafrechtliche Bekampfung des
Madchenhandels. Er erblict in dem Madchenhandel
die tieffte fittlide und moraliſche Cutwilrdigung der
Frau, und gebt in der geſetzlichen Verfolgung über
bie Variſer Nonvention injofern binaus, als er
meint, es fonne vom Standpuntt des Schutzintereſſes
die Frage der Einwilligung oder Nichteinwilligung
feine Rolle fpielen. Yur Frage der Ausdehnung
ber ſtrafrechtlichen Berfolgung auf Fille der Cin:
willigung befiirwortct Nedner folgenden Wntrag,
dem die Verjammlung ohne Debatte zuſtimmt:
„Die Nationaltonferens ſpricht ihre Uber
zeugung aus, daß cine wirkſame Bekämpfung
des Maddenhandels dic Ausdehnung des Tat
beſtandes dieſes Verbrechens auch auf die Fille
der Cinwwilligung einer grofjabrigen Frauens—
perjon notwendig fordert.
Dic Nationaltonferens beſchließt gleichzeitig
die Mitteilung ihres Beſchluſſes und threr Ber:
handlungen an das Reichsjuſtizamt mit der Bitte
um Menntnisnabme und geeignete Würdigung
bei der Reform des deutſchen Strafgeſetzbuchs.“
Weiter ertlirte fic) die Verſammlung damit
cinverftanden, daß das Neichsjuftizamt bet der
Strafprosefreform aud die Beftrafung der Aus:
beutung der Notlage, die Frage der Strafbarleit
ded Verſuchs und die Ausdehnung der Anzeigepflicht
in Erwägung ziehe.
Aber die Frage der Freizügigleit der Proſti—
tuicrten ſprach Dr. Burdard: Berlin. Er forderte,
daß die Polizeibehörde dem Proftituierten gegen
iiber die Wusiweifungsbefugnid haben folle. Gegen
ibn wendeten fic) — wie dad vom Standpuntt des
Antireglementarismus natiirlich iſt —, Fr. Pappritz
und Frau Seven. Pfarrer Heinersdorf berichtet
aus feiner Erfabrung als Gefangnisgeiftlicer und
Anſtaltsvorſteher über Einzelvorgange, die ibn be:
lehrten, Daf bei ſtaatlichen Beborden die Projtitution
als gleichſam berechtigtes Gewerbe gilt. Qn feinent
Schlußworte betont Dr. Burdard, daß man den
Heimatsgemeinden die Verpflichtung auferlegen mug,
fiir die Heimgeſchickten in facgemafer Weife zu
forgen. Wo es angebracht tit, bat Fürſorgeerziehung,
Ginweifung ind Arbeitshaus zu erfolgen. Die
Verfammlung ftimmt mit ciner geringen Mehrbeit
den Burchardſchen Anſchauungen ju,
Hierauf jprad Dr. Naumann (München) über
| Madcenhandel und Kunſt. Er beleuchtete zuerſt
| die Frage: Welche Mittel laſſen ſich ergreifen, um
dem gemeinen, ordinären Mädchenhandel unter
Angabe kunſileriſcher Swede zu ſieuern? Die
Verfammlungen und Vereine.
heutigen Impreſarii und Agenten rekrutieren ſich
meiſtens aus dem Stand der Zuhälter oder der
Schanffellner. Redner verlangt 1. Konjeffionierung
der Amprefarii, Agenten x¢., 2. Rautionsftellung
für Smprefarii, welde Runftreifen ing Ausland
unternebmen wollen, 3. Meldepflicht fiir jeden fir
das Ausland abgeſchloſſenen Kontralt nebſt Angabe
der Heiferoute und Meldepflicht bei den Ronfulaten
im Ausland, 4. ſtrenges Verbot des Engagements
von Madden unter 18 Jahren — oder möglichſt
cin nod höheres Schugalter. Ausnahmen mige
man machen bei Afrobatenfindern, Wunbderfindern rc.
Ferner empficblt Redner eine Selbftbilfe durch
Genofien{chaftsorganijation gegeniiber dem Ring
der Agenten und Amprefarii. Bebdeutend ſchwieriger
jet das Thema des indirelften verfdleierten Madchen:
handels an unferen Theatern. Er verweift auf
cine Reihe von Mifitinden, die auf den Anftellungs:
verbiltnijjen beruben, insbeſondere in Hinſicht auf
die BVerpflichtungen, die den Kiinftlerinnen auferlegt
werden. Die Honorare find vielfach fo gering,
daß cine Riinftlerin davon nicht leben fann, zumal
fie fic) obenein nod) die Biihnentoftiime felbft
befdafien muß. Dr. Naumann ijt der Anſchauung,
daß auch bier, teils durch Berwaltungsmafnabmen
(itrenge Theaterfonjeffionierung, Priifung der Ber:
trage) und. durch Mafnabmen auf Grundlage der
Selbftbilfe (Genoſſenſchaft, Verein sur Beſchaffung
von Bühnenkoſtümen u. a. m.) Wandel geſchaffen
werden könne.
Zum Schluß behandelte Reichstagsabgeordneter
Henning Gerlin) das Herbergerecht der Ver—
mietungsbureaus.
Redner empfahl, die ſcheinbar unverdächtigen
Statten des Mädchenhandels im Auge gu behalten
und fics bei irgend welchem Berdacht an die Polizei:
behörde zu wenden.
Krankenpflegeſtation des Berliner Frauenvereins
(Bülowſtraße 14, 11.) Bom 1. Oftober 1902 bids
zum 30. September 1903 find in der Bilegeftation
fiir Fraucn, Bülowſtraße 14 1, 93 Rrante verpfleat
worden und gwar 21 unverbeiratete, 72 verbeiratete
Frauen und Witwen, Bon dieſen haben 82 einen
tleinen Zuſchuß zu den Koften ibrer Verpflegung
geleiſtet, während LL gang und gar aus den
Mitteln bes Verein erhalten worden find.
Die Babl der Pflegetage betrug 1272
davon entfallen 278 auf die vollftindig vom Berein
unterbaltenen Sranfen —, die der ausgefiibrten
Dperationen inégejamt 83 (61 fleinere und 22 grofe).
Seit dem Bejtehen der Anjtalt haben dort im
ganjen 1099 franfe Frauen Verpflequng und
Grgtlide Bebandlung gefunden. Die WAufnabme:
bedingungen find die gleichen geblicben. Die Ent:
ſcheidung iiber die Aufnahme ftebt Frl. Dr
Tiburtius ju. Sprechſtunde morgens von S—9 Ubr
in der Bylegeftation, Bülowſtraße 14 1, oder vorm.
10—12 und nachm. 2—4 Ubr Biilowftrafe 14 II.
Ausgeſchloſſen von der Aufnahme find Kranke mit
anftedenden oder unbeilbaren Leiden.
In der feit dem J. Oftober 1897 mit dem
Berliner Fraucnverein in Verbindung ftebenden
Poliflinif fiir Frauen, Gleditſchſtraße 48, Garten:
mm — — — ———a —
— — — —— — — — — — — — —
179
haus pt. (friiber Alte Schönhauſerſtraße 23/24),
find vont 1. Oltober 1902 bid yum 30. September
1903 610 neue Patientinnen behandelt worden.
Die Zabl der Konjultationen belief ſich im letzten
Rechnungsjabr auf 2421. Seit Eröffnung der
Poliflinif (am 18. Suni 1877) baben dort im
gangen 26345 franfe Frauen ärztlichen Hat und
Beijtand geſucht.
Die polikliniſchen Sprechftunden finden regel:
maäßig Dienstags und Freitags, nadmittags von
“45 Ubr an in der Gleditſchſtraße 48, Marten:
baus pt, ftatt. Behandelnde Argtinnen find
art. Dr. med. Agnes Blubm, Frau Dr, med,
Ploes und Fr. Dr. med. Agnes Hader,
unter Affifteny verfdiedener jiingerer RKolleginnen.
MS Beifteuer gu den Unterbaltungsfoften ijt pro
Perfon und Konjultation ein Betrag von 10 Ff.
qu entricdten. Gänzlich Unbemittelte erhalten freie
Arznei.
Der Berein der Freundinnen junger Mädchen
bat in Deutſchland eine ganze Reihe für Stelle:
ſuchende unentgeltlich geführter Stellenbilreaus — nur
die veranlaßten Portokoſten werden erſetzt — in
allen großen Städten. 5000 jum Helſfen bereite
rauen in Deutſchland und 400 in allen übrigen
ändern der Welt, bilden die allein dem Verein
zugänglichen Liſten der Vertrauensperſonen, mit
denen die genannten Stellenvermittlungen zum
beſten der Auftraggeber und Stellenſuchenden
arbeiten. Es wird z. B. durch die von gebildeten
Ständen ſtark benutzte Berliner Stellenvermittlung
ded Vereins — W. 9, Köthenerſtr. 42 — fein junges
Madden nach Italien, England, Rußland u, ſ. w.
in Stellung geſchickt, ohne vorherige genaue Er-
fundigungen fiber dad Wie und Wo der Stellen bet
den Bereindmitgliedern in den betreffenden Landern
und Stadten. Dah diefe Stellenvermitthingen,
welche nur zum beften der Töchter unſeres Bolfes
und durch die internationale Stellung des Vereins
auc den Tichtern anderer Nationen dienen, mit
grofen Opfern des Vereins gefilbrt werden, ijt
ebenfo ſelbſtverſtändlich wie die Tatſache, daß in
all dieſen Stellenbiireaud den Stellenjuchenden nad
beften Rraften Hat und richtige Hinweiſe fiir die
paſſenden Berufe geaeben werden. Dieſe Hinweiſe
find naturgemäß von den Anforderungen des be:
treffenden Landed, der Befabigung und dem Naturell
der Suchenden abbiingig; der Berein der Freundinnen
junger Madchen hat deshalb feine Stellenver-
mittlungen dezentraliſiert, um jede Cinfeitigteit im
Helfen und Beraten yu vermeiden.
Deutſche Lehrerinnen jedod wenden fic) am
beften direft an die Lebrerinnenvereine des Ane und
Auslandes. Das Sentralbiircau des Allgemeinen
deutfden Lebrerinnenvereins befindet fi Culm:
ſtraße 5, Berlin. Dads Heim des deutſchen Lehre:
rinnenvereins in England in 16 Wyndham Place
London W., das des franzöſiſchen 8 Rue Villejust
Paris, das des italienifden Bereind 110 via
de Seragli Florenz, das Seim in Butareft ijt
in Calea Heonei 32, Bukarest.
Niemand follte durch Zeitungsanzeigen oder
Agenten Stellen im Ausland annehmen.
Fe
12*
180
Nadrrud mit Ouellenangabe erlaubt
* Die erjten weiblidjen Doftoranden pro:
movierten an der mediginifden Falultät in Bonn.
Es waren Frl. Hermine Edenhuizen und Frl.
Frida Buje, beide ehemalige Schiilerinnen der
Berliner Gymnafialfurje. Beide haben die Doftor-
priifung summa cum laude beftanden. Die Pro:
motion gab bem Defan der medijinifden Fatultat,
Geh. Rat Fritſch, Gelegenbeit gu einer burd die
» Kilner Zeitung” folgendermaen wiedergeaebenen
Außerung gum Frauenftudium: „Amtlich und nicht—
amtlich ift in den letzten Jahrzehnten das Frauen:
ftudium von uns Brofefforen der Medizin viel er—
Srtert worden, Stets habe ic) mich auf den Stand:
puntt geftellt, dag, wenn die Frauen dadsfelbe
(ciften, wie die Manner, fie auch dicfelben Rechte
baben follen. Beſchränlt und ungerecht ijt ber, der
anders denkt. Es fann uné Lehrern nur will:
fommen fein, wenn unjere Subdrer die fleifigen
Damen neben ſich fehen, die mit Feucreifer und
ernjter Uusdauer fid) dem Studium widmen.”
Wenn iiberall die Herren Dozenten fo vorurteilsfrei
wiren, fic) durch die Leiftungen der ftudierenden
Frauen in ibrer Stellung gum Frauenjtudium be:
ftimmen zu fajfen, fo würde fidjerlich bie Sm:
matrifulation aud in Preußen nicht mebr lange
auf ſich warten laſſen. Sn Galle promovierte,
gleichfallS an der mediziniſchen Fatultit, Frau
Natalie Ferland.
* Die tedjuifdje Hochſchule in München ift den
babrifejen Univerſitäten infofern gefolgt, als fie
die weiblichen immatrifulierten Studentinnen der
Univerſität unter den gleichen Bedingungen (Erlaß
der Einſchreibegebühr) zuläßt wie die männlichen.
* Der Antrag des CEvangelijden Frauen:
bundes an die Generaljynode, fie „wolle in
woblivollende CEriviigung ziehen, inwieweit cine
Erweiterung der Fraucnpflicten und -redjte im
kirchlichen Gemeindeleben, ingbejondere auch cine
Herangichung der Frauen gu den kirchlichen Wahlen
und der Gemeindevertretung möglich und durchführbar
fei,” ift von ibr als gur Beratung im Plenum
ungecignet zurückgewieſen worden.
* Sum Gemeindewahlredit der Frauen in
Holland, Aus Anlaß ciner Revifion des Gemeinde:
geſetes batten mebrere Abgeordnete der Sweiten
Kammer der niederlindijden Generalftaaten cine
Faſſung beantragt, die dad ative und pafjive
Gemeindewablrect auf die Frauen .ausgedehnt
bitte. Die niederländiſche Gemeindeverfaffung von
1845 fagt nämlich, daß jeder volljährige und
unbeſcholtene Hollander zu den kommunalen
Würden und Amtern zugelaſſen werden ſoll.
Die Feminiſten deuten nun, wie man es ſeiner—
zeit in England mit der Bezeichnung ,,person®
tat, den Ausdruck Holländer auf beide Geſchlechter.
Die Regierung hat dagegen jest einen Zuſatzantrag
gum Gemeindegefes eingebracht, wonach jened Recbt
fich ausſchließlich auf Niederlander mannliden Ge-
ſchlechtes beziehen ſoll. Dariiber fam es gu ciner
langwierigen Debatte, die ſchließlich mit ber An—
nabme des Regierungsantrages endete. Die
liberale Partei, mit Ausnahme von 7 Abgeordneten,
die ſich ber Regierung anſchloſſen, ſtimmte fiir die
Frauenſache. Jn Holland ift damit dasſelbe geſchehen,
wad in England 1835 ſchon geſchah, burd die Ber:
leifung des Gemeindewablrechtes an die Frauen
1869 aber wieder annulliert wurde.
“Der Verein „Frauenbund“ in Griinn bat
dem mabrifden andtage während deſſen jiingfter
Seffion eine Denktſchrift iiberreicht, welche auf
Grund cingebender Unterfuchungen die Mängel
und Unguldnglidteiten des Siebtinderwefens dar:
legt und cine Ddurchareifende Reform deSfelben
fordert. Die LebenSverhiltnijfe der fogenannten
Zieh⸗ oder Haltetinder, welche bis jest jeder be—
hördlichen Uberwachung entbehren, find bie denfbar
traurighten umd ibre Sterblichfeit erreicht infolge:
deſſen cine erfebredende Höhe. Damit cine Beſſerung
angebabnt werde, ſchlägt dic Dentſchrift folgende
Mafnabmen vor. 1. Reform der Wrmenfinder:
pflege im gangen Lande im Sinne einer behörd—
lichen Uberwachung der Bflegeparteien; fiir die
YandeShauptitadt Briinn: Cinfiibrung des Leipsiger
Syitems mit Ziehlinderamt, Generalvormundſchaft,
Aus Literatur und Kunſt fiir den Weihnachtstiſch. — Bücherſchau.
befoldeten Bflegerinnen; 2. Errichtung cines Siiug:
lingS{pitaled in Brinn; 3. Errichtung eines Er:
aichungsbaufed fiir verwabrlofte Madden (fiir
Knaben beſteht ein folded); 4. Startere Heran:
ziehung der Frauen zur Waifenpflege und Teil:
nabme derfelben am den Beratungen über die
Organifation der Waiſenhäuſer. H. H.
* Die Zahl der weiblichen Studierenden an
Univerfitdten, Colleges und techniſchen Schulen in
ben Bereinigten Staaten von Amerila war im
181
BVerhalinis gu der der mannliden im letzten Jahr—
zehnt folgende (Zeitſchrift für Sozialwiſſenſchaft):
1890 . . 10761 weibliche, 44.926 männliche
1895... 19071° 62 053 ti
1900 .. 26764 " 72 159 *
1901 .. 27879 Fr 75 472 iv
Die Zunahme ber weibliden Stubdierenden von
1890 und 1901 ift alfo rund 155 vom Hundert,
die Zunahme der männlichen Studierenden gleich—
zeitig nur rund 70 bom Hunbert.
i
fius Literatur u. Xunst fiir den Weihnachtstisch. — Biicherschau.
„Goethe“. Sein Leben und feine Werfe.
Non Dr. Albert Bielſchowsky. In zwei
Banden. Zweiter Band. Mit ciner Pbhotograviire
(Goethe im 79. Lebensjabre von Sof. Stieler). Erſte
bis dritte Auflage. Preis 7 Mark. (Munchen 1904,
©. G. Beckſche Berlagsbucbandlung.) Es ift cin
danfbares Gefühl, mit dem wir den lange erivarteten
zweiten Band des Bielſchowslyſchen Goethe yur
Hand nehmen. Seinen Berfaffer erreicht diejer
Dank nicht mebr. Faft bis gum Schluß hatte er
ibn gefordert, als ber Tod ibn abrief. Profeffor
Smelmann und Brofeffor Hoethe in Berlin haben
die Durchficht bed fertigen Manuffriptes, Profeſſor
Theobald Yiegler in Strafburq die Vollendung ded
Fauſtkapitels und den Schlußabſchnitt übernommen.
— Eine große, ſorgfältige, ſeinem gewaltigen
Gegenſtand nad Möglichkeit gerecht werdende Arbeit
liegt auch in dieſem Bande vor uns. Wenn die
Darſtellung nicht ſelten andersartig erſcheint als
im erſten Bande, fo iſt es ber Stoff, der es fordert.
Die Friſche des Erlebens, die beim jungen Goethe
fo fortreißend wirlt, führt gu einem anderen Tempo
der Behandlung als der ernſte feierlich werdende
Schritt des in großartiger Einſamkeit dahin
ſchreitenden Mannes. Als ſymboliſch mutet uns
cine Notiz an, dic Bielſchowsly gibt. Mls der
Uchtundviersigiibrige auf feiner Schweiger Reiſe den
ſchlechten Weg vom Schwyzer Halen herabjteiat,
ftdbnt er und „man bat die Empfindung, daf er
verdrieflich und abgentattet in Schwyz angefommen
fei.” 1775 ift fiber dew gleichen Weg notiert:
Nachts zehn in Schwyz. Müd und munter vom
Bergabſpringen. Voll Durſts und Lachens. Ge—
jauchzt bid zwölf.““
Uber die Auffaſſung wird ſich der Leſer mit
dem Buch ſelbſt auseinanderſetzen müſſen; er wird
—— daß cS der Withe wert iſt. Dieſe Zeilen
ollen nur fiir den Weihnachtstiſch auf einen
würdigen Gegenſtand hindeuten.
„Der Weg des Thomas Truck“, ein Roman
in vier Büchern von Felix Holländer.
S. Fiſcher Verlag (geh. 4 Mark, geb. 5 Mark).
Unſer modernes geiftiqes Leben iſt dadurch
gelennzeichnet, daß iiberall außerhalb der innerlich
und äußerlich rangierten Geſellſchaft ſich Gruppen
und Konventikel von Einzelnen zuſammenfinden,
philoſophiſchen Abenteurern, die auf eigenen Wegen
ihre Sebnfucht zu ſtillen ſuchen, die cin kühner
Glaube an die Beſonderheit ihrer Perſönlichleit
und ein ſtarler Wille zur Treue gegen ſich ſelbſt
u Exulanten der Geſellſchaft gemacht bat. Bon
Foden Gemeinſchaften ersablt das Leben der Groh:
ftadt, erzählen die vielen Weltanfchauungs: und
GMottfucderromane ber Gegenwart. Manchmal ijt
eS nur cin Spiel, in dem der aller Lebensreize
Uberbdriiffige voll nervifer Unraft cinen neuen
Yntrieb fiir feine LebenSenergie fut, manchmal
flingt ¢3 aus dieſen Worten wie das Schwerter:
ſauſen eines gewaltigen Kampfes. Es gebt darum,
gegen die Rieſenautorität eines unanfechtbaren
exalten Denkens, das Triumphe über Triumphe
feiert, das Innerliche, das Anfommenfurable, dad
im tiefen Grunde allein Lebenswerte zu retten.
Dieſer Kampf bezeichnet den Weg des Thomas
Truck. Holländers Roman führt wie fein anderer
zu den „Vagabunden des Lebens“, die da draußen
por den Toren der anderen ihre heißen Kampſfe
lämpfen. Und dazu iſt er mit allen Unaus—
geglichenheiten, die in der Größe des Inhalts
begründet ſind, eins der bedeutungsvollſten
literariſchen Aunſtwerle der Gegenwart.
„Das Suchen der Zeit“. Blätter deutſcher
Zukunft, herausgegeben von Friedrich Daab und
Hans Wegener. 1. Bo. Verlag von Karl
Robert Langewieſche, Diiffelborf (Pr. 2,40 Mark).
Die tleine Sammlung eingelner Aufſätze von den
Herausgebern, vor Artur Bonus, Hermann Guntel,
Heinr. Weinel u. a. fpicaelt dad Wollen der
Richtung in unferem Meiftesleben, die vom Boden
des Chriftentums aus einen Weq zur mobdernen
Kultur ſucht. Cin feines Berftandnis fiir dad
Wefen bes modernen Menſchen, fiir feine heimliche
Sehnſucht und jeine lauten Kämpfe vereinigt fic
bet den Mitarbeitern mit einer weiten und freien
Auffaſſung des Chriftentums, in der das dogmatiſche
Element zurücktritt binter das religidje. Go wird
bas Bud) jedem Sinnenden etwas bieten fonnen,
eS ftebt im Geifte des ſchönen Wortes
was iff das Heiligite? Das, wads heut und eivig
die Geifter
Tiefex und tiefer gefiiblt, immer nur einiger macht.“
182
„Leben ohne Lärmen“.
Diederichs. Verlegt bet Eugen Dieberichs.
Leipzig 1903. (Pr. br. 2,50 Mart, geb. 3,50 Mark.)
Helene Voigt:Diederichs ift dem Dichter des Jorn Uhl
ftammverwandt. Ihre Menfeben ſchreiten wie die
feinen ſchweren Schrittes über die niederſächſiſche
Heimaterde, der Nordſeewind rötet ihre Wangen
und macht ihre Augen hell und klar, und die
ſchweren Nebel machen ihren Sinn oft ſeltſam tief.
Aus eigenem Frauenerleben ſchuf fie die Geftalt
der kleinen Suſe in der erſten Geſchichte, deren fein
andeutende Charakteriſtik an dic Zwiſchenland Kinder
der Lou Andreas erinnert, nur daß in der Suſe
eine derbere Einfachheit liegt. Aber auch fremdes
Weſen erfaßt die Dichterin mit ſcharfem Auge und
feinem ſeeliſchen Verſtehen, und den Heimatzug all
der Menſchen, die ſie vor uns hinſtellt, weiß ſie
wohl lebendig zu machen. Dabei fehlt es ihr nicht
an der naturaliſtiſchen Schulung, die ihrer Dar:
ftellung, bet aller Selbſtändigleit und Urfpriing:
lichkeit, etwas ausgeſprochen „Modernes“ gibt.
Die feine Ausſtattung, in der der Diederichsſche
Verlag bahnbrechend geworden ijt, erhöht die Freude
an dem kleinen Bande.
„Krauslkopf““. Roman von Hermann Wette.
Leipsig, Fr. Wilh. Grunow, Jn dem vorliegenden
Bud, dem cine ernfthafte Beachtung fider fein
diirfte, liegt uns ber erfte, in fich geſchloſſene Teil
ciner Lebensgeſchichte vor, die durch bie grofe Zeit
der Neubegründung ded Deutfden Reichs bindurd:
führen und im Bewußtſein des Helden alle Feit:
fragen ſich ſpiegeln laſſen ſoll. „Krauskopfs“
Kindheit macht dieſen erſten Teil aus. Die weſt—
faliſche Erde — cin großes katholiſches Dorf im
Miinfterlande iſt der Schauplatz bes Romans —
ift in ibrer Cigenart auf das glücklichſte erfaft.
Die Menſchen find bier noc nicht abgeſchliffene
Typen, fondern ftarfe, ecige QYndividualitaten.
Pjarrer, Kaplan, Dorfſchulmeiſter, Organift, die
in dem Leben KrausfopfS cine Rolle ſpielen,
find fejt auf die Fife geftellt. Wm feinften ift
der „Patohm“ Krauslopfs, der Doltor ded Ortes,
berausgearbeitet; der reiche Humor, ber ben Dichter
fo fouverin mit {einen Figuren ſchalten laft,
tommt bicr am meijten gur Geltung. — Wir
diirfen auf bie weiteren Teile begierig fein.
Sm Verlag von Fr. Wilh. Grunow erfdienen
ferner die nachfolgenden Bande:
„Feuer!“ Srinnerung aud bem ruſſiſchen
Volizeileben von Alexander Andreas. Das
Buch iſt weniger durch ſeine Kunſtform als vielmehr
durch ſeinen Inhalt intereſſant. Ein ruſſiſcher
Beamter ſchildert mit der eigentümlichen An—
ſchaulichkeit und realiſtiſchen Kraft, die ähnlichen
Schilderungen in Tolſtois „Auferſtehung“ eigen
iſt, ſeine Erlebniſſe als Polizeiaufſeher in einem
armen Viertel einer ruſſiſchen Stadt, Ganz periin:
liche Schickſale find in die Yujtand Schilderung
verflodten und geben dem Ganjen auc als Roman
ein Sntereffe.
„Skizzen ans unjerm heutigen Volksleben“
gezeichnet von Frit Anders Der beliebte Er:
zähler bietet darin bereits bie dritte Sammlung
feiner kleinen Erzählungen, deren Hauptzug ein
frijcber Humor und ein freundliched Erfaſſen ded
Kleinlebens im Familie und Städichen ift.
eine dritte Sammlung von ſolchen Skizzen erſcheint,
fo verftebt fic) von ſelbſt, daß fie nicht alle wertvoll
Wenn |
Aus Literatur und Kunft fiir den Weihnachtstiſch. — Biicherfdau.
Von Helene Voigt: | find; manchmal wird die Komif mit billigen Nber-
treibungen ergielt, bie ein wenig gezwungen wirlen.
Uber einzelnes aus dem Band fann einem wohl
cine fröhliche Stunde bereiten.
„Der Marquis von Marigny’. Cine Emi:
grantengefdicte von Julius R. Haarbaus. Sie
qibt cin Miniaturbild cines Edelmanns des alten
Regime, der fic) alS Erulant in der braven deutſchen
Stadt Koblenz ſchlecht und recht durchhilft, immer
feinen Ravalierstraditionen und dem weltmänniſchen
Geſchmack an erlefenen Tafelfreuden getreu,
Samtliche Bande tragen die geſchmackvolle
Ausftattung des Grunowfden Berlags.
„Souette nad dem Portugiefijden’’ von
Elizabeth Browning, aus dem Engliſchen
tiberfegt von Marie Gothein. Broſch. 5 Mart,
eleg. in Leder geb. 7,50 Mark. Berlegt bei Eugen
Diederichs, Leipzig. In einer wundervollen und
foftbaren Musftattung, mit Qnitialen von Frit
Hellmut Ehmcke, in denen fliegende Herzen und
Dornenranfen zu feinen Gebilden künſtleriſcher
Symbolif verflodten werden, erſcheint cines der
tiefften und ſchönſten Denkmäler weiblider Liebes—
Iprif in deutſcher Nbertragung. Nur gartefte Suter:
pretationstunſt fonnte die Aufgabe unternebmen,
die dunlelweiche Mufit dieſer Dichtung mit anderen
Spradmitteln wieder gu erzeugen, obne zugleich die
wunbderbare Einfachheit der Ausdrucksweiſe gu ver:
legen. Bollfommen war fie nicht gu lofen. Wer
die Aberſetzerin hat mit einer Feinfühligleit um
dieje Loſung gerungen, wie fie nur die innigſte
Rertrautheit mit dem Wejen der Dichterin und ein
intenfiv fultiviertes Sprachgefühl geben fann. So
ift bas fleine Buch in jeder Hinſicht ein erlejener
kunſtleriſcher Genuß.
„Dialog vom Tragiſchen“ von Hermann
Bahr. Berlin, S. Fiſcher Verlag, 1904. Sermann
Babr wird unferen Lefern als ciner der feinften
Interpreten moderner Kunſt befannt fein. Die
Eſſays dieſes Banres find philoſophiſcher Art, fie
ftellen das Suchen eines künſtleriſch empfindenden,
man fann aud fagen künſtleriſch denkenden Menſchen
nach pbilofopbijder Oberivindung von Lebens:
problemen dar. Nichts Syſtematiſcheſtrenges in der
Richtung dieſes Denfens, aber cin intuitives Er:
fafjen des Kerns, deS Wefenbaften in allen Pro:
blemen, rind cin ficheres Empfinden der Macht in
ibnen, die unferem perſönlichen inneren Leben an
die Wurzel greift. Und dann feine Beobachtungen
zur Pſychologie der künſtleriſchen Wirfung und des
künſtleriſchen Schaffens in den Aufſätzen „Ekſtaſe“,
„Philoſophie des Impreſſionismus“, und jum
Schluß cine kleine Studie „der böſe Goethe’, die
Bielſchowskys Auffaſſung in dem ſoeben er:
ſcheinenden zweiten Band ſeiner Biographie voraus—
nimmt. UÜberall die eigenartige Feinheit eines
Geiſtes, deſſen Gedanken an ſich feſſelnd und reizvoll
find, ob wir ihnen objektiv zuſtimmen oder nicht.
Sämtliche Werle von Marie Eugenie delle
Grazie. Sn Y Banden oder 30 weadentlicen
Vicferungen, jede durchſchnittlich 5—9 Bogen gu je
1 Mark. Verlag von Breitkopf & Hartel in Leipzig.
Cine Gefamtausgabe der Dichterin ift cin literariſch
ficherlich danlenswertes Unternebmen. Bis jest
liegen der J. und IIL Band vor, entbaltend das
Cpos NobeSpierre und Erzählungen unter dem
Titel Bom Wege.
Mus Literatur und Kunſt fiir den Weihnachtstiſch. — Biicherfdan.
Eugenie delle Grazie ijt cine felten vielfeitige
Dichterin. Ihr Können beherrſcht, fait fonnte man
ſagen, gleichmaßig Epos, Lprif, Rovelle und Drama,
Ihre fiir eine Frau cigentiimlide Objettivitit er-
innert an Marie von Ebner Eſchenbach. Mit ibr
teilt fie cine Rraft plaftifder Geſtaltung, die ſich
aud) an frembden, ſubjeltivem Erleben fernliegenden
Stoffen bewährt. Am frappantejten zeigt das ibe
Epos Robespierre. Vollsſzenen voll heimlich
grollender Drohung und voll entfeſſelter Wut und
Leidenſchaft, St. Antoine und Berſailles erſtehen
vor uns mit glühenden Farben und klingendem
Leben. Auch die Geſchichten und Marden der
Sammlung „Vom Wege“ laſſen die ſichere Technit
und die reiche Eindrucksfahigkeit der Dichterin
bewundern, und zugleich ihren friſchen Humor und
die Feinheit ihrer iyriſchen Stimmungen. UÜberall
ſchöpft ſie aus einer Fülle des Sehens und Erlebens,
wie ſie wenigen zu Gebote ſteht, und überall vermag
fie dieſe Fülle durch cine biegſame, bildträftige
Sprache reich und volltönend yu verlorpern. —
M. E. delle Grajie ftebt, wie wenige moderne
Schriftſteller, außerhalb der Richtungen; fie vermag
vielen etwas gu geben, und darum wird die vor:
liegende Geſamtausgabe der Cinfebr in viele Häuſer
ficber fein.
„Das Süuderglöckel“. Bon Peter Rofegger.
Pr. 4M. (Leipsia, ¥. Staadmann.) Ein „moraliſches“
Yefebud, aber aud Kunſtlerhand. Was an Runjt:
fiinden, Wobnungsfiinden, Aleiderfiinden, an Sprad: |
und Siteraturfiinden bei uns fein Weſen treibt,
was „das deutſche Laſter“, dex Trinfteufel ver: |
ſchuldet, Pietatlofigteit und Prozeßführen, Robeit
und Geiz, dad alles erhalt fein Geſchichtchen und
feine Betrachtung, und aus Beter Roſeggers Munde
hort man das alles gern. Iſt einzelnes etwas
dogmatiſch, fo ijt anderes wieder aus dem friſcheſten
Leben Herausgenommen. Für einzelne Stücke, wie
„die Siinde des Brautigams“, bat die Fraucnivelt
dem feinfiibligen Dichter bejonderd yu danfen.
„Eduard Mörikes Briefe’. 1. Band (1816
bis 1840). Ausgewählt und herausgegeben von
Karl Fiſcher und Rudolf Preuß. (Berlin,
Ctto Elaner), Das Werk, deffen erfter Band vor:
licat, wird noc eine cingebende Wiirdigung erfabren. |
Der Swed dieſer AUngeige ijt nur, es ale Weihnaches:
gabe ganz befonders ju empfehlen.
Die Stadt mit lidjten Tiirmen’. Noman
yon Toni Sdwabe. Umſchlag und Cinband
von Frz. Chriſtophe. Fiſcher Verlag, Berlin.
—
—
bd a8 : : .
(Geh. 2,50 Mart, geb. 3,50 Mart.) Die Geldichte | fabrungen nicdergelegt, fiinftlerifdes Ringen und
ber frau, die mit der „großen Sehnſucht“ im
Herzen, der Sehnſucht nach der feinen, iby gemafen
Andividualitat, die fie ſeeliſch verftebt und ergänzt,
den minder feinfiibliqen Mann erwablt und ibn fib
fiir furge Seit zu verflaren weiß, ift nicht oft mit
feineren Farben ſtizziert worden. Biel innerlic
Erlebtes, viel gebcimes Poetenleid mag bier gum
Ausdrud gefommen fein. Unmerllich faft aleitet
in der Schilderung hauptſtädtiſcher geiſtreicher
Cercles die Berfajjerin aus der Spbhare ibrer Heldin
in die cigene hinüber. Was fie fiber den Wangel
an Ehrfurcht, die ſchlechten Inſtinlte des Taged:
Leſepublilums ſagt, über das Ringen derer, die in
ber Erde wurzeln, die fiir die Ewigkeit ſchaffen
midten, ift echt und erlebt. Und fein und echt ift
aud der Schluß, der dem billigen Anscinanderlaufen
183
aus gebundencr Ehe die Erinnerung entgegenbalt:
bas Leben, das fie gelebt bat und von dem fie fid
nie befreien fann, balt fie feft. Und die Stadt
mit den lichten Tiirmen verfintt.
„Nils Tufeffon und feine Mutter’.
roman von Guftaf af Geijerftam.
und Cinband von Fritz Arbeit. S. Fifer Verlag,
Berlin. (Geb. 3,50 Marl geb. 4,50 Marl.) Das
Thema des Romans: Blutfdande und Mord, würde
fiir ben fenfationellften Kolportageroman ausreichen.
Und dod ift bier nichts von Senfation, nichts von
Marche, nits von fiinftlid) erregter äußerer
Spannung. Das graufige Verbreden wird ans feinen
pſychologiſchen Borbedingungen entwidelt und mit
der eridnitternden Wabrbaftigfeit in cinfachem Auf—
bau bis zur Vollendung gefiibrt, wie wir fie abntich
vielleicht nur in Doftojewstis Rastolnifow finden.
Die ungefuchte Cinfachbeit der Sprache, wie fie einer
reden würde, der Miterlebtes rückſchauend berichtet,
die Cinfachbeit der Motive und der ſzeniſchen Mittel,
bie bas gange Antereffe der inneren Entwidlung pu
wendet, fteigert die Wirfung: man ftebt bis jum
graufigen Ende unter dem Bann eines Dichters.
„Moraliſche Unmiglidfeiten’ und andere
Novellen von Paul Heyſe. J. G. Cottaſche
Buchhandlung Nachf. G. m. b. H. Es iſt fiir uns
nicht immer leicht, uns vom modernen pfychologiſchen
Roman zu Heyſe oder Spielhagen zurückzuſinden.
Die ſtarlen und intenfiven Eindrücke, mit denen
die gang moderne Erzähllunſt auf uné wirft, laſſen
die Novelliftif der Generation vor uné mit ibren
jo unendlic) viel cinfacheren Problemen blak und
couliffenbaft erfdeinen. Und dod ijt es auc
etwas um Ddiefe reine Luft am Fabulieren, die hier
aud) einfache Motive ergreift und fie in das
Gewand eines cleganten und gepflegten Stile
{leidet. Den Reis dieſer Glatte und Feinheit
findet man aud in der letzten RNovellenfammiung
wieder, die fonft vielleidht den befonbderen An—
ſprüchen der Gegenwart am wenigften gu bieten bat.
Baul Heyfe, Romane und Novellen“. Wobl:
feile Ausgabe. Erſte Serie: Romane. 48 Lieferungen
gu je 40 Pf. Alle 14 Tage cine Lieferung. (Verlag
ver 3. G. Cottaſchen Bucbandlung Nachfolger
@. m. b. H. in Stuttgart und Berlin.) Bon der
woblfcilen Musgabe von Baul Hevjes Nomanen
liegen die Licferungen 34—42 vor. Sie enthalten
den Schluß oes fechsten und den Anfang des fiebenten
(vorlesten) Bandes dieler fobonen neuen Ausgabe
und fitbren den grofen Roman ,,Werlin”’ weiter,
Yn dieſem Roman hat Hevje cigenfte innere Cr:
Bauern:
Umſchlag
Schaffen verkörpert, das ibm ſelbſt gum Erlebnis
geworden iſt. Die diiftere außere Geſtaltung der
Geſchicke ſeines Helden wirlt freilich ſeiner eigenen
Laufbahn gegenüber wie die Komplementärfarbe.
„Frühling“ von Per Hallſtröm. Autoriſierte
Uberſezung von Franzis Maro. Inſelverlag
Leipzig 1908. Per Hallſtrom iſt wie wenige cin
Dichter des Innerlichſten. Nicht fo, da er dads
Wirkliche myſtiſch verflüchtigt, fondern gerade, indem
er von cinem flarjicbtigen Nealismus aus fich den
Weg nad innen fut, die heimlichiten und leifeften
RNuancen, das letzte Zittern einer flüchtigen
Stimmung nod mit der Sprache feftyubalten, mit
Worten gu malen fucht. Cin ſeeliſches Crlebnis
innerliditer Art gibt den Inhalt. Cin Kunſtler
184
erareift Befis von einem Weibe, tweil ihr Wefen
bie Konjeption zu cinem Werf in ibm auffteigen
lief, und weil er ibrer bedarf, um diefem innerlich
Geſchauten Form ju geben. Dabei betriigt er fie
und fich felbft um dad, was fie ſich menſchlich find;
der Künſtler in ibm gebt falt und fühllos an der
zarten Seele voriiber, die nad) ibm bie Arme aus:
ftredt, fie ijt ibm Motiv, er ftellt fie vor fic bin
und ftudiert fie wie etwas Fremdes. Go totet er fie.
Und dann wacht er auf und weiß, wads er ihr und
ſich felbft getan bat. Qn dieſes Schickſal flutet
von allen Seiten wogendes Leben binein. Die
ſeeliſche Unrube, die ſchmerzhafte und dod
begliidende hellſeheriſche Eindrucksfähigleit des
modernen Menſchen hat fein Gud nod fo ſtark
und reich wiedergeſpiegelt. Die Uberjesung wird
den feinen Mufgaben, die ibr dieS Buch ftellte, im
ganzen gerecht, obwohl es gerade bier natiirlic ijt,
daß vieles verloren gebt.
*
Xinderbiicher.
Unter den Neuerſcheinungen dieſes Jahres ift
nicht viel, dem man fo warm zuſtimmen fonnte,
wie dem Knecht Ruprecht oder den Blumenmarcden
von Streidolf. Im Verlag von Schafſtein in Coln
erſchien „Rumpumpel“ von Paula Debmel.
Die Verſe zeigen cine Dicbterin, die wie feine
anbere ben Ton des Minderliedes in Form und
Anhalt zu treffen weif. Der leichte, wohlllingende
Fluß der Worte, bie finnliche Kraft des Ausdrucks
und das freie Spiel der Erfindung ficern den
Verſen ibren Cindruc auf das Kinderobr und den
Rinderfinn, Nicht fo unbedingat einverftanden fann
man mit den Bildern fein. Es ift cin fruchtbarer
Gedanke geweſen, das Kinderbuch in der Einfachheit
der Linien und Farben dent Seben bed Kindes
anjupafien. Es wird ſehr ſchwer jein, die Grenze
qu finden, bids gu der dieſe WAnpaffung gu geben
bat. Hier febeint fic nun doch iiberfebritten gu fein,
wiibrend anbererfeits der phyfiognomifde Ausdruck
zuweilen mebr bem fiir Rarifatur gejdulten Auge
des Erwachſenen als dem Verftandnis bed Kindes
entſpricht. Bor allem möchte man gegen den
„Herrn Jeſus“ proteftieren, der dba auf dem cinen
Bild mit einer Brille auf der Raſe am Pult ftebt
und die artigen Kinder cintragt. Obne pedantijd
ciner naiven Herabziehung der Stoffe in die Bor:
ſtellungsſphäre des Kindes ihr Hecht beſchränken yu
wollen, laſit ſich bier doch fragen, ob es richtig iſt,
ben Kindern alles in died AlltagSlicht zu riiden,
fic zu gewöhnen, fic) mit allem ſozuſagen an:
zubiedern. Es fchimmert bier aud von feiten ded
Erwachſenen cin gewiſſes bewußtes Sichhinwegſetzen
über allerlei Pietätsworte hindurch, das in ein
Kinderbuch nicht eindringen ſollte.
„Drei Marden’, Erzählt und mit ſechs bunten
Bildern geſchmückt von Marie von Olfers.
Berlin W. 35. B. Behrs Verlag. Die Marden,
die in zweiter Auflage erſcheinen, haben manches
Anmutige. Aber ihre Kindlichleit iſt zuweilen cin
wenig geſucht und weichlich, und es feblt ihnen
an Urſprünglichkeit. Die Bildchen dazu find fein
und grazids in der Seichnung und nicht obne Humor.
Sur Freude“. 150 Geſchichten und nod) cine.
Von Helene StHtl und Frau Suliane. Ravens:
burg. Berlag von Otto Maier. Preis 3,50 Mark, Das
ijt cine gang hübſche Sammlung kleiner Erzählungen,
Aus Literatur und Kunſt fiir ben Weihnachtstiſch. — Bücherſchau.
bie vielleicht von einer febr puriſtiſchen Jugend⸗
fcbriftentritif eines leiſen moralifierenden Anſtrichs
wegen nicht durdgelafjen werden, denen aber doc
Peter Rofegger ein freundliches Geleitiwort geſchrieben
bat. Sie werden von Kindern ficer gern gelefen
werden, nur milfte nicht gerade gleich anf dem
Titelblatt ſtehen „für artige Kinder’.
Tier-A BC, Cin Bilderbuch von Henrh
Albredt. Eflingen und München. Berlag von
3. F. Schreiber. Ein Bilderbucd alten Schlages
mit befannten Fabel und Klapphornverfen, die auf
künſtleriſche Vollkommenheit feinen Anſpruch machen.
Die Bilder find nicht ſchlecht. Dem älteren Kinder:
buchcharakter entſpricht aud Ri⸗Ra⸗Rutſch, Kinder:
lieder (B. Behrs Verlag, Berlin), mit anfprucs-
fofen Schwarz-Weiß-Bildern und friſchen netten
Berjen. Gang verichlt ift aber ,, Dads fröhliche
Tierbuch“ von Egon H. Strasburger und Theodor
Eel (Eduard Koc, Minden). Die Geſchichten
zum großen Teil wertlods, die von dem Pferd
obrigo einfach rob, die Rarifaturen ibrer Art
nach fiir Kinder ungeciqnet. Für grifere Kinder
find die Wusgaben der Heldengefdhidjten des
Mittelalters von Baffler zu nennen, die im
Verlag von H. Hartung u. Sobn, Leipzig, erſcheinen.
Jn einfacher Ausftattung zum Preife von 1,25 Mart
und 1,50 Mart bieten fie die Frithjoffage, dic
Rolandjfage, die Nibelungen we. Cine febr hübſche
Auswahl ans den Deutſchen Sagen von den
Briidern Grimm ift in ſchöner Ausftattung in
der ,Damburgifden Hausbibliothet” bei Wlfred
Janſſen in Hamburg erfebienen.
Fir ben Weihnachtstiſch möchten wir vor allem
wieder bintweifen auf die friiber ſchon von uns
bejprodencn Werle: fiir die Keinen auf Kreidolfs
»Blumenmarden”, , die Wiefengwerge”,
„die [hlafenden Baume”, Knecht Rupredt,
Fife Buge (ſämtlich bei Schajftein & Co., Cin),
auf das Qugendland (Verlag von Gebr. Künzli,
Zürich). Für die reifere Jugend machen wir u. a.
auf die MWusgaben der Kinder- und Sausmarden
von Grimm und des Robinſon Crujoe aufmerffam,
bie beide in ciner unverfiirjten Ausgabe der
Deutiden Verlagsanftalt Stuttgart (val. die Be:
fprechungen im Qanuarbeft 1903) erfebienen find.
Auch auf das Büchlein von Helene Adelmann:
„Aus meiner Kinderzeit“ (YL. Oebmiate, Berlin)
fet nocd cinmal verwieſen. Es ift eine Jugend—
ſchrift im beften Sinn, weil fie nicht künſtlich fiir
die Jugend zurechtgemacht ift, fondern durch ibre
Matiirlichteit und Friſche Kindern wie Erwachſenen
gleiche Freude machen fann. — Cine grofe, unbedingt
suverlaffige Auswahl wirklich guter Sachen bictet
das Jugendſchriftenverzeichnis der Vereinigten
Prüfungsausſchüſſe, das von Herrn Wilh, Senger,
Hamburg 22, Wagnerftr. 53, ju beziehen ijt.
„Arnold Böcklin“. Nach den Crinnerungen
feiner Siiricber Freunde von Adolf Frey. Mit
cinem Jugendbildnis Bédling von Rudolf Koller.
Stuttgart und Berlin 1903. J. G. Cottaſche Buch:
handlung Nachf. G m. b. H. Das Bud gibt auf
Grund cines reichen unveröffentlichten Materials
cine Schilderung Böcklins in feinen Siiricer Jahren
(1835-1892). Aus dem reife feiner nachften
| Freunde ftammend, zeigt fie eine [cbendige Friſche
und Intimität fowohl in der Auffafiung des
Kiinftlers als des Menichen, die fie höchſt anziehend
und feſſelnd macht.
Mus Literatur und Runft fiir den Weihnachtstiſch. — Bücherſchau
„Höhenluft“. Novellen von Heloife von
Beaulieu, Dresden und Leipzig. Berlag von
Heinrid) Minden. Bn den gewandt und fliiffig ge:
ſchriebenen RNovellen, deren dufered Geprage an
den Konverfationsroman erinnert, ftedt doch menſch—
lid und künſtleriſch mehr Ernft, alé in der fonft
in dieſem Gewande auftretenden leichten Inter:
baltungSleftiire. Der Ernjt, der in der Erfaffung
ber Ronflifte wie in der Charafterijtif yum Aus:
druck fommt, gibt jeder von ibnen cine tiefere
Farbe und zeigt, daß die Berfafferin aud zu
größeren Aufgaben reifen wird.
„Der Mutter Gedeulbuch“. Cin Buch fiir
wichtige Aufzeichnungen aus dem Familienleben,
mit Spriicen und Ausſprüchen fiir jeden Tag, ge-
fantmelt von ciner Mutter. Verlag von Cugen
Sutermeifter, Bern 1904. Das hübſch ausgeftattete
Buch bringt cine reiche und gut geiwablte Ausleſe
von Dicterworten und <fpriiden und michte fiir
feinen Bwed gang beſonders geeignet fein.
„Das Muſeum“. Cine Anleitung pun Genuß
der Werke bildender Kunſt. Herausaegeben von
RidhardGraulund Ridard Stettiner. Verlag
von W. Spemann in Berlin und Stuttgart. Es gibt
feinen befferen Bilderattas zur Cinfiibrung in die
Kunſt aller Zeiten alS die in der Auswahl und
Ausfiibrung der Reproduftionen, wie in den hinzu—
gefügten furgen tertlicben Unmerfungen gleich aus:
gezeichnete Zeitſchrift, auf die wir immer wieder
verweiſen. Für jeden kunſtgeſchichtlichen Kurſus,
wie zur eigenen Fortbildung bietet fie bad vorzüg⸗
lichſte Material zu einem ganz außerordentlich
geringen Preiſe und bequemen Bezugsbedingungen.
„Künſtlerſteinzeichnungen“ (B. G. Teubner,
Leipzig). Su wem die Künſtlerſteinzeichnungen als
alte Wefannte fommen, der wird die Lester von
ibnen: , Das Tal” von Frang Hein, „Herbſt in
der Cifel” von Hans von Volkmann, „Blühende
Kajtanien” von Strid-Chapell mit befonderer
Areude und Überraſchung begrüßt haben. Sie zeigen
die Vorzüge der langen Reihe ibrer Vorgänger in
nod) gefteigertem Vilage. dic ausdrucksvolle kräftige
Harmonie ber Farben, die maleriſche Sinnlichfeit
der Stimmungen. Es ift cine fo reine, frobliche
und jtarfe Runft, die aus vielen der Riinjeler:
ſteinzeichnungen fpridt, daß man fic) nur immer
wieder freut, Daf gerade ibre Sprache nun gu den
Taufenden und Millionen dringen fann, zu denen,
an die man bet dem Begriff „das deutiche Haus”
denkt. Gerade auf diefe lezten Bilder möchten wir
bejonders binweifen: die kühne rotgelbe Farben:
fompbonie, die in bie glasklare Herbſtluft von Bolt:
manns Gifellandjdaft bineintint, die feinfiiblig
erfaßte, ſeltſame Zwielichtſtimmung der duntlen
Laubmaſſen auf dem Bilde von Strich Chapell, die
Mit thren Blutenlerzen vor dem gelben Abendhimmel
ſtehen, und unter denen man in die dämmrige
Dorfſtraße hineinſchaut, und die eigenartige Kom—
pofition des Wieſentals bet Hein, wo das jonnen: |
bejchienene Lichtgrün der Wieje und die ſchimmernden
Birlenſtämme cinen leuchtenden Maientag malen.
Und ebenfo kräftig in Erfindung und Ausführung
ift Marie Orthebs „Herbſtluft“: fompatte Baum:
filbouctten iiber einem dden Horizont mit ſchweren
bangenden Wolfen darüber. — Der Preis fiir das | gu bringen, voll entiprecden fann.
Blatt betrigt 2,50 Mart.
5 Blattern foftet 12 Mart.
ine Rartonmappe mit
Vigée- Lebrun:
Mutter und Kind, (Doppelblatt.)
Berlag dex Geſellſchaft sur Verbreltung Maffifder Aunſt.
G. m. 6, H.
Wen eS um cine wirklich vornehme und zu—
gleich billige Neproduftion tlaffifmer Kun ft:
werfe ju tun ift, der fet auf dic von der Gefell:
ſchaft zur Berbreitung klaſſiſcher Kunſt
unternommene „Wandſchmuck⸗ Sammhing vor
Meiſterwerken klaſſiſcher Kunſt“ aufmerkſam ge:
macht. Der Herausgeber dieſer Sammlung, die in
Photogravüren nad Original⸗Aufnahmen Haupt:
werke der Malerei vom 15. bis zum 19. Jahr—
hundert umfaßt, ijt Profeſſor Dr. v. Loga, deſſen
Name fiir Wuswabl und Ausführung von vorn—
herein biirgt. Es find dabei vor allem folde
Werle beriidficdtigt, die fic nach Motiv und
deforativer Wirkung vorzüglich gum Zimmerſchmuck
eignen. Uns liegt der Ruisdalſche Eichenwald
und das befannte Bild: Mutter und Kind von
Mme. Vigée-Lebrun als Doppelblatt vor. Wir
bewundern, wie fein die Töne der Photogravüre
ber unverglcichlichen Weichheit, der feinen Anmut
der Franzöſin zu folgen vermigen, wie ſchön fie
bie tiefen, warmen Schatten, die fraftig fontrajtterende
Helle auf dem entlaubten Stamm im Bordergrund,
bas damumernde Licht des durchſcheinenden Himmels
in der Ruisdalſchen Landſchaft wiedergeben. Der
Preis der Bilder (10 Warf das cinfade Blatt
73 x 95 cm; 20 Mart das Doppelblatt 90 x 110 em)
ijt im Verhältnis gu der Größe und Wusfiibrung
billiger als irgend welche fonjt im Kunſthandel
befindlichen Reproduftionen, fo daß bad Unter:
nehmen auch in diefer Hinſicht feiner Aufgabe, die
flajfifde Kunſt weiteren Volfstreijen in das Haus
Man verlange
sur Ausivabl den illuſtrierten Katalog vom Verlag
dev Geſellſchaſt, Berlin W., Elßholzſtr. 15.
186 Mus Literatur und Kunft fiir den Weihnachtstiſch. — Bücherſchau.
„Meyers Hiſtoriſch⸗· Geographiſcher Kalender
fiir 1904, VIII. Jahrgang. Mit 12 Planeten:
tafein und 354 Landfdafts: und Stidteanfidten,
Portrats, fulturbiftorifeen und kunſtgeſchichtlichen
Darftellungen fowie einer Jahresüberſicht (auf dem
Riiddedel). Sum Wufhangen als AUAbreiffalender
cingeridtet. (Preis 1,75 Marl) Berlag des
Bibliographiſchen Inſtituts in Leipzig und Wien.
Der vorliegende Kalender hat fich längſt cinen
folden Chrenplag unter ſeinesgleichen eriworben,
daß eS unnötig erſcheint, ſeine Borgiige noc
beſonders zu erwähnen. In bezug auf die died:
jährige Ausgabe ſei nur die hübſche äußere Aus—
ſtattung beſonders hervorgehoben. Es ſind faſt
durchweg neue Bilder aufgenommen. Sie zeigen
in bunter Reibe Helden der Geſchichte, der Wiſſen—
ſchaft und der Yiteratur, Bolfertypen und Landſchaften
aller Sonen, Werle der Natur und Kunſt. Deder
Tag bat fein bejondereds Bild; kurze überſichtliche
Weleitworte weiſen auf die Bedeutung des Bildes bin,
Meyers Grofes Ronverjations - Lexifon’’.
Cin Nachſchlagewerk des allgemeinen Wifjens.
Sechste, gänzlich neubcarbeitete und vermebrte
Auflage. Mebr als 148 000 Artifel und Ber:
weifungen auf über 18 240 Seiten Tert mit mebr
als 11000 Ubbiloungen, Karten und Planen im
Tert und auf iiber 1400 Siluftrationstafeln (darunter
etwa 190 Farbendrudtafeln und 300 ſelbſtändige
Kartenbeiflagen) jowie 130 Tertbeitagen. 20 Bande
in Halbleder gebunden zu je 10 Mark (Verlag
des Bibliographiſchen Inſtituts in Leipzig und
Wien.) Unter den Artifeln des focben erſchienenen
vierten Bandes von Meyers Grofem Ronverjations:
Yerifon diirfte der über 4'/, Bogen fich bingiehende |
| gu iwerben,
Urtifel „Deutſchland“ befonders intereffieren. Ab—
geſehen von den geographijden und wirtſchaftlichen
Ubjehnitten bat der Wetifel cine hervorragende Bes
deutung in der flaren und furgen Behandlung der
deutſchen Gefchichte bis in unfere Tage binein. Bon
den 18 bem Artifel „Deutſchland“ beigegebenen
Karten und Tafeln zeigen vier die Hauptepocben der
deutſchen Geſchichte. Um den fiir dad Verſtändnis
der deutſchen Entwickelung beſonders wichtigen
Epiſoden der Befreiungstriege, der Zeit des Deutſchen
Bundes und des deutſch franzöſiſchen Krieges nod mehr
Beachtung zu ſchenken, find dieſe Abſchnitte in eigenen
Artikeln behandelt. Die Entwickelung des deutſchen
Bolles, die nach außen auch in ben Artileln über
Deutfd) Oftafrita, Deutſch⸗Sudweſtafrila und China
gum Wusdrud fommt, bebandelt nod) intenfiver
der Urtitel „Deutſches Volk’, im dem nad Er:
lauterung der ethnograpbifden Bildung des deutſchen
Bolles deffen Wusbreitung in die Nacbargebicte
bis in ferne Lande beſchrieben iſt Die Beftrebungen
bes deutſchen Schulvercins, das Deutſchtum im
Ausland durch Scbulen gu ftarfen, findet in den
Artikeln „Deutſche Sdulen im Ausland“ und
Deutſcher Schulverein“ Wiirdigung. Ebenjo maden
wir aufmerfiam auf die Urtifel „Deutſche Sprache",
„Deutſche Literatur”, „Deutſche Verokunſt“,
Deutſche Philologie“ und „Deutſches Recht“. Die
Kunſt findet, ſoweit nicht auf die unter „Deutſchland“
zu findende deutſche Kunſt hingewieſen werden ſoll,
ihre Rechnung in dieſem Band vor allem durch den
Artikel ,,Chriftliche Altertumer“, dem zwei ſehr gute
Holzſchnittafeln beigegeben find, und den die chineſiſche
Runft behandelnden Teil des Artifels , China’, der
gleichfallS mit zwei Tafeln geziert tft. Die Knapp:
Heit und Klarbeit famtlicher Artikel verdient auc
in dicfem Bande wieder rühmend bervorgeboben
(Fortfegung der Bucherſchau ſ. S. 184.)
—
Das qute Beiſpiel.
Erſt left, was auf der Flafthe
ftebt,
Dann will id) meinen Mund
Euch zeigen,
Und, wenn Ihr deſſen Schön—
heit ſeht,
Macht Ihr Euch gleich „Odol“
zu eigen!
Runſtſtickerei ausgeſührt auf der Original- Singer -Rabmafdine
der Singer Co. Nahmaſchinen MttGef. Berlin W., Leipjiger|tr, 92,
187
188 Aus Literatur und Kunft fiir den Weihnachtstiſch. — Bücherſchau.
„Friedrich Spielhagen Romane — Rene
Folge’. — Woblfeile Licferungsausgabe in 50 Heften
A 35 Pf. Alle viergehn Tage eine Lieferung (Verlag
von L. Staadmann in Leipsig).
Die Lieferungen 23 bis 30, welche uns vor:
liegen, bringen den Schluß bes Romans „Opfer“,
fowie dic vollſtändige Novelle „Fauſtulus“,
7. Auflage, und den größeren Teil der Novelle
„Herrin“, 7. Auflage. — Beide bringen altgewohnte
Motive. In Fauſtulus dürften bie Schilderungen
der Landſchaft, auf der als Hintergrund ſich die
Heinen Geſchicke Heiner Menſchen abſpielen, den
Spielhagen:Verehrern den Dichter ber erſten Romane
wieder nabe bringen. Die alte Kraft, eine Landſchaft
gu täuſchendem Leben gu eriveden, bewährt fich bier
aufs neue.
Im gleichen Verlag erſchien ferner foeben:
7 Mm Wege“. Vermiſchte Schriften von
Friedrich Spielbagen. Die Sammlung von
Auffaigen hauptſächlich literarifden, aber aud
politiſchen Inhalts geigen in anjiehendjter Weife
Spiclhagen als Qournaliften. Die Geiftestimpfe,
bon denen die Romane feiner beften Zeit fpreden,
ragen aud in dieſe Sammlung binein, beſonders
in die autobiographiſchen Stiide Die literarifden
Eſſays zeigen uns cine Perfinlichleit, bie auch im
Werten des Frembden eine ganz cigene, felbftindige
Stellung fudt. Jedenfalls michte die Sammlung
flir jeden Gebildeten von höchſtem Qntereffe fein.
„Die Freude“. Cin deuticder Kalender fiir
bas Jahr 1904. Berlag von Karl Robert Lange:
wieſche, Düſſeldorf und Leipzig. Der feine kleine
Kalender ftebt dieSmal unter dem Zeichen von
Morig von Schwind und Eduard Miurife. Briefe
von Schwind an Mörike, cine Fülle ſchöner kleiner
Reproduktionen von Schwinds unvergänglich heiteren
und ſo zart humorvollen Bildern erinnern den
Leſer daran, daß wir im Januar 1904 Schwinds
100jährigen Geburtstag feiern. Und ibm geſellt
ſich Mörike, der modernſte und reinſte Lyriler der
deutſchen Spatromantif, mit neu herausgegebenen
Briefen und ciner Auswahl feiner ſchönſten Gedichte.
Cine ſchöne Zugabe find die Aphorismen aus
Ernft Morig Arndt und Multatulis Ehepredigt —
es ift aber ſchade, daß fie gelürzt ift. ,, Die Freude”
bietet auch dieSmal wieder cine fein gewählte und
reide Gabe aus dem Scat echter deutider Kultur.
„Liſelotte von Reckling“. Roman von Gabriele
Reuter. Umſchlag und Cinband von Mar Kutſch—
mann. S. Fifther Verlag, Berlin. (Geb.4 Mark, geb.
5 Mark.) Dies Buch ijt feinem Stoff nach nicht
geeignet, dic Schriftſtellerin von ibrer ſtärlkſten
Seite qu zeigen. Bet der Heldin felbft verjagt ibre
feine pſychologiſche Kunſt nicht, die gerade in dem
oft Unvermittelten, Unausgeglidenen, in den vielen
Unfingen und ſcheinbar zuſammenhangsloſen Cingcl:
gitgen, aus denen Wefen und Schickſal tbrer Menſchen
ſich zuſammenſetzt, das Lebenswahre oft fo wunderbar
trifft. Aber da verſagt ſie und muß ſie verſagen,
wo ſie den Propheten, an deſſen Schickſal Liſelotte
ihr Leben geknüpft hat, und ſeine Bewegung ſchildern
ſoll. Es iſt eben einfach nicht möglich, einen ſolchen
Propheten glaubhaft zu machen, weil man die
Hauptſache, den Inhalt ſeiner Lehre, doch nicht,
oder was ſchlimmer, nur referierend, matt, trocken
wiedergeben kann. Der Prophet als Romanfigur
imponiert nicht, wir glauben nicht an ſeine Wirkung,
weil wir fie nicht nachempfinden finnen. — Bei vielen
ſchönen Einzelheiten gehört Lifelotte bon Redling
nicht gu den Biichern, die den Kiinftlernamen von
Gabriele Reuter voll reprajentieren.
Wie man in Berlin zur Zeit der Königin
Luife fodjte’. Nach ben im Sabre 1795
niedergefdriebenen Aufzeichnungen von Frau
F. &. Fontane. Verlag von F. Fontane & Co. in
Berlin, Preis 3 Marl. Cin höchſt originelles
Weihnachtsgeſchent fiir qute Hausfrauen. Wer die
in der Schreib- und Redeweiſe der Original:
handſchrift wiedergegebenen Regepte lieft, wird daraus
nidt nur feine ftulturbiftorifden Renntniffe
vermebren, fondern obne Zweifel auc manderlei
praktiſchen Nugen fiir ben eigenen Tiſch daraus
ziehen lönnen. Die Leibgerichte unferer Urgrofeltern
find augenſcheinlich durchaus nicht ohne“ geweſen.
„Das Tagebuch des Verführers“. Bon
S. Kierkegaard. Inſel-Verlag, Leipzig 1908.
Das Bud, das gum erſtenmal in einer voll
ftindigen deutſchen Uberſetzung (M. Dauthendey)
erſcheint, iſt eines der intereſſanteſten modernen
documents humains. Es iſt das Selbſtbekenntnis
eines Mannes, deſſen Weſen in einer gewiſſen
unheimlichen Weiſe ſeine innere Einheit verloren
= der cinen zweiten Menſchen fpielt, einen grau-
amen, raffinierten, eislalten Genußmenſchen. Die
Schrecken, wenn das Spiel gu Ende ift und er er:
wachend dieſen Zwieſpalt empfindet, ohne ſich ſelbſt
wiederfinden gu können, werden nur leiſe ans
gedeutet. Das Spiel ſelbſt, in all ſeinen einzelnen
Genüſſen, Launen und Berechnungen von ihm ſelbſt
aufgezeichnet, iſt der Inhalt des Bekenntniſſes.
Wir ſehen einen Menſchen wie ein Raubtier immer
engere Kreiſe um ein hilfloſes Opfer ziehen. Er
berechnet mit Hibl wägendem äſthetiſchen Sinn den
Genufivert jedes Momentes der erſten Befannt:
ſchaft, des innigeren Verkehrs, die Art, wie er voll
auszuloſten iff, und wie die [este Erfillung mit
aller Sunft vorbercitet twerden fann, um allen
Genus gu bieten. Damit ift dann für ibn alled
vorbei. ,, Die Menjchen waren fiir ihn nur Inci—
tament; er warf fie von fich weg, wie bie Baume
bie Bitter abſchütteln — er verjiingte fic, dad
Laub verivelfte.” Es ift eine Geſchichte, die ald
eine raffinterte ſeeliſche Stubie feffelt — gum Runft-
wert feblt ibr einfach die Menſchlichkeit; cin falted
Rechenerempel von wiſſenſchaftlichem Reiz, das cin
ritdfichtslos ſcharfer Denler tm Spiel ciner ſchöpfe
riſchen Laune erfonnen.
perder’, Sein Leben und BWirken. Bor
Ridard Biirfner. Berlin. Ernſt Sofmann & Co.
Die ca. 300 Seiten umfaffende Biographie bildet
einen Band ber befannten Sammlung „Geiſtes—⸗
helden“. Sie ift dem Swed und Charalter diefer
Sammlung entiprecend gebalten und bictet eine
populdre Biographie auf Grund des grofen Hahmſchen
Werkes, ohne den Anſpruch auf eine eigene Auf—
faffung von Herders Perſönlichkeit erbeben zu wollen.
So erfiillt bas Buch in feiner die Hauptzüge Har
gruppierenden Darftellung feine Abſicht, cinem
grifteren Kreiſe der Gebildeten Herder verſtändlich
gu machen, fowobl nach feiner literarbiftorijden und
philoſophiſchen Bedeutung, wie aud als Perjonlich-
feit. An einer ſolchen fnappen Charatteriftit bat
es bisher gefehlt. — Wir möchten bei diejer
Gelegenbeit nochmals auf die friiber erſchienenen
Bände der Sammlung bintweifen.
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189
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ihrer ſozialpolitiſchen Seite,
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Lebensproblem. Es verſucht die
Löſung vom Standpunkt einer
nicht in dogmatiſchem, ſondern
in freierem Sinne — religiofen
|
Weltanjdauung und diirfte als |
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fein, auch wo man den leitenden
Geſichtspunkten ferner ftebt.
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Berantwortlich fiir die Nedattion: Helene Lange, Berlin. — Verlag: BD. Moefer Budhandlung, Berlin & — Drud; B. Moefer Budoruderei, Beriin 3,
fe. i. aes Heft 4 aw & ay Dy Januar 1904 ab
1 — “se pv er
AHecrausgegeben : Bs *
Verlag:
W. Moeſer Sudhandiung.
Berlin 8S.
oon
Xeaelene Lange.
ts.
Vie Prauenbewegqung
und das ,,Recht auf die Mutterschaft*.
Helene Tange.
Nadorud verboten.
Yon Gretchen bis auf Rofe Bernd hat die moderne dramatiſche Kunſt in mannich—
Sim facen Bariationen das Schidfjal der ,gefallenen” Frau geftaltet; im Noman
bat e3 in , Adam Bede” und in Helene Böhlaus „Recht der Mutter” klaſſiſche Ver—
tretung gefunden. Die phariſaiſche Harte, mit der die Gefellfchaft gerade bier fo be-
dingungslos verdammt, dic Ungerechtigkeit, mit Der fie die Verlegung eines zu ihrer
Selbjterhaltung notwendigen Geſetzes nur an dem ſchwächeren Teil rächt, mußte die
Kunſt in ihrer rein menſchlichen, individuell abſchäzenden Betrachtung der Dinge jum
Einſpruch aufrufen, einem Einſpruch nicht mit den Mitteln moralijierender Abwagung,
jondern mit ibren eigenften Mitteln, menſchliches Leben und Leid in feiner Tiefe zu
erfaſſen und in feiner erſchütternden Wahrheit darzuſtellen.
Nicht ſelten iſt die Kunſt die erſte Verkünderin deſſen geweſen, was an neuen
ſittlichen Werten ſchon unbewußt das menſchliche Fühlen und Urteilen mitbeſtimmte,
ohne noch die feſten Formen ſittlicher Begriffe gewonnen zu haben; nicht ſelten hat ſie
geholfen, ſolche zu ſchaffen. So auch auf dieſem Gebiet. Wir empfinden den Zu—
ſammenhang zwiſchen den Geſtalten, die, der üblichen Vorſtellung von der verachteten
Dirne ſo unähnlich, lebendig durch unſere Literatur ſchreiten, und dem Wandel der
Anſchauungen über die „Gefallene“.
Daß ſich ein ſolcher Wandel zu vollziehen beginnt, zeigt ſich in dem geſteigerten
werktätigen Intereſſe, das ſich der „unehelichen Mutter“ — ich behalte der Kürze
wegen den unkorrekten Ausdruck bei — und ihrem Kinde zugewendet hat. Es zeigt ſich
13
194 Die Frauenbewequng und bad „Recht auf bie Mutterſchaft“.
in all ben Bemiihungen, die rechtliche Stellung der unehelichen Mutter gu beben, ifr
mit den Mutterpflichten aud) die Mutterrechte, mit der Verantwortlichfeit aud die
Autorität yu geben, in der fozialen Fiirforge durch Wöchnerinnen- und Säuglings—
beime, in dem Auftauchen des ſozialökonomiſchen Problems der Mutterſchaftskaſſen uſw.
Bei der hohen Riffer der unebheliden Geburten, bei der Ausdehnung der Kreiſe, deren
Wobl und Webe mit diejen Fragen verfniipft ijt, muß man folche Bejtrebungen auf
das wärmſte unterftiigen und fann nur dringend wünſchen, daß die Frauen alten
Schlages den Aufgaben der Geſellſchaft in diefer Hinficht etwas freier ins Geſicht feben
lernen.
Ihnen dazu gu verbhelfen, ift ficrerlich aud) eine Aufgabe der Frauenbewequng.
Aber ebenjo ficher löſt fie fie fcblecht, wenn fie nun ibrerfeits mit einer Sentimentalitat,
die mit einer griindliden ſoziologiſchen Bildung unvereinbar tft, um die unebelice
Mutter cinen Heiligenfchein webt, wenn fie cinen Zustand, der auf beflagenswerte
wirtidaftliche Berhaltnijfe zurückzuführen ijt, aber unjerem Rulturideal vom Sufammen-
{eben der Gejchlechter in feiner Weife entſpricht, zum Prinzip erbeben wollte, wenn fie
Theoricen auftellt, die denen der freien Liebe verzweifelt ähnlich ſehen. Und eS gibt
Kreiſe, im denen das mit einem unreifen Radikalismus gefchiebt, der die Frauen:
bewegung aufs duferfte disfrediticren muß.
Diefe Theoricen haben anch bereits ihre Formulierung gefunden. Cin Biidlein
von Ruth Bré!) (jelbjtverjtindlicd ein Pjeudonym — feltjam genug, dah eine Ver—
fiinberin einer fo welterfcbiitternden neuen Lebre fie nicht mit ibrem Ramen dedt) will
alles Ach und Weh der Gefellfehaft, alle Intereſſenwirtſchaft, die Gliidlofigteit des
mobdernen Menſchen, die zunehmende Degeneration der Menſchheit aus einem Puntt
furieren; fie verſpricht Glücksmöglichkeiten für jeden, Erzeugung ſchönſter menſchlicher
Harmonieen, Erhaltung der Volkskraft, Wiedergeburt uſw.
Und durch welches Allheilmittel ſollen die in dieſem verheißungsvollen Programm
in Ausſicht geſtellten wunderbaren Wirkungen erreicht werden?
Die Vorausſetzungen ſind dieſe.
Es gibt heute nur zwei Arten von Frauen, die ihre Naturbeſtimmung erfüllen:
die aus tauſend Gründen zur Löſung ihrer kulturellen Aufgaben unfähige Ehefrau und
die Dirne. Zwiſchen beide ſoll eine neue Gattung eingeſchoben werden: die freie Frau,
deren Ehe dauert, ſo lange es ihrem Bedürfnis entſpricht: „vielleicht ein paar Jahre,
vielleicht ein paar Monate — oder Wochen. Bei mancher Frau vielleicht nur eine
Nacht.“ Von dieſer neuen Inſtitution, in der alle heute unerfüllte Sehnſucht nach
Mutterglück befriedigt werden kann, denn die volle Achtung der Geſellſchaft iſt ihr ge—
ſichert, erwartet Ruth Bré einen ungeahnten moraliſchen Aufſchwung der Menſchheit.
Die Proſtitution verſchwindet, Mann und Frau wirken in voller Harmonie neben ein—
ander, jedes in ſeinem Beruf; das Kind, deſſen Ernährung ihnen leicht fällt, iſt ihr
ganzes Glück, und iſt es nicht ſo, verläßt er ſie: „ſie hat ein Kind und damit eine
Zukunft“. (Die höher entwickelte Frau will nämlich nach Ruth Bré „ſich mit einem
Kinde begnügen“, die Bevölkerungsfrage wird damit nebenbei auf die einfachſte Weiſe
geregelt).
Den Beweis dafür, daß das „freie Weib“ die Geſellſchaft ſo von Grund aus
verändern wird, bleibt Ruth Bré uns freilich vollſtändig ſchuldig. Denn ekſtatiſche Beteue—
) Das Recht auf bie Mutterſchaft. Leipzig 1903, Verlag ber Frauen Rundſchau.
Die Frauenbewegung und bas Recht auf die Mutterſchaft“. 195
tungen und gliubige Verficherungen find fein Beweis. Sie ruben iberall auf der Annabme,
dah mit der neuen Jnititution aud pliglich die Menſchen fic) ihrer ganjen pſycho—
logiſchen Anlage nad von Grund aus umwandeln werden.
Unzweifelhaft ijt es Ruth Bré heiliger Ernſt mit ibrer Gefellfchaftsrettung, und
von der Schuld, aus cinem Senfationsbediirfnis heraus — wie das jest nicht eben
felten ijt — dieſe Fragen aufgegriffen zu baben, ijt jie ficherlic ganz frei zu ſprechen.
Von ciner anderen Schuld aber nicht. Jn unferer ÜUbergangszeit, wo die Frauen obne
eigentliche geijtige Schulung pliglich vor große fosialethifche Probleme gejtellt werden,
laden nicht wenige fie auf ſich: die Schuld cines leichtfertigen Dilettantigmus, der fic
an die weittragendften Fragen wagt, ohne ihre Grundlagen ju beberrjden. Und wenn
es eine Frage gibt, die nur aus der reifften ſoziologiſchen Cinficht beraus angefaßt
werden fann, yu deren Löſung auf den verfchiedenjten Gebieten unferes wirtſchaftlichen
und fosialen Lebens anbaltende gabe Urbeit eingefest werden muh, fo ift eS die Frage
einer würdigeren Geitaltung der Che, und die Befeitiqung der entfeglichen Erſcheinungs—
formen der doppelten Moral. Dergleichen macht fic nicht über Nacht durd ein
phantaſtiſches Programm.
Denn wobl felten tit dieje Frage mit findliceren Mitteln angefaßt worden.
Etwas fritiflos iibernommene Bachofen'ſche Mutterrechtatheorien, Vebels „Frau“, pro-
qrammatijd ausgeprägte Ausfpriiche aus einigen nicht eben yu den beften yu rechnenden
modernen Frauenremanen, fubjeftive Empfindungen und von dieſen beeinflufte unzu—
reichende Beobachtungen in einem fleinen Lebensfreis: das find die Grundfejten, auf
denen ihre Theorie ftebt.
Einer ernſthaften Auseinanderjesung mit den Cingelbeiten von Ruth Brés Aus—
führungen bedarf es Daber nicht. Will man diefe Theorieen einer eingebenden Kritif
unterzieben, fo wird man fte bet ibren ernjter ju nebmenden und originaleren Ver—
tretern, Bebel und Carpenter, aufſuchen. Was die Frauenbewegung nötigt, von diefer
Brofebiire Notiz zu nehmen, ift alfo feineswegs ibre ſachliche Bedeutung. Es iſt viel:
mebr cinerfeits die Erwägung, dak bei der Kritiflofigfeit fo vieler Frauen die ftarfe
Reflame, mit der diefe Schrift und andere ähnlichen Anbalts vertrieben werden, doch
Erfolg haben könnte. Und andrerfeits ijt es der Umſtand, daß diefe Broſchüre in
ihrer unreifen Cinfeitigfeit eine ganze Richtung reprifentiert, cine RNichtung, die fic)
der Frauenbewegung immer wieder aufdrangen michte, und die fie deshalb im Intereſſe
ibrer Selbfterhaltung energiſch yuriidweifen mug. Das ift um fo notwendiger, als
die Frauen diefer Rictung fic als die eigentlichen Vertreterinnen der durch die
Frauenbewegung angeblid) zu wenig beriidjichtigten mütterlichen Inſtinkte der Frau
geberden und das heiligſte und ſelbſtloſeſte Gefühl in der Frau, das Muttergefühl, in
befonderem Mahe fiir fics in Anſpruch nehmen.
Im Hinblid auf diefen Anipruch wollen wir dod) ibr Schlagwort „ein Kind und
eine Zukunft“ nod etwas näher unterſuchen.
Wir können füglich abjeben von der diefem Dogma augenſcheinlich zu Grunde
lieqenden Annahme, daß das Rind des ,freien Weibes” weder ſtirbt nod) verdirbt,
fic) weder mit der Mutter auseinanderlebt, noch fie durch feine Charaftereiqenfcbaften
ungliidlich macht, wie dad den bedauernswerten Chefrauen Alteren Datums biswweilen
geſchah. Das alles muß wobl mit den pſychiſchen Wandlungen, die das ,,freie Weib“
bringen wird, unmiglich werden. Wir find eben im Reiche der Phantaſie, und fo
mag es denn gelten: cin Rind und eine Sufunft.
13*
196 Die Frauenbetvegung und bas Recht auf bie Mutterſchaft“.
Cine Zufunft fiir die Mutter nämlich, die ihrem CEmpfinden Geniige getan,
die fiir fic) cine Glücksmöglichkeit gefchaffen bat. Das ijt das Charakteriſtiſche fir
das Mutterfchaftsgefibl des freien Weibes“, daß nur die cigene Zukunft, nicht die
des Kindes cine Rolle fpielt.
Die wirflice, echte und darum felbjtlofe Mutterliehe aber wiirde fragen: wie
ftebt eS um die Bufunft ded Kindes? Welche Gliidsmbglichfeiten, welche Möglichkeiten
voller, freier, allfeitiger Entwicklung fcajft ibm die neue Gefellfchaftsform?
Als eigentliche Vorausſetzung diefer neuen Geſellſchaftsform gilt ausgeſprochener—
maßen der Grundjag, dak das Kind Cigentum der Mutter ijt. Es wird garnicht
einmal in Frage gezogen, ob bei der Trennung dieſer Chen, die ,,vielleict cin paar
Sabre, vielleicht ein paar Monate — oder Wochen” dauern — ,,bei mander Frau
vielleicht nur eine Nacht’ — nicht auch der Vater irgend welche Anſprüche an den
Beſitz des Kindes haben folle. Alleinjtehende „freie Weiber” mit einjigen „freien“
Rindern werden daher einen wwefentliden Beftandteil der zukünftigen Geſellſchaft
eines neu etablierten „Mutterrechts“ bilden. Gerade Ddiefen Kindern alfo, die dad
Recht des Weibes auf die Mutterfchaft fo recht eigentlich gu dofumentieren beſtimmt
find, werden alle die Glücks- und Entwicklungsmöglichkeiten entjogen, die das Auf—
wachjen in dev Familie, die Erziehung durd Vater und Mutter in fich fohliept.
Daf die Familie, fet es aus allgemeinen wirtſchaftlichen, fei es aus zufälligen individuellen
Urjacen, oft in Wirklichfeit nicht dieſe Entwidlungsmiglichfeiten gewährt, erſchüttert
nicht die Tatſache, dap fie als Inſtitution unendlich viel größere Garanticen dafiir
bietet, als cine einzelne Mutter fie ibrem eingigen Kinde gu bieten vermag. Und fo
hat ſich denn dod) tatſächlich die Familie als die Pflegeltitte der aufwachfenden
Weneration feit den Urjeiten der Menfchbeit entwidelt, fie hat, wie unvollfonumen fie
auch ingbefondere nod in bezug auf die Rechte der Frau fein mag, ein relativ
ficheres und feftes Dac fiber dem Kinde gebaut. Und nur unter diefem Dach ijt
dem Kinde eins gefichert, was von unferer verfeinerten Schätzung der Lebenstwerte
immer mehr in feiner Bedeutung gewiirdigt werden wird: der Aufbau feiner
qeijtigen Perſönlichkeit in ibrem individuellen Geprage, da8 nicht von der utter
allein, fondern von Mutter und Vater gefdaffen ijt. Auf der Möglichkeit, die
individuellen Werte, die mit einem neuen Menſchen der Welt geſchenkt werden, in
vollem Maße ju entfalten, berubt aber im Grunde der Reichtum und die Auf—
wartsbewequng unſeres geiftigen Lebens.
Wie fteht eS mit dieſer Möglichkeit bei den Chen, die ,,vielleidht ein paar
Sabre, vielleicht ein paar Monate — oder Woden, bei mander Frau vielleicht nur
cine Nacht“ dauern? Der grauſame Egoismus des Rechts auf die Mutterſchaft
ſchließt das Kind cinfad von feinem beften Recht aus. Er erfauft das eigene Glück
mit dem Glück der fommenden Generation.
* *
*
Wie fommt es, dah das geſchlechtliche Problem — denn um diefe3, nicht um
das Recht auf Mutterſchaft, handelt es fic im Grunde — beute von fo vielen
Frauen mit fo leidenſchaftlichem Nachdrucd disfutiert wird? Der Grund liegt flar
qenug auf der Hand. Die offenbare Polygamie de3 einen Geſchlechts — der er:
zwungene Cilibat fo vieler Ungebsriger des andern, die fo lange und ängſtlich ge—
wabrte Pritderie in der Erörterung ferueller Fragen, das alles hat zu einer Reaftion
Die Frauenbewegung und bas ,,Recht auf die Mutterſchaft“. 197
geführt, die nun ibren Wusdrud findet. Und fo mance Frau hat den Bli€ fo lange
ſtarr auf dies eine Problem geheftet, bis fie ſich an ihm blind geftarrt hat. Sie
ſchiebt ſchließlich alles Unbefriedigtfein, alle in ihrer Jndividualitit gegebenen
Hemmungen fiir ein volles Lebensgliid auf die cine Urſuche, mit der ibr dads
„Menſchenglück“ ſchlechthin verbunden ſcheint.
Worin beſteht denn aber eigentlich das Glück für den höher entwickelten
Menſchen?
Formal gefaßt in der Möglichkeit, ſeine Perſönlichkeit zu entfalten und zu be—
tatigen; in ethiſchem Sinne inhaltlich beſtimmt: in der Möglichkeit, den beiden großen
Worten zu genügen „wirket, ſo lange es Tag iſt“ und „nicht mitzuhaſſen, mitzulieben
bin ich da.“
Nur wo die Verbindung zwiſchen Mann und Weib auch der Frau eine ſolche
Möglichkeit gewährt, iſt ſie für ſie zugleich eine Glücksmöglichkeit — vielleicht, denn das
würde in der Natur der Dinge liegen, die höchſte. Aber, das zeigt die Begriffs—
beſtimmung, durchaus nicht die einzige. Und wenn der moderne Dichter, vielleicht
auch unter dem Druck der erwähnten Probleme, einzig das Weib ſieht, das nur
cin „Weibesſchickſal“ will, fo haben Größere vor ibm im Weibe den Menſchen
geſehen, der ein eigenes Menſchenſchickſal erlebt. Co ſprechen die dunklen Augen der
Antigone, dev zwingende Blick der Iphigenie von einem inneren Leben, das, losgelöſt
von der phyſiſchen Gebundenheit de3 Geſchlechts, fich ſelbſt erfiillt, indem es der Um—
welt fein eigenes Geſetz aufprigt.
Die Fragen aber, die heut fo tief und ſchmerzhaft in das Leben fo vieler Frauen
eingreifen, find nicht durd) Broſchürenweisheit gu löſeu. Ihre Urjachen Liegen fo weit
verzweigt in Den verſchiedenſten Gebieten unferes wirtſchaftlichen Lebens und der Welt
unferer fozialen Einrichtungen und ſittlichen Begriffe, dah fie unmöglich von cinem
Punkte aus gehoben werden fonnen. Die Frauenbewegung fann ihre Löſung nur mit
vorbereiten belfen. Der Kampf gegen die Proftitution, gegen den Alkoholismus, der
Kampf um beffere Urbeitshedingungen fiir die Frau, um gefundere wirtſchaftliche Ver—
haltniffe und im Zufammenbang damit vermebrte Heiratsmiglichfeiten, um eine geredtere
Regelung des Familiens und des Hffentlichen Rechts, cine tiefere Bildung, die alle
menſchlichen Beziehungen, vor allem die der Geſchlechter, adeln hilft, das alles find
ſchwerwiegende Faktoren fiir dieje Ldjung. Und die Frauenbewegung ift ſich felbjt
flar daritber, daß fie auf all dieſen Gebieten arbeiten mug, um dad feruelle Leben
auf eine natiirlichere und gefundere Baſis ftellen zu belfen, auf der fic) dann mit
anderen menſchlichen Verhältniſſen aud die Formen der Che entfprecend wandeln
können.
Immer aber wird der Frauenbewegung, der „organised mother-—love,“ eins
dabei maßgebend bleiben: das Glück der kommenden Generation.
198
arf der Chemann die Briefe seiner Prau öffnen?
Son
Dr. jur. Ernft Goldmann.
Nachdruck verboten. ae —
Du den wichtigſten Bürgſchaften der politiſchen und individuellen Freiheit gehört
QQ der geſetzliche Schutz des Briefgeheimniſſes, der heute im ganz Deutſchland
durchgeführt iſt. Die Zeiten, wo die Regierenden und ihre Beamten ſich das Recht
nahmen, die Briefe der Untertanen nach Belieben zu erbrechen und zu leſen, ſind
voriiber; es waren die Zeiten der abſolutiſtiſchen Willfiir. Ym konſtitutionellen Staate
gilt der Grundfag, daß das Briefgeheimnis unverletzlich ijt, und diefer Grundſatz ijt
dem modernen StaatSbiirgern fo widhtig erfdienen, dah fie ibn als ein „Grundrecht
der Ration” in die Verfaffungsurfunde aufgenommen haben. Er gilt aber aud) fiir
Diejenigen deutſchen Bundesftaaten, welche feine Fonjtitutionclle Verfaſſung haben; denn
das Reichsgeſetz über das Poftwefen vom 28. Oftober 1871 hat ibn als fiir das ganze
Reid verbindlich von neuem ausgefproden. Staatsheamte, welche das Briefgeheimnis
verlegen, insbefondere Poftheamte werden mit ſchweren Strafen bejtraft. Nur fiir
wenige Ausnahmefälle bat die Staatsgewalt die Befugnis erbalten, das Briefgebeimnis
zu verlegen, aber diefe Ausnahmen find durch bejondere Geſetze fanttioniert und können
nur im Wege der Gefesgebung eriveitert werden.
Das Briefgebeimnis bedarf aber des Schuges nicht nur gegeniiber dem Staate
und feinen Beamten, fondern aud gegeniiber jeder Privatperfon. Wer einen Brief
oder cine andere Urfunde verſchließt und adreffiert, vertraut darauf und darf darauf
vertrauen, daß mur der Mdreffat den Verſchluß öffnen und den Inhalt erfabren werde.
Der Verſchluß hat ja eben den Zweck, den Inhalt des Briefes der allgemeinen,
beliebigen Kenntnisnahme zu entziehen, die Vertraulichkeit des Inhalts unter den
Beteiligten zu ſichern. Wer den Verſchluß unbefugt löſt, greift alſo in die perſönliche
Rechtsſphäre des Abſenders oder des Adreſſaten ein, er macht ſich einer Rechtsverletzung
ſchuldig. Deshalb haftet er dem Geſchädigten mit ſeinem Vermögen für allen ent—
ſtehenden Schaden. Unſer Recht geht aber in der Abwehr ſolcher Einmiſchungen und
Ubergriffe noch weiter: der Störer des Briefgeheimniſſes wird obendrein in Strafe
genommen, ſobald es der Verletzte verlangt. Der § 299 unſeres Strafgeſetzbuchs
ſagt nämlich:
Wer einen verſchloſſenen Brief oder eine andere verſchloſſene Urkunde,
die nicht zu ſeiner Kenntnisnahme beſtimmt iſt, vorſätzlich und unbefugterweiſe
eröffnet, wird mit Geldſtrafe bis zu dreihundert Mark oder mit Gefängnis
bis zu drei Monaten beſtraft.
Die Verfolgung tritt nur auf Antrag ein.
Der Staatsanwalt erbebt die Anklage alfo nur dann, wenn der Verlegte die
Beftrafung ausdrücklich beantragt; wird aber der Strafantrag gejtellt, fo bat der Tater
cine Geldjtrafe, in febwereren Fallen cine Gefängnisſtrafe zu erwarten.
Darf der Ehemann die Briefe feiner Frau öffnen? 199
Der Wortlaut des § 299 zeigt jedoch, dag nicht jedes Eröffnen fremder Briefe
jtrafbar ijt, Wer nur aus Verfeben, aus Fahrläſſigkeit handelt, fann nicht beftraft
werden; nur die „vorſätzliche“ Brieferbredung wird geabndet. Bedeutungsvoller
al3 dieſe erjte Einſchränkung des Paragraphen ijt eine gweite, die fic) aus dem
Worte „unbefugterweiſe“ ergibt: nur die unbefugte Brieferdffnung ift ftrafbar. °
Rann alfo der Angeflagte fic) darauf berujen, dah er irgendwelche Befugnis hatte,
den Brief zu öffnen, obwohl er nicht an ibn adreffiert war, fo mup er von der
Anklage aus § 299 freigejproden werden. Man fann fic denfen, dak diefer Cinwand
pon den Angeflagten am baufigiten erhoben wird und dah er bet der Anwendung und
Auslegung ded § 299 die gripte Rolle fpielt. Wir müſſen uns deshalb die Frage
vorlegen: Wer ijt befugt, Briefe zu öffnen, welche nicht für ibn bejtimmt find?
Muf diefe Frage befommen wir weder von § 299 nod) von den anderen
Paragraphen des Strafgeſetzbuches eine Antwort. Auch die übrigen Gefese geben uns
feine erſchöpfende Musfunft. Wir müſſen die in Frage fommenden Faille vielmebr ans
verftreuten Geſetzesſtellen ſammeln, jum Teil fogar aus dem Geifte der Gefege und
aus der Natur der Redhtsverbialtnijje abguleiten fuchen. Cine Klaſſe folder Fille
haben wir ſchon erwähnt — die Fille, wo ausnabmsiveije die ftaatliden Organe
zu einem Gingriffe in das Briefgebeimnis legitimiert find. Es find im einzelnen
folgende Halle: Der Unterfucungsricter darf Briefe, die an den Beſchuldigten
gerichtet find oder von ibm herrühren, in Beſchlag nehmen und öffnen. Der Konkurs—
verwalter bat das Recht, die an den Gemeinjduldner gericdteten Briefe in Empfang
que nebmen und zu öffnen. Die Poftverwaltung darf unbejtellbare Briefe zur
Ermittlung de3 Wbfenders erbrecien. Alle dieſe Befugniffe beruben auf ausdriidliden
Geſetzesvorſchriften.
Wir gehen zu anderen Fällen über, die ſich nicht unmittelbar aus dem Geſetze,
wohl aber aus der Natur der Rechtsverhältniſſe ergeben. Hier ſei zunächſt hervor—
gehoben, daß man durch einen Auftrag oder dergleichen dazu ermächtigt werden kann,
die Briefe des Auftraggebers zu öffnen. Co kann der Hausgenoſſe den Hausgenoſſen,
der Vorgeſetzte den Untergebenen, der Chef den Angeſtellten zur Eröffnung von Briefen
ermächtigen. In allen derartigen Fallen ijt der Beauftragte zur Offnung befugt, er
handelt ja nur als Stellvertreter des Adreſſaten. Es gibt auch Stellvertretung
ohne ausdrücklichen Auftrag, Stellvertretung von Geſetzes wegen, und auch ein ſolcher
Stellvertreter ijt zur Brieferbffnung befugt. "So darf z. B. der Vorſitzende eines Vereins
oder einer Körperſchaft die an den Verein oder die Körperſchaft gerichteten Briefe
öffnen. Dem Stellvertreter ſteht der Rachfolger im Rechte gleich: der Erbe darf
die Briefe des verſtorbenen Erblaſſers, der Erwerber eines Handelsgeſchäfts die an
die Firma gerichteten Briefe öffnen.
Die Fälle der letzten Gruppe, der wir uns jetzt zuwenden wollen, gehören
ſämtlich dem Familienleben an. Das Recht der Brieferöffnung kann nämlich auch aus
dem perſönlichen Verhältniſſe der beiden Beteiligten, aus der Wutoritat des einen
gegenüber dem anderen entſpringen. Die Erziehungsgewalt, welche den Eltern zuſteht,
gibt ihnen das Recht und die Pflicht, die Korreſpondenz des Kindes zu überwachen,
ſeine Briefe zu öffnen und zu leſen. Das Geſetz hebt dieſe Befugnis zwar nicht
beſonders hervor, aber ſie folgt einfach aus der Natur der Sache. Die Eltern müſſen
ſich fortdauernd über den Verkehr, die Neigungen und Beſchäftigungen des Kindes
unterrichten, und es muß ihnen deshalb freiſtehen, die Briefe des Kindes zu offnen.
200 Darf ber Ehemann bie Briefe feiner Frau dffnen?
Das gilt ſowohl fiir die Briefe, welche an das Kind gerichtet werden, wie fiir die-
jenigen, welcbe das Kind an andere Perſonen ſchreibt. Cine Einſchränkung fann diefe
Befugnis freilich dadurch erfabren, dak der minderjabrige Sohn oder die Tochter
bereits cin öffentliches Amt befleidben; dann diirfen die Eltern natürlich nur ſolche
Briefe erdffnen, welche zweifellos nicht Amtsbriefe find. — Den Cltern ijt der
Vormund vom Geſetze gleichgeitellt, auc) ev hat das Recht und die Pflicht der
Erziehung feines Mündels, und deshalb ijt auc ibm die Befugnis zur Brieferöffnung
zuzuſprechen. Aber auch allen fonftigen Erziehern werden wir dieſe Befugnis zu—
erfennen müſſen; auch fie müſſen die Korreſpondenz ibrer Zöglinge frei überwachen fonnen.
Wir erachten desbalb die Leiter von Penfionen und ähnlichen Anjtalten für befugt,
die Briefe der ihnen zur Erziehung iibergebenen Perfonen zu öffnen. Nur der Briefe
wechſel der Ziglinge mit ihren eigenen Eltern oder Vormiindern ijt davon aus:
genommen.
In allen dieſen Fällen iſt es die Erziehungsgewalt, die Autorität des Erziehers
gegenüber dem Minderjährigen, die Das Recht zur Briefkontrolle begriindet. Die
Erziehungsgewalt erreicht ihr geſetzliches Ende mit der Volljährigkeit des Zöglings,
regelmäßig alſo mit der Vollendung des 21. Lebensjahres. Sie endigt dagegen nicht
mit dem Ausſcheiden des Minderjährigen aus dem elterlichen Haushalt. Das Aus—
ſcheiden fiihrt uur in einem Falle ſchon vor der Volljährigkeit bes Kindes zur
Beendigung der Erjiehungsgewalt: wenn cine minderjährige Tochter beiratet.) Das
Erzichungsrecht der Cltern hort aljo ftets mit der Verheiratung der Tochter auf. Tritt
nun etiva der Ehemann der Todjter an die Stelle der Eltern? Gebt anf ibn die
Erziehungsgewalt ber? — Nein! Das Biirgerliche Geſetzbuch erfennt nirgends ein
Erziehungsrecht des Chemannes gegeniiber der Ehefrau an. Cin folches Recht würde
fic) auch wunderlich genug ausnehmen; man braudt ſich nur vorzuftellen, dap
der Mann feine Fran jum Bwede ber Erziehung in cine Beſſerungsanſtalt geben
diirfte!
Wenn aber der Mann nicht der Erzieher der Frau ijt, fo bat er auch nicht die
Berechtigung, ihre Korreſpondenz zu überwachen und ibre Briefe yu öffnen. Das ijt
cine Schlußfolgerung, die ebenſo flar wie einfach ijt. Und dod) gibt es cine grofe
Anzahl von Yuriften, welche dem Chemanne die Befugnis juerfernen, die Briefe der
Frau zu Hffnen und zu lefen, und fie erftreden diefe Befugnis nicht bloß auf alle
Briefe, welche die Ehefrau empfingt, fondern auch auf alle Briefe, welche fie dritten
Perfonen ſchreibt. Sie gründen das Recht des Mannes zwar nicht auf ein Erziehungs—
recht, wohl aber auf das vom Geſetz gewollte Nbergewicdht des Mannes in der Che.
Deshalh ift es aud) nur cin Recht des Manned, nicht etwa cin gegenfeitiqes Recht
der Chegatten. Wls Vertreter diefer Anſicht nennen wir die Kriminalijten Blum,
von Kirchmann, Franz und Hugo Meyer und Schwarze, denen ſich in neuefter
Beit aud Delius angefehloijen bat.2) Cine mibere Begriindung geben diefe Schrift:
fteller nict; das bat aber Profeffor Kobler in feinem Aufſatze über „Das Recht an
Briefen” (1893) getan, auf den wir ſpäter noch ju fprechen fommen.
') Bergl. § 1633 des Biirg. Gefekbuchs. Wir bemerfen dazu, dak die Frauen mit 16 Jahren
heiratsfähig werden, wabrend bie Manner nicht vor der Volljabrigteit heiraten dürſen. Deswegen
beſchäftigt fic § 1633 nur mit ben Töchtern.
*) WS Herausgeber der 14. Muflage des verbreiteten Kommentars jum Strafgeſetzbuche von
Dppenboff (1901), beim § 299.
Darf der Chemann bie Briefe feiner Frau sffnen? 201
Wenn wir die Richtiqfeit diefer Anficht, die fich auf das Rechtsverhältnis zwiſchen
Mann und Frau ftiigt, nachpriifen wollen, müſſen wir das fogenannte perjintiche
Cherecht des Bürgerlichen Geſetzbuchs näher betradsten. Cs fommen für unjer Thema
nur die §$ 1353 und 1354 in Betracht, in erfter Reihe § 1354. Er bat folgenden
Wortlaut:
Dem Manne ftebt die Enticheidung in allen das gemeinfchajtliche Leben
betreffenden Angelegenbeiten ju; er beſtimmt insbefondere Wohnort und
Wohnung.
Die Frau iſt nicht verpflichtet, der Entſcheidung des Mannes Folge zu
leiſten, wenn ſich die Entſcheidung als Mißbrauch ſeines Rechtes darſtellt.
Daß dieſe Beſtimmung des Geſetzes dem Manne ein Übergewicht über die Frau
verleiht, daß danach der Mann in allen das gemeinſchaftliche Leben betreffenden An—
gelegenheiten das letzte Wort hat, iſt ſicher; unſicher aber iſt, welche einzelnen Angelegen—
heiten unter dieſe Beſtimmung fallen. Das Geſetz führt als Beiſpiel die Wahl des
Wohnorts und der Wohnung an, überläßt es aber im übrigen der Wiſſenſchaft und
dem Richter, feſtzuſtellen, ob eine Angelegenheit das gemeinſchaftliche Leben der Eheleute
betrifft oder nicht. Wollen wir entſcheiden, wie weit das Beſtimmungsrecht des Mannes
reicht, ſo müſſen wir dem Willen des Geſetzgebers tiefer nachſpüren und aus der Ent—
ſtehungsgeſchichte des Paragraphen zu ermitteln ſuchen, welche einzelnen Angelegenheiten
gemeint ſind. Dort finden wir in der Tat die nötige Aufklärung.
An der Reichstagskommiſſion, welche über den Entwurf beriet, fand der § 1354
ſtarken Widerſpruch. Einige Mitglieder verlangten die Streichung des Paragraphen,
weil er die Ehe zu einem Hörigkeitsverhältnis für die Frau geſtalte, während man die
volle Gleichberechtigung beider Teile in der Ehe feſtſtellen müſſe. Die Mehrheit der
Kommiſſionsmitglieder war aber der Anſicht, daß der Mann das natürliche Haupt der
Ehe ſei und daß die Frau ſich bei Meinungsverſchiedenheiten ihm unterordnen müſſe,
weil ſonſt die Familienbande gelockert würden. Der Paragraph wurde alſo nicht
geſtrichen. Bet der Beratung im Plenum des Reichstags wurde aber der Widerſpruch
pon neuem rege. Die Abgeordneten Traeger und Ridert traten in längeren Reden
fiir Die Streichung des § 1354 ein, und die Sosialdemofraten ftellten fogar den Antrag,
die volle Gleichberechtigung der Ehefrau ausdriidlich im Gejege auszuſprechen.,) Namens
der Reichsregierung trat ihnen Gebheimrat Prof. Bland als Verteidiger des § 1354
entgegen. Seine Ausfibrungen find von der größten Wichtigfeit, weil er der Haupt—
redaftor ded Biirgerliden Gefeghuchs, auperdem aber der fpesielle Bearbeiter des
Familienrechts gewefen ijt. Wand bat damals folgendes ausgefiibrt:
Die Auffaffung, dak der § 1354 eine Vorherrſchaft des Manned in der Che
begritnde, ijt nicht richtig. Sum vollen Veritindnis de3 § 1354 mup der § 1353
herangesogen werden, deſſen erjter Abjag lautet:
Die Chegatten find einander zur ebelichen Lebensgemeinſchaft ver—
pflichtet.
Hier iſt der grundlegende Satz des ganzen perſönlichen Eherechts ausgeſprochen:
die Eheleute ſollen ihre Lebensgemeinſchaft ſo einrichten, wie es die rechte eheliche
) Der Bund deutſcher Frauenvereine ſchlug in ſeiner Petition an den Reichstag vor, bem § 1854
folgende Faffung gu geben: ,, Qn den bas gemeinidhaftlide Leben bhetreffenden Angelegenbeiten entſcheidet
gegenfeitiges Ubereinlommen.“
202 Darf der Ebemann bie Briefe feiner Frau öffnen?
Geſinnung erfordert. Das Geſetz beftimmt alfo nicht, dah der Mann in der Che mebr
qu fagen bat als die Frau, fondern beſtimmt muir, daß jeder der Chegatten von jeiner
Selbſtändigkeit foviel zu opfern hat, al das Wefen und das Ynterefje der Che erfordert.
Nach diejem Pringip find alle ſchwereren Ronflifte der Chegatten gu löſen; find fie
unlisbar, fo bleibt als legter Ausweg nur die Scheidung übrig. Das Gefeg erfennt
alſo ſtillſchweigend die grundſätzliche Gleichberechtigung beider Ehegatten an. Die Vor-
ſchrift, welche der § 1354 gibt, bat mit diefer PBringipienfrage nichts ju tun; fle hat
nur die taujendfaltigen Fragen des täglichen Lebens im Auge, die doch entfdieden
werden miifjen, wenn die Cheleute cine wirtſchaftliche Gemeinſchaft führen follen. Gerade
deshalb, weil beide Chegatten gleichberechtigt find, muff das Gefes beftimmen, was bei
Meinungsverfdiedenheiten in diefen Fragen gefdeben ſoll. Es handelt ſich aljo mir
um Fragen des praftifeen Leben, wie die Wahl der Wohnung und des Wobnorts.
Fernere Beifpiele bilden die Fragen, wie das gemeinjdaftliche Leben einzurichten ijt,
in welchem Zimmer gewobnt, um welde Zeit gegeffen werden foll, — alles duferliche,
an ſich gleichgiltige Dinge, welche das innere Weſen der Che nicht beriibren. Hier
fol nun die Meinung de3 Ehemannes mafgebend jein, weil das der natürlichen Wuf-
fafjung entipricht.
Damit haben wir die Anficht Plands und den wabren Sinn des § 1354 wieder:
gegeben, und wir wiſſen jest, Daf die Worte ,,alle das gemeinſchaftliche Leben betreffenden
Angelegenbeiten” ſich nur auf ſolche Angelegenbeiten beziehen, welche ſich aus der
äußerlichen, praktiſchen Lebensfithrung ergeben. Es ijt ganz verfeblt, aus § 1354
eine eheherrliche Gewalt oder ebeberrlide Vormundſchaft berjuleiten. Die Frau des
Biirgerlichen Gefeghuchs fteht als gleicbberechtigte Perjinlicfeit neben dem Manne,
fie ijt nicht weniger miindig, als er eS ijt. Ferner betrifft der § 1354 nur folde
Angelegenbeiten, welche beide Chegatten gleichermaßen angeben, alfo reine Che:
angelegenbeiten. Weiter reicht dad Beſtimmungsrecht des Mannes nicht. Mus dem
§ 1354 fann deshalb eine Befugnis des Mannes, dic Briefe der Frau zu eröffnen,
nicht entnonunen werden. Der Mann kann nicht fagen: die Frage, ob id) die Briefe
meiner Frau öffnen darf oder nicht, entſcheide ic) Dabin, dak ich mir dieſes Recht
sufpreche. Denn die Rorrefponden; der Chefrau ift Feine dads gemeinſchaftliche Leben
betreffende Ungelegenbeit, — fo wenig wie die Des Mannes. Man wird dagegen ein:
wenden, daß ſich der Briefweehfel inunerhin auf gemeinfchaftliche Angelegenbeiten im
Sinne des § 1354 beziehen könne. Diefer Cimwand ijt aber nicht fticbaltig, weil
der Briefwedfel felbjt durch feinen Inhalt noch nicht cine gemeinſchaftliche Angelegenbheit
wird: das Norrefpondieren als folded iſt cine eigene WAngelegenbeit jedes Che:
qatten, Das Brieferdffnungsrecht des Mannes würde alfo einen Cingriff in das
Sndividualredt der Frau bedeuten, eine VBevormundung, die ihre perfſönliche Würde
verlebt.
Kohler freilich meint in feinem bereits genannten Auffag, der Mann miiffe
Cinblic in alle Besiehungen der Frau haben, er habe das Recht, alle das Cheleben
ftérenden Cinfliiffe absuwenden, er fei der Wabhrer der Würde des Haufes und ibn
treffe 8, wenn die Chre des Haufed einen Makel erfabre. Deshalb dürfe der Mann
bie Briefe der Frau öffnen. Wir aber meinen, daß die vow Robler aufgefibrten
Cigenfcbaften und Redte gerade fo gut der Frau wie dem Manne jufommen, dag die
Frau nicht weniger als der Mann die Ehre und Würde des Haufes yu vertreten hat.
Much fonft gibt Kobler hier merkwürdige Anſchauungen yum Velten, Rach feiner Anſicht
Darf der Ehemann die Briefe feiner Frau Sffnen? 2038
darf nämlich der Mann Briefe an die Frau einfach fiir jich behalten, wenn er glaubt,
daß fie zur Mitteilung an die Frau nicht geeignet find; ex braucht ihr nur mitzuteilen,
daß er auf die Briefe Befchlag gelegt babe. Hat der Chemann Grund yum Verdadt
der Untreue, fo darf er die Briefe der Frau fogar ſtillſchweigend zurückbehalten, um
fie im Scheidungsfalle als Beweismittel yu verwerten. Die Frau bat ibrerfeits fein
Derartiges Kontrollredt gegen den Mann, auch nicht fir den Fall, dag fie quten Grund
zum Verdacht de3 Chebruchs hat. Denn das ware „ein ſchwerer Cingriff in die dem
Ehemann jujtebende Autoritat und Obmacht“!! Auch ein Durchwiiblen der Schränke,
die Der Mann aus Verfeben unverſchloſſen lick, wire nach Kobler cin ſchwerer Frevel
der Frau, und das Gericht muß nad) feiner Anjicht einen auf ſolche Weiſe erlangten
Brief als Beweismittel ablehnen!! Danach darf alfo der Mann dem Chebruch der
Frau rückſichtslos nachfpitren, die Frau aber dem Chebruch des Manned nicht, —
denn der Mann ift ja „der Wabrer der Wiirde des Hauſes“! — Wie man folche
Ungerechtiggeiten heute nod fiir Recht ausgeben kann, ijt geradezu unverſtändlich.
* ¥
*
Mus § 1354 des Bürgerl. Geſetzbuchs Lift ſich alſo die Befugnis des Ehemannes
sur Bricferdffnung nicht berleiter. Man fann aber verfucht fein, fie auf den zweiten
in Frage fommenden Paragraphen zu ftiigen, auf den Sag des § 1353: ,, Die Chegatten
find ecinander zur ehelichen Lebensgemeinſchaft verpflidtet.” Nach diefer Vorſchrift
müſſen die Ehegatien alle diejenigen Pflichten gegeneinander erfiillen, welche die edhte
und recite She erfordert. Zu diefen Pflichten gehört zweifellos auch die vollſte
gegenfeitige Aufrichtigkeit; das bedarf feines Beweiſes. Man fann nun daran denen,
aus der Pflicht der Ehefrau zur Aufrichtigkeit das Recht des Mannes zur Brieferöffnung
berjuleiten. Tut man das, fo muß man fiir alle Fille auch dev Frau das Rect geben,
die Briefe des Manned ju Hffnen; denn die Verpflichtung zur WAufrichtigheit beftebt auc
fiir den Mann. Wir find aber anderer Meinung. Aus der Pflicht des einen zur
Aufrichtiqteit folgt noch nicht das Recht des anderen zur Brieferdffmmg. Rann aud)
jeder Chegatte verlangen, daß ihm der andere alle fiir ibn widhtigen Angelegenheiten
mitteilt, fo darf er dieſe Mitteilung dod) nicht durch Gewaltmaßregeln erjwingen.
Die cigenmachtige Offnung der Bricfe des anderen Chegatten wäre cine Geiwaltmapregel,
Die im Widerſpruch mit der perſönlichen Achtung fteht, auf welche die Ebegatten gegen:
feitiq Anfpruch baben. Colche Mafregeln find geradezu geeignet, das Bertrauen und
die innere Gemeinſchaft zu vernichten.
Man kann ſagen, wo der Mann die Briefe der Frau gegen ihren Willen öffnet,
da iſt der eheliche Friede bereits geſtört, da lebt man nicht mehr in der rechten
Ehegemeinſchaft. Je mehr ſich aber Eheleute einander entfremden, deſto weniger iſt
das Offnen von Briefen zu rechtfertigen. Wo die volle innere Lebensgemeinſchaft
nicht mehr vorhanden ijt, da entfallen die ſittlichen Pflichten des § 1353, alfo
auch die Pflicht zur Aufrichtigkeit. Tritt noch die Aufhebung der äußerlichen
Gemeinſchaft hinzu, trennen ſich die Eheleute auch räumlich, ſo hört das Brief—
eroffnungsrecht ganz gewiß auf. Und doch kommen gerade in dieſen Fallen Vergehen
des Mannes gegen § 299 des Strafgeſetzbuchs am häufigſten vor. Die Frau bat den
Mann verlajen, aber ihre Briefe werden weiter in der Ehewohnung abgegeben; da tt
die Verfuchung fiir den Mann, die Briefe yu erbrechen und fic) auf dieſem Wege
204 Darf der Ehemann die Briefe feiner Frau öffnen?
viclleicht Beweismaterial gegen die Frau gu verſchaffen, befonders groß. Selbſt unfere
Gegner geben zu, daß der Mann bei diefer Saclage das Briefgeheimnis verletzt und
beftraft werden muß.
Es fpredien noch andere Griinde gegen den Verſuch, das Brieferdffnungsrecht
aus § 1353 des Biirgerl. Geſetzbuchs bherjuleiten. Die Pflicht yur Aufrichtigheit ijt
nicht fo zu verſtehen, daß jeder Ehegatte bis in die kleinſten Kleinigkeiten offen fein
miifte, daß er keine einzige Angelegenbeit, feinen einzigen Gedanten fiir fid) bebalten
dürfte. Man darf die fittlichen Pflichten nicht tiberfpannen. Zwei Cheleute find immer
nod) zwei felbjtitandige Menſchen, fie werden durch die Che nicht yu einer einzigen
Perjon. Jeder Chegatte behält eine Menge eigenen Fühlens, Denfens und CErlebens
zurück, aud) wenn er fics dent anderen mit voller Seele hingibt: es gibt nicht nur
materielles, fondern aud) ſeeliſches Vorbehaltsgut, und diefes Vorbebaltsqut wird um
fo groper fein, je verfcbiedener das Paar nad Herfunft, Erziehung und Erfabrung ijt.
Vor dieſen Tatjaden des wirflichen Lebens muß die Pflicht zur Wufrichtigfeit
Halt machen, und infoweit mug natiirlich auch das Briefgebeimnis unter Cheleuten
geſchützt fein.
Nod eine weitere, ſehr wichtige Erwägung ſpricht gegen das Brieferdffnungsrecht
des Chegatten, die Erwagung, dak nicht nur Gebeimniffe der Chegatten, fondern oft
aud: Gebeimnijje anderer Perfonen im Spiele find. Es ift nichts Seltenes, dah
ein Mann dem Chemann, eine Frau der Chefrau Mitteilungen macht, Gedanfen und
Tatjaden anvertaut, die nicht fiir den anderen Ehegatten beftimmt find. Wir brauden
beijpielsiveife nur an Chrenhandel beim Manne, an Frauenangelegenbeiten bei der Frau
ju denfen. Gibt man in diefen Fallen dem anderen Ehegatten das Recht der Brief:
erdffnung, fo greift man gefegwidrig in das Briefgebeimnis dritter Perjonen ein.
Eigentlich müßte ſchon Ddieje eine Nberlegung geniigen, um unfere Anjicht, daß der
Mann die Briefe feiner Frau nicht öffnen darf, yu rechtfertigen.
Noch ſicherer wird dieſes Ergebnis, wenn wir die Haufigen Faille ins Auge fafjen,
wo einer der EChegatten ein Amt befleidet oder einen Beruf ausiibt, welde yur Ver—
ſchwiegenheit verpflicten. Wo bleibt die Schweigepflicht des Staatsbeamten, wenn die
Chefrau feine Briefe öffnen darf? Wo bleibt die Pflicht des Rechtsanwalts, de3
Notars, des Arztes, de3 Apothefers und der Hebamme und ibrer Gebilfen, die ibnen
anvertrauten Brivatgebeimnijje der Klienten und Patienten zu verjdweigen, wenn die-
Ehefrau oder der Ehemann deren Briefe öffnen dürfen? Man bedenfe nur, dah diefe
Perfonen wegen Offenbarung folder Privatgebeimnijfe in Strafe genommen werden
finnen! Nad der herrfchenden Anficht ift es Der Ehefrau allerdings unterfagt, die
Briefe des Mannes ju eröffnen, und damit wird diefer Teil der Falle erledigt; foll
aber fiir die Hebamme und die Arztin etwas anderes gelten? Oder fiir die gablreichen
Gebilfinnen der Rechtsanwalte und Apothefer? Für diefe Fälle müſſen auch unfere Geqner
sugeben, dah der Chemann das Recht yur Brieferöffnung nicht haben darf, und diefe
Ausſchließung muß ſich auf alle Briefe der Frau erftreden; denn der Aupenfeite des
Briefes fann man es faſt niemals anjeben, ob er cin beruflicher oder privater Brief
ijt. Unfere Gegner feben in diefen Fallen nur Ausnabmen vom Pringip; wir aber
feben darin eine neue und febr kräftige Beſtätigung der Anficht, dak fein Ehegatte die
Briefe des anderen eigenmächtig öffnen darf.
* *
*
Darf ber Chemann bie Briefe feiner Frau Sffnen? F 205
Wir find am Ende unferer Unterjucdung. Sie hat uns gezeigt, daß der Ehemann
das Briefgebeimunis feiner Frau nicht weniger gu achten hat als jede andere Perſon.
Auch er wird, wenn er das Briefgeheimnis verletzt, gemäß § 299 des Strafgeſetzbuchs
beftraft, wenn es die Ehefrau beantragt.') Natiirlich find folche Anträge felten, folange
die Eheleute zuſammen leben; die meijten Strafantrage diejer Art ftammen von Ehe—
frauen, die getrennt von ibrem Manne leben. Das geſetzliche Pringip erfabrt übrigens
aud eine gewiſſe Einſchränkung: jeder Chegatte ift als befugt yur Eröffnung eiliger
Briefe des anderen Chegatten zu erachten, wenn legterer ſchwer krank oder auf längere
Beit verreift ijt; er bandelt dabei ale Vertreter des Adreſſaten in deſſen eigenem
Intereſſe. Jn der Praris wird es auc nocd andere Fille geben, wo der Richter
nach den befonderen Umſtänden ded Falles die Brieferöffnung fiir erlaubt und gerecht—
fertigt anfeben fann; aber dieje Falle ändern nichts an bem Prinzip, welches wir als
den wabren Willen des Geſetzes ermittelt baben.
Werfen wir ſchließlich noch einen Blid auf das ausländiſche Rect, fo finden
wit nur cin einjiges Gefegbuch, das den Ehemann ausodriidlich yur Brieferöffnung
ermiachtigt; es ijt das fpanifde Strafgefegbud (art. 512). Jn Frankreich gibt es
nod) fein Strafgefes gegen die Verlepung des Briefgebeimniffes durch Privatperjonen;
die bürgerlichen Gerichte aber fteben auf dem Standpuntt, daf der Ehemann den Brief:
wedfel der Frau fontrollieren und die Briefe Hffnen darf. Das hangt wohl mit der
befonderen Auffajfung zuſammen, die die Franjofen von der Stellung ber Chefran
haben; es walten bier Ddiejelben riidftandigen Anfchauungen, die bet uns Robler
vertritt. In England ijt cin folded Privileg des Chemannes nicht anerfannt; Kohler
lieft es falfchlid) aus der Post office Act von 1891 heraus. Jn Italien endlich ijt
die Rechtslage diefelbe wie bei uns. Der art. 159 des codice penale beginnt vie
unſer § 299 mit ben Worten: chiunque apre indebitamente una lettera etc., und
fagt auch nicht, wer eigentlich) indebitamente (unbefugt) bandelt. Deshalb fireiten fid
auch dort die Qurijten dariiber, ob der Ehemann die Briefe feiner Frau öffnen darf
oder nicht. Wabrend 3. B. Pincherli die Frage bejabt, hat ſich Giannini (Archivio
giuridico Bo. 47, S. 620) obne Einſchränkung ju der von uns vertretenen Anſicht
befannt; ob ibm die italienifcben Gerichte gefolgt find, baben wir leider nicht feſt—
ftellen fénnen. ,
—— an
1) Erfreulicherweife hat fic auch ber Oberreichsanwalt Olshaufen, ber angefebenfte Interpret
des Strafgeſetzbuchs, in ber neueften Auflage feines Kommentars (1901) auf diefen Standpuntt geftellt,
fo daß cine Wandlung in ber herrſchenden Rechtsanſchauung gu erwarten ftebt.
206
Jn neuer Spiegelung.
W. Fred.
Raddrud yerboten. —ñNin ⸗
pad bin nicht Mutter, habe keine Mutter,
bin fein Geſchwiſter, babe fein Gefchwifter,
lieg’ vor der Tir und bin bod nicht der Wachhund,
ic red’ und ftebe dod) nicht Rede, lebe
und lebe nicht, bab’ langed Saar und fiible
doch nichts von bem, mas Weiber, beift es, fühlen . .“
KR verlafjener, in der Tiefe der Brujt verjengter Menſch kreiſcht febrill auf... .
v5 Hamletiſch' Schidjal ijt einer Frau beſchieden geweſen. Taufendfach verſtärkt,
verſchärft durch niedrigite Demütigung, durch vollfte Einſamkeit tragt cin Weib in fid
des Dinenpringen Rachepflicht und Rachelujt. Das Kind fiillt der cine Gedanke, Blut
mit Blut zu fiibnen, der Jungfrau löſt die Scam, die Schleier, die fonft der Welt
Schreden bold verbiillen, eine grauſe Vorjtellung: das Richtbeil yu ſchwingen. Und
wenn eine Hoffnung nad einem Menſchen auffeimt, wenn Liebe zu Schweſter und
Bruder quillt — fo ijt auch ſolcher Sehnſucht Ziel nur gellende Race, Blutdurjt, ein
Taumel graufamfter Vergeltung. Das Haupt ijt ausgebrannt, die Seele ift verzehrt,
aus einem jungen Weib bat die Kraft fremder Triebe cine Crinve gemacht, cine gierige
Mänade, cin wildes Tier, das cine Luft nur beherrſcht, cin Zukunftswunſch zerfreſſen
hat: den Mord am Vater foll der Tod der Mutter und des Bublen aufwägen. Des
Weibes Schidjal ijt ibr fremd; fie bat erlebt, wie Kinder ihre Miitter haſſen, verachten,
in elenden Tod hegen; fie fann nicht wünſchen, daß ibrem Schoß eine beilige
Frucht erwadfe, cin neues Leben fich von ihrem löſe, das ibrem doch auf ewige Zeit
gu Luft und Leid verbunden iſt .. .. Diefe kräftigſte Melodie tint nicht im Obr
Elektras. Die Kindespflicht hat ihr die Mutterfebnfucht aus dem Herzen geriffen.
Die zarte, warme Schweſter Chryfothemis ift voll von diefer Weisheit, diefer Sehnſucht.
Einen geliebten Mann will fie, und fei’s ein armer Knecht. Die Laft werdenden Lebens
will fie fpiiren; ſchwer tragen und ſchmerzlich gebdren; die lang verbaltene Mutterluſt
endlich ausſtrömen laſſen, „aus ſchweren Briiften Rinder faugen”. Reich werden, wie
fie bisher allju lange Zeit arm war. Reich wie nur Mütter find — arm wie nur einjame,
abjterbende Pflänzchen. Neben Elektra wuchs die Chryſothemis im gleichen Schickſal,
zu fo abgründig wverfciedener Art. Die Vergangenheit yu ſühnen iſt Elektra auf der
Welt; und ibre verdorrten Arme find zu ſchwach yur Tat. Sie fann fie nur aus:
ftreden nad Oreft, dem Bruder, der vollbringt, wonach fie lechzt. Wn ibr vorbei aber
wuchs die kleine Schweſter, der feine Heldengröße, feine Ubermacht heroiſcher Gefiible
die Brujt fprengt, die Feine aufs duferfte geſpannten Nerven, aber wache, verlangende
Sinne hat, und begebrt die Bufunft, des Weibes Schidfal. Und wir, in neuen Gefiibls-
In neuer Spiegelung. 207
freifen erwachſene Menfchen, erfeben die Tragif de antifen Mythos mit taufendfaltigem
Schmerz, in quialendjter Erfchiitterung gerade durch dieſes Gegenfpiel und Gegenbild,
durch dieſes neue Moment, das der antifen Faffung fremd, der Götterſage nie eigen
geweſen ijt.
Darum ift die „Elektra“ de Wiener Kiinjtlers Hugo von Oofmannsthal')
eine neue Dichtung, fo neu wie Goethes Aphigenie, wie irgend eines ewigen Stoffed neue
Durchdringung eben fein Fann. Die Scenenfolge mag da und dort dem Sophofles
genommen fein. Das, was allein ciner Dichtung die Form und das BWefen gibt:
die Gruppierung, der Untergrund von Stimmungen und Gefiiblen, aus denen die
Geſchehniſſe erwachfen, ijt frei von aller antifen Art. Denn der Sinn der
Dichtung — antifer Seele weit fremder als unferer — ijt die bange Frage: Müſſen
wit die Vergangenheit fortzeugen laſſen, müſſen wir unfrudtbar bleiben, der Zukunft
verſchloſſen? Rinnen wir nicht aus dem Finftern ins Helle ſchreiten, der anderen,
die wir geftern und ebedem waren, Ungliid vergeffen und alle Rache fein laffen?
Der Weiber Amt ift neujufniipfen . . .
Wie fic) die Menſchen unter der Fault des übermächtigen Schickſals eriveijen,
zeigt die Tragödie. Menſchen, anne, nervife, gepeiticdte Menſchen find die Geftalten
der Hofmannsthalfchen Cleftra; der Götter und Halbgötter Reich ijt zermorſcht,
jerflattert. Und indes Elektras grauenvolle Krankheit, ibre irre Ceele uns peinigt,
indes Klytaimneſtras Unjeligheit uns in der abfcbeulichjten, untrenen Gattenmbrderin
die arme Geplagte verfpiiren Lift, und die endliche Sühne Cleftras Leste Cnergien in
einen twiijten Tanz zuſammenpeitſcht — iwebt von der Frucstbarfeit der Chryſothemis zu
uns ein ftarfer, voller Duft der Menfeblichfeit. Und um fo graufer erleben wir
die Tragödie.
„— — — & ich fterbe,
will ich auch leben! Rinder will ic) haben,
bevor mein Leib verwellt, und war's ein Bauer
bem fie mich geben, Kinder will ich ibm
gebiren und mit meinem Leib fie wärmen
in falten Nächten, wenn ber Sturm bie Hiitte
zuſammenſchüttelt . . .”
„— — Dit Meffern
grabt Tag um Tag in dein und mein Geſicht
fein Mal und draufjen geht die Sonne auf
und ab, und Frauen, die ich ſchlank gefannt bab’,
find ſchwer von Segen, mühen fic) gum Brunnen
und beben faum ben Gimer, und auf cinmal
find fie entbunden ibrer Laft und fommen
jum Brunnen wieder und aus ihnen felber —
rinnt ſüßer Tranf und faugend hangt ein Leben
an ibnen, und die Rinder werden groß —
und immer figen wir bier auf der Stange
wie angebangte Vogel, toenden links
und rechts ben Ropf und nicmand fommt, fein Bruder,
tein Bote von dem Bruder, nicht der Bote
von einem Boten, nichts! Biel lieber tot,
ala [eben und nicht (eben. Rein, ich bin
ein Weib und will cin Weiberſchickſal.“
) Die Buchausgabe: Bei S. Fiſcher, Berlin 1903,
208 Sn never Spiegelung.
— — — , Cin Weib und will ein Weiberjcidjal”; das ijt der neue Ton.
In dieſen prachtvollen Berjen ijt der Riinjtler Hugo von Hofmannsthal ein eigener
und voller Dichter geworden. Die verdorrte Eleftra, ein gebegtes, wilde} Tier und
Chrvjothemis, in der alles nad Fruchtbarkeit, nach neuer Zufunft drängt — das it
die neue Spiegelung, die der ewige Stoff von der Mütter Sünde, dem fortyeugenden
Verbrechen, der tragiſchen Schuld bis ins ferne Gefcblecht erhalten bat.
(Hier muß angemerft werden, dak im „Kleinen Theater” yu Berlin, dem wir
die endliche Lofung vom gleichgiltigen Theaterfpiel mehr oder weniger zu danfen
haben, Frau Evfoldt und Fraulein Höflich dieſe beide Frauen mit einer Kraft und
Gripe geftaltet haben, dak feine Seele unerſchüttert bleiben fonnte.)
* *
*
Das neue Trauerfpiel Gerhart Hauptmanns „Roſe Bernd“) zeigt Gleiten,
Kämpfen, Irren, Zerſchellen und Ermatten einer armen Magd. Sie wird ſündig, es
ijt ihr Schidjal fiindiq ju werden. Man kann keinen anflagen, daß fie es ward, aud
jie nicht. Oder man muh fie alle Verbrecher heißen, die dieſes friſche Rind ins
Straucheln brachten und allein liefen und demiitigten und in Wirrjale führten, denen ibr
gerqualter Leib und ibre zage Seele nicht Wideritand balten fonnten; und man muß
jie felber ſchelten, ſie eine Dirne und ein ſchwaches Geſchöpf und cine Kindesmörderin heißen,
die Dod) nur wie alle um fie den Trieben nicht wideriteben Eonnte, den Gewalten der
swingenden Natur. Die wirklich practvolle Geredhtigheit, mit der Gerbart Hauptmann
den Menſchen ſeines Schaufpiels Fruchthares und Hemmendes, Starfes und Schwaches
zuteilte, ſodaß man fie alle begreift und feinen einzelnen als Böſewicht und Schuld—
triger bezeichnen fann, — ift mir denn auch das Schönſte an dieſer Dichtung, die
leider auch diesmal ſchlackenhaft und unficher, noch nicht yur Fille und Reife gedieben,
aus des Dichters Hand ins Bühnenhaus getragen wurde.
y dia fellde vielleicht dod ane Mutter ban...” fo bricht es aus Rofe Bernd
hervor, die allein im Unglück ftebt trop mancer Liebe, die fic ihr juneigt. Der
Vater ijt ihr fern, in pietiſtiſch frömmelnder Enge begrenzt; der Bräutigam fceint der
natiirliche Feind des Madchens, die einem anderen Mann gebirt hat; der Verführer,
der Geliebte ijt unfrei, und fie trennt fic von ibm, um ibrem Kinde cinen Vater ju
geben; einer gütigen Frau, die belfen will, fann fie fich nicht offen hingeben, denn
die ijt des Geliebten Chefrau. Und eine Mutter hat fie nicht, die nun ſelbſt Mutter
werden foll.
Die Rofe Bernd ijt ein herzhaftes, ſchönes, kräftiges und braves Mädel geweſen,
und lange bat es fie nicht angefodten, daß ibr die Manner immer iiber den
Weg gelaufen find und ihrer jungen Kraft nachgeſtellt haben. Bis dann die Liebe
auffuntelte, und Wald, Wiefe, Weidenbujd und Sonnenſtrahl Seuge der Zärtlichkeit
wurden, die fie mit Chriftian Flamm vereinte. Sie lieben fich, aber fie können nicht
zueinander; denn Flamm, der Wohlhabende unter den Landproletariern, yu denen Roſe
qebort, bat daheim eine franfe, gebrechliche Frau ſitzen, dev er äußerlich wie innertich
fiirs Leben werbunden ift und die vom Rollftubl aus durch Vretter feben fann, Flug
und gut ift, die milde Weife diefes Menſchenkreiſes. Sie bats erfabren, wie das mit
Mannern und Weibern ijt, die vom Geſchlechte gebebt werden, und fie, deren Sinne
') Die Buchausgabe: Bei S. Fiſcher, Berlin 1903.
Yn neuer Spiegelung. : 209
längſt in Milde umgebogen find, fennt die eine Triebfraft des Lebens, die uns
geſchaffen bat und uns ju Schöpfern macht. Sie bitte belfen können . . . Aber
Roſe ijt einem gierigen Mann ins Neg geqangen, der ibre Liebfchaft entdedt bat, der
mit Enthiillung drobt. Und Roſe will fic retten, den Vater fdonen, dem Kinde,
das wächſt, Unterfeblupf geben. Man halt immer cinen Arm in die Hobe, will was
aus dem Feuer retten, da brechen fie cinent alle Knochen entzwei — das ijt Roſe
Bernd's Geſchick. Sie gebt yu Stredmann, um ibn zu faufen und bat fic) dod) nicht
losqefauft. Der hat Blut geledt; ijt eiferſüchtig, jähzornig, gereizt, fein falter Gund,
fondern ciner, Der die Weiber verachtet und fic, weil er fle braucht. Darum als
einmal die Sonne heiß fibers Feld brennt und alle Fruchtbarfeit in die ſchwüle Luft
drängt, ftofen die Gewalten aneinander, Stredmann bedringt Roſe, der Bräutigam
und der Vater kommen hinzu, eine Keilerei entfteht, dem Brautigam jtopt Stredmann
ein Muge aus und geht weg, die Roſe ſchmähend: „Frovolk, die mit aller Welt a
Gejtede hat . . .”
Nun iſt's um Rofe Bernd geſchehen. Sie weiß nicht aus, nods cin. Die Frau,
Die fic Dem Einen aus der Fiille ibrer Liebe gegeben hat, vom Andern ſich widerwillig
und von rober Gewalt hat nehmen laſſen, ijt jest preisgegeben. Der Bater hat
qeflagt, ibre Ehre fei verlegt. Und Stredmann tritt, um im Bereich juridiſcher
Wirklichkeit zu bleiben, den Wahrheitsbeweis an. Flamm fagt unter Cid die Wabrbeit,
aud) Stredmann, nur Roſe Bernd wird meineidig. Cie litgt nunmebr 346 und fred,
liigt, leugnet alles. Sie läßt fic nicht mehr belfen. Cin wüſter Zorn, driuende
Wut fiber alles und alle fiillt fic, erftict fie. Als ihr Bewuftfein noc wads war,
wollte fie dem Rinde leben; mun aber ijt fie wirr und weiß nur Cines: „Ich boa
mich geſchaamt“. Fran Flanun will belfen, retten, aber Rofe geht auf die Strafe
Unter dem Weidenbaum eriviirgt fie das Rind, dem fle das Leben gibt. Dann
kommt fie beim, elend, gehetzt, birt den Vater, der fie verſtößt, den Bräutigam, der
jie bei fics bebalten, mit ſich nehmen will, den Gendarmen, der die Anklage wegen
des Meineides bringt, und wahnſinnig in ihrer Wut, niederbrechend wie cin Stück Wild,
ſchreit ſie ihr Verbrechen heraus. „Das Madel, was muß die gelitten ban. . .”
ftebt zum Beſchluſſe da.
Eine Kindesmörderin ijt Nofe Bernd. Der Stoff ijt alt. Bor Goethe und nach
Goethe, immer wieder ijt an ibm dad Beitgefiibl, die moraliſche und philoſophiſche
Kraft einer Generation gepriift worden. Die Spiegelung, die das Begebnis bei
Hauptmann gefunden bat, ijt niet allzu ſcharf. Halb Abſicht, halb dramatiſche Unficher-
beit geben da die Griinde. Roſe Bernd verlangt vor allem unſer vorwurfsloſes
Mitleid, das erhalt fie auch durch die Erfchiitterung, die der letzte WEt bewirft. Aber
es Feimt in uns nicht, weil wir die befondere und gerechte Ethik diefer Roſe Bernd
feben und annebmen, auch nicht, weil wir in ibr das willenloſe Opfer frember Schuld
entdecfen könnten, fondern nur darum, weil wir nicht mebr gewillt find, ſchwere menſchliche
Tragif moraliſch ju werten, und die Qual vor der Tat uns mehr angeht und ergreift,
als die Tat und ibre fozinle Bedeutung felbjt.
Das gehetzte Weib, dem man das Recht ihrer Mutterſchaft nicht laffen will — das
ift Die Kindesmörderin, die Hauptmann binjtellt. Die große Chrfurdt vor dem Kinde, die
Selbftverfiindlichfeit des griften Menfchenwunders (... Wunders, tro’ Haeckel und aller
naturwiſſenſchaftlichen Klarheit), das jind dic Momente, deren Abweſenheit in unjerem
Dafein Roje Bernd verwirrt, in Liige, Trug und Mord hetzt. „Heer du uff mich! —
14
210 Warenhaus- Pathologie.
Freu did)! Ma foll fics freu'n ujf fet Rind” . . . fagt Frau Flamm; „nu, Mädel
s' iS dod) a Glid, was du haſt! Fer a Weib gibt’s fee greferes! Halt du’s fefte!”
Das find aud) hier wiederum dic ſtärkſten Sage der Dichtung, jene Sige, die den
Grundton abgezogen von jeder theatralifchen Begebenheit und Scenenwirkſamkeit geben.
(G3 muf aud) hier wiederum angemerft werden, dah dem Dichter fiir die Frauen-
rolle cine twunderbare Kraft verjtattet war. Aber die Lebmann als Roſe Bernd nehme
ich nicht als Schaufpiclerin; da freute man ſich und Litt mit einer Natur, deren
Exiſtenz 3u fpiiren eine Erſchütterung bedeutet.)
* *
*
Mus ſeltſam weiten Fernen fommen die beiden Dramatifer, Hofmannsthal und
Hauptmann zuſammen und treffen fic in dem einen LebenSmoment, das ſtärkſtes,
fructbarjtes und bei Jedem cigenjtes Motiv der Dichtung ijt. Hauptmann, vom
Naturalismus umjponnen, oft gefejfelt, oft möchte man fagen: quälend belajtet;
Hofmannsthal, der ſich an allen Kulturen emporgeranft bat — diesmal bat fic) in
beiden Seelen ewiges Lebensfcbidjal derart gefpiegelt, daß fie beide als Tiefites und
Innerlichſtes erfannten: Das Weibesfchicfal ijt Empfangen, Warmen, Gebären und
Leiden. Hier fegt das Leben cin, bier hebt es fich, hier werden Naturen gebroden,
bier iſt des Daſeins Wendung.
—N
Wapenhaus · Pathologie.
Dr. Fri Alechtner.
Nachdruck verboten. — —
usbeutung der Frau! Das bezeichnet Zola in ſeinem Meiſterroman „Au
X bonheur des dames“ als das Prinzip jener großen Warenhäuſer, die in
Coe den Legten Jahrzehnten in Paris entſtanden find und von dort ihren Sieges—
zug durch die ganze Welt angetreten’ haben. Das moderne Warenhaus in feiner
hichiten Form ijt cin Meiſterwerk der Organijation. Wiles ijt darauf angelegt, die
Frau anjuloden, fie in Verfuchung zu führen; alle Wünſche nach Bebaglichfeit und
Luxus, alle Snitinfte der Koketterie follen in ibr erwedt und erregt werden.
Und die ſenſitive Natur der Frau, ihr ftark ausgepragtes Schönheitsgefühl, ibr
Hang wu Pus und Schmuck macht fie weniger widerſtandsfähig gegen die Verfiibrung,
die auf Schritt und Tritt ibr begeqnet. Der Sutritt zu den Warenhaujern ſteht
jedermann frei; man fann in ibnen ſpazieren geben wie auf den bffentlichen Promenaden;
ja, man darf nicht nur im Anblick diefer Reichtiimer fehwelgen, man darf die aus-
geſtellten Gegenjtinde — yum qrofen Teil wenigjtens — in Die Hand nebmen, fie
befiiblen, und das alles reizt die Begierde nach ihrem Beis. Cine weitere Verlodung
hat das franzdfifde Warenhaus in dem Syſtem der freien Riidgabe gefaufter Gegen-
ſtände geſchaffen. Wie mance Frau, die fonjt ftandhaft geblicben ware, erliegt dadurch
der Verfuchung; hat fie doch den Troſt, die Waren wieder zurückgeben ju können,
wenn fie Neue iiber Den Rauf empfinden follte.
Uber die Käuferin muß auch feftgebalten werden in den Räumen, die fie ein-
mal betreten. Daher will das Warenbaus ibr gewiffermafen ein zweites Heim
Warenhaus: Pathologie. 211
bieten, ſchöner und lururidfer als das ibrige. Ait fle müde und abgefpannt durch
das Umberwandern, fo laden Erfriſchungsräume, Leſe- und Schreibzimmer, zauberiſche
Wintergdrten yur Rube und Erbholung ein.
So ijt es denn fein Wunder, dah gar mance Frau, berauſcht von der Fiille
deſſen, was fie fiebt, was fic ihr darbietet, ihr die Hände entgegenjujtreden ſcheint —
ſich von ibrer Begierde hinreißen läßt und kauft, immer wieder kauft, weit fiber ibre
Mittel binaus.
Es wird nur wenige Frauen geben, die bei einem Befuche des Warenhauſes
niemalS den einen oder anderen Artikel mit gefauft baben, deſſen Anſchaffung von
vornherein garnicht in ibrer Abjicht gelegen hatte. Bola hat in einer ausgezeichneten
Szene feines Romans ausgefiihrt, wie eine Frau das Warenhaus betritt mit dem
fejten Vorjas, nur ein Schnürband ju faufen, und wie fie dann, bingerifjen von der
Pracht der Auslagen, beraujeht von der ganjen Atmosphare des Warenbaujes, in
finnlofer Leidenſchaft alles jufammenfauft, was ibre Begierde im Augenblick reizt:
geltidte Handſchuhe, Sebleifen, einen Sonnenſchirm, Unterride, Cervietten, Vorhänge,
cine Lampe, drei Schilfmatten, einen Mantel fiir 110 Franks, ein Rorjett, Pelz—
manjdetten, ruſſiſche Spitzen, Elfenbeinknöpfe, einen emaillierten Streichholzkaſten,
ſeidene Mauschen und ein Arbeitstiſchchen. —
Für dieſe Madame Marty iſt der Beſuch des Warenhauſes ein Bedürfnis wie
für andere der Beſuch der Kirche; ſie würde krank werden, wenn ſie nicht regelmäßig,
täglich hingehen könnte. Sie vernachläſſigt ihr Hausweſen, ruiniert ihren Mann, der
Profeſſor iſt und ſich abquälen muß, um durch immer neve Nebenarbeit ihr die Mittel
zu verſchaffen, ihrer unerſättlichen Begierde zu genügen. Noch kauft ſie alles, aber
eines Tages, wenn ihre Mittel erſchöpft fein werden, dann wird wohl das traurige
Ende bei ihr fein: Der Diebjtabl.
Und aud den Diebftabl im Warenhauſe bat Zola uns vorgefiihrt. Nicht in der
gewöhnlichen Form, wie er alle Tage in den Zeitungen uns begegnet; nein, feine
Diebin ijt cine vornebme Dame der erjten Geſellſchaftskreiſe, ihr Mann ein bober
Staatsheamter. Diefe Madame de Boves ijt von einem wahren Spigenfieber ergriffen.
Berge der feinjten, dujftigiten Spigen (apt fie fic vorlegen, um darin zu wühlen, das
ijt ihr höchſter Genuß; und in ibrer wabnfinnigen Leidenſchaft ftieblt fie eines Tages,
obwobl fie nod genug Geld beſitzt, um zu faufen. Ihre fosiale Stellung ſchützt jie
davor, mit dem Strafrichter in Beriihrung ju fommen; jie muß, wie ſchon viele andere
Damen der vornehmiten Kreiſe vor ibr, einen Schein unterſchreiben, in dem fie yugibt,
cinen Spitzendiebſtahl verubt zu haben; dann darſ fie frei das Warenhaus verlajjen.
Mancher Lefer wird glauben, daß es fich bierbet nur um Ausgeburten dichteriſcher
Phantaſie bandelt. Wie follte cine Frau aus diefen Kreiſen durch ihre Leidenſchaft fich fo weit
hinreißen laſſen, daß fie fo ganz ibre Selbſtbeherrſchuug verliert, jo villig taub wird gegen
alle Mabnungen des Gewiſſens! Und dod find es feine dichteriſchen Nbertreibungen,
traurige Wabrbeit ijt es, die uns da entrollt wird. Je mebr die Warenhaufer wuchſen
und ſich vervollfommneten in der Pracht ibrer Auslagen, defto größer wurde die Sabl
der Diebjtible, die in ihnen veriibt werden. Und was das allgemeine Intereſſe an
dieſen Warenhbausdiebftiblen ganz; befonders wachgerufen bat, ijt die Tatſache, daß
dieſe Diebinnen febr oft zu den woblhabenden, nicht felten fogar ju den reichen
Geſellſchaftskreiſen gehören.
Können dieſe Frauen — denn um Frauen handelt es ſich faſt ausſchließlich bei dieſen
Diebſtählen — als gewöhnliche Diebinnen angeſehen und verurteilt werden? Hat man es
hier nicht vielleicht mit einer Krankheit zu tun, oder mit einer Abart der Kleptomanie, der
die von ihr Befallenen widerſtandslos unterworfen ſind? Dieſe Fragen mußten ſich
notwendigerweiſe dem Strafrichter aufdrängen, umſomehr als die Zahl dieſer Verbrechen
fortdauernd wuchs. Heut vergeht kaum ein Tag, an dem nicht eine der Pariſer
Strafkammern eine des Diebſtahls im Bon Marché, Louvre, oder Printemps angeklagte
Frau zu verurteilen hätte.
Einen bedeutſamen Beitrag zur Löſung der Frage nach der Verantwortlichkeit
dieſer Diebinnen bietet eine. vor kurzem in deutſcher Nberfegung von Alfred H. Fried er—
14*
212 Marenhaus: Pathologie.
ſchienene Schrift des Chefarzte3 vom St. Annen-Aſyl in Paris, Dr. Paul Dubuiffon , Die
Warenhausdiebinnen.” (Verlag von Hermann Seemann, Nachf. Leipzig, 1904. 181 S.
Preis 2 M.) Als Sachverjtindiger des Seine-Tribunals hatte der Verfaſſer Gelegenbeit,
eine grofe Anzahl diejer Frauen auf ibren Gefundheitszujtand ju unterſuchen. Diefe
Beobachtungen bilden die Grundlage feines Werfes, das nicht nur fiir Arzte und
Richter, fondern auch fiir die Allgemeinheit von größtem Intereſſe fein dürfte.
Dubuiffon fpricdt von einem befonderen Warenhaus-Rauſch, der Magazinitis,
der dieſe Frauen befallen hat und ihnen die Kraft raubt, den Verjuchungen yu wider—
jteben, die ihnen im Warenhauje bereitet werden. Aber nicht alle Frauen find in
Gefabr, von diejer Magazinitis befallen yu werden; ein befonders nervifes Temperament
ijt die Vorausſetzung dafür. Alle diefe Diebinnen find nach Dubuiffons Anſicht frank,
unjurechnungsfabig bis ju einem gewijjen Grade, können daber aud) nicht zur vollen
Verantwortung ibrer Tat gezogen werden. Auf Grund von 120 Beobactungen ijt
er zu Diejem Ergebnis gelangt; 29 davon, typiſche Fille, teilt er in feiner Schrift mit.
Nur in 9 Fallen hat er einen charafterifierenden Krankheitszuſtand nicht ent:
deden fonnen; die übrigen 111 Perjonen weijen geijtige Störungen auf, hervorgerufen
durch RKranfbeiten des Geiftes oder Rirpers. Schwere Geijtesfrantheiten (Paralyſe,
Irrſinn) waren in 11 Fallen zu fonjftatieren, Geiſtesſchwäche und Geiftesverwirrung
in 22. Das größte Kontingent yu den Warenhausdiebinnen aber ftellen die Neu—
rajtheniferinnen (26 Falle) und die Hvfteriferinnen (37 Faille). Mit deren Studium
bat fic) Dubuijjon denn aud ganz bejonders beſchäftigt, umfomebr, da dieje Krank:
heiten die größten Schwierigkeiten fiir die ärztliche und juriſtiſche Beurteilung bieten.
So große Verfchiedenheiten die beobachteten Faille im eingelnen aufiweijen, eine
Reihe gemeinfamer Merfmale fonnte doch bei allen diefen Diebinnen aufgefunden
werden. Cie bejinden ſich faſt ſämtlich in guten Verhältniſſen; fie ſtehlen an keinem
andern Orte als in den großen Warenhäuſern; die geſtohlenen Gegenſtände haben oft
gar keinen Wert für ſie oder fehlen ihnen nicht; ſie befleißigen ſich in der Regel eines
unumwundenen Geſtändniſſes, ja ſie beeilen ſich ſogar, auch frühere Diebſtähle zu
enthüllen und ſelbſt die Schlupfwinkel anzugeben, in denen ſie das Geſtohlene verſteckt
haben. Die entwendeten Gegenſtände ſind meiſt in dunklen Gängen, in Schränken,
die niemals geöffnet werden, ja ſogar im Innern von Polſtermöbeln, worin man ſie
eingenäht hat, verborgen; ſie ſind meiſt unbenutzt, ja unberührt, tragen ſogar noch die
Preisetikette des Geſchäfts. Vor Gericht haben alle dieſe Frauen nur ben einen Ge—
danfen, fic) Dagegen zu webren, dah fie wie gewöhnliche Diebinnen bebandelt werden.
Sie wollen ſich deſſen, was ſie taten, nicht bewußt geweſen ſein, und ſie gebrauchen
alle die gleiche Entſchuldigung: Es kam wie ein Rauſch über mich — ich verlor
den Kopf.
Viele zeigen eine merkwürdige Reſignation, ja ſogar eine Art Erleichterung. Sie
erzählen, daß die Warenhäuſer auf die Dauer eine Plage für ſie wurden, und ſie
ſind glücklich, endlich von dieſer Qual erlöſt zu ſein, wenn es ihnen vielleicht auch
teuer ju ſtehen kommt. Andere wieder find verzweifelt, daß fie nun nicht mehr in die
Warenhäuſer werden gehen können, die bisher ihr ganzes Leben erfüllten.
Intereſſant ſind auch die Enthüllungen, die ſie über ihre Empfindungen vor und
im Augenblick des Diebſtahls machen. Faſt alle beſchreiben die auf ſie ausgeübte
Wirkung als eine Art Rauſch, der auf einzelne ſofort wirkt, ſo daß dieſe ſchon beim
erſten Beſuch des Warenhauſes ſtehlen, während andere, die Mehrzahl, die verhängnis—
volle Wirkung des Giftes erſt nach Wochen, nach Monaten verſpüren, nachdem ſie
gewiſſermaßen täglich eine neue Doſis zu ſich genommen haben.
Der Diebitabl ſelbſt ijt fiir die meiſten ein Genuß; jie empfinden cin nicht zu
beſchreibendes Gefühl der Freude dabei und ſind glücklich, etwas, ſei es auch noch
ſo unſcheinbar, weggenommen zu haben, ohne es zu bezahlen. Und für viele bedeutet
der erſte Diebſtahl eine totale Veränderung, man könnte ſagen, den Anfang eines
neuen Lebens. Die Wirtſchaft, der Gatte, die Kinder, alles tritt in den Hintergrund;
ſie haben nur noch den einen Gedanken, in das Warenhaus zu gehen und dort zu
ſtehlen. Gewiß werden viele von den heftigſten Gewiſſensbiſſen gepeinigt, oft ſo ſehr,
Warenhaus: Pathologie. 213
daß fie feinen rubigen Schlaf mehr finden finnen; aber der Drang, das Bediirfnis,
den Diebjtabl zu wiederbolen, ijt fo unwiderſtehlich, daß fie nach kürzerem oder
langerem Zögern immer wieder das Warenbaus auffuchen und dort fteblen.
So handelt es fic) bei diefen Frauen meift um rückfällige Diebinnen, fofern fie
nicht ſchon bei dem erften Verſuch ertappt werden, twas jedoch die Ausnahme bildet.
Denn fie zeigen meiſt eine Vorficht, eine Schlaubeit bei der Ausiibung der Diebſtähle,
die aud) einem berufsmapigen Spighuben alle Ehre machen würde.
Viele flagen die Warenhäuſer an, dah fle die Urfache ihres Verderbens feien.
Aud) Dubuifjon, ebenfo wie Zola, ftellt fic auf diefen Standpunft. Bei dieſer kunſt—
vollen Organijation, wo alles fo wunderbar darauf angelegt ijt, die Frau anjuloden,
ijt nichts gefdeben, um fie von dem Verbrechen zurückzuhalten, fo fiibrt Dubuijjon
aus. Und er weiſt ferner darauf bin, wie das Gewimmel der Kaäufer, die Freibeit,
nad Herzenslujt in den Lagern herumwühlen ju diirfen, und die ungeniigende Beauf-
fichbtiqung den Diebjtabl begiinitigen, ja geradezu berausfordern jum Raub. „Gerade
die Warenhbausdiebinnen”, heißt e3 an ciner Stelle, „ſind im Augenblicke der Tat in
einem ſolchen Sujtande der UÜberreiztheit, daß irgend eine Erwägung moraliſcher
Natur keinen Einfluß auf fie ausüben fann.” Nur von der Erfcbeinung eines Auf—
febers verjpricht er ficd eine Wirfung auf diefe Kranken. Uber dieſe Auffeber miiften
uniformiert, durch bejondere Abzeichen fenntlich fein und nicht, wie es heut geſchieht,
ji) unerfannt im Publifum bewegen.
Ob die Einführung uniformierter Auffeber cine wirkſame Befimpfung der Dieb-
fttible bedentete, erfcbeint mir doch al febr sweifelbaft. Heute weif man nidt, ob
der Rachbar jur Rechten oder Linken nicht vielleicht cin Aufſeher ijt, und gerade diefer
im Gebheimen geübte Nberwadungadienjt bietet dem Warenhaufe einen viel größeren
Shug gegen Diebſtähle. Waren die Auffeher uniformiert, fo batten es die Diebinnen
nach meiner Auffaſſung eber leichter alS heut; fie wiirden einfach den Augenblid ab-
warten, in dem der BVeamte den Rücken gefebrt, und waren dann viel ficherer vor
Entdedung als heut. Denn an jedem Orte fann dod) ein folder Wachter nicht fein,
iiberall fann er feine Augen nicht haben, es miifte denn fein, dah fiir jeden Käufer
cin befonderer Aufpaſſer vorhanden ware, der ibn auf Schritt und Tritt zu be:
gleiten bitte.
Es wiirde von höchſtem Intereſſe fein, feftzujtellen, ob und in welchem Umfange
aud in den deutſchen Warenhäuſern, fpesiell in Berlin, Frauen der befjeren Geſell—
ſchaftskreiſe bei den Diebſtählen beteiliqt find und wie folche Fille feitens der Aryte
und Richter beurteilt werden. Bielleicht giebt die bedeutjame Schrift von Dubuijjon
die Anrequng zu einer ähnlichen Studie über unfere heimiſchen Verhältniſſe.
) Wir bringen die diefem Artifel gu grunde liegende Studie von Dubuijjon bier zur Beſprechung,
nicht nur, weil fie cine pſychiatriſch intereffante Erſcheinung beleuctet, jondern auch, weil fie auf den
fulturellen Nabrboden diefer Erſcheinung cin Licht wirft. Denn — die pathologifehe Anlage all der
Frauen, die Dubuiffon vorfiibrt, zugegeben — wir baben gelernt, in dem Verbrechen neben folden
Difpofitionen aud die fosialen Berbhaltniffe als Faltoren anguerfennen, aus denen fich die feltenere oder
ree Welegenheit zur Verſuchung, die größere oder geringere Widerftandsfabigteit dagegen ergibt.
Dieſe kriminaliſtiſche Muffaffung wird bier von der einzelnen pathologifd veranlagten Frau die
Aufmertfamfeit auf die Taufende richten, denen — und es gibt leider ja aud) bet uns genug ſolche
Frauen — das Warenbaus tatſächlich cin Lebensintereffe werden fonnte, und aus deren Reiben ſich
dieſe „Diebinnen“ refrutieren. Sie wird nicht das Raffinement des Warenhauſes verantwortlich machen,
ſondern die, die Schuld an den undisziplinierten Inſtinkten der Frauen haben, auf die das Warenhaus
begreiflicherweiſe in dieſer Form einwirkt. So leitet die Studie wieder einmal auf die Mißſtände der
Erziehung bin, die die Frauen nicht über die kindiſchen Begierden hinausbebt, denen die Warenhaus—
diebinnen erliegen. Richt beim Warenhaus, das aus der modernen Entwicklung großſtädtiſchen Lebens
mit Notwendigkeit hervorgewachſen iſt, wird man eine Schuld ſuchen, ſondern bei der landläufigen
Oberſlächlichleit der Mädchenerziehung, die dads „Kommiſſionen machen“ zu einem förmlichen Sport
auch bei unſeren deutſchen Großſtadtdamen werden läßt. Die Red.
oem
214
Vie Pastorstochter.
Bon
Rarin Mimatlis.
Autovifierte Uberfegung aus dem Danifchen von M. Back.
Raqhdruc verboten.
Da. Prediger wohnte auf der Heide, | gutem Stand gu bewabren, die Wirtſchafts—
bort, wo die mit Erika betwadjenen Hügel
ſich wie Berge erheben, und wo die Schafe
tagelang obne Führer umberlaujen.
und die Leute in der Gemeinde bielten felten
Heftgelage, niemals aber tricben fie Unfug.
Gin Tag nad) dem anderen glitt ebenmäßig
dabin; wohl gab es unter den Dorfbewohnern
folche, bie Einſchnitte in die Habnenbalfen
madten, um die Beit ju mefjen, die Mehrzahl
überließ eS jedoch dem Herrgott, die Rechnung
qu fiibren. — Der Sommer fam und ging,
der Winter verrann, wie es eben fein follte.
Bon ben Höhen der Diinen erblidte man
nur Heide, aus der die Rirdtiirme rund
berum am Horizont wie Nadelſpitzen hervor—
guckten.
Meilenweit war es bis zu der nächſten
Gemeinde.
Der Paſtor hatte einmal — wann und
warum wußte niemand — das Exempel ſeines
Lebens abgeſchloſſen und ſich nach dem Facit
eingerichtet.
Seine Arbeit war ſtill und zähe wie die
der Heide, die vieler Blumen bedarf, um im
Abendſonnenſchein zu leuchten; eins war indes
ſicher, der Paſtor lebte nicht um ſich ſelbſt zu
pflegen und um Mammon zu ſammeln.
Er hatte ſeine Schafe und ſeine Streiſen
weißen Ackerlandes; den Hof umgaben vier
Scheunen und Ställe, die bebten und krachten,
wenn der Sturm fie packte.
Weil er nun iiberlegte, dak nad ihm
gerätſchaften auszubeſſern, bie Hede um ben
blumenarmen Garten ju beſchneiden und die
Gemeinde mit Opfern und Gaben in gewohnter
Baume fand man nidt in ber Gegend, |
Ordnung zu halten.
Sein Rock war fadenſcheinig und blank,
ſein Kragen aber, den ſeine Tochter Malene
wuſch und glättete, glänzte weiß wie die
Kalkwand ber Kirche.
möglicherweiſe ein Prediger mit einer zahl⸗
ganzen Heere weißer und grauer Wollen kam,
reichen Familie kommen könne, erſchien es ihm
als eine Pflicht,
den Hof und die Felder in
Wenn der Paſtor draußen war, um wider—
ſpenſtige Schafe, ſowohl ſeine eigenen als
die ſeiner Gemeindelinder, auf der Heide zu
fangen, oder wenn er beim Stechen des Torfs
in dem Eulenmoor behilflich war oder wenn
er jeden Abend beim Sonnenuntergang „ſeine
Kinder“ beſuchte, von Sören Vanefed auf
dem Goldhofe an bis zu Anders Laus in der
Fuchshöhle, dann ſaß Malene bei ihrer
Näherei oder beſchäftigte ſich mit Hausarbeit
im Pfarrhofe.
Die Zeit verrann, die Nadel wurde gebraucht,
die Wäſche in Lauge gerieben, Hemdenleinwand
und Lakendrillich gewoben, auf die Bleiche
getragen. Zeit gehörte dazu, um die Schafe
zu ſcheren, die Schafe ins Freie zu treiben —
Zeit, Zeit. Seit ihrem zwölften Jahre als
die Mutter ſtarb, war Malene zu einem
ſchlanken und großen Madden herangewachſen,
und mit jedem Jahre legte der Prediger ein
neues Joch auf ihre Schultern. Die hielten aber.
Malene nähte nicht immer in der Süd—
ſtube, wo der Wind ſich ſelten hören ließ.
Sie liebte es, nach allen Himmelsrichtungen
zu ziehen, nach Weſten, wenn die Sonne ſank,
nach Norden, von wo der Wind mit einem
nach Oſten, wenn ihr zum Weinen zu Mute
Die Paftorstodter,
war; ba ftand die Sonne auf, von ba fam |
ber neue Tag, nad dem fie fich allabendlid
febnte, von bem fie jede Nacht traumte, Wenn
bie zarten Morgentwolfen, leidt und rot tvie
Blumen am Wegesrand hinter dem Reid des
Heidelandes emporftiegen, wenn die Wolfen
ibr ftil und langſam entgegenſchwebten, fam
es ibr vor, als bridten fie Verbheifungen
einer guten Botſchaft. Darum liebte fie die
Morgendimmerung, und auf ibrer Strohmatrage
liegend, fonnte fie vom Schwarzen ing Graue
und vom weißlich Gelben ind goldig Rote
bineinftarren — ja, bis in die Connenfugel
und das fie umgebende Strablengewebe.
Im Sommer fiel der Tan auf die Heide,
ber ben gelben Ginfter benegte; auf dem Dace
bes Haufes wuchs Sittergras mit Tauperlen
in jedem Spely. Sm Winter aber lag überall
ber weiße Reif, dann wurde die Heide ein
Bleihplay, auf dem cin Streifen Leinwand
neben dem andern lag.
Malene hatte die kleinen Lammer gem
und folgte ibren Spriingen zwiſchen den Diinen,
wenn fie blifend und fdmeidelnd der Mutter
nadjprangen. Es fam ibr vor, als fei ihre
Welt groper und freier ald die, in der fie lebte.
Dak ibre Augen vom Wind und vom
emfigen Nähen rotrandrig, daß ihre Finger
pon ber groben Urbeit frumm wurden, dad
beachtete Malene nicht. Sie brauchte feinen
Epiegel. Die braunen, jfelbjtgefponnenen,
gewebten und genähten Reider ſaßen, wie ed
ſich am beſten machte. Sie waren ſich gleich,
wie die Jahre, die verrannen.
Nicht das Verlangen nach Tanz und Spiel
und munteren Hebden brachte fie gum Seufzen
und [odte ihr Tranen in die Mugen, — nein,
es war etwas anderes, das fie entbebrte, fie
fand nicht Worte, es zu beſchreiben.
Das gewöhnliche Tageswerl führte ſie
ohne Anſpruch auf Anerkennung aus, und für
die Arbeit, die ſie in ihrer freien Zeit ver—
richtete, hatte der Vater immer dieſelben Worte:
„Es iſt gut, Malene.“
So ſprach er, wenn ſie nach einem Sturm
das Dach auf dem Hauſe zuband oder wenn
ſie die Glocken läutete. Das ſagte er, wenn
ſie ihm eine Hemdenſtickerei, und wenn ſie ihm
den Webſtuhl mit einem Winteranzuge für ihn
zeigte.
215
Die Mutter hatte ihr etwas Franzöſiſch
und Deutſch beigebracht, ſo gut, wie ſie es
ſelbſt fonnte, und der Unterricht war ber Tochter
nie aus dem Sinn gefommen, wie bas mit
vielen Erinnerungen und vielleicht mit Sorgen
geideben war. Stundenlang fonnte fic fid
im Ronjugieren und Deflinieren fiben oder die
fleinen Fabeln, die fie damals gelernt hatte,
immer wieder berfagen.
Gin Gefühl fagte ibr: ,, Das ift ein goldener
Schlüſſel, den du an einem Schnürchen auf
der Bruſt tragft, verliere ihn nidt, der fann
dir Königreiche erſchließen.“ Der Schlüſſel
roſtete, ſie hielt ihn aber feſt.
Die Regale des Pfarrers ſtanden voll—
gepackt mit Büchern der heiligen Glaubens—
lehre. Ganz oben im oberſten Fach lagen
lleine bide Bande franzöſiſcher Klaſſiker. Malene
verſuchte ſie zu leſen, und das machte ihr ſo—
wohl Mühe als Freude. Der Vater ſah es
eines Tages und ſagte: „Laß die Bücher,
Malene, es taugt nichts, fie gu leſen.“
Von dem Augenblick an, rührte Malene
fie nicht an. Sie lagen da wie ſüße ver—
botene Früchte.
An den Weihnachts- und Oſterfeiertagen
wurde Malene qu den am wenigſten ver—
armten Familien der Gemeinde gebeten. Dann
zog fie ſich aber in ſich zurück, wie die Wunder:
lichſte unter den Wunderlichen. Knechte und
Madchen hatten gemeinſam Spott und Heimlich—
feiten, Mann und Frau teilten ſchlechte und
gute Sabre, einer tougte von ben Städten im
Djten, ein anberer bon den Städten im Weften
ju erzählen. Wie taubjtumm und blind ſaß
Malene da, und ber Prediger fagte: ,, Meine
Todter paßt am beſten yur Hausarbeit, da ijt
fie tüchtig.“
Als ganz fleines Madden pflegte fie auf
einer Fußbank zu den Füßen der Mutter ju
figen, die nicht miide wurde, ihre Fragen gu
beantiporten; bad Bankden fdleppte fie mit
babin, wo bie Mutter ging. Diefe fpann,
webte und nabte.
„Es find Betttiider fiir deine Ausſteuer,
Malene.”
Und eS wurde Malene begreiflid gemacht,
was Ausfteuer und Hochzeit zu bedeuten batten.
Nad) dem Tode der Mutter wurden viele
Betttücher gefunden, die alle mit Malenes
216
Namen gezeichnet waren. Malene nahm die
Erbſchaft auf. Cie webte die feinfte Leinwand
pon gleichmäßigen, runden Flachsfäden, die
mit Hohlfaum und erhöhten Namen genaht
wurde. Hemben, Nachtjaden und tweite Ride
wurden in die Ausſteuerliſte
Sie webte rot- und weißgeſtreiften Swillid,
fie webte Beug gum Brautfleid, weid und
blanf wie Blumenblatter. ,
Die Kiſte, in der died alles Plas hatte,
wurde bis gum Mande gefiillt, mit grofer
Miibe der Dedel zugemacht und der
Schlüſſel umgedreht.
Malene war jest nidt weit von ben
Dreifigen; fie merfte es felbft daran, dah fie
miibe wurde, wenn fie nad den Schafen lief.
Eines Tages fagte der Vater gu ihr: „Jetzt
bift du ein altes Madden, Malene, fiir unfern
Herrgott indes bift bu nod) gut genug.”
Alt ober jung — dem hatte Malene
feinen Gedanfen gefdenft; in den Worten des
Paters aber [ag etwas wie Schuld und
Schande.
Wenn ſie in der Kirche unter der Kanzel
ſaß, von der herab der Vater einfach und ſchlicht
redete, wurde es ihr oft ſchwer, den Sinn
zum Gebet zu ſammeln.
„Denle an die, welche, verwilderten Vögeln
gleich, ohne Dach über dem Kopf, ohne
Glauben im Herzen umherſtreifen — —“
Malene ſah durch die Fenſterſcheiben;
draußen flogen die wilden Vögel über die
Heide hinweg, fo weit fie fliegen fonnten.
Sie hatte ihren Cwigfeitsglauben verfauft,
um wie diefe Vogel hintweggetragen gu werden.
Doc fie war gu ſchwer, um fliegen, und gu
träge, um flieben gu fonnen. — — —
Bis zur Hauptlandftrake war es tweit, und
ba der Prediger den Weg, ber dabin fiibrte,
rein balten twollte, eqgte er denſelben, lief
ibn twaljen, badte das Heidefraut ab und
fcaufelte im Winter den Schnee felbjt weg.
Malene mukte ihm dabei helfen und ibre
Rrafte reichten yu der Arbeit oft beffer aus als
feine.
Niemand in ber Gemeinde gab fich folde
Miibe mit feinem Hof und Aniwefen hieß es,
bod, des Pfarrers Malene war ja ein
wunderliches Geſchöpf, fie fannte fein größeres
Rergniigen als fic) absuarbeiten,
hineingepackt.
Die Paſtorstochter.
Damit keine Zeit verloren gehe, wenn
jemand einen Auftrag an den Prediger hatte,
bielt diefer es fiir feine Pflicht, bei Schnee—
wetter den Pfad gleich in Ordnung ju bringen;
an einem folden Wintertage war es, bah der
Pjarrer an einem Ende des Weges ftand und
ben Schnee fortfdaufelte, Malene an bem
anderen. Sie follten fics begegnen. Sie
fonnte ihn nicht feben, denn das Schneegeſtöber
jagte ihr blendende Wolfen entgegen. Hier
fag der Weg rein und glatt, dort fammelte
der Schnee ſich in fubboben Haufen. Emſig
fubr ſie fort gu arbeiten, bod) war es ibr, als
wenn die Mitte bes Weges gar nicht fame.
Ober follte der Vater von feiner Arbeit ge-
gangen fein? Als fie ibn endlich fand, lag
er quer fiber bem Pfad und war nabe daran,
vom Ednee gang bebdedt ju fein. Dalene
trug ibn nad bem Pfarrhofe; darauf watete
fie anbderthalb Meilen nad dem Arzt. Cine
fürchterliche Lähmung hatte ibn gu Boden
geworfen. Malene wadhte Tag und Nacht.
Lange ftand ber Webftubl unbenust, Staub
fangend, ba. Der Wind frak, twas er
fonnte, an Dad und Schornſtein. Die
Schafe erfubren nur fiimmerlide Verforgung;
mit genauer Rot erreidjte fie es, ihnen bas
Futter ausjuteilen und im Stall ausgumiften,
dap fie nicht in Unreinlicdfeit verfamen.
Nad) dem Winter fam dad Friibjabr. Der
Vater war uud blieb labm, die Sprache hatte
er aber in feiner Getwalt, und da er nicht
mebr gu ben euten in der Gemeinde geben
fonnte, famen fie gu ibm. Cr mufte Hilfe
baben.
Der Pfarrgebilfe fam,
Malene richtete zwei Zimmer fiir den Kaplan
_ tin, der Arvid Erifjen hieß. Sie kochte Suppe
und dedte ben Tijd, denn der Wugenbli¢ war
gekommen, dak fie ibn empfangen follte.
Er war ſchmächtig und blond, mehr fab
fie nicht, und er fprad in einem eigentiimlid
fanften Ton, fo bah fie plötzlich über ihre
eigene grobe Stimme erſchrak und gu flüſtern
begann. Der junge, fursfidtige Mann hielt
fie fiir das Dienftmadden, und Malene lies
ibn in bem Glauben und balf ibm den Roffer
und die Kiſte in die zwei Kammern tragen;
die nad Siiden und nad Often hatte fie ibm
| gegeben.
Die Paſtorstochter. 217
Mach Tif, als es ibm klar getworbden,
wer fie war, redeten fie ein Weilchen zu—
fammen.
Che der Sommer erſchien, war er mit ben
Verhaltnifjen eines jeden in der Gemeinde be—
fannt und ging von Morgen bis Abend aus,
um Hilfe gu bringen, wo man deren bedurfte.
Er hatte ein Harmonium mitgenommen,
auf bem er jeden Abend geiftliche Lierer fpiclte;
bann ſaß Malene ſtill laufdend in einer Ede;
oft weinte fie. Wenn er innebielt, ging fie in
bie Küche binaus, um das Abendbrot ber:
guftellen, und der junge Raplan begann mit
dem Prediger gu plaudern.
» Dalene ijt ein gutes Madden,” fagte der
Paftor an einem folden Abend.
„Ihre Tochter ift ein Engel, nur bas Mort
pat fiir fie,” antwortete Arvid Criffen.
Die Tir ging auf. Malene trat berein.
Cie hatte die Worte gehört.
An bem Abend hatte fie zwanzig eigen—
willige Schafe tummeln fonnen, obne miide
gu werden.
Wis der Paftor yu Bett getragen worden,
und Griffen in fein Stübchen gegangen war,
ſaß Malene in der Wobhnftube vor dem Har:
monium. Cie beugte fic berab und küßte die
Tajten, die feine Finger berührt batten.
Mit einem Licht in der Hand ſchlich fie
nad bem Boden hinauf, sffnete die Musfteuer-
fifte und warf aus derfelben durdeinander
heraus bie weiße Leintwand, den roten Zwillich,
bas weide, glatte Seug gum Brautfleid. Cie
blidte auf ben Haufen bin, als ware es eine
fonnenbefdbienene, bliibende Wiefe, und das
Herz flopfte fo, dah fie die Hand an die Bruft
drücken mufte.
Gin Zugwind blies das Licht aus, und
Kälte beſchlich ſie; und die Dunlelheit driidte
fie wie cine Ahnung von Corge. Tappend
fuchte fie die Sachen wieder zuſammen, verbarg
fie, ſchloß die Rifte und ging darauf jur
Rube.
Yin folgenden Tage war fie fiinfunddreifig
Sabre alt geworden.
„Ja, Malene ift nun ein altes Madchen,
aber cin guted, altes Mädchen,“ fagte der
Paftor.
Arvid Criffen fiigte hingu: , Wenn Fraulein
Malene auch fünfzig Jahre würde, ſo würde
ſie nie alt für mich ſein. Sie ſind mir wie
eine Schweſter, und mir vielleicht noch mehr
als eine richtige Schweſter geweſen!“
Als er gegangen war, rief der Vater
Malene zu ſich.
„Die Hoffnung beſchämt niemand, Malene,
vergiß aber nicht, dir ſelbſt zu ſagen, daß du
ein altes Mädchen biſt, und die jungen finden
am leichteſten den Weg zum Brautſchemel.
Die Myrten wachſen für die Jugend, und der
Chriſtdorn fiir die Alten!“
Malene nahm ſich vor, die Worte zu
beherzigen. Doch, die Zeit reichte nicht aus.
Am Tage gab ſie ſich frohen, beglückenden
Gedanklen bin, und wenn fie ſich dann am
Abend der ſchlimmen Worte erinnern wollte,
dann ſchlief fie cin und träumte, bak Arvid
ſagte: „Für mid find Cie jung, Dalene!”
Gr war ¢3 auc, der die frangififden
Bücher vom Biiderbrett herunterholte, wogegen
der Paſtor jest nichts cinguiwenden batte.
Malene las und vergaß dabei faft, daß
bie Heide meilenweit ihr Haus umgab — und
fie vergaß beinabe aud) ju naben. Sie befam
Luft, cin blaues Kleid ju befigen, und madte
fic) auf nad der Stadt, um Blau jum Farben
zu bolen.
Wie cine Rornblume twurde das Kleid und
Malene nähte Weiß in den Halsausſchnitt
und in die Armel und fdmiidte die Taille
mit einer alten, fang aufgebobenen, filbernen
Spange.
„Malene,“ fagte ber Kaplan, „Sie feben
gang jung aus in dem Kleid, gehen Sie dod)
immer damit!”
Unb Malene hing die braunen Kleider fort
und ging mit bem blauen.
Später mute fie aus dem feinen Stoff bes
Prautfleides cin Trauerfleid naben, denn der
Vater ftarb ben nächſten Commer.
Am Sterbelager verfpradh Arvid Griffen
dem alten Prediger, niemals feine Todhter
verlafjen ju wollen, ihr ein Bruder ju fein,
fo lange er [ebte.
Mls fie in den Trauertagen Guirlanden
von Heidefraut und Kränze von Chriftdorn
wand, fam Arvid herein und küßte fie auf die
Stirne.
peage dub gu mir, wir find ja nun
Bruder und Schweſter!“
218
Da war es ihr, als ob der falte Tod
felber ihr ind Obr fliifterte: Die Myrten
wachſen ffir die Jungen, der Chriftdorn fiir
bie Alten; und fie beugte fid) herab und
weinte.
Gin neues Leben ging fiir Malene auf.
Arvid Griffen wurde proviforijd fiir bas Amt
beftimmt, bis die Ernennung eintreffen würde;
fowobl er alg Malene faben ¢8 als abgemacht
an, daß er bie Stelle erbielt.
Eines Abends ging Malene vom Pfarrhofe
heraus. Cie hatte das Bediirfnis, ins Freie
gu geben, dod) biitete fie fic, in die Nähe
eines Hauſes oder des Dorjes gu fommen.
Die Sonne fab fie glühend rot untergeben,
und fie blieb nocd draufen, als die Sterne des |
Himmels ibr fdon lange entgegenfunfelten.
Da fam Rube und Klarheit fiber fie; da fam,
was fommen follte. Heruntergedriidt und
erſtickk mußte jeder Gedante werden, der fid
voller Sebnfudt yu Arvid gewandt hatte,
Sede Hoffnung, die im Brautfleide ber Zukunft
entgegen geflogen war, mußte ju Boden ge-
ſchlagen werden.
Gin Schloß, hod und hehr wie die Wolken:
burgen der Morgenrite follte beruntergerifjen,
ber Erde gleidgemadt, und cine Hiitte follte
an Stelle bes Schloſſes erbaut werden.
Bei jedem Schritt, den fie tat, trug
Malene einen Stein gum Bau der Hiitte.
Nicht Gattin,
Schweſter, nicht Gaittin.
Die Paſtorstochter.
von Fenſter zu Fenſter gehen und mit einem
nach der Ferne blutenden Herzen in die Wolken
ſtarren. Frei follte er fommen und geben...
und fommen.
Malene hatte ein mütterliches Erbe von
taujend Kronen, auferdem die Rinfen . . .
Bom 12. bis gum 37. Jahre. Im Rechnen war
fie fein Meifter. Tauſend oder zweitauſend —
Arvid follte dafiir reifen. Wenn er weg war,
wollte fie bie Simmer ordnen, fo wie er es
wünſchen modte.
Cie ging tweiter und weiter, wo fie nie
fritber gegangen war. Gie fam ju einem
Bad, tiber den cine Briide führte. Da war
eine Landftrafe mit dbuftenden Baumen an
den Ceiten; Eleine, gitternde Windſtöße lichen
bas Lidt dann und wann aufbliben. Cine
| Wolfenfdict nad ber anderen wid, und bie
| darin.
nein, fondern Schweſter —
Gr hatte es verjprodjen, fie nicht gu wer:
laffen, und daß er fein Verſprechen halten
würde, das wußte fie. Bon jest an alfo
follte dies Heim die fidere Zufluchtsſtätte der
beiden Geſchwiſter fein. Cr follte fein Ver—
fpreden nicht bereuen, nein, nicht bereuen.
Während fie da fo allein in der Nacht
und laut vor fic) binfpredbend ging, fam es
biipfend und wandernd an fie beran wie Irr—
lichter, die bunbdert fleine nafeweife Fragen
ftellten und hundert gute, unerprobte Ratidlage
gaben, und dann das ſchwarzverſchleierte Gefolge
ber angftvollen Corgen — — —
War fie fähig, die frifdhe, lebende Hoffnung |
gu begraben? Wear fie ſicher, dap die Schwejter |
nidt den Bruder daran hindern würde, bas
Leben ju leben? War fie deffen fo ſicher?
| Sdultern ſäße und fie ſtöhnen ließe.
Sa, fie war ed. Gr follte nicht, wie fo oft,
Sonne ging auf. Co weit das Auge reidte,
war das Aderland, die Grabenranbder ein
wiegendes, ſchaukelndes Blumengewirr, Haufer
mit Garten davor und cin Wald — — —
Baumfrone neben Baumfrone bis yu dunflen
Dächern, die ſich fiber eine ſchwarze Erde
ausbreiteten.
Malene griff ſich an die Stirn — — es
war doch kein Traum? Sie pflückte und
pfliidte Korn, Blumen und taubenetzte Gräſer,
fie ging guriid an ben Bac und fpiegelte fid
Sie war es. Dann fegte fie fid) an
das Ufer, lächelte den Fiſchen gu, die zwiſchen
Steinen und Wafjerpflangen hindurchglitten,
lächelte jum anderen Ufer biniiber, lächelte,
lachte und — — weinte.
Sie kriegte Luſt, ins Waſſer zu treten, —
die ſchwarzen Trauerkleider abzulegen und
ganz hinaus zu gehen — ganz hinaus. Da
| war es aber wieder da, dad kalte Flüſtern:
Vergiß es nie, dir felbft yu fagen, du biſt cin
altes Madden.
Malene wurde plötzlich müde; fie febnte
ſich nur danach, fic) im Hauje drinnen auf
ber Heide gu verbergen. Und fie twandie fid
fort von bem bliihenden Land — — —
Bald berithrte der Fug die Fafern des
Heidefrauts und den rotlirnigen Sand — die
Heide umſchloß fie wieder.
Sdhleppend wurde ihr Gang. Es fam
Malene vor, alS wenn das Alter auf ihren
Die Paſtorstochter.
Sie friimmte ihren Fuk im Stroh des
Holzſchuhes, um feft aufjutreten.
Und Arvid — — er hatte weder gu eſſen
nod zu trinfen befommen. ie kämpfte gegen
Schlaf und Erſchöpfung und firengte fic an,
alg ob fie ſich einen Weg durch den Wald
babnen müßte.
Wenn Arvid fie jest entbehren würde,
wenn er von cinem Simmer ing andere, ibren
Namen rufend, ging, wenn er auf die
Diinen binausliej, um nach ihr zu fpaben,
wenn er fuden follte, bis er ibre Spur
fand? — — —
Unwillkürlich fputeten die Beine fic; in
ſchnellem Lauf über Heidefraut und Heide:
wurjeln eilten fie dahin; Arvids wegen müßte
der Weg gekürzt werden,
Wenn er aber hinausgegangen tare, um
qu ſuchen, dann miiften feine Gedanfen dod
vielleicht Licbevoller bei ihr weilen als die
eines Bruders bei der Schweſte — — —
Malene ſank in die Rnie.
Gin unebner, dunkler,
betwegender Punkt wurde ibr
qctricben — — fie hatte ihn erfannt, es
war Arvid. Cie wollte cin Vaterunſer
beten, das Gebet, das ſchon monatelang nidt
mebr auf ihren Lippen geweſen
Gedanten verirrten ſich — fie betete: am
dritten Tage auferſtanden von den Toten,
aufgefabren gen Himmel, von dannen
fommen wird ju ridten die Lebendigen und
die Toten! — — Obgleidh fie ibre eigenen
Worte nicht hörte, wiederbolte fie fie doc,
bis Arvid auf fie gugelaujen fam,
—
„Ich bin im Kirchturm hinaufgeſtiegen, um
nach dir zu ſehen, Malene,“ ſagte er, „mir
war ganz angſt um meine kleine Schweſter
Wenn ber Webſtuhl oder das
geworden.
Harmonium davongelaufen wäre, ſo wäre es
ebenſo natürlich geweſen — du gehörſt zu den
Stuben!“
Malene fügte hinzu: „Und zur Arbeit.“
Arvid wollte aber nicht für Malenes Geld |
reifen. Gr reijte fiir fein Gebalt und rictete
fic) auf eine Ferienzeit bon drei Monaten ein.
Die Crnennung jum Pfarramt erbielt er als |
| die Welt, das waren aber aud) Menfden, und
ein letztes „Glück zur Reije!”
Malene fubr zwei Meilen mit dem Frade:
fih vorwärts⸗
entgegen⸗
er
die
als die ſtillen Gegenden der Heide.
ſuchen.
219
wagen, um ſo lange wie möglich bei ihm zu
fein; darauf ging fie zurück
„Alles, wad id erlebe und weiß, ſchreibe
id dir, Malene, dann ijt es, als wenn du mit
auf der Reije warejt. Sa, wäreſt bu nur mit!
Es ijt ſchwer, dic) entbebren zu müſſen, liebe
Schweſter — —“ So jtand im erjten Brief
gu Tefen, den Malene fury banad in der Hand
bielt. Cie las ibn in feiner Stube gegen
Siiden, fie las ibn in der Rammer gegen
Dften, Weften und Norden, fie [as ibn auf
der Heide, bis die Sonne bas Papier rot
farbte, und brinnen im Stall bei bem franfen
Schaf.
Malene ſchrieb aber nicht wieder. Sie
fonnte die Cage nicht ordentlich zuſammen—
fügen. Draußen im Sandgraben aber ſaß ſie
und ritzte mit einem roſtigen Nagel viele Wörter
in den Sand, die bald wieder verwiſcht wurden.
Ein andermal ſchrieb er: „Wie ſchön iſt
nur die Welt, Malene! Es iſt, als ob die
Sonne mir ganz ins Herz hineinſcheine. Tag
und Nacht kommen und gehen, meine Freude
geht aber nicht von mir. Malene, liebe
Schweſter, wir wollen immer zuſammenhalten,
nicht wahr? Glaube mir, mitunter ſehne ich
mid aud nad den ſtillen Pfaden der Heide,
nad bem Wege, der nad der Rirche fiibrt,
nad den Mannern und Frauen, die diefe
Nad dir febne ich mid aud, dod
die Sehnſucht iſt obne Unrube und Rein.
Dich, dad weiß ich, werde ich finden, wo wir
ung trennten. Walene, Malene, wirſt du mid
fennen, wenn id) fomme, wirſt du meinen
Jubel verfteben?” —
Ganz langſam las ſie den Brief. In ihrem
Herzen gab es keinen Widerklang der in ſeinen
Briefen ſich äußernden Freude.
Sie mußte der grünen Felder, der Rain—
blumen und bes kleinen Baches gedenfen —
ja, die Welt da draußen war gewiß reider
Ronnie
man ihm das veriibeln, wenn die Welt ibn
| Lodte, und er gar nicht wieder fame? Malene
fuchte die Hiigel auf, ftarrte nad Often und
fonnte ibre Niedergefdlagenbeit nicht bezwingen.
Die Welt, die Welt, — das waren Walder
und Berge, Seen und tiefe Taler mit Blumen,
Menſchen waren es, denen ibre Angſt jest galt.
220
Ginen ganzen Monat hörte fie nichts von
ibm; dad waren fiir fie die längſten Tage, die
fie erlebt hatte, und nur das Harmonium balj
ibr darüber hinweg. Deden Abend ging fie
einen langen Weg, um den Brieftrager ju
treffen, Der griigend, obne bie Tafdhe gu rithren,
an ibr voritberfdritt. Wenn fie nachhauſe ge-
fommen twar, fegte fie fid) an das Harmonium
und rief, obne cine Melodie zu ſuchen, einzelne
Tine bervor; fie wollte nur den Klang im
Dbre haben. Wiirde ex gum Winter wieder
ba figen und die alten, fanften Lieder ſpielen,
während fie aus bem ſchneeweißen Leinen den
Predigerfragen fiir ibn guredtfdnitt und
jaltete? — — — —
Dann meldete er feine Ankunft.
Malene madhte die Nacht gum Tage, um
alles erreiden gu können, was fie wollte.
Cie reinigte, pugte und fdmiidte bas Haus
wie ju einer Feier, Die Gardinen hingen weiß
im dämmrigen Oktoberlicht; Erifagweige wurden
in die Vaſen geſteckt und Erinnerungskränze
für die Familienbilder geflochten. Ein Lamm
wurde geſchlachtet, mit Cal; und Butter be—
reitet und an einem Pudding lich es Malene
nidt feblen. Cin Heft follte es fein. Sie
bedte ben Tijd fiir ben Bruder und die
Schweſter und fleidete fic) in das fornblumen:
blaue Rleid.
Jetzt Hielt fie ihn bei der Hand. Die
Welt hatte ihn ibr nicht genommen. Cie
hirte feine Ctimme, wenn fie aud anfangs
nicht feine Worte vernahm. Sie zog ihn bin:
ein und ſchloß bie Tür hinter ibnen gu. Der
Friede, der fie erfiillte, war fo ſicher wie der
Friede Des Todes.
Sie ſpeiſten zuſammen, und Arvid erzählte,
während er ſich in den feſtlich hergerichteten
Stuben umherſah. Dann ſetzte er ſich ans
Harmonium und ſang.
Malene wollte die Lampe anzünden, denn
es war ſchon längſt dunkel geworden, Arvid
bat fie, nod) zu warten.
„Setze did) zu mir, Schweſter, wir zwei
wollen von der Zukunft reden.“ Sie ſetzte
ſich. Eine neue Ahnung durchfuhr fie.
„Wir wollen uns nie trennen, du Liebe,
nicht wahr?“
Die Paſtorstochter.
Sie antwortete nicht, doch er verſtand fie.
„Malene, warum meinſt du, daß id) die grofe,
larmende Welt ſchöner fand als unfere ftille
Heide? WAntworte mir!”
Sie antiwortete nidt, denn da war etivas,
das ibe nidt flar war.
„Malene, ich fand ja bad Glück draugen.
Berftebft du mid jetzt? Ich wollte es nicht
ſchreiben. Ich wollte ſelbſt Zeuge deiner
Freude fein. Dente dir, Schweſter, id) habe
ein junges Wefen gefunden, das das Leben
mit uns beiden bier in diefer Stille teilen
will — — wenn bu es fo willſt, Malene, —
und id weif es, du willſt es. Warum fpridft
du nidt ?”
Langfam, twie einer nad dem andern aud:
geftopene Seufzer lichen die Worte fid im
bunfeln hören:
„Willſt du did verbeiraten? Kommt fie
— — hierber?”
„Ja, fobald du fie empfangen willft —
— und dann, Schweſter, Hilfft du ibr, ibre
Ausfteuer gu nähen und tüchtig zu werden,
nicht wabr?” Er zog fie an fid. „Gieb mir
einen Rup, du Liebe, nnd fage mir, daß du
did) mit mir freuft.” Und er küßte Malene.
Es dauerte cin Weilchen, ebe fie die Worte
fagen fonnte, bie er gu hören begebrte.
Später am Abend, als fie an einem Tifd-
tud) faumte, fragte fie:
» Sie ift wobl jung, Arvid?“
„Ja, Schweſterchen, fie ijt fo jung, dah
bu gut ihre Mutter fein fonnteft.”
Am nächſten Morgen, als Arvid ing
Bimmer trat, lag auf Tifd und Stiiblen
aufgeftapelt alle grauweiße Leinetwand, die
Malene und Malenes Mutter gewebt und ge:
nabt batten.
„Sieh ber, Arvib, das ijt fiir dich und fic,
bas ift meine Brautgabe. Sie iſt fo jung,
fie foll nicht rote Mugen und harte Finger
friegen. Sch bin ja alt, ich werde dir aber
beljen, ifr dad Leben leicht zu machen.“
Arvid fonnte nidt Worte genug finden,
um Walene ju oben.
Malene aber ging weit hinaus auf die
Diinen und verbarg ihr tränennaſſes Geſicht in
ber barten Heide.
We ee
221
Dorwegische Prauen als Wahler und Stadtverordnete.
Bon
Raja Geelmuyden.
Autorifierte Überſetzung aus der norwegifden Seitſchrift Det ny Aarhundrede
von Jda Anders.
—ñNi
Radbrud verboten.
nfolge des Geſezes vom 29. Mai 1901 find norwegiſche Frauen über 25 Jahre,
F die entiweder felbjt oder durch Gütergemeinſchaft mit dem Chegatten Steuern fiir
ein Ginfommen von 400 Kronen in den Stadten, 300 Kronen auf dem Lande bezablt
haben, ſtimmberechtigt und bei den Stadtverordnetenwablen wablbar.
Mls dieſe Gejegesvorlage im norwegifden Storthing angenommen wurde, fam
dies ficherlicy Den meiſten iiberrafdend. Die Laubeit, die ftets im Parlament dieſer
Sache gegentiber gu Tage getreten war — trop aller ſchönen Verſprechungen von
feiten der Linfen —, hatte ſchon längſt den Frauen hinſichtlich des Verſtändniſſes der
Politifer fiir ibre Forderungen jede Illuſion geraubt; und das Geſetz wäre auch died-
mal nicht zur Wirklichfeit geworden, wenn nicht eine Anzahl Konfervativer die Vorlage
unterſtützt batten, einzelne aus wirflichem Gerechtigkeitsgefühl, andere, weil fie ibnen
cin Gegengewicht gegen die Wirfungen des gleichzeitig angenommenen allgemeinen
Stimmredhts fiir Manner zu bedeuten ſchien.
Raum war indefjfen das Geſetz yur Tatfache geworden, als es die Frauen yu
fiiblen befamen, daß fie einen bisher ungeabnten Wert befommen batten. Sie
reprafentierten ja nun jede cine Stimme und waren eine Macht geworden, mit der
erechnet werden mußte. Alle Parteien nabmen fich ibrer fiebevoll an und wollten
et auf den rechten Weg leiten — um von dem Zuwachs zur Wählermaſſe foviel wie
möglich yu profitieren. Die Linke erinnerte die Frauen daran, was fie der Fortſchritts—
parter ſchuldeten, die fics ibrer Sache jtets angenommen hätte. — Die Rechte fprach
ſchöne und woblgejeste Worte von dem milden und wobltuenden Einfluß der Frau
im Laufe der Seiten und verfpracd fic viel von ihrer redlichen Gefinnung — die den
Herren doch ziemlich lange entbehrlich geweſen war. Alle waren fie fo ungefähr darin
cinig, „das neue Element im dffentlichen Leben willfommen ju heißen“.
Es icigte ſich jedod) bald, dag die Frauen ſelbſt beſſer vorbereitet waren, als
man bitte glauben follen, und Lujt batten, die Sache ſelbſt in die Hand zu nehmen.
Man fonnte ſich nicht lange befinnen, da die Stadtverordnetenwablen ſchon jum
Herbjt ſtattfinden follten. Im ganzen Lande wurden von den Frauenbewequngs- und
Stimmeredts-Vereinen Verjammlungen und Vortrage angefiindigt zur Aufklärung der
Frauen über ihre neuen Rechte und die ſich daraus ergebenden Pflichten. Dieſe
Verfammlungen, die meijt erdriidend zahlreich bejucht waren, erregten, danf den aus—
gezeichneten Rednerinnen, über die wir fo glitclic) find ju verfiigen, großes Intereſſe.
Selbjt die Frauen, die fic der Stimmredtsfrage gegenitber vorher gleidgiltig, ja
ablebnend verbalten batten, wurden nunmehr von Eifer ergriffen zu belebren und
belehrt gu werden, und wo man aud jufammenfam, gab eS eine eifrige Diskuſſion.
Viele der felbjtdndiger denfenden Frauen verfpiirten wenig Luft, ſich ohne weiteres
alg Schwan; irgend einer der fiir die Wahlen einexerzierten politijden Parteien
anzuhängen. Cie meinten, dak man dadurch weiter nichts erreicte, als die Stimmen—
zahl —* Parteien zu vermehren, dak man fein „neues Clement” in das öffentliche
Yeben bringen witrde — was da wobl gebraucht werden fonnte. Für alle jene Frauen war
es cine willfommene Nachricht, daß der ,, Verein fiir Frauenftinunredt in Krijtiania” in
222 Norwegiſche Frauen als Wahler und Stadtocrordnete.
einer Verſammlung beſchloſſen hatte, in einem Aufruf den Frauen erjtens den bedings-
loſen Anſchluß an eine der politijden Parteien yu widerraten und zweitens eine eigene
unpolitifde und programmloje Wählerliſte aufyujtellen, fiir die man tüchtige und ange:
jebenen Manner und Frauen obne Rückſicht anf ibre politiſche Farbe fuchen wollte.
Etwas fpater wurde cin Arbeitsausſchuß von 20 Mitgliedern — ausfdblieplicy Frauen —
eingefest, um eine ſolche Liſte auszuarbeiten.
Dieſer Beſchluß erregte um fo größere Mufmerfjamfeit, alS zu dem Vorftande und
den Mitgliedern des genannten Vereins auger der im ganjen Lande twoblbefannten
Frau Ragna Nielfen die meijten der Frauen gehörten, welche die öffentliche Meinung
in der Hauptitadt als die erſten bezeichnete, die in die Konmmunalverivaltung gewablt werden
milgten, (follte man nun einmal Frauen haben, fo wollte man natürlich gern
folche, die etivads bedeuteten,) Frauen von der Rechten und der Linfen, die die
verſchiedenen Parteifiihrer gebojft batten, auf ihre Liſten zu bekommen. Dieſe
Selbjtindigteit fam deshalh febr ungelegen und wurde fofort von den Führern und
Preßorganen der Parteien angegriffen und verhöhnt zunächſt allerdings verbaltnis-
mäßig milde und vorſichtig, indem man den Gedanten, ein Zuſammengehen der Parteien
in der Kommunalverwaltung yu verſuchen, ideal, wenn aud) undurchführbar fand.
In einer vom Verein „Wohl des Haujes” einberufenen Maſſenverſammlung
wurde der Gedanke des Vereins für Frauenſtimmrecht in einem einleitenden Vortrag
von Frau Ragna Nielſen klar und präzis dargelegt. Sie zeigte, wie das in den letzten
Jahren entſtandene Programmweſen — oder Unweſen — ſich herausgebildet habe.
Es galt ſtets neue Mittel zu finden, um einer Partei Stimmen und dadurch den
Rarteifiibrern Macht und Anſehen zu ſchaffen — fo fam man darauf, lauter Einzel—
forderungen aufzuſtellen, immer mehr, ein ganzes Programm, das leichtgläubigen
Wählern in die Augen ſtechen und fie auf den Leim locken konnte. — In der Politik
find Parteien cin notwendiges bel; dod) in einer Kommunalverwaltung find fie
unnötig, da kommt es nicht Darauf an, was man über die Unionspolitif denft, fondern
ob man Tüchtigkeit und Einſicht in den Sachen befigt, die cin fiir allemal zu den
Aufgaben der Kommune gebiren: Straßen- und Ranalifationsiwejen, Kirchen und
Schulen einer Stadt und vor allem ibr ökonomiſches Gedeiben haben dasfelbe Anterefje
fiir Steuerjabler der Rechten wie der Linfen. Es fei wohl miglich, dah die Frauen,
die es nod nicht gelernt baben, fied cine Mrt Moral für das private und cine andere
fiir Das öffentliche Leben yu alten, für allerlet Dinge in der Kommunalverwaltung ein
Auge bitten, die Männern entgeben. Es könnte auch in ihrem bejonderen Intereſſe
liegen, im Laufe der Beit dies und jenes anjuregen. Aber wollten fie jest ſchon
beginnen, ſich von den längſt cingearbeiteten, feſtgeſchloſſenen Mannerorganijationen
verſchlingen zu lajjen, fo wiirden ibre felbjtandigen Anſchauungen und Meimungen bald
vernichtet und in dem blind und taub machenden Parteiintereſſe ertränkt werden.
Wozu die Vortragende alle Frauen auffordern wollte, war ſelbſt zu denken und zu
wiblen, ebe fie ſich an eine Partei banden.
Gin anderer von den großen Frauenvereinen tadelte urd feine Vorſitzende, Staats-
ritin Quam, dieſe Taltif in ftarfen Worten. Es wurde innerhalb dieſes Vereines
den Frauen vorgebalten, daß fie nur dure die Parteien boffen fonnten, etwas zu
erreichen, und dag fie innerbalb Ddiefer Partcien arbeiten müßten, um ibre ſpeziellen
Intereſſen und Anſichten geltend zu machen. Die Vorjigende qlaubte auch nicht, dah
die Frauen ſchon jetzt die Cinjicht und Erfabrung batten, und ebenfowenig, dah fie
die erforderlichen Geldmittel haben fonnten, um mit ciner eigenen Wablarbeit in
diejer kurzen Seit ein Refultat zu erzielen.!)
Der Gedanke, dak Frauen für unpolitiſche Kommunalwahlen arbeiten ſollten, war
indefjen aufgeworfen und wurde an manchen Orten auſgenommen. In Bergen wollten
') Es fei hierbei bemerft, daß bas Arbeitskomitee ded Vereins fiir Frauenſtimmrecht durch cine
vernünftig durchgeführte Olonomie imſtande war, ſich mit den kleinen Beiträgen zu behelfen, die die
Mitglieder des Vereins ſpendeten. Seine Wahlarbeit foftet der Summe, die eine der großen
politiſchen Parteien brauchte.
Norwegifde Frauen alS Wabler und Stadtverorbdnete. 223
ſich ebenſo wie in Rriftiania die bejten Vertreterinnen der Frauen nicht an die Partei-
programme binden. Später madten fics unabbangige Manner und Frauen dort
jujammen ans Werf, eine unpolitijde Wablerlifte aufzuſtellen. Trotz manches Miß—
geſchicks und trogdem die Arbeit allzu ſpät begonnen wurde, gelang es aud) eine folche
qujtande zu bringen und fie bei der Wahl reprajentieren zu laſſen. — Jn Krijtiansjand
jammelten ſich eine ganze Anjabl Frauen um eine fogenannte ,,private’ unpolitiſche
Lijte — einen Mifddsettel, der Ramen von den Wablerlijten der übrigen Parteien
enthielt. An den meijten Orten wurde jedoch die Adee wieder aufgegeben, teils weil
man die Seit yu fur; fand — auch wobl weil der Mut feblte, die Arbeit fiir etwas
fo Neues ju beginnen. Es war bequemer, ſich an die fertigen, eingearbeiteten Parteien
zu wenden und dieſe zu bewegen, die Frauen, die man wünſchte, auf ibre Lijten zu ſetzen.
Im Laufe des Sommers und Herbjtes brachte Fraulein Gina Krogs Zeitſchrift
„Nylände“ cine Reibe ausgezeichneter Artifel tiber Kommunalwahlen und -Angelegen-
beiten, worin u. a. das Wahlgeſetz und das fomplizierte Wahlſyſtem entwirrt und
anſchaulich erflart wurde. Dieſe Artikel wurden eifrig ftudiert von alt und jung —
aud von Mannern, Es jeigte fic) nämlich, daß die meijten von Ddiefen, went ibre
Frauen in ibrem friſchen Cifer die Herren und Gebieter um Aufklärung über diefen
oder jenen Punft fragten, vielfach die lieblichſte Unwiſſenheit verrieten. , Was foll id
mir den Kopf über fo etwas jerbrechen” fagte cin woblbefannter alter Biedermann,
„dazu habe id) eine Barteileitung, — dah fie fiir mic denkt!“ — Dah die Partei-
führer wirklich dazu da waren, zu denken — und zwar in ibrer eigenen Rictnng, in
Deren Intereſſe fie ſtrupellos alles auslegten — das merften die unparteiiſchen unter
den Frauen aud bald; fie faben, daß fie ſich auf ſich felbjt verlaſſen mußten, und fie
gingen gründlich zu Werke. Aufflarende Vortrage wurden gebalten, und an mehreren
Orten errictete man vor der Wahl eigene Ausfunftbureaus zur Anleitung in den
rein praftifden Fragen. Dah jie es hierbei gewijfenbaft vermieden, irgend jemand in
feiner Meinung zu beeinfluſſen, wurde tiberall anerfannt.
Su dem Mage, wie die Wohl fich näherte und die Parteiagitation die sibliche
Steigerung erfubr, verfcharften fic auch die Angriffe gegen die „Frauenliſte“ in Kriftiania
wie gegen die unpolitiſchen Lijten überhaupt, die man vermutlic als cine Folge de3
Aujftretens der Frauen betradtet. Von den Frauen der Rechten wie der Linfen wurden
Majjenverfammlungen einberufen, in denen eS den Subdrerinnen als ibre beiligite und
einzige Pflicht vorgebalten wurde, mit der Partet zu ftimmen, die die Verſammlung
einberujen hatte, — oder jedenfalls, wenn es garnicht anders ginge, mit der Gegen-
partet zu ftimmen, aber um Gottes Willen nicht mit den „Unpolitiſchen“ oder den
„Frauen“, die mim trop ihrer Friedfertigkeit die gefährlichſten von allen geworden
waren. — Worin ihre Gefabrlichfeit bejtand, erfubr man nidt fo genau.
Die Frauen der Rechten batten in Kriftiania und Drontheim Manner gewablt
als ibre Wortfiibrer, im iibrigen bielt man fic in der Regel an feine eigenen weiblicen
Rednerinnen.
Das Arbeitsfomitee des Vereins fiir Frauenftimmredt (da3 auf Grund feiner
Mitgliederzabl popular das ,,3wanjigerfomitee” oder die „Zwanzigfrauen“ genannt
wurde) arbeitete inzwiſchen ruhig weiter, obne fich von Propheseiungen anfechten zu
laſſen, daß es keinen einzigen Mann von Bedeutung auf feine Lijte und nicht genug
Stimmen befommen würde, um cinen einjigen Vertreter durchzuſetzen. Es ließ ſich
auch nicht durch direkte Anerbietungen verlocken, „Stimmen zu gewinnen,“ indem es
Kompromiſſe mit anderen Vereinen einging. Sein ſtandig wiederhölter Grundſatz war:
„Wir arbeiten für das, was wir recht finden; wir wollen weder agitieren, noch uns
auf Verhandlungen einlaſſen. Erreichen wir diesmal nichts, beginnen wir das nächſte
Mal von neuem“. Diefem Grundſatz blieb es die ganje Zeit treu, trogdem die
Verſuchung, auf alle die uniwigigen Angriffe eine fcbarfe Antwort zu geben, oft recht
jtarf war — um fo mebr, als dem Romitee die beften und geübteſten Streitfrafte
unter Den Frauen angebirten.
Trogdem von Anfang an die Abjicht des Komitees klar genug auseinandergefest
worden war, bradten die Zeitungen ftets verhüllt oder ausgefproden ſpöttiſche Fragen,
224 Norwegiſche Frauen al Wahler und Stabtverordnete.
twas die ,, Damen” eigentlid) mit ibrer Urbeit zu erreiden gedächten — Fragen,
die immerfort wiederholt wurden, ob man fie aud nod) fo klar beantwortete. Durch
dies Vorgehen der Preſſe batten ſich in bezug auf die unpolitifche Liſte die Begriffe
verwirrt, — was wohl auch beabjictigt gewefen war. Einzelne glaubten, fie jollte
ausſchließlich Frauen zur Wahl aufſtellen — andere, man wolle lauter farblofe Perjonen
finden, foldse, die gar feinen Standpunft batten! Ciner Aufforderuug zufolge bielt dann
die Vorjigende des Vereins fiir Frauenftimmredt, Frl. Anne Holſen einen öffentlichen
Vortrag über die unpolitifde Lijte der Frauen und deren Swed — fo Flar, ſachlich
und formvollendet, daß er felbjt die Anerkennung der Gegner gewann. Er erregte
nicht wenig Auffeben und wurde am folgenden Tage als Beilage zu „Verdens Gang”
qedrudt. Diefes Blatt hatte fich die ganze Zeit — im Gegenfas au anderen politiſchen
Zeitungen — gegeniiber dem Beſchluß und der Arbeit des Vereins fiir Frauenftimmredt
jebr wohlwollend verhalten und feine Spalten den Anhängern des unpolitijeben Programms
zur Verfiigung gejtellt, — wovon jedod nur in geringem Maße Gebraud gemacht
wurde, da die Frauen, wie ſchon erwähnt, pringipiell feine Agitation treiben wollten.
Als ſämtliche Wablerliften verdffentlidbt wurden, zeigte es fich jum allgemeinen
Erjtaunen, dak die der Frauen eine ganze Reibe woblbefannter und angejebener Dinner:
namen enthielt, dDarunter einjelne, an die fic die politiſchen Parteien vergebens gewandt
batten. Daß fie die beſten weiblichen Reprajentanten aufwies, wußte man ja vorber.
Mun befamen die Parteien ernſtlich Angſt, Stimmen zu verlieren, und das gröbſte
Gefchiig wurde aufgefabren. Qn den legten Tagen vor der Wahl und am Wabltage
felbjt enthielten die Seitungen die heftigſten Aufrufe, fic) vor der fogenannten unpolitijden
Frauenliſte zu biiten, diefem ,,reifenden Wolf” (jie wurde wirklich in „Aftenpoſten“
fo benannt), die von der Linken alS Handlanger einer verichtlichen Rechten bezeichnet
wurde, wibrend die Rechte fie diijter und drobend „weiter“ nichts als eine masfierte
Vinfenlijte nannte. Das half. Trog der vielen unerwarteten Veweife von Sympathie,
die den Frauen bei ibrer Arbeit guteil geworden waren, nicht zum wenigiten feitens
der Männer, erbielt die Liſte bei der Wahl nur zwei Reprijentanten, freilich zwei
feiner bejten weiblichen Politifer, namlicd) Frau Ragna Nielſen und Fel. Anne Holfen.
Stellvertreter wurden zwei Der anderen Frauen, die man bei der Wahl durchzubringen
gehofft batte. Inſofern wurde das Refultat von allen Frauen, mit welder Partei fie
auch geftimmt batten, freudig begriift; aber es wurde lebbaft bedauert, daß Feiner der
ausgezeichneten Männer, die auf der Lijte geftanden haben, gewählt worden war.
Das Entgegengejeste ereiqnete fic) in Tromsd, wo eine Bartei, die fic) ,,die
unabhängige Linke” nannte, die Frauen bewogen batte, cine Wablerlijte aufzuſtellen und
zu unterzeichnen, von Der Dann bei der Wahl alle Frauennamen geſtrichen wurden, fo
daß nur Manner bineinfamen.
Dberhaupt zeigte eS ſich, daß die Linke im ganzen Lande febr häufig die Frauen
aus ihren Liſten geltriden hatte, was ſowohl Eritaunen wie CEntriijtung erregte. In
mebreren Städten fam nicht eine einzige Frau auf die Lifte der Linfen, trogdem
man fid) allgemein dariiber flar war, wie tüchtig und fiir das dffentliche Leben brauchbar
gerade Die Dort aufgefiihrten Frauen waren. Der ſchlimmſte Schlag war, daß in der
Hauptitadt felbjt fic das gleiche Schaufpiel zutrug. Freilich batten bier ſowohl Rechte
wie Yinke infolge der Conderlijte der Frauen teilweije neue und nnerprobte Frauen:
namen auf ibre Lijten ſetzen müſſen; die der Linken enthielt jedoch ein paar qute
Namen, und das riidfichtslofe und unerklärliche Streichen erregte große Crbitterung
gegen die Partei.
Die Rechte war durchgehends Hiflicher gegen ibre Damen, Der große Trop
ebrbarer Ronjervativer änderte nidts an jeinen Yijten, man verſchlang fie ganz, mit
Frauen und allem — aber fie batten auch meift nette, gebildete Damen befommen,
die niemals grofen Lärm gemadt batten und an denen feiner Anſtoß nehmen fonnte.
Die Frauen machten bei der Stadtverordnetenwabl im Jahre 1901 etwas über
1/, der Wählermaſſe aus, Unter 633 487 Stimmberedhtiqten waren 231 064 Frauen.
Von diefen waren 18971 perſönlich Steuerjablende, etwas iiber die Hälfte auf dem
Lande, der Reft in den Stadten.
Norwegifde Frauen als Wabler und Stadtverordnete. 225
Die Wablbeteiliqung war bei den Frauen auf dem Lande an den meijten Orten
ſpärlich, durchſchnittlich nur 4,9 Prozent. Das Intereſſe war gering; auf dem Lande
ijt man ja gern geneigt, alles Neue mit Miftrauen su betrachten. An gegen '/, der
Bezirke wurden gar keine Stinunen von den Frauen abgegeben.
Jn den Städten war die Beteiligung meiſt ganz qut, durchſchnittlich 48 Prozent
(von Mannern ftimmten in den Städten durchjebnittlich 57 Prozent). In vielen Fleineren
Stidten war die Beteiligung der jtimmbereddtigten Frauen nocd weit ſtärker, bis zu
80—90 Prozent, in einzelnen größeren Orten dagegen ziemlich dürftig.
Von den gewäblten 12428 Re—
prifentanten waren 98 Frauen, davon 86
in zuſammen 27 Städten und nur 12
in den Landdiftriften. Jn einer Stadt
(Kriftiansjand) wurden 7 Frauen, in
5 Städten je 6, in Den iibrigen von
6—1 Frau gewablt. An 33 Stadten
wählte man keine weiblichen Stadtver—
ordneten. Zu Stellvertretern wurden
160 Frauen gewählt, davon 105 in den
Städten und 55 auf dem Lande.
Die Frauen ſtehen in der öffentlichen
Wablſtatiſtik mit eigenen Liſten nur in
Kriſtiania und einem einzelnen Kirchſpiel
aufgeführt, wo ſie jedoch zu wenig Stimmen
erbielten, um einen Repräſentanten durch—
sujegen. Indeſſen hatten, wie ſchon erwähnt,
Frauen allein ſowohl die Liſte der „un—
abhangigen Linken“ in Tromsö und die
private unpolitiſche Liſte in Kriſtiansſand
unterzeichnet.
Dieſer letzteren war es vermutlich zu
verdanken, daß in Kriſtiansſand die größte frau Ragna Nielſen.
Anzahl weiblicher Repräſentanten gewählt (Aus: Det ny Aarhundrede.)
wurden, trogdem die dortigen Frauen fic
mir ſpärlich beteiligten. Wan hatte dort auch cinige Sozialiſten auf der unpolitifdren
Liſte aufgefiibrt, etwas, was man fonjt vermicd.
Die Frauen Krijtianias batten ibre Lijte „die unpolitiſche Liſte“ genannt. Dies
mufte im letzten Augenblick gqedindert werden, da der Wablvorjtand es geſetzwidrig
jand, die Lijte mit cinem WAdjeftiv zu bezeichnen, weshalb der Name in ,,Vijte des
Vereins fiir Frauenſtimmrecht“ abgeindert wurde. Dies machten ſich die Geqner
natürlich augenblidlicy gu muge, die Die Sache jo auslegten, als ob Die Viste fiir nicht
unpolitiſch genug befunden worden fei! In Bergen erbob man feinen Cimwand gegen
die Bezeichnung unpolitiſche Lijte.
Durchſchnittlich ſtimmten freilics die Frauen dDiesmal mit ibren Parteien, oder
richtiger mit den Parteien, zu denen ſich ihre wahlgewohnte, männliche Umgebung zählte.
Es ijt ja immer nur eine Minderzahl imſtande, über öffentliche Angelegenheiten und
Perſonen ihre eigene Meinung ſich zu bilden, und die emſige Agitation der Parteien
tut auc im letzten Augenblick das Ihre, um das Stimmpieh in die alten Reihen zu
treiben. Dodd batten Frauen, die im übrigen mit politiſchen PBarteien ſtimmten, in
ganz, grofer Ausdehnung von dem Rechte der Namensüberführung Gebrauch gemadt,
um fiir Die Frauennamen der anderen Vijten zu ftimmen, wenn dieſe eine befonders
ſammelnde Kraft batten. Dies war auch der Grund, weshalh die weiblichen Namen
auf der unpolitifden Liſte in Nrijtiania mebr Stimmen erbielten als die männlichen.
Die Rechte erbielt an den meijten Orten die qrofe Majoritdt bei den Wahlen,
was man nicht zum wenigiten Der Beteiligung der Frauen verdanfen yu müſſen qlaubte,
Nonfervative Spiefbiirger, denen weibliches Stimmrecht ein paar Monate zuvor ein
15
226 Norwegiſche Frauen ale Wahler und Stadtverordnete.
Greuel und cine Widerwärtigkeit gewefen war, fpazierten nun kreuzvergnügt yur Wahl—
urne in Begleitung ihrer Chebalften, die, ob fie nun wollten oder nicht, helfen follten, den
fürchterlichen Sozialiſten Schranken yu ſetzen. Die Sosialijten und ibr Tradten nach
des Nächſten Gut waren nämlich das Sehredbild, das die Ronverfativen überall auf—
ftellten, um irrende Seclen auf den ficheren Weq zu bringen. — Die Reitungen der
Rechten waren, nachdem der Ausfall der Wahl befannt geworden, auch äußerſt galant
gegen die Damen und dankten fiir die gute Hilfe. Das Entgegengeſetzte war bei den
Blittern der Linfen der Fall. So gab „Dagbladet“ in Kriſtiania ausſchließlich den
Frauen Schuld an dem fitr die Partet ungünſtigen Ausfall und tröſtete fic und feine
Leſer damit, dak bei den Storthingsiwablen, wo die Frauen nicht dabei waren, febon
alles gut geben follte!
An einzelnen Orten des Wejtlandes, wo die Nachwirkungen der pietiſtiſchen
Bewegung nod) ju verjpiiren find, unterliefen es die Frauen der WArbeiterflajjen aus
religidfen Griinden faft durchweg, ihre Stimmen abzugeben.
Was die Frauen der Sozialiſten anbelangt, fo ijt zu bemerfen, daß fie fic
iiberall der Zuſammenarbeit mit ben anderen Frauen entyoqen und nur mit ibrer Partei
arbeiten wollten. Diefe brachte übrigens trog aller Propheseiungen nirgends eine
ſtarke Vertretung durch.
Frägt man, ob ſchon jest von der Beteiligung der Frauen am öffentlichen Leben
einige Wirkung yu verfpiiren fei, fo muß die Antwort unbedingt ja lauten. Nicht ge-
rade in dem Sinne, daß irgend eine Frau bisher cine Revolution in den Kommunal—
verwaltungen herbeigeführt oder (vielleicht mit ciner einzigen Ausnahme) weſentliche
Neuerungen angeregt hätte, die nicht ebenfo qut Dinner batten vorbringen können.
An vielen Orten verbhalten fie ſich vorläufig noc paffiv, da fie meinen, daß fie in
rein formeller Hinjicht viel yu lernen haben. Jn Bergen balten die Frauen vor jeder
Magiſtratsſitzung private Verjanuntungen ab, wo fie dann die vorliegenden Sachen zur
gegenfeitigen Aufklärung und Belebrung durchgehen. Cine Stadtverordnete in einer
der größeren Städte ſchreibt: „Was ich in den Beratungen vor allen Dingen gelernt
babe, ijt, ju febweigen; denn die dort übliche Redfeligkeit iſt über alle Grenzen ab—
ſcheulich. Reine Frau hat fic) nod in diefem Punkt verfiindigt; deshalb birt man
uns an, wenn wir einmal etwas fagen.“
An ciner Landgemeinde — Cidsvold — wo eine befonders tüchtige Frau in der
Kommunalverwaltung jist, war diefe in cin Komitee von fiinf Mitgliedern gewählt
worden, das über mehrere Entwürfe fiir cine Straßenlinie zu entſcheiden hatte. Ob—
wobl fie im Komitee mit ibrer Meimung gang allein blieb, erbielt fie in der Kreis:
verwaltung nad einer lebhaften Debatte zwei Drittel der Stimmen fir „ihre“ Linie —
ein recht bemerkenswertes Refultat anf dem Lande.
An Krijtiania mit feiner verhältnismäßig diirftigen weiblichen Reprajentation —
nur 6 von 84 (2 Rechte, 2 unpolitiſche und 2 CSojialiften) ijt man fo gliidlid, in
Frau Ragna Nielfen cine Stadtverordnete zu befiken, deren energifde Perſönlichkeit
und unermüdliche Arbeitskraft ſchon längſt von allen Parteien anerfannt und geſchätzt
worden ijt. Cie wird auc) ftarf in Anſpruch genommen, und ibr flarer, praftifcher
Bic und ibre unerfdrodene Kritik üben ſchon jest einen merfliden Cinflug aus —
nicht jum wenigiten in ökonomiſchen Fragen, wo fie cine Breſche in das gewobnte
Syſtem geleqt bat, von Ofonomie yu reden, ftatt fie praktiſch im Detail durchzu—
fiibren. Ihre Kritif u. a. des koſtbaren Syſtems der fommunalen Mittelfdulen und
ihr Nachweis von deffen Ronfequenzen hat große Aufmerkſamkeit und felbitverftdndlich
in einzelnen Abteilungen viel Veritimmung erregt, nach dem febr üblichen Prinzip, dah
freilich in der öffentlichen Verwaltung gefpart werden mug, fo im Unbejtimmten,
Groen und Ganzen genommen — aber die Sparjamfeit bat fics hübſch von den Ge-
bieten fern zu balten, Die meine cigenen perſönlichen Intereſſen berühren!
Aber die hauptſächliche Wirkung weiblicen Stimmrechts liegt doch in anderen
Dingen: An dem qroferen Refpeft, der nun der Arbeit der Frauen und ibren perſön—
licen Meinungen entgeqengebracht wird, ſpeziell in den Rreifen, wo es vorber undenk—
bar war, ibnen irgendwelchen ſpeziellen Einfluß cinjurdumen und wo im ganjen alles,
Ronfeffionalismus und Frauenbeiwegung. 227
was zur „Frauenfrage“ gehörte, wie Das rote Tuch war. Jn freier denfenden Kreijen
find ja norwegiſche Frauen ſchon feit vielen Jahren als die ebenbiirtiqen und gleich—
geftellten Arbeitsgefabrten der Manner angefeben worden — jedenfall in der Theorie;
in der weiteren Ausdehnung, in der die Frauen nun zu allerband Wmtern, mit und
ohne Gebalt, gewählt werden, wo ibre bejonderen Fabigfeiten und Anlagen zu ihrem
Recht kommen; und nicht zum wenigſten im dem Riidbalt, den es den vielen richtig
Denfenden aber Verzagten unter den Frauen gibt, wenn fle feben, daß eine von den
Ihren fic nun öffentlich ausſprechen und fiir die Auffaſſung ibres Geſchlechtes von
manchen fozialen und moraliſchen Verhältniſſen kämpfen fann, wo diefe Auffaſſung von
der iiblichen und angenommenen abweicht — allerdings auch ferner, obne gehört zu
werden, aber dod) obne den Hohn und Spott ju erregen, dem vorber die fogenannten
Weiberanſichten faft immer begegneten.
In Schule und Armentvefen, in Vormundſchaftsſachen und Krankenhaus-Aufſicht,
in alle miglichen Romitee’s und Kommiſſionen — fogar in Regqulierungsfommiffionen
bat man nun Frauen gewählt, und von feiner Seite birt man andere als befriedigte
Urteile fiber die gemeinfame Arbeit der beiden Geſchlechter.
In einer Verſammlung in Drammen fagte cine Bortragende vor der Wabl:
„Wir fommen jum öffentlichen Leben mit unferen einfacen Begriffen von Rect und
Unrecht. Schämen wir uns diefes unferes naiven Standpunftes nicht.“ —. Die
Hoffnung, die man begte, daß die Frauen nach ihrem Gewiſſen urteilen wiirden, quer
durch alle Parteirückſichten hindurch, fcbeint bis jest Feine trügeriſche gewefen su fein;
jedenfallS nicht in beyug auf die Frauen, die eine Uberzeugung haben. Und wir
qlauben nicht, daß es jemand bereut oder bedauert, fie in das öffentliche Leben hin—
cingelaffen zu haben.
“GE
Konfessionalismus und Brauenbewegung.
@ertrud Baumer.
RNaddrud verboten.
Yor furjem ijt ein katholiſcher Frauenbund gegriindet worden. Er foll neben
A einer planmäßigen Sujammenfajjung der Vereinstätigkeit katholiſcher Frauen
£2) den Swed haben, „die katholiſchen Frauen in die gegenwartiq das Frauengeſchlecht
bewegenden Fragen einzuführen und ibnen ju ermöglichen, an einer Löſung derfelben
im Sinne der chriſtlichen Weltanſchauung erfolgreich mitzuwirken.“ Sum Borjtand
gehören u. a. die Frauen befannter Zentrumsabgeordneter, Bachem und Trimborn.
Wer die mafgebende fatholifche Preſſe in ihrer Stellung yur Frauenfrage wabrend
der legten Sabre beobachtet hat, wird fich fagen, daß es yu einer ſolchen Gründung
fommen mußte. In der Entitehung cines im Cinne der Frauenbewegung fortfcbritt-
lichen Eatholifdben Organs „Die chriſtliche Frau” war ein folder Zuſammenſchluß
ſchon vorbereitet. Die Charitastage batten ſchon vorber der Frauenfrage einen Teil
ihrer Verbandlungen gewidmet, in den Stimmen aus Maria Laach tauchte fie auf,
und die Kölniſche Volkszeitung hat ibe feit längerer Zeit ein vorurteilsfreies Intereſſe
geſchenkt. Es ijt gar keine Frage, dah die Frauenbewegung in bezug auf einzelne
praktiſche Aufgaben fosialer Woblfabrtspflege ſchon der fatholifchen Vereinstätigkeit
15*
228 Ronjeffionalismus und Frauenbewegung.
manches verdanft, und dak fie von dem katholiſchen Frauenbund in diefer Hinſicht
manche Forderung erwarten darf. Hat fie deshalb Grund, fic) diefer neuen Organifation
zu freuen?
Als diefe Frage bei der Griindung des evangeliſchen Frauenbundes aufgeworfen
wurde, haben mafgebende Stimmen aus der fogenannten „bürgerlichen“ Frauen:
bewegqung fie obne weitered bejabt. Man hat es als einen Sieg der Sache begriift,
dah Frauen, in deren Weltanichauung fic der Gedanke der Frauenbewegung zunächſt
nicht cinfiigen wollte, fic) dod) der zwingenden Macht der Tatſachen ſchließlich er-
gaben, und man bat fic) mit Befriediqgung gefagt, daß unfere Bewegung nun ganze
Rreije ergreifen würde, zu denen die interfonfeffionelle Frauenbewegung feinen Weg
gefunden bitte. Sur Griindung des fatholifehen Frauenbundes hat fich die bürgerliche
Frauenbewegung bis jest noc wenig gedubert, doch wollte man die einzelnen
befragen, fo twiirde man ficher febr viel weniger unbedingte Zuſtimmung finden. Und
dod) wire es cinfeitig, zu verkennen, daß der Gewinn fiir die Frauenbewegung bier
derfelbe ift wie dort. In beiden OCrganifationen iſt die Vertretung der Frauen:
bewegung an eine Bedingung gefniipft. Man will fie mit den Gedanfen ciner be:
ſtimmten Weltanſchauung durchdringen und in gewiſſem Sinne den praktiſchen Zielen
dieſer Weltanſchauung dienſtbar machen. Wenn vom Geſichtspunkt der Frauen—
bewegung aus der erſten Gründung im allgemeinen mehr Sympathie entgegengebracht
wird als der zweiten, ſo hat das ſeinen Grund ſicherlich darin, daß man in der Welt—
anſchauung als ſolcher auf der einen Seite engere Schranken für die Entfaltung der
Frauenbewegung ſieht, als auf der anderen, und daß man den Willen und die Macht,
konfeſſionelle Zwecke in den Vordergrund zu ſtellen, auf der einen Seite höher ein—
ſchätzt als auf der anderen.
Darum iſt jetzt erſt, bei der Gründung des katholiſchen Frauenbundes, in der
liberalen Preſſe die Klage über die konfeſſionelle Spaltung, die auf immer neuen
Gebieten unſeres Volkslebens zu tage tritt, laut geworden. Ich meine, die Trieriſche
Landeszeitung hat nicht ganz unrecht, wenn ſie dem entgegenhält, daß von ſolchen
Klagen bei Gründung des evangeliſchen Frauenbundes nicht die Rede geweſen fei,
trotzdem er dad Prinzip des Konfeſſionalismus in die Frauenbewegung eingeführt
habe. Und ich meine, auch für uns iſt die Frage nicht die: Frommt uns ein
evangeliſcher Frauenbund, oder frommt uns ein katholiſcher Frauenbund, ſondern die
prinzipielle: wie ſtellen wir uns überhaupt zu konfeſſionellen Organiſationen in unſerer
Bewegung?
Da wird alſo vor allem das Arqument zu betrachten fein, daß die Ideen
unjerer Bewegung durch die Fonfejjionellen Vereine in Kreiſe getragen werden, an die
fonjt nicht heranzukommen wire. In anderen Worten heißt das: daß die Wutoritit
der fonfeffionellen Cinfleidung cine Werbefraft entfaltet, die dem Gedanken der Frauen:
bewegung an fich fiir die betreffenden Kreiſe nicht innewobnen würde; die Ctifette
diefer oder jener Ronfeffion ijt cine Art Freipaß yum Einzug in Gebiete, in denen
die Frauenbewegung fonft als Nontrebande gilt; die Ronfeffionalitit der Frauen—
bewegung ijt cin braudbares und wirkfames taktiſches Mittel yu ihrer Verbreitung.
Selbſtverſtändlich fann diefer Geſichtspunkt nur von folden geltend gemacht werden,
die religidjen Nberseugungen feinen befonderen Wert heilegen. Wem fie ein inneres
Heiligtum find, der wird fie nicht dazu erniedrigen wollen, in diefer Weife als Mittel
zum Swed zu dienen. Das hieße doch, um ein Bild Jean Pauls yu gebrauchen,
Ronfeffionalismus und Frauenbewegung. 229
mit Szeptern nach Fritchten werfen. Alſo mur die „Frauenrechtlerin“, der ibre Gade
liber jedem anderen Intereſſe fiebt, fonnte eines mit ſolchen Mitteln erfochtenen Sieges
fic) freuen. Wher arch fie miifte fidd Fragen, ob mit dicfen Anbangern, fiir die cine
Sade erft durch die Sanftion diefer oder jener Autorität annebmbar wird, ein wir:
licher innerer Fortſchritt zu verzeichnen ift, ob folche Menſchen zur Frauenbewegung in
ein fejtes und Flares Verhältnis treten finnen, tvenn man fie nur auf einem Umweg
dafür gewinnen fonnte. Natürlich wird durd die Erweiterung ibres Propaganda:
gebietes die Frauenbewegung auch diefen oder jenen erreichen, der nicht einer aus-
driidlichen Sanktion, fondern nur einer Gelegenbeit, cines äußeren Anſtoßes bedurfte,
um aus jfelbjtindiger innerer Nberjeugung fiir fie eingutreten und zu arbeiten. Und
viele Mitarbeiterinnen im deutſch-evangeliſchen Frauenbund find ein Beweis dafiir,
daß durch Ddiefe Vermehrung der Propaganda: und AUrbeitsgelegenheiten für unfere
Sache ihr tatſächlich wertvolle Krafte gewonnen find. Im ganjen aber ijt auc vom
Geſichtspunkt der Frauenbewegung aus Konjfeffionalitat als taktiſches Mittel ein zwei—
ſchneidiges Schwert.
Auch noch aus anderen Gründen als dem angeführten. Vor allen Dingen um
der Zerſplitterung der Kräfte willen. Schon jetzt haben wir in manchen Städten
einen Zweigverein der interkonfeſſionellen Frauenbewegung neben einem ſolchen des
evangeliſchen Frauenbundes. Die praktiſchen lokalen Aufgaben, die der Frauen—
bewegung obliegen, find aber dod) tatſächlich die gleichen, ob cin konfeſſioneller oder
ein interfonfefjioneller Verein fie angreift. Man braucht nur die Vereinsberichte, die
Tagesordnungen der Generalverfammlungen, die Petittonen 2¢. aus beiden Lagern ju
verqleiden, um dieſe durchgehende Nbereinftimmung zu konſtatieren. So ſchafft man
an vielen Orten zwei zeit- und kraftraubende Apparate für dieſelben Funktionen. Zu
ſolcher Verſchwendung von Kraft fehlt es uns wirklich an leiſtungsfähigen Perſönlich—
keiten. Ob überdies aus dieſem Nebeneinander gleicher Beſtrebungen ſich cine Konkurrenz—
ſtimmung ergibt oder nicht, iſt lediglich eine Frage des Taktes der Vorfigenden. Dah
der evangeliſche Frauenbund und dic interkonfeſſionelle Frauenbewegung nach Kräften
an dem Prinzip des „Getrennt marſchieren — vereint ſchlagen“ feſtgehalten haben,
iſt ein perſönliches Verdienſt der Leitungen. Wir dürfen uns nicht darüber täuſchen:
je mehr konfeſſionelle Zweigvereine neben denen der unabhängigen Frauenbewegung
an den einzelnen Orten entſtehen, um ſo größer wird die Reibungsfläche. Und es
könnte wohl einmal ſein, daß der gute Wille der Leitung auf beiden Seiten nicht
immer über Differenzen hinweghülfe. Jedenfalls wird das um ſo ſchwerer, wenn nun
neben dem evangeliſchen und dem interkonfeſſionellen ein katholiſcher Frauenverein in
derſelben Stadt entſteht. Damit wird die Einheitlichkeit in der Bewegung einfach
unmöglich, denn es iſt kaum denkbar, daß der evangeliſche und der katholiſche Verein
auch nur „vereint ſchlagen“. Die Macht des einen, des konfeſſionellen Prinzips, das
dieſe Vereine verfolgen, wird ſich in dieſem Fall zweifellos ſtärker erweiſen, als der
beiden gemeinſame Zweck: die Frauenſache.
Und nun betrachten wir die ganze Frage in noch größerem Zuſammenhang, in
ihrer Bedeutung fiir unſer nationales Leben. Die politiſche Preſſe bat mit Rect in
der Begriindung eines deutſch-katholiſchen Frauenbundes cin politiſch bedeutungsvolles
Ereiqnis gejeben. Auf Schritt und Tritt ſehen wir unſer politijdes Leben unbeilvoll
beeinflugt dure den immer weiter auseinanderflaffenden Gegenſatz der Konſeſſionen.
Wir wachſen yu zwei Völkern auseinander, die fics immer weniger verſtehen. Jede
230 Ronfeffionaligmus und Frauenbeivegung.
Rulturfrage — von der Reform der Mädchenſchule bis zur lex Heinze — wird eine
Machtfrage, wird entichieden durd einen Rampf oder einen Kompromiß zwiſchen zwei
feindliden Lagern. Die Durchfiibrung der Weltpolitif, die Wahrung der Machtjtellung
nad augen muß erkämpft werden durch ein Paktieren in der inneren Politif, dad den
Gegenſatz immer augenfilliger fonftatiert. ES ijt geradezu eine der brennendften Fragen
unferer nationalen Entwidlung, ob es gelingt, diefem wachſenden fonfeffionellen Zwie—
fpalt Ginbalt ju tun. Jedes neue Gebiet, auf dem die fonfeffionellen Fahnen auf:
gepflanzt werden, bedeutet eine Verſchärfung des Konflikts. Jede Musdehnung des Arbeits-
feldes, auf dem Angehörige der verſchiedenen Ronfeffionen, unbeſchadet ihrer religidfjen
Tberjengungen, fic) zu gemeinjamer Rulturarbeit die Gand reichen lernen, ift in
nationalem Sinn ein unfebagbarer Gewinn. Das, meine ich, mup fiir jeden national
empfindenden und politiſch lar febenden Menſchen bei allen Sonderbeltrebungen,
qleichgiltiq anf welchem Gebiet, der leitende Gefichtspunft fein. Und mir ſcheint, es
finnte einem modern denfenden Menſchen nicht ſchwer fein, diefen Gefichtspuntt
fejtzubalten. Unfer geiſtiges Leben hat die Weltanfdauung des einjelnen fo
individualifiert, daff es febwerer und ſchwerer wird, die Nberzeugungen vieler durch
cin uniformes Befenntnis wirklich rein und jutreffend auszudrücken. Wher indem wir
uns fo voneinander trennten, baben wir jugleich gelernt, fremde Anſchauungen als
etwas individuell Gerechtigtes zu verfteben und yu achten, und die UÜbereinſtimmung
in der Weltanfchauung nicht als conditio sine qua non fiir jede Art gemeinjamer
Arbeit anzuſehen.
Auch die Frauenbewegung hat Lis vor wenigen Jahren diefen Standpuntt feſt—
qebalten. Sie bat Frauen der verichiedenften geiſtigen Richtungen, ſolche, die auf
pojitivem fonfeffionellen Standpunft fteben, und freier denfende vereinigt, weil fie fic
fagte: e& gibt feine evangelifden und feine fatholijcben Siele in der Frauenbewegung,
fondern nur das cine gemeinfame Biel: den Frauen den Einfluß auf die Kultur zu
verſchaffen, den fie bei voller Entfaltung ihrer geiſtigen Perſönlichkeit anszuüben ver—
michten. Wie der einzelne dieſes Ziel mit feinen religiöſen Nberzeuqungen verknüpft,
kann ibm iiberlaffen bleiben; an fic) liegt in bem Streben danad nichts, das mit den
Grundlagen irgend eines Befenntniffes in Widerfprucd ftiinde, oder da8 aus einem
religibfen Befenntnis heraus befonders fornuiliert werden müßte. Ob ich als evangeliſche
Frau gegen Die ftaatliche Reglementierung des Lajters oder fiir die Zulaſſung yum
Univerfitdtsjtudium kämpfe, oder von irgend einem anderen Standpuntt aug, iſt ſachlich
ganz gleichgiltiq, und tweder in Frauenlöhnen, noch in Arbeiterinnenfchuggefesen, nod
in Vereinsredtsparagraphen laffen fic die Unterfchiede eines katholiſchen oder evan—
gelifchen oder fonft cines philofophifden Credo ausdrücken. Diefe Einſicht bat die
deutſche Arbeiterbewegung in ibrer allerjiingiten Cntwidlung bewiefen. Jn der Frauenz
bewegung iit fie bis vor wenigen Jabren maßgebend gewefen.
Nun hat fich eine fonfeffionelle Abfonderung auch auf dieſem Gebiet vollyogen.
Die ganz felbjtverftdndlice Ronfequeng eines evangeliiden Frauenbundes iſt ein
katholiſcher geworden. Ganz obne Schuld an diefer Gejtaltung der Dinge mag die
interfonfeffionelle Frauenbewegung nicht fein. Es iſt vielleicht hier und da auf Ver-
fammiungen und in der Preſſe von einzelnen ibrer Vertveterinnen einmal cine
Außerung getan, die die Toleranz nach rechts — die den Menſchen meijt fo viel
ſchwerer fällt, als die Toleranz nach linfs — vermiffen lich. Cie ift aber meines
Wiffens — icy denke befonders an eine Auperung auf dem Dresdener Frauentag —
Konfeffionalismus und Frauenbewegung. 231
aud nicht obne Zurückweiſung geblieben. Keinesfalls aber fann man fagen, dah
die Frauenbewegung pofitiv fonfefjionellen Frauen ein Zujammengeben mit ibr une
möglich gemacht hatte.
Alſo nicht die Erfabrung, dap man in der bürgerlichen Frauenbewwequng in
ſeinen Uberzeugungen verlegt iwerde, fondern nur der pofitive Wunſch, auc auf
dieſem Gebict unter ſich“ ju fein, mit den Bielen der Frauenbewegung zugleich die
Intereſſen dieſes oder jenes Befenntniffes zu verfolgen, bat yu den fonjeffionellen
Gründungen gefiibrt. Einen perfinlicden Vorwurf fann man natürlich niemandem
daraus machen, wenn es ihm als cine Gewwiffenspilidt erſcheint, überall, bet jeder
Betätigung im wirtſchaftlichen und fozialen Leben, fiir feine religidjen Mberzeugungen
zu wirken. Ob dieſer Gewiſſenspflicht nicht ebenfo geniigt werden könnte,
wenn man innerhalb einer Organiſation, die alle umfaßt, ſeine Anſchauung vertritt,
wenn man die Andersdenkenden ſucht, ſtatt ſich von ihnen abzuſchließen, iſt eine
Frage, die auch nur individuell beantwortet werden kann. Auch ſoll nicht der geringſte
Zweifel in die Leiſtungen einer konfeſſionellen Organiſation geſetzt werden. Aber das
iſt keine Frage: im Intereſſe unſeres nationalen Lebens ſind die konfeſſionellen Organi—
ſationen der Frauenbewegung zu bedauern, denn bei noch fo freundſchaftlicher Stellung
der Leitungen untereinander entziehen ſie Hunderten von einzelnen Frauen die Gelegen—
heit, ſich in dauernder gemeinſamer Arbeit kennen und verſtehen zu lernen. Und wie
können wir z. B. an ein paritätiſch organiſiertes Unterrichtsweſen denken, wenn wir
nicht einmal auf einem Gebiet, wie das der Frauenbewegung, einen paritätiſchen
Standpunkt feſtzuhalten vermögen?
Man wird fragen, was ſoll dieſe Erörterung jetzt, da die Sache doch nun
einmal geſchehen iſt? Ich glaube, daß es gerade, weil ſie geſchehen iſt, um ſo not—
wendiger iſt, die Bedenken und Gefahren dieſer Sonderung dauernd und feſt im Auge
zu behalten, um fie auch nach der konfeſſionellen Trennung nad Kräften zu verhüten.
Die interkonfeſſionelle Frauenbewegung ſollte dafür ſorgen, daß nicht die Religion für
ſie in dem Sinne zur „Privatſache“ wird wie bei den Sozialdemokraten, ſie ſollte den
paritätiſchen Standpunkt konſequenter als jene, allen Richtungen gegenüber, feſthalten,
damit fie immer fähig bleibt, auch poſitiv konfeſſionelle Anhänger der einen oder anderen
Richtung aufzunehmen. Und die fonfeffionellen Bereine follten fics immer jabhlreichere
Berührungspunkte mit der bitrgerlichen Frauenbewegung — vor allem durd Anſchluß
an den Bund deutfcher Frauenvereine — ſchaffen. Die gelegentlide Befchidung der
Vereinsverfammlungen durch eingelne Delegierte geniigt niet, wm die Mitglieder
in weitem Umfang miteinander in Fühlung yu bringen. Vor allem aber meine ich,
jollte an Orten, wo die Möglichkeit einer parititifden Organifation der Frauen-
bewegung bejteht — wo fie fic) vielleicht ſchon praktiſch bewährt bat — von
fonfeffionellen Griindungen abgefehen werden. Im Intereſſe der Frauenfache und im
Intereſſe unferer gefamten nationalen Entwicklung wird man von der fonfeffionellen
Frauenbewegung diefe Suriidhaltung verlangen diirfen,
Um fo mebr, als feine wirklich tief und feft begründete religidfe Weltanſchauung
dadurd) verlieren Fann, daß fie WAndersdenfenden gegenitber das Cinende fucht.
Denn es bleibt doch wabr:
„Was ift bad Heiligite? Das, was beut und ewig die Geifter,
Tiefer und tiefer gefühlt, immer nur einiger made.”
— — ——2n2 — —
282
Professor Carla Wenckebach.
Radhdrud verboten.
Als bet der erjten Generalverfammlung des
Allgemeinen deutſchen Lebrerinnenvereins
in Friedricroda 1891 die deutſchen Lebhrerinnen
in ihrer Gefamtbeit beqannen, fiir Frauenbildung
und Mädchenſchulweſen neue Bahnen zu fuchen,
jand ſich zufällig eine Nollegin zu ibnen, die
in fremden Landen auf ſolchen neuen Bahnen
jebon cin Stück Weges zurückgelegt hatte: es
war Profeſſor Carla Wendebach vom Wellesley
College in Maſſachuſetts. Wer fie Damals
kennen lernte, fühlte an der Kraft und. der
energiſchen Friſche ibrer Perſönlichkeit, daß ibe
Lebenswerk im fernen Weſten dem deutſchen
Namen und den deutſchen Frauen Ehre mache,
und ſie ſelbſt hat mit herzlicher Freude und
lebendiger Teilnahme den Fortſchritt der Be—
wegung verfolgt, deren Anfang ſie damals in
Friedrichroda geſehen hat. So gebühren ihr,
die Ende des vorigen Jahres aus ihrem voll
erfüllten Arbeitskreis abgerufen wurde, auch von
unſerer Seite einige Worte dankbaren Gedenkens.
Sie war nach einer mehrjährigen Lehrerinnen—
tätigkeit in Belgien, Schottland und Rußland nach New Yorf gekommen. Dort
hatte die Leiterin einer Der bedeutendſten amerikaniſchen Frauen-Univerſitäten, Wellesley
College, an einem Vortragscyklus, den fie veranſtaltete, teilgenommen und fie ſofort
fiir Die deutſche Fakultät ihres College gewonnen. 1883 trat Carla Wenckebach
als Yebrerin fiir Deutſch im Wellesley College cin und ſtieg bis jum Jahre 1893
zu dem Range eines orbdentlichen Profeffors auf. Unter ibrer Leitung hat ſich die
deutſche Fakultät fo glücklich entwidelt, daf fie jegt yu den größten des ganjen
College gebirt.
Ihr verdanft das College aud die Begründung der Abteilung fiir Pädagogik.
MS fie in das College eintrat, war es Sitte, daß die Lebrerinnen freiwillige Bibel:
ftunden mit den Sebiilerinnen abbielten. Da Carla Wendebach ſich zur Erteilung
Diefer Stunden nicht fähig fiiblte, bot fie an, ftatt dejjen einen pädagogiſchen Kurſus
zu balten, Das wurde Dann der Anfang zu einer befonderen Wbteilung für
Pädagogik.
Was ſie als Perſönlichkeit dem College geweſen iſt, das ſpiegelt ſich lebendig
in den Worten, mit denen ihre Schülerinnen der Trauer um ihren Tod Ausdruck
gaben: wir empfangen aus der Charakteriſtik, die ſie in den warmen Nachrufen des
Wellesley Magazine erfährt, den lebhafteſten Eindruck davon, daß es die ſpezifiſch
deutſchen Seiten ihres Weſens waren, die ſie dort ſo anziehend machten. Ihre
wiſſenſchaftliche Arbeit im College und ihre Perſönlichkeit gingen in einander auf
und wurden zuſammen zu einem lebendigen Zeugnis deutſchen Geiſtes und deutſcher
Kultur.
Profefjor Carla Wendebad. 233
Sie bat weitverbreitete Bieber yur Cinfiibrung in das Studium des Deutſchen
geſchrieben. Sie bat Ausgaben deutſcher Klaſſiker und eine Sammlung deutſcher Lyrik
veranſtaltet. Mit Begeiſterung ſprechen die Amerikanerinnen von der Art, wie ſie
ihnen das Weſen deutſcher Märchendichtung und Heldenſage verſtändlich gemacht, wie
fie ibnen Wagners Dichtung und Muſik erſchloſſen habe, und dieſe Begeiſterung im
Lande des Dollar iſt gewiß ein ſtarker Beweis für die Kraft der Perſoͤnlichkeit, die
ſie zu wecken verſtand. „Sie verſtand es,“ heißt es mit Bezug auf ihren Unterricht,
pitt Den Schülerinnen die Uberzeugung zu ‘erweden, daß die Arbeit, die fie von thnen
verlangte, der Miihe wert fei. Sie empfingen viel mebr als techniſche Schulung, neue
Tore der Erfenntnis wurden ibnen erſchloſſen, und fie wurden in eine größere Welt
geführt. Mit welcher VBegeifterung veriveilte fie bet den alteren Dramen, bei der Fille
mittelalterlicher Dichtung, Dem Reichtum der Nibelungenfage! Wie trug fie dieſe
gewaltigen Stoffe in unfer modernes Leben, wenn fie fiber ibre Daritellung in
Wagners Dichtung und Muſik ſprach. Sie hatte die Tiefe und Griindlichfeit, die
ihrem deutſchen Stamm cigentiimlich ift, und die Begeiſterung, die nur feltenen Menſchen
geſchenkt ijt.”
Diefes ganz Perſönliche — da8 tritt auch in all den iby gewidmeten Nachrufen
am lebbafteiten bervor, das beherrſcht Me Erinnerungen der Sebiilerinnen an dag,
was fie ibnen gewefen ijt. Man fiiblte fics als Mitglied der deutſchen Abteilung unter
dem Einfluß eines ftarfen, fortreifenden Enthuſiasmus, durch den alle Schonbeit und
Areude des Studiums in dDoppeltem Glanz leuchtete. Man riet in Wellesley College
Den new eintretenden Schiilerinnen, zuerſt einmal Deutch ju treiben because you
get so much out of it.“ , Wir waren perſönlich ungebeuer ſtolz auf die deuiſche
Abteilung,“ heißt es weiterhin, „es war da alles ſo wirklich und ſo lebendig, ſo reich
und ſo voll weiter Gedanken und Anregungen und Kraftquellen für uns. Jedem in
der Welt konnten wir ſie zeigen und ſagen: Das iſt unübertroffen. Denn es gibt
eine Art Arbeit, die ihr eigenes Gepräge einer Vortrefflichkeit trägt, die nicht an
etwas anderem gemeſſen werden kaun.“ „Wir ſegnen Dich,“ heißt es in einem
anderen Nachruf, „denn unter dem Druck aller Mühe und Sorge und Erſchöpfung
bewahrteſt Du das Herz eines Kindes, eine unverwüſtliche Lebensenergie, einen friſchen
einfachen Glauben an die Güte und Schönheit des Lebens. Du konnteſt jede Freude
an Natur und Geſelligkeit tief genießen. Familienbande, die nationalen Traditionen,
der Weihnachtsbaum waren Dir teuer. Niemals verlorſt Du den Sinn für die
Grenzen des Lebens — für das Wunderbare und das Geheimnis, das unſer Daſein
umhüllt.“ Ein deutſches Leben — mitten in einer Welt anderer Gefühlsweiſe und
anderer Werte, das ſich ſelbſt treu einen tiefen Eindruck ſeiner Eigenart in ſeiner
Umgebung zu geben vermochte — das empfinden wir auch aus dieſen Worten.
Ein friſcher Humor, der Carla Wenckebach, „den kleinen Bismarck“, wie man
fie nannte, in allem „College fun“ cine Rolle ſpielen ließ, unermüdliche Tatkraft,
die Klarheit und Feſtigkeit, mit der fie die Abteilung zur Ehre des College leitete,
waren die glücklichſte Erganzung der weichen und gemütvollen Züge ihres deutſchen
Weſens und ſicherten ihnen erſt eigentlich ihre Wirkung.
So iſt ſie in jedem Sinne für uns eine Pionierin geweſen: für deutſche Kultur
in dem fremden Lande, und für deutſche Frauenarbeit auf einem Gebiet, das in
der Heimat noch lange unzugänglich blieb, als es ihr die Fremde erſchloß. Daß ſie
ihren in ſo mancher Hinſicht bedeutſamen und verantwortungsreichen Poſten ſo
ausfüllte, dürfen auch wir ihr von Herzen danken. B. I.
ν.
234
Vie neuen Radierungen von Kathe Kollwitz.
Anna I. Plehn.
Nadbrud verboten. —
Als Kathe Kollwitz ihre letzte Radierung plante — das Blatt repräſentiert
A mit einer Fülle von Vorſtudien ein ganzes Jahr intenſiver Arbeit — da wollte
ſie es in die Bauernkrieg-Folge einreihen. Es ſollte dargeſtellt werden, wie
die ſchwarze Anna am Abend des unglücklichen Kampftages ihren Knaben begräbt.
Die ſchwarze Anna iſt eine hiſtoriſche Perſönlichkeit, die in jenen unruhigen Zeiten
anfeuernd vor dem Zuge der Aufſtändiſchen herzulaufen pflegte, ganz wie Blatt 4 des
Radiereyklus fie zeigt. Die Idee der Begräbnisſcene ijt nur in einigen Zeichnungen
behandelt worden, und ſie hat mehrere Entwicklungsſtadien durchgemacht. Solche
Wandlungen pflegen beſonders gut über das Künſtlerwollen zu unterrichten, wenn man
die verſchiedenen Phaſen miteinander vergleicht.
Zuerſt ſollte die Frau auf nächtlichem Feld das Grab ſchaufeln beim Schein
einer Laterne, mit der ſie ihr Kiud unter den übrigen Gefallenen geſucht haben mochte.
Die Leiche ruhte mit hochaufgeſtütztem Oberkörper im Vordergrunde. Damals war
noch an eine Ausführung als farbige Lithographie gedacht, und ein nächtlich dunkles
Blau war auserſehen, dem Blatt auch koloriſtiſche Eigenſchaften zu geben. Man ſieht,
die Auffaſſungsweiſe war eine ganz ähnliche wie bei dem Webercyklus. Wie dort
war durch einen hiſtoriſch möglichen Moment an das wirkliche Geſchehen angeknüpft.
Die Stimmung vom Anfang- und Schlußblatt jener Folge wäre hier in einem ver—
einigt worden. Die einſame Trauer der Mutter neben der kleinen Leiche im Bett
und das Bergen der Gefallenen in Reihen in der engen Weberſtube. Auch bei der
Beſtattungsſeene hätte man noch die Quelle empfunden, aus der die Vorſtellung
ſtammte, wie dort Hauptmanns Drama, fo bier eine geſchichtliche Nberlieferung.
Bei det Arbeit aber wuchs die Teilnabme an dem gefdilderten Jammer fiber
das Nachfühlen eines Heinen Einzelſchickſals hinaus. Der Gegenitand wurde ertweitert
und dod) auch wieder beſchränkt. Es war nicht mehr das ungliidlice Weib, die mit
dem einzigen Liebesbeſitz ihres armen Lebens jugleid) auch die betrogene Hoffnung
ibrer Genoffen begräbt, fondern es bedeutete nun die Verkörperung de3 Mutterſchmerzes
felbjt, deſſen Darjtellung jede Erinnerung an cine wirkliche Begebenbeit beeintradtigen
und verfleinern mupte. Die Frau mufte gang allein fein mit der Leide. Reine Um—
gebung irgend welder Art, fein Gerät wie Spaten und Laterne, vor allem aud)
nidt cin farbiger Ton, der einen Anflug von deforativem Reiz in die Herbigkeit
der künſtleriſchen Mittel gebracht hatte. Auch nicht mehr Mutter und Rind neben
einander, fo dah der Blick abwedfelnd von cinem yum anderen ginge, fondern beide in
cine einjige Gruppe verſchlungen. So entijtand die jweite Auffajjung: eine am
Boden ſitzende Geftalt, dic das Kind leidbenfchaftlich mit den Armen umfdlingt.
Es war aber nod) nicht das Leste Stadium.
In der Zeit, als ibre Arbeit dieje Wendung genommen hatte, ſprach die
Riinjtlerin sfter mit tiefer Bewegung von der Pieta Michel Angelos, jener Gruppe
Die neuen Radierungen von Kathe Kollwitz. 235
von Maria mit dem Sohn, der durch feinen Tod gleichfam wieder zum Kinde — fiir
feine Mutter jum Kinde — geworden ijt, Der männliche Körper mufte in den
Maßen nun ein Bedeutendes ju Hein angenommen werden, um der figenden Frau fo
im Schoße lieqen ju fonnen. Cine von den Kühnheiten, die das Genie fics öfter er-
laubt, obne daß man es auf den erjten Blid auc nur bemerft. Wenn Kathe Kollwitz
dieſes Werk als die erbabenfte und wohl als cine unerreichbare Löſung dieſer nie—
erſchöpften Aufgabe bezeichnete, fo mag davon in ibrer Phantaſie infofern cine
Spur juriidgeblieben fein, alS bet der endlichen Vollendung ibrer legten Arbeit eine
Beurteilerin nicht ohne Feinbeit fagen fonnte, dah gewiſſermaßen ein Wettſtreit mit einer
plaſtiſchen Auffaſſung in der Zeichnung bemerfbar fei. Bon einer Beeinflujjung der
Empjindung fann aber gar feine Rede fein. Es (apt fich fein ſchärferer Gegenfag yu
der gelaſſenen Hobeit von Michel Angelos Gruppe denfen wie die duferite Riidfichts-
lofigteit der Leidenſchaft, welche die Zeichnerin haben wollte und ſchließlich erreidte.
Wenn man an frithere Beifpiele der Runjtgefchichte dent, fo diirfte man eber als
bei Micel Angelo bei Giovanni Pijano einen verwandten Sdunerjausdrud finden.
Um dies letzte Mak von Ausdruck zu erreichen, entſchloß fich die Künſtlerin
endlich, alles auszuſcheiden, was noc irgendwie an die Wirklichfeit erinnern könnte,
und fie zeichnete nicht mur den Knaben, fondern auch die Mutter nad. .
Ich glaube nicht, das viele dies Blatt fehen werden, ohne daß ihnen zuerſt ein
heftiger Schreck durch die Glieder fährt. Ich felbjt dachte, als id) die erſte Skizze in
Kathe Kollwitz's Arbeitsraum fab, einen Mugenblid: nein, das iſt unmöglich — und im
zweiten: das bat die Furchtbarkeit des Lebens, dem man fic trop Sträubens fiigt.
Das ift Raferei, wie fic die nod lebenden Glieder um die erjtarrten verfnoten zu
einer Umarmung, an der jeder Nerv und jede Hautſtelle ibren Anteil haben wollen,
da fie nur fo fiiblen, dah fiir jegt nod da ijt, was ibnen entriffen werden ſoll. Dasſelbe
fagt der faft wütende Ruf, in dem fich ein verzerrtes Antlitz gegen den erfalteten
Körper preft. Nichts ift von der Leiche zu feben als das ſchlaff herunterhängende
zarte Gejicht und die langen Haare, die das Herabfallen nod ftarfer betonen. Neben
diefem Aufhören jedes lebendigen Willens die unheimliche Energie, mit der Arme und
Beine der verpweifelten Mutter an den Leib — wenn es nur anginge in ibn binein —
prefien wollen, was Fleiſch und Blut von ibm felber ijt. Hier bat ein weiblicer
Riinftler ausgedriidt, was cine männliche Phantajie mie gejdaut hatte, was der
Mann vermutlid faum nachfiblen wird und was mur eine Frau, die Mutter ift, und
Momente des Zitterns um ein Kind felber in ganzer Gewalt durclebte, vor ſich feben
fonnte mit folder Leibhaftigkeit.
«
*
Es ift nicht jum erſten Mal, dak Kathe Kollwitz Verticfung de3 Wusdruds durch
eine duferfte Vereinfadung und durch Verbannung alles Beiwerks fucht. Im Weber:
coflus waren nod) Situationen ju ſchildern, das Milieu mute erflart werden. Die
Webeſtühle und allerlei diirftiger Hausrat werden, fo wenig fic) auch die Künſtlerin
bei folchen Außerlichkeiten aufhalt, dem Lurus ded eifernen Parftors beim Fabrifanten
gegenitbergeftellt. Auch beim „Tanz um die Guillotine’ ift die jteile Häuſerreihe mit
ibrem Fenjter und Rahmenwerk Gegenitand einer eingehenden Beobadtung. Auch find
die verfdiedenen Gruppen oder Cinjelfiquren, wenn auch dicht aneinandergeriidt, dod
jede fiir fics charafterijiert und yur Geltung gebradt. Diefe Sonderung nimmt ab
bei Dem zuerſt gearbeiteten Blatt des Bauernfrieges. Bm Zufammenhang der Folge
236 Die neuen Radbierungen von Kathe Kollwitz.
joll eS die Nummer 3 fiibren. Der vorwartsdringende Bug der Aufſtändiſchen ijt
als ſchwarze Maſſe zuſammengeſchloſſen, man gewabrt hauptſächlich ein Wogen von
Köpfen, aus dem fics ein paar Arme mit einem wilden Pathos dunfel in den bellen
Himmel hineinftreden. Der einzelne verſchwindet zu Gunften des Ausdruds der
Maffenempfindung. Aber felbft hier ift dem Detail der als Waffen getragenen Senfen
und Drefdflegel viel Aufmerkſamkeit gewidmet, und fie find zu einer auferordentlicd
wirffamen Unterftiigung der Aufwartsbewegung verwendet. Auch ijt durch die Burgen
im Hintergrund fogar eine landſchaftliche Lofalandeutung gegeben, worin died Blatt
gegeniiber allen übrigen einzig daftebt.
Much diefe Situation, wie fie ihr Vorſpiel in dem Marſch der Weber hatte,
fand ihre Vollendung in einer abermaligen Bebandlung, die im vorigen Jahr entftand.
Da war aus dem ftarfen Schreiten ein ungeftiimes Vorwärtsſtürzen geworden.
Keine Cingelbeit löſt fic Hier aus der gufammengeballten Maffe. Reine Waffe, fein
Fabnentucd ijt ſichtbar. Vorgebeugte Köpfe, geftredte Leiber und vorgreifende Arme,
alle haben nur cine einzige Richtung, und der maleriſche Ton, welcher die ganze Bild-
fläche beherrſcht, (aft diefe Raſenden in eins verſchwimmen mit der Andeutung vom
Terrain deS Hintergrundes. Wan weif nicht, wo der Zug aufhörte, wo die Crd-
ſchollen beginnen, und wo fic) cin Ropf, cin Arm einzeln kräftig plaſtiſch heraushebt,
da hängt er dod fo eng mit dem Haufen zuſammen, daß diefer wie cin enormes,
vielgliedriges Ungetüm erſcheint. Cine ftarfe Vereinfadung des Sebens, unterſtützt
durch cine maleriſche Auffaſſung von Licht und Schatten, wird bier yu einer villig
ungeswungenen Symbolik, wie fie dem Realismus am angemeffeniten ijt.
Die Künſtlerin bat ſich fonit anderer Mittel bedient, um dic Gefühlswelt ſichtbar
ins Reich der Tatſachen hineinragen zu laſſen. Schon in ibrem erjten Werk langte
die Knochenhand des Todes mitten in die mutige Nüchternheit ibrer Wirklichfeits-
ſchilderung. Dann febrte dasfelbe Symbol in dem Gretchenbilde wieder. Es erſchien
wie durch cine Augentäuſchung der Cinnenden, jtatt des eigenen Spiegelbildes im
Wafer, wo es die umjfajjende Gebärde wiederbolte, mit der dies cinfame Weib des
nod Ungeborenen denft. In dem Spiegel unter ſich jiebt fie aber das kleine Wejen
vor fic), wie es der Tod in gute Hut nimmt. Auch neben die allerftarfjten
Schilderungen des Erdenelends, zwiſchen die beiden Gruppen, denen nur die Wabl
zwiſchen Dem Strid oder der Schande bleibt (die Sertretenen), ftellte dic Künſtlerin ein
ſymboliſches Bild: Den Mann der Zufunft, der auf das Schwert gejtiigt, die Hand
gum Schwur in die Seitenwunde des toten Heilands legt. Die ibrer eigenen Art am
wenighten entſprechende Darjtelung der Kiinjtlerin.
Und noch cinmal wurde der Verſuch gewagt, cin Phantafiebild körperhaft mitten
unter Die Wefen der Wirklicdkeit au ftellen. Uber dem Sug der Emporten in der erjten
Haffung des Bauernfrieges ſchwebt als Alleqorie des Aufruhrs ein mänadenhaftes Weib
in der Luft, deren Fadel dic Burgen der Unterdriider entziindet. Wenn fie aud,
durch einen blaſſen Aquatinta-Ton angedeutet, gegen die dunkle Energie der in feften
Strichen tadierten Mäaännerſchar ſchemenhaft juriidtritt, fo iſt doch ibr Norper in Linie
und Ausdrud jo kühn lebendig, daß fie die Entſtehung aus derjelben Phantaſie deutlich
anjcigt, die ibrer ganzen Art nach in dem irdiſch Tatſächlichen allein völlig zu bauje ijt.
Es ſcheint nicht, dah die Künſtlerin yu folchen Mitteln wieder zurückgreifen wird.
Sie waren, wie ich qlaube, die legten Spuren von der Beeinflujjung, die Klingers
mächtiger Stift bet den meijten Zeichnern feiner Zeit zurückgelaſſen bat. Blickt man auf
Dig neuen Radterungen von Kathe Kollwitz. 237
die ſpätere Faſſung der Aufſtändiſchen, ſo ijt aller Spuf verſchwunden. Die Ber:
forperung der Aufreijung, der Anfeuerung, ijt allerdings wieder eine Frau, aber fie
ſchreitet mun mit feſtem Sebritt der Bande voran, eben als die ſchwarze Anna, von
der die Quellenfehriften jener Tage zu berichten haben, Und obgleich bier nichts Un-
mögliches vorgebt, obgleich jede Figur und jeder Strich mit der ſtrengſten Wirflichfeits:
treue vereinbar ijt, fo wirkt die ungeftiime Wut dieſes Vorwärtsſtürmens dämoniſcher
alg die Allegorie der urjpriinglichen Gejtaltung.
Dasfelbe gilt von der neuen Schilderung des Mutterſchmerzes, deren Kühnheit
vielleicht manche nicht folgen und der fie darum cine andere Deutung geben werden,
die aber in der Kraft ibres Ausdrucks jedenfalls zum Symbol defien wurde, was der
Beichnerin als höchſter Grad der Verzweiflung gilt.
Neben diefen Werken, dic alle des Lebens Not und den leidenſchaftlichen Kampf
gegen fie gum Inhalt haben, geben einige Arbeiten ber, in denen eine Freude am
Lichten und Lieblicber jum Wusdrud fommt. Die Seichmung nach einem wie im
Schlafe dalicgenden Knaben, ein ganzes Blatt mit Skizzen nad dem gleichen zarten
Mädchenköpfchen (es iſt dasfelbe, welched in feiner Anmut fo rührend aus der Ver:
zweiflungsſcene der Sertretenen beraushlidt), ein Frauenaft in Riidenanjict, der fic
als lithographiſche Seidmung von einem prächtig grünen Hintergrund abbebt, das alles
find Seugen von einem unbeswingliden Berlangen, das die Künſtlerin nach einer
belleren Welt siebt. Abr mitfühlendes Herz muß fir jeden Schmerz einen Ausdruck
finden, aber inter dicfem Leid ſteht der ſehnſüchtige Wunſch nach Schönheit und Glück.
Wer weiß, ob wir nicht in naber Seit durch diefelbe Hand auch Glück und Stolz der Mutter
verkörpern feben.
Machdem id) jolange davon gejproden habe, wie fic died künſtleriſche Ceelen-
leben in dem Geftalten und Gefcbeben der cingelnen Werke abſchildert, wende ich mid
nin ohne Mufenthalt zur Betrachtung der Ausdrucksmittel, die vielleicht mehr wie alles
andere die Veranlaſſung wurden zu der imponterenden Anordnung, welche man den
Werfen diefer Frau in der graphiſchen Ausſtellung der Berliner Seseffion foeben
gegeben bat. Es ift fo viel davon die Rede, daß man es den Frauen ſchwer mace,
ibre Leijtungen nad Verdienjt yur Geltung yu bringen, dah es nur billig ijt, geqebenen
Falls freudig feftyuftellen, wenn ein weibliches Talent von mannliden Rollegen
vorurteilslos und neidlos an den Platz geftellt wird, der ibm gebührt. Und das
iit bier durch) dic Kommiſſion dieſer Riinjtlervereinigung in vollem Maße geſchehen.
Vielleicht it diefer Crt und diefer Sirfel gegenwärtig in Deutſchland der einzige Plas,
wo jo etwas geſchieht. Ich vermute nad dem, was mir vom Auslande belannt ijt,
daß ein Derartiqes Vorgeben auch dort nirgends feinesaleichen finden wiirde. Wan
giebt ciner Frau in einer Veranſtaltung, fiir die man im Aufnehmen ſehr wähleriſch
war, cine Hauptwand und dant, wie ich ſchäße, mehr Mauerfläche als irgend einem
Künſtler des Inlandes. Damit iit eine weife Einſicht in den wabren Vorteil der Ge:
jamtbeit bewiefen, die nur gewinnen fann, wenn eine folche Nraft ausgiebig vertreten
ift. Das muß recht nachdrücklich betont und anerfannt werden.
Worin beftehen min eigentlich diefe Ausdcudsmittel, die fo imponieren? Bon
Jahr yu Jahr bat die Sicherheit von Gand und CStift zugenommen. Die grofen,
freien Bilge mit der Roble auf farbigem Papier, dem Lieblingsmaterial, werden
beredter, indem ſie zugleich vereingelter, fparjamer daſtehen. Dieſe raftlos wiederbolten
Studien zu irgend einer Bewegung, die von der Kompoſition gefordert wird, fesen
238 Bum gegenwartigen Stand ber Coeducation in ben Bereinigten Staaten,
einen ausgefprochenen Proteft jenem geldufigen Impreſſionismus entgegen, der fo oft
das charafterijde Wefen der Dinge vernachläſſigt. Es ijt bier nicht der Ort, die Be-
rechtigung und die Verdienfte de3 Impreſſionismus nachzuweiſen, die ihm obne Zweifel
zugeſprochen werden müſſen. Darum ijt er aber keineswegs bejtimmt, jener hingeben-
den Vertiefung ein fiir allemal ein Ende yu madsen, die Den befonderen Rubm grade
dev deutſchen Zeichner von jeber darjtellte. Nach diefer Richtung neigt das Streben
von Kathe Kollwitz, wie denn Klarheit und Cindringlidfeit Grundeigenfdaften ihrer
künſtleriſchen Perjinlichfeit find. Diefelben Eigenſchaften fucht fie auc) mit den wider:
jtrebenden Werkzeugen auf Kupfertafel und Steinplatte durchzuſetzen wie mit den filg:
ſamen Mittelu von Kohle und Federzeichuung. Der Sinn fiir das Maleriſche, der
dem Element der Empfindung am intimſten entſpricht, zog fie neuerdings zu jener
Technif, die fic eines weichen Atzgrundes bedient, um breite Tonmaſſen auf da3 Papier
zu bringen und der Abjtufung von Licht und Schatten die reichſten Möglichkeiten zu
qewabren, In dem Umfange, wie wir fie bier angewendet feben, werden fie nods
nicht haufig gebraucht. Die Radierung erbalt fo etwas von der Weichbeit der Schab—
funjt, obne doch fo ftarf in die Dunfelbeit geben gu müſſen. Aber auch innerbalb
diefer malerifcen Tine — wir haben ſchon gejeben, wie fie künſtleriſch verwertet
werden — bleibt die Rlarbeit in dev Ergriindung und Durchführung de3 Weſentlichen
jeder Form das unverriidbare Siel dieſer Arbeiten. Wie fie der Empfindung die
Nberjeugungsfabigkeit gibt, jo erfreut fie das Auge durd den Anblid von ſicher
geſchauten Weltbildern mehr als durd da8, was landläufig „Schönheit“ genannt wird.
Off
Sum gegenwartigen Sfand der Cocducafion in den
Vereinigten Staaten.
Martha Striny.
Raddrud verboten.
Ach evinnere mich aus meiner Rindbeit einer Seit, wo man morgens mit feinem
a* Bruder und deſſen Freund eintrachtiglich in dieſelbe Schule ging. Das war
Sauf dem Lande, aber aud) als wir bald darauf in cine große Stadt zogen,
wurde das nicht anders. Links ſaßen die Jungen und rechts die Mädchen, und ein
Lehrer unterrichtete die hoffnungsvolle Schar. Die Jungen lernten meiſt ſchlechter und
kriegten mehr Haue; bei den Madchen aber war Sdiwagbaftigfeit das Hauptlaſter,
wegen defjen es zuweilen cine Abjchrift oder eins auf die Hand gab. Auf dem Spiel:
bofe lief man die Yungens fiir fich fpielen und vergniigte fic mit den Geſchlechts—
qenoffinnen, und nur wenn der Lebrer cinmal eine Partie ,, Wilder Mann” oder cine
winterliche Rutſchpartie auf glatten Abhängen orgqanifierte, rannte man mit den Knaben
unt die Wette oder torfelte am Ende des Rutiches fameradfchaftlichjt übereinander.
Suveilen gewann man einen Freund unter den Jungens, der einen vor den gefürchteten
pwilden” unter feinen Stammesbrüdern befchiigte und einem bet den Rechenaufgaben
half. Dak eine folche Freundfebaft unter Umſtänden tiefere Abſichten barg und der
Gedanke eines ſpäteren ebelichen Sufammenlebens als Mann und Frau nicht immer
ganz ausgefdieden wurde, will ich nicht verbeblen, ich habe dafiir fogar einen objeftiven
Beweis in cinem Ausjprud) meiner jiingeren Schwejter. Als fie ihre Schullanfbabn
Sum gegenwartigen Stand der Coeducation in den Vereinigten Staaten. 239
mit Dem Stagigen Befuch der unteriten Volksſchulklaſſe glorreich erdffnet hatte, über—
raſchte ſie eines Tages beim Nachbaujefommen meine Mutter mit der Erklärung:
„Mama, ich bab’ es mir fiberlegt; alle die fommen, weiſe ich ab, ich nebme nur den
Erich.“ Solch fefte Bande hatte ein achttägiger Schulbefuch bereits zwiſchen ibr und
befagtem Erich getniipft.
Dann fam der Freund aufs Gymnaſium und man jelbit auf die ,, bdbere
Töchterſchule“. Nun gab ed zwei geteilte Welten, die Jungens- und die Mädchenſchule.
Die Jungensſchule war natürlich bei weitem die interejfantefte. Was gab es da fiir
originelle Perfintichfeiten unter den Lehrern, deren Cigenbeiten von den Briidern
unzablige Male dargeftellt, ftets denfelben grofen Heiterfeitserfolg batten. Su welden
Kühnheiten veritieg man fic da nicht in den Pauſen vor den Stunden! Dagegen
fonnten unfere Erzählungen gar nicdt auffommen. Was fiir berrliche Bücher brachten
die Brüder erſt aus ibrer Schule mit! Bon der Ciszeit und vom Höhlenbären, und
Romane von Dabn, Chers und Freytag; das alles durfte man mitlefen, wogegen der
Bruder höchſt felten in die unjeren, von denen ic gar feine Erinnerung babe, einen
Bie yu tun gerubte. Mit ſcheuer Ehrfurcht ſah man, wie fie fic in Latein, Griechiſch
und Mathematif vertieften, wovon man ,nichts verſtand“; auch Gefchichte fonnten fte
ſehr viel befjer; nur im Franjdjifcben war man ihnen iiber und befam zuweilen aud
den ebrenden Auftrag, den deutſchen Aufſatz in bezug auf Stil und Febler nachzufeben.
Kamen dann die Zeugniſſe, ſo hatte man meiſt das beſſere, das aber nicht recht zur
Geltung kam; es wurde einem bedeutet, daß bei den Jungens „gut“ ſchon das Aller:
höchſte und etwas rieſig Rerdien(tvolles ſeiß „ſehr gut” gabe es bei ibnen gar nicht.
Damit war das ſchöne Zeugnis entwertet, und man flüchtete fic sur Mutter; ibe
licher Blick gab einem die Verjicherung, dak fie fich über das Töchterſchulzeu nis eben
jo ſehr freute wie über das Gymmafialzeugnis, aber auch ihr war eine gewiſſe höhere
Ehrfurcht vor dem lesteren ſchließlich aot anjumerfen, die man denn aud am Ende
bei ſich felbft im tiefiten Buſen gerechtfertigt fand.
Hatte man alſo dieſes Knabenleben noch teilen können, wenn man in dem
günſtigen Falle war, einen Bruder zu beſitzen, ſo hatte man nach dieſer Zeit, wenn
der Bruder von ſeinen Berufsſtudien hingenommen wurde, keinen Teil mehr an ſeinem
Geiſtesleben. Der junge Mann wurde eine terra incognita, und man hatte das
dunkle Gefühl, daß er, wenn man ihm in der Geſellſchaft begegnete, nicht ſein eigent—
liches Weſen zur Schau trage. Man ahnte eine ganze Welt voll eigenartiger Intereſſen
und Erlebniſſe, von der den Frauen nur einzelnes mitgeteilt wurde; teils waren dieſe,
wie die jungen Leute in Momenten ſchonungsloſer Wahrheitsliebe verſicherten, ,,;u gut“
dazu, und dann „fehlte ibnen das Verjtindnis”.
Die ſchädlichen Folgen diefes Trennungsſyſtems find uns heute bereits unmittelbar
jum Bewuftfein gefommen. Es bat zwei einander fremde Welten geſchaffen: die Welt
des Mannes, in der die Frau als ftdrendes Element empfunden wird, verfucht fie fie
je zu betreten, und die Welt der Frau, in deren Enge fic der Mann nicht einmal
mebr verfegen fann,
So jebr ung diefe Entfremdung der Geſchlechter als ein Nbel fühlbar geworden
ijt, jo ijt es uns doch nod nicht fo allgemein yum Bewußtſein getommen, dah ibre
Wurzel in einem verkehrten Erziehungsprinzip zu ſuchen iſt. Noch immer hören
wir auf dem Gebiet der Erziehung die Loſung einer einſeitigen Geſchlechtskultur:
hie Verſtand, hie Gefühl; und fowohl das Knabengymnaſium als auc die „höhere
Töchterſchule“ ſind in ihrer Einſeitigkeit die Produkte dieſes Strebens. Man bat,
mit Helene Lange zu reden, ') Die von der Natur gegebene und daher auch ſchwerlid⸗
je verlierbare Verſchiedenheit weit über die Grenzen des von der Natur Gewollten
hinaus geſteigert. „Iſt etwa,“ heißt es da, „der bei uns heute vielfach herrſchende
Zuſtand ein naturgewollter, daß Mann und Frau zwei verſchiedene Sprachen reden,
daß ihn nur noch Tatſachen, ſie nur noch Perſonen und die damit zuſammenhängenden
Gefühlskreiſe intereſſieren? Sollte nicht vielmehr,“ ſo fahrt die Verfaſſerin fort, „eine
9) |, Grundfragen der Mädchenſchulreform“ in der ,, Frau”, April 1903, S. 389,
240 Bum gegenwärtigen Stand der Coeducation in den Vereinigten Staaten.
verniinftige Schulbildung alles tun, um die ſchon durch fo mance andere Cinrichtung
unſeres geſellſchaftlichen Lebens gefirderte Ovpertrophie des Gefiibls bet den Frauen
zurückzubilden zur natiirlichen und zweckmäßigen Stärke?“
Dieſe Frage verſetzt uns mitten hinein in den großen Kreis der Erziehungs—
probleme, deren Löſung das 19. Jahrhundert dem 20. als nächſte Aufgabe hinter—
laſſen und die dieſes auf allen Seiten mit dem Gefühl vollſter Verantwortlichkeit
ergriffen hat. Wir arbeiten an einer Reform der Mädchenbildung; zunächſt am
Ausbau der höheren Mädchenſchule. Wir haben jüngſt die erſten ſtädtiſchen Mädchen—
gymnaſien ins Leben treten ſehen. Im allgemeinen wagen wir der Frau ihr Anrecht
auf Teilnahme am höchſten Bildungsſchatz der Nation nicht mehr abzuſtreiten. Im
Verlauf einer naturnotwendigen Entwicklung haben wir uns fogar genötigt geſehen,
wir wußten ſelbſt nicht wie es kam, noch eine alte ſcheinbar von der Sittlichkeit
gebotene Grenze zwiſchen den Geſchlechtern einzureißen: in allen unſeren Univerſitäten
ſitzen die lernbegierigen Frauen mitten unter den Studenten.
Dieſer Neuerung hat ſich vor allem die ältere Generation der in den Lehrſtühlen
Sitzenden und der Regierenden noch nicht gefügt. Einer der älteſten und beſten Meiſter
der Berliner Univerſität mit einem feinen und ritterlichen und durch hiſtoriſche Studien
geweiteten Sinn für die Frau und ibre Geifteshildung, unterzog fic) der Mühe eines
befonderen Übungskurſes fiir die Frauen, weil es fein Gefiibl verlegte, ſie unter den
Studenten yu jeben. Die Ammatrifulation wird den Frauen verjagt, weil man in
Diefer Hinficht auf die Lehrenden feinen Drud ausüben will. Hingegen die jiingere
Generation denft anders. Die jiingeren Dojenten kommen den Frauen am meijten
entgegen und treffen obne weiteres den natiirlichen Ton gegen fie, den viele jo ſchwer
finden. Am Schreckgeſpenſt der Frauenuniverfitdt ſcheinen wir glücklich vorbeiqefommen
ju fein. Damit ijt die Cocducation, die gemeinfame Erziehung der Geſchlechter, der
wit pringipiell nod feindlich gegentiberfteben, auf der höchſten Stufe des Unterrichts—
wejens obne weiteres etabliert. Und da wir auf dem Lande und. in Fleineren Stadten,.
iiberall da, wo praftifche Griinde mitiprecden, auch nod) Knaben und Madchen in eine
qemeinfame Volksſchule fcbiden, fo wird auch bier nod) vielfach dag zu Beginn diefes
Aufſatzes gezeichnete Idyll de3 Zuſammenlebens fich wiederholen.
Aber im Prinzip ſind wir gegen Coeducation. Wir dulden ſie eben da, wo
wir kein Geld zu ſeparaten Schulen haben, aber wo wir über die nötigen Mittel ver—
fügen, da verwirklichen wir ſchleunigſt das erſtrebenswerte Ideal einer beſonderen
Mädchenſchule. Auf dem Gebiet des höheren Unterrichts kennen wir nur, wie vorhin
ausgeführt, ſtrengſte Trennung der Geſchlechter. Wir können eine Töchterſchule
unmöglich errichten in einer Straße, wo ein Knabengymnaſium iſt, und begegnen ſich
dieſe beiden einmal auf einem Ausfluge auf verſchiedenen Waldwegen in der Richtung
auf dasſelbe Ziel, wie ic) mich eines ſolchen Falls noch aus meiner Schulzeit ſehr
lebhaft erinnere, ſo räumt nach längerem Kriegsrat in gehöriger Entfernung eine der
beiden Parteien, vermutlich die ſchwächere, das Feld, und überläßt dem Gegner das
Wirtshaus ſamt Bier und Butterbrot, um die gefährdete Moral zu retten.
Da wir nun aber, wie die Errichtung der Mädchengymnaſien beweiſt, das Vor—
urteil überwunden haben, als ſeien für den Aufbau der weiblichen Pſyche aus dem
allgemeinen Wiſſensſtoff beſondere und vorſichtig verdünnte Präparate nötig, da wir dadurch
die Wiederannäherung der Geſchlechter auf der Baſis gemeinſamen Geiſteslebens wieder
begonnen haben, ſollten wir ſie nicht auch in derſelben Schule zuſammenbringen und
ſomit auch in den Entwicklungsjahren Coeducation an die Stelle der getrennten Er—
ziehung treten laſſen? Hat dieſe Einrichtung neben der Vereinfachung der Frage der
Mädchenbildung nicht auch einen Vorteil in der Einwirkung der Geſchlechter aufeinander?
Für zwei deutſche Staaten ijt die Löſung der Frage bereits praktiſch verſucht: in
Baden beſuchen die Madchen in ciner Reibe von Stadten dic Gymnaſien und Ober:
realjdulen der Rnaben. Wiirttemberg ijt in vereingelten Fallen diefem Beifpiel
gefolgt.!)
') Tabelle VIL im Handbuch der Frauenbewegung, III. Teil, S. 128 Ff.
Sum gegenwärtigen Stand ber Cocbucation in ben Bereinigten Staaten. 241
Es iit fiir uns Deutſche lehrreich, yur Betrachtung diejer Frage cinen Blid auf
die, neuere Entwicklung der Coeducation in den Vereinigten Staaten zu werfen, die in
dieſer Beziehung das reichſte Beobachtungsmaterial bieten, da ſie dort ſeit mehr als
50 Jabren zu den ſtehenden Einrichtungen im Schulleben gehört, obwohl ſie noch
nicht ganz widerſpruchslos herrſcht. Die Möglichkeit einer genauen Einſicht in dieſes Gebiet
gewährt der letzte offizielle Bericht über das Erziehungsweſen der Union, der 1902
erſchienen iſt.!)
Im allgemeinen iſt in der Union die gemeinſame Erziehung das charakteriſtiſche
Kennzeichen der öffentlichen Schulen, doch iſt ſie auch in den Privatſchulen in
bemerkenswertem Grade vertreten. Sie beherrſcht das ganze Elementarſchulweſen
(elementary and secondary schools)); natürlich gibt es ab und zu cine getrennte
Schule, die zufälliger Umſtände, befcbranfter Räumlichkeit u. ſ. w. wegen diefen
Charatter erhalten bat oder cin Oberbleibfel ijt aus der Beit, wo die eriten
Schritte im öffentlichen Schulweſen vorſichtig mit dem Rnabenunterridt gemadt
yourden.
In bezug auf die höheren Schulen aber ijt das Prinzip nicht fo unangefochten,
obwohl es auch bier, dem praftifcben Sinn des Amerikaners entſprechend, bedeutend
iiberwiegt. Eine tabellariſch verwertete Umfrage durch alle 45 Staaten dev Union
erqab im Jahre 1902, dak in 28 diejer Staaten nur gemeinfame Schulen vorbanden
jind, doch baben auch die übrigen mehr gemeinſame Schulen als getrennte, fo
daß von 628 Städten 587 durchaus coeducational find, alſo ca. 93 Prozent. Ber:
glichen mit der vor 10 Jahren veröffentlichten Statijtif find ſeitdem drei der dort
mit getrennten Schulen verzeichneten Städte zur Coeducation uͤbergegangen; ein Rück—
gang von Coeducation zur Trennung der Gefdblediter ijt in keinem einzigen Fall ju
verzeichnen.) Die Amerifanerin wird aljo praftije in der Zeit des heranwachſenden
Alters, wo bei uns die ſtrengſte Trennung herrſcht, bis zum Ubergang auf die
Univerjitat oder eine Berufsſchule mit dem Knaben nicht nur in gleicher Weife,
fondern aud) gemeinfam unterrichtet.
Auf dem Gebiet des Univerfitatsunterridts (wobei man im Auge balten
mup, daß dic amerikaniſche Univerfitit wie die engliſche das legte Schuljahr eines
deutſchen Gymnaſiums einſchließt) beftebt hiſtoriſcher Entwicklung zufolge aud nod
getrennter neben gemeinſamem Unterricht. Da der erſte Andrang der amerikaniſchen
Frauen zu Den Univerſitätsſtudien in cine Zeit fiel, wo gegen Coeducation beſonders
in den älteren Oſtſtaaten noch ein ſtarkes Vorurteil herrſchte, ſo entſtanden beſondere
Frauenhochſchulen und ſogenannte Annere zu den beſten älteren Landesuniverſitäten,
während die neneren Staatsuniverſitäten des Weſtens ausnahmslos von ihrer Gründung
an für beide Geſchlechter beſtimmt ſind. Doch da die Tendenz zur Coeducation ent—
ſprechend dem demokratiſchen Geiſt der Nation ſchließlich auch cine Menge der alteren
Univerjititen ibre Bforten den Frauen zu öffnen sang, fo tiberwog jebr bald auch
bier Die Sabl der Leiden Geſchlechter qemeinjamen Bildungsanſtalten. Indeſſen
erfreuen ſich auch die meiſt durch großartige Schenkungen prächtig ausgeſtatteten
Frauenhochſchulen, die durchſchnittlich zugleich Internate ſind, ſo großer Beliebtheit,
daß ihre Zahl auf 145 geſtiegen iſt neben 344 gemeinſamen Univerſitaten doch
ſtehen von dieſen 145 nur 13 auf derſelben Höhe wie die größeren Landes—
univerſitäten.
) Report of the Commissioner of Education for the Year 19000 1901. Washington 1902.
2) Siebe Handbuch ber Frauenbewegung, Teil UL, wo es S. 446 in dem Bericht der Amerifancrin
Dr phil. Jane Sherjer über die Fraucnbilbung in den Verciniqten Staaten heißt: „Die Erziehung beider
Geſchlechter tit fo untrennbar mitcinander verfniipyt, daß wir unmöglich — namentlich bei der Elementar—
ſchule — vom Madchenunterricht als von etivad yom Knabenunterricht Abweidenden fprechen lönnen.“ Und
Anmerfung vdajelbft: „NAnaben und Mädchen find nicht nur in demfelben Naum zuſammen, es fisen
aud nicht bie Knaben auf der einen und dic Mädchen auf der anderen Seite, fonderm fie ſitzen bunt
durcheinander, wie es der Lehrer beſtimmt, der oft findet, Daf die Knaben fic beffer betragen, wenn
fie neben cinem kleinen Madden fiten. Nur auf dem Spiclplag find fic voneinander getrennt, da dic
Spiele ber Knaben oft fiir die Mäbchen zu ungeftiim find,“
4) Sergi. auch Handbuch der Frauenbewegung a. a. O. S. 441.
1h
242 Bum gegenwirtigen Stand ber Cochucation in den Bereinigten Staaten.
Auch bier nun verscichnet der neueſte Bericht die bemerfenswerte Tatſache eines
qriperen Fortſchritts der Cocducation:
1880 waren coeducational 2 2. 2. . . 51,3 Prozent
1890, , — — 65,5 ,
1900 find 7 it C= oy, pegs 3s: *
Ob dieſe ſtarke Ausbreitung der Coeducation ſich mehr aus praktiſchen Bedürfniſſen
herleitet oder ob fie einem Prinzip entſpricht, das lehrt cine Durchſicht der zahlreichen
Meinungsäußerungen von Lehrern, Profeſſoren, Schulinſpektoren und Schulräten,
Geiſtlichen und Arzten und hervorragenden Männern und Frauen des Landes, die auf
die Umfragen verſchiedener Schulverwaltungen eingelaufen und dent offiziellen Bericht
beigefiigt find. Diefe ftellen vor allem dem Gerechtigfeitsfinn des WAmerifaners ein
ſchönes Zeugnis aus, da auch dev entichicdenjte Geqner der Cocducation nicht daran
denft, der Frau das Recht auf höhere Bildung itberbaupt zu veriveigern. Es wird
iiberall ausdrücklich betont, daß dic Frauen ebenfo wie dic Manner Anfpruch auf die
bejte Bildung baben und der Staat ihnen diefelbe in keinem Falle verweigern dürfe.
In den meiſten Fallen ergab ſich dabei Coeducation als das Natürliche, abgejeben
davon, dah nicht jede Stadt in der Lage war, gleich zwei höhere Schulen einjurichten.
Dicjer Standpunft des Natiirlichen wird auch viel betont. Das Familienleben fegt
die Geſchlechter in die innigite Berührung, das Leben beſtimmt fie fiireinander, wozu
dieſen Zuſammenhang durch eine feindliche Trenmung unterbreden? Daneben werden,
hauptſächlich durch die Argumente der Gegner angeregt, auch pojitive Vorteile dieſes
Syſtems ſehr ſtark ins Feld geführt. Faſt einſtimmig wird betont, daß die Lernluſt
zunehme und die gemiſchten Klaſſen einen höheren Durchſchnitt der Leiſtungen erzielten.
Dieſes Zeugnis ſtellt u. a. auch Präſident Adams, der Rektor der Cornell Univerſity, den
Frauen aus, Die Haltung ſolcher gemiſchten Klaſſen wird gerühmt und der gute Einfluß,
den die Geſchlechter aufeinander ausüben, wie insbeſondere die Gegenwart der Mädchen
dazu beiträgt, die Knaben gefügiger und eifriger zu machen und ihnen zeitig eine
geſunde Zurückhaltung auferlegt. Daher denn auch einige meinen, daß der ganze oder
größere Vorteil des gemiſchten Syſtems auf ſeiten der Knaben ſei. Andere aber
rühmen auch, daß ſich wie bei den Jungen „less rowdyism“ und „more earnestness“,
jo bei den Mädchen „less unladylike conduet' und „fewer escapades zeigen,
als wenn fie unter ſich find. Die Serualitdt wird nad vielen Zeugniſſen durch die
Gewohnheit gemeinfamer Arbeit und genauere Kenntnis von einander in den Hinter-
qrund gedringt, und mit welder freien Natürlichkeit und ſchönen Kameradſchaftlichkeit
der amerifanifebe junge Mann init dem gleichaltrigen Mädchen yu verfebren weiß, fann
man ja im Verkehr mit Amerifanern immer wieder als nicht abjuleugnende Frucht
Diefer freieren Erziehung wabrnehmen. Im allgemeinen wird die Frage als feiner
Diskuſſion mehr bedürftig betrachtet, und vielfach kommen aus dem Westen Antworten,
die Die Frage, ob getrennte Erziehung oder Coeducation vorzuziehen fei, abſurd finden.
Cine Antwort aus Milwaukee fagt 3. B. 8. Juni 1890: „Ihre Frage kommt uns
Yeuten in Wisconfin ungefabr fo vor, wie wenn man fragen wollte, ob Frauen und
Manner und Knaben und Madchen in der Kirche in denjelben Banfen ſitzen ditrfen.
Die Coeducation ijt bei uns fo durchweg und fo lang im Gebrauch, dah wir
Mithe haben, uns die Folgen ciner Rückkehr zu dem alten Flojterlichen Syſtem
vorzuſtellen.“
Indeſſen ſind unter den Befragten auch einige, zwar ſehr in der Minderzahl,
die ſich als Gegner der Coeducation bekennen, wie ja auch einige der größten Städte,
u. a. New York und Boſton, in der Praxis eine vorſichtige Zurückhaltung bewabrt
haben. In New NYork ijt das Verhältnis der Geſamtzahl der High Schools yu denen
mit Eoeducation wie 12:7, in Brooflyn wie 6:3, in Bofton wie 12:7. Fir
Rew York mit feiner ftarf gemiſchten Bevslferung, die noc ſtetig durch die Einwanderung
an fremden Clementen nicht immer der beſten Art zunimmt, ift der Grund foleber
Trennung obne weiteres Flar und wirkt in den bevölkerten Teilen der City fogar
auf die Elementarſchulen. Anders Boſton. Ter dortige Suftand fallt um fo mebr
Rum geaenwartigen Stand der Cocducation tn den Rereinigten Staaten. 243
ind Gewicht, als die alte Sentrale der Neu-Englandſtaaten die älteſte geiſtige Rultur
beſitzt und ſtolz ift auf iby blühendes Erziehungsweſen.
Boſton hatte 1902
3 high schools fiir Rnaben
2» Fe „Maädchen
7 „beide Geſchlechter.
Yon den grammar schools, die das 5. und 6. Schuljahr unſerer Volksſchule
umfajjen, waren
12 ausſchließlich für Rnaben
12 S „Mädchen
34 für beide Geſchlechter gemeinſam.
Alle Schulen der Vorſtädte Boſtons ſind wiederum coeducational.
Dieſe Klaſſifizierung gewann eine beſondere Bedeutung, da ſie vom Vorſitzenden des
United States Bureau of Education 1885 im Circular of Information als nach—
abmenswert empfoblen wurde. Hier heift es): „Dieſes Syſtem (6 gemiſchte Schulen
niederer Ordnung und 4 qetrennte Schulen höherer Ordnung, eine mit alten Sprachen
und cine obne ſolche fiir jedes Der Geſchlechter) fann als der Normaltypus des
höheren Schulweſens bexeichnet werden. Es ſtimmt fiberein mit der Cinvidtung
des Sekundärunterrichts in den Landern, die im Erziehungsweſen am weiteſten vor:
qejcbritten find, wo die Geſchlechter getrennte Schulen beſuchen und befondere Knaben—
ſchulen mit und obne alte Sprachen befteben, deren reprajentative Typen das deutſche
Gymnaſium und die Realfdule find. Sparſamkeitsrückſichten werden in fleinen
Städten diefe Spesialtfierung verbindern. An den größeren Städten aber ijt der
Fortſchritt nach diefer Richtung ſchon bedeutend, und die Gefdrichte de3 Unterricht—
weſens berechtigt zu Der Vorausſage, daß jie fich in Dem Mae ausbreiten wird, als
alle Einwohner veriteben fernen, was das Bejte iit fiir die Erziehung ibrer Kinder.”
1890) mut wurde von der Boſtoner Schulbebbrde ein befonderes Komitee be-
aujtragt, im Hinblid anf bevorftehende Neugründungen von Schulen die Frage der
Coeducation zu unterjuchen.
Das Komitee aber war in der Majorität fiir Coeducation. Es erflirte, wie
der jebige Zuſtand geworbden fei, den es als -fundamentalen Mißgriff bezeichnete und
ſtützte die gemeinfame Erziehung mit einer Menge ethiſcher Gründe. Die von ibm
veranjtaltete Umfrage unter Sachkundigen batte 565 Verteidiger der Cocducation gegen
291 Geqner ergeben. Bon 254 Lebrern, die fic als Geqner yeigten (gegen 422
waren charakteriſtiſcherweiſe 122 nur an Mädchenſchulen, 109 nur an Knabenſchulen
und nur die übrigen 23 in gemiſchten Schulen tatig.
Sov ſcheint auch hier cine weitere Befeftiqung des Prinzips der getrennten Schule
jo gut wie ausgeſchloſſen.
Die Griinde, die vow den Gegnern der Coeducation ing Feld gefiibrt werden,
jind siemlich diefelben, wie man fie bei uns in den Erörterungen über dieje Frage
gehört bat. Die Beobachtungen, die andere in bezug auf die gute Haltung der ge:
mifebten Klaſſen gemacht haben wollen, werden von einzelnen bejtritten. Sie finden
die Disziplin in der gemiſchten Schule ſchwerer, wobei ibnen denn jtets entgegnet
wird, daß das Syſtem allerdings nur tüchtige Lehrer vorausſetze und in diejer Be:
ziehung ein gutes Kriterium für den Lehrer bilde. Ferner fürchten die Gegner, daß
die Leiſtungen der Knabenſchulen durch die Mädchen beeinträchtigt werden, inſofern
von dieſen körperlicher Veranlagung halber nicht dieſelbe Regelmäßigkeit des Schul—
beſuchs erwartet werden könne wie von den Knaben. Aber darauf wird entgegnet,
daß erſtlich die Natur nicht von jedem Mädchen cine gleiche Schönung verlange und
durchſchnittlich auch die Knabenſchulen nicht regelmäßiger beſucht ſeien; ein Unterſchied
fei hier nirgends aufgefallen, und gelegentliche Lücken würden durch die ſchnellere Auf—
faſſung der Madden leicht ergänzt. Die geringere phyſiſche Leiftungsfabigkeit der
) Report S. 1251.
16*
244 Bum gegenwartigen Stand der Coeducation in den Vercinigten Staaten,
Frau wird überhaupt oft angefiihrt, und es feblt nicht an einjelnen Ctimmen, die in
einer geiſtigen Ausbildung der Mädchen, die der der Rnaben gleichkommt, eine Gefabr
fiir die Fortpflanjung der Nation erblicen. Sebr richtig bemerft dazu Dr. ©. E. White,
cin Mitglied der oberen Sehulbehirden, im ,,National Teacher” Juni 1872:") «Bo
ijt dieſe durchſchnittliche phyſiſche Grenye der geiſtigen Leiſtungsfähigkeit der Frau?
So weit unjere niederen, biberen und höchſten Schulen in Betracht fommen, bat fic
diefe Grenze bis jest nods nicht ziehen laſſen. Auf dieſen Gebieten arbeitet ſie mit
derſelben Leichtigkeit wie ihr Bruder, und ebenſo gut, wenn auc) nicht genau in der
qleichen Art.“ Und Thomas Wentworth DHigginf on, einer der befannteften
Schriftſteller der amerikaniſchen Nation und von Anfang an ein warmer Freund der
Frauenſache, macht mit Recht einen ſolchen Gegner aufmerkſam auf die guten Folgen,
die die Erziehung zu reqelinafiger Urbeit auf den Organismus der Frau ausiibe.
Verjchiedene fiir das Frauenftudium interefjierte Bereine haben Umfragen iiber den
Geſundheitszuſtand der Madden in den Colleges angeftellt, und ibn, wo es miglich
war, vergleichen laſſen mit dem unbeſchäftigter Schweſtern, wie man es auch in England
qetan bat, und das Ergebnis war durchaus befriedigend.2) Der Hinweis auf die
jchadlicien. Folgen geijtiger Nberanjtrengung bat natürlich unter den Arzten viele
Anhänger; eS finden fich aber auch Gutadhten von ärztlicher Hand, die den geradesu
wobltitigen Einfluß geregelter geiftiger Arbeit gebührend betonen.
Gin wichtiges Gegenarqument aber ift natiirlich wie bei uns die gefährdete
Moral, wobei denn aud) begreiflicherweiſe die perſönlichen Erfahrungen (auf die
‘ibrigens nur cine Minderzahl ſich ſiützt) den ſtärkſten Gegenfas zueinander bilden.
Einer der Begutadtenden war felbjt ,coeducated” und ijt völlig überzeugt, dak der
freie Verkebr der Gefchlechter fiir beide Gefabren birgt. Die Anhanger find genau
yom Gegenteil überzeugt. Go fagt Dr. W. T. Harris in einem Bericht über die
Sehulen von St. Louis:4) „Ich babe gefunden, dah in den gemifditen Schulen das
Seruelle in den Hintergrund trat, wabrend dasfelbe durd) die getrennte Schule geradezu
entwidelt wird.” Dabei wird wiederbolt cin Wort Jean Pauls jitiert: „Um Scham—
gefühl yu erjiehen, wiirde ich raten, die Gefeblechter sufammen gu ergieben, denn zwei
Rnaben werden zwölf Madchen oder zwei Madchen zwölf Knaben rein erhalten mitten
zwiſchen Winken, Anfpielungen und Unanjtandigfeiten, bloß durch den Inſtinkt, der der
natiirliden Scham vorangebt. Aber ich ftebe fiir nichts in einer Schule, wo Mädchen
allein find und nod) weniger, wenn es Knaben find.”
Endlich das Hauptargument: die Verfchiedenbeit der Anlage und der Beſtimmung
macht aud cine verſchiedenartige Erziehung nötig. Wie aber ſchon erwabnt, ijt man
fic) darüber ziemlich einig, dah die heutige Frau diefelbe Bildung braucht wie der
Mann, und dah der verſchiedenartige geijtige Aufbau ſich wie in der Körperwelt
aus den qleichen Nahrungsſtoffen vollzieht. Nur die Art und Weife, wie dieſe Stoffe
an den Geiſt herangebracht werden, ſoll eine andere ſein beim Mädchen wie beim
Knaben. Es wird aber hier einfach durch eine Fortfegung des vorberqebenden
Arguments widerlegt: warum follen nicht verſchieden qeartete Geijter aus derſelben
Lehr: und Einwirkungsmethode eine verjchiedenartige Cimvirfung empfangen? Raft
jede Familie ijt eine Illuſtration der Tatfache, daß verſchiedene Menſchen von derfelben
Umgebung und denjelben Umſtänden verſchieden beeinflugt werden. Man fonnte
hinzufügen, daß ja aud) Die Knaben und Mädchen untereinander nicht gleich find und
bet aller Berückſichtigung der Jndividualitat niemand cine jpesielle Lebrmethode fiir
jeden einzelnen verlangen wird. Hier wirkt auch die verſchiedene Judividualitit
det Lebrenden ausgleichend, wobei zu bedenfen ijt, dah in der Union die Frauen
auf allen Stufen des Unterrichts bis in Die Univerfititen hinein ebenfo wie die
Manner vertreten find. Endlich läßt ja auch gerade das amerifanifde Syſtem, wie
vielfach hervorgehboben wird, der Auswahl in den einzelnen Lehrfächern reichſten
) Report S. 1248.
*) Vergl. Report, Tabelle S. 1280.
3) Report S. 1241.
wv
Sum gegenwartigen Stand der Cocducation in den Vereinigten Staaten. 245
Syiclraum, fo dak nicht alle diefelben Lehritunden mitnebmen, fondern des öfteren
cine Teilung yu verſchiedenartiger Beſchäftigung eintreten fann,
Es ijt dies cin Eleiner Auszug aus den Gutachten. Natürlich legen wir nicht
allen diefen Gutachten und tabellarifcben Tberjichten unbedingte Beweisfraft bei. Viele
von ihnen entitammen einem befchrintten Geſichtskreis und verraten deutlich ibren
Welegenbeitscharatter, und der Yndividualitat iſt in der Beurteilung gleider Vorgange
hier Der weitejte Spiclraum gelaſſen. Aber ſie geben doch einen Einblick, wie weit
man drüben das Problem aäusgeſchöpft bat und liefern den unanfedstbaren Beweis,
daß die Coeducation hier in der Tat im Unterrichtsweſen ſo ſtarke Wurzeln geſchlagen
hat, daß ſie den charakteriſtiſchen Zug desſelben abgibt.
Wir können uns natürlich nicht zumuten, eine Inſtitution von ſo weitreichender
Bedeutung einfach zu übernehmen. Tatſächlich war dem Amerikaner bei dem Aufbau
ſeiner neuen Kultur die Coeducation in vielen Fällen das natürlich Gegebene. Wir
aber haben ein feſt fundiertes und ausgeführtes Schulſyſtem mit ausgeſprochenem
Trennungsdarafter. Dort bereitete der demofratijde Geijt der Nation die Gleich-
ftellung der Frau vor; wir aber fiirchten als Ariftofraten eine yu ftarfe Nivellierung.
Wir baben fo lange in der Idee gelebt, daß unfere ideale Weiblichfeit nur durch
Abwendung vom Leben und durch Bebiitun por dem rauben Alltag gedeiben
finne, dah wir von der Miſchung der Geſchlechter die feinite Blüte der Weiblichfeit
vernictet zu feben fürchten. Wir haben durch die übertriebene Trennung der
Geſchlechter eine ſolche Atmoſphäre unnatiirlicher Sexualität erjeugt, dah wir nicht
anders können, als von der Aufhebung dieſer Trennung die ſchlimmſten moraliſchen
Folgen erwarten.
Aber wir haben ja die gefürchtete Coeducation ſchon, ehe wir ſie ſanktioniert
haben, und die ſchlimmen Folgen find ausgeblieben. In der eigenen Erfahrung
finden wir unſer Leben bereichert, wo immer wir es mit dem anderen Geſchlecht teilen
fonnten. Es war das notwendige Element zu tieferer und allſeitiger Erfaſſung des
Menſchlichen, und ein deutliches Gefühl des Verluſtes — von beiden Seiten oft aus—
geſprochen — begleitete die Trennung. Nun brauchen wir neue Bildungsanſtalten
für die Mädchen, um der nach langem Kampfe erkannten Notwendigkeit einer gleich
gründlichen Bildung des weiblichen Geſchlechts zu folgen: —*z Gymnaſien.
In vielen Fällen begegnet ihre Errichtung bei gutem Willen unuberwindlichen finanziellen
—— Vom Staat, der ſich gewoͤhnt hat, ſeinen Unterrichtsetat fait aus—
ſchließlich für die Knabenjdulen aufzuwenden, ijt fobald nichts yu erwarten, und unferer
privaten Ynitiative jtellen ſich nicht ungezählte Millionen zur Verfiigung wie im Lande
des Dollars. Hier ware die Eröffnung der betreffenden Knabenſchulen fiir dic
Madchen gerade in Eleineren Stadten das einfachſte Auskunftsmittel. Hier könnten wir
uns ein Vorbild nebmen am Gerechtigkeitsgefübl des Amerikaners, der allen Kindern
feines Landes die gleiche qute Erziehung geſichert feben will und dem Kinder Söhne und
Tichter bedeutet. Und auch an feinem vorurteilslofen und mutigen Nutürlichkeitsſinn.
Vielleicht daß wir dann, durch Erfahrung belehrt, einſahen, daß die gemeinſame
Erziehung nichts Widernatürliches ijt, ſondern unter Umſtänden die Keime einer frucht—
baren Erneuerung unſeres geſellſchaftlichen Lebens auf natürlicher Grundlage in
ſich ſchließt.
246
Naddrud mit Quellenangabe erlaubt.
* Gine Stellenvermittelung fiir Frauen und
Madden, dic in fosialer Hilfsarbeit ausgebildet
find, baben die Madchen: und Frauengruppen fiir
ſoziale Hilfsarbeit in Berlin cingerichtet. Sie find
in der Lage Anftalten und Bereinen Damen nad:
zuweiſen, die, ausgebildet in den ſozialen Gruppen,
vermöge ibrer praktiſchen und theoretifden ſozialen
Kenntnijffe fic) beſonders dazu ciqnen, befoldete
Berufsitellungen als foziale Sefretirinnen, Lite:
tinnen von Rinbderborten u. a. anzunehmen.
Meldungen von Valanzen find an die Vorfigende,
Fraulein Alice Salomon, Friedrid Wilbelmitr. 7
zu richten.
Nur ſolchen Damen werden Stellen vermittelt,
die in den Gruppen ausgebildet ſind. Meldungen
anderer Bewerberinnen bleiben unberitdficdtigt.
*Infolge einer Petition des Dresdener Zweig:
vereins der Juternationalen Föderation iſt ein
Hffentliches Haus in Mittweida ſeitens ded ſächſiſchen
Minifteriums bes Innern aufgehoben worden.
* Die Qmmatrifulation ordnungsmifig vor:
gebildeter Frauen foll, nach in ber Preſſe ver-
breiteten Nacridten, in Strakburg bevorfteben.
* Die tedjnifdje Hochſchule in Karlsrube
immatrifuliert rite vorgebildete Stubdentinnen wie
die badifeben Univerfititen.
*An der Univerjitit Berlin find im Winter:
femefter 546 Hörerinnen cingefebrieben.
*Weibliche Gewerbeinfpeftion. Qn Wiirttem:
berg ift eine zweite Aſſiſtentin der Gewerbeinfpettion
angeftellt worden. Die Zahl der bisber angeftellten
weiblichen Gewerbein{pettorinnen, bezw. Wi fiftentinnen
verteilt fic) auf die Bundesſtaaten wie folgt:
Preufen 3, Heffen 2, Bayern 2, Baden 1, Hamburg
1, Reuß j. &. 1, Wiirttemberg 2, Altenburg 1, |
Bremen 1, Weimar 1, Coburg:Gotha 1, Sachſen
4 Bertrauensperjonen.
* Gine Schnlärztin bat ber Magiſtrat von
Charlottenburg anjuftellen beſchloſſen. Es ift dies
das erftemal in Deutſchland, daß cine Schulärztin
berufen wird, Der Magiftrat von Berlin lehnte
lürzlich babin gehende Petitionen der Berliner
Yebrerinnenvereine ab.
* Zur Rojtiimfrage der weibliden Biihnen-
mitglieder. Die crite Affentliche Situng ded
Deutſchen Bühnenvereins hat vor kurzem im
grofen Saale des Köoniglichen Schauſpielhauſes
in Berlin ftattgefunden. Das Hauptintereffe der
Verhandlungen crjtredte fic) auf die Frage der
Vieferung hiſtoriſcher Koſtüme an Theatern, ſowohl
an Hoftheatern, deren einige ſchon feit Qabren ibren
weiblichen Mitaliedern dieſe Vergiinftigung gewähren,
wie aud an Stadt: und Privattheatern. Qn
Herrn Intendanten Claar (Frankfurt a. Main)
erſtand ein warmer Verteidiger und Fürſprecher
der ſchwebenden Frage, die „im Prinzip“ ja
nun geloft ware, deren definitive CEntideidung
jedoch durch Antrag des Direltorial Ausſchuſſes bis
gum Sabre 1907 vertagt worden ijt. Die Brejje
bat in anerfennendwerter Weife die Beftrebungen
der Deutſchen Biibnengenoffenfehaft, der in erfter
Linie die Aufſtellung jener Forderung gu danfen
ijt, unterjtiigt, und wird dieſes verſchiedenen
Zuſicherungen gufolge auch ferner tun, fo daß aller
Borausfidt nad in abjebbarer Seit an allen
Theatern den weiblichen Mitglicdern, ebenfo wie
den Herren das hiſtoriſche Koſtüm geliefert werden
muß, und fomit cine Mufbefferung der Cinfommens:
verbaltniffe der Schaufpielerinnen berbeigefiibrt wird.
* Die Lohnverhaltnifje der Rellnerinnen
famen filrglich in der bayriſchen Kammer jur Be:
ſprechung. Die Regierung wurde erſucht, im Hof:
briubaus mit gutem Beifpiel voran gu geben und
die Nellnerinnen fo zu befolden, daß man ifnen
dann bas demoralifierende Trinfgeldnebinen ver:
bieten fonne. Bet dem Finanzminiſter ſchien nicht
viel Neigung zur Beriidfictigung der beredtigten
Anregungen gu herrſchen.
Armenpflegerinnen anzuſtellen, beſchloß die
Stadtverordnetenſitzung in Solingen. An der
Erweiterung der Frauenarbeit in ber kommunalen
Bur Frauenbeiwegung.
Armenpflege find iiberhaupt, dank der cifrigen
Tatigheit ded rheiniſch⸗weſtfäliſchen Frauenverbandes,
die Rbeinfande in gang bervorragendem Maße
beteiligt.
* Die Gewahrung des aftiven Landtags-
wahlredjts an felbjtindige bayriſche Frauen ijt
feitend des Rechtsanwalts Dr, Blättner beim
Landtag beantragt worden. Der Petent halt unter
ben gegebenen Berbiltnijfen zunächſt nur diefe
Form des Frauenwabhlredts — mit der Cin
ſchränkung, daß die Stimmabgabe durd einen
minnlicen Stellvertreter erfolgt — fiir zeitgemäß,
befennt fich aber prinjipicll fiir gleiches Wablredt
fiir Manner und Frauen, Qn der Begriindung
der Retition wurden bejonders die Steuerleiftungen
der Fraucn an den Staat als Grundlage ftaats:
biirgerlider Rechte betont. Cine andere, von
Mainnern und Frauen unterzeichnete Petition
fordert dasſelbe ohne die Einſchränkung in bejug
auf die Stimmabgabe. Man darf auf den Erfolg
begierig fein.
* Gine Fetition jum Arbeiteriunenfdus be-
abſichtigt bie Gefell{chaft fiir fojiale Reform dem
Bundesrat einzureichen. Es bandelt fic um
Regelung der Arbeitszeit für erwachſene Urbeiterinnen
in Fabrifen nach folgenden Gefichtépuntten:
1, bie nach § 137 Abſ. 2 der Gewerbeordnung
guliiffige tägliche Arbeitszeit foll von 11 auf
10 Stunden berabgefest werden, wenn notig mit
ber Mafigabe, daß nad Ablauf von zwei Jahren,
nad Rundmadung des betreffenden Geſetzes, dic
Arbeitszeit auf 10'/., nach weiteren zwei Jahren
auf 10 Stunden herabgeſetzt wird; 2. die nad
$137 Abſ. 3 a. a. O. zu gewabrende Mittags:
paufe pon 1 Stunde foll auf 1'). Stunden ver-
{angert werden; die Cinbaltung ciner 1 ftiindigen
Mittagspaufe ift jedoch dann geftattet, wenn die
Mehrheit der in den eingelnen Betrieben be:
ſchaftigten Arbeiter in geheimer Abſtimmung dies
beantragt; 3, der Arbeitsſchluß am Sonnabend
und an den Borabenden der Fefttage wird auf
fpateftens 4°), Ubr nachmittags verlegt; 4. die
Beſchaftigung von Wöchnerinnen foll vor Ablauf
von jes Woden nad ibrer Niederfunft über
houpt nicht und wabrend der folgenden zwei
Wochen mur dann geftattet werden, wenn das
Beugnis cineds approbierten Argtes died für zu—
lajfig ertlart.
* Stimmredjt von Frauen in der General:
verfammiung einer Attieugeſellſchaft. (Urteil
bes Reichsgerichts vom 23, Mai 1903.) Rach
dem gegenwärtig geltenden Alktienrechte fann
die Veftimmung, daß Witwen der WAftionare, wenn
fie im Beſitz ciner Wetie find, das perſönliche
Stimmredt verfagt und fie auf die Crnennung
von Bevollmächtigten angewielen feien, als rechts—
giiltiq und wirkſam nicht angefcben werden, Sie
ift mit $ 242 bes Handelsgelegbuches, welcher jeder
Aktie das Stimmrecht gewabrt, unvereinbar, Cine
Unterſcheidung, je nachdem der Aftionér cin Mann.
247
oder cine Frau ijt, ift auc mit den Grundſätzen
ded Biirgerlichen Geſetzbuchs, welded hinſichtlich
der Geſchäftsfähigleit zwiſchen männlichen und
weiblichen Perſonen keinen Unterſchied macht, nicht
in Einklang zu bringen. Cin Swang zur Aus:
übung der Stimmberechtigung durch Bevollmächtigte
ijt nicht. mehr zuläſſig, und es gilt bas auch fiir
Uttiengefellfaaften, welche vor demi 1. Januar 1900
entftanden find. Gine ftatutarifde Beftimmung
babin, daß cin Wltionar, welder ſein Stimmrecht
nicht perſönlich ausiiben will, alo Bevollmächtigten
nur einen Altionär wablen fann, fallt unter die
Bedingungen, welde auch jest nocd mit rechtlicher
Wirkung aufgeftellt werden können und alle Aktionäre
gleichmaͤßig trifft. Wegen Nichtzulaſſung ded Be:
vollmächtigten einer Witwe, der übrigens nicht
Uftionar war, wurden die Beſchlüſſe ciner General:
verſammlung fiir ungiltig erflairt, indem ange:
nommen wurde, es laſſe fich nicht beurteilen,
welchen Crfola es gebabt bitte, wenn dem Be:
vollmachtiaten erflart worden ware, feine Muftrag:
qeberin Fonne ſelbſt ihr Stimmredt ausüben.
(3. Wochenſchr., Yq. 32, S. 204.)
* Wn der philojophifden Fafultat in Wien
promovierten drei Frauen; demnächſt werden die
erften vier Ubiturientinnen auch den mediziniſchen
Doftorgrad erwerben.
* Zum Arbeiterinnenſchutz find in der Schweiz
neue Beftimmungen erfaffen worden, die gwar an
bem I] ftiindigen Marimalarbeitstag fiir Frauen
fefthalten, aber im iibrigen zeitgemäße Reformen
bringen. Beſonders die Ausdehnung des Arbeite:
rinnenfduges auf Lobhnarbeiterinnen in nicht
fabrifartigen Betrieben ijt cine febr erfreuliche
Neuerung.
* Die Einführung des ſtaatsbürgerlichen
Wahlrechts fiir Frauen wurde vom norwegifden
Storthing abgelehnt.
Weibliche Arzte im Staats: und Gemeinde—⸗
dienſte in Schweden. Die ſchwediſche Regierung
bat am 11. d. Mts. cine Verordnung erlaſſen, wo:
nad) unverbeiratcte weiblicbe Arzte mit demfelben
Recht wie männliche Anftcllung erhalten fonnen
alg: Arzte an den Bezirkslazaretten, Kranken—
haufern, Hoſpitälern, als Gifenbabn: und Ge:
fängnisärzte, im Dienft der Kommune (jedoch nicht
al Stadtarst), alS Wjfijtenten det Univerſitäten,
fur; alle derartigen Stellungen erbalten können
mit Ausnahme ciniger Stellen als Provingial:,
Stadt: und Militärarzt, fowie Oberaryt an
Hofpitalern und Arrenanftalten. Sobald cine im
Amt befindlide Arztin ſich verbeiratet, geht fie
ibreS Amtes verlujtig. (Soz. Prar.)
* Die Zulaſſung zur Advofatur, die Holland
den Frauen kürzlich gewährt hat, ift in England
abgelehnt worden, Miß Cave hatte vor kurzem
Aufnabme in cinen der Quriftenverbinde — die
248
Grays Gun — als notwendigen Schritt yur Su:
faffung zur Abdvofatur verlangt, und jie war mit
dem Hinweis auf ihr Geſchlecht abgewiefen
worden. Der Lord Kanzler, der Lord Oberricter
und fünf Hichter hörten ibre Berufung gegen diefe
Entſcheidung und lehnten fie ab, da fie einen
Präzedenzfall yu ihren Gunften anfiihren tonne.
* Der Verfud) ciner Mutterſchaftsverſicherung
ijt in Bolton von privater Seite gemacht worden.
Es hat fich dort eine Gefellichaft fiir Mutterſchafts⸗
verfiderung gebildet. Gegen Cingablung fleiner
monatlider Prämien erhalten die Frauen bet Ent:
bindung von einem [ebenden Kinde von der Ge:
felljchaft cine Summe von 100 bis 500 Dollars
ausbezahlt. Die Verſicherungsgeſellſchaft ijt cin
gejdaftliches Unternehmen, doc find die Leitenden
Stellen durchweg unbefoldet. Die Auszahlung
betragt bei einer monatlicben Pramie von 3 Dollars
nad mindeſtens fiinfmonatlicer regelmafiger Cin:
zahlung 200 Dollars, nad) minbdeftens eljmonat:
lider Cinjablung 300 Dollars, nad mindeftens
dreiundzwanzigmonatlicher Einzahlung 500 Dollars.
* Jn Nenfeeland wird cinmal wieder über
bie Verleibung des paſſiven politiſchen Wabhlredts
an die Frauen verbandelt. Cin dabin gebender
Untrag wird von dem Abgeordneten Wac Rab |
eingebracht.
*Totenſchau. Cine ber wenigen aus der
älteſten Generation der deuticben Frauenbewegung,
Franziska Ammermiller, ijt im 87. Lebens⸗
Verſammlungen und Vereine.
jahre geſtorben. Ihr verdankt die Frauenbewegung
in Württemberg ihre erſten Anfänge. Mit lebendigem
Verſtändnis ergriff fie die Anregung, die 1875
durd cine Wanderverſammlung des Allgemeinen
deutſchen Frauenvereins in Stuttgart zu den
württembergiſchen Frauen getragen wurde, und
18 Jahre hindurch hat ſie als Vorſitzende des
damals gegründeten „Schwäbiſchen Frauenvereins“
fiir die praftifde und ideelle Förderung der Frauen:
bewegung gearbeitet. Auch nachdem fie ben Vorſitz
niedergelegt batte, hat ihr reged Qntereffe den
Fortſchritt der Frauenſache in ibrer engeren Heimat
und braugen im größeren Baterlande bealeitet.
Wer die Gefcichte der deutſchen Fraugnbetwequng
und ibre Entwidlungsbedingungen fennt und weiß,
was dic rubige praftifde Pionierarbeit ihrer erften
Vertreterinnen fiir fie bedeutet, der wird auch diefer
erften Urbeiterin fiir unfere Sade cin danfbares
| Gedenfen bewahren. —
Mus ähnlicher fegenSreicher lokaler Titigteit
wurde Adelheide Schmidt, die Borfigende des
Frauenbildungsvereins in Gotha, abgerufen. Unter
ibrer Leitung ijt der Verein „einer der bedeutungé:
vollften Faltoren der inneren Entwickelung der
Stadt” geworden; die Cinrichtung eines Volls—
findergartens, einer Fortbildungsſchule waren praf:
tiſche Refultate feiner Arbeit. Dreiftig Jahre
hindurch bat der Verein zugleich die Gedanken und
Biele der Frauenbewegung in Gotha vertreten und
ift dem Allgemeinen deutſchen Frauenverein, defen
Rweigverein er ift, in lebendiger Wechſelwirkung
der Arbeit und der Ideen verbunden geweſen.
——
Versammlungen und Vereine.
Der Yuteruationale Franeufongre# 190-4.
Mit der am 2 November unter Leitung von
Frau Hedwig Heyl ftattaebabten fonftituierenden
Berjammlung des Berliner Lofalfomitees fiir den
Anternationalen Fraucnfongref des Bundes deutſcher
Frauenvereine find die umfaffenden lofalen Bor:
bereitunggarbeiten in Angriff genommen. Die
{ofale Arbeit ift auf 7 Gruppen, unter Leitung je
eines Borftandmitaliedes des Lofalfomitecs, verteilt:
Reprijentation, Uusftellungen, Abzeichen 2c. (Frau
Elifabeth Kaſelowsky); Vreſſe, Anformationsbureau,
Poft 2c. (Frau Eliza Ichenhäuſer); Gefelliqe Ver:
anjtaltungen, Empfänge 2. (Frl. Marg. Frieden:
thal); Sebenswilrdigtciten, Theater 2. (Fri. Anna
Papprig); Freiquartiere, Berpileaung im Kongreß—
lofal der Bhilbarmonie 2c. (Frl. Alice Salomon);
Kaffe (Frau Wengel-Hedmann); Kongreßhandbuch
(Frau Hedwig Hep. Das ganze Lolalfomitce fest
zur Mitarbeit bereit erflart baben. Im Lauf des
Winters wird, umt die Arbetten zu zentraliſieren,
cin eigenes Bureau gemictct werden, von dem aus
die Leitung dieſes Fomplizierten (ofalen Apparateds
erfolgen foll.
Mit der CEinteilung und Feſtſtellung ded
Kongreßprogramms, ber Wufftellung der Redner—
liften, der Cinladung der Rednevinnen, dem
Arrangement der Sigungen und Sffentlichen Ver—
ſammlungen x. tc. tft der Bundesvorftand als
Organifationsfomitee gegenwärtig cifrig beſchäftigt.
Im allgemeinen dient ibm dabei die vorzügliche
Organijation des Londoner Qnternationalen Frauen:
longreſſes von 1899 als Grunbdlage; doch batten
die deutſchen Bundesdelegierten bei dieſer Gelegen:
heit neben vielem Nachahmenswerten aud manches
als unpraftijd erfannt; es werden daher ver:
ſchiedene UÜbelſtande, die in London nicht gu ver:
fi) aus je einer Bertreterin der 25 Berliner
Bundesvercine fowie aus eta 100 Cinjelperjonen
zuſammen, die vom Bundesvorftand cingeladen, fic
—
meiden waren, in Berlin in Wegfall fommen.
Zunächſt wird die ſtörende gleichzeitige Tagung von
Kongreß und Generalverſammlung des luter-
VBerſammlungen und Bercine.
national Council of Women, die gerade den
offigicllen Vertreterinnen der verſchiedenen Rational:
verbande die Betciliqgung an den Kongreßſihungen
vielfach unmöglich machte und dem Rongref da:
durch die Befannt{dajt mancher interefjanten Per:
fonlichteit vorenthielt, durch cin bequemereds und
natiirlicheres Racheinander erjest werden, da be:
fanntlich die Generalverſammlung ded I. C. W.
vom 8. bis 11., der Kongreß vom 12, bis 18, Juni
ftattfindet.
Gin iweiterer Borgug vor London dürfte dic
Sentralijation in bezug auf das Kongreflofal jein.
Wabrend dort die Sigungen in 3 bis 4 ver:
ſchiedenen, gum Teil weit auseinander liegenden
ſtädtiſchen Gebauden abgebalten wurden, wird fic
in Berlin alled unter einem Dach, in den fiir die
ganze Kongreßzeit gemicteten Räumen der Phil—
harmonie abſpielen. Dieſer größeren auferen
Einheitlichleit wird auch die innere inſoweit ent:
ſprechen, als der Bundesvorſtand, um jeder Ser:
jplitterung und Aberladung des Programms vor:
zubeugen, die 4 Arbeitsfettionen des Kongreſſes
(1. Frauenbildung; 2. Frauenerwerb und Beruſe;
3. Soziale Cinrichbtungen und Beftrebungen;
4. Die Stellung der Frau im privaten und dffent:
lichen Hecht), auf dicjeniqen Gebiete befdbrintt bat,
bie fiir die durch die Frauenbewegung angeftrebten
Veriinderungen in den Rechten und Pflichten der
frau in Betracht tommen.
Die 4 Seftionen werden gleidjeitiq an den 6 -
aufeinander folgenden Vormittagen vom 13. bis
249
mebrere ihrer fiibrenden, dem Namen nad aud in
Deutſchland woblbefannten Perſönlichkeiten in
Berlin vertreten ſein. — Alles in allem ſcheinen
dic Auſpizien fiir den Kongreß bis jest nad jeder
Richtung giinftia. Hoffentlich lohnt auch der Er—
folg die viele Mühe und Arbeit, die dafür noch in
den nächſten Monaten zu leiſten ſein wird!
Der Verein Frauenwohl Nürnberg
feierte am 26. November ſein 10jähriges Beſtehen.
Wenn es von irgend einem unſerer Frauenvereine
gilt, daß er einen Faltor im Leben ſeiner Stadt
bedeutet, ſo von ihm. Das von ihm errichtete
Wöochnerinnenheim, dic Frauenarbeitsſchule, die
funfigewerblichen Werfftitten, die Auslunftſtelle,
wiſſenſchaftliche Fortbildungskurſe fiir Frauen, alle
diefe Unftalten baten ſchon Taufenden von Frauen
gedient, fei es durch fosiale Fiirforge und Hilfe,
fei es durch praftijde, künſtleriſche und geiftige
Schulung. Sie haben gum Teil auch vorbildlich
auf andere Städte gewirtt, wie der Verein Frauen:
wobl denn iiberbaupt, entweder durch direfte
Anitiative oder durch mittelbare Anregung auch
auferbalb feines cigenen UArbeitsfeldes Frauen:
befirebungen mannigfachſter Art forderte. So ver:
dantt z. B auch der Verein weiblider faufmannifder
Angeftellten ihm feine Entſtehung. — So bedeutet
die Feier des 10jährigen Bejtebens einen Rücklick
auf wirtliche, fruchtbare Erfolge, die zugleich cine
18 Suni ihre jedermann zugänglichen Sitzungen
abhalten und jeden Tag ein anderes Spezialgebiet
behandeln. Dieſe Sitzungen ſollen zur Hälfte der
Erſtattung von längeren und kürzeren Referaten,
zur anderen Hälfte der freien Diskuſſion gewidmet
ſein. An den Nachmittagen reſp. Abenden finden
allgemeine Verſammlungen im großen Phil—
harmonieſaale ſtatt, in denen allgemein wichtige
und altuelle Fragen der internationalen Frauen—
bewegung zur Erörterung gelangen ſollen. So
wird u. a. die Frauenſtimmrechtsbewegung nicht
nur im Rahmen der betreffenden Seftion (Stellung
ber Frau im privaten und öffentlichen Recht),
jondern auch in einer diefer grofen Verſammlungen
bebandelt werden, und gwar werden Vertretcrinnen
der Beweaung aus allen Landern über die bis—
berigen Erfolge, aud) fiber die praftifden Nefultate
deS Fraucnftimmeredts beridten. Cine andere
Abendverſammlung ift file Berichte über den Stand
der Fraucnbewegung im den Kulturlandern, cine
fiir die Befprechung ped Themas „Frauenlöhne“
in Ausſicht genommen, cin Abend mit dem Thema
» der Einfluß der felbftandigen Frauenperſönlichkeit
auf Wijfenfebaft und Kunſt“ wird neue intereffante
Mefichtspuntte und Ausblicke auf die Sutunit
geben, uſw.
Nad den vorliegenden perſönlichen Mitteilungen
und Seitungsberichten gibt fic) ilberall, felbjt in
Wuftralien und Neufeeland, ein grofies Antereffe
der Frauenwelt fiir den Kongreß fund, dad cine
ebenjo zahlreiche, wenn nicht nod zahlreichere Be:
teiligung wie in London erwarten läßt. Ganj
befonders entwideln die amerilaniſchen Gefinnungs:
genoffinnen cine lebhafte Propaganda fiir den
Kongreß, und es werden neben ben europäiſchen
Ländern vor allem die Vereinigten Staaten durch
Gewahr für neue Fortſchritte in ſich tragen.
Die Feſtrede des Arf. Vr. phil. Kipfmüller, die
cinen Überblick iiber die Arbeit des Bereins gab,
zeigte, auf wie feftem Grunde dic Hoffnung ftebt,
der die Borfigende, Ar. Helene von Forfter, in
ibrem Brolog Ausdrud gab:
Benn wir Langit dain,
Wire jenen fie, die nad uns fommen werden,
Ten Bodin geben, Orin fie kräftig wurzeln.
Treibende Ardfte wird fie ihnen tweefen,
Tamit fie wachſen tennen, fact und fret
Berein fiir Bodenreform.
Im Verein mit ſeiner Frauengruppe hat der Bund
der Bodenreformer in Berlin cin vollswirtſchaft
| liches Seminar cingericdtet, deffen zweiter Cyklus
am 16. Januar beginnen wird. Die Borlefungen
finden jeden Sonnabend 8'/, Uhr abends in der
Yandwirtidaltliden Hochſchule ftatt und find Mit:
glicdern fret, Gajten, Damen und Herren, gegen
2 Marl Gebiibren fiir den ganzen Kurſus ju
gänglich. Für Fraucn, die ja nod immer allju
| felten Gelegenbeit haben, fic volkswirtſchaftlich
und = politijd gus betdtigen, fonnen dieſe
Nbungsabende alS beſonders wichtig gelten.
Wie freudig die Gelegenheit ergriffen wird, dieſem
Mangel abzuhelfen, zeigt der ſtetig wachſende
Zudrang yu dem Seminar, ſodaß der größte Hör—
ſaal der Hochſchule notwendig wurde, der für die
200 und mehr Suborer noch immer nicht ganz
ausreicht. Der Cyklus dieſes Winters wird Agrar—
politit sum Thema haben. Es find Referate in
Ausficht genommen, die den Gegenftand von den
verſchiedenſten Seiten beleuchten. Jedem Referat
folgt eine Disluſſion.
+€13+—__—
„Menſchen“. Charatterftudien von Ellen Kew.
S. Fifer, Verlag, Berlin. (Geb. Mart 4.—,
geb. Mark 5.—.) Qn der Deutung und Darftellung
litterarifder Perjontichleiten liegt die Stärke der
ſchriftſtelleriſchen Tätigkeit von Ellen Rey, mebr
als in der theoretiſchen Behandlung ſoziologiſcher
Fragen. Deshalb ijt diefer neue Band cin ganz
reiner Genuf. Er fpricht über Almquiſt, als iiber
Schwedens ,,modernften Dichter“ und über Eliza:
beth Browning und Robert Browning. Seon in
der erften Sammlung ihrer Eſſays bat Ellen Kev
in dem „Abend auf dem Jagdſchloß“ ihre tiefe
Borliche fiir Almquiſt ausgeſprochen. Modernſte
lünſtleriſche Anſchauungen zeigt uns ihre Inter—
pretation bei dem vor hundert Jahren geborenen
Dichter.
traditionellen Grenzen zwiſchen den dichteriſchen
Gattungen vernichtet und jeden Inhalt in ſein
eigenes, aus den verſchiedenſten Elementen des
tkünſtleriſchen Ausdrucks gewähltes Gewand hüllt,
ift ſchon Almaquifts künſtleriſches Streben. Wie
| beritbergefommen,
Dieſer Monismus der Form, der alle |
aus dem Weſen des Menfeben und aus feinen |
Scidjalen fic feine Weltbetrachtung und dic
Ridtung ſeines künſtleriſchen Wollens entfaltet,
das zeigt Ellen Key in ibrer tief fcbauenden und |
darum fo ficher und fein vereinfadenden Weiſe.
In dem noc reicheren Aufſatz über die Brotwnings
ijt befonders dad intimfte Problem, das Verbaltnis
ber beiden Menſchen gu cinander, die Bezichungen
zwiſchen Kiinftlertum und Erotik, mit der groften
Meiſterſchaft bebandelt. Die Anmerfungen ver:
mifite man gern. Sie find fiir Ellen Key's mebr
Hinftlerifde als wiffenfebaftlide Bebandlung ded
Eſſays ftilwidrig und ftdrend.
Pantheon: Ausgabe’, Bd. X. Grillparger.
Des Meeres und der Liebe Wellen. (An Leder ged.
2,50 Mart.) Bo. Xl. Goethe, Fauſt I. (An
Leder geb. 3M.) S. Fiſcher, Verlag, Berlin.
Die in feltener Feinbeit ausgeftatteten Bändchen
ftellen der deutſchen Buchkunſt cin erfreuliced
Beugnis aus. Möchte mur ibre Verbreitung den
bicher nod recht anſpruchsloſen Geſchmack ded
deutſchen Leſepublilums in ebenfo erfreulicher
Weiſe erweiſen. Dem Grillparzerbandchen iſt pas
Geleitwort von Hugo von Hoffmannsthal cine
ſchöne und ftimmungsvolle Cinleitung.
bat Pniowers Cinfiibrung philologiſche Belebrung
mit enthufiaftiider Paraphraſe geſchmackvoll ver:
tnüpft. Die Tertrevifion — in beiden Banden
von Pniower — ift ſorgfältig. Damit licgt die
Bantheon Ausgabe ded Fauft vollitindig vor. Der
erfte Vand erſchien fon vor ciniger Beit, gleich—
—
Im Fauft |
falls mit ciner Einleitung von Pniower, und mit
einem Gocthe Bildnis nach cinem 1791 gefertigten
Rupferftid) von Lips. Die beiden Bändchen der
Fault Uusgabe diirften fiir den Biicherfreund cin
erlejener Beſitz fein.
„Die Komödie anf Krouborg“. Erzählung
von Sophus Bauditz. (Leipzig, Fr. Wilh.
Grunow.) Das eigenartige Bändchen mit den
feinen, ſtimmungsvollen Zeichnungen führt uns in
das Jahr 1586 zurück, wo engliſche Komödianten
vor König Frederif dem Zweiten von Dänemark
auf Kronborg fpielten. Mit ibnen ift ein junger Mann
den der Vorname Will und
allerband andere vom Berfafier gegebene Winke
den Lefer bald als William Shakelpeare erfennen
laſſen. Er erlebt im ftiflen Kloſter bei Kronborg,
was fic nachber in feinen Dramen geftaltet.
Ophelia und Falftaff, der Schauplatz zur Hamlet:
tragödie und Anflinge aus Romeo und Qulie find
geſchickt in die Erzahlung veriwoben, die an und
fiir fich ſchon ibren Reiz durd die Echtheit der
Yofalfirbung ausübt.
„Die belgifde Malerei“ von Ridard
| Muther. (Mit 32 Bollbildern.) S. Fifcher,
| wird.
Verlag. Berlin W. (geb. 6 Markl.) Der geift:
reiche Aſthetiler gibt cine weniger auf hiſtoriſchen
Studien alS auf feinfinnigem, geſchultem Seben
berubende fnappe Darftelluna der Entwidlung der
belgifcen Runft im 19. Jahrhundert. Wit der
befannten viftuoien Treffſicherheit charafterifiert,
ziehen die Zeitabſchnitte und ibre Trager an uns
voriiber, bier und da itberragt von ciner einſam
cigene Wege febreitenden Geftalt, wie Wierg oder
Meunier. Jn ſorgfältig ausgefiihrten Illuſtrationen
find genug Stichproben gcacben, um die Dar:
ſtellung verſtändlich gu madden. Das Bud ijt
mit ganz befonderer Feinheit ausgeftattet.
„Ein ſchlichtes Herz’. Bon Guftave
Flaubert. Deutſche Ubertragung von Ernſt
Hardt. Inſel Verlag. Leipzig 1904. In der
befannien ſchönen Ausftattung des Inſel Verlags
erſcheinen drei Novellen — außer der Titelnovelle
die „Sage von Sankt Julianus“ und „Herodias“
— in einer feinfühligen Uberfegung, die den fo
ſchwer wiedergugebenden Nuancen der modernen
franzöſiſchen Erzählkunſt in feltenem Mae gerecht
So diirfte dieje Meine Sammlung in der
Tat geeignet fein, deutſche Lefer an die feine Kunſt
Flauberts herangufubren.
Bücherſchau.
„Augelika Kauffmann“. Bon Eduard
Engels, Verlag von Velhagen u. Afafing, Biele:
feld u. Leipzig. (Preis 3 Marl.) Das febr hübſch
ausgeſtattete Bandden, das in gut ausgefiibrten
Kunſtdrucken auch cin paar Bilder feiner Heldin
reproduziert, gehört ciner gréferen Sammlung an,
bie Hanns von Sobeltis unter dem Gejamttitel
Frauenleben“ verdffentliobt. Die Sammtung um:
fait frappe, dem Verſtändnis breiterer Kreiſe der
Gebildeten angepafte Biographien hervorragender —
Frauen aus Geſchichte, Litteratur und Runt.
Eduard Engels bat mit feiner lebendigen, geſchict
und eindrucksvoll injcenierenden Darſtellungsweiſe
feinem Stoff eine febr gefiillige und aniprecbende
Form gegeben, die dem eleganten kleinen Buch cine
freundliche Aufnahme ſichern wird.
„Shakespeare-Brevier“ von H. Siegfried, —
Verlag Schuſter A Löffler, Berlin 1903.
Goethe⸗, Schopenhauer⸗, Gottfried Reller-Brevier
läßt ber Herausgeber cin Shakespeare Brevier
folgen. Ich bin ein Feind ſolcher Sammelſurien,
wo ein kleiner Geiſt einen uͤbermächtigen aud:
ſchlachtet. Der Faulheit unſerer „Gebildeten“,
Shalespeare nicht zu leſen, wird damit Vorſchub
geleiſtet. Was der große Brite an Lebensweisheit
bietet, genießt man viel lieber im Zuſammenhang.
Wozu die Werfe auf ſolche Sprüche und Sentenzen
bin filtrieren? Es wird nur die Entfremoung von
arofer Kunſt in diefem Unternehmen ſyſtematiſch
betrieben, Citatenjigern, die es bei der Abfaſſung
ibrer Aufſätze nötig baben, werden fic über das
Biidhlein freuen und es baufig benugen mit dem
fieblichen Bermert: „Shalespeare fagt .. .”
Dr. Hegener.
„Balladen und Schwänle“, von Oskar
Wiener. J C. C. Bruns Verlag. Minden 1905.
Der Ton ift ſchon aut und ſicher getroffen, der in
feiner burfebifofen Weiſe etwas lebbaft und prickelnd
nad Urt und Ausprud wirkt. Dieſes Urwüchſige
in ber Behandlung des Vorwurfs ficert der Samn:
(ung auch den Erfolg, fo wenig cigene dichteriſche
Noten immerhin angeſchlagen find. Witunter fühlt
man den Apparat zu deutlich, der die Balladen:
fiquren lebendig balten foll, und dieſes Erkünſtelte
wirft Mibmend. Geſchloſſen in der Stimmung, reif
in den Mitteln, dieſe Stimmung gu erreichen, find
— jedes in ſeiner Art — „Das Aronenlied“ und
„Der Preis". Prächtig der inneren Geſtaltung
nach iſt „Das Geſindel“. Da geſtaltet der Dichter
in bent einſachen Vorgang cin Schickſal, das der
Dem »
ihrer neuen Ausſtattung den Anſprüchen einer
251
wartigen Stand der photoaraphifden Technik und
cinen fiir ben Laien gewiß oft nod überraſchenden
Einblick in die lünſtleriſche Durchbildung, ju der
die photograpbiide Kunſt in dem legten Jahrzehnt
gclangt iſt. Es ift deshalb auch fiir ſolche, die
nicht Fachleute ſind, außerordentlich intereſſant.
Böcklin⸗Mappe herausgegeben vom Kunſtwart.
Neue Ausgabe mit Tonunterdruck. München.
Georg D. W. Calliveh. Kunſtwartverlag. (Preis
1,50 Marl.) Die Mappe enthält ſechs Runithlatter
in ciner filr den billigen Preis überraſchend guten
Musfubrung. Der Tonunterdrud gibt den Bildern
' gine leichte Farbigkeit, durch die fie cine ftarfere
cine Taq dem andern jutragt, bas von Wnbeginn |
war und in Sufunft fern wird. Mir daucht, dee
Künſtler weiß beffer zu plaubern, ale zu dichten;
beſſer feuilletoniſtiſch als balladenhaft zu geſtalten.
Seine Schwänte muten darum auch flüſſiger und
natürlicher an, R.
„CameraKunſt“. Cine internationale Samm:
lung von Kunſt⸗Photographien der Reuzeit. Unter
Mitwirkung ven Wri’ Loeſcher herangacgeben
von Ernſt Qubl, Hamburg. Witt 80 Res
produftionen nad hervorragenden Munit: Photo
graphien und tertlicben Beiträgen tm: und aud:
ländiſcher Fachſchriftſteller. (Preis 4,50 Mark, in
Wangleinen:Ginban’ 5,50 Mark.)
fowobl hinſichtlich der bildlichen als ber textlichen
Beitrige cine gute UÜberſicht über den gegen
Ter Band bieret |
Stimmungswirkung erbalten, als im blofen Schwarz⸗
Weiß⸗Druck. Bejonders dem ,,Heiligen Hain” und
„Dichtung und Malerei“ fommet dieſe Tonung zu
ſtatten. Wit den hingugefiigten knappen Erläute⸗
rungen dürfte die Böcklin- Mappe des Kunſtwart in
wilrdigen Populariſation unſerer Meiſter in vor:
trejflicher Weiſe geniigen.
Auch auf die neue Folge der Meiſterbilder ſei
an dieſer Stelle nochmals hingewieſen. (Pr. pro
Wart 0,25 Wark) Sie bringen „Das Konzert“
pon Gerard Terbord, „Gilles“ und „Die Cine
ſchiſung nad Cotbere von Watteau, die „Fluß—
landſchaft“ von Malbert Cuyp, , Die Infantin
Maria Terefa” von Belasquey, den , Mann mit
ber Melle" von Qan van Evd, das „Haäarlemer
Holz“ von Hobbena, die , Verfuchung oes Heiligen
Antonine” von David Teniers d. Ja die „Heilige
Barbara” von Hans Holbein b BW, de
„Kuh bet der Tränke“ von Willet, die „Apo—
kalyptiſchen Heiter” von Dürer und die „HPeilige
Juſtina“ von Moretto. — In ben auf den
Umſchlag gedructen tertlicben Erläuterungen wird
jedes Mal das Hauptlachlicke aus deme Leben bes
Künſtlers cinfad und klar erzählt. Die Repro:
buttionen — 3. T. ebenfallé mit Tonunterdrud
— leiſten durchweg mit ben beſcheidenen Witteln
iiberrajdend Gutes, jo dah ihnen nur weiteſte Ber:
breitung gewünſcht werden fann.
„Steruſchuuppen“.. Für die Jugend und ibre
Freunde, Herausgegeben von Heiner. Mofer,
Bilder von Gertrub’ Kohrt. Verlag Gebr.
Rünzli, Zürich Miinden. Preis des Heftes 1 Mark.
Das kleine Bilberbudy mit Tertbeitragen von
Paula Debmel, Ridard Zoozmann u. a. iit
tein gan; fo glücklicher Griff wie Knecht Rupredt
ober Sugendland, ſowohl in den Bildern als im
Tert. Neben gut Gelungenem, wie 3. B. dem Bilde
vont Sommer, finden ſich doch aud Narifaturen,
die ſich an dem heiligen ſachlichen Ernſt, mit dem
cin Rud an cin Bilderbuch herangebt, geradezu
verjiindigen, indent fie einen Dem Kinde gegeniiber
unverantwortlichen Ton feden Scherzes anjeblagen.
Bilder, wie bas oer losgelaſſenen Teufel, gehören
nicht in cin Kinderbuch.
„Schwätſchen fiir Kinder“ von CErnit
Mreibolf, (Schafſtein, Coln.) Der geniale Jugend
künſtler bietet wieder cin paar Blatter feiner
Hinberbilder und Heime. Sie zeigen die gewobnte
feine Anpaſſung an des Kindes Urt zu feben und
die pbhyfiognomiide Kunſt der „Wieſenzwerge“.
Manz beſonders gelungen iſt diesmal dads Vorſatz—
blatt in Farbe und Zeichnung.
252 Bücherſchau
„Jugendland“ cin Buch fiir die junge Welt
und ibre Freunde. Herausgegeben von Heinrich
Mofer und Ulrich Kollbrunner Verlag von
Gebr. Miinsli. Zürich und München (Band IL,
fiir die reifere Jugend beftimmt). Cin Jugendbuch,
an bdeffen Lerten u. a. Ilſe Frapan, Detlev von
Liliencron, an deſſen fiinitlerifder Wusftattung vor
allem Schmidhammer, aber aud RKubnert, Franz
Hoch mitgearbeitet baben, ijt cine der erfreulichften
Erſcheinungen — vielleicht die erfreulichſte — in
der Jugendlitteratur des Jahres. Ganj bejonders
ift es qu begritfien, daf mit dem Sugendfand ein
Bilderbuch höheren Stils gefchaffen ift, daß dic
bisherige Liide vom Kinderbuch jur grofen Kunſt
in befter Weiſe ausfüllt. Es ijt fiir Rnaben und
Madden von 9—LO Jahren an aufs wärmſte gu
empfehlen.
„Kinderwelt“ Erzählungen und Skizzen aus
neueren deutſchen Dichtern ausgewählt vom Ham—
burger Jugendſchriftenausſchuß. Leipzig, Berlag
von Ernſt Wunderlich. Leipzig. 1904. Die
Sammlung, in der Helene Böhlau, Detlev
von Liliencron, Charlotte Niefe, Helene
Voigt u. a. vertreten find, bietet fiir grofere
Scultinder eine vorzügliche Auswahl moderner
Novelliftit und zeigt dic Tiitigteit der Hamburger
im beften Licht.
Im Verlag von Hermann Beyer u. Söhne,
Langenfalja erfchienen cine Neibe von Jugend—
febriften, die den alten Babnen de3 Bilberbuches
in night immer unanfechtbarer Weife folgen:
Die Gänſehirtin,“ cin Marden von Harry
Wünſcher mit Bilbern von Aug. Plinke.
„Kindertage in Luft und Plage’ Tert von
Helene Binder, Bilder von Auguſt Plinte.
„Der Heine Ro ans Kiautſchon“ Bilder unt
Terte. Marte Meurer.
. — Anjeigen,
| Perfonen und Begebenbeiten,
„Schwänzelpeter und Schlumpellieſe“ Tert
von Otto Weddigen, Wilber von Auguſt
Plinkle.
„Des Moarx ſtüuftlerreiſe“ mit ſechs Bilbern
von Proj. E. Hartel.
„KRtunterbunt im Jahresrund“ Berfe von
Helene Binder, Bilber von Aug. Plinfe. —
Qn Bildern und Berfen eigen dieſe Bücher
mit wenig Ausnahmen die fabrifmapige Flachheit,
von der wir unfere Sugendlitteratur gern
befreien möchten. Gin vornebmer pädagogiſcher
Verlag von Hermann Bever ware wobl berufen,
die Jugendſchriftenbewegung auf ibren neuen Babnen
zu begleiten und zu fordern.
In demjelben Verlag ericdienen ,,Rene Wald-
mãrchen“, „Oberförſters Mieze“, „Kätchen und
ihre Freunde“, drei Bücher von Marta Freddi—
Clauſius. Sie enthalten zum Teil Erzählungen
aus dem eigenen Leben der Berfaſſerin und ſind
in der Tendenz geſund und gut gemeint, wenn man
aud unſeren heranwachſenden Madchen lieber etwas
lraftigere Koſt vorſetzen möchte.
„Taubeuflug“. Roman von Luch von Heben—
tanj-Racmpfer. Minden. Allgemeine Verlags—
Geſellſchaft m. b. H. „Auch im Bolfe regte eS
ſich. Der Schulzwang mit Lehrern, die nicht alle
chriſtlich geſinnt, der Militärdienſt im den großen
Stadten, tte bie Jugend nur gu bald dem
heimiſchen Katholizismus entfremdet und der Lebre
jfalſcher Propheten bie Wege geebnet“ (S. 41) —
— — — das eine Probe fiir die Tendeng ded
über 400 engbedructe Seiten umfaffenden Romans.
Aſthetiſch betrachtet ijt er cin Gewirr von allerlei
in dem weder
| Kompofition nod Charatterijtif, nod) ſchließlich die
Sprache auf künſtleriſchem Niveau ftebt.
Absolut bestes Mundwasser der Welt!
Odo!
Vinderang ei Reisgultanden der Yrinungsoraane, t bei Natarch, Feuchhuſten sc.
Malz-Ertraft mit Cijen
Mats. Grtraft mit Kal
Anzeigen.
Scherings Makertratt
ift ein aude —— — Hausmittel zur Krditiqung fir Qranfe und Wefonvalessenten und bewährt ie wa Ase i als
wi. 75
gegeben u,
253
gehirt gu den am leictelten verdaulichen, die Zaͤhne nigh an jl Files
nritteln, welche bei Blutarmut (Bleichſucht) zc
wird mit grohem Grfolge gegen Rbachitis (fonenaunte enalifche
unterftiigt wefentliQ Sie Rnodenbtldung bei Kindern.
. Derorditet werden. FL D102
ransheit)
l. Wt. 1—
Schering’ s Grüne Apothehe, Berlin N., Chauffer-Strafe 10.
Riederlagen in felt ſamtlichen
ye Damenfalender 19044,
Schreiblalender, Geſchäſtskalender,
Anthologie. 43. Jahrgang. Berlin,
H. v. Declers Verlag. G. Schene,
Abnigl. Hofbuchbbandler.
Otto Webers Trauermaga
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außer allen fertigen Gegenſtänden
als Koſtüme, Paletots, Hilite,
Bluſen, Rocke, Morgenröcke, Mati
nᷣes, Jupons rc. vorzugliche Quali⸗·
taten in warzen Stoffen zu allen |
Preiſen. Die Firma wird jeit mehr
als BO Jabren von ibrem Begriin:
der geleitet und bietet daber die
Marantie für prompte und zuver—
laffige Ausführung ber Aufträge.
Es find in lester Zeit baufig
Reklamationen iiber veripitete
Lieferungen bet der Firma cin:
gegangen, dic ſich immer dabin
aufflarten, daß dic betreffenden
Herridaften nicht in Otto Webers
Trauermagazin, deffen Bertaufs:
raume fic) durch mebrere Etagen
hinziehen, ſondern in einem kleinen
Trauerladen, der unweit dieſer
Firma ein kleines Parterre Lokal
umfaßt, gekauft haben. Es wird
daher gebeten, auf die Haus:
nummer 35 und die Firma „Otto
Webers Trauermagazin“ zu achten.
Criginalrezept. — Weife
Hitben, 6 Perfonen. Zu—
bereitungszeit 1 Stunde. Die
Rüben werden von der diden
Scale befreit, in Streifchen ge:
{ebnitten und in focendem Salz—
wafer 20 Minuten gefoddt, damit
fie von ihrer Scarfe verlieren.
Nun lift man cim quteds Stiid
Butter heif werden, dämpft darin
eine jeingeſchnittene Zwiebel, giebt
die Rüben hinein, ſtreut Salz
darüber und läßt fie unter öfterem
Umwenden andünſten, bis ſie eine
hellgelbe Farbe haben, dann gießt
man Fleiſchbruhe zu und '/, Stunde
vor dem Anrichten bindet man
mit einem kleinem Eßlöſſel an:
gerührtem Mehl. Beim Anrichten
fügt man zur Verfeinerung und Be—
lommlichkeit des Gerichtes 1 Eß
löffel Maggi⸗Würze bei. A. u. R.
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254
Bekanntmachung.
An der hieſigen ſtädtiſchen
Handels⸗ und Gewerbeſchule wird
die Stelle einer
fciterin
der Maddenabteilung
gum 1, April 1904 frei.
Die Anftellung erfolgt zu—
nächſt auf Probe. Das Anfangs
qebalt betragt 2400 Mark! und
fteigt nad) der enbdgiltigen, auf
Lebenszeit erfolgenden Anftellung
in Swifdenraumen von 3 zu
3 Jahren um je 200 Mark auf
3000 Markt. Auherdem wird
nad der endgiltigen Anſtellung
cin Wohnungsgeld-Zuſchuß von
B00 Mark gesablt.
Die Stelleninbaberin erwirbt
Rubegehalts - Berecdhtiqung nad
Mafgabe der fiir Staatsbeamte
geltenden Vorſchriften.
Melbungen mit Lebenslauf und
beglaubigten Zeugnis Abſchriften
find bis zum 10. Dezember d. 2.
an uns cingureicen,
Austunft über Urt und Umfang
ber dienſtlichen Pflichten d. Leiterin
wird der Direftor der Schule
Herr Stille auf Wunſch erteilen.
Guelen, d. 26. November 1903.
Der Magiftrat.
Auejug aue dem
Stellenverm ——
deo Allgemeinen drutſchen
Lehrerinnenvercins.
Sentralleituna:
Berlin W. 57, Culmitrafie 5 pt.
1, File cine Privatſchule in Heſſen⸗
Naffau wird gu Ofterm 1904 cine
file bébere oder Bolfefhulen gepriifte
Lebrerin fur den Elementarunterricht
geſucht. 80) «Kinder, Anaben und
Madchen. Anfangsachalt 1000 Wart;
angenepme Stellung.
2. Gin Penfionat am Gary fudt
pum 1. Nanuar oder Oftern 1904 eine
wiſſenſchaftlich geprilfte, 20—~0 jabrige
Yebrerin file den ſprach⸗ und wiſſen⸗
foaftlicdben Unterricht. Engliſch und Fran⸗
pofiich im Ausland Gebalt 800 Wart,
falls Mavierunterridt
fann, 1000 Wart.
3. Eine beftrenommicrte Privatſchule
in grofer Stadt Mittel deutſchlands fudt |
zum 1. 4 «14 eine wiſſenſchaſtlich
geprüfte ebrerin fiir die Mitielftufe
und ben franjofifden Unterricht, Fran⸗
adfif tm Ausland. Gebalt 1400 Mart,
ſteigend 016 1800 Wark, Nad fefter
Anftelung Ginfaunf in Penfionstaffe,
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gabl 22—24 widentlic.
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von Frau Elise Brewitz,
BERLIN W., Potsdamer-—Strasse 90.
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Vierteljabré:, Halbjahrs ⸗ und Jabresturje. © Wulterfontor.
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Kassel, rang: Frovel-Seminar
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Stande (16—36 Sabres gu Erzieberinnen in der Famuie und Leiterinnen von Kindere
adrten, vorten und anderen Arbeitsſeldern der Dtafonie. Nabereds durch bie Leiterin
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Der Direltor. Das Auratorium.
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Mittele und Obertlaſſen. Schiilerjahl |
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6. Cine Nuratoriumjdule im der |
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Lebrerin mit abgelegter eder beabſich igter
Vorftebecrinnenprilfung. 50 Scbiilerinnen |
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20 widentlic); Gebalt 1500 Mark, freie |
Bobnung und Heuung.
6. Cine Familenidule in der
Mart Branvenburg ſucht gu Oftern 1906
cine wiſſenſcha ſtlich gepriifte Lehrerin.
10 Ainder aller Altersſtufen find in allen
Fachern einer boberen Tochterſchule gu
untercubten, Stundenzahl 24 wochent⸗
lid. Gebalt 1200 Mart.
7. Gine bbbere Privatſchule in der
Proving Sachſen ift yum 3, 4. 1904 oder
friver yu verfanuien, die einzige am Ort.
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Aaufpreis 1500 MW, eventuell mwewiger.
8. Gine Madoden Mittelſchule in
Refifalen fucht au Ofterm 1904 eine in
Klaſſenunterricht ecfabrene, wiſſen ſchaſtlich
geprufte, 25—S0jdbrige Lebrerin. Unter:
ridtafdder: Religion, Deuthh, Geſchichte
Geograpbie in Rlaffe Il, eventucll
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Vie Suche nach dem freien Weib.
Eine Epifode aus der Saint-Simonijtifdhen Bewegung.
Zon
Dr Georg Miſch.
Radhbrud verboten. — —
m Beginn des 12, Jahrhunderts ſah man einen Laien, genannt Tanchelm, der
von den Inſeln Seelands gekommen war, mit ungewöhnlichem Erfolge unter
dem Volk von Flandern und der Markgrafſchaft Antwerpen predigen und Anhang
gewinnen. Der Kern ſeiner myſtiſchen Lehren iſt ſehr ſchwer feſtzuſtellen, ſeine ſozialen
Forderungen, ſein Kampf gegen den Zehnten, auch wohl ſeine freie Moral mochten
ihm die vielen Adepten zuführen. Faſt alle Hiſtoriker haben in ihm einen Vorläufer
Johanns von Leyden und der Wiedertäufer geſehen. Er erklärte die Klöſter für
Bordelle, das von den Prieſtern bereitete Altarſakrament für nichtig: aus den Ver—
dienſten und der Heiligkeit des Miniſters erſtehe die Kraft der Sakramente, und die
Kirche ſei nur bei ihm und den Seinigen; da er die Fülle des heiligen Geiſtes
empfunden habe, ſei er ebenſo Gott wie Chriſtus. Er bildete eine Gilde von zwölf
erleſenen Männern, welche die zwölf Apoſtel darſtellten, eine Frau lebte mit ihnen
als die Jungfrau Maria, und eines Tages ließ er ſich vor der Menge des Volkes,
dem er predigte, ein Bild der heiligen Jungfrau bringen und verlobte ſich mit ihr.
Von Brügge ausgewieſen, fand er in Antwerpen günſtigen Boden, und ſein Anhang
wurde ſo groß, daß kein Fürſt ihm entgegenzutreten wagte. Im Jahre 1124 oder
1125 wurde er von einem Geiſtlichen erſchlagen.
* *
*
17
258 Die Suche nad bem freien Weib.
Gs gibt aud cine naturaliſtiſche Myſtik, und die Motive, von denen dad
menfeblide Dichter und Denken in feinesivegs febranfenlofer Fille zehrt, kehren auch
in Dem 19. Jahrhundert in neuer Gewandung wieder.
Die naturaliftifde Geijtesrichtung ijt heute eine erſte Macht in dem Leben der
Kulturvilfer, nicht nur als Philoſophie, fondern auc al Religion. Einen
poſitiviſtiſchen Gotteddienit fann man, wenn aud nicht in deutſchen Landen, fo dod
in Franfreid) und England befuchen, in Schweden oder Amerika, wo die Errichtung
der Republi Brajilien anno 1879 ein Werk der Pofitivijten qewefen ijt. Conntags
11 Ubr 15 Minuten findet man die humanitäre Sefte in ihrer Kapelle vereinigt zum
Rult der Menfehbeit, deffen genaue Seremonien nod) Auguſte Comte aufftellte: ,,Liebe
als Prinzip, Ordnung als Grundlage, Fortſchritt als Siel, Leben fiir den Mitmenſchen
und fiir den grofen Taq”, fo beginnt der Anruf der Gemeinde, und in Gebet, Vor:
fefung und Predigt erſcheinen die neuen myſtiſchen Symbole als bewußte religidfe
Fiktionen: Das einzig reale ,Grofe Weſen“, die Menſchheit, „der große Fetiſch“, die
Erde und der Raum als „das grofe Milieu”.
Die Urfpriinge diejer Bewegung filbren suriid in die grope Zeit der Aushildung
der mathematijden Naturwiſſenſchaft, deren zugehöriger philoſophiſcher Ausdruck der
Naturalismus oder Pofitivismus ijt; in dem Frankreich der d'Alembert und Turgot
und der friiberen Enzyklopädie wurde der ftrenge Standpunkt de3 engeren, franzöſiſchen
Pofitivismus formuliert, der die Philofophie als eine Generalijation der fort:
ſchreitenden Naturwiſſenſchaft faßte, und in einer fontinuierliden von philoſophiſcher
Beſinnung begleiteten wiffenfebaftlicden Bewegung war der von Descartes her vor-
bildliche franzöſiſche Geift der abjtraften Freibeit und rationalen Gejtaltung enthalten,
Der in dev großen Revolution jeine Triumphe feierte.
Diefer franzöſiſche Geift mit feinem Glauben an die Abftraftionen läßt ſich in
jeinem fontinuierlichen Wirken bis in die Adeale der Frauenemanjipation verfolgen;
er war wirffam in der grofen naturwiſſenſchaftlichen Bewegung, welche, mit der
Pbvyfiologie bis an die Grenze der Wiſſenſchaft vom Menſchen vorgedrungen, ſich in
der Hevolutionsseit an die Schbpfung einer ,fozialen Phyſik“ beqab; er war wirffam
in Condorcet und in den Arbeiten der moraliſch-politiſchen Klaſſe de3 Inſtitut de
France, welche Gefeggeber, Philoſophen, Rechtsgelehrte yur tationalen Heorganijation
der Geſellſchaft aufriey, war wirkſam binter den Mauern der neugegriindeten Ecole
polytednique, deren Schüler, zur Fiinftigen Leitung der Gefellfchaft berufen, in ibrer Logit
der Ubftraftionen cinen phantaſtiſchen Enthuſiasmus und cine Religion von Brüderlichkeit,
Aſſoziation, Hierarchie entwidelten. Saint-Simon und feine Schule fo gut als Comte
haben bier ibre feften Wurzeln. Saint-Simon, auf deſſen Perſönlichkeit ſchließlich all dieſe
ſozialen Projefte zurückführen, zeigt im Bilde die zügelloſe Ausſchreitung des abjtratten
wiſſenſchaftlichen Geiftes, aus der auch das Ideal ded freien Weibes hervorgegangen ift.
Unter den ftreng wiſſenſchaftlichen Köpfen, die ibn umgaben, dieſen Matbematifern
und Raturforfdern, ijt Caint-Simon ein Menſch, weldem alle Methode und Kritif,
jede Ronjentration ju ftrenger, gründlicher Arbeit fernliegt. Wie er nach einem wilden
Xeben, das ibn nad) Amerika trieb, um am Unabbangigteitsfampfe teiljunehmen, dann
ibn durch aller Herren Lander fiihrte, mit grofen Brojeften, Randle yu bauen und
einen indiſchen Mufftand als Gegenftiic des amerifanifden zu organifieren, bid er
ſchließlich in Dem Frankreich der Revolution vor Spefulationen mit den Nationalgiitern
nicht zurückſchreckte, und nad) dieſen Lebens-,,Erperimenten”, wie er eS nennt, endlich
Die Suche nad bem freien Weib. 269
in der Wiffenfdaft den Stoff fiir feine Genialitat fucht, ijt er von dem Willen
beberrjdt, irgend etwas gany Gropes aufjufiibren. Um den Status der Wiſſenſchaft
aufjunebmen und die erforderliche grofe Leiftung, die er vollbringen wird, feſtzuſtellen,
begibt er fic) unter die Naturforfder, und auf glanjenden Banketten, wo er die
Profefforen auch der polvtechnifeben Schule um fics verfammelt, fudt er in Geſpräch
und Dishuffion die Wiſſenſchaft an der Quelle zu erfaffen. Es läßt fic nachweiſen,
wie in dieſem Berfebr der ganje Zufammenbang von Sagen, Ydealen und Forderungen,
den die naturwiſſenſchaftlich-poſitiviſtiſche Bewegung erarbeitet hatte, auf Gaint-Simon
überging. Immerfort gären fie nun in feinem Ropfe. Wie er die PBratention bat,
der weltumivendende Pbilojoph des 19. Jabrhundert3 ju fein, zur Löſung der größten
Probleme berufen, erqreift er fogleich die höchſte Adee, an deren Verwirklichung ſoeben
die grofe Unterrichtsreform arbeitete: ſpſtematiſche Reorganifation der Geſellſchaft,
bafiert auf dem Zuſammenhang der pofitiven Wiſſenſchaften, Erhebung der pojitiven
Wijfenfchaften zur leitenden Macht in der Geſellſchaft. Wie der Aufruf yur Löſung
diefer Aufgabe fics durd all feine Schriften hindurchzieht, erbalt fein unjtites Denfen
eine gewijje Einheit. Die Aufgaben lagen vor ifm, und immer nen fest er an, fie
zu löſen, und erflirt, nun wirklich reif yu fein, nun endlich die Wahrheit gefunden
zu haben. Er gründet Zeitſchriften, zieht junge Gelebrte wie Auguſtin Thierry und
Augufte Comte zur Mitarbeit beran, er appelliert immer wieder an die erſten Forjder,
fendet ibnen feine Programme und Entwiirfe, fie mögen beſſern und vollſtändig machen,
er plant eine europäiſche Organifation der wiſſenſchaftlichen Arbeit, die großen Werte
ausjzufiibren: — was er felbft wirklich leiftet, fort fiber die pompöſe Ankündigung
wenig binaus, und alles ijt Fragment. Aber er ijt eine außerordentlich lebendige
Perfonlicfeit, ein Agitator mit großer Macht über andere Menſchen.
Die legste Phaje in Saint-Simons Denfen war durch das „Neue Chriſtentum“
bezeichnet, und bald nach feinem Tode war die prieſterliche Genoſſenſchaft organifiert,
welche Die neue diesſeitige Moral ins Leben überzuführen beftimmt war. Comte
batte fic) von Saint-Simon losgeſagt, als diefer zu diveften praftijden Reform:
projeften tiberging. Die wiſſenſchaftliche Erfenntnis der Geſellſchaft und die darauf
zu bauende Moral febien ibm die nächſte unerlafliche Mufgabe: „mit der weltlichen
Reorganifation beginnen, das ijt die umgefebrte Welt, ijt buchftablich der Pflug vor
dem Cebfen.” Die Saint-Simoniften haben doch mit ihren praktiſchen Reform:
projeften feqenvoll gewirtt; Crrictung von Kreditinſtituten, Eiſenbahnen, großen
öffentlichen Arbeiten ijt iby Berdienft, und der Suez-Kanal ijt ein Werf, deſſen Adee
auf diefe Kreiſe zurückführt. Das war freilich erjt, nachdem fie auf die Utopien ibrer
Jugend verzichtet batten, Es ijt befannt, dah auch die Emanzipationsbeitrebungen
der Frau ibrem Programm angebsrten und von ibnen her dem ,,jungen Deutſchland“
vermittelt find: es war die originale Idee des Saint-Simoniſtiſchen Hoheprieſters
Enfantin, daß erit die Erſcheinung des „freien Weibes“, der ,,Femme-Messie“,
die Bollendung der neuen Moral und Geſellſchaft ermbglichen werde. Der gefchicht
lice Uberblick bat fic verlobnt, wenn nunmehr deutlicd wird, daß dieſes Adeal des
freien Weibes cin letzter Musdrud desſelben abitraften Geiftes iit, der von der all:
gemeinen Idee rationaler Gejtaltung big in die pofitiviftifche Myſtik wirkfam war.
Und nun mag die theatralijdde Komödie vom freien Weib beginnen. Beftrebungen,
Die heutyutage wieder bei uns als neu und modern ſich breit machen, erfcbeinen bier
in ihrem gefcbichtlichen Spiegelbilde als längſt dageweſene Pofe.
17*
260 Die Sue nad dem freten Weib.
Die Saint-Simonijtijche Theofratie war organifiert. Silvefter 1829 war die
abfolute oberjte Gewalt in die Hinde der beiden Oobepriefter Bayard und Enfantin
geleqt worden, mit einem Friedensfug war, in Nachahbmung der urchriſtlichen Ge-
meinde, die Feierlichteit geſchloſſen worden. Cine Hierarchie, gefondert nach den Ge:
feblechtern, war aufgeridjtet: auf die beiden ,, Biter”, welche nach autoritativem Prinzip
einem jeden feine Stelle amwiefen, folate ein engereds „Kollegium“, und auf einen
zweiten Grad die Majje der Neophyten; innerhalb jeden Grades nannte man fic
Bruder, fonft Vater oder Sohn, und Enfantin dugzte feine ſämtlichen Kinder” und
hat ibnen nie mit Geld, Rat, tätiger Verwendung auriidgebalten. Man fpottete wobl
iiber die ,Briefter von Memphis”, und Benjamin Conjtant zählte die Geifeln ber,
die , von oben kommen“: Schnee, Hagel, Blig.... „Sie vergeffen das Licht,”
entgegnete Bazard.
Die Frauenfrage war gleich die erjte grofe Angelegenheit, die bei der Felt:
ftellung des moralijchen Dogma die Gemeinde in Aufrequng fepte und zu fprengen
drobte. Saint-Simon jpricht in feinen Schriften nirgends von den Frauen; aber fein
legter getreuer Freund iiberlieferte feine Worte: „Das foziale Andividuum, das ijt
Mann und Weib.” Enfantin nabm den Gedanfen auf. Die Emanjipation der Frau
war als das notivendige Romplement der Emanjzipation des Proletariat gegeben,
Unterricht und Unabbingigfeit fir fie gefordert; nun follte in der neuen Gefellfcbaft
jede Funktion durd ein ,, Baar” erfiillt werden, und aus „Paaren“ von Priejter und
Priejterin der künftige Klerus ſich yujammenfegen. Wie die alle den Richtungen ge:
meinjame Formel lautete: aus der Geſchichte die Erfenntnis der Sufunft und von ibr
aus die Beſtimmung der Gegentwart, fo erfchien in der offisiellen Zeitſchrift, dem
„Organiſator“, durch die Typen marfiert, der Syllogismus: der Mann gedenft der
Vergangenheit — die Frau abnt die Sufunft — das Paar fieht die Gegenwart. Die
Vorjtellung blieh zunächſt nod) in den Schranken der katholiſchen Moralitat: „eine
Wolfe von Weihrauch“ follte Priejter und Priefterin trennen, und als ein junger
Anhänger ein geliebtes Madchen zur Frau begebrte, verbot ibm Vater Enfantin die
Che: es gezieme fich nicht, daß einer der Begründer der neuen Religion dieſe ver—
altete foziale Form adoptiere: „Prieſter und Priefterin find ehelos aus Notwendigfeit
und Wahl; aus Not, um die Bindung an die Familie yu vermeiden, aus Wahl, weil
die Menſchheit ibre Familie ijt.” Und der junge Märtyrer versichtete und wandte fich
an Den Klerus der Zufunft: „Ihr feid rein wie die Engel, und die Liebe der Engel
allein ijt euch befannt.”
Die haldige Bekehrung zur freien Liebe Fam wie hei Bebel durch die fcbonungs-
loſe Logit des Theoretifer’. Der allmächtige „Vater“ follte auf die Kinder mit allen
Mitten wirken finnen, das Fleiſch war heilig wie dev Geift, fo war den Oberen,
Mann und Weib, der gefcblechtliche Verkehr mit den anderen zu geſtatten. Auch die
pſychologiſche Begründung feblte nicht: eS gäbe jtetige Naturen und folche, die der
Abwechslung bedurften: Othello und Don Duan; in der Che finden nur die Stetigqen
einſeitige Berückſichtigung; das Priejterpaar aber babe an beiden Naturen teil, während
jie einander leidenfchaftlich lieben, lieben Prieſter und Priefterin auch ibre Untergebenen
und dürfen es ibnen, gumal im Moment der Beidte, geigen . . . „Ich kenne,“ ſchreibt
Enfantin ſeiner Mutter, „gewiſſe Lebenslagen, wo ic) meine Frau allein fiir fabig
halten wilrde, einem meiner Söhne in Saint-Cimon Gliid, Gejundbeit, Leben ju
geben.”
Die Suche nad dem freien Weib, 261
Es waren vielleicht die leidenfchaftlichiten Crirterungen, die je über dieſe Fragen
gefiibrt worden find, als im Sommer 1831 die Aufftellungen Enfantins im Kollegium
sur Entſcheidung ftanden; der Hoheprieſter hatte an feinem Genoffen, dem Realpolitifer
Bazard, feinen Gegner, und nun fiibrten fle — nad langen, gebeimen Kontroverſen —
in einer drei Monate langen, ganze Nächte durchdauernden Disfuffion ibren Zweikampf
vor dem nächſten Grade männlicher und weiblicher Anbanger auf. Cine bis yur
Krankhaftigkeit gejteigerte Erregung bemächtigte fics der Verjammlung, Ekſtaſe und
Propheseiung war nichts Seltenes, die neue Nhung, dah jeder, von den Bitern an,
cine Lebensbeichte in diefen Sitzungen ablegen mufte, fteigerte die Temperatur.
Zwiſchen den feindlicen Gruppen ftand Comte jich fammelnd, Sainte-Beuve jaudernd,
VBeranger mit dem Gedanfen an feinen Gefang der Verviidten. Das Ende war ein
Schlaganfall Bazards und das Shisma — „er ijt vom Blige getroffen worden,”
ſagte Enfantin: fo disfutierten fie bis an die Schivelle des Todes.
Aber aud der Sieger Enjantin felbft war ju der Einſicht gekommen, daß feine
Aufftellungen nocd unfertig waren; fo follte vorläufig die alfe Yebensweife beibebalten
werden und als Ausdrud des proviforifcen Zuftandes die Hierarchie fiir die weibliden
Adepten aufgeboben werden: aus den Reihen der Frauen felbit wird der Meſſias
erjteben, dad ,,freie Weib”, die ,, Mutter”, die Femme-Messie, die durch ihre Vereinigung
mit dem Vater das höchſte Paar, ,Le Couple Prétre* bilden und die Regeln der
neuen’ Moral endgiiltig feitjegen wird. Die Suche nach dem freien Weib war die
nidfte Aufgabe.
Das freie Weih — der Gedanke war merkwürdig genug, und es war unrecht
und unnötig, dab das noch herrſchende Geriicht ein mißverſtändliches, sweideutiges
Spiel mit dem Worte Freibeit hineinmengte. Cine fluge, kühne, aufrichtige Frau, die
nachgedacht bat über das Los ihrer „Schweſtern“, ibre Bediirfniffe fennt, ibre Fähig—
feiten, in die der Mann nie völlig eindringt, ergriindet bat, fie foll fommen und
rildbaltlos Beichte ablegen, das Gebeimnis ihres moralifchen, intelleftucllen und phyſiſchen
Wejens ausliefern und fo die unentbebhrlicen Elemente bieten fiir die Erklärung der
Rechte und Pflichten der Frau. Nicht viel fiber ein Jahrzehnt war es her, dap
Caint-Simon, als der bedeutendjte Mann feiner Seit, an Madame de Staél, als
die bedeutendjte Frau geſchrieben hatte, fie folle ibm belfen, der Menſchheit
ihren neuen Meſſias zu ſchenken; die Dame, in der Geſellſchaft ihres Geliebten, lachte
und antwortete nicht auf die Einladung. Wn ihren Pla fehien dann George Cand
berufen: ibre erſten Romane famen, als der Saint-Simonismus gerade das meifte
Auffeben machte, fie war offenbar von der Schule beinflupt, es Hang wie cin Empörungs-—
feret gegen die Allmacht de3 Mannes, und man madte auch einen direkten Verſuch, diefe
Lelia filr die Doftrin zu gewinnen; es war vergebliche Mühe, und wvollends fant die
Enttäuſchung, als Ende der Mer Jahre ibre mit dngftlider Spannung erwarteten Memwiren
erſchienen und nicht? weniger brachten, denn eine riidbaltlofe Beichte der Frau.
Inzwiſchen hatte Enfantin in dem klöſterlich geregelten Leben, das er in Menil-
montant mit 40 erwablten Apoſteln in fymbolifd yur Schau geftellter Arbeit fiibrte,
ein neues Schulkoſtüm erfunden, das der Sebnfucht nach der Mutter Ausdrud gab.
Ru der weifen Hofe, dem violetten Rod und der zum jteten Gedenfen an da3 Bediirfnis
briiderlicher Hilfe rückwärts zujufndpfenden Weſte — weiß die Liebe, violett der Glaube,
tot die Arbeit — gebirte cine Halsfette aus Rhomben, Zirkeln, Triangeln als religidfen
Symbolen; fie ſchloß in einer Halbfugel mit der Aufſchrift „der Vater“: an dem Tage,
262 Die Suche nad dem freien Weib.
wo man die Mutter finde, follte die Kugel vervollftindigt werden. Dann fam die
unvermeidlice Unklage wegen Verlegung des Vereinsgeſetzes und der öffentlichen Sitten.
In dem großen Moment, vor den Gefchworenen, erklärte Cnfantin: , Wir hoffen alle,
dah cine Frau fommen wird, Meffias ihres Gejchlechts, welche die Welt von der
Projtitution befreien foll, wie Jeſus fie von der Sflaverei erlöſt hat. Diefer meffia-
niſchen Frau bin ich ein Vorläufer, ich weif es; ich bin fiir fie, was Johannes fir
Sefus war. Da ijt all mein Leben, da ijt das Band all meiner Handlungen, fie find
logiſch verkettet, denn fie fliefen alle aus meinem Glauben an die Frauen.“ Cr hatte
doch bereits eine Dame, Julie Fonfernot, eine Republifanerin aus der Julirevolution,
die fic) zur ,, Mutter” angeboten hatte, zurückgewieſen. Und von feiten feiner Schiiler
tief man ibm zu: ,,Sie wird ju euch fommen, von Bewunderung ergriffen fiir ever
Genie, cure Ausdauer, eure Hobe Gefinnung; fie wird zu euch kommen im Cölibat,
in der Niedrigkeit, in der Armut, im Schmerz, in der Wüſte; denn fie ift Chriftin,
Und fie wird euch erweden jur Che, jur Familie, yu Reichtum, Erhöhung, zur
Freude, zur Welt; denn fie ijt Heidin . . .”
Sie fam nicht. Und nun follte er auf ein langes Jabr ins Gefängnis Sainte:
Pélagie! Cr wandte fics im Gebet an Gott, febrieb fiiglidy aud ben langen Erguß
nieder und nannte ibn: L'Attente. Es ijt ein genugfam bedeutendes Dofument, um
auszugsweiſe Mitteilung yu verdienen; in all’ der Verſchwommenheit und melodrama:
tijden Aufputzung gelangen doch bier auch berechtigte Gedanfen und Wünſche, wie
die Befreiung von Projtitution, Ehebruch uſw, in wirkfamer Form zu enthuſiaſtiſchem
Nusdrud.
@rofer Gott! ich babe deinen Willen erfüllt, ich harre auf dein neues Wort... Ich barre...
Du hatteſt mics geſchaffen verlangend nad deinen Freuden, nad deinem Ruhm; mitten in ciner Welt
eiſeslalt vor Atheismus, hatteſt du auf mic alle Strablen deiner Liebe gelentt, meine Seele bat gegliibt,
doch noch ift fie nicht erlofden, und ich barre .
Ich habe deinen Willen erfüllt, ich babe gebordt, du bift yufrieden mit mir, ich fühle es: ih
fille es in dem Glauben der Hinder, die mich umgeben und in dem Hah der Menfehen, die mich guriid:
ftofen, aber dein Wort der Liebe fagt es mir nocd nicht, ich harre und horche. Ich barre, und die fife
Stimme, die du mir verheißen haſt, fie ſchweigt! Wie diefes Schweigen meine Seele drückt! Und dob
dant icp dir, o mein Gott . . . denn du batteft dich mir geſchenkt in der Fülle ber Gnade, auf bah du
burd deinen Gobn cin Seichen gäbeſt, daß cS Deine Tochter bére.
Deine Tochter! Bater, ich Habe gefproden, und fie kommt nod nit, aber fie bat mich gebdrt;
nicht, fo ift es? Ich Habe geſprochen mit allen Kräften meines Lebens, ich habe nichts vergeffen von den
Gaben, die bu mir gejdbentt, alles, auch bie Liebe meiner Mutter, babe ich dir aufgeopfert: Bater, ou
wirft fie mir wiedergeben,
Herren, Harren! Was fie tun mag yu diefer Stunde? So flange ift’s, daß ich fie liebe! Sag’ mir,
mein Gott, fag’ mir, ob fie mich auch ſchon liebt, fag’ es mir, id) werde die Kraft baben, gu barren, fag’
init nur, ob fie nocd) etwas fordert von mir, du weift es, ich bin bereit, befiehl.
lind dieſe Rinder, bie deine Gilte mir gegeben bat, Bater! ... Gite leiden, denn unter ben
Menfden haſt du fie auserwablt ale Menſchen voller Liebe und Sehnſucht, fie leiden, denn die Apoftel
ber Befrciung deiner Töchter können nicht lange leben, beraubt der Hälfte ihres Lebens; ſie leiden, und
doch, ſchau bin auf fie, ihre Geduld barrt, daß id) dich bitte und du mich erhöreſt. — — —
Habe ich dod) nod) nidjt genug getan, auf daß fie uns liebe? Kann fie nod zweifeln an unferer
Liebe für das Bolt und fiir fie? O ja, ich fühle eS, du baft meinem Wort alle Kraft gegeben, die dein
Wort im Menſchen hat; aber du bift nicht nur Wort. — Welten! Welten! ihr lebt dad Leben meines
Motteds! Erde, wie fin du Gift! Du, du mußt mich hören und fehen, gu Menſchen nur babe ich
no gefproden, Menſchen nur mid geacigt. Mächtiger, ftarfer Gott! Gott der Tatfraft und ded Muted,
bie Erde, auch fie ſpricht dein Wort, und ich bore fie, wie fie mir ruft: Wo tft dein Beweis yon
Mut und Kraft? Yoh fenne dich nicht. Menſch, weißt du, wie die Menſchen meinen Schoß aufreifien,
Die Suche nad) dem freien Weib. 263
mid) trinfen mit ihrem Schweiß, auf daß ich fie gouge und nabre? Bift du Proletarier? — Menſch,
weift du, wie id mit einem Mantel von Stein die Menſchen bedede, die Gold in meinen Eingeweiden
fucben? Haft du meinen Leib gerfprengt? — Menſch, weißt du, wie die Menſchen mich febmiiden und
ſchön machen mit Stadten und Wäldern und Ernten? Haft dui gebaut, gepflangt, geſät? — Menſch,
weißt du did) zu bemachtigen der Kraft, die ben Raum erfiillt, weiß du fie au Lenfen und. fie mir
zurückzugeben, verftarft dDurd die deine, um mein Leben gu nähren und mich mächtiger gu machen und
reicher? Biſt du Volk? — Nein? — Nunwohl, ich kenne dich nicht’.
Mächtiger, ftarter Gott, Gott ber Tatfraft und bes Muted, fie wird mich fennen! Du baft nicht
gewollt, daß auf meinem Körper von Mindheit an robe Arbeit afte, bu baft mic nicht alé Proletarier
geſchaffen, aber du baft mich gum Menſchen gemacht, bu haft mir dein Leben gegeben in Kraft und Mut,
denn ic) habe deine Liebe. Sie wird mid) Fennen.
Ja, Vater, ich habe nod nicht genug getan fiir den Ruhm deines Namens . . . Deine Todter
fennt mic) nicht! Ich fann vorübergehen an tbr, und thr Blick haftet nidt an mir; man fann mich nennen
bor ihe, und ibe Herz ſchlägt nicht ſchneller. Mächtiger ftarfer Gott, du baft deine auserwiblten Söhne,
denen du file Sabrbunderte dad Schidfal der Welt anvertrauteft, auf barte Proben geftellt; Mofes in
der Wilfte, Sefus an einem Kreuz, Mahomed inmitten der Kampfe, Saint:Simon im Clend.. . Aber,
Vater, einer von ihnen bat es unternommen, die Frau gu erretten aus ibrer Hörigkeit und fie mit ibr
zu vereinen durch bas freie Band deiner göttlichen Liebe, keiner von ibnen ift wahrhaft geliebt worden
von ihr, feiner bat fie fo geliebt wie ich fie Liebe, feiner bat deinen Namen befannt in der Liebesd:
leidenſchaft, die mir Leben gibt.
. . « Gott der Giite und’ Wahrheit, du, der du mich auserwählt haſt, daß ich Proftitution und
Ebebrud vertilge aus der Mitte deiner Söhne und Töchter, babe ich nicht genugiam bewieſen, dap du
mir die Kraft verlieben hatteft, die über die egoiftifchen Wffelte ber Herren triumpbiert, umd den Freimut,
ber die ehrgeizige Aralift ber Sflaven zuſchanden werden (aft? Ich habe Tranen, heife Tranen gefeben
in ben Mugen von Mannern, die nie geweint batten, da ich in deinem Ramen gebot, die Ketten der Frau
zu brechen; und ich babe gefeben, wie bie Mugen von Frauen troden wurden und nicht mehr weinen
‘fonnten, da ich bie Feſſeln löſte, an die fie fic) gewöhnt batten... Bater, ich habe dich gefegnet in
meiner Ginfamfeit, aber id diirfte nun nad deinem Segen, dod ich bin cubig, teh barre, meine unge:
duldige Hand wird night Verwirrung ſchaffen und dic Schneide deiner Berheifung erraffen wollen; ich
weif, daß du fie erfitllft mit cinem Liebestrank, ic) will barren, dod} mid) dürſtet febr.
Vater, ich Hage nicht. Haft du mir dod) Kinder aegeben! Jn deiner Gite haſt du mid) glück—
licher gemadt als Sefum! Sie find meine Kinder und nicht meine Schiller, ich werde nicht gu bir ſprechen:
Bater, warum haſt du mich verlajfen? Sie lieben mich, ic) werde barren... Mein Glaube lebt, ih
werde barren.”
Während Enfantin die unfreiwillige Muße in Sainte-Pélagie dazu benugte, um
bie Saint-Simoniftifden Dofumente zuſammenzuſtellen und abjebreiben zu laſſen und
jo die Archive vorjubereiten, die von dem menſchlichen Geſchlecht einſt fo eifrig würden
zu Rate gezogen werden, wirkte draußen feine Erfindung vom freien Weib in cinem
poſſenhaften Rachjpiel fort.
Für das Jahr 1833, als der achtzehnten Hundertjahres-Wiederkehr von Chrifti
Todesjabr, hatte ex cin großes Ereignis prophezeit; natürlich mußte dad die Erſcheinung
des weiblichen Meſſias fein, und die neuefte Wendung, die ein Ingenieur und „Mit—
glied des Kollegiums erjter Klaſſe“ fand, war entfprechend die, da in dem Orient
die Befreierin gefunden werden miiffe: „Unſere Ahnen haben das Kreuz genommen,
um dad Grab Criſti su befreien, (aft und einen Kreuzzug wunternebmen, um die Frou
aus ibrem Grabe zu befreien . . . Mutter, dein bin ich! Dein durchdringender Blid
wird unter den ftrengen Falten meines Geſichts mühelos das unfagbare Verlangen, ju
lieben und geliebt zu fein, entdeden, und deine Hand, ſanft und leife, beriibrt meine
Stirn und glittet die Furden, die das Leiden grub.” Die ,Kompanie der Frau”
(Les Compagnons de la Femme) war bald gebildet, Enfantin gab aus feinem Ge:
fangnid den Segen und gebot eine autokratiſche Dissiplin, ftrenges CHlibat und religidfe
264 Die Suche nad bem freien Weib,
Nbungen, früh ju Chren der Mutter, abends zu Chren des Vaters. Verſchiedene
Broſchüren erfcienen in Loon mit dem Titel: 1833 oder das Jahr der Mutter.
Die zwölf Ritter der Frau beſaßen Idealismus genug, um fic bei ibren frappen
Geldmitteln als Erntearbeiter und Matrofen bis nad) Ronftantinopel durchzuſchlagen.
Die Türken, denen der Verrückte heilig ijt, refpeftierten die Franzöſiſch redenden Fremden
in ibrem wunderlichen Koſtüm; fie grüßten feinen Mann, aber vor jedem Weib ent:
blößten fie das Haupt, und die Legende beridhtet, daß fie niederfnieten. Sultan Mahmoud
lich fie feftnefnen, aber er gab ibnen bald die Freibheit wieder, als er die von ihnen
aufgefebte Darlegung ihrer Pringipien fich hatte verdolmetfdren laſſen: „Saint-Simon,
Enfantin der höchſte Vater. Gott Vater und Mutter; die Frau dem Maine gleicd;
die Kunſt der Induſtrie gleich; fiinftiqes Leben, Seelenwanderung; Feiner von uns ijt
Gott, aber Gott ijt in uns; das goldene Seitalter liegt nicht binter uns, wie die
Dichter fagten, fondern vor uns. An dem Tage, wo das freie Weib fpricht, werden
die Himmel fid) auftun, und wir werden Gott in jeiner GHerrlichfeit ſchauen.“ Nach
weiteren Srrfabrten, aud nad Rupland und Smyrna, wo Lady Stanhope eine Rolle
frielte, wantte denn dod) die Zuverſicht, in einem Harem die Offenbarung der Frauen—
feele au finden. Die Mifjion löſte ficd auf, und die meijten gingen nad Egypten, wo
Enjantin, aus der Haft erlöſt, mit Arbeiten fiir den Suez-Kanal begann.
Das freie Weib beſtand nod eine Zeitlang in Paris fort als Titel einer un-
regelmafig erſcheinenden Zeitſchrift, welche die Saint-Simoniſtiſche Frauengruppe
gegründet hatte. Hier erſt vollzog ſich — von Frauen aus! — der volle Fortgang
zur libertiniſtiſchen Richtung; Enfantins Unterſcheidung von ſtetigen und unſteten
Naturen wurde verworfen, weil es keine ſteten Naturen gäbe, und es hieß da einmal:
„Ruhm auch den Frauen, welche ihrem Freiheitsinſtinkt folgend, den Weg unſerer
Emanzipation geebnet haben! Welches auch immer die Ausſchweifungen ſein mögen,
zu der ihre Schwäche fie hinreißen fonnte, und wenn fie in Kot untertauchten — ihr
Name wird eines Tages gefeguet werden.“
Solange die Saint-Simoniſten ſich verſammelt haben, ftand ein leerer Seffel als
Symbol zu feiten deS Baters, und auf dem großen Portrait, das Léon Cogniot von
Enfantin gemalt bat, ijt der Priefter in vollem Koſtüm vor einem Si’ mit zwei Plätzen
dargeftellt: er zeigt mit Prophetengebarde auf den leeren Plag, zum Reichen, dak er
deS freien Weibes barrt. WS in den achtundvierziger Tagen die deutſche Frauen:
bewegung fics auf die wirtſchaftlichen und fojialen Ynterejjen, auf den Kampf um
Arbeit und biirgerliche Pflichten gründete, jtellten ſich ibre Vertreterinnen, wie Louije
Ctto= Peters, bewußt in ſcharfen Gegenfag zu der Saint - Simonijtifcben Richtung.
Wer dem Weibe feine freie Entfaltung und feinen Anteil an der Kulturarbeit der
menſchlichen Geſellſchaft fichern will, wird die Forderungen, dic er fiir die ,, Emamipation”
aufftellen michte, nur auf die Beobadhtungen griinden können, welche die gefchichtliche
Erfabrung über Cigenart, Umfang und Grenjen des weiblichen Könnens liefert. Unfere
kurze Grfabrung reicht dazu kaum aus. Es war ein Wabngebilde, der Glaube, dah
cin „freies“ Weib die Bedürfniſſe und Fabigfeiten, das „Geheimnis“ der Frauenfeele
durch einen einfachen ecinmaligen Vorgang von Sichbewußtmachen würde offenbaren
können. Aber der Gedanke, daß der Frau eine eigentümliche, nur aus dem Bezirk
ihrer Erfahrungen feſtſtellbare Funktion in der Geſellſchaft gebührt, iſt von dauerndem
Wert: inſofern bringt die Komödie vom freien Weib, wie alle gute Komödie, die
Wirklichkeit des Lebens zum Vorſchein.
—— —ñ— —
26h
— Pipdus. ae
Bon
Dr Edgar Alfred Regener.
RNaddrud verboten.
nm dem Bekanntwerden mit dem Maler Fidus wird ¢3 vielen fo gegangen fein
wie mir. Gelegentlicde Arbeiten in der Zeitſchrift „Sphinx“, Beitrage im
„Simpliciſſimus“ zu jener Zeit, da dieſe Wochenfebrift nod nicht den ausgefproden
ſatiriſchen Charafter von heute trug, und dann vor allem die Studienblitter aus der
„Jugend“ madten auf ihn aufmerfiam und regten die Teilnabme fiir fein Schaffen an.
Allerlei dunkle Berichte über feine abjonderliden Bekleidungspringipien wurden uns von
München zugetragen. Es wurde gelacht und gefpottet über ibn wie fiber feinen Lebrer
Diefenbad. Das Menfehliche an ibm gab mebr Stoff gum Reden als das Künſtleriſche.
Als damals der jest faſt überall befannte Kinderfries erſchien mit dem etwas Langatmigen
Titel „Das wiedergefundene Paradies, das iſt das Leben in Übereinſtimmung mit der
Natur“ und dann auch der ſiebzig Meter lange Fries „Kindermuſik“, erregte die
wunderbar friſche Behandlung des nackten Kinderkörpers mit Recht Staunen und Ent—
zücken. Man konnte wohl ungefähr eine Deutung und einen Begriff von der Fidusſchen
Kunſt ahnen; ein feſtes Urteil zu bilden war aber erſchwert, da die genannten Arbeiten
nicht das Werk eines einzelnen waren, ſondern Meiſter und Schüler, Diefenbach und
Fidus, gemeinſam es entwarfen und ausführten. Da Fidus mit ſeinen Zeichnungen
und Gemälden ſehr ſelten auf Ausſtellungen zu treffen war, hielt es ſchwer, ihm in ſeiner
Kunſt näher zu kommen. Was wir von ihm als Buchſchmuck kennen lernten, ſchadete
ihm mit wenigen Ausnahmen in der Beurteilung mehr als gut war. Von hier geht
auch die Bewertung ſeiner künſtleriſchen Perſönlichkeit als Backfiſchzeichner aus, als
Stiliſt des Süßlichen und Weichlichen. Ein flüchtiger Blick in Maximilian Berns
Anthologie „Für junge Herzen“ (Verlag Wertheim) gibt uns genugſam Kunde von
der Berechtigung ſolches Syruches. Cs mußte dem Künſtler einmal daran liegen, dieſe
etwas bitter beiſchmeckenden Bezeichnungen zu entkräften, und wiederum, was die
natürliche Folge davon iſt, dem Publikum, dem Kunſtfreunde, dem Liebhaber wie dem
Fachmann einen größeren Einblick in ſeine Kunſt zu gewähren. Dafür ſind nun zwei
Veröffentlichungen beſtimmt, die ſich ergänzen können und wohl auc wollten. Es find
dies zwei Fidus-Mappen, die, unter Leitung des Künſtlers herausgegeben, zehn, reſpektive
elf ganzſeitige Tafeln in ein- und mehrfarbiger Lichtdruck-Reproduktion enthalten, und
zwar betitelt ſich die eine Mappe „Naturkinder“, die andere „Tänze“. Dem Beſucher
der vorjährigen großen Berliner Kunſtausſtellung am Lehrter Bahnhof werden die
Mappen bekannt ſein, zu denen die Originale, wenigſtens der Cyklus „Walzer“, ſich im
gleichen Raum befanden. Von beſonderem Kunſtwert iſt neben dieſen Mappen die
Darbietung von Wilhelm Spohr: „Fidus“.) Dieſer Prachtband wurde im Tert mit
weit fiber 200 Darſtellungen nach Originalen des Künſtlers, mit 27 ganzſeitigen Kunſt—
) Die beiden Mappen wie Spohrs „Fidus“ find bei J. C. C. Bruns-Minden erſchienen.
266 Fidus.
blättern als Beilagen im Dreifarben-Lichtdruck, Lichtdruck und Chromo-Phototypie
ausgeſtattet. Es iſt ſicherlich zum genauen Verſtehen der Fidusſchen Kunſt ein in ſeiner
Wirkung nicht zu unterſchätzender Beitrag. Um ſo mehr, da Wilhelm Spohr dem
Suchenden ein verſtändnisvoller Führer iſt.
Sn der Darſtellung des duferen Lebens des Künſtlers folge ich den Angaben des
Spobriden Buches. An dev Charafterijierung feiner Kunſt ſtütze ich mich nur auf
Die fichere Renntnis der Originalwerfe des Künſtlers, yu deren Bergegemmartiqung in
der Erinnerung mir allerdings das Bildermaterial jenes Buches treffliche Dienſte leiſtet.
Hugs Hippener, der unter feinem biirgerlichen Namen weniger befannt ijt als
unter feinent Riinftlernamen Fidus, oder vielmebhr nur unter dieſem der Zabl feiner Ver—
ebrer und Verächter befannt it, wurde am 8. Oftober 1868 in Lübeck geboren. Sein
Sater betrieb das Handwerk der Ruderbaderei, bei Dem aud) damals ſchon mancherlei
auf Form und Farbe des Gebäckes in feinen verſchiedenſten Arten gegeben wurde.
Man fann vielleidht annebmen, daß bter und da das viaterliche Gewerbe bei dem Jungen
Vorjtellungen und Gedanfen im Nachahmungstriebe ausldjte, deren Anregungen feiner
lebhaften Phantaſie ſpäter zum Borteil gereidten. Cin frühzeitig eintretendes Leiden,
das ifn an die Stube felfelte, binderte ibn am Umgange mit Altersgenoſſen und zwang
ibn, an die Stelle tobender Tätigkeit jtilles Sinnen und Grübeln yu ſetzen. Dabei
wanbdte er feine Aufmerkſamkeit zumeiſt dem menſchlichen Körper gu, deſſen Feinbeiten
und Verſchwiegenheiten im Spiel der Muskeln er durch Abtalten feines cigenen Körpers
bald beherrſchte. 18'/, Jahre alt bezog der junge Höppener, nachdem er durch einen
fiinfjabrigen Zeichenunterricht in der Schülerklaſſe der Lübecker Gewerbeſchule feinem
Talent eine ſichere Schulung gegeben hatte, die damals beſtehende Vorſchule der
Münchener Wfademie. Hier lernte er den Maler Carl Wilhelm Diefenbach kennen
und begeijterte fid) an den Ideen, die jener alS Tatfacen in das Leben überſetzen
wollte. An der Cindde Höllriegelsgereuthe bei München lebte die Fleine Gemeinde, die
fic um Diefenbach als ibre Meiſter geſchart hatte; bier erbielt auch Höppener feinen
Beinamen Fidus, ,der Getreue“. Auf die Dauer fand er in diefem Sufammenteben
feine Befriedigung, bejonders ſchmerzte es ibn, in fo geringem Mae yum cigenen
künſtleriſchen Schaffen zu gelangen. Zudem löſte er ſich doc) ſchon innerlidd von dem
ganzen Kreiſe und den dort herrſchenden Tendenzen. Fidus ſelbſt äußert ſich darüber
wie folgt:“ „Ich verdanke dieſem Einſiedler die ſtärkſten äſthetiſchen Anregungen. Denn
er lebte damals einigermaßen das ſchöne Bild, das ich mir vorher nur als Zukunfts—
entfaltung ausgemalt hatte. Später ſah ich cin, daß die bleibende künſtleriſche
Darſtellung einer Idee wichtiger iſt, als deren unbedingte Übertragung in die äußeren
vergänglichen Lebensformen.“ Die Kenntnis des nackten menſchlichen Körpers vertiefte
ſich dem ringenden Künſtler in der Zeit ſeines Aufenthaltes in Höllriegelsgereuthe, wo
die Frage der Bekleidung wenig Sorge verurſachte, ungemein. Vom Sommer 1889
ab beſuchte er, nachdem er ſich von Diefenbach getrennt hatte, wieder die Münchener
Akademie, bis er drei Jahre ſpäter nach Berlin überſiedelte. Von hier aus nimmt die
Fülle ſeiner Zeichnungen und Gemälde ihren Anfang, die ihn über die anfangs aus
materiellen Gründen gepflegten Buchſchmuck-Lieferungen hinaus zu großen, tiefen
Schöpfungen führte, denen er Kraft und Reichtum ſeiner Mannesjahre widmet. Fidus
lebt jetzt in der Schweiz, wohin ihn die Realiſierung ſeiner Tempelkunſtgedanken führte.
Es iſt eine ſtete Steigerung zu eigenſtem Stil und eigenſter Formenſprache, die
wir in der Entwicklung von Fidus' Künſtlerſchaft wahrnehmen. Aus der akademiſchen
Fidus. 267
Manier, Schwarz und Weiß in Licht und Schatten gegeneinander zur Wirkung kommen
zu laſſen, aus den ſubtilſten Stricheleien und den leiſe gewiſchten Partien heraus wachſen
die perſönlichen Linienäußerungen, in deren Einfachheit und Sicherheit Farbe und Glanz,
Hell und Dunkel und das lebhafte Zueinander von Duft und Leben beſchloſſen liegt.
Was der junge Künſtler vordem einer Vielheit, einer Strichmenge überließ, durch die
das Werk als ein Wille und Gewolltes ſprach, das führt er heute, reifer im Erfaſſen
des Vorwurfs und herriſcher im Verfügen über die anzuwendenden Mittel, zurück auf
die Blendungen und die Sprechfähigkeit einer einzigen Linie. Dazu geſellt ſich in den
früheren Jahren ein Beugen und Biegen im Ausdruck, dem ein klares Ziel fehlt, dem
in Bangen und Ahnen eines Zweckes die Kraft fehlt, Dämmerungen zu erhellen und
Nebel zu zerſtreuen und an ihre Stelle ein Gewiſſes zu ſetzen.
Fidus iſt nicht dev einſeitige Aktzeichner, als den man ibn hier und da verſchrien
hat. Aus den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts ſtammt ſo manches
Portrait von reifer Vollendung. Der Menſch nicht dargeſtellt als cin Typus, deſſen
Mame X oder Y) fein könnte, ſondern das Individuum, die Perſönlichkeit. Darum
vermeiden ſeine Studien das Schmeichelnde retouchierender Maler, welche die Natur ſtets
nach eigenen Prinzipien ummodeln, um einen Schlager, eine Reklame ihres Könnens zu
geben, Glaänzende Fracks, blitzende Orden, ſauber gefettete Haare oder die entſprechende
Glatze, ſchöne „natürliche“ Geſichtsfarbe und all die kleinen und großen Erfüllungen
eines „guten“ Porträts. Ganz anders Fidus. Er vermeidet alle ſchreienden Farben,
umgeht techniſche Verblüffungen und führt alles Drum und Dran auf eine Formel der
Einfachheit zurück, die nun aber voll und ganz mit dem Weſen des dargeſtellten
Menſchen übereinſtimmt. Er ſucht Beziehnungen zwiſchen dem inneren und äußeren
Menſchen zu einer Geſtalt der Wirklichkeit, zu Leben und Bewegung.
Seine Farbentechnik kommt vor allem in ſeinen Landſchaften zum Ausdruck.
Hier gibt er Tönungen von wunderbarer Intimität und Feinbeit. Was ijt das z. B.
fiir ein eigentümliches fables Yeuchten, das fiber dem nordiſchen Fjord liegt. Auf den
Relfen iſt es naß vom Tau des Morgens. Noch ijt die Conne nicht bervor, aber
ein atemftilles Erwarten bricht aus den gigantiſch aujfgetiirmten Wolfenmajfen, deren
Graublau ſich nach ſtärkeren Nuancen ſehnt. Die wenig aus der Mitte des Wafers
ragenden Klippen debnen jie nod) obne Traum und Wiſſen vom Tage, wabrend faum
merfliche Wellen um das Geftade febludern und gluckſen. Das Dämmerdunkel, das
Die Herne in einen weifliden Nebel hüllt und den Borderqrund wie mit weichen
Schleiern dect, ift von felten feiner Tongebung. Es hält ſchwer, fic aus der
Reproduftion dieſes Bildes, das fics in dem Spohrſchen Buche befindet, eine Vor:
jtellung von der Wirkung des Originals ju maden. Ganj eigenartige Farbemvirfungen
jprechen auch aus Bildern wie ,, Viviana”, „Vorabend“, der ſtark verzeichneten ,, Frau
pom Meere”, aus den Skizzen feiner Tempelfunitbejtrebungen.
Es ijt eine befannte Tatſache, daß Fidus feine Gejtalten zum größten Teil
nadt Ddarjtellt. Diefe Cigenart wurde hin und wieder zu beimlich reizendem Sinnes—
lizel ausgebeutet. Damit wurde denn auch ſolchen Urteilen der Boden bereitet wie
dieſem, daß die Fidusſche Kunſt pervers ſei. Die Grenze der Empfindungen des
Geheiligten und Entweihten iſt ſo äußerſt fein gezogen, daß der Wille zum Verſtändnis
dieſer Feinbeit fern von einer ungeſunden Prüderie ſtehen muß. Der nackte Menſch
iſt ein Problem für den Betrachter, deſſen Zweifel durch eine ruhige Sicherheit und
beruhigte Gewißheit über das Erotiſche hinausgehoben ſind. Es iſt ein Genießen ohne
268 Fidus.
Gier und Wolluſt, ein feines Vibrieren leiſeſter, ſeeliſcher Reize, die ſich treffen in dem
einen großen Zweck und Ziel der Reinheit, um deſſen Löſung und Klärung die Menſch—
heit lebt und glüht. Es erfordert keine Abtötung der Sinne, kein neutrales,
ungeſchlechtiges Weſen, ſondern verlangt ein äußerſt regſames Spiel der Sinne, doch
ſo, daß ihr Walten und Schaffen nicht an der Oberfläche des Dargeſtellten haftet,
ſondern es durchdringt bis zur Tiefe. Unſer Blick foll nicht an der Geſchmeidigkeit
oder an der Härte der Linie, die je nach dem Vorwurf wechſelt, in lüſternem Brüten
hängen bleiben, es wäre eine Profanation alles Künſtleriſchen. Wir ſollen ſie als
Mittel zum Zweck betrachten, ſollen ihrer Sprache lauſchen und aufhorchen, welche
Verkündigung uns offenbar wird. Fidus hat mit jedem Strich ſeines Griffels etwas
zu ſagen, er will mit jeder Linie ein Stück Seele geben, etwas, was den plaſtiſchen
Ausdruck des Gefühls ausmacht. Ein paar in die Höhe gereckte, im Beten verkrampfte
Hände raunen von einer Verzweiflung, der ſelbſt der entgötterte Himmel keine Tröſtung
mehr gewährt. Den gewaltigſten Schmerz ſtellt er nicht durch cin verzerrtes, von
Tränen überſchwemmtes Antlitz dar; die Rechte ſchließt, feſt aufgepreßt, die Augen
und deckt das Geſicht zum großen Teil, während der Kopf in den Nacken gezogen
iſt und die Linke in eigentümlich unbeherrſchter Gebärde in die Luft greift. Dazu
muß der Körper nackt fein. Das Spiel der Nackenmuskeln muß frei liegen, wm in
feinem willenlofen Rrampf zu ergreifen. Der Chavafter, die Gemütsſtimmung des
Menſchen ſpricht nicht allein aus der Durchbildung des unbefleideten Gefichts, 3
fpricht aus der ganjen Geftalt, und die Gefichtaziige erfabren durch die — wenn id
fo fagen darf — Phyſiognomie der nadten Glieder die wirkſame Unterſtützung.
Sobald wir einmal von Ddiefer Seite aus unfere Betradtung geleitet baben und zu
einem Ergebnis gefommen find, wird uns cine unter der Vorausfehung des Nadten
qebildete Darfiellung nur als Kunſtwerk erſcheinen und nur nach feinem Formen- und
Sdeengebalte Geltung gewinnen. Dies yu erkennen und dies zu, würdigen, dazu gehört
auc) hier Ernſt und Eifer iwie bei jedem Stück Welt, das in Erfcheinung tritt.
Fidus' ganzes Wirken hat einen grofen Endzweck. Ceine langjährigen UArbeiten
find immer neue Studien yu dem immer umfajienderen Werf, das in der Tempelkunſt
feine Ausdeutung erhalten ſoll. Dieſe Kunſt fucht „dem Volke Antwort yu geben auf
feine beiligiten, gebeimjten und deshalb allgemeiniten Fragen”. Diefe Antwort will
fie geben in einer innigen Bereiniqung von Malerei, Muſik, Dichtkunſt, Plaſtik und
Baufunjt, fur; in allen Riinften, die ſich einem einzigen Pringip unterzuordnen haben
und alle ihre Werte ausgeben in diefem einen Wollen. Jn heiligen Hainen follen
ſchön geſchmückte Tempel ervicstet werden, die den Göttern geweiht find, die unfer
Leben beftimmen; in denen den Leidenfehaften Altäre errichtet werden, wo Menſchen—
feelen dic Brande fchiiren mit ibrem eigenen Herzblut. Da foll der Tempel der Erde
enthalten die Sale der Liebe und des Ehrgeizes, der Lujt und der Sebnfucht, die
Hallen des Wijfens, der Gefiihle und der Ergebung, aus der Rammer de3 Schweigens
fiibrt dad Dunfle gu dem Rundbau des Heiligtums, dem Wlerheiligften. Da ift ein
Tempel dem Lucifer geweibt, während cin anderes Heiligtum „Der weiße Tempel“
oder „Der Dracentempel” ijt, Man könnte von den Andachtaftatten einer „gemein—
religidjen” Kunſt fpreden, da die Heiligtiimer ibren inneren Schmuck in Sinnbildern
ethalten, die Bezug baben auf dic Ausgeftaltung einer folchen Gemeinreligion, die
eines Hanged gum Heidniſch-myſtiſchen nicht enthebrt. Bei diefen Entwürfen, die ein
ſicheres architektoniſches Formgefühl und baumeijterliches Geſchick bei ſtarker Anlehnung
Von Frauen und iiber Frauen. é 269
an ägyptiſche Motive (des Tempels gu Edfu 3. B.) befunden, nimmt uns ivieder die
Farbe gefangen, die in meijterhafter Weije behandelt ift.
Diejem Tempeltraum zu Glück und Genuß dichtete Fidus die heiligen Offen-
barungen einer ſchmerzvollen Menſchwerdung. Es trieb in, die Frage nad) der
Weltjeele, ihrer Macht und ibrem Wirfen in jeiner Weife gu deuten. Die Gewalt
feiner Phantaſie tragt Leben, Sinnen und Handeln in den weichen Wfforden einer
unbesiweifelten Gewifbeit in die tote Umgebung, lodt Seele aus dem Unbefeclten und
fiebt die Welt als cin ewig new fich gebärendes Wefen an. Seine Weltanſchauung,
die buddhiſtiſche Elemente vereiniqt mit den poetiſchen Reisen mittelalterlicer Natur:
philofophen — 4. B. Giordano Bruno, mit vielfacen Ausdeutungen und Criveiterungen
ſeines Strebens bis auf die Gegenwart — bringt in der Tempelfunjt einen Faktor
in Anſatz, der die Bedeutung feiner Kunſt und der darin geftalteten Joce in dem Mage
erweitert, daß fie eine religibfe Befriedigung gewährt mit all den in ihr rubenden
Erldjungen und Befreiungen. Das ijt Nabrung und Sättigung der fudsenden Seele.
Gine jtille Anjel der Romantik in unferer gärenden Zeit unausgeglicener Rulturideate.
Fidus jucht in feiner Weife die Probleme gu löſen. Was er gibt ijt Sele und was
ex gejtalten will in Sufunft, ijt das Kunſtwerk, in dem die Seele ibre Empfingnis
feiert. Die Seele ded einjgelnen und der Allgemeinheit. Und hierin feblichten fic
alle Rampfe. . ..
—— — Ee
Von Ppauen und übep Ppauen.
Die zärtlichen Muttergefühle immer auf dem Präſentierteller, als pidce de résistance in der
Argumentation gegen die Frauenbewegung, iſt aufdringlich, abſtoßend. Wie man in ſeinem Kämmerlein
betet, ſo liebe man daheim ſein Kindchen. Aber ich ſehe keinen Grund, Gefühle, die einen ſo reichen
Lohn ſchon in ſich ſelbſt tragen, als ungeheure, Ehrfurcht gebietende Qualitäten an die große Glode
zu hängen, Heiligenſcheine dafür als Dutzendware auf den Markt zu werfen, auch für Stirnen, hinter
denen nie eines Gedankes Glut geſtrahlt, nie ein Funke von Edelſinn auch nur geglimmt hat. Mir iſt
dieſes Protzen mit der Mutterliebe widrig. Frauen können ihren Kindern die zärtlichſten Gefühle
weihen, und fic) anderen Rindern, ja, der ganzen übrigen Menſchheit gegenüber herze und gemütlos er—
weiſen. Dad wäre die echte Mutter, die allen Kindern hold ift.
Viele Frauen haben vielleicht feine andern Vorzüge, aber gar eine; fie können vielleicht nicht
cinmal kochen; da bleibt ibnen doc) immer nod die Mutterliche. Die foftet feine Arbeit, wird nicht
erworben, ift von felbft da, und je beftiger fle da ijt, umſomehr rückt fie die Mutter in cine verklärende
Beleuchtung.
Die Mutterliebe entbehrt der Idealität, die man ihr zuſpricht, wenn es mir auch fern liegt, zu
leugnen, daß es eine Mutterliebe gibt, die rührend und ergreifend iſt, eine Liebe, die immer tröſtet,
immer verzeiht, die immer gibt, niemals nimmt, die ſelbſt an dem entgleiſten Kinde, da’ am Pranger
der Menſchheit ſteht, in unverbrüchlicher Treue fefthiilt.
Qn Romanen fommen diefe Mütter nocd häufiger vor als im Leben.
*
Nicht der Raturinſtinkt ſcheint mir der Grundpfeiler der menſchlichen Mutterliebe, eher iſt es das
Shaffer und Wirken an dem Kinde. Die Mutter fühlt ſich als das Schickſal des Heinen hilfloſen Ge—
ſchöpfes, dad iby anvertraut wurde, wobei allerdings die Borftellung, dah es ihe eigenes Fleiſch und
Blut ift, mitwirkt, Die Borftellung, fage ich, — nicht die Tatſache.
Hedwig Dohm.
(Mus ,,Die Mütter“. S. Fifeher, Verlag, Berlin.)
aOR
270
Vie Sdrtnersirau.
Cyriel Buyle.
Autorifierte Mberfegung aus dem Holländiſchen von Rhea Sternberg.
Nachdruck verboten.
S. hieß Bhilomene, aber man nannte
fie bas Beeldefen. Nicht ettwa weil fie fo
bildhübſch getwejen ware, fondern weil fie mit
t
ibrer bageren, unbebdeutenden, Eleinen Geftalt |
und mit bem fanften, fdmergvollen, blaffen
Gefidt an ein hölzernes Heiligenbildchen er-
innerte.
Sie war die Frau des Gärtners auf dem
großen Schloß und hatte drei Kinder, zwei
Mädchen und einen Knaben. Im Park, ein
da er nur ein armer Tagelöhner geweſen war.
Sie hatten einen kleinen Gemüſe- und Blumen—
garten und ein Stückchen Ackerland, auf dem
fie Kartoffeln und Rüben pflanzten, ſoviel
ſie für ihre eigenen Bedürfniſſe und für den
Unterhalt der beiden Ziegen und zahlreichen
Kaninchen gebrauchten. Auch Hühner nnd
Tauben hielten ſie ſich, die mit ihren bunten
Farben und ihrem lauten Gackern und Girren
wenig ſeitwärts von dem prächtigen, eiſernen
Gitter mit den vergoldeten Stäben, lag ihr
ſauberes, hübſches Häuschen in der Nähe der
Pferdeſtälle und Remiſen, halb verſteckt hinter
ftatilichen alten Buchen und Rhododendron:
ſträuchern.
Während ihr Mann den ganzen Tag in
den Gemüſegärten, im Park und in den Treib—
häuſern beſchäftigt war, batte fie fiir bas
Hauswefen gu forgen. Die beiden Madden
gingen taglidh in das jiemlid) weit entfernte |
Dorf zur Schule; nur der fleine Junge blieb
nod) bei ihr gu Haufe.
Sie fühlten fic gliidlid) in ihrer Yage.
Zwar mubte Theofiel ſchwer arbeiten; denn
auf dem grofen Schloß war eigentlich Arbeit
genug fiir einen zweiten Gartner. Uber davon
wollte ber Here Baron durchaus nichts hören,
und e3 gelang Theofiel durd ununterbrodjene, |
äußerſte Wnftrengung all feiner Kräfte, die
übermäßig ſchwere Aufgabe zur Zufriedenbeit |
jeines Herrn ju erfüllen. Sonſt batten fie
in der Tat über ihr Los nicht yu Hagen. Sie
brauchten feine Miete zu bejablen, und
Theofiel werdiente bedeutend mebr als friiber,
— — — —
den ſonnigen Platz vor der Tür belebten.
Doch ein Schatten trübte dieſes beſcheidene
Glück; ein unbeſtimmtes, quälendes Gefühl der
Abhängigleit, der Unfreiheit drückte fie oft
nieder, etwas, das keiner von beiden aus—
zudrücken vermochte, das aber ſchwer auf ihrem
niederen Daſein zu laſten ſchien; unſichtbar
ſank es aus den hohen, grauen Tiirmen des
Schloſſes, aus den feierlichen, düſteren Baum:
maſſen ded Parks auf fie herab. Das Schloß
und feine ganje ſtattliche Umgebung flößte
ihnen ſtets cine auferordentliche, ja ängſtliche
Chrjurdt cin. Klein und nichtig wie ihr
armfeliges Häuschen neben dem mächtigen
Bau fühlten fie felbjt ſich neben feinen reiden,
pornebmen Bewohnern. Im Sommer be:
fonders, wenn ba alles voll Leben und Be-
wegung war, wenn die prächtigen, glangenden
Wagen über den knirſchenden Kies fubren,
wenn eS auf ber Terraſſe vor dem Haufe von
bell gefleideten, fröhlich fdwagenden und
lachenden Damen und Herren twimmelte, wenn
zweimal täglich, zum Lund und jum Diner,
die ſchwere Gartenglode lautete, twenn die
fpiclenden Kinder jauchsten und lärmten, die
Diencr und Gouvernanten hin und wieder
Die Gartnerdfrau.
liefen — dann bielt eine unbeftimmte, be-
flemmende Angſt fie villig gefangen. Theofiel
war dann vom frithen Morgen bis zum
fpaten Abend unſichtbar, er war in ben
Gemiifegarten und Treibhäuſern vollauf be—
ſchäftigt. Beeldeken aber traute ſich nicht einen
Schritt über den Platz vor dem Hauſe hinaus;
hier war ſie durch hohe Bäume gegen ein—
dringende Blicke vom Schloſſe her geſchützt;
hier ermahnte ſie angſtvoll ihre Kinder, keine
lauten Spiele zu ſpielen, und ehe noch der
Abend dämmerte, trieb ſie die Hühner in den
Verſchlag, damit ihr Gackern nicht die Auf—
merffamfcit ber Herrſchaften erwecke.
Nur im Winter atmeten ſie freier, dann
kam Ruhe und Friede über ihr Gemüt. Dann
blieb das Schloß gu, und fie waren Allein—
berrfcher auf der grofen Befigung. Der
Mann braudte ſich nidt unaufhörlich zu
qualen und zu plagen, und man fab dad
dürre, kleine Beeldefen manchmal in dem ver:
laffenen arf auf den breiten Riegwegen
jwifden den dunflen, kahlen Riefenbaumen
fpajieren geben. Sinnend ftarrte fie dann
wohl nad dem grofen Schloß, das fie nod
niemalé betreten hatte. Sie träumte von ciner
unbefannten, tiberwaltigenden Pracht unter
den boben Kuppeln und Türmen, binter den
feft geſchloſſenen grauen Fenſterläden und den
alter, mit Gfeu betwadfenen Mauern. O,
wie gern batte fie’s einmal von innen gejeben,
um ju erfabren, was es denn eigentlid auf
ſich hatte mit ihrer beimliden Angſt vor der
barin vermuteten, gebeimnisvoll verborgenen
Macht. Aber das ging nidt, denn es beftand
ein ftrenges, unerbittlides Verbot: weber fie
nod ibr Mann durfte je das Schloß betreten,
Sie waren nur die Gartnersleute, mit dem
Schloſſe felbft batten fie nichts zu tun; das
lebte neben ibnen fein eigenes Leben, von
bem ibren getrennt; im Gommer [uftig und
lachend, im Winter fteif und falt in fein
undurddringlides Gebeimnis gehüllt. Wie
eine ewige Drohung fürchteten fie dieſe
unbefannte Allmacht, die ihre Ceelen bedriicte,
alé wäre ibr eigenes Leben hinter den riejenz
haften Mauern heimlich eingefdblofjen, als |
finne jeden Mugenblid ein unerwarteter Betebl
daraus bhervorgeben und unwiderruflich fiber
ihr Los bejtimmen.
271
Wabrend der [angen Winterabende pflegten
fie, wenn die Kinder gu Bett gegangen waren,
neben dem fladernden Herdfener gu figen; er
mit der Picife im Munde, fie die Hinde im
Schoß gefaltet. Nachdenklich fchauten fie dann
in die rotgliibenden Flammen, laufdten dem
Wind, der ächzend und ſtöhnend durd die
boben Baume und um ibr einfames Häuschen
fubr, und fpraden weitſchweiſig über dad
Schloß mit feinen gablreihen Sommergäſten,
mit feiner twinterliden Verlaffenbeit und Rube
und iiber ibr eigened, ftilled, niederes, fleißiges
Leben. Gie redeten nidt in flaren Worten
pon dem inftinftiven, beangftiqenden Gefühl,
unter dem fie fo febr litten; dod fie abnten
es gegenfeitiq aus ben tragen, fargen Worten,
mit denen fie cinander gu ermutigen fudhien.
„Nichts beffered fann der Menſch im Leben
tun, als ſtets feine Pflicht gu erfiillen,” meinte
Theofiel gan; allgemein, und Beeldefen nite
juftimmend mit bem Ropfe und fiigte bingu,
daß fie vor allem ihre Hoffnung und ibr
Vertrauen auf Gottes Giite und Gnade fete.
„Ich tue alles, was mein Herr mir befieble,
und felbjt wenn er mir nidts befieblt, arbeite
und forge icp fiir ibn, foviel id) nur kann,“
fprad er. Und Geeldefen antivortete:
„Und id tue mein Beftes, um niemand
durch mein Verſchulden ju argern und hoffe,
daß ber liebe Gott uns belohbnen wird, dap
wir mit unjern Rindern in Glück und Frieden
leben lönnen bis ju dem Augenblid, da es
jum Scheiden fommt.”
Wunderbares Mofterium! . Es war,
alg ob dieſe Naturmenfden in ihren barmlofen,
einfaltigen Seelen etwas Unvermeidlides
fommen fiiblten und bon einem ängſtlichen,
bilflofen Bemühen erfillt waren, ihrem Geſchick
zu entgeben.
* *
*
Es war Ende März, ein böſer Tag mit
ununterbrochenem Regen und eiſigem Wind.
Trotzdem hatte Theofiel unaufhörlich gearbeitet,
geſät, gepflanzt, gedüngt; denn ängſtliche Sorge
erfüllte ihn bei bem Gedanlen, daß er in
dieſem Jahr, nach dem langen, rauhen Winter,
mit ſeinen frühen Gemüſen und Früchten arg
im Rückſtand war. Wm Abend fam er völlig
erſchöpft von der LUberanjtrengung, und von
272
ber burdbringenden feuchten Ralte am ganjen
ſchien er ein alter Mann geworben ju fein,
befjen Kräfte auf einmal verbraudht waren; er
bielt den Rücken gefriimmt, die hohlen Wangen
waren afdfabl, ein Ausdruck fdeuer Furdt
lag in den ftumpfen, traurigen, tief in die
bunfeln Hiblen gefunfenen Augen. Er modte
nits efjen, nur heißen Süßholztee trank er
im Überfluß, fiinf, ſechs große Taffen nad:
einanber; ſchaudernd ſaß er in fic verſunlen
Die GirtnerSfrau.
' nod gefproden, nod getrunfen bat. Sie lief
Korper gitternd nach Haufe zurück. Gang plötzlich hinaus, ohne Grund, ohne Swed, fam wieder
| juriid, ſah nach bem Herd, ob das Feuer aud
am Feuer, während bas entfeste Beeldefen in —
aller Gile mit einem Krug fodenden Waſſers
fein Bett warmte. Sie fprad ihm Mut und
Troft gu und lief wie gebest bin und ber, von
ber Küche in bie Stube und wieder zurück.
„Es wird nichts fein, nur eine ftarfe Er—
faltung, bie fommt von dem Wetter,” meinte
fic. „Ein paar Tage rubig und warm im
Bett bleiben, viel heißen Süßholztee trinfen,
gehörig ſchwitzen, und alles ift wieder in
Ordnung.“
Aber anſtatt dap es beſſer wurde, belam
er ſchon am zweiten Tage qualvolle Schmerzen
im Hals und in der Seite, und plötzlich wurde
der Zuſtand ſo ernſt, daß man eilig einen
Arzt und Paſtor rufen mußte.
Der Paſtor kam noch gerade zur rechten
Beit, um ibm die Sterbefaframente yu geben,
aber al der Doftor fam, war es ſchon ju
ſpät ... Plötzlich, nad) einem furgen, beftigen
Pieberanfall war er geftorben, in ibren Armen
geftorben. Wild war er in feinem Bett empor-
gejprungen, batte fic mit beiden Handen an
den Hals gegriffen, als twolle er da cine
wiirgende Rlaue wegreifen ... dann ein rauber
Serei, ein frampfartiges Verjerren ded Geſichts,
ein wildes Ausſchlagen der Arme, und leblos
mit dem Kopf auf den Bettrand fdlagend,
war er zurückgeſtürzt in die Riffen ... alles
war voriiber .. .
Beeldefens überwältigender Schmerz duperte |
fih zunächſt in einem Nichtbegreifen. Tot...
fo plislid) tot, wo er im Augenblid zuvor
nod gefproden, nod eben feine Tajje Tee
qetrunfen bat ... nein, nein, fie fapte es
nicht, fie glaubte es nicht... er war nicht
tot, er rubte nur, er ſchlief nur ... der Doftor
irrte fid), der fannte ibn ja nicht fo, wie fie
ibn fannte, der wußte ja nicht, dab er eben
* —
dem Tode.
ſchlafen,
brannte, ob der Tee auch nicht kalt würde.
Denn er war nicht tot, er ſchlief nur, er würde
vielleicht gleich wieder aufwachen und zu trinfen
verlangen. Und es ſchien ihr gang merfwiirdig,
bak die Kinder fo vergiveifelt iveinten und
ſchluchzten, und dak der Doktor mit fo trauriger
Miene auf fie gulam, um ihr banale Troft-
worte zu fagen; -denn ihr Mann war dod
nicht tot... man ftirbt nidt fo plötzlich, dads
dauert eine Weile, man ruft, man [eidet, man
ſchreit, man fampft Tage und Nächte lang mit
Sterben ...! nein, nein, fterben
ijt etwas anderes, etwas ganj, ganz andered . . .
„Ach ja, Mutterden, es ift febr traurig,
ſehr traurig, und ic babe großes Mitleid
mit Ihnen; aber dagegen ijt nun nichts mebr
ju maden, und Cie müſſen fic) bemiiben,
es mit Vernunft au tragen,” hörte fie ben
Doftor fagen. „Ich gebe nun wieder weg,
Frauchen, denn bier gibt’s fiir mid nichts
mebr ju tun. Rann id Donen vielleicht im
Dorf cinen Dienft ertweifen, es beim Paftor
melden und beim Schulzen?“
Da dämmerte langſam in ihrer Seele das
Verſtändnis fiir die ungliidjelige Wahrheit;
ein furchtbares Bittern fcbiittelte ihren arm:
feligen, fleinen Körper; wild blidte fie auf
ihre weinenden Kinder und in das betriibte
Gefidht des Doktors, und plötzlich begriff fie,
begriff, bab er tot war. .
Unter Trinen, Schluchzen und Hände—
ringen verrann Stunde um Stunde; fie war
ftumm und ftarr, gelabmt vor Verzweiflung,
zerſchmettert von bem entfeblichen Leid. Und
dod) ftellte die niidterne Wirllichkeit ihre
natürlichen Forderungen: arbeiten, eſſen, trinfen,
die unerbittlide Fortſetzung des
' tagliden Lebens,
Beeldefen hatte einen verbeivateten Bruder
und eine verivitivete Schwägerin, die Schweſter
ihres feligen Manned. Beide wobnten in
benadbarten Dörfern, und Reinildele, die
altefte Tochter, teilte ibnen die traurige
Nachricht mit:
Lieber Onfel und liebe Tante!
Ich ergreije die Heder, um euch die traurige
Mitteilung ju madden, daß Vater geftern
Die Gartnersfrau. 273
plötzlich geftorben ift. Er war nur einige
Lage franf, aber wir bofften, bak es wieder
befjer werden follte; dod plötzlich fonnte er
nicht mebr atmen und fein Wort mehr fprechen,
Ler Herr Paſtor fam nod zur rechten Beit,
um ihm die legte Olung yu geben, aber ald |
der Herr Doktor fam, war Vater fdon tot.
Wir find ſehr betriibt, lieber Onfel und liebe
Tante, und hoffen, dah ibr jum Begrabnis
fommen werdet, das iibermorgen um '/,10 |
fein fol. Jn Mutters Namen,
Eure anbanglide Nichte
Reinildefe van Dalen.
Aud an den Baron ſchrieb fie:
Herr Baron!
Sch ergreife die Feder, um Ihnen von
Mutter cin Rompliment ju beftellen mit der
Mitteilung, bak Vater geftern plötzlich geftorben
ift. Wir find febr betriibt, und Mutter bofft,
bap fte Cie bald feben wird, um von Shnen
au hören, was fie nun in ibrer traurigen
Lage yu erwwarten bat. Das Begrabnis von
Sater foll iibermorgen um 1,10 mit einer
gefungenen Meſſe in der Parochiallirche ftatt=
finden. Ihre untertdnige
Reinildefe van Dalen.
Im Ramen von Mutter.
Um Tage ber Beerdigung famen Beels —
defend Bruder und Schwägerin des Morgens
mit dem erften Suge an. Die Frau twar
tie? traurig und tweinte bitterlidh; dex Mann,
mebr tiberrafdt als betiimmert, fragte mit
läſtiger Ausdauer nad allerlei Cingelbeiten:
wie denn das Unglück ſo plötzlich gekommen
ſei, warum man nicht fo oder fo gehandelt,
warum man ihn nicht früher benachrichtigt
habe. Dann wollte er den Sarg ſehen, in
dem der Schwager bereits lag, und da er ſelbſt
Schreiner von Beruf war, betrachtete er das
Holz und die Arbeit mit kritiſchem Blick; er
hatte hier und da zu tadeln und war vollends
entrüſtet, als ihm Beeldeken auf ſeine Frage
ſchluchzend antwortete, was fie dafür bezahlt
habe.
„Was, 36 Fred. für ſolch 'ne Kiſte von
Sarg! Beim Himmel, ſolche Särge möcht'
id aud fiir 36 Fres. machen, nur ein Jahr
hauschen.
36 Fres. per Sarg, pah!“, und er gab
dem rotgefärbten Holzkaſten einen verächtlichen
Stoß.
Dann kam eine andere wichtige Sache zur
Sprache: was ſollte nun aus Beeldeken und
den drei Kindern werden? Der Bruder fragte
ſie, ob ſie etwas geſpart hätten.
„Etwas, aber wenig; das Leben iſt ſo
teuer,” ſchluchzte fie.
„Hier wirft du dod feinesfalle bleiben
finnen,“ ſagte ber Bruber,
Aber die Schwägerin meinte, Theofiel habe
ſo lange Sabre fleifiq und treu feine Arbeit
getan, daß der Herr Baron dod wohl Mitleid
mit feiner armen Witwe und feinen Kindern
haben würde.
„Mitleid ſchon,“ anttvortete der peffimiftifde
Bruder, „doch 's ift ſchlimm, dak man fiir
Mitleid fein Butterbrot faufen fann. Alles
was der Baron fiir fie tun wird, hängt nur
von feiner Güte ab.”
Dagegen fonnte die Schwägerin nidts
ſagen, und bas arme Beeldefen fiiblte ſchwerer
als je die Allmacht des großen Schloſſes, das
bereits das Leben ihres Mannes gum Opfer
gejorbdert hatte, und von dem nun aud ibre
und ibrer Rinder Zukunft abbing.
Wabrend fie fo redeten, hörten fie draußen
plötzlich den Ries unter den Rädern eines fic
nabernden Wagens knirſchen, und gleich darauf
hielt ein gldngendes Coupé vor dem Garten:
Der Diener fprang vom Bod,
Gffnete die Tir und half dem Herrn Baron
beim Ausfteigen, Nur mit Wnftrengung fam
der große, ſchwerfällige Mann aud dem Wagen;
fein Geficht mit den bervorftehenden, waſſer—
blauen Augen, von einem grauen Badenbart
umrabmt, war duntelrot geworben. Er ächzte
faut, als er endlich draufen ftand und gab
jeinem Kutſcher in franzöſiſcher Sprache einen
Befehl. Mit der Peitſche grüßend, lieh diefer
darauf die Pferde im Sehritt nad dem Schloſſe
geben. Dann fam der Baron fteifbeinig, ſchwer
auf den ftarfen Stod mit der grogen, filbernen
Krücke gejtiipt, auf das Gartenbausdhen ju,
deſſen Tür der Sebreiner bereits ebrerbietig
geöffnet bielt.
Mun ftanden fie alle drei mitten in der
niederen, dunfeln, kleinen Küche, die beiden
lang, vom 1, Januar bis gum 31. Degember. | Frauen heftig ſchluchzend, der Bruder mit einer
18
—
274
niedergeſchlagenen Gelegenheitsmiene, alle ſehr
geehrt durch den vornehmen Beſuch.
Die Gärtnersfrau.
„Ja, Herr Baron, dabei bleibt es, Herr
Baron, und noch vielen Dank für Ihre Güte,
„Wünſche euch allen guten Morgen,” fagte | Here Baron,” ſprachen fie abwechſelnd, während
ber Baron mit feiner fetten, ſchweren Stimme.
Refpeftooll erwiderten fie alle drei feinen Gruß
mit einem ,guten Morgen, Herr Baron’. |
Dann ftammelte er einige leere Troftworte,
bei benen die Frauen nod heftiger ſchluchzten,
und ging gleid) barnad auf ben Swed feines
Beſuches über. Cr fragte Beeldefen, wags fie
nun ju tun gebdenfe. Dod da die ungliidlide
fleine Frau nicht fabig war, ibm eine Antwort
zu geben, trat der Bruder fiir fie ein und
fagte bemiitig, daß fie bereits davon gefproden
batten, dod ſchwer einen Entſchluß faſſen
finnten, ebe fie wilften, was der Herr Baron
fiber fie beſtimmt babe. Sich ftébnend auf
einen Stubl niederlafjend, ben der Bruder ihm
angeboten hatte, fagte ber Baron:
„Ich babe mit meiner Frau dariiber ge-
fproden, und wir baben folgendes beſchloſſen:
Theofiels Frau mag auf dem Schloſſe bleiben,
wenn fie will, aber niet in diefem Hause, wo
ih einen anbdern Gartner bineinfeben muß.
Wenn fie bleiben will, muß fie in dad fleine
Häuschen an der andern Seite des Parkes
ziehen, wo früher der alte Forſtwärter gewohnt
hat. Cie braucht keine Miete zu bezahlen,
aber ſie muß auf dem Hof oder im
Schloß arbeiten, wenn wir ihre Hilfe ge—
brauchen.“
Die beiden Frauen blieben ſchweigſam und
unbeweglich, doch der Bruder nickte wiederholt
zuſtimmend mit dem Kopf.
„Sehr wohl, Herr Baron, ſehr wohl. Wir
find Ihnen ſehr danfbar, Herr Baron. Haſt
du gebirt, Filemiene, twas der Herr Baron
geſagt bat?”
Beeldefen ricdtete ihr verweintes Geficht
ein wenig auf und danfte dem Baron mit
faſt unverftinbdlidem,
Ende machen follte,
„Alſo bleibt'’s dabei, nicht wabr?” ſchloß
ber Baron, der fand, dah fein Befucd nun
lange genug gedauert batte.
erbob er fic von feinem Stuhl.
alle ...“
J*
„Adieu denn
Hanglofem Stottern.
Und aud) die Schwägerin dankte und ſchnaubte
fid dann vernebmlich die Nafe, was dem |
Ausbruch ibres Kummers augenſcheinlich ein
Mit Anſtrengung
der Schreiner den Edelmann aus der Tür
geleitete.
Mls er wieder ing Zimmer trat, wieder—
bolte er nodmals, bak er bie Handlungsiveife
bes Barons febr ſchön und edelmiitig finde,
und daß man nun obne Aufſchub Anorbnungen
fiir Filemienes fernereds Leben treffen müſſe.
Was follte fie fortan beginnen, um ausjufommen?
Sie befam wie früher ,frete Wohnung, und
dad twar febr ſchön, febr viel; aber im fibtigen
wiirden ihre Einnabmen wohl fo beſchränlt
fein, daß fie unmiglic fiir fic) und ihre drei
Rinder forgen fonnte. Darum fdlug der
Bruder vor, dah er und die Schwagerin je ein
Rind gu ſich nebmen follten; dafür brauchte
Filemiene feinen Cent zu bezahlen; die Kinder
würden fic, fotweit fie fonnten, nützlich maden
und fo ibren Unterbalt felbft verdienen.
Die Schwagerin ftimmte dem fofort gu,
aber Beeldeken erfebraf bei den Worten
ihres Bruders. O Goit, ihre Kinder, ibre
armen Rinder! Daran hatte fie nod nicht
gedacht, bah fie zulünftig nicht im ftande fein
wiirde, alle drei Kinder im Haufe gu bebalten;
aber nun wurde fie ſich deſſen plötzlich bewußt,
uun fühlte ſie auch, daß es nicht anders ging,
und ergeben beugte ſie das Haupt unter dieſem
unerwarteten neuen Schlage, fo vollig vernichtet
in ihrem Schmerz, daß ſie für ihren Bruder
und ihre Schwägerin nicht einmal ein Wort
des Dankes fand. So forderte dieſes allmächtige
Schloß immer mehr Opfer von ihr, es verſchlang
nacheinander all die ſchwachen Kräfte ihres
traurigen Lebens, und ſie war ihm wehrlos
preisgegeben . .
„Nimm du die zweite, ich twill die altefte
nebmen, und den Jungen wollen wir ihr laſſen,“
ſprach der Bruder yur Schwägerin, ohne Beel-
defens Rat eingubolen. Und erjt als die
Schwägerin fic mit feinem Vorſchlag einver-
ftanden erflart hatte, fragte er der Form wegen
aud die Schwefter, ob es nad ibrem Sinne fei.
Gin Geräuſch von ſich nabernden, ge-
dämpften Stinunen und Sebritten wurde hör—
bar, und vom fernen Rirdturm begannen die
Gloden gu lauten. Die Nachbarn und Freunde
des Verjtorbenen famen mit einer Bahre, um
Die @artnersfrau.
ben Toten abgubolen und nad bem Kirchhof
zu bringen. Sie klopften an die Tilr und
traten ftill herein; ¢8 waren ibrer adht, die
ben Sarg abwedfelnd auf ben Schultern tragen
wollten. Wie batten fie ihre Conntagsride
angelegt, und die braunrot gebrannten runjeligen
Gefichter waren friſch rafiert. Ciner von ibnen
tat die übliche Frage:
„Frauchen, ift es mit Ihrem Willen, dag
bie Leidhe aus dem Haus fommt?”
Und als das troftlos jujammengefauerte
Beeldefen ſchluchzend bejaht hatte, führte der
Bruder fie in die Sdhlafftube, wo fie unter
ſcharrenden Schritien ben Sarg emporhoben,
um ibn draußen auf die Bahre yu feben. Dann
breiteten fie die Armen-Leichendecke darüber;
fie war aus verblidenem griinem Cammet,
mit einem verfdoffenen goldenen Kreuz und
Franſen verziert. Schwer hoben vier Manner
die Laſt auf ihre Schultern und ſchritten damit
über den knirſchenden Kiesweg jum Schloß—
gitter, gefolgt von dem Bruder, der Schwägerin
und den andern vier Männern, welche die
erſten nachher ablöſen ſollten. Auch einige
Nachbarsfrauen gingen mit, in lange ſchwarze
Mäntel gehüllt, das ſchwarze Gebetbuch mit
dem kupfernen Schloß in den gefalteten Händen.
Die Kinder, für dieſen Tag zu einer Nachbarin
gegeben, waren nicht zu ſehen. Als der lang⸗
ſame Zug, hinter den hohen Buchen hervor—
tretend, vom Schloſſe aus in Sicht war, ſtand
der Herr Baron gerade oben auf der Treppe,
im Begriff in das Haus zu gehen. Er wandte
ſich um, und gewohnheitsgemäß zog er den
Hut vor dem Sarge. Die Leute aber glaubten,
daß er ſie grüße, und mit einem ſcheuen,
ſchrägen Blick nach dem Schloſſe nahmen ſie
alle tief ibre Miigen ab. Der Baron bemerkte
es nicht einmal, denn fcbon batte er die Tür
geöffnet und war in das Annere bes Hauſes
qetreten, wibrend der Zug — ein fleines,
ſchwarzes, trauerndes Häuflein Menſchen —
unter ben boben Bäumen an dem monumentalen
Gitter entlang verſchwand.
Nun mupte Beeldefen nod die traurigen
letzten Entſchlüſſe ausſühren. Sie zog in die
armſelige, baufällige, ſeit Jahren unbewohnte
Hütte des Forſtwärters am äußerſten Ende
des Parls und ſollte ſich dann auch gleich von
ihren beiden Madden trennen. Die Kinder
| Wilddiebe und Mörder.
275
wußten bereits von ihrem Schickſal und fanden
ſich ſchnell darein; ſie hatten noch keine rechte
Vorſtellung davon, wie traurig ihr Los war;
fie wußten nod nicht, was es heißt, bas Haus
der Mutter zu verlaſſen. So folgten ſie dieſer
eines Morgens ruhig und willig, nachdem ſie
mit vielen Küſſen und Liebkoſungen von dem
fleinen Bruder Baſiellen Abſchied genommen
hatten.
Sie wurden von dem Ohm und ſeiner Frau
ſehr freundlich empfangen. Aber ein unruhiges
Leben herrſchte in ſeinem Hauſe, lärmende
Kinder, Geſellen und Burſchen, Käufer gingen
ein und aus, und Beeldeken hatte ſogleich den
Eindruck, daß ihre Reinildeke bier viel gu arbeiten
haben würde. Doch das hatte ihr Bruder ihr
ja im voraus angedeutet, und ſie war ihm
trotzdem dankbar, daß er ihr dieſe Unterſtützung
gewährte. Nachdem ſie alle zuſammen in der
dunleln, kleinen Küche Kaffee getrunken batten,
nahm ſie ohne viel Tränen von ihrer älteſten
Tochter Abſchied, um die zweite, Leontientje,
zur Schwägerin zu bringen.
War es bei ihrem Bruder unruhig und
laut, ſo ſchien dagegen hier eine behagliche
Ruhe zu herrſchen. Sie war Plätterin, und
ihr ganzes Häuschen ſah ſo nett und luſtig
aus, die kleinen Zimmer waren ſo hell, ſo
reinlich und duftend von all dem friſch ge—
waſchenen und geplätteten, glänzend weißen
Linnen. [ber dem Hauſe des Bruders [ag
etwas ernſt Schwerfälliges, womit Reinildekes
mageres, ein wenig ſteiſes Geſichtchen ganz
gut harmonierte; und auch hier fühlte Beel—
deken eine gewiſſe Übereinſtimmung zwiſchen
dem friſchen Weiß und dem ſonnigen Lachen
ded blonden Leontientje mit den hellblauen,
ſtrahlenden Augen. Auch von ihrem zweiten
Kinde nahm ſie ohne große Rührung Abſchied,
und einſam kehrte ſie in der Abenddämmerung
zurück in ihre armſelige Hütte am Waldesrande,
wo fie fortan mit Baſielken allein hauſen
follte.
Schwer fonnte fie ſich guerft daran ge-
wihnen. Wie fie fich nachts in dem entlegenen
Hausen fürchtete, wenn der Sturm heulend
und flagend durd ben Wald tobte und die
mächtigen Baume wie Steden febiittelte; das
waren fo recht die Nächte fiir Verbrecher, fiir
Wenn der Abend
18*
276
hereinbrach, traute fie fid) nidjt mebr vor bad
Haus; ängſtlich ftand fie bei verſchloſſener
Tür mit Bajielfen an dem vielteiligen, fleinen
Fenſter, blidte nach den ſchwankenden, ſchwarzen
Tannenkronen und ſchaute der wilden Jagd
der Wolfen ju,‘ die wie flüchtige Schatten den
filbernen Mond bald verdedten und bald wieder
frei gaben und das Firmament yu einem wüſten
Chaos madten. In folden Stunden mufte
fie beſtändig an ihren verftorbenen Mann
denfen, der nun im fiiblen Grabe lag, an
ihren Kummer und an den Tod. Erſt nad
einer angen, verzweifelten Beit ſöhnte fie ſich
ergeben mit dem Leben aus und fiigte ſich in
das Unabänderliche.
Der Friibling war gefommen und mit ibm
die erquidende Lebensfriſche, der muntere Gejang
der Vogel, die Herrlichfeit der erſten Blatter
und Blüten. Und Beeldefen ging binaus, um
mit Spaten und Hade das Stiidden Land gu
bearbeiten, das zwiſchen dem Part und ibrer
Hiitte lag, und Bafielfen, ibr fleiner Liebling,
der Sonnenſtrahl ihres Lebens, half ibr
dabei.
Sie hatte ihn fo lieb, fo lieb! Das war
etivas, twas fie jest jum erjtenmal fo innig
fiiblte, etwas, twas fie nicht mit Worten aus:
driiden fonnte. Oft liebfofte fie ihn, wie fie es
nie mit einem ibrer andern Kinder getan hatte,
und wie es aud bei Leuten ibres Standes
nicht der Braud ijt; fie küßte und herzte ibn
leidenfcbaftlih, Trinen der Rührung in den
Augen, als wolle fie ibn gegen unbefannte
Gefahren beſchützen, die ibn und damit auch fie
bedroben fonnten. Und fie dankte dem Himmel,
daß er fie vor weiterem Unbeil betwabrt, dak
bas geiwaltige, gefürchtete Schlof ibr wenigitens
ibn nod) gelajjen hatte.
Ihre größte Sorge war ibre materielle
Lage. Sie batte nun zwar freie Wohnung
und cin Stiidden Land, auf dem fie ein wenig
Rartoffeln und Gemiife pflangte, aber das war
aud) fo giemlid) alles. Ab und zu batte fie
ein paar Stunden des Tages bei dem neuen
Gartner oder bei dem Pächter der Meierei das
Unfraut auszujäten; dod fiir die Dauer ge-
niigte dieſe geringe Einnahme nicht fiir ibren
und Bafielfens Unterbalt.
Sie war alfo febr erfreut, als der Pachter
des Meierhofes fie eines Morgens fragte, ob
Die Gärtnersfrau.
fie ihm ibren Jungen nicht als Kubbirt geben
wolle; er follte monatlich 8 Fr. verdienen und
bei ihr im Hauſe bleiben. Cie mufte ibn
dann allerding3 aus der Schule nehmen, die
er nun ſchon befudte; aber das betradtete fie
al ein geringes Hindernis, umſomehr alé es
ja nur während der Sommermonate war. So
gab fie gern ibre Suftimmung, und fdon am
nidjten Morgen trieb Bafielfen die ſchönen,
buntfledigen Kühe auf die Weide hinter dem
Tannenivald. Gerührt und aud ein wenig
ängſtlich fom Beeldefen, um nad ibm ju
feben.
„Biſt aud nidt bange, Sunge?” fragte fie
halb lachend und dod) mit Trinen der Rührung
in ben Augen.
„Aber gar nicht, Mutter,” antivortete das
Bürſchchen freudeftrablend und dreiſt mit leud=
tenden Bliden. Wie ein Zwerg unter Riefen
ftand er neben den rubig grajenden Kühen,
ließ hoch iiber ihrem bunten Riiden feine lange
Peitſche fnallen und fang iibermiitig die Hirten=
weife mit dem weithin fdallenden Alahoe!
Alaboe! Alahoe! Wie ein Echo gaben es aus
einiger Ferne andere Hirten zurück.
Da lachte die Mutter berubigt und beimabe
ſtolz. Wie flint und geſchickt ihr Junge war,
alg ob er dieſes Amt ſchon feit Jahren aus:
jibe. Und fie ging am fonnigen Waldesrand
ein Stiié mit ihm entlang in der durch—
dringenden Milch- und Mofdusluft, welche
die friedliden Tiere ausſtrömten. Die guten,
von angen, weißen Wimpern befdatteten Mugen
balb geſchloſſen, graften fie mit der Langen,
rauben Zunge und der feudten, ftumpfen
Schnauze die furzen, friſch betauten Grashalme,
bie flaumigen, runden wilden Kleeblätter, die
leuchtend weißen Mapliebden und die glangend
gelben Butterblumen ab, indem fie ein ein:
toniges Geräuſch verurjadten, wie von einer
rhythmiſch fic bewegenden, mabenden Senfe.
Hin und wieder blidte die cine oder andere fiir
cinen Moment empor, ohne ibr Kauen zu
unterbrechen, fanft blifend, mit der Spite ibrer
rauben Sunge die feudte Nafe beledend oder
mit einem tragen Wedeln ihrer langen Schwanz⸗
quajte die Fliegen von den Schenleln forts
jagend. — Bon dem dunfeln Hintergrund des
Waldes hoben fich die fajtig goldgelben Streifen
bliihenden Klees und die in unabjebbare Fernen
Die Gartnersfrau.
fid) debnenden frudtbaren Felder mit ihrem
weddfelvollen, leuchtenden Grin in lieblichem
Farbenſpiel ab. arte Friiblingsbliiten er:
füllten die Lujt mit ſüßem Woblgerud, und
fröhlich fcbmetterten die Lerchen ihre luſtigen
Vieder jum ftrablenden Himmelszelt empor.
* *
*
Nun war das Schloß auch wieder bewohnt.
Die jablreihen Familienmitglieder mit den
vielen Rindern waren wieder da; aber aud
pon Fremden wimmelte es, die taglid in
pridtigen Wagen famen und gingen. Alle
Augenblick ertdnte der Ruf ber Glode; galonierte |
Diener, Kutſcher in Livree, Hausmiadden in
ſchwarzen Kleidern und weißen Schürzen cilten
bin und ber.
Beeldefen, die jest viel weiter vom Schloſſe
entfernt twobnte, merfte nicht mebr viel von |
all der Unrube; aber trogdem fühlte fie wieder,
wie in friiberen Commern, eine unbejtimmte,
driidende Laft auf ibrer Seele. Wieder meinte |
fie, nicht frei atmen und [eben gu können; und
dieſe Furcht war mit einem feltjamen Reig der
Neugier gemiſcht, wenn fie daran badte, dah
fie nun twobl etwas mebr von dem Schloſſe
fennen lernen würde, da fie ja nach der Ab—
machung mit dem Herm Baron vielleicht bald —
zur Arbeit hinberufen werden würde.
Das geſchah denn aud. Eines Morgens
ſah ſie eins der Mädchen vom Schloſſe ſich
ihrer Hütte nähern, während ſie, auf der
feuchten Erbe lauernd, damit beſchäftigt war,
ihr kleines Kartoffelfeld pom Untraut zu befreien.
Als das Mädchen nahe genug war, um von
ihr gehört zu werden, blieb ſie am Rande des
Feldes ſtehen, damit ſie ihre zierlichen Schuhe
nicht mit Erde beſchmutze und rief:
„Filemiene, die gnädige Frau läßt dir ſagen,
bak bu heute ing Schloß fommen mußt; wir
| betrinf’ mid ja,” antwortete Beeldefen, ängſt⸗
haben ein groped Diner, und du follft ab-
wafden belfen!”
„Im Schloß?!“ ricf Beeldelen, dic bei der
Nachricht erſchrak.
„Natürlich,“
Pferdeſtall dinieren ſie
fommen ?“
„Ja,“ antwortete Beeldefen auiftebend.
nicht. Wirſt du
lachte das Madden, ,im |
Köchin.
277
friſierten, blonden Haar, dem eng anliegenden,
ſchwarzen Kleid und der glänzend weißen
Schürze erſchien ſie hübſch und elegant wie
eine junge Dame.
Beeldefen ging fofort ins Haus, um andere
Rleiber anzuziehen; dann verriegelte fie ibre
Tür und eilte nad dem Schloß. Aber che fie
ed erreicht batte, begegnete fie unerwartet binter
cinem Rhododendron: Gebiifh der gangen er—
faucbten Scar der Familie und der Gaijte,
die in dem Part fpajieren gingen. Erſchrocken
fubr fie zuſammen, grüßte ſcheu, wurde fener:
rot und ſchlug haſtig einen krummen Seitenweg
ein; ſie fühlte ſich in ihrer Niedrigkeit völlig
vernichtet von dem überwältigenden Anblick all
der farbenprächtigen Toiletten. Mit einem
großen Umweg gelangte ſie endlich an die
Rückſeite des Schloſſes und war froh in dem
Gedanken, daß fie body nun wenigſtens nicht
gleich ihrer Herrſchaft unter die Augen zu treten
brauchte.
„Sieh, ſieh, da biſt du ja ſchon,“ rief ihr
die dide Köchin von der Küchenſchwelle aus
entgegen. „Nun, fommit gerad’ zur Zeit, wir
wollen ejjen; fomm’ nur rein.“
Schüchtern trat Beeldefen naber. O, twas
fiir eine ſchöne, grofe Küche! Und wie leder
es bier nad) Saucen und Speiſen rod! Welde
Bequemlidfeit fiir alles! Was fiir ein herr—
lider, grofer Herd! Und all’ die unjabligen,
golden und filbern glangenden Töpfe, Schüſſeln
und Pannen, wie fle fie nocd nie gefeben
batte, und von deren Anwendung fie fid gar
feine Borftellung maden fonnte! Bor Be:
wunderung und Ehrfurcht ſchlug fie die Hande
zuſammen.
„Das iſt hier 'n Reichtum, was?“ rief die
„Na, ſetz' dich man erſt und trink
'n Gläschen Port, das macht Appetit.“
„Ach nein, nein, das wag' ich nicht, ich
lich das Glas zurückweiſend, das die Köchin
ihr einfdentte.
„Ach was, mußt dich hier nicht genieren,“
drang die Köchin in ſie und ſtellte das gefüllte
Glas auf dic Ede eines großen, weißen Tiſches
Und ſchon war das Madchen fort; fie hatte
neben Beeldefen.
„Aber id) bin ficher danach betrunfen,”
jitterte Beeldefen, indem fie nur nippte, „ich
gar flinfe Bewegungen, und mit dem forgfiltig | fühl's ſchon; es figt mir ſchon im Kopf.”
278
Das Madden lief jum Herd und fcbiirte |
bas Feuer an. Lachend und ſcherzend famen
mit lauten Schritten der Kutſcher und cin |
Diener herein.
„Iſt alles fertig, Marie?” rief der erftere,
,wir haben Hunger.” Dann faben fie das
Beeldefen und griiften fie. „Ach guten Tag,
Filemiene, wie geht's; fommft auch mal ber
'n bißchen helfen?“
Und ohne eine Antwort
abzuwarten, ging der Kutſcher an den Schrank,
in dem die Flaſche Portwein ſtand, und
ſchenkte fid) hintereinander zwei grope Glas |
poll cin.
„Oho, oho! Biſt wohl nicht recht gefdeit!”
rief Die Köchin ihm drobend gu.
„Was, follen wir nidt mal 'n Glasden |
binter die Binde gießen!“ ſcherzte er, und die
Flaſche bem Diener gebend, der feinem Beiſpiel
folgte, lief er gur Rodin, ſchlug feinen Arm
um ihre Hüfte und gab ibr einen fdallenden
Rub.
Dod wütend ſtieß fie ihn fort, rig mit
Gewalt dem Diener die Flafche aus der Hand |
Abwaſchtiſch in der ſchönen, grofen Nebenküche
und verſchloß fie im Schrank.
„Wenn ihr nicht verntinftig feid, befommt |
ihr gar nichts, das merft eud! Und nun holla,
fest euch, wir wollen efjen. Berdammt! .. .
muff ic erſt wieder nad den Mädels oben
flingeln! Holla! Franz, klingel' mal! Nie find
fie aur Beit da, die Faullenger!”
Beeldelen blidte ſcheu aus ängſtlichen, er:
febrodenen Mugen. Wie fonnten fie es wagen,
fo laut und refpeftlos zu reden in diefem
ſtolzen Schloß, wo ihr alles fo getwaltig im: |
ponierte! Und plötzlich dachte fie mit tiefer
Trauer an ibren feligen Mann, der ja auc
fein ganged Leben lang folde tice Ehrfurcht
por bem Schloſſe gebabt hatte wie fie.
Die Madden famen herunter und festen
fid an den Tiſch.
nod mebr betroffen von dem groben Geſprächs—
ton und all dem Häßlichen, dag fie miteinander
redeten. Die Köchin war bejonders boshaft,
ſpit und fcbarf gegen das blonde Hausmadden,
welches Beeldefen am Worgen gerufen batte,
und bem der Kutſcher augenſcheinlich ben Hof
machte. Uber vollends entſetzt war fie, als
die Leute über thre Herrſchaft und deren afte
ſprachen. Sie ward dunlelrot vor Schrech,
lonnte nicht weiter eſſen, fo gut es auch ſchmeckte
Und nun war Beeldelen
Die Gartnerdfrau,
und ſah fortwährend angftvoll nad der Tür,
als ob fie jeden Augenblick fürchtete, den Herm
Baron oder bie gnadige Frau Baronin in
bellem Zorn auf der Schwelle erſcheinen ju
feben. Die andern bemerften ibre Angſt und
lachten fie aug.
„Du bift wobl bange, was?” fragte der
Kutſcher.
„Ich hab' ſolche Angſt, daß der Herr oder
die gnädige Frau kommen kann,“ antwortete ſie.
Da brachen ſie alle in ein ſchallendes
Lachen aus.
„Ach, das möcht' ich mal erleben,“ rief die
Köchin, die Fäuſte in die Hüften ſtützend.
„Die gnädige Frau fommt nie in die
Küche,“ erflarte das blonde Madden dem
Beeldeken.
Aber dieſe war nicht zu beruhigen; ſie
fonnte es nicht begreifen, dah eine gnädige
Frau nie in ihre Küche kommen ſollte. — Ws
ſie «mit bem Eſſen fertig waren, ftanden fie
auf und gingen alle wieder an ihre Urbeit;
aud Beeldefen wurde gleich ihr Was am
angetviefen,
Bald rief die Glode gum Diner der Herr=
fchaften, und nun begann in der Küche ein
wüſter Larm; Teller und Gläſer flirrten, bajtige
Schritte famen und gingen, Flajden wurden
puffend entforft; Madchen und Diener lachten
und fcberjten, immer mit gewagten Anfpiclungen
auf die Herrſchaften, und dazwiſchen Hang ab
und ju ein beiferer Ruf oder ein furjer, derber
Fluch der Köchin. Beeldefen ftand zitternd an
ibrem Abwaſchlaſten, ibre Wangen glitbten von
bem Glisden Wein, das fie getrunfen hatte,
und von bem beigen Wafjerdampf, der fie wie
ein Nebel umhüllte. Sie war fo aufgeregt,
jo erfcbroden und entſetzt, dak fie bem Weinen
nabe tar.
» Die Sorte fann efjen, was? Ich wunder'
mid) blof, daß fie nicht platen!” rief die
Köchin, als ſie ihr wieder cinen Haufen Geſchirt
zum Abwaſchen bradte. Und plötzlich zog fie
Beeldeken am Ärmel:
„Komm mit, mußt dic mal bie Bande
anfeben; fie ſitzen balb nadt am Tiſch!“
„Ach, wo denfit Du bin, Das tag’ ich nicht,
bas wag’ id nicht!” eiferte Beeldefen da:
gegen.
Die Gartnerdfrau.
„Ja, ja; fomm nur mit, form, kannſt fie
feben, obne dag ſie's merfen.” Und mit
Gewalt fajt gog fie fie mit fid) fort durch
einen breiten, weif marmornen Gang nad
bem grofen, marmornen Beftibul voll Blumen
und Blatipflangen, von wo fie unbemerft durd
eine Glastiir in den Eßſaal ſehen fonnten.
Sih ganz flein madend, ſah das gitternde
Beeldefen in dem pradtigen, hohen, großen
Raum die langen, [ebhaft ſchwatzenden, bunten
Reiben der Gajte an den märchenhaft gefdmiidten
Tiſchen fiten; die Herren alle im ſchwarzen
Frag mit weißer Binde, die Damen von
Juwelen ftrablend, die blonden oder dunfeln,
kunſtvoll frifierten Köpfe mit Blumen geſchmückt
— aber nadt, nadt, nadt, die größere Halfte
des Oberfirpers nadt, mit bloßem Hals und
blofen Armen, mit bloßen Schultern und
blopem Rücken, alled nat, leudtend nadi, als
bitten fie auf halbem Wege aufgehört fid
anzukleiden.
„Ach Herr Jeſus, Herr Jeſus! Die haben
ja fein Hemd an!” rief Beeldefen, und ſchlug
entfest die Hinde gufammen. Und plötlich
rannte fie fort, vor Aufregung beftig ſchluchzend,
wabrend die Rodin in lautes Laden ausbrach.
Cie hatte feine Ehrfurdht mehr vor dem
Schloſſe. Nun fie endlich wußte, twas da
binter ben ſtolzen Mauern und Türmen
geſchah, empfand fie cine furchthare Enttäuſchung
gemiſcht mit einem Gefiibl bitteren Verdruſſes
und Bebdauerns, dap fie das alles nicht diel
fritber gewußt babe. O, wenn fie nun bedadte, |
der Hirten müde geworden und hatte andere
daß barum ihr geliebter Mann geftorben war,
geftorben, teil er fiir diefe ſchamlos nadten
Frauen und dieje aufgedunfenen diden Dinner
ſich fiber feine Kräfte gequalt und geplagt
bat; wenn fie daran dachte, daß man darum
ibr ibre gelicbten Kinder genommen, fie aus
ihrem Hauſe vertrieben hatte — dann fiiblte
fie, wie graufam, wie bart und ungeredt das
alles war. Gie waren die Dpfer ihrer Chr-
lichfeit und Ergebenheit geworden, fie waren
unverdient geftraft tworbden fiir all ibre Giite
und Bravbeit, während dic Diener, Knechte
und Mägde bier, die ihre Herrſchaft hinter
ibrem Rücken verfpotteten, beleidigten und
beftablen, in Wobhljtand und Überfluß im
Schloſſe leben durſten. Die haben niemals
Refpeft vor dem Schloſſe gebabt, die beherridten
279
| e8 durch ibren Haß und ihre heimliche
Verachtung, durch ihre beſtändige verftedte
Feindſeligkeit. Und das arme, ſchwache Beel-
defen beneidete ihren verwegenen Spott, obne
daß fie es wagte, es ihnen nachzumachen.
Denn obgleich ihre Ehrfurcht geſchwunden war,
konnte fie ſich dod) von jener unbeſtimmten
Furcht nicht frei machen, daß das mächtige
Schloß ihr noch viel Kummer und Leid bringen
könne.
* *
*
Bafielfen war wie gewöhnlich mit feinen
Kühen auj die Weide gegangen. Es war nun
| vollends Sommer geworden, alles griinte und
bliibte in voller Pracht; die Vogel jubilierten
in den Baumen; buntfarbige Sdmetterlinge
idwebten über ſüß duftenden Blumen; wie
die Wellen eines twogenden Meeres neigten
fic) die ſchwanken Halme unter der Lajt der
goldenen, ſchwer gefüllten Ahren, und das
iippige Laub des dichten, tiefen Waldes fpendete
Schatten und Schutz gegen die Glut der
Sonne, Wie fchin das alles war, twie frifh
und erquidend! Langſam und twoblgemut
ſchlenderte Bafielfen neben feinen Kühen einber;
cr hatte bas ſchmutzig graue Hemdchen auf
ber Bruſt offen gelaſſen; die fajt weifblonden
Haare und bas braun gebrannte Geficht
ſchützte keine Miike, die blofen Füße fein
Schuh. Dod belle Lebensfreude blitzte aus
feinen Mugen, und in luftigen Tönen ſchmetterte
er fie in bie Welt binaus. Er twar des „Alahoe!“
Klänge gefunden: den liebliden Gefang der
Lerche abinte er nach, das Girren der Tauben,
das Krähen des Habnes, das Schleifen der
Senje, das Bellen des Hundes. Das lebtere
amiifierte ihn ganz befonders, denn fein Bellen
pflegte regelmäßig von einem Hunde beantivortet
ju werden, den er dann ftets bald binter den
Zweigen der Erlengebüſche gewahrte. Es war
Picky, eines der Hündchen vom Schloß, ein
rot und weiß gefleckter Terrier, der auch heute
wieder mit Mademoiſelle Iſabelle, dem zarten
Enkelkind des Barons, und deſſen Gouvernante
ſpazieren ging.
Da dachte ſich Baſiellen einen Spaß aus.
Als er ſie am Wieſenrand hinter den Erlen
ſich nähern ſah, kauerte er ſich ſchnell, vorſichtig
280
und ftill unter die herabhängenden Zweige,
und in dem Moment, als das Kind mit dem
Fräulein und dem Hund vorbeifam, fprang
er plötzlich bellend und wie ein Hund auf
allen Wieren [aujend bervor. Das Rind und
die Gouvernante fubren erſchrocken zur Seite,
wibrend Picy mit wiitendem Gellaff auf ibn
losfdnaubte. Das Eleine Madden aber floh
wie befefjen, beulend und febreiend, als babe
man einen Mordanſchlag gegen fie verübt, nad
dem Schloß zurück, gefolgt von der Gouvernante,
die fic) vergebens bemithte, es eingubolen.
Der Terrier lief ihnen nad, und ftarr vor
Angft, Tranen in den Augen, ftand Bafielfen
allein auf der Wiefe bei den Kühen, die
rubig weiter graften und faum einmal auf:
qeblidt batten...
Beeldefen war auf ibrem Stiidden Ader
‘bei der Urbeit, als fie, mechaniſch aufſchauend,
den Baron auf fic) gufommen fab. Cin
inftinftiver Schreck bemadtigte fich ihrer, denn
er fam niemals bierber; und als fie mit bem
ſchüchternen, fliichtigen Blid, den fie auf ibn
qu werfen gewagt batte, bemerfte, wie rot und
wütend er ausfab, war fie vollends betroffen.
Er ging fo ſchnell, wie es fein ſchwerfälliger,
fteifer Körper erlaubte, bei jedem Schritt den
jtiigenden Stod in die Erbe ftemmend, und
während das entſetzte Beeldefen fic nod
fragte, ob fie es wirflid) tar, die er in feinem
Sorn fuchte, birte fie plötzlich feine raube
Stimme:
, oe, fomm mal ber, du!’ und unbeweglid
ftand er auf dem Grasweg, fie gebieterifd mit
feinem Stod berbeiwinfend.
Sie fprang empor, fcbiittelte haſtig die
feudte Erde von den Händen und Kleidern
und lief mit glutrotem Geficht zu ihm bin.
„Was wiinfden der Herr Baron?“
„Du baft die Wabl!” ſchrie er, zitternd
por Wut, „entweder fcidjt du augenblidlid |
deinen rüden Bengel fort, oder du gebjt |
ſelbſt!“
Alle Farbe war aus ihren hageren Wangen
gewichen, mit ſtumpfem, ſtarrem Blick, vor
Schreden keines Wortes mächtig, ſtand fie wie
angewurzelt da.
„Dieſe Range; dieſe abſcheuliche, gemeine
Range! Er hat Mademoiſelle Iſabella beinahe
i
Die Garinersfrau.
bir Beit, ihn fortgubringen. Haft du mid
verftanden? Wenn er innerhalb dieſer zwei
Stunden nidt guttwillig weg ift, jage ih did
felbft fort!”
„Es ift gut, Herr Baron, ic twerde ibn
-wegbringen,” anttwortete Beeldefen medanifd,
mit faſt unborbarer Ctimme. Ihr ganjer,
armfeliger Körper bebte, dide Tränen ftanden
ibr in den Augen. „Aber twas hat er denn
getan, Herr Baron, id fann mir nicht denfen,
was da gefdeben fein muß ...“
„Er bat Mademoifelle Iſabella erſchreckt,
ſage ich dir ja, hat ſich hinter dem Erlengebüſch
verftedt und iſt dann plötzlich, bellend wie
ein Hund, vorgeſprungen, als ſie mit der
Gouvernante ganz nah bei ihm war. Das
Kind hat vor Schreck faſt den Verſtand verloren;
wir fürchteten, daß es uns in Krämpfe
fiele. Ach dieſer Schlingel, dieſer verdammte
Schlingel! Es iſt ſein Glück, daß er mir
nicht unter die Finger gekommen iſt, ich hätte
ihn mit meinem Stock zu ſchanden gehauen!“
„Ach Herr Jeſus, Herr Jeſus, was ſind
das für Sachen!“ jammerte Beeldeken, die
Hände ringend, während der Baron ſich drohend
umſah, als wolle er den Schuldigen entdecken.
Dann wiederholte er noch einmal ſeinen
unwiderruflichen Befehl:
„Innerhalb zwei Stunden iſt er fort, oder
du gehſt ſelbſt,“ und ohne Gruß ging er ins
Schloß zurück. Seine hagern Beine zitterten
von der übermächtigen Anſtrengung, die
Schultern hatte er ſteif emporgezogen, der dicke
Hals leuchtete dunkelrot unter dem Rande
des gelben Strohhuts.
Beeldefen aber ſtand nod immer auf
derfelben Stelle, alg wäre fie ihrer Cinne
nicht mächtig. Endlich verſchwand fie, medanifd
vorwärts fdreitend, auf dem Wege nad der
Meierei, um nun auc ibren lesten Troft, ihren
eingigen, geliebten Jungen fortzugeben. Sie
fiirctete, dap es bewegte Szenen geben
finnte, fiirdtete fid) beſonders vor ibrer eigenen
Schwäche und Riibrung und beſchloß, mit
Aujbietung ibrer ganjen Cnergie ihm die
Wahrheit vorjuenthalten und ibm feine Vorwürfe
ju maden.
„Baſielken“ fpradh fie, alg das Rind mit
ben Kühen nad dem Meierhof juriidfam, „du
yu Lode erjdredt! Zwei Stunden gebe id | jolljt nod heute Nachmittag mit mir nad
*8
Die Gartnersfrau.
Vameloare gehen, mal Reinildefe guten Tag
fagen.”
Der Ernft der Lage hatte ihr pliglid |
einen mutigen, tapferen Entſchluß eingegeben.
Fort mute er, bagegen war nicdts yu tun;
felbft weggeben fonnte fie nidjt, das ftand
für fie gleid) mit betteln geben. Cie wollte
ibn aljfo yu ihrem Bruder bringen, wo ja
aud ſchon ibre älteſte Todjter war; inftandig
wollte fie ibn bitten, daß er aud nod
Bafielfen ju fic) nehmen modte, und ware es
aud nur fiir ben Augenblick, bis man etwas
fiir ibn gefunden atte.
„Komm,“ fprad fie, den kleinen Burſchen
an bie Hand nebmend. Das fonjt fo muntere
Bafielfen war tie} niedergefhlagen und mit
dem Vorſchlag augenſcheinlich nicht einverftanden.
Dech ſie ging mit ihm zu dem Meier, der
ihre Bitte, ihn fiir den Nachmittag freizugeben,
fofort exfüllte. Abends, nad ibrer Riidfebr,
wollte fie dann dem Meier alles erzählen.
Sie zog ihrem Liebling die Conntagsfleider
an und nabm die Alltagsſachen in einem kleinen
Pafet unter den Arm, dod fo, dap fie ed
ihm foviel wie möglich verbarg, indem fie ibm
bie andere Hand reichte. Schweigend und
ſchnell gingen fie fiber frumme Canbdivege,
bald im Schatten hoher Pappeln, bald über
freie, fonnige Felder. Cie litten unter der
warmen Conne, nod mebr aber unter dem
unausgefprodencn Dru ibres ſchweren Gemiits. |
In ibrem Schweigen fag eine heimlide Angſt,
bie Beeldefen gewaltſam vorwarts zu treiben
fdien, fo daß der Eleine Rerl ab und zu
laufen mufte, um mit ibren baftigen Schritten
mitjufommen. Cr fiiblte febr wohl, dag er
diefen Weg nicht gum Vergniigen madte, dah
derjelbe in einem gebeimnisvollen Sujammen-
bang ftand mit feiner Miſſetat von heute früh;
inftinftiy empfand er es, je länger defto
driidender, wenn aud) feine Mutter fein Wort
davon erwähnte.
ber Mutter umflammert, wie in einem ftummen
Flehen um ibren Schub.
Beeldefen hielt fid) mit Anftrengung ibrer
ganzen Kraft mutig und ftarf. Dod als fie
bas Dorf erreidten, wurde fie pliglid von einer
madtigen Bewegung ergriffen; eine ungeſtüm
Gr fragte fie aud) nidt; |
aber in der bangen Borabnung, dak ibm cin |
Unbeil drohe, bielt er krampfhaft die Finger |
281
emporquellende Zärtlichleit fiir ihr liebes,
artiges Jungchen durchzuckte ihr Herz bei dem
Gedanken an die nahe bevorſtehende Trennung,
und zitternd drückte ſie ſein Händchen feſter.
Ach nein, ſie konnte ihn nicht hergeben, ſie
fonnte es nicht! Cie wollte Lieber betteln
geben, lieber im Elend flerben! Cin Schluchzen
ſchnürte ibr die Reble zuſammen, ihr Scbritt
wurde unjider und ſchwankend, und fdon
madte fie eine Bewegung, als wollte fie
umfebren, flieben mit ihrem Kinde, als plötzlich
dict binter ibrem Riiden eine Tür aujgeriffen
wurde, und eine fdrille Stimme rief:
„He, Filemiene . . . wo fommt ihr denn
heee
Sie wandte ſich erſchrocken um und erkannte
ihren Bruder, der, hier im Hauſe arbeitend, ſie
vom Fenſter aus geſehen hatte. Da fühlte
ſie plötzlich eine Schwäche im ganzen Körper
und hatte nicht den Mut umzukehren.
„Ach, du biſt's,“ ſagte ſie mechaniſch, und
zunächſt den Zweck ihres Beſuches verbergend,
fügte ſie hinzu: „wir wollten mal ſehen, wie's
Reinildele geht.“
„O gut, ſehr gut, ſie iſt hier ſehr zufrieden,“
prahlte der Bruder, „und wie ſteht's mit dem
Burſchen hier?“ lachte er, Baſielken unter das
Kinn faſſend. „Wartet 'n bißchen, id geh'
mit euch.“
Er ging ſchnell zurück in das Haus, gab
den Geſellen, die nun allein weiter arbeiten
ſollten, einige Anweiſungen, fam gleich wieder
und brachte die beiden unter eifrigem Schwatzen
in ſeine Wohnung. Als ſie eintraten, ſahen
fie Reinildefe, hinter dem Ladentiſch ſtehend,
mit einem Käufer verhandeln.
„Ach Herr Jeſus, Mutter und Baſiellken!
Wie kommt ihr hierher!“ rief das Mädchen
und wurde dunkelrot.
Und gleich kam auch die Schwägerin aus
der Küche herzu, vor Überraſchung die Hände
zuſammenſchlagend.
„Filemiene und der Jung'! Seid ihr auch
mal da? Kommt rein und ſetzt euch, ihr müßt
Kaffee trinken.“
Sie führte fie cin paar Stufen hinunter
in die dunkle Küche neben dem Laden und
begann nun eifrig umberjulaufen, das Feuer
anfadend, Butterftullen ſchneidend, Kaffee
_mablend, und dabei beftindig ſchwatzend und
bers Die Gartnersfrau.
jaar, wobrend ihr Mann mit jufriedenem
‘ofien aot bebaglidem Schnalzen feine Pfeife
Und fie muften Saffee trinfen,
netitaeid fie fein Vergniigen daran batten,
Aaueſten blieb bas Brot in ber Keble fteden,
mn Seelelen befam trog alles Bittens von
‘Neuter und Schwägerin nidt einen Biffen,
me einmal ein Stückchen Kuchen binunter,
set fle Gberlegte fortivdbrend, ob und wie fie
te (etud) anbringen follte.
M6 und gu fam aud Reinildefe herein,
ater immer nur auf einen Augenblick, obne
cabrg mit ihrer Mutter reden ju können, denn
mimter twieder ging die Rlingel der Ladentiir.
Huh die Söhne de8 Haujes famen, zwei
plumpe, grobe, fünfzehnjährige Burfden, die
mrt ihrem ſchwarzen Haar, der gelben Gefidts-
PSL ikeiAees
farbe, dem grofen, gewöhnlichen Mund und —
ten häßlichen Augen beide der Mutter febr |
abhnlich waren. Nach Art der Schreiner trugen
fie grauleinene Sittel und Schürzen. Plump
ladend griiften fie Tante und Better und
fingen dann gleid) an, unmäßig zu effen; obne
ein Wort gu reden, ftopiten fie fich ununter-
broden gewaltige Stiiden Brot in den Mund
und tranfen baju Laut fcbliirfend den beigen
Raffee aus riefenhaften Töpfen. Qn ſtolzem
Woblgefallen lächelnd fahen die Eltern ibnen
ju und freuten fic) ibrer Stärke und Tüchtig—
Feit, Als fie mit ihrer reichlichen Mahlzeit
fertig twaren, klopfte ber Ohm Bafielfen ladend
auf die Schulter und fagte, er folle mal mit |
wohl, daß ihnen daran lag, ihre Todter ju
jeinen Jungens in die Berfftatt geben und
jeben, was fie ba machten. Wber Bafielfen
fiirebtete fich und flammerte ſich twieder an die
Hand der Mutter, die er eben erſt losgelaſſen
batte.
» kein, nein. . . nicht allein . . . ich Hab’
Angſt, Mutter muß mitgeben . . .”
Der Ohm und die Sungen lachten ibn aus.
„Was, Angft in die Werfftatt gu geben?
Haba, ijt das 'n Küken!“ und fie wollten ibn
gewaltſam mit fortzieben. Aber der Kleine
begann ju weinen, und felbft feine Mutter
fonnte ibn nicht bewegen, mit den beiden
Burfdien allein gu geben. Erſt als er fab,
dah fie ihnen folgte, lich er fic) dazu über—
reden, und aud dann nod twiderjtrebend.
Sn der Werkftatt ein paar Sebritte binter
den Jungen zuriidbleibend, fammelte Beeldefen |
| Weigerung cin wenig zu mildern.
endlid) ibren ganjen Dut, um ben twabren
Bwed ihres Beſuches zur Sprade zu
bringen.
„Ach, birt mal, Siez und Urzula, ih muß
euch ſchnell etwas ſagen, da wir gerade allein
ſind,“ und mit ängſtlichem, dumpfem, gehetztem
Ton erzählte ſie von dem traurigen Vorfall.
„Sakerlot, Salerlot,“ fiel ihr ber Bruder
ein paarmal ins Wort, bedenklich den Kopf
ſchüttelnd, „und was willſt du nun mit ihm
tun?“ fragte er, als ſie ihre Erzählung be—
endet hatte.
„Ach, ich hab' gedacht, daß ihr ihn vielleicht
für ein Weilchen nehmen könnt,“ antwortete
ſie demütig und erſtickte einen Seufzer.
Da kraute ſich der Mann heftig den Kopf
und verzog das Geſicht, während die Frau
erſchrocken ausrief:
„Ach du meine Güte!“
„'s iſt nicht möglich, nicht möglich, wir
haben keinen Platz,“ ſagte er endlich, „unſer
Häuschen iſt gu llein, jeder Winkel ſchon be—
fest.”
„Ich fann ja Reinildefe wieder mitnebmen, “
wart das jitternde Beeldefen ſchüchtern cin.
Aber heftig wiefen die beiden Cheleute diefen
Rorfdlag ab.
„Ach, two denlſt du bin, fie ift bier fo gut
aufgehboben und fo jufrieden, und fie lernt bier
bas Geſchäft. Später fann fie fic) vielleidt
felbjt mal ‘nen Laden aufmachen.“
Und plötzlich begriff die arme Frau febr
behalten, tweil fie Rugen von ibr batten, und
nicht Bafielfen, der ihnen mehr Lajt als Hilfe
fein würde.
„Geh' doch mal gu Mie-Threſe, die bat
Plag vie Menge,” meinte der Bruder. Und
ba ibr feine Wahl mehr blieb, beſchloß fie,
feinen Rat yu befolgen und den Jungen nad
int: Maria=-Arpoela zu bringen, wo die
Schweſter ihres feligen Mannes wobnte.
Sie ging mit Baſielken in die Küche zurück,
wo Bruder und Schwägerin ihr mit viel
Freundlichkeit nochmals Trank und Speiſe auf—
zudrängen ſuchten, um fo ihre hartherzige
Doch ſie
lehnte alles ab, und nach kurzem, baftigen
Abſchied von Reinildefe, die wieder mit Kaufern
im Laden ſtand, gingen fie fort.
Die Gartnersfrau.
Die Sonne ftand bod am Himmel und
brannte heiß auf fie bernieder, wabrend fie
zwiſchen baumlofen, wallenden Rornfeldern
babinfebritten, Dod) das maleriſche Dörfchen,
dad fie bald erreichten, [ag im lühlen Schatten;
und gleid) am Gingang dedfelben, an einer
RKriimmung des Wegs, ftand Mie = Threfens
Haus. Es gewährte einen gar freundliden
Anblid mit feinen weißgetünchten Mauern,
den altertiimlicben, gemalten Blumen lings
des Giebels, den griinen Fenfterladen, dem
grellroten Ziegeldach und den ſchaltigen vier
283
„Ach bu lieber Gott, foll id ihn denn
gleid) fo unter fremde Menfchen geben!” ſeufzte
Beeldefen unter Tranen.
„Was willft du anders machen?” antivortete
MiesThrefe. „Ich habe fiir did) getan, was
ih fonnte, als ich Leontientje yu mir nabm;
aber Mannsvolf fann id hier wicht gebrauden,
fag’ id) dir. Alſo ſchnell, fomm mit, daß twir
ibn nod) treffen.“
alten, pradjtigen Linden ju beiden Seiten der |
bogenfirmigen fleinen Tür.
ftanden weit offen, und ſchon vom Wege aus
fab die Mutter ihr Leontientje, die mit
bodroten Wangen an dem leuchtend tweifen
Plattifd mitten in dem bellen Zimmer fteben.
Der ganje Naum war angejiillt mit blendend
weifer Wajde, die tiberall umberbing und -lag,
und auf welche die leiſe ſich wiegenden Linden:
blatter in fraujen, grünen Licht: und Schatten:
ſpielen wunderlide Spitzenmuſter zu werfen
ſchienen.
Als ſie ſich dem offenen Fenſter näherten,
ſah Leontientje auf, und mit einem Freuden—
Die Fenſter
Und fie zog Beeldelen mit ſich hinter das
Haus durch einen Heinen Garten, deſſen Tür
auf das Wirtshaus bhinausfiibrte. Bafielfen
hatte, während er mit der Schweſter vor der
Tiir fpielte, ihr ſchnelles Verſchwinden nicht
| bemerft. Die arme Mlutter aber erfannte aud
ſchrei feste fie ihr WMatteifen nieder und fam |
berausgeflogen. Aud Tante Mie-Threfe war
fofort ba, mit einem großen runden Kaffeetopf
fam fie aus dem Hinterbaufe, und aud) fie
war freudig überraſcht, fie da fo unertwartet ju
feben. Bafielfen, jest viel weniger ängſtlich
und mißtrauiſch, ließ ſich von der fröhlichen,
lachenden Schweſter mit nach draußen unter
bie duftenden Linden führen, und Beelbefen
nabm baftig die Gelegenheit wabr, nun aud
ibrer Schwägerin die traurige Tatface gu
erzählen.
„Mannsleute kann ich hier nicht gebrauchen,
das iſt unmöglich, er würde uns unſere Wäſche
verſchmutzen,“ antivortete Mie⸗Threſe mit be—
dächtigem Kopfſchütteln und einem ſehr be—
ſtimmten Ausdruck in den großen, blauen
Augen. „Aber ich weiß zufällig einen guten
Poſten für ihn; der Bauer Walle, für den wir
alles waſchen und plätten, ſucht einen Kubhirten.
Vor noch nicht zehn Minuten war er hier im
hier, wie zuvor bei dem Bruder, daß man
Leontientje gern behielt, um ſie auszunützen,
daß man fic aber hütete, ibren fleinen Jungen
ju nebmen, der nod zu nichts zu gebrauden war.
„Er ijt nod da, ich hör' ibn ſchon,“ fagte
Mies Threfe, als fie fidh dem Wirtshaus
niberten. Durd eine Hintertiir und cinen
ſchmalen Gang gelangten fie ind Gajtgimmer;
gleih beim Gintreten ſah Beeldefen einen
Mann, cine WArt Riefen mit blauem Kittel und
langer Peitide am Schanltiſch fteben, in
larmendem Gefprad mit einer Frau, die ihn
bediente. Als die beiden Frauen näher traten,
brebte er fich um und fam ladend auf fie ju,
cin tropfendes Glas Jenever in der Hand.
Beeldefen fubr faft erſchrocken zurück vor diefem
grofen, diden Mann mit bem roten Gefidt,
den wäſſerigen Glogaugen und dem fabbernden
Tabalsmund.
„Haha, lommſt auch'n Gläschen trinlen?“
ſchrie er Mie-Threſe entgegen. „Womit kann
id did) traltieren?“
„Ich komm' dir'n Rubbirt bringen,” rief
fie laut, als fpradje fie mit cinem Tauben.
„Wen denn, bas Frauden da?“ lachte
der Bauer, auf Beeldelen zeigend.
„Ihren Sobn.”
„Was?“ fragte er, feine bide, blaurote
; Hand tridterjormig ans Obr legend.
„Ihren Sobn, fag’ ich,” ſchrie Mie: Threfe.
„Ach fo! ... ift er aud fein Dieb?”
fragte er nun plötzlich ernſt, mit wichtiger
Haus, und es foll mic wundern, tenn er | Miene.
nidt nod binten im Fuchs ſitzt.
mit, wir wollen felbft nadjeben.”
Romn’
|
„Biſt wobl nidt Mug! Er ijt ber Sobn
meiner Schwagerin,” rief Mie: Threfe entriifter.
284
Und fie erflarte dem entfegten Beeldefen
ſchnell, daß der vorige Hirt wegen Diebftabls
weggeſchickt worden war.
„Na, denn iſt's gut, er foll kommen,“
beſchloß der Bauer.
„Willſt ibn feben? er ijt bier,” fragte
Mie-Threfe.
Beeldefen jitterte am ganzen Körper und
warf ein, daß ibr Junge nod gar nichts davon
verſtände. Dod) darum fiimmerte fic der
Bauer abjolut nicht. Der Junge follte nur
am nidften Morgen fommen, dann würde er
ibn ja feben. Gr leerte fein Glas und beftellte
nod eins.
Frauen, fie mußten aud cin Gläschen annebmen,
Unis oder Pfeffermünz, wie es ihnen beliebte,
um auf gegenfeitige Geſundheit zu trinfen.
Darauf ließ er fie geben.
„Ach, ſag's ibm nod) nicht, wart? nod
ein bifeben, nachher will ich's ihm felbft
fagen,” flebte Beeldefen, während fie durd
das Gärtchen wieder zurück gingen.
„Aber er mug es doch wiſſen,“ meinte
Mie⸗Threſe.
„Ja,“ ſeufzte Beeldeken, „aber nicht jetzt
gleich, und laß mich's ſagen. Ach Gott,
ach Gott, er wird ſich totweinen, wenn er's
hört.“
Sie gingen wieder ins Haus, in das
freundliche weiße Zimmer, wo die Kinder ſchon
auf fie warteten. Leontientje plättete; Bafielfen
aber war wieder argwöhniſch geworden und
ſchaute mit ängſtlichen Blicken nach der offenen
Hintertür. Als er ſeine Mutter ſah, lief er
auf ſie zu und ergriff ihre Hand.
ſich und mußten wieder Kaffee trinken, obgleich
Beeldeken verſicherte, daß ſie den bereits bei
ihrem Bruder bekommen hätten.
wieder nichts eſſen, ihre Kehle war
zugeſchnürt von trauriger Bewegung.
wie
Der
Kleine aber, müde und hungrig, hieb ordentlich
in die dicken Butterſtullen ein, die auf einer
Ecke des weißen Tiſches inmitten der vier
großen Kaffeetöpfe aufgehäuft waren. Doch
Mutters Hand ließ er nicht los, und während
fie über allerlei ſprachen, merfte Beeldelen
plötzlich, daß ihr Junge auf ſeinem Stuhl
eingeſchlafen war. Ach, das war ein Ausweg!
Sie machte ihrer Schwägerin ein Zeichen und
flüſterte:
⸗ *
Dann drang er in die beiden
Dic Gärtnersfrau.
„Er ſchläft. Willſt du ihn bis morgen
hier behalten? Ich werde jetzt nach Hauſe
gehen.“
Mie-Threſe machte erſt cine Bewegung,
als wollte ſie es ablehnen.
„Ach bitte, bitte, tu's doch,“ flehte Beel—
defen ſchluchzend, „behalt ibn nur die eine
eingige Nacht, und bring’ ihn morgen jum
Bauern, Das ift alles, um was id did
bitte.“
Da nidte Mie-Threſe bejabend. Leontientje,
bie von dem ganjen Borfall nichts abnte,
machte groge, erftaunte Mugen. Langfam jog
Beeldefen ihre Hand zurück, aber er erwachte
halb und bielt ihren Beigefinger noc in der
Heinen gejdlofjenen Fauſt. Cie blieben alle
dabei totenftill, mit ftarr auf ibn geridteten
PBliden. Cein Köpfchen fiel feitwarts auf die
‘linfe Scbulter, ber Mund öffnete ſich balb; er
ſchlief wieder rubig. Cin Wagen fubr rajfelnd
porbei, dod) er erwachte nidt. Da twand
Beeldefen fangfam ihren Finger aus feiner
Fauſt, die balb geöffnet aufs Knie zurückfiel.
Sie ſtand auf und ſchritt leiſe hinaus, den
traurigen Blick auf ihr Rind gerichtet. Unbeweg-
Sie fegten |
Sie fonnte |
4
lid) bliecben Mie-Threſe und Lcontientje ſitzen.
„Auf ſpäter, und ſchreib' mir bald, tie
alles abgelaufen ijt,” fliifterte Beeldefen mit
unterdriidtem Schluchzen.
Mie-Threfe nidte gelafjen; Leontientje aber
wurde dunfelrot, und dide Tranen famen ibr
in die Mugen, die fonft ftets jo heiter und
jonnenflar twaren.
„Scht!“ mabnte fireng die Dante, und
bas Madden beherrſchte fid) mit aller Willens-
fraft.
Das arme Beeldefen ftand an der Tiir;
aud thr bageres Geficht war feuerrot geworden,
und die ftumpfen, traurigen Mugen twaren mit
Tränen gefüllt. Noch einmal fab fie ibn an,
wie er bewegungslos ſchräg auf feinem Stuhl
jaf, während die grünlichen, gitternden Schatten
der Lindenblatter auf feinem Geſichtchen
fpielten; und plötzlich durchzuckte fie die
Vorjtelung, dak ihr Rind tot fei, und dak
all died blendende Weiß, das ibn wie ein
Leichentuch umgab, ibn bald gang verbiillen
würde.
Sie biß ſich auf die Lippen, daß ſie
bluteten und lief hinaus. Ein letztes Mal
Die GirtnerSfrau,
nod fab fie von draupen durd bas offene
Fenſter binein. Er hatte ſich nicht geriibrt,
feft und rubig fcblief er.
ibn ftil an, den Seigefinger
gefdlofjenen Mund, und Leontientjes liebes
Geficht war in ftille Tranen gebadet. Dann
winfte fie mit der Hand cin letztes Lebewohl
und floh ...
* *
*
Es war fpat, als fie wieder in dad Schloß
guriid fam; ſcharf und düſter boben fic die
boben Tiirme und die ſchweren Baumfronen
pon dem dunfeln Horizont ab, der im Weſten
nod rötlich leuchtete.
Was nun? Wohin nun? Ihr einfames
Häuschen flößte ihr jest cin unfagbares Grauen
ein; fie ging binein, lief aber gleich wieder
ing Freie, als jage fie eine fremde Gewalt
hinaus . . .
Es war Nacht geworden, eine berrliche,
ſtill feierlide, fare Commernadt. Die
Nachtigallen fangen ihre ſüßen febnenden
Weifen, träumeriſch jirpten die Grillen im
Grafe, und bod fiber den dunfeln Waldern
ftand am funfelnden Sternenbimmel die ftille
Mondficel in rötliches Licht getaudt, wie cin
in Blut getranftes Schwert.
D, wobin, wobin nun? Biellos twanderte
fie durd) die Dunfelheit, und plötzlich ftand
fie an der binteren Schloßmauer, wo Azalien
und Jasminbüſche betiubenden Duft aus:
ftrimten, Da ftand fie vor dem Feinde, der
ihr alles genommen hatte, ibren Wann, ibre
Kinder, ihren Wobljtand; da lag das mächtige
Ungebeuer, dad fie ihr ganged Leben lang fo
febr gefiirdtet hatte, diefer Riefe mit all den
Ruppeln und Tiirmen, und fie ftand daneben
Die Tante blidte |
auf dem |
|
groß und mächtig werden
in ihrer Nichtigleit, wie ein niederer Wurm,
ohnmächtig in ihrem Schmerz und ihrem Haß. fortſetzen würde ...
285
O, wie ſie ihn plötzlich anſchwellen, ihn
fühlte, dieſen
Haß, in ihrem kleinen, ſchwachen, un—
beholfenen Körper. Wie brauſte er in ihr
auf mit wildem, ſtürmiſchem Rachedurſt,
während ſie nun an ihr letztes, ſchweres Opfer
dachte, während ſie daran dachte, daß ſie nun
alles verloren hatte, weil da oben ein Mann
herrſchte, mächtiger als alles Recht und alle
Liebe, allmächtig wie ein grauſamer, unerbittlich
unbarmherziger Tyrann! Ein wildes Stöhnen
entrang ſich ihrer Bruſt, und machtlos hob ſie
die geballten ſchwachen Fäuſte gegen ihren
Feind empor. Ach, wenn ſie nur könnte,
wenn ſie nur könnte! Denn nun, wo
ſie alles, alles verloren hatte, war ihre
Furcht vor dem Schloſſe geſchwunden; nun
würde auch ſie wagen, es voll Verachtung
zu ſchmähen, es zu beleidigen und heraus zu
fordern, wie die Köchin, die Diener und der
Kutſcher eS taten. Aber die waren ftarf, und
fie war ſchwach; das Schloß fonnte ohne jene
nicht beſtehen, dod) fie war bier entbebrlicd;
von ihren Qaunen bing es ab, flein und
niedrig wurde es vor ibnen, dod fiir fie
blieb es der Rieje, auf fie, deren es nicht
bedurjte, fah es von feiner Höhe herab wie
auf ein nublojes Getwiirm, das im Ctaube
kriecht.
Und über ihre Ohnmacht ſeufzend, wandte
fie ſich ab; fie fühlte ſich plötzlich wieder fo
klein, fo ſchwach und clend, vollends erſchöpft
nad dem mächtig aufbraufenden Zorn. Nieder—
gedriidt und iibertounden ſchwankte fie zurück
nad ibrer verlafjenen, einſamen Hiitte am
Waldesrand, die fie ja wobl nod als cine
große, gnadige Wobltat ibres Herrn betradten
mußte, und in der fie morgen wieder — nun
ganz allein — den rauhen Kampf ums Leben
Wie epzicht das Haus fir das soziale heben?
Bon
Helene vou Foriter.
(2 a Raddrud verboten.
er im Reflerionsivinfel ftebt und mit beobadtenden Augen binausfdaut in
Vv das Weben und Wirken der Beit, alte Lebensformen zu neuen ſich umformen,
auf alten, zertrümmerten Anſchauungen neue ſich aufbauen und fic ausgeſtalten ſieht,
wer erkennt, wie viel Lebenskraft und Lebensenergie einzelner bei dieſer Ausgeſtaltung
Verwertung findet, der wird in ſich den kräftigen Anſtoß fühlen, den dieſe Beobachtungs—
weiſe ſeinem Tun und Handeln gibt. Richt als ein Untätiger wird er abſeits ſtehen
können, ſondern es als eine zwingende und heilige Notwendigkeit empfinden, hier, wo
alle Kräfte ſich regen, auch ſeine Kraft einzuſetzen, um bei der Fundamentarbeit für
dieſes Neue Mithelfender zu fein, und ware es aud nur, um ju dem Zukunftsausbau
ein Sandforn herbei zu tragen. Er wird mit Ernjt fic) fragen nach der Urt, wie feine
Arbeit von feinem Können ans zu leijten ijt, und er wird nach den Grundſätzen
forjden, nach denen fie geleijtet werden muß, foll fie iiberbaupt firdernd und frucht—
bringend fein.
Welches nun wären dieſe Grundſätze?
Von allen den Fragen, die gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts auf:
geworfen, erdrtert und ungelijt in dieſes Jahrhundert mit übernommen wurden, ift
die brennendjte und umfajjendfte, eine Frage, die heiß umftritten, nad) deren Löſungs—
möglichkeiten mit der größten Leidenfchaftlichfeit gejudt wurde, und die doch ihrer
Löſung am fernjten fteht, die große foziale Frage. Sie ijt jo ſtark in den Border:
qrund getreten, beberrfcbt fo ſehr alle Richtungen und alle Parteien, und die Gemiiter
jo vieler, die berufen und ſo vieler, die nicht berufen find, daß fie ſchon unferem
Sabrhundert Die Prägung gab und daß eS bereits in feinen Eritlingsjabren von
fiibrenden Geijtern als das foziale Jahrhundert von feinen Vorgdngern unterfebieden
wurde.
Die foziale Frage. Beititrimungen laufen in iby zuſammen, aus der Zeit
gebobene Denfiverte find in ibr lebendig. Aus ihr wird das Neue aufquellen, das
unter Der Sonne der Menſchenliebe blühen und grok werden foll; aus ihr beraus
werden die Grundfaige erivachjen, nad denen alle Arbeit yum Wohle der Gefamt:
menſchheit und yur Forderung jenes Neuen geleijtet wird. Und jeder an diefer Frage
unternommene Lifungsverjud wird das Herbeitragen eines Steinchens zur Feſtigung
Der zyklopiſchen Grundpfeiler bedeuten, die das Neue tragen ſollen. Wenn wir
an das Werden des Neuen, als an ein Umbilden, Umformen, an ein Unoverten alter
Anſchauungen denen, wenn wir nidt glauben, daß durch Zerſtören erreicht werden
fann, was pofitiven Unftrengungen verfagt bleibt, wenn wir auf Grund diefer
Wie erzieht bas Haus fiir das foaiale Leben? 287
Gedanfen uns fragen, wo mit jenen Löſungsverſuchen am ebejten eingufegen ware,
wird die Antwort lauten: anf dem Gebiet der Erziehung. Und wenn die Frau, dite
ibren Blick auf das Haus gerichtet Halt als auf einen Plas, den fie beherrſcht, eine
Wollende ijt, die es jene Verfuche yu machen drangt, fo wird ibr das Haus als die
Statte erſcheinen, auf der nad Löſungsmöglichkeiten in erjter Linie zu forſchen fet.
Damit wird fie über die Art ibrer Arbeit fich flav werden.
Nun ijt aber gerade, foweit man bei dem Auflegen fozialreformatorifder Plane
und bei der Erörterung fosialreformatorijder Gedanten auf die Erziehung juritdgriff,
der faute Ruf nad Verftaatlichung der ganzen Erziehung entitanden. Alſo nicht das
Haus ijt als der Play angeſehen worden, der den fruchtbaren Boden zur Pflangung
und Pflege neuer Ideenkeime abgeben finnte, fondern der Wunſch nach Lostrennung
des Zöglings von Haus und Familie it gréper und dringender geworden. Zu unter:
juchen, inwieweit dad Lautwerden dieſes Rufs durch hiſtoriſche und pplitiſche Zeit—
verhältniſſe bedingt ward, oder wie er bei Betrachtung trauriger Mißſtände geweckt
wurde, würde zu weit führen. Es hieße auch zu ſehr in Einzelheiten ſich verlieren,
wollten wir die Ausſprüche pädagogiſcher Autoritäten wie Wilhelm von Humboldt,
Schleiermacher, Herbart u. a. gegen die Staatserziehung ausführlich bier zitieren.
Nur die eine Tatſache möchten wir hervorheben, daß allein bei Anerkennung der
abſoluten Notwendigkeit einer Umgeſtaltung von außen nach innen von einer breiteren
Ausdehnung einer ſtaatlichen Erziehungsmacht das Heil erwartet werden kann. Wer
an eine Reformierungsarbeit von innen nach außen denkt, wird dieſe Macht eher
beſchränkt als ausgedehnt wiſſen wollen.
Bei der heutigen Geſtaltung des Staates und bei den Nutzwerten, die nod fiir
ibn in Betracht fommen, fann er nicht die Regijter fiir die Einzeltöne ziehen, aus
denen Die Klänge yu ſpäteren Harmonien fic) jujammenjegen werden. „Der Staat blict
nicht auf das Innere.“ „Er braucht Soldaten, Beamte und dergleichen“, fagt Herbart,
„und priift jeden auf feine Leijtungsfabigfeit. Der Schwachere tritt ifm vor dem
Starferen zurück; die Mängel des einen werden ihm durd) die Vorzüge des andern
erjebt.” Anders die Familie. Jn dem engen Kreis, den fie beberrfeht, bei dem Cinflug,
Dem fie Dem einen auf den andern ermöglicht, bei der Niidjichtnabme, die fie von dem
einen fiir den andern fordert, bet den Grenzbeſtimmungen, die fie treffen mug, damit
nicht das Recht des einen an dem Recht des andern fic ſtoße, muh eS fiir fie direkt
Selbjterbaltung bedeuten, wenn fie auf die Pflege der feinen Geſinnungen binvirft,
aus denen heraus ſich allein foziale Neformen geftalten können. Freilich bei einer
realiſtiſchen Auffaſſung diefer Selbjterhaltung werden nur die wirtſchaftlichen Nugwerte
in Betracht kommen, da3 Aufgreifen günſtiger Gelegenbeiten zur Erhöhung des
materiellen Bejiges, cin Streben, das in vielen Fallen geradezu ju einem Crftiden der
fozialen Empfindungen führen müßte. Es birgt in fic) die Lodung über alles Ver—
niinftige binauszugeben und großgezogen und unterſtützt durch erzieheriſche Maßnahmen
kann es auf die Beziehungen der Familienmitglieder untereinander verderblich und ver—
nichtend einwirken. Damit wird es für den Weſenskern der Familie nicht als ein
Wachstum förderndes ſondern viel eher als ein zerſtörendes Element angeſehen werden
müſſen. So tritt die idealiſtiſche Auffaſſung, dah fiir dieſen Weſenskern die Kräftigungs—
mittel auf ſittlichem Gebiet in erſter Linie zu ſuchen ſeien, in den Vordergrund.
* *
~
al
288 Wie erzieht bas Haus fiir dad foziale Leben?
Was heißt mun fozial erziehen? Es heißt im Cinjelnen ein feines Gerechtigkeits—
gefühl erweden, das die Grundlage zu ſpäterer fosialer Gejinnung bilden mug, es
heift ,unter der Sonnenwärme der Menfebenliebe den fozialen Geijt pflegen und yur
Erjtarfung bringen“. Dah bei dieſem Vorgehen in erjter Linie der fleinere Kreis der
Familie fic) yu dem größeren, den das Haus bedeutet, ertweitert, liegt in der Natur
der Sache. Inwieweit aber Fann cine nach diefen Prinzipien geleitete Erziehung des
Cinjelnen cine Erziebung fiir dad foziale Leben genannt werden? Hier wird wieder
die realijtijche Auffaſſung der idealiſtiſchen entgegeniteben.
Im Lichte der realiſtiſchen hieße fiir das foziale Leben erziehen, auf die dort fich
weitenden Tatigfeitsfelder nur als Eroberungsgebiete hinweiſen, geeignet, den Plas, den
der Einzelne bebaupten muß, durch Mehrbeſitz yu vergrößern. Es hieße auf die Sümpfe,
die in der breiten Offentlichkeit ſich dehnen, nur den Blick lenken, um auf die Gefahren,
die ſie bieten, aufmerkſam zu machen, es hieße auf die Grenzpfähle, hinter denen das
Recht anderer liegt, nur hinzeigen, ſo weit es die Klugheit gebietet, die da lehrt, daß
es für den Einzelnen günſtiger iſt, ſie im gegebenen Moment geſchickt zu über—
ſpringen.
Im Licht einer idealiſtiſchen Auffaſſung aber hieße es, die Tätigkeitsfelder
betrachten lehren mit dem Wunſch, auf ihnen mit Arbeit und Fleiß für die All—
gemeinheit den Boden zu verbeſſern, es hieße die Sümpfe zeigen, um die Kraft zu
erwecken, die es einzuſetzen gilt um ſie auszutrocknen, es hieße auf die Grenzpfähle,
die das Recht anderer ſchützen, deuten, damit der heranwachſende Menſch in ihnen
unüberſteigliche Schranken erkennen lernt.
Nur die idealiſtiſche Auffaſſung kann uns bier beſchäftigen, weil wir das „für
das ſoziale Leben Erziehen“ doch faſſen wollen als ein „zum Beſten des ſozialen
Lebens“ Erziehen. In wieweit kann nun die Einzelperſönlichkeit zum Beſten des
ſozialen Lebens, d. h. zur Förderung des Wohles der Geſamtheit beitragen? Nicht
nur in ſoweit fie Kenntniſſe und Fertigkeiten fiir die Kulturarbeit einfegen kann, ſondern
in erjter Yinie durch den fittlichen Wert, den dieſe Kenntniſſe und Fertigteiten durch
eine ideale und vornehme Geſinnung erbalten. Diejen fittlicden Wert yu aeben, ift
das Haus der gebotene Plog. Aus der Stellung der Hausgenoſſen zu einander, aus
dem Verhältnis ibrer Rechte zu ibren Pflichten, aus der wechſelſeitigen Auffaſſung der
von ibnen volljogenen Arbeit, fann fiir des Haujes jugendliche Mitglieder cine Fiille
yon Vorbildlichem und von Lebrreichem entnommen werden. Betracdtet man aus
ſozialpädagogiſchem Gefichtswinkel den Kreis der Erſcheinungen, die das Haus beherrſcht,
jo ergeben ſich eine Reibe von Forderungen, die fiir alle häusliche Crjiehungsarbeit
Die Richtung geben follten.
/ Wedt in den Rindern,” möchten wir allen zurufen, die in folcher Wrbeit fteben,
„das warme Gefühl fiir den Nächſten, lehrt fie Ernſt machen mit dem Grundfage der
Nächſtenliebe. Führt fie mitten binein in das Reich der Adeen der Zukunft, lapt fie
an dieſen großen deen und Plänen ſich begeiftern, und febeut nicht davor zurück,
daß dieſe Ideen Euch einmal unbequem werden, die geſellſchaftliche Stellung der
Familie gefährden, Stunden, die euer Kind vielleicht euch widmen würde, rauben
könnten, oder das Kind mitfortreißen werden auf Bahnen, da ihr ihm nicht zu folgen
vermögt. Bedenkt, auch Chriſtus hat zu ſeiner Mutter geſagt, als er ſeine großen
Wege ging: jWeib, was habe ich mit dir yu ſchaffen‘, und Maria nahm es hin mit
einem ſanften Herzen. Laßt, wenn Cure Kinder yu den Befigenden gebdren, nie das
——
Wie ergieht bas Haus fiir bas foziale Leben? 289
Triumphgefühl de3 Beffergeftellten in ihnen auffommen, lebrt jie, wie viel größer ibre
Menſchenpflichten werden, find fie an einen Platz geftellt, der ihnen die Erfüllung
diefer Pflichten leicht madt. Schätzet Knaben und Madchen gleich und zeigt ibnen,
daß ihr in ibnen, wenn aud nicht gleicartige, fo dod) qleichwertiqe Menſchen erfennt,
Laßt fie beide die gleiche Ausbildung geniefen, d. b. diejeniqe Aushiidung, die ihre
Fähigkeiten erheiſchen. Führt ibnen aus allen Standen des Volfes Spielgenofjen ju,
und Lebrt fie die Sprache des Volkes yu verſtehen.
Erjieht fie zu gefunden und ftarfen Menſchen. Wabrt fie vor dem Genuß ded
Alkohols und macht fie auf deffen ſchädliche Folgen aufmertfam. Erzieht fie su fittlich
reinen Menſchen. Es wird euch nicht fojwer werden, wenn ihr Knaben und Madden
gleichſchäzt. Der Knabe, der da Madchen im Hauſe wahrhaft ebren lernt, wird es
auger dem Hauſe nicht entwiirdigen. Es wird euch nicht ſchwer werden, wenn ihr fie
in der richtiqen Art belehrt, wenn ibr in ibnen das äſthetiſche Gefühl fo ftarf macht,
dag jie das Unfittliche als etwas Häßliches empfinden, wenn ibe den Knaben zu rechter
Beit und in der rechten Weife auf dic große Verpflichtung aufmerfjam macht, . die er
der Menſchheit gegeniiber hat.
Erzieht die Kinder gu cinfacen Sitten. Lehrt fie die praktiſchen Renntniffe, die
ibnen Das Haus nur zu geben vermag, und lehrt fie richtig. Weet in ihnen die echte
vaterlindijde Gejinnung, indem ibr ibnen fagt, dab die Pflichten gegen das Vaterland
Darin beftehen, daß man feinem Volfe niigt, dak man die Klaſſengegenſätze, die Bildungs—
gegenſätze zu mildern beftrebt iſt. Lehrt fie das RKleid des Arbeiters nicht mit Miß—
achtung betrachten, und lehrt fie die Arbeit lieben und ebren in jeder Form. Lebrt
fie dad rechte Wobhltun, das Anfpruch auf Dank nicht begleiten darf. Lehrt fie, dah
es mit Taft und Zartſinn ausgeiibt werden muß. Wedt in ihnen nicht die Furcht
und die Scheu vor dem Verfonmmenen und Clenden, fondern ruft in ibnen das Mitleid
wads, aber nicht jenes Mitleid, das Verzweiflung ſchafft und tatenlos macht, fondern
das Mitleid, das yur Hilfe drängt und die Tat gebiert. Lehrt fie das alles in der
friſchen, friblichen Weife, wie fie der Aufblick yu Qdealen giebt! Friih muh died
grofe Biel der hauslichen Erziehung ins Auge gefaßt werden. Die Fleiniten und ſcheinbar
geringfiigigiten Dinge können Schritte zu ihm hin oder von ihm weg bedeuten,
Wedanfenlos appelliert der Erzieher haufig genug an den Egoismus des Rindes,
um es ju becinfluffen. Kleinen, eſſensunluſtigen Kindern pflegt man, um fie jum Effen
anjuregen, mit Anfpielung auf cin anderes MitglicdD des Hauſes immer wieder vorzu—
fagen: „Nein, die Suppe gebdrt nicht dem und dem, die gehört dem Kindchen ganz
allein!” oder man ftellt ihm die Spieltiere um den Teller und ſchlägt danacd unter
dent Ausruf: ,, Mein, nein, das Kätzchen, das Hündchen bekommt garnidts! Das gebsrt
alles dem Rind’; ſchon dieſe ſcheinbar unwichtigen Vorgänge find geeignet, in dem
Heinen Weſen ſelbſtſüchtige Triebe yu weden. Das Erziblen und das Beloben feiner
fleinen Ausſprüche und Leiftungen in feiner Gegenwart ſtärkt dieje Triebe. Dad be—
liebte ,,;um Schein fojten”, wenn das Kind von feinen Eßwaren an andere abgeben
will, ein Scheinmanöver, Das das Kind natiirlich raſch durchſchaut, gibt ibm die erften
pagen Vorftellungen dariiber, dak man durch Geben vom Cigenen fein Opfer von ibm
fordern will, und dah Verzicht auf eigenen Genuß nicht ernſtlich von ihm verlangt
wird. So lernt es oberflächlich und gedanfenlos geben.
Das Befprechen der Febler von im Hauje verfehrenden Perfonen, der Fleinen
Siinden der Spielgenojfen des Kindes, oder der Mängel der Dienſtboten des Haufes
19
ro Wie ergicht daS Haus fiir bad fogiale Leben?
in feiner Gegenwart fegt den Grund ju häßlichen Vorurteilen, mit denen belajtet ed
{pater feinen Mitmenſchen entgegen tritt. Ich fenne Eltern, die vor ihren Kindern
das Wort „Dienſtboten“ oder das Cammeliwort ,Leute” tiberhaupt nicht gebraudhen,
fonder vor ibren Mitarbeitern fprechen.
Standesunterſchiede fennt das Kind nicht, wenn wir ibm nicht eigens den Blick
dafür ſchaärfen, und cs wei aud nichts von jenen Standesvorurteilen, wenn wir fie
nicht künſtlich in ihm wachrufen. Hüten wir uns, fie in die jungen Seelen zu legen.
Wilde und häßliche Triebe fprojjen, wo fie wirfen. Klaſſenhaß und Maſſenhaß gärt
auf an allen Enbden, weil fie in der heranwachſenden Generation ſchon lebendig find.
Und dod werden nur dann, wenn fie fich mildern, die tiefen Riſſe ſich gu ſchließen
beginnen, die zwiſchen den einzelnen Volksſchichten klaffen. Mißächtliche Bemerfungen
liber den Angehörigen einer anderen Klaſſe, wegwerfende Außerungen über Schlecht—
gekleidete des Arbeiterſtandes und im gegenſätzlichen Fall höhniſche, ſpottende, böſe
Worte über Angehörige der oberen Klaſſen genügen, dieſe Standesvorurteile wach—
zurufen.
Die in den Schulbüchern allenthalben vorkommenden kleinen Geſchichten, in denen
Standesunterſchiede beſonders hervorgehoben werden, Schilderungen, die den Sinn für
das Wohltun wecken ſollen, ziehen jene Vorurteile künſtlich groß. Sie ſollten aus
den Leſebüchern verbannt werden. Des Kindes Seele reagiert fein, wohl viel feiner,
als wir im allgemeinen annehmen. Sie erfaßt das Klaſſenbewußtſein, das den
Schilderungen ſolches geſpreizten Edelmuts zu Grunde liegt und macht es ſich unbewußt
zu eigen.
Um es vor Uberhebung zu wahren, lehre man dad Rind Bitte und Danke ſagen
zu jedermann ohne Unterſchied der Perſon. An kleinen Tiergeſchichten werde es ihm
anſchaulich gemacht, wie eine gute Behandlung beſſernd auf ſcheinbar ſchlimme Fehler
einwirken kann. So werde ibm 3. B. erzählt, wie cine Rage ihre Naſchhaftigkeit
dadurch verlor, daß ſie regelmäßig und gut gefüttert wurde, wie ihre Falſchheit keine
Falſchheit geweſen, ſondern nur Scheu und Angſt vor Menſchen, die ſie quälten, ſtießen
und verfolgten, wie ſie bei braven Kindern ein gutes, treues Tier geworden uſw.
Dadurch wird es auf Entwicklungsmöglichkeiten aufmerffam. Auch alle jene Tier—
ſchilderungen, die mit fertigen Urteilen enden wie: Die Katze iſt falſch! Der Eſel iſt
ein faules Tier! Der Ochſe iſt dumm! Das Schwein ijt ſchmutzig! ſollten aus den
Schulleſebüchern der Schulen ausgeſchaltet werden.
Sehr früh fei das Kind in praktiſchen Fertigkeiten, wie ſie das Haus am beſten
gibt, unterwieſen.
Das Mädchen lerne ſchon im früheſten Kindesalter putzen, fegen, waſchen, bügeln,
und wenn es heranwächſt, kleine Kinder pflegen, auch wenn dieſe nicht im Hauſe find.
Der Rnabe lerne mit Hammer, Beil und Sage, mit Bobrer, Feile und NKleijter um—
gehen; aber aud) das Mädchen übe fic) in dieſen fleinen Handfertigfeiten, wabrend
der Rnabe lernen mug, e3 nicht als eine Schande anjufeben, wenn er einmal ein
Simmer kehren foll oder cinen Fleden auf dem Boden aufwaſchen. Das CErlernen
dieſer fleinen Fertigkeiten, dieſer praktiſchen Arbeiten ermöglicht nicht nur im Leben
cin leichteres Sichzurechtfinden, es befabigt aud) ſpäter zu ſozialer Hilfstatigfeit, be—
wahrt vor der Unterſchätzung der arbeitenden Klaſſen und leitet nicht auf den be—
quemen Ausweg, eine Arbeit, die man nicht ausführen kann, gering zu achten und den,
der ſie leiſtet, von oben herab anzuſehen. Die Abneigung der Kinder vor Kranken,
Wie ergicbt bas Gaus fiir das foziale Leben? 291
das Grauen vor einer Wunde belfe man ihnen frühzeitig überwinden mit Milde und
Geduld und lehre fie, wenn Blut flieft, beifpringen und verbinden.
Auf die Urmut fet das Kind früh hingewiefen, aber nicht mit der Bemerfung, dah
jie der Schlechtigfeit Gefabrtin fei, fondern mit dem Beftreben, ibm klar zu machen,
wie viel fittlide Gripe fic febr oft mit ibr eint. Much im Bettler lerne es den
Menſchen achten, das gibt ibm fpadter die Kraft, bas Gute, das Wabhre, das im edeliten
Sinn Reinmenfcbliche aus feinem Nebenmenſchen hervorzulocken und fich durch Schlechtes
und Häßliches nicht abftofen, nicht ſchrecken, nicht verbittern zu laſſen; das trägt ifm
fruchtbare, (ebenfpendende Gefinnungen ju. Im Wobltun lerne das Kind, wenn auch
ein ſchwieriges, fo doch ein glückſchaffendes Tun erfennen, dad heimlich und leife geübt
werden muß, um andere nicht zu verlegen.
Wie die Runde von einer ftarfen erzieheriſchen Tat mutet eS und an, was uns von
dem Philofophen und Padagogen Lazarus erzählt wird. „Die bejte Schule der Wohl:
titigfeit war ibm das Elternhaus. Als einſt jein Vater, ein unermüdlicher Anwalt
ber Bediirftigen, einem armen Fifder gu einem neuen Rod verbelfen wollte, lies er
fid) denfelben auf den eigenen Leib machen, damit der künftige Befiger dem Schneider
verborgen bliebe. Dann fchidte er ſeinen Gobn in die nur mit einem Drücker
verſchließbare Wohnung des Fifchers, während diefer auf dem Mark war. „So
deutlich,” bericdtet Lazarus, „als ob es geftern geſchehen, erinnere ich mich, dah id
das lebhafte Gefiihl, mit welchem ic den Heimweg guriidfegte, als einen Vorgeſchmack
der ewigen Seligfeit betrachtete.”
Mt es nicht qut, den Rindern folche Seligfeiten zu ſchaffen?
Das Mitempfinden der Kinder, ihre Hilfsbereitſchaft werde gewedt im Hinweis
auf dic traurigen Erſcheinungen, wie wir fie in den Gefunfenen, den Verfommenen
und gan; Glenden feben; und es werde in ihnen gewedt mit Gedanten, wie fie aus
dem Dichterwort hervorgeben:
„Es zehrt an aller Mark der Sünde flammend Feuer,
Gin jeder ift verſchuldet jeder Tat
Und trägt auf feiner Seele ungebeuer,
Was jeder je an Sdhulb und Frevel tat.”
Unfere Leſebücher führen immer nods cine Reibe von Geſchichten, aus denen eine
harte und phariſäiſche Auffaſſung von Schuld und Clend fpridt. Cin Meines Madchen,
erjogen in fojialen Gedanfen, befam als Thema des jiveiten Schulaufſatzes cine
Gefchichte zu erzählen, in der die Trene eines Hundes dadurch bewieſen wurde, dah er
feine Herrin durch Gebel anf den unter ihrem Bette verftedten Dieb aufmerkſam
madte. Mit diefem Gebell rief er Leute herbei, die den Dieh erſchlugen. Als die
Kleine bis su dem Dieb gefommen war, erflarte jie mit Tranen in den Augen: ,,Den
leq’ ich nicht drunter.” Bon ihrer Mutter befragt, warum fie das nidt ſchreiben
wolle, fagte fie: „Weil cin Dieb doch etwas fo Trauriges ijt; jeine Eltern baben ibm
doch nicht gefagt, wie er es befjer madsen foll. Er bat vielleicht Gunger gebabt, da
hatte man ibm etwas zu ejjen geben follen, aber man darf ibn doch nicht mit Knüppeln
totſchlagen.“ Hatte das Kind nicht ein richtiges Cmpfinden?
Nicht an Feinheit der Seele wird der jugendliche Menſch einbüßen, der durd)
die raube Soule der WirklichFeit gebt, aber er wird an tiefen, grofen und ftarfen
Empfindungen gewinnen, die allein das Leben lebenswert machen. Er bat die Wabrheit
gefchaut, er wird nicht vor ihr zurückſchrecken, er wird nach ibe ſuchen und forſchen,
19*
292 Wie erzieht das Haus fiir bas ſoziale Leben?
wird an ibr fic ſtählen und in ibr handeln lernen, und er wird 3u einem fraftvoll
Schaffenden erwachfen, der durch feine Arbeit Werte fiir bas foziale Leben berbeitragt.
Er wird diefe Arbeit achten und lieben lernen, wird fie als fein beſtes Teil erfennen,
wird fiiblen, wie fie ibm Kraft gibt und feine Kraft erhält. Sozialpädagogik und
individualiſtiſche Erziehung find hier Rreife, die fich beriibren, denn für fich gewinnt
an fittlichen Begriffen, fiir fic) gewinnt an Vertiefung de3 religivdfen Gefiibles, wer
den fozialen Geift in fic) lebendig werden, wer fic) von ibm durddringen Lift. Für
fic) gewinnt an äſthetiſchen Cmpfindungen, wer fich durch grofe Ideen und Gedanfen
begeiftern Lat, fiir ſich gewinnt an Glück, wer den Glauben an das Ideale in fics
großwachſen fühlt.
Wer Augen hat zu ſehen und Ohren hat zu hören, der vernimmt, wie an den
Mauern des Hauſes das ſoziale Leben brandet. Er ſieht, wie dort die Menge ſich
drängt und ſchiebt. Er ſieht, wie die, die in den vorderſten Reihen ſtehen, ängſtlich
ſich mühen, ihren Platz zu hüten, denn vor ihnen dehnt ſich die breite Straße; ſie
atmen die freie Luft, ſie blicken empor zu den Menſchheitshöhen. Aber er ſieht auch
die rückwärts Stehenden ſchieben und ſtoßen und drängen, er ſieht ihre bleichen
Geſichter ſehnend erhoben, er verſteht, wie auch ſie jenen Weitblick gewinnen möchten,
wie auch ſie ſich ſehnen nach dem friſchen Luſtzug, wie auch ſie an die breite Straße
wollen, und er ſieht im Schieben und Drängen manch einen niedergetreten und
andere über ihn hinwegſchreiten, er hört die Untertöne des Schmerzes, das Wimmern
der Elenden.
Aus dem Hauſe nun ſollen die Samariter und Samariterinnen hinausziehen,
um auf die Wunden am Menſchheitskörper die Finger zu legen, aber nicht um
ſie weiter aufzureißen, ſondern um ſie ſorgſam zu unterſuchen und vorſichtig zu pflegen,
bis ſie heilen. Das Haus ſoll der Tempel werden, von dem die Prieſter und
Prieſterinnen ausgehen, die den ſozialen Frieden predigen.
Die Forderung einer ſozialen Erziehung iſt nicht neu. Sie iſt von einer Reihe
von Pädagogen gepredigt worden. Aber man iſt noch weit davon entfernt, ihre
Erfüllung als das Biel der erzieheriſchen Tätigkeit im Hauſe aufzufaſſen, und es ijt
noch nicht ins Volksbewußtſein gedrungen, daß ſie von allen Forderungen auf dem
erzieheriſchen Gebiet die herrſchende ſein müßte. Wäre ſie das, ſo wäre unſere
Bewegung nicht entſtanden. Das feine Gerechtigkeitsgefühl, das den keimfähigen Boden
gibt für ſoziale Empfindungen und ſoziales Handeln, hätte es nicht geduldet,
daß dem einen Teil der Menſchheit die Entwicklung all’ ſeiner Fähigkeiten auf jede
Weiſe ermöglicht wird, während man bei dem andern das Sehnen darnach künſtlich
zum Verkümmern brachte. Die Sittlichkeitsbegriffe, die auf jenem keimfähigen Boden
erwachſen mußten, ſie hätten die doppelte Moral nicht aufkommen laſſen, ſie hätten
das ſoziale Gewiſſen geſchärft und hätten der Anſchauung zum Siege verholfen, daß
nur auf einem ſittlich reinen Grund, den beide Eltern dem Sein des Kindes geben,
ein ſittlich wahrhaft hochſtehender Menſch erwachſen kann, und daß auch ſeeliſche und
und geiſtige Vererbungsmöglichkeiten neben den körperlichen auf den ehernen Tafeln ein—
geſchrieben ſind, auf denen die Vererbungsgeſetze ſtehen. Den Vorzug, den die Frau
genießt, dadurch daß jie zur Mutter berufen ijt, hatte man ganz anders zu werten
verſtanden. Man hätte erkannt, daß ſie durch ihre weibliche Eigenart, durch ihre
Leidenskundigkeit vor allem befähigt iſt, die feinen Linien des Verſtehens zwiſchen den
einzelnen Volksſchichten zu ziehen, daß ſie auserwählt und berufen iſt, durch ihre
Des Kohlenzeitalters Anfang und Ende. 298
Erjiehungsarbeit Arbeit fiir die Allgemeinbeit yu leiſten und dah fie diefe Arbeit leijten
mug, wenn die Probleme der Gegenwart fic) nicht immer tiefer und tiefer verwirren
jollen. Wie hatte man fics gemiibt, ihre Gigenart immer feiner auszugeſtalten, fie ju
ciner ſittlich und geiſtig ſelbſtändigen Perſönlichkeit erjtarfen ju laffen. Man hitte
ibr nicht den geiftigen und körperlichen Zwang angetan, der fie auf cine niedere Stufe
der Entwidlung berabgedriidt. Für die Beichen der Reit hatte man ibr Veritandnis
gewedt. Das Leben hatte man fie bis in feine feinjten Regungen veriteben gelebrt;
man bitte vor ibr das Tor gedffnet, das auf die breite Straße führt und bitte nicht
ibren febnenden Ruf: , Macht dod) das Tor auf, macht es dod) auf,” folange unerbirt
verballen laſſen.
Aber andere Zeiten dämmern herauf.
Man bheginnt die Britde gu feblagen, die dic Kluft zwiſchen der rauhen Wirklichkeit
und dem geträumten Land der Zukunft überſpannen foll.
Die erjten Pfable, die fie tragen follen, find fdon eingerammt. Der Hammer
dröhnt, ein fingender Klang ſchwirrt durd die Welt. Das ift der Ton, der auf die
Diſſonanzen, die rings um uns auffchrillen, wirken wird, bid fie fic löſen in feine
wobltuende Harmonien einft in einer fernen reichen Zufunft!
woes
Ves Kohlenzeitalters Anfang und ende.
Paul Srhetfler.
Pe Nachdrud verboten. pow eee
a kl
“A atuntergangarropteaeonnge, vor Ddreiz, jweihundert Jahren nod vielbeliebt
~ und gliubig bingenommen, — die aufgeflarte Menſchheit von heute traut
ee ibnen nicht mebr. Als Wettermeijter Falb, der kürzlich erſt Veritorbene, vor vier
Sabren einen ſolchen Weltuntergang anfagte, einen naturwiffenfdaftlich frijierten fogar
— die Erde follte am 13. November 1899 mit einem der drei Tempelfden Rometen
sufammenjtofen und von dem Anprall in Stiide geben, — da madhten felbft die
frefulativften amerikaniſchen Ronfeftionaire mur mäßige Geſchäfte mit ibren Anpreiſungen
engelweißer Gewänder, in denen die Gliubigen das Weltende wiirdig erwarten follten.
Tiber die Möglichkeit oder richtiger Unmiglichfeit einer mehr oder weniger nabe be:
voritebenden, alles Leben auf Erden ertitenden Abkühlung de3 Sonnenballs bat ung
vor fünfzig Jahren ſchon Helmbolg berubigt. Wenn auch die Sonnentemperatur, wie
neuerdings berednet worden, nur 7000—10000° betragen foll und durch die fort:
geſetzte gewaltige Warmeausitrablung eine jährliche Abkühlung um 29° erfabren
müßte, fo bewirft die fortidreitende Zujammenjiehung der Sonnenmaſſe andererfeits
eine entipredbende Temperaturerbihung, fo dah unfer lebenerhaltendes Taggeftirn nod)
mindejtens 4 Millionen Jahre in der gegenwartigen Starke weiter ftrablen und viel-
leicht erjt in 30 Millionen Qabren auf dem Punkte angelangt fein wird, den er—
294 Des Koblengeitalters Anfang und Ende.
fittenen Warmeverluft nicht mebr einholen zu finnen. Wenn aber erjt nach
30 Millionen Jahren der kritiſche Reitpunft eintritt, da, nad) Dubois-Reymonds
draſtiſchem Wusfpruche, ,,der legte Esfimo trauernd am Aquator beim Scheine einer
Tranlampe friert,” fo braucht uns Menſchen von heute und auch von morgen und
tibermorgen das wirflich nicht gu fiimmern; im Hinblick auf eine ſolche Fleine Ewig—
feit mag getroft das berüchtigte ,aprés nous le déluge* gelten.
Anders ifts ſchon, wenn ein Raturforfder wie der engliſche Chemifer Wiliam
Crookes die Befürchtung ausſpricht, daß die Menſchheit dem Verhungern nabe fei.
Schon jetzt reichen die Erträgniſſe aller getreidebauenden Länder nicht mehr aus, um
den Bedarf an Weizenbrot zu beſtreiten. Der Fehlbetrag konnte bis zum Jahre 1895
noch durch die Vorräte der früheren überreichlichen Ernten gedeckt werden. Aber
ſchon 1897 genügten dieſe zum Erſatz des Defizits von rund 145 Millionen Hekto—
litern nicht mehr, es fehlten daran 37 Millionen Hektoliter, und ſo mußten
6'/, Millionen Menſchen bereits hungrig bleiben. Wir müßten, meinte Crookes, ent—
weder durch erhöhte künſtliche Dungung den Ertrag der 163 Millionen Ader Weizen—
boden der Erde entſprechend ſteigern, wozu aber die vorhandenen Vorräte an
Natronſalpeter nicht ausreichen würden, ſo daß wir auf Mittel bedacht ſein müßten,
ihn künſtlich aus dem in unerſchöpflicher Fülle in der Luft vorhandenen Stickſtoff
mittels Elektrizität herzuſtellen, oder aber wir müßten daran gehen, die Produktions—
fähigkeit der Tropen fiir uns nutzbar zu machen, fei es durch Getreidebau, der nod)
auf ungeheuren Flächen dort möglich wäre, ſei es durch den Anbau von Früchten,
die, wie die Banane, derartig ertragreich ſind, daß ein Acker Bananen z. B. 133 nal
fo viel Nährſtoff liefert wie ein gleich großes Weizenfeld.
Der Untenruf des engliſchen Gelebrten, den dieſer auf der 1898er Yabres-
verſammlung britiſcher Naturforfder erſchallen lies, ift ziemlich eindruckslos verballt.
Vielleicht ſagte man ſich mit Recht, daß die Zunahme der Broteſſer nicht für alle
Zeiten in demſelben raſchen Tempo erfolgen würde wie in den letzten dreißig Jahren,
in denen ſie ſich faſt um das Doppelte vermehrten; daß mit der Grenze, die der Er—
tragsfähigkeit der Erde geſteckt wäre, auch dem Anwachſen der Menſchheit ein natür—
liches Ziel geſetzt ſein würde.
Schwerer als die große Welthungersnot droht der künftigen Menſchheit die
Kohlennot. Und zwar nicht die Kohlennot, die wir jetzt ſchon allwinterlich erleben
durch Preistreibungen, Syndikate, Unternehmerringe und Grubenarbeiterſtreiks, und
der wir mit einem Schlage entgehen könnten, wenn wir uns zur Verſtaatlichung der
Kohlenbergwerke entſchlöſſen, ſondern die richtige „Weltkohlennot“, die Erſchöpfung
aller irgend zugänglichen Steinkohlenlager der Erde, das völlige Verſiegen dieſer
Bodenſchätze infolge der unglaublichen Verſchwendung, die wir mit ihrem Verbrauche
betreiben. Immer zahlreicher werden die Stimmen ernſter Forſcher und praktiſcher
Fachleute, daß wir, wenn auch noch nicht ſo bald, ſo doch immerhin in abſehbarer
Zeit die letzte Tonne Steinkoble werden verbrannt haben. Und dann? Alle die Vor—
ſchlaäge, die bisher gemacht worden find fiir den Fall, daß dereinſt das Ende der Stein—
foblen da fein würde, laufen darauf binaus, in einer grogartigen Nutzbarmachung
der mechaniſchen Naturkräfte, namentlich der natürlichen Waſſerſtürze, Erſatz zu
ſchaffen, wenn es nicht etwa einer ſpäteren Zukunft gelingen ſollte, die Sonnenwärme
direkt in Arbeit umzuſetzen, ein Verfahren, das jährlich einhalbmillionenmal ſoviel
Energie fiir die Menſchheit verfügbar machen würde, als die Kohlenproduktion der
Des Roblenseitalters Anfang und Ende. 295
ganzen Erde. Iſt doch die Energiemenge, die der Erde als Sonnenwärme jugefiibrt
wird, jo groß, Daf fie hinreichen würde, in einer Stunde einen die Erde umgebenden
Wajfermantel von 2, cm Dide yum Sieden ju erhigen, oder in einem Jabre cine
die Erde einhüllende Eisſchicht von 35 m Hobe yu ſchmelzen. Und dabei gelangt von
der ganzen, der Sonne entitrablenden Warmemenge nur der pweitaufendmillionite Teil
sur Erde, alled iibrige gebt in den Weltenraum hinaus. Aber auch das Arbeits—
vermögen, das in den atmoſphäriſchen Niederfchlagen jtedt, ift cin fo refpeftables, dap
es Die verbrannten Roblenftoffmengen auf unabfebbare Zeit zu erfegen vermöchte.
Prof. Heuleaur feast es auf 100000 Millionen Pferdeſtärken; und wird biervon
nur der tauſendſte Teil fiir die mechaniſchen Betriebe gerettet, fo finnen wir der Kohlen
gern enthebren.
Dap eS mit der Koblenherrlichfeit cinmal cin Ende nehmen witrde, müßte man
ſich eigentlich ſchon nad dem naturpbilofopbifden Grundfage fagen, wonad nur das
obne Ende ijt, was aud feinen Anfang gebabt. Der Anfang des modernen Stein:
foblenverbrauchs, der bald zur ffrupellofen Vergeudung ausartete, liegt aber erjt ein
Jahrhundert juriid, denn er beqann genau mit der Erfindung der Dampfmaſchine. Bis
dabin war die Verwendung der „ſchwarzen Diamanten”, wie Maurus Jofai die
Steinfoble genannt bat, eine fo fparjame gewefen, dab wobl nod in Sabrhundert-
taujenden oder gar Qabrmillionen die vorbandenen Vorräte nicht ju erſchöpfen fein
wiirden. Aus dem Funde cines OCrnamentbruchjtiides von Cannelfoble an der
ſchottiſchen Küſte will der engliſche Geologe Lyell die Bekanntſchaft des Menſchen mit
der Noble auf etwa 5000 Jabre ſchätzen. Der Menſch der Steingeit fcbeint in Eng:
fand ſchon einen primitiven Roblenberghau betrieben ju haben, der fich natürlich auf
die oberjten zutage tretenden Schichten beſchränkte. Theophrajt, der im 4. Jahrhundert
v. Chr. lebte, erwabnt die Koble als ein von den Schmieden und Erzgießern ge-
ſchätztes Brennmaterial, das namentlich in den Bergwerfen von Bena gewonnen
werde, aber auch in der griechiſchen Landſchaft Elis und im fernen Ligurien. Bis
ing 3. Jahrhundert v. Chr. foll der Gebrauch der Steintoblen bei den Chinejen nach-
weisbar fein. Marco Polo, der beriibmte Reijende des Mittelalters, fand die Ber-
wertung der „ſchwarzen Steine” als Brenmmaterial im Reiche der Mitte ſchon ganz
allgemein vor; das war alfo im 13. chrijtlicben Qabrhundert. Die erfte hiſtoriſch
suverlaffige Eriwabnung der Noble haben wir in der Chronif der Abtei von Peter:
borough aus dem Jahre 852, worin berichtet wird, dak ein Lehnsmann diefes
Kloſters vervflichtet worden fei, den Minden u. a. andy 60 Ladungen Hol, und
12 Yadungen Koble jabrlich zu liefern. Im 13. Jabrbundert war die Koble von
Neweajtle bereits HandelSartifel, und Anfang des 14. muß ibre Anwendung auch in
Yondon ſchon allgemein geweſen fein, denn Gegner der Steinfoblenfeuerung festen
beim Parlament cinen Antrag durd, König Eduard I. gum Verbot der Benutzung
von Koblen fiir London und feine Vorſtädte yu veranlaſſen. Sm Jabre 1306 erließ
der König auc tatſächlich cin folches Berbot, weil die Birger den fchwefligen
Raud und Gerud nicht vertragen mochten.“ Raum zwanzig Jahre fpdter wurden
die „Seekohlen von Newcaſtle“ freilich wieder in der Hauptſtadt und fogar im König—
lichen Palaſte qebrannt, obgleich fics die Frauen Londons verfdworen Hatten, feine
Speiſen yu ejjen, die fiber Steinfoblenfeuer bereitet waren. Das Verbot wurde faft
drei Jahrhunderte fpater von der Königin Clijabeth zeitweiſe wiederholt. Jn Paris
verſchmähten noch vor zweihundert Jahren die befferen Roche die Kohlenfeuerung.
296 Des Kohlenzeitalters Anfang und Ende.
Und die Frauen widerftrebten ibr, weil fie vom Kohlendunſt eine ſchädliche Wirkung
auf den Teint befiirdteten.
Sn Deutfehland ijt febr früh Torf gebrannt worden. Denn ſchon Plinius er:
zählt von den Chaufen im heutigen Oldenburg: ,,Sie bolen mit ibren Handen aus
der Tiefe der Sümpfe Erde herauf, trodnen und verbrennen fie, um ihre Speijen ju
bereiten und ihre von der Kälte erftarrten Glieder yu erwarmen.” Bon der Torf-
verwendung bis zur Nutzbarmachung der in Deutſchland gerade vielfach jutage-
tretenden Flötze war wobl nur ein fleiner Schritt. Die wendiſchen Corben febeinen
die Swidauer Koble im 10. Jabrbundert bereits funjtgeredht abgebaut zu baben. Aud
den Zwickauern wollte cine Poligeiverordnung von 1348 die Steinkohlenfeuerung ver-
bieten, weil fie die Luft verpefte. Aus jener Zeit ftammen auch die friibeften Nach—
riditen fiber den Rohlenberghau im Ruhrgebiet; der im Saarbeden hat erſt 1529 und
der jcblejifche erjt fury vor dem dreißigjährigen Rriege begonnen. Jn Böhmen wurde
1550 Ddie erjte Braunfohlengrube und 1580 das erjte Steinfohlenbergwert eröffnet.
Belgien Hat feine reichen Kohlenſchätze fdon im 11. Jahrhundert abzubauen be—
gonnen. Jn London hatte fic) um 1700 der Roblenverbraud gegen da3 Jabr 1600
verzehnfacht.
Aber erſt mit der Erfindung der Dampfmaſchine, alſo ſeit Beginn des 19. Jahr—
hunderts, iſt der Kohlenkonſum zu der Höhe geſtiegen, von der wir ſobald wie
möglich wieder werden herabgehen müſſen, wollen wir nicht in wenigen Jahrhunderten
mit unſerm Reichtum abgewirtſchaftet haben. Noch der franzöſiſche Sozialiſt Fourier
(1772—-1837) hatte, als er ganz richtig cine neue Zeit heraufkommen fab, die neue
Kräfte zur Bewältigung des fteiqenden Gitterverfehrs notwendig machte, auf die kurioſe
Idee verfallen miijjen, Löwen und Walfiſche zu drefiieren, um ſtärkere Sugtiere ju
Lande und yu Waſſer ju haben als Pferde, Ramecle und dergl. Heute treiben wir
mittels der Steinfoble Dampfmaſchinen bis yu 50 000 Pferdeſtärken.
Wie ſehr die Dampfmafdine und die ins Rieſige wachſende Cijenindujtrie von
vornherein mit der Roble aufräumte, geht daraus bervor, dak ſchon 1831 in England
die Frage auftaucte, wie lange die vorbandenen Vorräte wohl ausreichen wiirden.
Und eine dDamals eingeſetzte Kommiffion berechnete den Rohlenreichtum Grofbritanniens
auf 148 Billionen Rilo, Im Jahre 1901 wurde er nur nod auf 90 Villionen
geſchätzt. Allein in den letzten zehn Jahren hat die engliſche Roblenforderung cine
Steigerung um fait 63.000 Nillionen Kilo erfabren und 1902 die Hobe von mebr
al$ 227 Millionen Tonnen A 1000 Rilo erreidit. In Deutſchland ijt es mit der
Steigerung des Kohlenverbrauchs nicht viel anders geweſen: in den lebten zehn Jahren
vermebrte er fics um 451/, Progent, nimlich von 73852600 auf 107436000 Tonnen.
Und fo in der ganjen Welt. Hatte 1800 die Weltproduftion an Kohle erſt
12 Millionen Tonnen betragen, fo hundert Qabre jpiter, 1899, — bereits
720,6 Millionen. Mit der Maſſe Steinfoblen, die wir jährlich der Erde entnehmen,
finnten wir 40 Rubiffilometer Wafer vom Cispunkt bis jum Siedepunkt erbigen.
Und verteilten wir diefe Warmemenge gleichmäßig auf alle Menſchen der Erde, deren
man 1900 rund 1611 Millionen zählte, jo trdfe auf jeden einjelnen jo viel Warme,
daß er tiglid 67 Liter Waſſer von O° yum Sieden bringen könnte. Nahezu ein
Drittel dieſes ganzen Koblenquantums wird heute von den Vereinigte Staaten Nord:
amerifas geliefert, von Gropbritannien das zweite, kleinere Drittel, ein halbes Drittel
yon Deutſchland. Auf diefe drei größten Roblenproduzenten entjallen fayt 80 Prozent
DeS Koblengeitalters Anfang und Ende. 297
aller gefirderten Roble. Aber während Nordamerifa erſt angefangen bat, in fo groß—
artigem Maßſtabe an dem unbeimlichen Wettrennen in der Vergeudung feiner Boden:
ſchätze teilzunehmen, und wohl nod ein Jabrtaufend und Langer mit feinen mebr als
500000 Quadratkilometern Kohlenfelder reicht, geben die engliſchen, die nur
23 000 Quadrattilometer Ausdehnung baben, nad einer neuerlichen Berechnung feitens
der Society of Arts bereits in 200 Jahren ibrer Erſchöpfung entgegen. Und fo
groß ijt die Beſorgnis jenfeits des Nanals, daß im Qanuar 1902 abermals eine
wiſſenſchaftliche Kommiſſion von der britiſchen Regierung zur Feititellung der verfüg—
baren Kohlenſchätze cingejegt worden ijt, deren Berechnungen nod ausfteben. Hat
dod) der franzöſiſche Geologe Eduard Lozé kürzlich erſt angegeben, dah der konkurrenz—
fabige Kohlenbergbau in England fogar ſchon mit dem Jabre 1950 fein Ende erreicht,
wenngleich die Ausbentefabigkeit nad feiner Anſicht auch noch 375 Jabre vorbilt.
File Deutſchland bat der Oberbergrat R. Naſſe 1893 eine umfaffende Berechnung an-
gejtellt und gefunden, daß wirtſchaftlich, alſo die Förderkoſten dedend, nocd
112 Milliarden Tonnen Kohle bet uns anjteben. Und gwar giebt er fiir die voraus—
ſichtliche Erſchöpfung folgende Jabre an: 1990, alfo nod in dieſem Jahrhundert,
Königreich Sachjen; bundert Sabre ſpäter, nämlich 2090, das Wurmgebiet; 2140
Niederſchleſien; 2385 bas Rubrgebiet, 2647 Oberſchleſien, welche legteren beiden mit
ibten 50 bezw. 45 Milliarden Tonnen den weitaus größten Anteil am deutſchen
Roblenbeftande haben; am ſpäteſten, erſt 2763, das Caargebiet mit feinen
10 Milliarden Tonnen. Etwas giinitiqer fallt eine Beredmung des Bergrats
Schulz aus, der 1899 die Erſchöpfung des Rubrbedens erjt auf das Jahr 3100 an-
fegte und das oberſchleſiſche Kohlenbecken fogar als „unerſchöpflich nach unſeren Be-
qriffen” beseichnete.
Jedenfalls gebt aus alledem bervor, daß fiir Curopa wenigitens, und fpesiell
fiir Das bisher größte europäiſche Noblenland, Grogbritannien, in immerhin abjebbarer
Friſt das „Zeitalter der Verbrennung“, wie der Tilbinger Profeffor Clemens Winkler
kürzlich die Spanne Menſchheitsgeſchichte genannt hat, die fic) der Steinfoble bedienen
durfte, beendet fein wiirde, wenn nicht der Vorrat der außereuropäiſchen Lander, namentlic
Chinas mit feinen meiſt nod unerſchloſſenen 600000 Quadratfilometern Roblenfelder, aber
auch Sibiriens und Afrikas jenes Ende noch um ein bis zwei Jabrtaufende binausfebdbe.
Swar der beriihmte engliſche Phyſiker Lord Kelvin bat gemeint, ein ſolches Ende
fonne es iiberbaupt nicht geben, denn es aebe garnidt foviel Cauerjtof in ber Crd:
atmoſphäre, um alle vorbandene Roble yu verbrennen. Wir würden daber eber als
an Erſchöpfung der Koblenvorrite an Sauerjtoffmangel jugrunde geben, alfo erjtiden.
Ja, wenn wir in der bisherigen Weife in der Verbrennung von Kohle fortſchritten,
wiirde dieſer Beitpunft, da der Atmoſphärenſauerſtoff verbraucht und die Menſchheit
elend den Erftidungstod ſterben müßte, bereits in 400 Jahren eintreten. Nun, dann
batten wir erjt recht allen Grund, den maßloſen Verbraud an Kohle einzuſchränken,
aug dem vor bundert Jabren begonnenen ,,3eitalter der Verbrennung” wns möglichſt
wieder zurückzuflüchten in jene Beriode, da die Steinfoble nod nicht der fajt aus-
ſchließliche Wärme- und Krajftipender war.
Und darin bilft uns ja ſchon jest in großartigſter Weife die Wunderfraft der
Elektrizität, zu deren Erzeugung wir nichts weniger als auf die Energie der Stein:
foble angewiejen find: wo ein Wafferlauf ijt mit ftarfem Gefalle, läßt ſich Cleftrisitat
billiger erjyeugen als dure Verbrennung von Kohle. Jn Jtalien werden beute ſchon
298 Des Koblengeitalters Anfang und Ende.
von den 650000 Pferdeſtärken, mit denen die Mafdinen des Landes arbeiten,
300 00Q dem Wafer entnommen und nur 350000 den Dampfmaſchinen mit Kohlen—
feuerung. Ungenugt hat 03 nod iiber fajt 3 Millionen Pferdekräfte zu verfiigen. In
Amerifa ift man fortſchreitend darauf bedacht, die großartigen Waſſerfälle de3 Landes
elektriſch auszunutzen. Die Schweiz, Frankreich, Sfandinavien haben nod) ungesablte
nicht genugte WafferErafte sur Verfügung. Deutſchland ijt darin mit am fdbledsteften
daran.
Umſomehr follten wir anfangen, mit unferen Kohlenſchätzen fparjam yu wirt—
ſchaften, mit denen wir vor allen europäiſchen Staaten cinen bedeutenden Vorjprung
haben, ſodaß, wenn wegen de3 cingetretenen Roblenmangels der Weltverfehr und die
Weltinduftrie Langit von England 3. B. fort und nod) Amerifa und China biniiber-
gewandert fein mag, Deutſchland immer noch im Wettbewerbe der Völker mitſprechen
finnte. Im Fleinen ſchon wäre yu beginnen: Sündigt man dod, wie Prof. Winkler
ausfibrt, bereits in Haus und Küche in haarſträubendſter Weife an dem fojtharen
Gut: an den ganz, zweckmäßig konſtruierten eifernen Regulieröfen öffnet man die
Türen völlig zwecklos, ruiniert oft ſchon bei der eritmaligen Benugung die Verſchlüſſe
und jagt fo den größten Teil der darin entividelten Warme jum Schornſtein binaus
ing Freie.
Unvergleichlich bedeutender freilics, al8 ſolche Verſchwendung aus Leichtſinn iſt
diejenige, die wir vorläufig noch begehen müſſen, notgedrungen, weil unſere Technik
noch fo unvollkommen ijt. Werden doch in unſeren Dampfmaſchinen, Lokomotiven uſw.
kaum 15 Prozent, meiſt ſogar nur 10 Prozent von der Energie der darin zum Ver—
brennen gebrachten Kohle in mechaniſche Arbeit umgeſetzt. Erſt ganz neuerdings iſt
es dem Charlottenburger Profeſſor Joffe gelungen, eine „Abwärmekraftmaſchine“ zu
konſtruieren, bei der durch Ausnutzung des Auspuff- oder „Abdampfes“ bis zu
40 Prozent der verwendeten Kohle zur Kraftleiſtung herangezogen werden. Auch an
die rationelle Ausnutzung der Hochofengaſe wird man gehen müſſen. Der Franzoſe
Guſtave Gin hat berechnet, daß dadurch allein auch waſſerarme Länder ſchon mit
waſſerreichen würden konkurrieren können. Prof. Winkler bezeichnet es geradezu als
ein Gebot der höheren ſittlichen Vernunft, der zweckloſen Vergeudung foſſiler Kohle
mit aller Kraft entgegenzutreten. Je länger ein Land das Ende ſeiner Kohlenvorräte
wird hinausſchieben können, ſei es durch zweckmäßigere Ausnutzung der Verbrennungs-
wärme, fei es durch Erſchließung anderer Energiequellen, um fo länger wird es
ſeinen wirtſchaftlichen Riedergang aufhalten, der unweigerlich eintreten muß, wenn es
mit ſeinen Kohlenvorräten ausgewirtſchaftet hat; denn die Kultur zieht der Kohle
nad, Und wenn dann auch an anderer Stelle neue gewaltige Induſtrieſtätten auf—
blühen, in China, in Afrika, den Steinkohlenländern der Zukunft — das alte Europa
wird abgeblüht haben, wie die Wälder der grauen Urzeit, die einſt ſeine ſträflich ver—
ſchwendeten Kohlenſchätze ſchufen. Es ſei denn, daß in Italien und Skandinavien, der
ſüdlichen und nördlichen Halbinſel, die unerſchöpflichen Waſſerkräfte auch für unſern
Kontinent neue und ſchönere, weil rauch- und dunſtfreie Kulturmittelpunkte geſchaffen
haben werden. Der Kohle, aus der wir allzuſchlecht genutzte Kräfte zogen, mag der—
einſt das Ende bereitet ſein, im fallenden und ſteigenden Waſſer haben wir ſie immer
wieder neu.
Goma er
— Prauenlohne ——
Von
Rlice Salomon.
Raddrud verboten.
r bomas Hood fcildert das Los einer Naberin in feinem Lied vom Hemde mit
den Worten:
2
mid
„Schaffen — Schaffen — Schaffer —
* Und ber Lobn? Gin Wafferbumpen,
Gine Kruſte Brot, cin Bett ven Strob,
Dort das morſche Dad) — und Lumpen!
Gin alter Tiſch, ein zerbrochner Stubl,
Sonſt nidts auf Gottes Welt!
Cine Wand fo bar — 's tit ein Troft fogar,
Wenn mein Schatten mur drauf fallt.”
Dieje Worte können nod heut als Gleichnis fiir die Entlobnung der
meiften Frauen dienen. Welchen Erwerbszweig auch die Cingelne erwablen mag —
wenn fie nicht zu den wenigen Glücklichen gehört, die fiir eine Ausnahmeſtellun
auseriwablt find, jo pflegt fich ihr Lohn fo niedrig zu balten, daß fie zwar vielfad
die nacten Exiſtenzbedürfniſſe befriedigen, aber fic) nicht ein menſchenwürdiges, ſorgloſes
Dafein ſchaffen fann. Wenn ein franjdfifcher Sebriftiteller die Lage der arbeitenden
Frauen Franfreichs im einem Werk geſchildert hat, dem er den Titel ,,Frauenlibne —
Frauenelend“ gab, jo fiunte man mit gutem Recht dieſen ſelben Titel über cine
Schilderung der Lage der arbeitenden Frauen in der ganzen Welt fegen. Wabrend
es gan; undenfbar erfebeint, von Männerlöhnen ſchlechthin yu fyrechen, irgend einen
gemeinjamen Gefichtspunft zu finden, unter dem ein ſolches Thema bebandelt werden
finnte, zeigen Die Löhne der Frauen in den verſchiedenſten Berufsſphären die traurige
Gemeinfamfeit eines fo auffallenden Tiefftandes, dah ſich uns die Pflicht aufdrängt,
nad den Urfachen diefer Tatfache zu forſchen und Mittel yur Befeitiqung zu fuchen.
Die fcblechte Cntlohming der Frauenarbeit — fei es Fabrik: oder Heimarbeit,
fei es Die Leijtung der HandelSangeftellten oder dev Lebrerin — ijt unter zwei
Geſichtspunkten zu wiirdigen. Es ijt cinerfeits zu unterſuchen, ob die Entlohnung der
meiften Frauen ausreicht, wm den Unterhalt in ſtandesgemäßer Weife, d. h. dem
gewobnten Rlajfenbedarf entſprechend zu decken; und es ijt ferner in Betracht
zu ziehen, ob die Frauen für qleide Yeiftungen gleichen Lohn wie die Manner
empfangen. Beide Fragen müſſen — das ift das Refultat aller auf diejem Gebiet
vorliegenden Arbeiten — mit Ausnabme weniger Berufsgruppen entſchieden verneint
werden.
Zunächſt ſoll die Tatſache, daß die Entlohnung der Frauenarbeit meiſt nicht
hinreicht, um die Grundlage der Exiſtenz abzugeben, um einen vollen Entgelt für den
Einſatz der Arbeitskraft zu gewähren, etwas näher beleuchtet werden. Die wirtſchaftliche
Ungeheuerlichkeit, daß eine große Gruppe von Arbeitern für längere Zeit die volle
Arbeitskraft an Arbeitgeber verkauft, ohne dafür einen Preis zu bekommen, der die
Koſten der Erhaltung der Arbeitskraft vollſtändig deckt, dieſe Ungeheuerlichkeit wird
bei den arbeitenden Frauen täglich von neuem zur Wahrheit. Das eherne Lohngeſetz
würde — ſofern es überhaupt Geltung hätte — an den arbeitenden Frauen zu
Schanden werden; denn es kann kein Zweifel darüber herrſchen, daß der Lohn eines
großen Teils der arbeitenden Frauen ſich dauernd unter dem Exiſtenzminimum halt,
300 ‘ Frauenlöhne.
Wo man die Bilanz der Ausgaben und Einnahmen zieht, überall zeigt ſich ein Defizit,
auch wenn die Ausgaben auf das ſparſamſte und knappeſte berechnet werden.
Dieſes Mißverhältnis iſt nur dadurch zu erklären, daß ein großer Teil der
arbeitenden Frauen nicht ausſchließlich auf das Einkommen aus ihrer Arbeit augewieſen
iſt, und daß die anderen, die bei dieſer Lebensweiſe zu Grunde gehen müſſen, durch
immer nachdrängende Scharen täglich erſetzt werden. Wer nur einen Zuſchuß zum
Familieneinkommen zu verdienen braucht, wie viele Hausfrauen und Haustöchter, der
wird durch den niedrigen Lohn ſelbſt nicht jo ſehr geſchädigt, wie er andere ſchädigt.
Aber die alleinſtehende erwerbende Frau trifft ein hartes Los. Ihr Leben bedeutet
entbebren und entſagen, ſorgen und mühen, kämpfen und darben. Es gehört die
größte Kunſt einer im Rechnen und Sparen begabten Frau dazu, um im Budget einer
großſtädtiſchen Arbeiterin das Soll und das Haben auszugleichen. Und die klaffende
Lücke, die trotz aller Bemühungen bleibt, das Manko auf der Seite des Habens, das
jede zuverläſſige Berechnung der Wirtſchaftsführung einer ſolchen Arbeiterin zeigt, das
wird beſtätigt durch die früh alternden, elend ausſehenden, ſchlecht ernährten Frauen—
geſtalten, denen wir in den Fabrikvierteln der Städte begegnen. Sie findet ihren
Ausdruck in den zahlreichen Erkrankungen an Bleichſucht, an Magenleiden, an
sr eh a deren Urjace häufig in der Unterernährung der arbeitenden Frauen ju
ſuchen ijt.
Das Criftengminimum einer großſtädtiſchen AWrbeiterin wird von Dr Wilbrandt’)
auf 600 Maré jährlich berechnet; das Cinfommen bleibt dauernd in den meiſten
Branchen — fiir die jüngeren Arbeiterinnen in allen — dahinter zurück. Der durch—
ſchnittliche Wochenverdienjt einer Wrbeiterin in der Berliner Papierinduftrie betragt
10 Mark, der Mannheimer Fabrifarbeiterinnen 8 Marf, der badifden Zigarren—
arbeiterinnen 7!/,—10 Marf. Naberinnen in Berliner Wajehefabrifen ftehen ſich auf
9—10 Marf, NKnopfloch-Gandarbeiterinnen auf 6—7'/, Mark. Im allgemeinen fann
man einen Sabresverdienft von durchſchnittlich 500 Mark feititellen; ex ſchwankt zumeiſt
zwiſchen 400-—600 Marf. Dammit joll nicht gejagt fein, daß höhere Verdienſte nicht
vorfommen, aber diefe Zablen find durch einzelne Ausnabmefaille von höheren Löhnen
nicht ju widerlegen. Höhere Löhne kommen teils in einigen Gewerben vor, die einen
befonderen Kräfteaufwand oder die befonders ſchwierige gelernte Arbeit erfordern wie
in der Pldtterei, der Buchdrucerei, oder in Berufen, in denen der Sudrang der
Urbeiterinnen cin febr geringer, zeitweiſe ungeniigender ift, wie im Dienfthotenberuf.
Hier muß die Aufgabe der Freibeit, die von den Madchen gefordert wird, mit einem
im Verhältnis yur Entlohnung anderer Frauen hohen Arbeitsentgelt aufgewogen
werden. Aber diejen günſtigen Ausnahmefällen ſtehen andere gegeniiber, die Löhne
weit unter dem Durchſchnitt aufweiſen. Bon oberſchleſiſchen Bergarbeiterinnen wird
berichtet, daß ihr Jahresverdienſt auf 300 Maré yu berechnen fei, und in eingelnen Teilen
Niederbaverns follen die Löhne der Fabrifarbeiterinnen nocd niedriger fteben.
Aber weit trauriger liegen die Lohnverhältniſſe ſchließlich bei den meiſten Heim:
arbeiterinnen, namentlich in der Konfektions-Induſtrie. Sie bleiben mit ihrem Einkommen
meiſt unt 30 Prozent und mehr hinter dem Exiſtenzminimum zurück; und de Frauen,
die ſolchen Erwerb ergreifen, um nicht nur den eigenen, ſondern auch den Unterhalt
fiir Angehörige zu verdienen, ſehen ſich dabei ſchmählich enttäuſcht. Cs liegen gerade
hierüber amtliche Erhebungen und Preisberechnungen vor. Sie ſind oft angeführt
worden, haben immer von Neuem Stiirme der Entrüſtung und Außerungen tiefſten
Mitleids hervorgerufen. Aber cine Befferung bat fie noc niet erzielen laſſen.
ES it nur an die Erhebungen des Reichsamts des Innern vom Yabre L887 zu er:
innern, Deren Mitteilungen über Die Lohnhöhe noch immer zutreffend find, was durch
Angaben des „Konfektionär“ aus Den letzten Jahren beſtätigt wird. Cs wurden —
um nur wenige Beiſpiele anzuführen — für die Anfertigung eines Dutzend Manſchetten
0,60—1,10 Mark, für ein Dutzend Kragen O,50—0,80 Warf, fiir ein Dutzend mit
der Hand gefertiqte Knopflöcher 0,10 Maré gezahlt. In dev Crfurter Mäntelkonfektion
) Handbud der Frauenbewegung. Teil IV.
Frauenlöhne. 301
überſteigt der Durchſchnittslohn der Arbeiterinnen ſelten 6 Maré wöchentlich. Damen-
hemden werden nach neueren Angaben mit 1,25—2,00 Mark pro Dutzend, Wirtſchafts—
ſchürzen mit 0,60—0,75 Mark pro Dutzend bezahlt.
Wer kann die Tragödien ermeſſen, von denen dieſe Zahlen reden! Wer kann die
Not und das Elend begreifen, das ſie umſchließen; die hoffnungsloſe Verzweiflung —
aber auch all die Wut und Erbitterung, die ſolche Arbeitsverhältniſſe hervorrufen
müſſen. „Wer es vermöchte, nur ein Leben nachzuempfinden, wie es tauſendfach
gelebt wird“ — ſo ſagt Oda Olberg in ihrer Abhandlung über das Elend in der
Konfektionsinduſtrie — „ein Leben, von deſſen Elend die trockenen Worte ‚5 Mark
Wochenlohn‘ etwas ahnen laſſen; wer im Stande wäre, dieſem innerlich Nacherlebten
Ausdruck ju verleihen, der hätte wohl fiir neue Begriffe neue Worte zu ſchaffen.
Viele würden ihn leſen; aber vielleicht würde ihn niemand verſtehen; denn es gibt
Dinge, die man nicht im behaglichen Salon mit ſattem Magen nachempfinden kann.“
Wenn man dieſe Lohnziffern ins Auge faßt, erſcheint es erklärlich, daß den
meiſten alleinſtehenden Arbeiterinnen ein Mittageſſen für 30 Pfennig in den Volksküchen
zu teuer iſt. Wilbrandt führt das Budget einer Arbeiterin aus der Berliner Wäſche—
induſtrie an, die 450 Mark jährlich verdient und für Schlafſtelle und Ernährung
jährlich 412,75 Mark ausgibt, wobei alles aufs ſparſamſte beſchafft wird. Es bleiben
demnach für Kleidung, Wäſche und alle übrigen Lebensbedürfniſſe — und die Arbeiterin
hat geiſtige Bedürfniſſe ebenſogut wie die Frau aus anderen Kreiſen, oder ſollte
wenigſtens die Möglichkeit haben, ſie zu entwickeln und zu pflegen — 37,25 Mark
jährlich, ein Betrag, der ſie geradezu auf andre Einkommensquellen hinweiſt. Es
liegen denn auch viele Außerungen männlicher Arbeiter darüber vor, die die Lebens—
weiſe der Kolleginnen als abſolut ungenügend bezeichnen. Frau Gnauck führt in ihrer
bekannten Arbeit über die Arbeiterinnen in der Berliner Papierinduſtrie die Außerung
an: „Die Arbeiterinnen leben faſt nur von Kaffee und Kakao; abends kochen ſie
Gemüſe und Kaffee oder was vom Mittag übrig bleibt. Die Nahrung würde einen
Mann in 8 Tagen arbeitsunfähig machen.“
Zuſammenfaſſend kann man daher die Frage, ob der Lohn der Arbeiterinnen im
allgemeinen fo hoch ijt, dah fie von ihrem Erwerb leben finnen, ohne verfiimmern
und verfommen zu miifien, mit derjelben Bejtimmtbeit verneinen, mit der fie fiir den
alleinjtebenden WArbeiter zu bejaben ijt. ')
Damit ijt aber der zweite Gejichtspunft, unter dem die Entlobnungsfrage yu
betrachten ijt, beriihrt: die Frage nach der Gleichheit oder Ungleichbeit der Löhne
bei gleichen Yeiftungen von Mann und Frau. Dit es vom wirtſchaftlichen und
menſchlichen Standpunkt aus aufs tiefſte yu beflagen, wenn Frauen trop des Cinfages
ibrer ganzen ArbeitSfraft Feinen vollen Unterbalt aus ihrer Arbeit ziehen, fo tritt bei
der Forderung cines gleicen Lohnes fir gleiche Leijtung vor allem das Pringip der
Gerechtigkeit hervor. Das Ausfprechen diefer Forderung allein befagt fon, dah
Die Bewertung der Manner: und Frauenarbeit eine verfdiedene zu fein pfleqt. Und
in der Tat ijt auch nicht zu verfennen, da die Frauen — wenn auch ibre Leijtungen
und Verricdtungen nur felten denen ihrer mannlichen Ronfurrenten ganz gleicartig
jind — nach einem befonderen niedrigeren Maßſtab bezahlt werden.2) Solange es
cine Frauenbewegung gibt, bat fie denn auch die Forderung nad gleichem Lohn bei
qleicher Yeijtung fiir Mann und Frau auf iby Programm gejest, und in Deutſchland
war ¢3 der Allgemeine Deutſche Frauenverein, der auch auf diefem Gebiet ſchon vor
20 Jahren juerjt die Sonde einſetzte. Aber der Gedanfe, von dem man fich dabei
leiten lich, war ausſchließlich der der Gerechtigkeit, wie denn überhaupt alle auf
die Frauenbewegung besiiglicen Fragen zunächſt mehr unter diefem Gefichtspuntt
bebandelt wurden und bebandelt werden mußten. Man verlangte Gleichberechtigung
in der Aushildung und Ausübung aller Berufe, Gleichberechtiqung vor dem Geſetz
1) Wilbrandt a. a. O.
2) Joh verweife bierfiir auf cine cingehende Unterfuchung iiber die Unterſchiede bei der Bezahlung
von Manners und Fraucnarbeit und iiber deren Urfachen, die ich in ciniger Reit veriffentlicen werde.
302 Frauenlöhne.
und dem Staat, und man glaubte, all ſolche Forderungen durchzuſetzen, wenn man
den Glauben an ihre Gerechtigkeit verbreitete. Aber in Bezug auf die Gleichheit des
Lohnes konnte das nicht zutreffend ſein. Dieſer fonnte nicht — wie die Frauen der
vorigen Generation glaubten — durch einen Druck auf die Fabrikanten durchgeſetzt
werden; denn auf dem Arbeitsmarkt herrſchen nicht die Ideen der Gerechtigkeit, ſondern
die des wirtſchaftlichen Vorteils.
Und der wirtſchaftliche Vorteil bedingte, daß die Arbeitgeber die billigſte Arbeit
nahmen, die ſie fanden; daß ſie billige Arbeit nahmen, wo ſie ſie fanden; und die
Frauenarbeit bot ſich ihnen tatſächlich — das kann keinem Zweifel unterliegen — immer
billiger dar als gleichwertige männliche Arbeit. So hat denn — brutal geſprochen —
gerade die Billigkeit der Frau ihr Eingang auf dem Arbeitsmarkt verſchafft. Die
Frau wurde auf dem Arbeitsmarkt zu einer gefährlichen Konkurrentin des Mannes,
nicht etwa nur bei Arbeiten, für die ſie geeigneter oder ebenſo geeignet war, ſondern auch
in Gruben und Bergwerken, auf Bauten und in Hüttenwerken, weil ſie den Mann
unterbot, weil ſie als Lohndrückerin auftrat. Deshalb muß die Forderung nach gleichem
Lohn für gleiche Leiſtung, die wir aufrecht erhalten, in erſter Linie unſeren eigenen
Gejchlechtsgenoffinnen qelten. Unjer Bemühen muh darauf gerichtet fein, in unferen
eigenen Reiben die Urfachen zu befeitigen, die zu einer ungleichen Entlohnung von
Mann und Frau, zur niedrigen Lohnforderung der Frauen fuͤhren.
Wenn man die kurze Vergangenheit der Frau auf dem Arbeitsmarkt verfolgt,
ſo iſt es leicht zu erklären, daß ſie mit geringerem Lohn als der Mann vorlieb nahm,
ihre Forderungen niedriger ſtellte. Jahrhunderte lang haben die Frauen nur im
Rahmen des Hauſes geſchafft; ein Lohnverhältnis, das in Geld ausgedrückt wurde,
blieb den meiſten fremd, und die iſolierten, in Millionen von Einzelhaushaltungen ver—
ſtreuten Frauen fanden keine Gelegenheit, ihr Solidaritätsgefühl zu entwickeln, das
gemeinſame Intereſſe mit ihren Arbeitsgenoſſinnen in andren Haushaltungen zu er—
faſſen. Sie waren gewohnt zu arbeiten, und oft ſchwere, anſtrengende und aufreibende
Arbeit zu tun; aber ſie verrichteten die Arbeit aus Liebe zu ihren Angehörigen, aus
Pflicht; vielleicht auch, weil ſie nur darin ihre Exiſtenz fanden. Aber ſie taten
es niemals für Geld; die Arbeit der Hausfrau wird bis auf den heutigen Tag nicht
bezahlt, ſie wird in Folge deſſen auch gering bewertet. Die meiſten Frauen bleiben in
ihren perſönlichen Bedürfniſſen durchaus abhängig von ihrem Mann, der ſich nicht unr
ſelbſt als ihren Ernährer anſieht, ſondern auch häufig von Frauen als ſolcher be—
trachtet wird, auch wo gar keine Veranlaſſung dazu vorliegt. Was Wunder denn, daß
die Frauen, als die bittre Not einer ſchweren Zeit ſie zur Erwerbsarbeit drängte, ihre
Arbeitskraft niedrig einzuſchätzen und ſie für jeden Preis herzugeben bereit waren.
Die unbezahlte und unbewertete Arbeit der Hausfrau, die geringe Ein—
ſchätzung ihrer Arbeitskraft war es auf der einen Seite, die die Frauen zu niedrigen
Lohnforderungen veranlaßte. Auf der anderen Seite der erbitterte Koönkurrenzkampf
— nicht nur zwiſchen Mann und Frau, ſondern auch zwiſchen Frauen untereinander —
Der durch die wirtſchaftlichen Umwälzungen des letzten Jahrhunderts herbeigeführt
wurde. Der Kampf um die nadte Exiſtenz, der auf dem Arbeitsmarkt ausgefochten
wurde, er notigte die Frauen, zu Hungerlöhnen ju arbeiten, um ibre Kinder nicht
verhungern zu laſſen.
Aber ebenſo wichtig wie dieſe beiden Urſachen, ebenſo ausſchlaggebend für ihre
niedrigen Lohnforderungen und für die niedrigen Preisbewilligungen, die man ihnen
bot, war die Tatſache, daß die Frauen zunächſt nur als ungelernte Arbeitskräfte
auf den Markt traten. Als die Maſchine die Muskelkraft der Männer vielfach ent—
behrlich gemacht hatte, ſpannte die Induſtrie Frauen und Kinder in ihren Dienſt.
Und ähnlich lag es in anderen Berufsarten. Den Eintritt in das kaufmänniſche
Gewerbe, in den Staatsdienſt, in den Poſt- und Bahnbetrieb erlangten die Frauen in
einer Zeit der fortſchreitenden Arbeitszerlegung, die die Heranziehung von wenig oder
gar nicht vorgebildeten Kräften möglich machte. Auch zu Lehrerinnen an öffentlichen
Schulen wurden Frauen zuerſt berufen, nicht weil man an ihre beſondere Eignung
glaubte, ſondern weil es an männlichen Bewerbern fehlte und man daher mit ſchlechter
—
Frauenlöhne. 303
vorgebildeten Lehrfraften — und das waren die Frauen damals — vorlieb nehbmen
mufte. Uberall batten die Frauen deshalb den lesten Platz einzunehmen, die niedrigite
und jeblechter beyablte Arbeit zu thun, denn fiir beſſere gelang es iiberall, die bejjer
vorgebildeten Männer gu gewinnen.
* *
*
Unter dieſem Zeichen traten die Frauen in die Erwerbsarbeit ein, und nur,
wo es den Frauen gelungen iſt, die Vorbildung eines ganzen Standes zu beſſern,
das Können auf ein Niveau zu heben, das dem der Männer um nichts nachſteht, da haben
ſie auch ihre Gehälter und ihre Löhne den männlichen anzunähern vermocht. Die
Beiſpiele hierfür ſind noch vereinzelt. In erſter Linie iſt der deutſche Lehrerinnen—
ſtand zu nennen, der ſeine glänzende Berufsorganiſation dafür nutzbar machte, um die
Anforderungen an die Mitglieder des Standes immer höher zu ſtellen. Wenn im
Allgemeinen die Lehrerin in ihrem Wiſſen und Können hinter dem männlichen Kollegen nicht
zurückbleibt, ſo iſt es darauf zurückzuführen, daß durch die Initiative der Lehrerinnen
die Prüfungsanforderungen für die Frauen immer höhere wurden. Nur auf Grund
ihrer Leiſtungen fonnten die Frauen Gehaltsaufbeſſerungen durchſetzen, wie fie
beifpielsweife das Leste preußiſche Lebrerbefoldungsgefey den Frauen gebracht bat.
Unter den weiblichen Handelsangejtellten ijt es nur den Bureauarbeiterinnen
in wenigen Städten möglich gewefen, ähnlich giinftige Gebaltsverbaltnijje auf Grund
quter Ausbildung gu erlangen, Sn Cöln, Miinehen, Frankfurt foll ibre Lage eine fo
erfreuliche qeworbden fein. In der Induſtrie find e3 vor allem die T ertila rbeiterinnen
in Lancaſhire, die ganz dieſelbe Arbeit wie die Manner tun, die ſich fiir ihre Arbeit
ebenſo ſchulen, fie mit demfelben Berufsernſt erfaſſen, die mit den Mannern organiſiert
ſind und den gleichen Lohn wie dieſe erringen.
Im allgemeinen iſt die Ausbildung der Frauen für ihre Erwerbsarbeit eine
viel geringere als die der Männer. Der junge Kaufmann lernt drei bis vier Jahre,
die Buchhalterin oft nur drei Monate, und auch in der Induſtrie iſt die Frauenarbeit
in viel größerem Umfang als die männliche Arbeit eine ungelernte zu nennen. Die
Arbeiterin in einer Kartonfabrik lernt in wenigen Tagen eine beſtimmte Art Kartons
anfertigen; ſie iſt daher in viel ſtärkerem Maße als der gelernte Buchbinder, der in
jedem Betrieb unterkommen kann, von ihrem Arbeitgeber abhängig. Sie ſteigt nicht
im Lohn und iſt gegenüber jedem Verſuch, ihr Einkommen zu kuͤrzen, widerſtands⸗
unfahig. Denn ſie kann nicht leicht andere Arbeit finden, während ſie für den Arbeit—
geber, wie alle wenig gelernten Arbeitstrafte, jeden Augenblick zu erjegen ijt. Daher ift
fie nur felten im Stande, mit ibren Arbeitsqenofiinnen kräftige Organijationen zu
bilden, die ebenfo wie die Berufsvereine der Manner bibere Löhne durchfegen finnen.
Der Dilettantismus, der durch die ungeniigende Lehrzeit der meiſten Frauen erzeugt
wird, wirkt eben auf die Auffaſſung des Berufs, auf die Stellung der Frau im
PBerufsteben und auf ibre Bezahlung. Cr entwertet nicht nur die Arbeit der Frauen,
Die tatſachlich untergeordnete Arbeit leiſten, ſondern unter ſeinem Odium haben auch
die Frauen zu leiden, die dasſelbe leiſten wie ein Mann. Sie müſſen ſich mit ihren
Lohnanſprüchen denen ihrer Konkurrentinnen anpaſſen, wenn fie nicht durch deren
Angebot verdrängt werden wollen. Die Löhne werden eben durch Angebot und Nady:
frage auf dem Arbeitsmarft nicht der individuellen Leijftung, fondern dem Können, dem
Wert der fonfurrierenden Gruppe angepaft.
* *
*
Es bleibt daber cine der wichtigſten Aufgqaben der Frauenbewegung, das Niveau
der ganzen Frauenarbeit zu beben, fiir eine beffere Aushildung der Frauen jum
Beruf Sorge yu tragen. Dem haben aber bisher mehr innere als äußere Schwierig:
feiten im Wege geftanden. Das Gros der Frauen, das in die Eriverbsarbeit hineingebt,
rechnet nicht damit, den vollen Unterbalt verdienen zu miijjen. Während man fiir den
Rnaben fajt immer nach einem Berufe fucht, der ibn einjt in den Stand jegen foll,
eine Familie zu erhalten, fucht man für das Madchen eine Titigfeit, die es ibm
304 Frauenlöhne.
ermöglicht, die Toilettenausgaben zu beſtreiten, womöglich den Eltern ein Koſtgeld zu
zahlen, und ebenſo bemühen ſich die erwerbſuchenden Ehefrauen häufig nur, einen Zuſchuß
zum Familieneinkommen, nicht den vollen Individualbedarf zu verdienen. Die Tatſache,
daß ein großer Prozentſatz der arbeitenden Mädchen jung aus dem Beruf ausſcheidet
(das Durchſchnittsalter der Berliner Handelsgehilfin beträgt 21 Jahre), läßt in allen
Klaſſen eine intenſive Abneigung — der Eltern wie der Madchen — gegen cine längere
Lehrzeit entſtehen. Man ſcheut ſich, für die Lehrjahre einer Tochter Geld zu opfern,
deſſen Zinsertrag nicht gewiß erſcheint. Iſt in Arbeiterkreiſen für den Knaben eine
dreijährige Lehrzeit nicht zu lang, iſt die Erhaltung des Knaben in dieſen Jahren
nicht zu teuer, ſo laſſen die Eltern ſich dabei von der Gewißheit leiten, daß dieſer
Sohn während ſeines ganzen Lebens auf den Beruf geſtellt ſein wird.
Die Opfer, die man auf dieſe Weiſe für den Sohn bringt, werden als viel—
verſprechende Kapitalsanlage angeſehen, da man den Sohn für die Gründung und
Verſorgung einer eigenen Familie ausrüſten will, Bei der Tochter liegen aber die
Dinge ganz anders. Auch fiir fie pflegen die Eltern eine. Familiengrindung im Auge
zu baben und zu erhoffen. Aber diefe pfleqt fiir Das Madchen nicht auf ibrer Criverbs-
arbeit zu beruben, fondern, im Gegenteil, fie — wenn aud nicht j immer auf die Dauer —
davon zu befreien. Und jebr ähnlich fieht man die Dinge in biirgerlicen Rreifen an.
Im Hinblick auf dieſe Zutunftsbofnungen erſcheint den Eltern meiſt eine lange Lehrzeit
für Töchter unrentabel. Das Mädchen ſoll ſo ſchnell wie möglich einen Verdienſt
finden, nicht einen Beruf ergreiſen, und das drückt der ganzen Frauenarbeit den
Stempel des Dilettantifden, Proviſoriſchen, Zufälligen auf und ſchraubt die Löhne auf
einem niedrigen Niveau feft.
Mit diefer Auffaſſung mug gebrocen werden, wenn die Frauenarbeit yu höherem
wirtſchaftlichem Wert gefiibrt, wenn ibr eine Bezahlung gefichert werden foll, die den
Frauen cine menſchenwürdige Exiſtenz gewibrt, und die fic bei gleichen Leiftungen
den Mannerldbnen anpaft.
Wie die Urſachen der feblechten Besahlung zu befeitigen find, die in lester
Yinie in dem unentiidelten Stadium der Frauenberufsarbeit, in der dilettantiſchen
Auffafiung des Berufslebens und der ungeniigenden Ausbildung der Frauen ju fucen
find, dafür laſſen fic) verſchiedene Wege vorseichnen.
Vielleicht würde in einer Gefellfchaftsordnung, in der die Berufstitigkeit der
Arau im felben Umfang iiblich ijt wie die Des Wannes, in welder innerhalb der
Familie beide Gatten zu gleichen Teilen fiir den Unterbhalt beiſteuern, die niedrige
und ungleiche Entlohnung der Frau verſchwinden. Denn unter folder Rechts-
verfaffung und Wirtſchaftsordnung müßte die Frau ebenfo wie der Mann yu
einem Beruf erjogen werden; fie miifte denfelben Bedarf als Grundlage der Preis-
forderung einjefen wie Der Mann; fie wiirde in höherem Alter im Beruf tätig
fein und daber etwa dieſelbe Fabigfeit wie der Mann erlangen, bis auf geringe
Unterfchicde, die fic aus der mangelnden Nontinuitdt der FAraucnarbeit, wielleicht
aud aus der geringeren Diusfelfraft ergeben müßten. Die Frau eines ſolchen
Sufunftsftaats würde aller Vorausſicht nach ebenfo wie der Mann bezahlt werden.
Aber dieje radifale Ldfung der Frage fann von allen denen nicht acceptiert werden,
die Die Erziehungsaufgaben dem Gaufe, das Kind der Familie erhalten wollen, und
die an einer Wertſchätzung aud folcer Aufgaben feitbalten, die nicht dem Geld-
erwerb dienen, die nicht einer dden, mechaniſchen Gleichmacheret der Geſchlechter zu—
ftreben, fondern nach einer organiſchen bejjeren Vertetlung der Arbeit fucken. Cie
kann vor allem aber denen nicht geniigen, die in der ganzen bisberigen Entwicklung
der Menſchheit die Richtung auf cine organiſche, weſensgemäße Differenzierung der
Arbeit erbliden, die zu höherer Kultur zu fiibren ſcheint. Die Anbanger diefer
Richtung können cine Lofung der Lohnfrage mur durch Umwandlungen der Anſchauungen
iiber Stellung und Aufgaben der Frau erboffen. Cie können nur wünſchen, dag die
Uberzeugung Platz greift, dak Frauen ebenſo wie Männer fiir einen Beruf erjzogen
und tüchtig gemacht werden müſſen, gleichviel, ob fie ibn Dauernd in vollem Umfang
oder ob fie ibn iiberbaupt ausiiben werden.
—
— —
Behördliche Ynfonfequengen. 305
Es mug in den Frauen die Liebe zur Arbeit gepfleqt werden, die Berufstreue
und Berufshingabe, damit jie während der Dauer ihrer Berufsarbeit den ganzen
Menfeben einfeben und aud) den vollen Unterbhalt fiir cinen Menſchen beanſpruchen
finnen. Dann nur fonnen die Frauen zu höheren Stufen dev Leiftungsfabigkeit
emporflimmen, der Unterſchied zwiſchen Manner: und Frauenlöhnen, foweit er fid
aus der unqualifizierten und weniger wertvollen Frauenarbeit ergibt, wird verſchwinden,
und nut thm der Lobndrud, den heut die arbeitenden Frauen auf alle Urbeiterfateqorien
ausüben, ju ibrem eignen und de3 ganzen Volkes Schaden.
Wir mülſſen alfo fiir den gleichen Lohn, den wir fordern, die gleiche Arbeit wie
der Mann cinjegen, d. h. nicht nur dieſelbe GefchidlichEeit, fondern diefelbe Ausdauer,
Regelmäßigkeit, Oingabe und Berufstreue. Dann erjt wird die ErwerbSarbeit der
Frau aus einem Ubel zu einem Segen fiir dad Wirtfchaftsleben werden; dann wird
Die Fraucnarbeit vordringen, wo fie qeeiqneter als Mannerarbeit tft, nicht weil fie
billiqer ijt, und wo heut ein wüſter Konkurrenzkampf zwiſchen Mann und Frau den
Arbeitsmartt beherrfeht, da werden Manner und Frauen gemeinſam den Kampf um
die Verbeſſerung ibrer Arbeitshedingungen führen.
= 08 fie
Behordliche Inkonsequenzen.
Son
Helene Tange.
Nachdruck mit Quellenangabe erlaubt. — ——
m Jahre 1893 hat das preußiſche Unterrichtsminiſterium der erſten Gymnaſial—
anſtalt fiir Mädchen die Konzeſſion erteilt. Am Jahre 1895 hat dasſelbe
Miniſterium die erſten Abiturientinnen zur Reifeprüfung zugelaſſen. Seitdem ſind neben
mehreren privaten drei ſtädtiſche Gymnaſialanſtalten durch das preußiſche Unterrichts—
miniſterium genehmigt worden.
Im Jahre 1894 wurde ſeitens des preußiſchen Unterrichtsminiſteriums mit dankens—
wertem Nachdruck die Anſchauung vertreten, daß für den Unterricht der Mädchen auch
in den Oberklaſſen der höheren Mädchenſchulen Lehrerinnen in höherem Maße als bis—
her heranzuziehen ſeien. Im Jahre 1899 wurde dieſe Anſchauung unter noch ſtärkerer
Betonung des erziehlichen Wertes der Lehrerin in den Oberklaſſen von neuem entſchieden
ausgeſprochen.
An den neugegründeten ſechsſtufigen Gymnaſialanſtalten können nun aber
Lehrerinnen auf Anordnung des Miniſters nur bis zur Unterſekunda unterrichten. Dieſe
Anordnung iſt durchaus berechtigt, denn das preußiſche Oberlehrerinnenexamen gibt
keinerlei Befähigung zum Unterricht auf der Oberſtufe von Mädchengymnaſien.
Was iſt nun zu tun, um der ſo entſchieden ausgeſprochenen Anſicht des Unter—
richtsminiſteriums, daß „es unnatürlich wäre, die Erziehung heranwachſender Mädchen
ausſchließlich oder auch nur überwiegend in die Hände von Männern ju legen,” auch
in dem neuen Zweige des weiblichen Unterrichtsweſens Geltung zu verſchaffen? Was
iſt zu tun, um auch den Gymnaſiaſtinnen die Erziehung zu „edler Weiblichkeit“ zu
ſichern, die der Erlaß von 1894 durch die Tätigkeit der Lehrerinnen erreichen will?
Offenbar gibt es nur ein Mittel: die Zulaſſung der Frauen zu der Prüfung,
die Dem Lehrer das Gymnaſium erſchließt, zum Examen pro facultate docendi.
Dieſe Zulaſſung liegt ja an ſich ſchon in der Konſequenz der Entwicklung, die im
20
306 Behördliche Anfonfequenjen.
sabre 1893 beginnt und deren Hauptdaten hier refapituliert wurden. Sachſen, Bayern
und Baden haben diefe Konſequenz daber auch gezogen.
Die vom preußiſchen Unterrichtsminijterium genehmigten Gymnafialanjtalten baben
inzwiſchen auch ſchon viele Schiilerinnen entlafjen, die mit Genehmigung de3 Unterrichts:
minijteriums die Reifepriifung bejtanden und ibre Studien gan; in der Weije der
männlichen Studenten abfolviert haben. Man follte annebmen, daß das Miniſteriun
mit Rückſicht auf den im Widerfpruc mit feinen Anſchauungen bejtebenden Lebrevinnen:
mangel an den Mädchengymnaſialanſtalten jede Kandidatin fiir das Gramen pro facultate
docendi freudig begritfen und ihr allen nur möglichen Vorſchub leiften wiirde. Sa,
Die Begiinftiqung folder Wfpirantinnen durch Ausſetzung von Regierungsftipendien
witrde angefichts des im Augenblick fo dringenden Bedürfniſſes niemand überraſchen.
Was geſchieht aber?
Im Januar des Jahres 1903 reichte cine rite vorgebildete Studentin ihre
Bewerbung um Zulaſſung zum Cramen pro facultate docendi ein. Sieben Monate
darauf, Ende Auguſt desfelben Jahres, erbielt fie die mit der Lange des verfloſſenen
Zeitraums in feltjamem Gegenfag ftebende lakoniſche Antivort, daß ibre Sulaffung
mit den beftebenden Verwaltungsgrundfaken unvereinbar fei. Da ihr inzwiſchen
feitenS eines preußiſchen Mädchengymnaſiums cine Stelle angeboten war, die an dic
Bedingung diejes Examens gefniipft war, fo batte fie ſchon im Juni eine zweite
Cingabe unter Hinweis auf den fpesiellen dringlichen Fall gemacht. Auf diefe zweite
Cingabe feHlt noch heute (20. Januar 1904) die Antwort. Der Auguſtbeſcheid tut
deS zweiten Geſuchs feine Erwähnung. Das betreffende Gymnaſium bat inzwiſchen
cine Hollinderin und eine Ofterreicherin angeftellt.
Fragt man nad den Griinden diefes mehr als feltjamen Verfahrens, fo bleibt
einem nur eine einzige Erflarung: das in Preußen bereits beftehende Oberlehrerinnen-
eramen foll nicht durch cin höheres wiſſenſchaftliches Cramen entivertet werden,
Mit diefer preußiſchen Cherlehrerinnenbildung hat es feine eigene Bewandtnis.
Sie ijt nicht Fifeh noch Fleiſch. Zunächſt wird cin drei Jahre umfaſſender ſeminariſtiſcher
Bildungsgang durchgemacht. Dann folgen mebrere Jahre unterrictlicer Praxis.
Aus diefer beift es ſodann fic) wieder losmachen, um cin dreijähriges wiſſenſchaftliches
Studium durchzuführen. Fajt alle, die diefen Weg geben mußten, haben die mit
keinem andern Eramen in dieſer Weife verbundenen inneren und äußeren Schwierigkeiten
empfunden. Von 104 Oberlebrerinnen, die befragt wurden, erflarten fic) nur 7
unbedingt cinveritanden mit dem jetzigen Studiengang.') Wher fei dem, wie ihm wolle,
jedenfalla erfennt das Minijterium ſelbſt an, dah die auf diefe Weife vorgebildeten
Oberlebrerinnen fiir die Obherflafjen der Mädchengymnaſien nicht geniigen. Wie ijt es
alſo möglich, die Ronfequen; ju umgehen, daß das Examen pro facultate docendi
den Frauen freigegeben werden muß?
In einem kürzlich auf einer Frauenverſammlung von ciner Dame gebaltenen
„Herrentoaſt“ bie es: „Der deutſche Mann ift ein vorzüglicher Pädagoge. Wie viel
Geduld — bat er uns nicht febon gelebrt.” Ach kann nicht umbin, diefe pädagogiſche
Fähigkeit dem preußiſchen Unterrichtsminiſterinum in ganz befonderem Maße zuzuerkennen.
1) Die betreffende Erhebung wurde von der Seftion fiir höhere Schulen des Allgemeinen deutſchen
Lebrerinnenvereins veranſtaltet. Bergl. die fiber diefen ganzen Gegenjtand vorzüglich ortenticrende
„Denlſchrift über den Stand der Oberlehrerinnenfrage” von Anna Marie Riftow, Oberlebrerin.
—_—— -»8:3+-— ——
—
Die Photographiſche Lehranjtalt des
Vettevercins zu Berlin.
Durd den Umzug des Lettevercins in fein
neues Gebaude. bat vor allem die Photographiſche
Lebranftalt cine Ausdehnung und Vervolllommnung
ibrer Cinrichtungen erfabren finnen, die fie den
bejten Fachſchulen der Manner an die Seite
ftellt. Sic ftebt unter der Leitung ded Direftors
D. Shulg-Hende. Wir geben nachitebend das
Wichtigſte fiber die allgemecinen Cinrictungen des
Lebrgangs x2. Näheres ergeben die von der
Regiftratur des Lettehaufes, Berlin W., Biltoria:
Luiſeplatz yu erbittenden Profpefte.
Die Photographifche Lebranftalt bezweckt cine
Ausbilbung ihrer Schiilerinnen fiir alle Zweige
der photographiſchen Praxis, einſchließlich auch der:
jenigen Berufszweige, welde fic) der Bhotograpbie
als Hilfsmittel bedienen.
In erfter Linie erftredt fic) der Unterrict auf
die verfdicdenen Aufnabme: und Ropierverfabren,
fowie Retuſche auf fiinftlerifeber Grundlage, gu
deren Vorbereitung der erforderlicde Seichenunterricdt
ebenfallS erteilt wird.
Der Unterricht fiir Anfangerinnen erftredt ſich
im allgemeinen auf einen cineinbalbjabrigen Kursus,
dod) fonnen folche Scbhiilerinnen, die ſchon in der
Praxis tatiq waren, oder auf anderweitigem Wege
geniigende photographiſche Borfenntniffe erlangt
haben, nad) cingebolter erforderlicher Zuſtimmung
ded Direftors von der Verpflichtung des eineinhalb-
jabrigen Beſuches der Anftalt befreit werden.
Sit nur die Erlernung beftimmter Berfabren
beabjichtigt, fo fann durch den Direftor Dispenjation
von der vorgefebenen Unterrichtszeit erfolgen; der
Unterricht findet dann in einer mit dieſem ju
vereinbarenden Stundenzahl ſtatt.
Im Anſchluß an die erlangte allgemeine photo:
graphiſche Ausbildung findet in dem dritten Halb—
jahre der Unterricht in einzelnen Spezialfächern
ſtatt, wie im Auszeichnen von Vergrößerungen und
Herſtellen derſelben, in der mechaniſchen Retuſche
mit der Lufteſtompe, air brush, ſowie auf beſonderen
Wunfsh in den fogenannten photomechaniſchen Ver:
fabren, in der Herftellung von Drudplatten fiir
Flad:, Hod: und Tiefdrud. Rach mindeftend cin:
einbalbjabrigem Beſuche wird den Sebiilerinnen
auf Wunſch ein auf ibre erlernten Fertigleiten
cingebendes Seugnis, bei kürzerem Mufentbalt in
es
*
— 3 “iN
Veo
| der Anftalt nur cin einfaches Beſuchszeugnis erteilt,
jedoch ift die Ausftellung des Seugnifjes davon ab-
hangia, daß die Schülerin die gejamten, von ibr
gefertigten Arbeiten 14 Tage vor Schluß ihres
Sehuljabres dem Direftor einreicht. Der Direftor
ift berechtigt, cinen Teil der von der Schiilerin
wahrend des Unterridtsjabres angefertigten Zeich—⸗
nungen und Bilder nach Auswahl bis cin balbes
Jahr nad dem Abgange der Schülerin gu Aus—
ſtellungs zwecken zurüchzubehalten.
Zur Erläuterung des Vorſtehenden und zur
Erleichterung bei Auswahl eines beſtimmten Zweiges
des photographiſchen Beruſes ſei das Folgende
erwabnt. Es bat ſich nad dem nunmehr zwölf⸗
jabrigen Beſtehen der Anſtalt herausgeſtellt, daß
der Eintritt in die Praxis denjenigen Schülerinnen
leicht wurde, welche ſich nicht nur einem beſtimmten
Zweige der Photographie gewidmet, ſondern ihr
Augenmerf auf cine moglichft allgemeine Ausbildung
gericjtet batten. Mus dieſem Grunde wurde auch
febr bald feitend der Leitung der Anjftalt eine cin:
jeitige Ausbildung von Retouceurinnen aufgegeben,
da nur die groferen Ateliers Hilfstrafte fiir dieſen
Zweig allein engagieren, bier aber aud) Anforde-
rungen geftellt werden, die cine mehrjabrige Praxis
vorausfesen und welche Schulerinnen nad cin:
cinbalbjabrigem Unterricht geniigend zu erfiillen
nod) nicht im ftande find, wabrend der Eleinere
Photograph, der oft nur cine HilfSfraft engagieren
fann, Wert darauf legt, dah dieſe ihm bei allen
vorfommenden Arbeiten mit yur Hand geben fann,
Hieraus ergibt fic) von felbft die Zweckmäßigleit
eines ſich auf die wichtigſten photographiſchen
Berfahren erftredenden Unterrichts, ſowie der Vorteil,
der in der Annahme einer Stellung vorerſt in
einem kleineren Atelier liegt, wie ſie allen unſeren
Schülerinnen bei der Entlaſſung cmpfoblen wird.
Aud die Annabme ciner Volontärſtellung auf kurze
Beit ift nach bem Berlafjen der Anftalt febr an:
suraten, da der Bolontarin cine größere Bewegungs—
freibeit im pbhotographifden Betricbe geftattet ift
und fie bierdurd ſich um fo fdjneller in die Praxis
cinarbeiten wird.
Reuerdings ift in den Lehrplan aud) Unterricht
in ber Reprodultionéretufde, fog. Kunſtretuſche“,
derjenigen Retuſche aufgenommen worden, welche
als wichtigſtes Hilfemittel bei Herftellung photo:
mechaniſcher Drudplatten dient. Sur CErlernung
dieſer Retuſche iſt ebenfalls cin cincinbalbjabriger
Kurfus erforderlich mit der Mafgabe, daß im erften
Semefter cine allgemein photographifche Musbildung
ftattfindet und das folgende volle Jahr zur Er:
fernung der Reprodulktionsretuſche verwandt wird.
Bei Aufnabme in dieſen Kurſus iit ein erhöhtes
20*
308
zeichneriſches Können der Aufzunehmenden Voraus-
ſetzung.
|
Die Ausfichten, welche fich ben in die Braris |
cintretenden Schiilerinnen nad den gemachten Er:
fabrungen bieten, find folgende: ,Gebilfinnen
fiir alles“ und Retufdeurinnen erbalten cin
monatliches Gebalt von ca. 60 bis 150 Mart,
oder bei freier Station, wie vielfach iiblich, ca. 20 |
bis 50 Mark, wobet die kleineren Zahlen das
durchſchnittlich empfangene Anfangsgebalt aus:
briiden. — Das Gebalt der Empfangsdamen
wird der Regel nad höher bemefjen, ſchon desbalb,
weil erbobte Anſprüche an die Toilette geftellt
werden, Dod) wird bier bet der Anſtellung in erfter
Linie auf bas Außere und Sprachfenntniffe gefeben.
— Den Kopiererinnen pflegt cin Gebalt von
50 bis 100 Marf monatlich jugeftanden zu werden,
bad bei
fiir „Reproduktionsretuſche“ erbalten cin
wefentlich höheres Gebalt. Bisher betrug dads
Anfangsgehalt durchſchnittlich 80 Mark,
wurde nach kurzer Zeit ein weſentlich höheres
Gehalt, bis 120 Mart gezahlt.
Uber die Cinteilung des Unterrimts-
ftoffes orientiert folgender Blan.
Pbotographifde Ubungen: Aufnabmen auf
Trodenplatten ev. auch naſſen Platten, von Büſten,
RKunftgegenftiinden, Zeichnungen, Druden und dem
febenden Modell; BPofitivverfabren (Kopierprojeh
auf Eiweiß, Celloidins, Bigmentpapier, ſelbſt—
freier Station die entfpredende Bers —
minderung wie oben erfährt. — Retufdeurinnen |
jedoch
gefertigtem und käuflichem Platinpapier), Licht:
paudsiibungen, Herſtellung von
famera, Gummibdrud. Qin dritten Halbjabre Ver—
groferung auf Bromfilberpapier bei fiinftlichem
Licht, Nbung in der Herſtellung photomedanifder
Drudplatten, Lichtdruck, Photograviire.
Erperimentaldemic: Cinfibrung
Chemie, furse Beſprechung der widhtigeren chemiſchen
Clemente und der fiir die photographiſchen Prozeſſe
wichtigſten Berbindung derfelben. Im Ll. Teile
Beſprechung der photographiichen Prozeſſe.
Photographifde Optit und Kunitlebre:
Belpredung der photographiſchen Objefte und
Apparate. Crorterung des Einfluſſes der Stellung
Diapofitiven, |
Sfioptitonbildern und Vergrößerungen in der Solar: ,
Bur Frauenbewegung.
und Neig<ung des Apparates yum aufzunehmenden
Objett. Nber Stellung und Beleuchtung.
Zeichnen nad dem (ebenden Modell ujw:
Teile des menfdlichen Körpers (Teile ded Geſichts.
ganjer Kopf, Hinde, Füße), theoretiſche Er—
lauterungen der PBroportionen des menſchlichen
Rirpers, Zeichnen in diefem Sinne. Zeichnen
nad bem lebenden Modell, Gewand: und Halb-
altzeichnen.
Gipszeichnen: Nad einfachen Ornamenten,
nad Gipsabgüſſen des menſchlichen Körpers, mit
Bevorzugung des Kopfes, der Hande und Füße.
Porträtſtudien: Kopfzeichnen nad dem
lebenden Modell, Zeichnen auf photographiſcher
Unterlage.
Perſpektive ujw: Die Grundzüge der Per—
jpeftive im Hinblick auf die photographiſche Auf—
nabime.
Retufde: Materialfenntnis. Gleichmäßig—
maden unrubiger Flächen auf Saly-, Eiweiß- und
Gelloidinpapier mit Eiweiß und Gummifarben.
Retuſche Eleinerer photographifeber Bilder bis yur
RKabinettgrife auf Ciweif, Sala, Platin-,, Chlor:
filbergelatine- und Bromfilbergelatine- Papier. Ree
tuſche von Negativen, desgleicden von Vergroferungen.
Reproduftionsretufde: Abungen mit der
Lufteftompe und dem air brush: Apparat. Be—
arbeitung von pofitiven Papierbildern, Ausdeden
und Bearbeitung von Negativen gum Swede der
Reproduktion.
Aquarellieren und Obermalen: Aqua:
rellieren nach Borlagen, Qbermalen von Photo
graphien in Yajur: und Dedfarben.
Buchführung: Einfache und photographiſche
Buchfuhrung.
Das Honorar file den anderthalbjabrigen
Mefamtfurfus beträgt 300 M. Dazu kommen aber
noch ziemlich erhebliche Koſten für Material, Ober
in die
die Bedingungen bei Teilnahme an einzelnen
Kurſen und von Amateurinnen vergleiche den
Proſpekt. Als Vorbildung wird in der Regel die
einer voll ausgeſtalteten höheren Mädchenſchule
verlangt. Die Anmeldung erfolgt bet dem Direktor.
Sprechſtunden wochentäglich mit Ausnahme des
Mittwoch und Sonnabend von 12—1 Uhr im
photographifcben Yaboratoriunt ded Lettehauſes.
~
Zur Frauenbewegung.
Raddrud mit Quellenangabe erlaubt.
* Die Realgymnaſialkurſe in Breslau follen jest
nad dem Mufter von Schöneberg und Charlotten:
burg im eine der höheren Mädchenſchule ange
gliederte 6 ftufige Realqumnafialanjtalt verwandelt
werden. Cine in derfelben Weiſe organijierte
Anſtalt wird in Danzig begriimdet werden.
* MIS erjter weiblicher Doftorand promovierte
in Strafburg Frl. Eliſe Gütſchow an der
philoſophiſchen Fakultät. — Qn Heidelberg pro:
movierte Frl. Annie Mittelftacdt an der philo—
ſophiſchen Falultät, und zwar in den Fächern
Geſchichte, Deutſch, Nationalökonomie.
|
* Gine weiblidke Hilfstraft fiir die Gewerbe-
infpeftion bat Anhalt anzuſtellen beſchloſſen.
* Sur Rojftiimfrage der Schauſpielerinnen.
Der Direltor des Deutſchen Theaters zu Berlin,
| Serr Dr Otto Brahm, bat fied auf Anregung der
Deutſchen Biihnengenoffenfchaft bin cinveritanden
erflart, fiir die an feiner Bühne ftattfindende Crit:
auffiibrung ded Fuldaſchen Schauipiels , Novella
dAndrea* nicht nur wie bisher den Chordamen
und Bertreterinnen fleinerer Nollen die hiſtoriſchen
Stoftiime zu liefern, fondern zugleich auch nod
allen in dieſem Stück beſchaäftigten Darftellerinnen.
Bur Fraucnbewegung.
Direftor Brahm gehört nit jum Deutfeben
Bühnenverein, fiir deffen Mitglieder die Lieferung
hiſtoriſcher Koſtüume an die Darftellerinnen in
cinigen Qabren Gefey wird. Um fo erfreulicer
ijt ſeine dankeswerte Snitiative in diefer wichtigen
rage.
Die deutſche Franenbewegung
und dic Arbeiterinuen in Crimmitfdan.
Die Ereignifje in Crimmitidau haben die
beutiche Frauenbewegung im doppelter Hinficht be:
rilbrt. Sie haben über ca 3000 arbeitende Frauen
cine Not gebradt, vor der alle Parteirückſichten
und Bedenfen zurücktreten jollten. Und andererfeits
ricfen fie die Deutiche Fraucnbewegung auf, fiir cine
Forderung einzuſtehen, die fie ſelbſt feit Jahren
immer wieder vertreten bat: den Sehnitundentag
fiir alle Fabrifarbeiterinnen. Unb wabrlich find
gerade die Crimmitſchauer Berbaltniffe dazu an:
getan, die ſoziale Notwendigtcit dieſer Forderung bell
gu beleuchten. Den LebenSlauf einer Crimmitſchauer
Urbeiterin ſchildert Wlice Galomon in der
„Sozialen Praxis’ auf Grund eigener perſönlicher
Nacforfdungen folgendermafen:
Vom 12. bis 14. Qabr haben jie als Halbzeitler
in der Fabrik gearbeitet, denn damals war die
Rinderarbeit nod) erlaubt und üblich. Dann baben
fie bie Fabrifarbeit in vollem Umfang aufgenommen,
obne nad der erbeiratung irgend cine Unter:
brechung zu machen. Die Manner verdienten als
Farbereiarbeiter oder dergleichen etwa 14 Mart,
die Frauen als Auslegerin Y Mart, als Druffiererin
10 Mark Gejpart hatte man vor der Hochzeit
nits, da Eltern zu unterftiifen waren. Cinige
mupten die Einrichtung auf Abjablung nebmen, und
dafiir mufte die Frau arbeiten. Als dads erjte
Kind yur Welt fam, fonnte der Verdienft der Frau
gar nicht mebr entbebrt werden, jo wurde das Rind
ju Grofeltern oder anderen Berwandten getan und
4 Mark wöchentlich dafür bejablt. Nach Haus
fommen Ddiefe Kinder in den erften Lebendsjahren
faum, aud) Sonntags nicht, da die Frauen meift
der Unficht find, daß die Ungleichmäßigkeit der
Verpflegung den Kindern ſchadet. Vielleicht find
fie auch felbjt ber Kinderpflege gu febr entwöhnt.
Als bas aweite Kind fam, wurde auc dieſes fort:
gegeben. Nun werden 7 Marl pro Wore fiir
beide Kinder gezahlt. Mein Cinwand, daß dabei
ja nur 2—3 Mark vom Lobn der Frau eriibrigt
werden, die fie vielleicht durch beffere Berforgung
bes Haushalts cinbringen fonnte, wurde damit
zurückgewieſen, daß der Überſchuß doch cin größerer
fet, Da die Kinder gu Haus doch auch etwas koſten
würden. Wenn mehr Kinder fommen, wird die
Fabritarbeit meift der Not gehorchend“ aufgegeben.
„Meine Frau fann nicht arbeiten,” fagte mir ein |
Weber mit 20-22 Marf Wodentobn, „wir baben
ſechs Kinder, da rentiert es fic) nicht.“
Die Verſorgung der Kinder durch die Mutter
oder durch Fremde ift in Crimmitſchau ausidlieflicd
| ift fiir Deutſchland fpruchreif, wie die Bericdte
cin Rechenerempel. Cine Frau mit zwei Kindern
j
809
Grofmutter, bet der fie frither in Siebe waren,
geftorben, tagdiiber gu ihrer Schwejter. Diefe habe
drei Eleine Kinder. Da fomme das Fortgeben ver
Kinder gu teucr, und fie arbeite deshalb yu Haufe
fiir bie Fabrif und verdiene fich noc) etwas durch
Beaufſichtigung frember Kinder. Sie gable der
Schwefter dafiir 1,50 Marl pro Wore. Cine
andere Frau, die nur ein Mind von 10 Qabren bat,
fieht dieſes Kind höchſtens cinmal jährlich, ba ed
mebrere Stunden von Crimmiticdau entfernt bei
ibren Cltern untergebract ift. Sie zahlt dafür
3 Mart wöchentlich. Diefe Beifpiele laſſen fic
beliebig vermebren; fie find typiſch. Die meiften
Arbeiterinnen finnen ſich gar feine andere Ber:
ſorgungsmöglichkeit fiir ihre Kinder vorftellen. Sie
kennen es nicht anders.
Die Forderung des Zehnſtundentags für die
Frauen, die auf Grund dieſer Verhältniſſe geſtellt
iſt und im Mittelpunkt des Crimmitſchauer Kampfes
ſtand, zu unterſtützen, haben deshalb eine Reihe von
bürgerlichen Frauen für ihre Pflicht gehalten. Sie
haben ihrer Stellung zu dieſer Forderung in einem
Aufruf Ausdruck gegeben, der außerdem zu
Sammlungen für die Arbeiterinnen aufforderte.
Unterzeichnet war der Aufruf von Alice Salomon,
Berlin. Helene Lange, Halenfee-Berlin. Marie
Stritt, Dresden. Minna Cauer, Berlin.
Anna Simfon, Breslau. Anna Papprig,
Berlin. Elifabeth Jaffé-Richthofen, Dr.
phil., Heidelberg. Elſe Liibers, Berlin. Qn
den Kreiſen der deutſchen Frauenbewegung bat
dieſe Aufforderung auch ein Edo gefunden. Aus
allen Teilen Deutſchlands find Beitrage eingelaufen.
Anfang Januar fand, durch Wlice Salomon,
Elfe Lüders und Charlotte Engel-Reimers
cinberufen, eine Verſammlung in Berlin ftatt, in
der von Alice Salomon, Elſe LiiderS und Herm
Redatteur Weinhaufen die Berbaltniffe in Crim:
mitfhau und die Folgen des Kampfes fiir die
Urbeiterverhaltniffe des Ortes und fiir die deutſche
Induſtrie beleuchtet wurden. Die Verſammlung
nahm folqende Refolution an:
„Die Verjammlung erklärt ihre volle Sympatbie
mit der Forderung der Crimmitſchauer Tertilarbeiter
um Berkürzung der Arbeitszeit, fie Halt dieſe
Forderung doppelt berechtigt in ciner Snduftrie und
an einem Ort, in dem ein erheblicher Prozentſatz
weiblicher Arbeiter, namentlic) auch verbeirateter
Frauen beſchäftigt find. Die Verſammlung protestiert
gegen die Stellungnabme ber Behdrden in dicfem
Kampf, welche die Gegenſätze nur verſchärft bat,
und bedauert die ablebnende Haltung der Arbeit—
geber gegenitber allen Cinigungsveriucen. An
Reichstag und Bundesrat richtet die Verſammlung
die Forderung, mit möglichſter Beſchleunigung ben
Marimalarbeitstag von zehn Stunden fiir die
Fabrifarbeiterinnen durch Reichsgeſetz feftyulegen;
die Forderung wird von nambaften Sozialpoli—
tifern aller Richtungen feit langem vertreten und
fagte mir, fie arbeite in der Fabrit und ſchicke die der Gewerbeauffichtsbeamten fiir 1902 flar be:
Kinder, fert fie ſchulpflichtig feiem und ſeit die weiſen.“
310
Leider ift infolge der befonderen RKonftellation
unferer wirtſchaftlichen mit unſern politifden Ber:
haltniffen in dem Crimmitſchauer Konflikt mehr und
mebr die Machtfrage in ben Vordergrund getreten.
Wn die Stelle der fachlicen Frage: fiir oder wider
den Zehnſtundentag — um die es fich handelte, ift
eine politifde geſchoben worden: filr oder wider
die Sojialdemotratic. Die deutſche Frauenbewegung
follte fie) in ihrer Stellungnahme nicht durch dieſe
Verſchiebung ded Geſichtspunltes irre machen laſſen,
um fo weniger al fiir die Arbeiterinnen in Crim:
mitſchau felbjt der Gefichtspuntt des Klaſſenkampfes
binter dem Wunſch nach ciner wirklichen Erleidterung
ihres Loſes, wie ed fcheint, guriidgetreten ift. Wlice
Salomon ſchildert ihren Cindrud in der fozialen
Praxis:
Die Frauen balten an ihrer Forderung nach
Arbeitszeitverlürzung mit unbeſchreiblicher Zahigkeit
feſt. Vor allem fordern fie dic Verlaängerung der
Mittagspauſe auf 1'/. Stunden, die bei den
immerbin beträchtlichen Entfernungen des Ortes
abjolut notig erſcheint. „Wir geben nicht wieder
in bie Fabrif, bis unS das nicht bewilliat wird’,
das fann man faft von allen Frauen hören.
» Wenn die Fabrifantenfrauen nur cinmal fpiiren
würden, wie einem des Abends heim Heimweg die
Knie jittern, dann würden fie ibren Männern
fagen, daß 11 Stunden gu viel tft,” fagte mir
eine Urbeiterin. Die Frauen laſſen fic anſcheinend
von Madtiragen, von dem Gedanten des Klaſſen—
fampfes viel weniger beeinfluffen, alg von den
rein materiellen jForderungen. Das ift fiir fie
das M und O des Kampfes, dafiir wollen fie
zuſammenhalten und darben,
Der Standpuntt, der das Intereſſe der Familie,
ded Kindes, des Haufed in den Bordergrund ftellt,
follte jest, nachdem der Kampf mit ber Niederlage
treten werden, bei der die Berantiwortlicleit fiir
die geiftige und materielle Gefundbeit des gangen
Boles liegt, und die über die Parteien binweg dieſe
Verantwortlichkeit yu erfiillen hat. Der Reichstag
follte die Ginfiibrung des Zehnſtundentages für
Zur Fraucnbewegung.
in Gleichftellung mit den ,Perfonen, die von Unzucht
leben", wahlrechtslos bleiben follten, das lommunale
Wahlreht erhalten. Bedingung des Wablrechts
bleibt allerdings Steuerleiftung, aber fo, daß den
Ehefrauen die Steuerzahlung ihres Mannes ju
gute geredinet wird. Bei der Berhandfung er:
tlirte ber Minifter des Inneren, daß er fic
dieſen von 15 Liberalen beantragten Abanderungen
deS Entwurfs anſchließen könne, er befürchte aber,
daß dadurch der Sache im Landsthing Schwierig—
keiten bereitet würden.
*Aber die Zulaſſung von Frauen zu Staats-
ämtern bat die norwegiſche Regierung dem Stor:
thing einen Geſetzentwurf gugeben laſſen. Der
Entiwurf, der auf Grundlage der Gutadten der
eingelnen Minifterien ausgearbeitet worden ijt,
erweitert gwar den weiblichen Wirkungskreis, be—
zeichnet aber zugleich die Arbeitsgebicte, von denen
die Frauen auch fürderhin ausgeſchloſſen bleiben
follen, Offenes Feld erhält die norwegiſche Frauen:
welt in der Rechtſprechung. Schon bisher amtieren
auf Grund einer Verfaſſungsbeſtimmung Frauen
als Beifiger, fortan foll ibnen aud) der Richter:
beruf gedffnet werden. Ebenſo werden fie ſich im
hoberen Lehrfache betatigen fonnen, mit Ausnabme
in der theologiſchen Fafultit. Das Gutadcdten der
Biſchöfe weift den Gedanten einer Zulaſſung von
Frauen gu Kirchenämtern rundweg ab. Die Biſchöfe
erflaren, die Befesung kirchlicher Stellungen mit
weibliden Kräften widerftreite fowohl dem Worte
Gottes, wie dem Augsburgiſchen Befenntniffe und
der kirchlichen Aberlieferung. Außerdem find Frauen
natürlich im Reffort des Kriegsminiſteriums aus—
ber Urbeiter geendet bat, durch die Inſtanz vers geſchloſſen und aus internationalen Griinden von
der RKonfulatslaufbahn.
Sie find aud) nidt zu—
gelaſſen zum Amt der Minifter, Stiftsamtmanner
(den deutſchen Oberprifiventen entſprechend), ferner
zum Polizeidienft, den Direftorenpoften im Land—
| ftrafen-, Kanab, Hafens und Leuchtturmivejen, in
alle Frauen: Fabrifarbeit in Ausſicht ftellen, damit —
die ungebeuren Opfer und Einbußen, die der
Kampf beiden Parteien auferleat bat, wenigitens
einigermafen aufgewogen werden durd einen
notivendigen und ſegensreichen ſozialpolitiſchen
Fortſchritt.
* Das kommnnale Frauenwahlrecht in Dane-
marf, Das Follething hat, iiber die Vorſchläge des
Regicrungsentiwurfs hinausgebend, bei der zweiten
Lefung bes Geſetzentwurfs yur Reform des lommu—
nalen Wahlrechts cinftimmig, bet Stimmentbhaltung
der Konfervativen und ciniger Moderater und
Liberaler, beſchloſſen, daß auch dienende Perfonen
(Dienftboten, Knechte und Magde) und verbheiratete
Frauen, die befanntlich nach dem Regierungsvorſchlag
den Bergwerfen und in den Gefängniſſen und
Irrenhäuſern, foweit diefe auger weiblichen auch
minnlide Inſaſſen haben. Einen Unterfeied
zwiſchen verbeirateten und unverbeirateten Frauen
macht der Geſetzentwurf nicht. Die Regierung ift
in Bezug auf verbeiratete Frauen der Anſicht, daß
cine jede felbft gu beurteifen habe, ob fie ibre
Pflichten als Gattin und Mutter mit der UÜber—
nabme eines Staatsamtes in Cinflang bringen
lönne.
*Die Zulaſſung zur Advokatur, bie der
Miß Cave ſeitens der Barristers of the Middle
Temple kürzlich verweigert wurde, wird demnächſt
nod) von anderen engliſchen Juriſtinnen gu erreichen
verfucdt werden. Bekanntlich ift es in England
Berfammlungen und Vereine.
notwenbdig, daf der die Univerfitiit verlaſſende Juriſt
qu feiner weiteren Ausbildung in einen juriftifden
Verband aufgenommen wird. An diefe Aufnahme
ift die Zulaſſung gum Eramen und damit auc zur
Advolatur gebunden. Es tft mun nicht aus
geſchloſſen, daß irgend ein anderes jurijtifdes
Syndikat die Frauen pulaft. In nächſter eit
will fic) Miß Panthurft mit dem gleiden Gefud
an die Benders von Lincoln’s Jun wenden. Jn
England swiederbolt ſich jest im der Jurisprudenz,
was fic) vor cin paar Jahrzehnten im der Medizin
zutrug, we auch fein Synbdifat bie Frauen gulaffen
wollte. Wher fo wie damalé werden auch jest die
Schranlen ſchließlich fallen müſſen.
* Jn dic Prufnugslommiſſion der Univerſität
Aberdeen wurde als erſtes weibliche3 Mitglied
Miß Gane Forbes gewablt.
* Ginen Precis von 60 O00 Fred. (den größeren
Teil ded Ofirispreifes) verlich der Ausſchuß ded
Synditats ber Parifer Preffe an Mme. Curie zur
Fortichung ihrer Radium Forſchungen.
* Stubdierte Frauen in Nuflaud. Dic Guts-
beſitzerin Sapolsli von Sapolje (Gouv. Rjaſan)
bat kürzlich in Mosfau bas Eramen als Pathe:
matiferin glänzend beftanden. Bis jet hatte
311
fich in Rufland noc niemals eine Dame ciner
matbhematifden Briifung unterzogen. Die Blatter
treten lebhaft dafür ein, daß Frau Sapolsti, bie
fie cine zweite Sonja Kowalewsky nennen, in
Rupland eine UAnftellung erbalte. — In Odeffa
ftarb vor einige Tagen Sophie Perejaßlawzewa,
cine Naturforſcherin, die eine Reihe wertvoller
Arbeiten verdffentlidt bat. Sie wurde als Todter
eines Oberſten in Kursk geboren, befudte in den
bOer Jahren das bortige Mädchengymnaſium und
febte dann, mit botanifden, anatomifden und
zoologiſchen Studien beſchäftigt, einige Beit in
Charfow. Darauf ftudierte fie in Zürich Natur:
wiffenfdaft und promovierte dort gum Dr phil.
Rach Rußland guriidgefebrt, twurde fie mit ber
Veitung der Zoologiſchen Station in Sebaftopol
beauftragt. Dieſen Poſten bekleidete die Verftorbene
zwölf Jahre, fiedelte dann nad Odeſſa itber und
war ſpäter in Neapel mit zoologiſchen Forſchungen
beſchäftigt, wohin jie von der Moskauer Ratur-
forſchergeſellſchaft geſandt wurde.
*Frauen als Geſchworene. Am Kindergerichts—
bof von Chitago ſaßen kürzlich zum erſtenmal
ſechs Frauen als Geſchworene gu Gericht. Es
handelte ſich um bie Frage der UÜberführung eines
Kindes in eine Beſſerungsanſtalt.
—— ö
Versammlungen und Vereine.
Juternationaler Frauenkongreß 1904.
Die Arbeit der Seltionen iſt vorläufig nach fol—
gendem Programm feſigeſetzt:
1, Seftion fiir Srauenbildung.
Vorſitzende: Frl. Helene Lange; ftellvertretende
Porfigende: Frl. Gertrud Baumer.
Montag, ben 13. Juni:
Die Bilbung der Frau fiir ibren Mutterberuf.
Hausliche Erziehung. Kindergarten.
Dienstag, den 14. Juni:
Die Bildung der Madden durch die Vollsſchule.
Gemeinſame Erziehung der Geſchlechter. Einheits—
ſchule.
Mitwoch, bern 15. Suni:
Die Aufgaben der Mädchenfortbildungsſchule. Die
Vollsbildungsbeſtrebungen fiir Frauen.
Ponnerstag, den 16 Suni:
Mädchenbildung (Höhere Mädchenſchule,
Gymnaſium uſw).
Freitag, den 17. Juni:
Das Univerſitätsſtudium der Frauen.
Sonnabend, den 18. Juni:
Hohere
Il. Settion für Srauenerwerb und -Bernfe.
Vorſitzende: Fri. Alice Salomon, ſtellvertretende
Vorſitzende: Frl. Elſe Luders.
Montag, ben 13. Juni:
Landwirtſchaft und häusliche Dienfte.
Dienstag, den 14. Juni:
Die Frau in Gewerbe und Induſtrie.
Mittwod, den 15. Suni:
Die Frau in Sandel und Verkehr.
DonnerStag, den 16. Quni:
Soziale Fraucnberufe.
Freitag, ben 17. Suni:
Wiſſenſchaftliche Frauenberufe.
Sonnabend, den 18. Suni:
Künſtleriſche Frauenberufe.
III. Settion fiir foziale Cinrichtungen und
Beſtrebungen.
Vorſitzende: Frau Anna Edinger; ſtellvertretende
Die Beteiligung der Frauen am Unterrichtsweſen:
a) als Sebrerinnen,; b) an der Unterrichtsverwaltung.
Norfigende;: Frau Katharina Sdeven,
Montag, den 13. Juni:
Armenpflege, Hranfens und Hefonvalescenten:
Fürſorge.
DPienstag, den 14. uni:
Fürſorge fiir Kinder und Jugendliche.
312
Mittwod, ben 15. Juni: ;
Beftrebungen zur Hebung ber Sittlichkeit.
Donnerstag, den 16 Juni:
Gefangenenfiirforge. Alkoholbelämpfung.
Freitag, ben 17. Juni:
Berufsorganijationen, Arbeits: und Stellen:
vermittelung.
Sonnabend, den 18. Juni:
Verſchiedene Wohlfahrtsbeſtrebungen; Rechtsſchutz
ſtellen für Frauen; Klubs; Heime uſw.
IV. Settion fiir die rechtliche Stellung der Srau.
Vorſihende: Freiin Olga von Beſchwitzz ſtell—
vertretende Vorſitzende: Frl. Dr Gottheiner.
Montag, den 13. Juni:
ber he im allgemeinen; b) Eheliches Giiterredt.
Dienstag, den 14. Suni:
Die zivilrechtliche Stellung der Frau. a) Elterliche
@ewalt; b) Stellung der unehelichen Mutter und
ihres Rindes; c) Vormundſchaft.
Mittwod, den 15. Juni:
Die Frau im Wereingredt und in der ſozialen
Gejegqebung.
DonnerStag, den 16. Juni:
Frauen in fommumalen Amtern. a) in der offent:
Bücherſchau.
des betreffenden Arbeitsgebietes geführt werden.
Mitteilungen hierüber wie aud über die Tages—
ordnung ber 5 in Wusficht genommenen grofen
Bffentliden Propaganda-Berfammlungen fonnen erft
ſpäter erfolgen. Ober die Rednerinnen gu den
cingelnen Themen fann erft Genaued feſtgeſetzt
werben, wenn auf ſämtliche nad dem Ausland er:
gangene Cinladungen Antworten eingelaufen find.
Der Zentralverband sur Belampfung
bes Alfoholismus
| veranftaltet in ber Wore nach Oftern 1904 (5. bis
| 10. April) in Berlin „Wiſſenſchaftliche Kurfe yum
| Studium des Alkoholismus.“
Die zivilrechtliche Stellung der Frau. a) Wirfungen |
lidjen Armen: und Waiſenpflege; b) in den ſtädtiſchen
Sdulbeputationen.
Freitag, ben 17. Juni:
Das tommunale und kirchliche Wahlrecht ber Frau.
Sonnabend, ben 18. Suni:
Das politiſche Wahlrecht.
Der Vorſitz in den von 9-1 Uhr Vormittags
ftattfindenden öffentlichen Sektionsſitzungen wird
Hervorragende Ge:
lebrte find bereits als Bortragende gewonnen
worden. Es wird iiber folgende Themen gelefen
werden:
Geſchichte ded Kampfes gegen den AL:
foboliginus, Altohol und Vollswirtſchaft.
Alkohol und Verbrechen. Wirkungen ded
Alkohols auf die Nachkommenſchaft. Al—
loholismus und Proſtitution. Der Alto:
holismus und die UArbeiterfrage. Sebule
und häusliche Erziehung im Kampf gegen
den Alfobolismus. Die Cinwirkungen des
Alfobols auf Körper und Geiſt.
Manner und Frauen aller Stande, welche in
amtlicher Stellung oder freier Wohlfahrtspflege auf
dem Gebiete ſozialer Reform arbeiten und fic über
den Feind unſeres VollStums unterrichten wollen,
+ Werden hierdurch zur Teilnabme aufgefordert.
jedeSmal von ciner anderen deutſchen Bertreterin -
Teilnebmerfarte 6 Mart.
Meldungen an Senatsprafident Dr von Strauß
und Torney, Berlin W., Bayreutberftr. 40.
=r
— Biicherschau. —
Neue Cyrik.
„Der bet appa Cin Bud Schlußreime
von Otto €
Verlag. Hartleben, der Herausgeber von Angelus
Silefius, hat in den Rbythmen bed Myſtikers
ciqene Lebensiveisheit ausgedriidt. Die fnappe,
abjebliefende, einfach ausſagende Urt dieſer Bier:
zeilen, bie ber zuverſichtlichen und unbeirrten
Innerlichkeit bes Angelus Silcfius fo twundervoll
entſpricht, fügt fics aud der refignierten Welt:
betradtung des Mobdernen, der ſich mit dem Leben
endgiltig auseinander gefest bat, dem kühlen Ab—
urteilen bes Ariſtoklraten über die misera plebs,
bem pointierten Wig des Satyrikers, der in allerlei
ſchmutzige Tiefen ſchaute. Hartlebens halkyoniſche
Verſe find inhaltlich geiſtvoll und fein, und dabei
ein interefjantes artiſtiſches Crperiment.
Yon den Gedidjten von Heinrich Seidel
hat bie Cottafdbe Verlagshandlung eine Gefamt:
ausgabe veranftaltet. In fait überreicher Fülle
werden alle die kleinen Gelegenbeitégaben einer
—
gedichte.
rich Hartleben. Berlin, S. Fiſcher,
ſonnigen Wohnſtubenatmoſphäre darin ausſchüttet,
Lieder und Spruchhaftes, Balladen und Gelegenhbeits—
Die harmloſe Friſche der Empfindung,
die freundliche Teilnabme fiir das Kleinſte der ALL
taggumgebung, diefe Riige Seidelſcher Novelliſtit
geben auc der Lyrik ibren Ton. Und dazu fomimt
cin feines Formgefühl, das nicht gerade in kühner
Cigenwilligteit, aber ficher vor Rerirrungen feinen
Weg gebt. Vollsliedmäßiges klingt zuweilen rein
und voll an. Unb die feine Parodie gerat dem
Didter yon Leberecht Hühnchen befonders gut.
Unter dem Titel „Und aber windct fid) cin
Krauz“ bat Chriftian Worgenftern, der
Uberſetzer von Ibſens Gedichten in der grofen
deutſchen Ibſen Ausgabe, cine Sammlung Lyrika
bei S. Fiſcher (Berlin) erſcheinen laſſen, die in
Klang und Rhythmus von feinem muſilaliſchen
Gefühl zeugen. Ein großer Formenreichtum in
rhythmiſcher und ſprachlicher Hinſicht gibt die Mittel
zu einem fubtil abgetonten Malen von Stimmungen
mehr als gu elementarem Ausklingen groper Leiden:
ſchaft.
Biidherfdau.
Neben Hem wenigen Guten fteht cine größere
Menge des Dilettantenbaften und Talentlofen oder
wenigftens Unreifen und Anfdngerbaften. Am
Verlag von J. P. Bachem in Kolin erfeienen
Gedichte von M. Herbert unter dem Titel „Ein—
ſamkeiten“. eben einzelnem Gelungenen und
Echtem drangt fic) Konventionelles und Geſchmack—
loſes, gang befonders in ben religidjen Gedichten.
Hober fteht dic Sammlung von Hedwig Brans:
feld: „Erwachen“, im gleichen Berlage erſchienen,
die in mandem Gedicht cin ſchönes Formgefühl
und eigenartige Empfindung und Stimmungéstraft
geigt, und ,,Bon MAiltag und Sonntag’ von
Maja Matthey (Rerlag von Georg Heinrich
Mever, Leipzig und Berlin), dad fraftigere Farben
tragt und kühneren Musdrud findet, aber auch von
Unficherem und gelegentlichen Mipgriffen in Wort
und Form nicht fret ift.
„Deniſe de Montmidi“. Roman von Georg
Freiberr von Ompteda. Egon Fleiſchel u. Co.
Berlin 1903. (Preis 5 Mark.) Cin Roman aus
der grofien Welt bebandelt — man fonnte fagen
eine Sariation des Themas der doppelten Moral,
wenn der Ausdrud fiir die gang objeftive Auf—
faffung und Darftellung Oimptedas nicht viel yu
tendengidd ware. Er erzählt die Gefchichte ciner
gedanlenloſen und findifeben, aber innerlich reinen
und der Treue und Aufopferung fabigen jungen
Ftanzöſin, die von ihrer Familie aus dem Kloſter
weg an cinen leichtſinnigen jungen Lebemann ver:
tn Be wird. Auf der Hochzeitsreiſe verfpielt er
cin Vermögen, und in der erzwungenen Zurück—
gezogenheit ſeines kleinen Gutes, auf deſſen eigene
Bewirtſchaftung er nun ſeine Exiſtenz gründen muß,
verſinkt er in die Roheit, über die ibn die Eleganz
von Paris nur äußerlich erboben hatte. Denife,
bie erft ehrlich und ftandbaft den von ibm ver:
ſchuldeten Weebfel ibres Lebens mit ibm getragen
bat, fiebt fic) von ibm vernadlaffigt, ja um einer
qroben und ordinären Bauerndirne willen betrogen.
Sie felbft (aft die Empirung dariiber und dic
innere Ode ihres Lebens der Verſuchung erliegen,
bie cin junger Guténadbar ihr im Spiel einer
aleichfalls erzwungenen Langeweile bereitet. Was
ihrem Gatten niemand ſonderlich übel nimmt, ja
viel Entſchuldbareres als das, wird ihr als ein
Verbrechen angerechnet. Der Gatte, der Geliebte,
ihre Familie verſtoßt fie. Qn Paris auf ſich ſelbſt
angewiefen, wird fie die Gelicbte eines älteren
Mannes, auc in ihrer zweifelhaften ſozialen
Stellung feine Geſunkene und Verlommene. Rach
ſeinem Tode ſucht ſie, ein Opfer einer auf Lüge,
gleißender Heuchelei und kalten Egoismus geſtellten
Geſellſchaftsklaſſe, im Kloſter ihre Zuflucht. Dieſe
Entwickelung macht die feine Erzählkunſt ded Ver—
faffers bid in die Einzelheiten binein fpannend und
fiberzeugend. Mit ſicherem Talt ift die Geftalt der
Denife und ihr Schicjal gegen die fie verurtcilende
Geſellſchaft fontraftiert, chne daß die Berteifung
pon Licht und Schatten tendenziös wirft.
Mathilde’, Beichnungen aus dem Leben
einer armen Frau. Homan. „Aus GHiitten am
Hange“. Kleine Erzählungen von Carl Haupt:
mann. Minden. Georg D. W. Callwey. (Preis
& Mark bezw. 3 Mark.) Es find beides Bücher,
die abſeits fiegen von der Richtung, in der unfer
moderner Noman, aud der naturaliftifede, ſich
813
bewegt. Etwas cigenartig Ringendes, Unfertiges
fennjcichnet fie. Cine Ausdrucksfähigkeit, die fic
bier dem gewaltigſten Geſchehen, dem feinften
ſeeliſchen Erleben gewachſen zeigt, dort naiv und
ungeſchickt nach primitiven Mitten greift, dann
wieder wortreich, faft ſchwülſtig um die Ber:
forperung der geſchauten Situationen ringt; fo rein
und unmittelbar geſchauter Situationen, wie fie
wenigen unferer Romane gu Grunde fliegen. Denn
das ift das Schönſte in dieſen beiden Biidern:
bie Ehrlichkeit des künſtleriſchen Sinnes, in dem
dieſe Menſchenſchickſale fic) ſpiegeln. Es ift nicht
bas bewußte Wirklichleitspathos, die oſtentative
Wabrbheitsliebe des Naturalismus, fondern etwas
unendlich viel Dbjeftiveres und Cinfacheres. Man
fühlt fic verfucht, die Zeichnungen aus dem Leben
einer armen Frau neben Clara Viebigs „Das
tigliche Brot’ ju ftellen. Beide Romane begleiten
den Weg ciner Frau, die in fdlichter und ein:
fältiger Weiſe das Leben, das die ſcheinbar hilflos
Preisgegebene in feine Wirbel reißt, tiberwindet.
Wenn Clara Viebigs Darjtellung durch die techniſche
Virtuofitdt jeneds kunſtmäßigen Naturalismus ibr
Gepräge erhalt, ¢3 dabei aber vielleicht doc den
Geftalten an individueller Innerlichkeit gebricht, ift
bier der zunächſt fic) aufdrängende Eindruck cine
merfwiirdige techniſche Harte und Herbigfeit, die
fic) z. B. ſchon in den eigentiimlic) ſchwerfälligen
Kapiteliiberfebriften dufert. Wher aus diefem ju:
weilen ungelcidt drapierten Gewande ſchaut uns
das Leben mit tiefen Mugen ſeltſam feſſelnd und
bannend an, und die Wabrbeit berührt uns in
diefer primitiven Ausdrudsform um fo zwingender.
„Aus Hiitten am Hange“ ift eine Sammlung von
Geſchichten aus bem Ricfengebirge, die, technifd
uweilen abgerundeter als der Roman, durch die:
elbe cindringliche Treue der Charafteriftif, eine
wundervolle epiſche Plaſtik und zugleich cine eigen:
artige StimmungStraft wirfen.
Die „Hausbücherei“ der Deutſchen Didhter-
Gedidjtuis: Stiftung ijt jocben mit drei Banden
erdffnet worden. Bon allen Unternebmungen, die
bem ,,billigen Buch” galten, der Aufgabe, die Meifter:
werfe unferer Yiteratur jedem eingelnen in unferem
Volk gu eigenem Beſitz darjubieten, hat die Deutſche
Dichter: Medachinis-Stiftung ibre Wufgabe in der
viclleitiaften und umſichtigſten Weife in Angriff
genommen, Die erften drei Bande bieten dafiir
cinen Beweis. Sie jeigen grofen, flaren, ſchönen
Dru, der von der erften augenhygieniſchen Autorität
Deutſchlands alS dburdaus zureichend anerfannt
worden ift. Die Bilcher find auf gänzlich bolsfreiem,
ſchönem Moderndrud-Biittenpapier bergeftellt, in
einem Format — nicht su flein und nicht zu groß
— das in einer gewöhnlichen Serrentajde Platz hat.
Auch find ſämtliche Eremplare der 3 Bande, von
denen übrigens jeder auch einzeln käuflich ift, feft
und folide (init aufgedructemt Border: und Rücken—
titel) in fogenanntes ,,Dermatoid” gebunden, cinen
feinenartigen Stoff von ſchöner Farbe (Band 1 ijt
rot qebunden, Band 2 grin, Band 3 gelbbraun),
der bei all feinem ſchmucken Ausſehen dod die
äußerſt angenehme Eigenſchaft bat, daß er laum
Schmutz annimmt, wenn er aber doch durch ſehr
ſtarlen Gebrauch der Bücher ſchmuhig geworden tit,
ſich — mit Waſſer (meiſt ſchon ohne Seife) reinigen
läßt. Das Dermatoid, deutſche Erfindung und
deutſches Fabrifat, bat ſich in Bibliotheken und
⸗
314
fiir Einbände von Privatbüchern ſchon vielſeitig auf
das Beſte bewährt.
Den 1. Band der „Hausbücherei“ bildet Kleiſts
„Michael Kohlhaas“. Das Buch ift von Dr
Ernſt Schultze mit einer fnappen Cinleitung — ver:
feben, die in einfacer und populärer Form den
Dichter charatterifiert. Der Muünchener Maler Ernft
Liebermann hat das Bud, das auferdem nod mit
einem ſchönen Kleiſtbildnis geſchmüctt ift, mit 7
prächtigen Bollbildern illuftriert. Trogodem betriigt
der Preis fiir das gebundene Buch nur 90 Bjg.
Den 2. Band bildet Goethes „Götz von Ber:
lichingen“, mit dem ſchönen Goethebildnis von
Lips (1791) und mit einer Cinleitung ded befannten
Goetheforſchers Dr Wilhelm Bode. Das Buch
foftet gebunden nur 80 Pfennige und ijt gewiß
vielen willfonunen, die eine ſchöne und bandlice
Sonderausgabe des ,, Gig" zu beſitzen wünſchen.
Mud der 3.
finden. Gr betitelt ſich „Deutſche Humoriſten“ und
enthält 4 ausgewablte humoriſtiſche Erzählungen
von Peter Roſegger, Wilhelm Raabe, Fritz Reuter.
Ein unbegreiflicher Mißgriff iſt allerdings die
5. Erzählung des Bandes, cine ganz platte Humoreste
von Albert Roderic), die ſich an diefer Stelle felt:
fam augnimmt. Bei ciner Stirfe yon 221 Seiten
ift das Buch fiir den auferordentlich geringen Preis
von 1 Mart käuflich. Findet es beim PBublifum
die erwartete Aufnahme, fo follen weitere Bande
ähnlichen Inhalts folgen. — Die 3 bisher erfebienenen
Bande der „Hausbücherei“ eignen ſich ſowohl zu—
ſammen als auch einzeln ganz beſonders zu Ge—
ſchenken für Groß und Klein. Sie find ein fo
giinftigeS Zeugnis fiir dad Unternehmen, dad fie
geſchaffen, daß man ibnen nur von Herzen auch
Band endlich diirfte viel Antlang’
diufern Erfolg, das heißt weitefte Berbreitung |
wünſchen möchte.
„Rahel, eit Bud des Andenfens fiir ihre
Freuunde“. Bearbeitet und eingeleitet von
Dr Hans Landsberg, Renaiſſance Bibliothek,
2, Bo. Berlin, Verlag von Leonhard Simion Rj.,
1904. (Preis broſch. 3 Mark.) Der Band bictet
cine mit Taft und Verſtändnis getroffene Auswahl
aus ben drei Banden, in denen Varnhagen Rabels
briefliche Beziehungen gu den Menſchen ibrer Beit
zuſammenfaßte. Es ift durch die Reichbaltigteit
des Dargebotenen wohl wert, an die Stelle der
alten Musgabe gu treten, wenigſtens fiir den Laien,
der fich in dieſes merlwürdig bewußt gelebte und darum
jo unbarmonifd-intereffante Leben werticfen will.
pLiebesbriefe eines engliſchen Mädchens“.
Autorifierte Nbertragung. Erſchienen im Inſel—
Verlag Leipzig, 1904. Das Motiv dieſes Brief:
romans iff bad denkbar cinfachjte: Die Liebe eines
Mädchens zu cinem Mann, der ihr durd) feine
Mutier abjichtlic) entfrembdet wird. Und aud der
Vollzug diejer geringen äußeren Handlung wird
gar nicht dargeftellt, alles erſcheint nur als
inneres Erlebnis. Aber nun erbliibt in dieſem
ganz kleinen auperen Rahmen das ſeeliſche Leben
in einer Fülle, einer Tiefe und Zartheit, die dieſe
Briefe den ſchönſten Dolumenten weiblicher Crotit
an die Seite ſtellt. Die Wberfesung wird den
feinen Ritancen des Originals qerecht, wenn fie
aud bier und da die friſche Naivetät des Ausdrucks
nicht erreicht — vielleicht mit unſren Sprachmitteln
iiberbaupt nicht erreichen fann,
Bücherſchau.
„Erinneruugen von Ludolf Urslen deat
Jüugeren“. Roman von Ricarda Hud. Sechſte
Auflage. J. G. Cottaſche Buchhandlung Rady.
G. m. b. H. (Preis 4 Mark.) Dak von dieſem Buch,
einem der beften Romane unferer Gegenwarts-
literatur, einem fo guriidbaltenden, feinen und jtiflen
Buch cine fechfte Auflage erſcheinen fann, ift cin
quteS Zeichen fiir die literariſche Durchſchnitts—
bildung. Som nod einmal cin Geleitwort gu geben,
deffen bedarf es faum, es fei denn ber Wunſch,
daß noc recht viele in feine golbene Tiefe binein:
ſchauen lernen möchten.
„Mißbrauchte Fraueutraft“ von Ellen Kev.
2. Muflage 1904. S. Fiſcher. Verlag. (Preis 1 M.,
gebunden 2 Marl.) Die zweite Auflage der viel
bejprocenen und viel ——— Broſchüre, mit
der Ellen Key auch in Deutſchland zuerſt bekannt
wurde, hat gegen die erſte keine Veränderungen
erfahren. Auch wer ihrer Grundauffaſſung von
den Aufgaben der Frauenbewegung, von dem Weſen
der Frauenfrage nicht zuſtimmt, wird der Feinheit
ſich freuen, mit der ſie ausſpricht, was in Kämpfen
und Fragen um die „neuen Bahnen“ auch geſagt
und durchdacht werden muß.
Sämtliche Werke von Marie Eugenie delle
Grazie. Zweiter Band. „Robespierre“, ein
modernes Epos, 2. Teil. Berlag von Breitkopf
und Hartel. Leipzig 1903. Nachdem der erſte Band
der Ausgabe, der den erften Teil des Hobespierre
entbiclt, bereits mit dem dritten, cinem RNovellen:
band, zugleich erſchienen ift, liegt nun mit dem
aweiten Band bas Epos abgefdlojjen vor. Wir
weifen bier auf das Erfdeinen mur bin und werden
jpater noc einmal auf die Dichterperfonlichfeit
der Marie Eugenie delle Grazie im gangen eingeben.
Die Befiegten’ von Ludwig Bauer.
J. ©. C. Bruns Verlag, Minden 1903, „Kleine
Tragddien der Zeit’, nennt der BVerfafjer feine
Dialoge, die in ſcharfer Pragifierung Fragen der
Gegenwart auf den Gebieten der Runjt und der
Wiffenfehaft, des politijden und fogialen Lebens
qu einem kleinen Kunſtwerk formulieren. Fort—
ſchritt und Reaftion, Streben und ſchläfrige Gleich—
giltigleit ſtehen ſich im Kampf der Meinungen
gegenüber: Der Offizier, der das Duellweſen ober:
flächlich verteidigt; der Prieſter, der ein Sklave
des Dogmas und der Beſchränktheit geworden; der
Yebrer, der die techniſche Aufgabe durch feine
Praxis löſt, wie er aus Menſchen Maſchinen macht.
Der Künſtler wie der Anwalt, die Gelichte wie
die Dirne, der Arzt wie der Wriftofrat, fie alle,
alle find die Befiegten, die das Leben jerbrad und
in Trimmer ſchlug. Die UArbeiten Bauers find
außerordentlich fcharf beobadjtet und mit diefer
Schärſe auc) fonjipiert. Wan könnte bet ihnen
von Kulturdofumenten der Moderne ſprechen, denn
fie zeigen dic Unterftrdmungen auf, dDurd die das
Getriebe der Geſellſchaft und biefer Weltkreiſe be-
ſtimmt wird. Dr Regener.
„Welt und Ich“, Dicdtungen von W. C.
Gomoll. Berlag Gofe u. Teglaff. Berlin 1903.
Yeife, durch die Unrube ded Lebens veridleierte
Probleme der Welt und ihres Wirfens finden ibre
Spiegelung und Wertung in den Reflerionen des
Bücherſchau.
Ich. Fragen, die aus Träumen ſich zur Wirklich—
feit ringen und nod in ber Behandlung das Ge:
ftaltlofe nicht abgeftreift haben. Die Mare Plaftit
und rubige Reife feblt, die uns zeigt, daß der
Künſtler a Slave des Stoffes, als fein Herrſcher
in der Ausfiihrung ijt. Fein in der Wirhing find
die Liebesgedichte, die jugendfriſch und voll ſtolzer
Hingebung find; fein aud) die landfcbaftlichen
Stimmungen, die mit weiden Tönen angegeben
und bie und da verſchwommen find. Immerhin
offenbart Gomoll cine Begabung, die in dauernder
Selbſtzucht Trefilides erreiden wird. Der kühne
Titel „Welt und Ich“ wird ſpäter auch cine tiefere
Berechtigung finden, als er fie bet dem Crftlings-
wert bes Berfajjers verdient. An die Aus—
aeftaltung feineds Talented diirfen wir mit Sicerbeit
glauben. Dr R.
„Aus dem Sudjthanje’. Bon Hans Leu.
Preis 2,50 Mark. Verlag von Aobannes Rade,
Berlin W. 15. Die ,Multurprobleme der Gegen:
wart” (herausgegeben von Leo Berg) bicten und
in ihrem ficbenten Bande eine jener fozialen
Studien, die uns in eine fremde Sphäre mit den
Augen ved Erlebenden hineinſchauen laſſen. Der
BVerfaffer bat befanntlich eines Meineids wegen,
den er um einer Dame willen leiſten gu müſſen
glaubte, mebrere Jahre Zuchthaus erhalten. Er
ſchildert die Welt, die hinter ben Maucrn unferer
Strafanftalten liegt, wie fie im dieſer Weife nocd
nicht gefchildert worden iſt. Denn aud) der er:
fabrenfte Fachmann, aud) der weitherzigſte Menſchen—
freund fann die inneren Erlebniffe eines ,3ucbt-
biuslers” nur abnen, niemals nacempfinden. Wenn
bie jungere Kriminaliſtenſchule ben Grundfag ver-
tritt, daß das Verbrechen eine Folge der fogialen
Sujtinde ijt, wenn fie unferem Straffyftem die
bejjernbe Kraft abfpridt und es von Grund aus
fiir verfeblt halt, fo tft dies Buch im höchſten
Grade geeignet, ihren Theorien cin überzeugendes
Tatfacdenmaterial sur Stütze gu geben. Man möchte
vielleicht wünſchen, der Berfajjer hatte der plaſtiſchen
Rraft feiner cigenen Darjtellung mehr vertraut;
die langen Reflerionen wirfen ftdrend. Jeder
Tenfende muh fie felbft madden; ja, man wird
fagen diirfen, daß dic Renntnisnabme von den
Mraiueln der im Zuchthaus nod julaffigen Priigel:
ftrafe, daß dic fic) auforangende Uberzeugung von
der Nuglofigfeit und alle Energie lähmenden
Wirfung unferer Strafmethoden griindlich geeignet
ijt, feine Gemiitsrube zu ſtören. Und dafür fonnen
wir dem Berfaffer dantbar fein.
„Haundbuch fiir Lehrer und Lehrerinnen’’.
Verlag von Theodor Hofmann in Leipzig 1903.
Das von einer Reihe von Fachkräften herausgegebene
Handbuch wird von Prof. ge tire Biegler mit
einer fnappen und klaren Uberfidjt über die
Geſchichte der Vollsſchule, ihre gegenwärtigen
Entwicklungstendenzen und die Aufgaben des Lehrers
ihnen gegenüber eröffnet. Es bietet fir alle das
Beruſsleben betreffenden Angelegenheiten, ſowohl
hinſichtlich der geſamten Unterrichtstätigkeit als
aud) des außeren Dienftverhaltnifjes, der Fort:
bilbung, Organijation ufw ſachlich ſorgfältige und
febr vielfeitige Nachweiſe. Auch die beſondern
Ungelegenheiten der Lehrerinnen find, wenn auch
etwas fummarijder, berückſichtigt. Wenn man bin:
fichtlicd der Anlage nocd einen Wunſch aufern
315
follte, fo ware es der, daß wenigſtens in kurzen,
hauptſächlich bibliographiſchen Wngaben bei den
einzelnen Abſchnitten auc dic außerpreußiſchen
Staaten berückſichtigt würden.
„Die große Stimme“. Novellen von Ida
Boy-Ed. Stuttgart und Berlin, J. G. Cottaſche
Buchhandlung Nachf. Gm. b. H. Bn ihrer ge:
wandten Weiſe erzählt die Verfaſſerin von dieſem
und jenem aus Menſchenherz und Menſchenleben.
Den Vorzug dürfte man neben der ergreifenden
Titelnovelle den lleinen Stizzen aus der nordiſchen
Heimat geben: „Der Dorſdiplomat“ und „Ein
Handel”.
„Anweiſung zur felbjtindigen Bermigens-
verwaltung fiir die alleinjtehende Frau.’ Bon
Anna Mittelftaedt. Berlag von Carl Maver,
Hannover und Berlin. Qn klarer und populdrer
Form gibt die Verfaſſerin über die mit cigner
Vermigensverwaltung zuſammenhängenden Fragen
Austunft. Die Ausfiibrungen, die gut orientiert
und dem Verſtändnis des Laien geſchickt angepaßt
find, möchten vielen Frauen gute Dienjte leiſten
fénnen, ſodaß ibnen eine möglichſt weite Berbreitung
zu wünſchen iit.
„Die kleine Fee’. Cine Geſchichte für Kinder
von Sophie Hollier. Deutſch von M. Stöber.
Ravensburg, Verlag von Otto Maier. Die freund-
liche Heine Erzählung wird fider die Spannung
und Teilnahbme der Kinder wachhalten und ift in
ibrer Harmlojen Frifee warm gu empfeblen.
„Kürſchuers Jahrbud 1904", Kalender, Mert:
und Nachſchlagebuch fiir Jedermann. Berlin, Leipsig,
Eiſenach. Hermann Hilger. Verlag. (Preis 1,50 Mart.)
Das Kiiridner-Qabrbuch ijt durch feine ftoffliche
Reichhaltigkeit, feine praktiſche Anordnung und den
billigen Preis bereits fo gut eingeführt, daf auf
bas Erſcheinen des neuen Jahrgangs nur bin
gewieſen ju werden braudht.
„Fraueukalender fiir 1904, Herausgegeben
vom Deut/dh-evangelifden Frauenbunde. Verlag von
Edwin Runge in Gr. Lichterfelde- Berlin. (Preis
1 Mart.) Der Kalender enthalt außer dem üblichen
RKalendermaterial cinen Nachweis von Frauenberufen,
Mitteilungen über die Vereinstatigteit des Bundes,
cin Verzeichnis feiner Mitglieder und Ortsgruppen
und einen Aufſatz „Unſere Pringivien in der Frauen:
frage”, ber allerdings der „bürgerlichen Frauen:
bewegung” von einem cinfeitigen fonfeffionellen
Geſichtspunlte aus wenig gerecht wird.
„Die Tiere der Erde’, Von Dr BW. Marihall,
Prof. fix Zoologie und vergleichende Anatomic
an der Univerfitdt Leipzig. Stuttgart u. Leipsig,
Deutſche BVerlagsanjtalt. Bon diefer volfstiimlicen
Uberficht über die Naturgeſchichte der Tiere ijt
jest dic 20. Lieferung erſchienen. Die Abbildungen
des Prachtwerks — über taufend an der Zahl —
jind ſämtlich nach dem Leben bhergeftellt. Bei der
glänzenden Ausſtattung des Werks, das in
5O Lieferungen vollftindig fein wird, ijt der Preis
von 60 Pfennig pro Licferung nicht au hod. Das
Werf diirfte ſich febr gum Geſchenkwert fiir die
reifere Jugend cignen.
316 Bücherſchau
Vorleſebuch von Berthold Otto. Was das Kind
der Mutter vorlieſt. Mütterfibel von Berthold
Otte, cine Anleitung fiir Miitter, ibre Minder
felbjt lefen yu (ebren. Berlag K. G. Th. Scheffer.
Leipzig 1903. Bet der Anerfennung, die uns Berthold
Oito längſt durch feine Schriften abgewonnen hat,
nebmen wir jedes neu erſcheinende Werk dieſes Ver:
faffers mit gefpannter Erwartung in die Hand.
Much die beiden vorliegenden Biicher beweifen
wiedcrum, daß twit es mit einem gan; bervor:
ragenden Pabdbagogen ju tun haben. In beiden
Schriften wendet er fich an die Mutter mit dem
Vejtreben, diefelbe anjuleiten gu cinem zielbewußten
MAusnugen der in ihr (ebenden erziehlichen Krafte.
Sede auch nur einigermaßen intelligente Mutter
witd mit Danfbarfeit den Anregungen folgen, die
der Verfaffer yur Ermöglichung des „Gerneleſens“
bei jungen Kindern in feinem Vorleſebuch gibt.
Mud wird der Mutter gezeigt, wie fie durch Be:
nutzung der kindlichen Ausdrucksweiſe ein Ber:
ſtändnis erreichen fann fiir befondere Borgange im
Leben, in der Natur rx., bei deren Erläuterung fie
bisher oft genug mutlos abbrechen mußte. Die
Urt, wie der Berfaffer im Rabmen des nur
32 Kapitel zablenden Vorleſebuches das Intereſſe
des Kindes vom Puppenſpiel bis yum Nature |
ereignis des feueripeienden Berges und bis
sur Vedeutung der griechiſchen Sprache gu
fteigern verjtebt, ift ein Rabinettdftiidden der
Pridagogit.
An der Miitterfibel frellt der Berfaffer in klarer
fiir jede Mutter verftindlicher Weiſe die „begriff—
liche Methode” des Lefenlebrens, wie er fie erdacbt
und erprobt, bar. ES mag anfangs mance Mutter
wunderlich anmuten, dic alten, vertrauten: a, ¢, i, |
o, u und Genoſſen im Alphabet als: Offner,
Driider, Quetſcher, Runder, Spier u. ſ. w. wieder:
zufinden. Auch erſcheint die Möglichkeit fabelhaft,
34 jährigen Kindern dieſe Beariffe plaufibel ju
machen und darauf das ganze Gebäude des Leſen—
lernens aufzurichten. Nach ſorgfältigem Durch—
ſtudieren kann man jedoch die Methode nur warm
empfehlen und dem Buche eine weite Verbreitung
wünſchen. Schon im Intereſſe der eigenen miitter:
lichen Fortbildung, denn mur wenige Mütter ditrften
liber den Wert der Lautphyfiologie orientiert fein,
und dod) ware, meines Erachtens, deren Kenntnis
— Angeigen.
| und Beherrſchung nicht nur ein widtiger Faltor
beim Leſenlehren, fondern aud) bei anzuſtellenden
Sprechitbungen mit undeutlich fprechenden Kindern.
Es wird durch diefe Miitterfibel fomit der miitter-
liche Geſichtskreis beträchtlich erweitert und fiderlich
durch die iiberaus anſchauliche Urt der Unterweiſung
mance Mutter gu dem Verſuche angeregt, das fo-
eben felbft Gelernte lebrend gu verwerten.
, Meyers Grofes Konverſations-Lexikon.“
Gin Nachſchlagewerl des allgemeinen Wiffens.
Sechfte, ganzlich neubcarbeitete und vermebrte Auf-
fage. Mehr als 148000 Artifel und Verweijungen
auf über 18240 Seiten Tert mit mehr als
11 000 Abbildungen, Karten und Plinen im Tert
und auf iiber 1400 Illuſtrationstafeln (darunter
etwa 190 Farbendrudtajeln und 300 felbftindige
Rartenbeilagen) fowie 130 Tertbeifagen. 20 Bande
in Halbleder gebunden gu je 10 Mark. Verlag
des Bibliograpbhifden Inſtituts in Leipzig und
Wien. Der foeben erjchienene V. Band von
Mevers Großem Konverfations-Lerifon ijt trefflich
geeignet, über alle Aragen, die fid in den
alpbabetijden Grengen dieſes Bandes bewegen,
fiber und flar Auskunft gu geben. Bor allem
find es infolge der alpbabctifcben Anordnung die
Materien der „Eleltrizität“ mit all ibren Unter:
abteilen und ded „Eiſens“, deſſen Gewinnung,
Produftion und Verwendung, fowie des „Eiſen—
bahnweſens“, die in dicfem Band größern Naum
cinnebmen und auch, wie die Natur der Sache es
verlangt, cine reicbere Illuſtrierung erfordern, die
Fadmann und Laien gleiches Intereſſe bietet.
Aber auch die wirtſchaftlichen Teile des Cifenbabn:
wefens find gang bervorragend dargeftellt und ver:
dienen Geachtung, fowie die allgemein wirt—
ſchaftlichen und rechtswiſſenſchaftlichen Artifel von
allgemeinem Snterefje, ,,Cinfommen", wie „Ehe“,
„Erbrecht“, „Eigentum“, „Enteignung“ uj, Bon
den zahlreichen, ſpeziell naturwiſſenſchaftlichen
Artikeln abgeſehen, fet vor allen hier auf die ge:
ſchickte Darjtellung und prachtige Illuſtrierung der
Artifel „Entwicklungsgeſchichte“ und „Embryo“
hingewieſen. Für jedes Wiſſensgebiet bringt das
Buch cine klare, überſichtliche und gewandte Dar:
ſtellung und bleibt auf keine Frage eine Antwort
ſchuldig.
Kleine Mitteilungen. — Anzeigen.
317
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beſchwerden, Sodbrennen, Magenverſchleimung, dic Folger von Unmsgigteis in ẽhen
und Frinfen, und ijt gang beforders Franen und Madden gu empfehlen, die mfolge Bleidsiucht, Hyiterie und éhulicden
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etwas Salz und einigen Pfeffer
tornern in Wajjer 20—25 Minuten
facht gelkocht.
Leber und Herz famt einer Scheibe
jetten Spee gröblich. Unterdefjen
diinitet man 2 Loffel Mebl in
etwas Butter bräunlich, verkocht
dies mit einem Teil der Brühe,
in der Leber und Herz gar gelocht
wurden, fügt das gebadte Fleiſch
dazu, läßt es gehörig durchlochen,
gibt etwas Zitronenſaft und —
wenn man es bat — '/, Glas
Weißwein dazu, ſchmeckt nad
Sal; ab und vollendet das Gericht
mit 10—12 Tropfen Maggi's
Wiirye. v. Bg.
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Lehrerinnen-Seminar mit cigener Ubungschule,
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Kassel. €vang. Frobel-Seminar
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Stande (16—S5 Sabre) gu Erzieherinnen in der _paimilte und eiterinnen von Rinders
garten, Horten und anderen Arbeitdfelbern ber Diakonie. Räheres durch die Leiterin
Hanna Mecke ober ben Vorſihenden des Quratoriume: Generalfup. Pleitfer in Kassel.
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Swed der Anflalt: Grilndlide theoret.-pratt. Mudbilbung f.
Autbefoldete —— Etellungen,
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ſowie wirtſchaftl. u. ſoziale Selbſtändigkeit.
Eehraang 2 jahri a) Samtliche theoret. und pratt. kaufm. Fader einſchl.
Wirtidafts- u- triebélebre, Gelb, Rredits, Bankwejen, Handelégeograpbie rc.
b) Sprachen. c) Aligemein bildende Fader: Aufſah, deutſche, framzoſiſche, engl.
Stenographie 2.
Ausw. Damen tvird in quten Familien paffende Unterfunft vermittelt.
Uustunft, Profpeft, Jahresbericht durch Direfior Rlepe, Rlapperbhof 28.
Der Direktor. Das Ruratorium.
andelsfchule rises
Ginjabtiger Rurfus.
Befte und billigfte Ausbildung in allen kaufmannifden Sachern.
le. M4
Anmeldungen: Guſtav Brühl,
tiglid) 3—5. Klathieuſtr. 13.
air (2. Gingang Ritterftrape 36.)
Hohere Madchenschule
St. Jacobi.
Mathieustrasse 13, (2. Eingang Ritterstrasse 36.)
Gustav Brihl.
Anmeldungen tiglich r1—1.
bon 6—14 Sabren follen in allen Fachern
far die 1. Rlaffe ciner hoheren Tichter-
{cule vorbercitet werden. -Gebalt filr
ble Vorſteberin 1600 Mart, Gebhalt fir
bie Lebrerin 1000—1200 Wark.
BS. Fur cine höhere Vrivatſchule in
einer grofen Ctadt Norddeutſchlands
wird gum 1. 4 OF cine evangelifde
Oberlebrerin gefudt mit Beredtiqung fur
Deut ch, Erdtunde oder Geſchichte refpeltive
cine jreinde Sprache. Unterricht tft auf
die Oberftufe und tm Seminar gu erteilen.
24 Stunden wöchentlich. Anfangsgehalt
2000 Mark, Penſtonsberechtigung
4. Fur cine bbbere Privat- Madchen⸗
ſchule in ciner groößeren Stadt in Geffen
wird zum 1 4. 04 cine wiſſenſchaftlich
geprufte Lehrerin geſucht file Engliſch
und Frauzoſiſch in Oberklaſſe auch fiir
alle anderen Faächer. 22—24 Stunden
wochentlich. Gehalt 1400—1500 Mart.
Offene Stellen in Familien.
6. File cin Inſtitut in Belgien wird
fir fofort cine geſunde junge Dame, die
taglid) 1 Stunde Deutſche Ronverfation
mit den Sculerinnen pflegt und 600 Mark
Penfion zadlt, geſucht
6. Ene adlige Familie auf dem Lande |
fucht jum 1. 4. 64 eine wiſſenſchaftlich
gepriifte Yebrerin, 3 Rnabe von 9 Jahren
und 1 Madchen von 7 Jahren find in
allen Fadern, aud) Wufit, Zeichnen und
Latein bis Quarta gu unter ridten. Gebalt
600—1000 Wart.
7. Gine adlige Familie auf bem Lande
ſucht fiir fofort cine wiſſenſchaftlich gee
priifte Lebrerin. Zu unterrichten find
1 Mibden von 12 Jahren, vom Herbft
ab 1 Mamben von 6 ge Mufit
erivinfdt, Gehalt 6—900 Mart,
8. Cine Familie auf dem Lande
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Verantwortlich fiir die Medattion: Helene Lange, Verlin. — Verlag: W. Moefer Vuchhandlung, Berlin 8. — Drud: W. Mocler Buddruderei, Seriins
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& & 11. Jahrg. Heft 6 M BaPie ‘Marz 1904 od
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von
Melene Lange.
Verlag:
W. Morler Sudhandinng.
Berlin S.
Susan B. Anthony,
die Seniorin der Prauenstimmpechtsbewegung.
Martha Striny.
Radorud verboten
\#» am a full and firm believer in the revelation that it is through woman
—-, that the race is to be redeemed. And it is because of this faith that
I ask for her immediate and unconditional emancipation from all political,
industrial, social and religious subjection.“
Dieſe Worte bat Sujan B. Anthony viel tauſendmal geſprochen. In ihnen ijt
ihr Lebenswerk gekennzeichnet und der Grund, aus dem es erwuchs.
Seit fünfzig Jahren ſteht die nun Vierundachtzigjährige an der Spitze der
amerikaniſchen Frauenbewegung. Ihre langjährige Freundin und Mitarbeiterin, mit
der ihr Name während dieſer Zeit ſtets verbunden erſcheint, die glänzend begabte und
tatkräftige Eliſabeth Cady Stanton, von der der erſte Anſtoß zur Organiſation der
amerikaniſchen Frauen ausging, iſt 87 jährig im Oktober 1902 geſtorben. Suſan
Anthonvs Blick aber rubt noc) immer klar und ſcharf auf dem Werk, dem ihr Leben
qewidmet war, aud von dem ftilleren Heim in Rochefter (MN. Y.) aus, in dem ibre
Schweſter Mary fiir häusliches Behagen forgt und ibre Freundin und Biographin,
Ida Hujted Harper, ibre Arbeit teilt.
Sufjan B. Anthony hat ibre Arbeit in der Frauenbewegung von jeher aus-
jcblichlich auf die Crlangung des politiſchen Wablrechts fonjentriert. Wn dieſes feſteſte
Bollwerk von allen legte fie von Anfang an mutiq die Sturmleitern an, und mit
ciner durch feine Niederlage zu brechenden Ausdauer leitet fie nod) beute die Belagerung
mit gewaltiq verſtärkten Angriffsſcharen. Schon wankt eS juweilen in feinen Grund:
feſten. Cie wei, daß es eines Tages fallen muß, auc wenn ibre Augen den Sieg
nicht mebr feben werden.
21
322 Sufan B. Anthonv, die Seniorin der Frauenftimmredtsbetwegung.
Sufjan B. Anthony hat ftets die angreifbarite Pofition gewählt, ſtets in der
vorderſten Reibe geftanden. Cine Kampferin für Wahrheit und Gerechtigkeit, für die
es keine Menſchenfurcht gibt, die auch nie durch Liebenswiirdigteit gewinnen wollte,
nie fiir Kompromiſſe ju baben war, bat fie wie keine andere im Kreuzfeuer der Ber-
folqung geltanden, die den Vertretern dieſer unpopulärſten aller Forderungen der
Frauen auch im Lande der Freiheit nicht erſpart geblieben iſt. Wenn heute deſſen—
ungeachtet ihr Name von allen Seiten nur mit Achtung und Bewunderung genannt
—* jo (apt das in der Tat auf eine wabrbhaft große und lautere Perfinlichfeit
chliefen.
Ihre Freunde haben es ſich angelegen ſein laſſen, noch zu Lebzeiten der „grand
old woman einen umfaſſenden Bericht ibres Lebens und Wirkens sulfammensuitellen, 1)
mit Benugung der großen Maſſe von Material, die fie felbft fiir diefen Zweck früh—
zeitig gejammelt hatte. Durch die chronologiſche Ancinanderreihung der Tatſachen
werden zwar die kraufen Haden des zufälligen Geſchicks nur gum geringiten Teil ent-
wirrt; Dafiir ijt durch) reichliche Mitteilung von Briefen und Dofumenten aller Art ein
mialichft vollſtändiger Einblick in die Geſchehniſſe ſelbſt geftattet.
Betrachten wir eines der der Biographie beigegebenen Bilder aus den letzten
Lebensjahren: eine ſtattliche Geſtalt, ſcharfe Züge, Augen, die ſcharf und prüfend
geradeaus ſehen, um die ſchmalen Lippen ein Zug von unbeugſamer Energie, und doch
liegt etwas Gütiges über dem Antlig, um das fich anfpruchslos das glatte, nun ganz
weife Haar febmiegt. Wie fam dieſe Frau dazu, das friedliche Heim verlaffend, auf
perſönliches Glück verzichtend, in dem ‘Ramp fiir das Frauenſtimmrecht ihre Lebens⸗
aufgabe zu ſehen? Wie hat ſie dieſen Kampf durchgeführt? Die Anfange der ge—
ſamten amerikaniſchen Frauenbewegung, die vollſtändige Geſchichte des Frauenſtimm—
rechts, ein Stück der politiſchen Entwidlung der Nation tiberhaupt entrollt fic) mit der
Petrachtung dieſes Lebensganges. Ich will verfuchen, auf dieſem begrenjzten Raum
die Hauptzüge desfelben gu ſtizzieren; ob es vielleicht gelingt, dabei auc etwas vom
Weſen der dabhinter ftehenden Perſönlichkeit zu erfaſſen.
Suſan B. Anthony entſtammt einer Quäkerfamilie. Damit war ſie in einen
Kreis ernſter Menſchen geſtellt, charakteriſiert durch einen Geiſt der Arbeitſamkeit, der
körperlichen und ſittlichen Reinheit, ſchlichter und opferbereiter Menſchenliebe, aber ſich
vom politiſchen Treiben fernhaltend und lieber die „Stillen im Lande” darſtellend.
In Suſan ſind alle dieſe charakteriſtiſchen Züge des Quäkers als Grundzüge des
Charakters vorhanden, nur der letzte wird allmählich durch ein ſtärkeres Element in
ſein Gegenteil umgebogen. In dieſer Gemeinſchaft genoſſen die Frauen eine größere
Freiheit der Entwicklung und mehr Selbſtändigkeit als anderswo; die Gleichheit aller
vor dem Angeſichte des Herrn gebot, auch den Frauen das Wort nicht zu entziehen,
und Suſan zählte eine hochbegabte Predigerin zu ihren nächſten Verwandten. Viele
Züge der Tochter zeigen ſich bereits in dem Vater; er erſcheint als ein kluger, äußerſt
ſelbſtändiger, gerechter, freiheitlich denkender Mann, der niemals der Enge und
Unduldſamkeit verfällt, die ſeine Glaubensbrüder zuweilen in religiöſen und moraliſchen
Dingen an den Tag legen. Ein feiner Zug in ihm iſt die Achtung vor der
Selbſtändigkeit ſeiner Kinder. Die Töchter erwäblen einen Beruf, ſobald fie erwachſen
ſind, auch als die Familie noch im behaglichſten Wohlſtand lebt; Suſan und ihre
Schweſter ſehen wir lange Zeit als schoolmistress“ auf dem Lande wirken. Als
der Vater in eine bedrängte Lage gerät und Suſan von ihrem Verdienſt nach Hauſe
ſchickt, ſtellt er geſchäftsmäßig für jede empfangene Summe einen Schein aus und
zahlt in beſſeren Zeiten alles bis auf den letzten Heller zurück. Natürlich iſt er ein
Temperenzler wie alle Quäker und ein Gegner der Sklaverei; wie vielen flüchtigen
Sklaven haben nicht die mitleidigen Quäker in der Zeit der Verfolgung über die
Grenze geholfen! Aus ihrer Mitte ging die abolitioniſtiſche Bewegung hervor, die ſich
1) The Life and Work of Susan B. Anthony. By Ida Husted Harper. Indiana-
polis. Kansas City. 1898. 2 vol.
Sufjan B. Anthony, dic Seniorin der Frauenftimmredtsbeiwegung. 823
zu ciner gewaltigen nationalen Kriſe auswuchs und in dem Biirgerfrieq von 1860 eine
blutige, aber fleqreiche Löſung fand. Suſan's Vater ftebt den Anfangen diejer Bewegung
nabe, die um Die dreißiger Jabre liegen. Die ſpäter fo beriihmt gqewordenen Führer
der Abolitionijten William Lloyd Garrijon, Wendell Philipps, Barker Pillsbury,
H. W. Channing; Frederid Douglaß, der, felbjt cin Schwarzer, fiir feine ſchwarzen
Briider kämpft, febren in feinem Farmbaus bei Rocheſter (MN. Y.) cin. Mit diefen
und andern Bertretern der grofen Reformfragen de3 Tages kommt Suſan frith in
Veriibrung, und birt bier alle brennenden Fragen des politiſchen Lebens erdrtern.
Alle diefe Manner und Frauen treten damals aus der Gemeinſchaft der Quäker aus,
weil die tatkräftige Menſchenliebe in ibnen jtirfer ijt alS der Hang yum Quietismus.
So bot der jungen Sufjan das Vaterhaus die Vorbereitung yur tiinftigen Yaufbabn.
Von Anfang an lernt fie, über den engen Kreis ihres Lebens hinausſpähen und die
Intereſſen der Gejamtbeit empfinden; fie bat in bedeutenden Perſönlichkeiten ein
Vorbild ſelbſtloſer Hingabe an Menjchheitsaufgaben. Sie beſaß ſcharfen Berjtand,
Mut, Drang nach Tatigfeit. Rein Wunder, dah ihr der Kreis des Schullebens bald zu
eng wird; fie febnt ſich nach größeren Aufgaben, will mithelfen im Kampf gegen die
blofgelegten Schäden des Gemeinwejens. Cie bat das Glück gebabt, in ibrem Vater
einen warmen Freund dieſer Bejtrebungen zu finden; auch als fic ibre Arbeit aus-
ſchließlich der Frauenfache zuwandte, iff man iby im Vaterhaus ſtets mit Verftandnis
qefolgt und bat fie in jeder Weiſe geſtützt. Darin hat fie es befonders gut gebabt,
wenn wit bedenfen, wie oft der ftrebenden Frau ibre Selbjtindigfeit das Vaterhaus
fojtet. Suſan bat ftets mit innigiter Liebe an diefem Elternbaus gebangen, und oft
Elingt in jtiirmifcben Zeiten des Kampfes das Heimiveh nach feinem Frieden durch
ibre Briefe.
7 — *
Ihre erfte öffentliche Tätigkeit gehört der Mäßigkeitsbewegung, in der fid
zwiſchen 1840 und 1850 die Frauen als Daughters of Temperance“ jur Mitarbeit
vereinigt batten, da die Manner fie nicht als Rednerinnen juliefen und tiberbaupt
gegen jedes öffentliche Auftreten von Frauen ein ftarfes Vorurteil herrſchte. Bereits 1849
aber verjucht fic) Suſan in ibrer Gefellfchaft in öffentlicher Rede. „Wer foll das
qrofe Werk der Reform betreiben?” fragt fie. ,,Sollten das nicht die Frauen tun, die
ja am meiften yu leiden baben unter den Ranken diefed febredlichen Feindes?“ Sie
ermabnt die Frauen: Laßt uns tun, was in unferen Kräften ſteht, to harmonize
and happify our social system“.
Das Gefiihl ſozialer Verantwortlicfeit ijt aljo bei ibr bereits in vollem Mage
entwidelt; die Sonderaufgaben der Frau fucht fie darjuftellen. Auch die Notwendigfeit
von Frauenbilfe gegen die Unjittlicbfeit wird bier bereits betont. Bald bat Sufjan
B. Anthony eine leitendDe Stelle innerhalb diefer Organiſation. Cie beſucht auch
regelmapig die Verſammlungen der Abolitionijten, die das ſcharfe Geſetz gegen die
flitchtenden Sflaven von 1850 damals in gewaltige Errequng fegte, aus der das
Yojungsivort Der immediate and unconditional emancipation* emporjtieg. Cie
ſchließt Freundſchaft mit den Frauen diejer Bewegung, der allfeitiq verebrten Quaferin
Lucretia Mott, der vielverfolgten Rednerin in der Sflavenfrage Abby Kelly Fojter u. a.,
Die alle an leitender Stelle in der Frauenbewegqung wiederjufinden find. Gleichzeitig
dDringen Damals die Nachrichten yu ibr von der erjten Frauenverjammlung in Seneca
Falls, die E. Cady Stanton 1849 cinberufen bat, um die Frauen zur Wahrnehmung
ibrer Rechte aufyufordern. Ihre Eltern und Geſchwiſter haben die radifalen
Refolutionen dieſer erjten Tagung mitunterzeichnet. Cie lieft den Bericht der im
folgenden Jahr in Maffachufetts abgebaltenen erſten größeren Frauenverjammlungen.
Die Frauen, Me als Fiibrerinnen damals auftraten, batten als Mitarbeiterinnen in
der Antiſklavereibewegung perſönlich die Erfabrung ibrer unfreien Stellung madden
müſſen; man hatte in den Verſammlungen der Männer ibre Anerfennung als Delegierte
verwweigert und in jum Teil ſtürmiſchen Szenen ibnen das Recht der Rede beftritten.
Auch die unfreie rechtliche Stellung der Frau, der das damals geltende English
21*
324 Sufjan B. Anthony, die Seniorin der Frauenſtimmrechtsbewegung.
Common Law keine rechtlich ſelbſtändige Crifteny juerfannte, die weder Verfügungs
redt iiber ihr Vermögen noch ibre Kinder beſaß, war in einer Menge Falle yu Tage
qetreten und viel erörtert. Diefe Urfachen der Erhebung waren Sufjan B. Anthony
natiirlich nicht fremd. Auch hatte fie als Lebrerin bereits perjinlich erfabren, wie
viel weniger die Frauenarbeit galt als die Mannerarbeit. Daf fie mit den Beſchlüſſen
dieſer Verfammlungen ſympathiſierte, iſt ſelbſtverſtändlich. Aber für die Forderung
des Stimmrechts, die E. Cady Stanton in Seneca Falls nur unter Proteſt durch—
geſetzt hatte, die in den Maſſachuſettsverſammlungen aber bereits an erſter Stelle
ſteht, hat ſie noch nichts übrig. Denn die Quäker enthielten ſich des Stimmrechts
wie jeder politiſchen Handlung. Die Einſicht in die Bedeutung des Stimmrechts
aber wurde ihr ſehr bald, als ihre öffentliche und ſich raſch erweiternde Wirk—
ſamkeit in der Temperenzbewegung auf dieſelben Schranken ſtieß, die die in der
Antiſklavereibewegung arbeitenden Frauen zur Deklarierung der „Frauenrechte“
getrieben hatte.
Als ſie und andere Frauen als Delegierte der „Daughters of Temperance“
an einer Verſammlung der „Sons of Temperance” teilnehmen, und Miß Anthony
ſich gum Wort meldet, wird fie von dem Vorſitzenden belebrt, dak die „Schweſtern“
nicht eingeladen worden find, um mitzureden, fondern um zuzuhören und zu lernen.
Und gleich zeigt ficd bier die angeborene Selbſtändigkeit ibrer Natur und die Energie
des Handelns, die fle ftets gefennzeicnet haben. Cie verläßt mit einigen Frauen die
Verſammlung und beruft jogleic eine befondere Verjanumlung der Frauen, in der fie
den Zuſammenſchluß aller an der Temperenzſache arbeitenden Frauen ju einer State
Temperance Society anregt und durchführt. Als fie felbjt im nächſten Jahr als
Delegierte diefer Gefelljchayt an der Men’s State Temperance Society teilnimmt,
wird ibr nach ſtürmiſchen Szenen unter bejonderer Oppofition der Geiſtlichkeit als
Beſchluß der Verfammlung iibermittelt: „daß die Frauen nicht als Delegierte an—
erfannt werden könnten, da die Sitte gegen die öffentliche Teilnahme der Frauen an
Diefen Dingen fei.” Der Borwurf der ,,Uniweiblichfeit”, die Mabnung, in dem ,,von
Gott der Frau beftimmten Wirkungsfreije” zu bleiben, erſchallen aud) bier. Nod)
jtdrfer wiederholt fic) diefe Ausfdbliehung der Frauen auf der World's Temperance
Convention in New York 1853. Zu diefen Erfabrungen kommt die Einſicht in die
Unfabigfeit der Frauen, irgendwie beftimmend auf die Gejeggebung cinguwirfen. Um
cin Gefes gegen die Trunkjudt yu erlangen, hatte Sufjan B. Anthony gebolfen, eine
Ketition von 28 000 Unterſchriften wor die Legislatur ju bringen. Sie bleibt un—
beachtet, und einer der gegnerijden Redner ſagt: „Wer jind die, die dies Geſetz ver-
langen? Nur Frauen und Kinder”. Bald darauf wobnt fie ibrer erften Frauenredhts-
verſammlung in Syracufe (N. Y.) bet, wo das Stimmrecht im Mittelpunkt der
Crirterung ſteht. Die dortigen Ausführungen werden entfdeidend fiir fie. „Das
Gefühl der gänzlichen Hilflojigheit, die died Ausgeſchloſſenſein von jeder legalen
Vertretung mit jich fiibrt, fam über fie mit zermalmender Gewalt. Die erfte qroge
Urjache dex Ungerechtigfeit, unter der die Frau litt, wurde ihr Flar enthiillt, und fie
begriff wie niemals vorber, daß jede Geſellſchaftsklaſſe, die ihre geſetzliche Ver—
tretung gezwungener Weiſe einer anderen Klaſſe überlaſſen muß, ohne weiteres im
Nachteil iſt.“
So gelangt auch fie yu der Mberjeugung, daß nur das Stimmrecht der Frau
in der Geſellſchaft die Anerkennung ibrer Tatigfeit und Einfluß auf die Geftaltung
derſelben yu geben imftande fei. Die friih qefniipfte Freundfdaft mit Mrs. Stanton,
die die Forderung des Stimmredts von Anfang an als den eingigen Weg radifaler
Selbjthilfe bezeichnet hatte, hilft diefe Uberzeugung befeſtigen.
Man darf, um das Zwingende diefes Schluſſes yu verſtehen, nicht vergeffen, dab
das allgemeine Stimmrecht in der Tat in den Vereiniqten Staaten in ganz anderem
Umfange wie bei uns die ausſchlaggebende Macht bildet. Die Majorititen regieren,
und fie zu erlangen ijt Lediglich cin Werk der größeren Machtmittel und der ſtärkeren
Parteiorganifation. Man denfe an die unglaublichen Agitationsmittel, yu denen felbjt
Die höchſten Beamten des Staates hinunterjteigen, die unwiirdigen Mittel, mit denen
Sufjan B. Anthony, dic Seniorin der Frauenjtimmredtsbewegung. 325
die Maſſe der politi unmiindigen Wahler gewonnen wird. Hier ijt der Raum yur
Entfaltung de3 roheſten Parteieqoismus gegeben. Angeſichts diefer Zuſtände verlange
man von der felbjtindigdenfenden Amerifanerin, die auc) ibr Teil vom Unabhängigkeits—
finn der Vater geerbt hat, daß fie ihre Rechte geniigend durch den Mann vertreten
finde, gegeniiber einer Reibe von Tatſachen, die das Gegenteil beweifen!
Sufan B. Anthony.
Nun lag e3 im Charakter von Sufjan B. Anthony begriindet, dap, nachdem fie
einmal zu der Erfenntnis von der ſchwerwiegenden Bedeutung des Stimmrechts gelangt
war, fie auch alle Kraft einzig an die Erlangung diefes Grundrechts fest, das alle
anderen Rechte in ſich ſchließt. Jeder andere Weg iſt ein Umweg. Die Wrt an die
Wurzel! Der fiihle, rein praktiſche Veritand des WAmerifaners, dem die Ofonomie der
Mittel Hauptgrundfag ift, feine zähe Konſequenz, feine agreffive Kampfluſt, treten jest
in dev ſchlichten Quaterin hervor und machen aus ibr, die nur reiner Drang ju helfen
sum Werke treibt und die urjpriinglic) jeder politifeben Handling abgeneigt it, die uns
beugjame Vorkämpferin fiir das Stimmrecht der Frau.
326 Sufjan B. Anthony, die Seniorin der Frauenſtimmrechtsbewegung.
Ihre erfte fpesielle Tatigkeit gilt der Reform des ehelichen Giiterrechts in ibrem
Heimatsftaat New Yorf. Denn fie macht auf ibren Agitationsreijen die Erfabrung,
dak die pekuniäre Abhängigkeit der Frau — der verbheirateten Frau ftand nicht einmal
die Verfiigung über ihren perſönlichen Erwerb zu, — das erfte Hindernis ibrer
Vefreiung bhildet. Die Art, wie fie in den zehn Jahren vor dem Bürgerkrieg in diefer
Sache au Werke geht, zeigt ibre organiſatoriſchen Fähigkeiten gleid) in bobem Mae
entiwidelt. In bined Beziehung war die Urbeit in der Temperenzbewegung eine gute
Vorſchule gewefen. Cie beruft ſogleich 1854 in Albany, dem Sik der Legislatur
pon New Yorf, cine State Suffrage Convention ein, und erhält von dem bier ge-
bildeten Komitee den Wuftrag, eine Petition zur Reform de3 ebelichen Güterrechts vor
die Legislatur ju bringen. Cie gebt in ibrer Vaterftadt felbjt von Haus zu Haus,
um Unterfebriften zu ſammeln. Im folgenden Jahre wird der Legislatur cine Petition
mit 10 000 Unterſchriften vorgelegt, nachdem Miß Anthony durd) 14 tigige allabendliche
Verjammlungen in Wlhany, durch Prepberichte, durch Flugblätter die Gemiiter über
die Frage in Bewegung gejest hatte. Cie felbjt erhalt die Erlaubnis, die Petition
por der gu ibrer Priifung beftellten Kommiſſion der Legislatur zu verteidigen. Die völlige
Erfolgloſigkeit ihrer Bemühung feblagt ibren Mut nicht nieder. Am Gegenteil: fiir
die folgenden Sabre wird die Propaganda diefer Frage foftematifiert. Als General:
agentin iibernimmt Sujan B. Anthony die ganze Arbeit. Cine Reibe von Rednern
wird ausgejandt durd ben ganzen Staat, die Gründung von Stimmrechtsvereinen
angeregt und Taufende von Unterfebriften gefanumelt. Jährlich wird die Legislatur
mit Retitionen beſtürmt, und Miß Anthony forgt dafiir, daß eine befonders wirkſame Rede
von Mrs. Stanton auf dem Pult eines jeden Mitglieds des hohen Hauſes liegt. Das
Vereinskomitee hat ihr diefe WArbeit tibertragen, aber iby feinen Dollar überwieſen zur
Peftreitung ber Ausqaben. So nimmt fie auch die finanjielle Verantwortung gan;
auf ibre eigenen Schultern. Wo Subffription und Cintrittsgelder verfagen, müſſen
ibre eigenen Erſparniſſe berbalten; wo dieje nicht reichen, wendet fie fich nicht verqebens
an die viiterliche Hilfe. Hätte fie je gezögert, bis die Mittel bereit lagen, fo würde
der größte Teil der Arbeit ungetan geblieben jein. Sie felbjt begiebt fich im Januar 1854
allein auf eine viermonatliche Vortragsreiſe durch den ganjen Staat New Yorf, mit
50 Shilling in der Taſche. Cine ſolche Tour war damals mit den größten Miibjalen
verfniipft. Viele Stadte und Dörfer zu erreichen waren tagelange CSeblittenfabrten in
Kälte und Schneeſturm nötig. Oft fand ſich nur ein einziges Wirtshaus mit aller-
primitiviter Verpflegung; nichts yu fagen von dem Widerjtand oder der Gleichgiltigkeit
des Publifums, die zu befiegen der größere moraliſche Mut erforderlich war. Solcher
Agitation unterziebt fie fic) Jabr fiir Jahr, zuweilen im Verein mit den Rednern des
Anti-Sklavereibundes, der fie aud) gelegentlic) als Rednerin mit einem fleinen Gebalt
engagiert. Cie bereitet regelmäßig jeden Frühhling und Herbjt eine Verſammlung in
Albany vor. Cie ift gegenwärtig bei jeder der jährlichen Diskuſſionen ibrer Petition
im Senat, wo die mit fo viel Mühſal besablte Petition sum Gegenjtand woblfeiler
Heiterfeit gemacht wird ober der Referent fie verdächtigt als Ausflug ciner Geſinnung,
die „die Ehe und die gejamte moralijde Grundlage unjeres Staatslebens zu unter:
qraben drobt.” Aber nach LOjabriger Arbeit wird die Vorlage 1860 angenommen,
Die der Frau das Recht über ihren, Erwerb zuſpricht, fie von der Vormundſchaft des
Gatten in allen gefesliden Handlungen befreit und ihr gleiches Necht auf die Kinder
zugeſteht.
Mit dieſer erſten Arbeit in der Frauenfrage verbindet ſie eine gleich rührige
Agitation in der Sklavenfrage; auch die Abolitioniſten übertragen ihr gern die Organi—
ſation der Verſammlungen, und zählen ſie unter ihre beſten Mitarbeiter. Sie beſaß
keine eigentlich redneriſchen Gaben, und vor beſſeren Rednern zog ſie ſich gern zurück.
Wenn ihr aber die beſtellten Redner im letzten Moment abſagten, ſo trat ſie unbedenklich
für ſie ein, und ihre ſchlichten Darlegungen ſchöpften ihre Wirkungskraft aus der Feſtigkeit
der Überzeugung, der ſie entſtammten. Die Not zwang fie, auf dies mächtigſte aller
Agitationsmittel nicht yu verzichten; nie wollte fie fiir ibve Perſon Cindrucd machen. Bei
Verjammlungen nabm fie ftets den unangenehmiten und undantbarjten Teil auf fich, alles
Suſan B. Anthony, bie Seniorin der Frauenſtimmrechtsbewegung. 327
Geſchäftliche lag ftets auf ibr, fiir alle often mußte fie auffommen. Hatte fie aber
qtitdlic alle Zuhörer verjammelt, alle Redner bereit und Mrs. Stanton im Prafidenten-
ſtuhl, fo jegte fie ſich zufrieden an den Tiſch der Sefretdrin und freute fich, wenn
Mrs. Stanton mit zündenden Worten die Verſammlung bewegte.
Bei diefer Arbeit in der Sklaven: und Frauenfrage fand aber Sufjan B. Unthony
noch Seit, auf anderen Gebieten, wo fie die Frauen vernachläſſigt fab, gebunden von
der eigenen Mutloſigkeit, den sindenden Funten hineinzuwerfen. So war es ibr lange
aufgefallen, daß die Lebrerinnen in den Lehrervereinen, obwohl meiſt zahlreicher als
die Manner, nie das Wort ergriffen und ibre Sonderintereffen vertraten, obwohl fie
ebenfogut sablende Mitglieder waren wie diele. Ergötzlich ijt die Gelchichte, wie Miß
Anthony, nachdem fie zwei Tage lang mit den andern Frauen. ftumm den Verhandlungen
einer ſolchen Verſammlung gefolgt iſt, ſich plötzlich zum Wort meldet. „Eine Bombe hätte
keinen größeren Effekt bervorbringen können. Sum erjtenmate wurde. eine Frauenjtimme
in den Lebrerverfammlungen gebirt. Es folgten einige Augenblicke gefpannter Stille.
Nachdem der Vorſitzende ſich von der erjten Beſtürzung erholt hatte, frug er febr
höflich: „Was wünſcht die Dame?” „Ich bitte um das Wort sum Gegenftand der
Debatte”, erwiderte Miß Anthony ruhig, obwohl auch ihr das Herz klopfte. Sich zu den
Männern wendend, die in den Vorderreihen ſaßen, frug er: „Was beſchließt die Ver:
jammbung 2 „Ich beantrage, dak fie gehört wird’, jagte einer; ein anderer unter:
ſtützte died, und es folgte cine halbſtündige Debatte, wahtend der Miß Anthony ſtehen blieb.
Zuletzt wurde abgeſtimmt, nur unter den Männern, und eine kleine Majorität entſchied,
daß ſie ſprechen ſollte. Miß Anthony ſagte ihre paar Worte und ſetzte ſich. Beim Hinaus—
geben aber zogen fich viele der Lebrerinnen von ibe zurück und ſagten: vaben
Sie je fo etwas geſehen? Ich ſchämte mich für mein Geſchlecht“. Einige wenige
aber ſagten ihr anerkennende Worte: „Von jest an werden wir uns zu Gehör
bringen.“
Am folgenden Morgen eröffnete der Vorſitzende die Verſammlung mit den
Worten: „Ich bin gefragt worden, warum die Damen nicht zum Reden aufgefordert
werden und nicht in die Komitees gewählt ſind. Ich antworte: Seht dieſen
prächtigen Saal. Seht dieſen Pfeiler, ſein Fußgeſtell, ſeinen Schaft, den herrlich
krönenden Schmuck des Kapitäls, wo jeder Teil an ſeinem Platz yur Stärke und
Schönheit des Ganzen beiträgt. Sollte ich dies prächtige Schmuckwerk von ſeiner
Höhe zu dem Schmutz des Fußgeſtells hinunterziehen laſſen? Niemals.“
Zum Erſtaunen dieſes Herrn aber und aller Gleichdenkenden wurden an dieſem
Tage von den Frauen zwei Reſolutionen eingebracht, des Inhalts, ,,1. die Verſammlung
mige das Rect der weiblichen Mitglieder, an den Beratungen der Körperſchaft teil
zunehmen, anerfennen. 2. fie möge, da die Lebrerinnen ſehr ungeniigend bejzablt
wiirden, nach dem Grundfag, daß das Gebalt nur nad der WArbeitsleijtung zu
beftimmen fei, die Befeitiqgung diejes Übelſtandes ins Auge faſſen.“
Nady einem vergeblichen Verſuch, diefe Reſolutionen zu unterdritden, famen
jie zur Debatte und wurden zum Erjtaunen des Vorjigenden einſtimmig an—
genommen.
Unterdeſſen hatte ſich der politiſche Himmel mehr und mehr verdüſtert. Die
Sklavenfrage drohte die Nation in zwei Teile zu ſpalten. Alle Intereſſen waren ihr
zugewandt; ſo war für die Frauenfrage wenig zu tun, und die Frauen ſelbſt ſtellten
alle Kräfte in den Dienſt der verſchwiſterten Bewegung. Die Anti Sklavereigeſellſchaft
von New YorE übertrug Suſan B. Anthony die Or -qanifation der im ganzen Staat
ab; ubaltenden Verfanimlungen. Viele weichen in diefen Tagen der Gefabr ſcheu vor
det drohenden Haltung der Gegner zurück; man best den Lobel auf die Verſammlungen
der Abolitivnijten, die fics durch die Polizei vor den Steinwürfen der Menge ſchüben
müſſen. Miß Anthony feblt es nie an Mut. Als 1859 der kühne Bandenfiibrer
John Brown, der unverſönlichſte Feind der Sklavenhalter, gqefangen und zum Tode
verurteilt worden war, halt fie in Rocheſter, ihrer Vaterftadt, fiir ibn cine öffentliche
Gedächtnisſsfeier.
328 Sujan B. Anthony, die Seniorin der Frauenſtimmrechtsbewegung.
Auch wabrend des Biirgerfrieges rubte Miß Anthony nicht. Bon ibr im
Verein mit Mrs. Stanton ging der Aufruf aus zur Bildung einer .Women’s Loyal
League“, um fiir ,fofortige und unbefdranfte Gmanjipation” des Sflaven yu arbeiten.
In einer ihrer zu diejem Swed gebaltenen Reden beift es: „Man fpridt davon
gu der Union juriidjufebren, wie fie vorber war. Wir verlangen etwas Beſſeres.
Die jebige Ronjtitution bat die Norditaaten gezwungen, die Sflaveret zu befchiigen.
Mir durften denen nicht belfen, die nach Freibeit tangen; wir muften den Bedriider
unterjtiigen. Die Manner, die dieje Geſetze gaben, haben die Frauen mitſchuldig
gemacht. Jetzt aber muß die Frau die Erzieherin der Menſchheit werden.“ Die
Loyal League beſchließt mit einer Millionenpetition für die Emanzipation der Sklaven
den Abolitionijten yu Hilfe zu fommen. Den ganzen beifen Commer de3
Sabres 1864 bindurd it Miß Anthony im Bureau des Vereins im Cooper Anititute N.Y.
gu finden, Briefe und Flugblitter zu Tauſenden verfdidend, Redner ausfendend, alle
Krafte dienjtbar machend, Wittel jur Beſtreitung der Ausgaben erfindend. Bei einem
ſehnſüchtigen Verlangen nach Ausruhen in dem geliebten Vaterhaus halt fie der
Gedanfe der Pflicht aufrecht und bas Vorbild ibres Vaters: ,, eden Tag wird mir
Raters Bediirfnis nach Gerechtigleit für jedes menſchliche Weſen, für den niedrigſten
Schwarzen ebenſo gut wie fiir den höchſtgeſtellten Weißen, zur tieferen Wabrheit, und
mein Gebet iſt, ihm eine würdige Tochter ſein zu dürfen.“ Die eingereichte Petition
pon 400 000 Unterſchriften bot den Abolitioniſten einen kräftigen Rückhalt, und das
13. Amendement zur Konſtitution bob die Sklaverei fiir das ganze Gebiet der Union auf.
* x
*
Aber trog all diefer Betätigung zeigt ung erit die Zeit nad 1865 Sufjan B. Anthony
auf dem Schauplatz ibrer gigentlidsen Tatigfeit; erit in den folgenden durch die Frage
deS Negerſtimmrechts bervorgerufenen Verfaſſungskämpfen wird die Frauenjtimmredts-
frage eine politifche Frage. Die Frauen batten fic) bis jest mit den Abolitionijten
ſolidariſch gefiihlt: die Verfaſſung jtellte fie durd den Ausſchluß vom Stimmrecht auf
eine Stufe mit dem Neger und Ddicjelbe Berufung auf die allgemeinen Menſchenrechte
unterſtützte ihre Forderung einer parlamentariſchen Vertretung. Nachdem aber dic
Aufhebung der Stlaverei erreicht war, und das nächſte Siel der ebemaligen Abolitio-
nijten die Erlangung des Stimmrechts fiir den Schwaryen wurde, fanden dieſe es
fliiger, Das Regeritimmredt von der unpopuldren Sache des Frauenitimmredsts zu
trennen, um jenes nicht zu gefährden. Noch mehr aber: die ehemaligen Freunde
wurden zu Widerſachern, indem das von ihnen vorgeſchlagene 14. Amendement das
bisher in der Konſtitution nicht vorhandene Wort ,males einfilgte, und damit dem
Frauenftimmredt zugleich einen Riegel vorſchob. Miß Anthonys wader Blic erjab
die Gefabr, wabrend fie nocd fiir das Negerſtimmrecht wirkend im Felde ſtand. Sie
eilt zu Mrs. Stanton, ein Komitee wird gebildet, ein Aufruf erlaſſen. Cine Equal
Rights Association wird organijiert, mit der Aufgabe, vom Kongreß die Gewabrung
des Frauenjtimmredts zugleich mit dem Negeritimmredt ju fordern. Miß Anthony
war ‘unermiiblidh. Diefe Zeit ijt eine Der ſchwerſten ihres ganzen Lebens, da aud) die
ehemaligen Freunde fic wider fie febren unter dem Vorwurf, dak der Egoismus der
Frauen die Sache der Freiheit verderbe; dies ſei die Stunde des Negers, wo es den
Frauen zu warten gezieme. Unter ſo viel abratenden Stimmen, denen auch die feſte
Mrs. Stanton fiir den Augenblick erliegen fann, bleibt fie unerſchütterlich in ibrer Nber-
zeugung, daß die Gewährung des NRegeritimmredts obne die des Frauenſtimmrechts
ben ſtärkſten Schlag fiir die Frauenſache bedeuten würde; indem der Maſſe-der Wabler
2 Millionen Stimmen jugefiigt wiirden, die als aus ‘ber ungebildetiten Volksſchicht
ftammend bet jeder allqemeinen Abjtimmuang ſicherlich gegen das Frauenwablredt auf—
treten würden. Aber alle Anſtrengungen waren vergebens. 1868 wurde das 14. Amen—
dement angenommen, und damit das Wahlrecht ausdrücklich auf jeden „männlichen
Bürger“ beſchränkt. Auch Kanſas, wo im April 1867 eine Frauenſtimmrechtsvorlage
zum erſtenmale der allgemeinen Abſtimmung unterbreitet wurde, ging wegen Mangel
Sufan B. Anthony, die Seniorin der Frauenſtimmrechtsbewegung. 329
an Unterjtiigung verloren. Miß Anthony und Mrs. Stanton batten alle Kräfte auf
den bedrohten Punkt gerichtet und wiederum felbjt die Redetour durch den Staat an:
qetreten, um Stimmen gu werben. Das war fiir den neugegriindeten Staat Kanſas in
jenen Seiten noc eine gan; andere Aufgabe als fiir die fultivierten Oftjtaaten. „Der
rofte Teil der Wege mußte in Planwagen gemacht werden, durd) Ströme und baum-
oſe Prärien; oft verlor man bei eintretender Duntelbeit die ſchmale Wegfpur. Wir
fcbliefen in Blodhaufern, und unfere Mablyeiten bejtanden aus Dörrfleiſch, eingemadtem
Gemüſe und gefauertem Brot, und das Getranf war felechtes Waffer. Das
ſchlimmſte waren die nächtlichen Quälereien, verurfacht durch cine Art Inſekt, dad die
Baumwollenpflanze beherbergt“. Cin andermal ſchreibt Miß Anthony: „Es ijt fajt un-
möglich, bier ein ordentlices Verſammlungslokal zu befommen; und die Schriften
treffen nie rechtzeitiq ein. Wir fprechen in Schulbdujern, Scheunen, Sägemühlen,
Holsbauerhiitten mit Bretterplanten als Siken und Laternen als Beleuchtung, aber die
Yeute kommen 20 Meilen weit, um zu hören, und unfere Flugſchriften werden wabr-
haft verſchlungen.“
Auf diefem Feldjuge zog fic) Miß Anthony eine ſtarke Gegnerſchaft zu, die eine
jabrelange Spaltung unter den Vertretern des Frauenſtimmrechts verurjadte und ibre
Sache fiir lange Beit ſtark disfreditiert bat.
Damals bereits ift es ihr Flar geworden, daß die Frauen, wenn fie etwas
erreichen wollen, fic) an eine der grofen Parteien anſchließen müſſen. Das war aber
leichter gejagt wie getan, denn welchen Einfluß batten die vom Stimmrecht aus—
geſchloſſenen Frauen in die Wagſchale zu werfen? Nichts als ibre agitatorijde
Arbeit. Diefe daber fo wirffam wie möglich gu machen, war Mik Anthonys Haupt:
beftreben. Auf dem Kanſasfeldzuge nun bot fic den Frauen unerwartet Hilfe von
demokratiſcher Seite, die die Arbeit der Frauen gegen das von republifanijder Seite
befiirwortete Negerſtimmrecht auszujpielen gedachte. Da die republifanijde Partei,
in der die ehemaligen Abolitionijten aufgeqangen waren, jede Unterjtiigung des Frauen:
ſtimmrechts ſchroff verweigert hatte, fo nabm Miß Anthony kurz entſchloſſen die dar:
qebotene Hilfe an. Mrs. Stanton jtimmte gu. Die tibrigen Frauen aber waren
entriiftet iiber died Biindnis mit den ebemaligen Sflavenbaltern. Miß Anthony aber
ijt trop aller Anfeindung dieſem Utilitdtsgrundjagy ftets treu geblieben: „wer fiir das
Arauenwablrecht ijt, bat meine Stimme; nach feinen fonftigen Nberyeugungen frage
ich nicht.”
Von diefer Partei erbielt fie auch die Mittel, einen fang gebegten Lieblingsplan
auszuführen, nämlich cin Parteiorgan zu gründen. So fonnte jie das Jahr 1867
trop Verlujten und Niederlagen als glückliches bezeichnen: „Das Jahr geht yu Cnde,
feines ift je beffer ausgefiillt worden mit ernjter und wirkſamer Arbeit; in Kanjas
9000 Stimmen fiir unfere Sache abgegeben (neben 10 000 fiir das Negerſtimmrecht)
und eine Zeitung begriindet. Die Revolution (fo betitelte fie charafterijtifcher Weife
das neue Organ) heiſcht Arbeit, Arbeit! Mutig voran denn im neuen Jahr.“
In der Tat kommt jest fiir diefe unermüdliche Arbeiterin die Beit des ſchwerſten
Kampfes. In iby Tagebuch febreibt fie am 1. Januar 1868: ,, Alle die alten Freunde,
mit faum einer Ausnahme find iiberjeugt, daß wir im Unrecht find. Nur die Zeit
fann es lebren. Ich aber glaube, da wir das Rechte getan haben, und daß es uns
endlid) gelingen mug.” Dies find aud) die Jabre der größten Verfolqung. Die große
Scar der Anhangerinnen der Frauenbewegung fondert ſich feindlich von ibr und
Mrs. Stanton und den wenigen Getreuen als den „Radikalen“ und veriveigern nach
Auflöſung der Equal Rights Association den Beitritt yu der new gu gqriindenden
Woman Suffrage Association, wenn dieſe beiden Frauen an der Spike bleiben.
Von da an gibt es zwei getrennte qrofe Stimmrechtsvereine, die National Woman Suffrage
Association unter Führung von Clifabeth Cady Stanton und Sufjan B. Anthony mit
dem Sig in New Yorf und die American W. S. A. unter der Leitung von Lucy
Stone mit Sik in Boſton. Die Erbitterung gebt fo weit, dah fein anderer Frauen:
lub in dem Hauſe tagen will, wo ſich die Redaftion der , Revolution” befindet,
830 Sufjan B. Anthony, die Seniorin der Frauenſtimmrechtsbewegung.
obwohl es von der Bejigerin ertra fiir die Frauenvereine errichtet war, und die Redaftion
muß verlegt werden. Anderthalb Jahre lang erflettert nun Sufjan B. Anthony täglich ein
halbeS Dugend mal die fieben Treppen jum Redaftionslofal, zu ihren andern Arbeiten
Die dornenvolle Mufgabe der Herausgabe cines politijcen Blattes auf ſich nebmend,
das von allen Seiten angefeindet wird und ftets mit finangtellen Schwierigkeiten zu
kämpfen bat. Obwohl fie und Mes. Stanton ihre Arbeit faft umſonſt geben, ijt das
Blatt nicht zu halten, da die demokratiſchen Freunde fics außer ftande zeigen, ibre
Verpflichtungen ju erfüllen und Kapital nicht aufjutreiben ijt. Nady heroiſchem Kampf
muß ſich Sufjan B. Anthony in das Unvermeidliche fiigen. Was ¢8 ihr foftete, zeigen
die Worte in einem Brief: , Wenn ich nur jterben könnte und dadurch ebrenvoll zurück—
treten, ich tate es gern; aber lebend fcbeitern yu müſſen, es würde zu ſchrecklich fein.“
Machdent fie die ganze Zeit über jeden Dollar, den fie verdient und von Freunden
erbalten hatte, fiir das Blatt aufgewendet, blieben iby nad) der Aufgabe desfelben nods
10 000 Dollar Schulden. Diefe Schuld yu tilgen, von der ibr perſönlich nicht ein Dollar
zu gute gefommen war, war das Biel ibrer Arbeit in den nächſten Jahren. Rach
ſechs arbeitsvollen Jahren fann fle dann febreiben: „ich kann der Welt wieder ins Auge
blicten; ich febulde niemand mebr was.”
Natürlich vermehrt dies öffentliche Hervortreten aud die Angriffe der Preffe, die
ſich ftets mit Borliebe an ibre Perſon beften, als die nie um Gunit wirbt, nie durd
Viebensiwiirdigkcit beftechen will, nie um die Wirfung ibrer Rede befiimmert ijt, wenn
es um die Wabrbheit geht, gerade und Har und ſchoönungslos ibre Uierzeugung aus-
ſpricht. Laſſen fic weniger „weibliche“ Eigenſchaften denfen? Dazu die äußerſte
Schlichtheit der Erſcheinung, das nicht unſchöne, aber ſcharf gezeichnete Antlitz, der
Umſtand, daß ſie unverheiratet bleibt, alles muß dazu dienen, ſie dem wohlfeilen
Spott der Menge preiszugeben.
Was dieſe Angriffe noch vermehrt, iſt der Umſtand, daß ſich Suſan B. Anthony
auf dem eingeſchlagenen Weg immer mehr ins rein politiſche Lager getrieben ſieht.
Nach der Annahme eines 14. und 15. Amendements, das dem Neger das Stimmrecht
und alle übrigen Bürgerrechte garantiert, richtet ihre Schar ihr Augenmerk auf die
Erlangung eines 16. Amendements zu gunſten des Frauenſtimmrechts. Suſan B. Anthonv
wählte mie immer. dieſen kürzeſten Weg, da Erfahrung in Kanſas gelehrt hatte, dag,
wenn fie fic) an die Regierungen der Einzelſtaaten wandte, die Vorlage ſtets an der
notivendigen Ratififation durch allgemeine Volksabſtimmung fdeitern würde.
Da feben wir fie mit Mrs. Stanton den CSigungsfaal ciner demokratiſchen
Verſammlung betreten, wo ihr Memorial um Aufnahme des Frauenitinunredts in das
Parteiprogramm unter Witzen und Gelächter verlefen wird, iby Name mit einem wabren
Höllenlärm begrüßt, ibre Worte zu vbfcinen Wißen umgedeutet werden. In den
Seitungen wird die Szene nod nad Kräften ausgeſchmückt. Wenn man fics dabei
cinen Moment vergegenwärtigt, aus welchen Uberzeugungen beraus dieſe ernite und
opfermutige Frau ſolche Forderungen ftellte, dah bier qelitten wurde um der Geredtigkeit
willen, um in den Worten ihres Kinderglaubens yu reden, fo wird die ganze Roheit
dieſer Szene offenbar, die fiir Miß Anthony ſich unzählige Male wiederbolt hat.
“it es ein Wunder, dak aud: jie zuweilen müde wird? , Warum nur”, beift es im
Tagebuch, „muß ic) immer auf der raubejten Seite des Lebens ftehen? Warum fann
id) nicht aud) mich entſchuldigend vor dem unangenebmen und viel zu febweren Kampf
zurückweichen? Ich weiß es nicht, aber nad Tagen wie der gejtrige, finft mir fait
Der Mut. Dann aber fallt es mir cin, dah die Verbeifung nur bei denen ift, dite
ausbalten bis ans Ende — und ich made mir Mut, weiter vorwärts zu geben.”
Gewiß, ibre Stimmung war bitter qeworden; die Enttäuſchung an den Freunden, mit
denen fie 20 Jabre lang um die gemeinjame Sache gekämpft batte, batte ibr zu tiefe
Wunden gefdlagen; auch der Ton ihres BWlattes war nicht gerade auf Verſöhnlichkeit
qeitinunt geweſen. Erfahrung batte die harte Einſicht gelebrt, daß „die Frauen allein
ſtehen“ müſſen. Schonungslos ging fle vor gegen alle Halbbeit und allen Dilettantts-
mus: The fact is, J am not fit to deal with anybody who is not terribly
Sufan B. Anthony, dic Seniorin der Frauenftimmredtsbewegung. 331
in earnest.“ Nie aber wird fie ungerecht, erwidert fie Ungriff mit Angriff, fteigt
fie zu perſönlicher Feindſchaft herab. Die Cache ijt alles. Diingeren Helferinnen
ſchreibt fie: ,ladet alle Verantwortung auf mich ab, laßt fie ibven Hobn an mir aus—
laſſen, idy bins gewohnt und mittlerweile fajt wetterhart qeworden.” Und nie zeigt jie
e$ vor der Offentlichfeit, wenn ihr der Mut finfen will, Vor andern ift fic immer zuverſichtlich
und bereit, finfende Ooffmingen yu ftiigen. Und eS feblt auch nicht ganz an freund—
licen Stimimen, die beffere Zeiten verfiinden. Da ijt ihre bejte Helferin und Mit:
arbeiterin, Divs. Stanton, die ftets mit ibr eines Sinnes ijt. Und wenn die unerbit-
lide Sufan auch oft cin unbequemer Mahner war fiir die nachgiebigere Mrs. Stanton,
der eS zuweilen ſchien, als ditrfte die Gorge fiir einen Haushalt und 12 Kinder von
Diefer und jener Rede, von diefer und jener Verſammlung dispenfieren, fo ijt doch die
Freundſchaft der beiden Frauen dadurch mur fejter und fruchtbarer geworden. Wenn fie
um ſich ſchaut, fiebt fie die Frauenface mächtig gewachſen, aus der Iſolierung beraus-
gehoben, neue Gebiete befegend, und die neu eröffneten Bahnen höherer Ausbildung liefern
eine fich ftets mebrende Schar von Helferinnen. Boreingenommene von diejer Scar
wandeln fich in Freunde, wenn fie Sufjan B. Anthony fennen gelernt haben. Damals
febreibt cine von dieſen: „Ich babe Miß Anthony diefe 8 Tage lang ftudiert, und Leute
aefprodien, die feit 20 Jahren ibre intimen Befaunten ſind, und alle jtimmen darin
iiberein: ſie ijt eine Frau von unbefteclicher Integrität. An Selbjtlofigkeit und Giite
bat fie kaum ibresgleichen, und ibre Energie und Arbeitsfraft findet eine Grenze nur
an ibver phyſiſchen Kraft, die zuweilen bewunderungswürdig iſt. Die Nichtigkeit ibres
Urteils läßt ſich zuweilen anzweifeln, nie aber die Lauterfeit ibrer Motive, noc ihre
Treue geqen ibre Freunde.” Und ¢3 ijt nötig, dah fle Unterjtitgung findet, denn es
folgt nod) eine Beit ſchweren Rampfes.
Se mebr fics die Wellen der Bewegung ausbreiten, befonders in den jungen
Weftitanten cin giinitiges Feld findend, je gewaltiger wird das Arbeitsfeld. Miß
Anthony halt alle Faden der Bewegung in der Hand, unterſtützt die neu fich bildenden
BVereine mit Rat und Tat, jendet Geld, kommt perſönlich, wo der Erfolg ciner
Stimmredtsvorlage auf dem Spiele ftebt, und verteilt ihre Nednerinnen wie ein
geübter Feldherr tiber den Staat.
Cie und Virs. Stanton machen von da an alljährlich ausgedehnte Vortragstouren
durd) die meiſten Oſt- und Weftitaaten. In jedem Staat, wo eine Stimmrechts—
vorlage zur Abſtimmung gelangt, und das gefchieht feit 1870 häufig, erjebeinen fie
perſönlich.
Die Mühſeligkeiten ſolcher Reiſen mag ſich vorſtellen, wer je in unkultivierten
Ländern von ſolcher Ausdehnung gereiſt iſt! Das ſchlimmſte iſt im den Weſtſtaaten
die Feindſchaft der liquor-dealers, die ſich ans den roheſten Elementen der Bevölkerung
zuſammenſetzen und den Frauen entgegenarbeiten, weil Ddieje die Mäßigkeitsbewegung
unterftiigen. Es fommt vor, dak Sujan VB. Anthony drei Monate lang allnächtlich in
einem anderen Bett ſchläft, zuweilen auch ohne ein ſolches, an den meijten Tagen
Nachmittags und WAbends fprechend. Cie wird weit befannt, und einzelne Seitungen
fangen an, die Kraft und logiſche Schärfe ihrer Darlegungen anerkennend zu befprechen.
Als jie Huf erlangt hat, unterninunt fie ſolche Vortragstouren im Auftrag der damals
eingerichteten ,,Lecturing Bureaus*, eine Art Agenturen fiir die Ausſendung von
Nednern jeder Art, und zuweilen werfen diele Touren einen hübſchen Verdienyt ab,
den fle aber bet dem nächſten Stimmrechtsfeldjug unfeblbar wieder zuſetzt.
Gin sweites wichtiges Feld ibrer Tatigkeit hildet die Belagerung des Kongreſſes
in Der Bundeshauptitadt Wajbington, um das 16. Amendement ju erlangen, an dem
Die Löſung der Frauenſtimmrechtsfrage hängt. In jedem Jahre wird eine Petition
eingebradt. Unzählige Male haben Miß Anthony ſelbſt und die beſten Nednerinnen
mit ibe Die Petition vor der Legislatur verteidigt. Su jeder Eröffnung des Kongreſſes
cilt fie nach Waſhington und ſucht perſönlichen Sugang zu den Abgeordneten. Bei
jeder Abſtimmung iſt fie anf der Tribiine und merkt fic) Freund und Feind. Cie
befragt die mit Nein Abſtimmenden brieflich um ibre Gründe; eine treffende Rede
332 Sufjan B. Anthony, die Seniorin der Fraucnjtimmredtsbewegung.
zu Gunjten der Vorlage fendet fie fogleich vervielfaltigt in alle Welt; Gegner mit
ſchwachen Griinden miiffen fic) in Verfammlungen und in der Preſſe ibre fcharfe
Kritif gefallen laſſen. WS fic 1880 die beiden Stimmrechtsgeſellſchaften vereinigt
haben, betreibt fie die Errichtung eines ftindigen Komitees in Wajhington. Sie
erreicht ¢8, dak aud) im Kongreß die Angelegenbheit des Frauenftinunredts einer
bejonderen Rommiffion iibertragen wird. Sie wird in den Strafen von Waſhington
eine populäre Figur. Den ſäumigen Senatoren, die etwa ein Verfprecien nicht
gebalten haben, wird ſchwül, wenn fie Mif Anthonys hohe Geftalt auf ſich zukommen
ſehen, und bat einer nicht Stand gebalten, jo findet er fie ficer am Ausgang jum
Verhör bereit auf ibn warten. Zui jedem Sebhritt, den der Kongreß im Gaus von
30 Jahren in der Frauenjade getan bat, ftebt fie in Beziehung. Um diefe ibre
Tätigkeit in ihren eigenen Worten zu refumieren: „Es wird ſchwer jein, eine Stadt
in den Nord- und Weſtſtaaten zu finden, wo ich nicht gefproden habe, und auch in
vielen Städten des Südens habe icy geredet. Seit 45 Jahren ftehe ich auf der
Rednertribiine; die Zahl meiner Reden it unmöglich angugeben; es würden wabr-
ſcheinlich im Durchſchnitt 75—100 auf jedeS Jahr fallen. Seit 1869 babe ich vor
jedem Komitee des Kongreſſes gefprocen und unzählige Male vor unferer New PYork
Legislatur.“
Auf einem dritten Feld verſucht Miß Anthony in den ſiebziger Jahren eine Zeitlang
ihr Ziel zu erreichen: in den Gerichtshöfen. Denn das 14. Amendement, zu gunſten des
Negers gemacht, erklärte alle in den Vereinigten Staaten Geborenen oder naturaliſierten
Perſonen für Bürger derſelben, und verbot, ihre Privilegien und Freiheiten durch
irgend welche Geſetze zu verkürzen.
Unter Berufung auf dies Amendement verſuchten die Frauen, bei den Wahlen
mitzuſtimmen, um von den Gerichtshöfen die Frage entſcheiden zu laſſen, ob mit der
Wahlentziehung nicht eben eine ſolche Verkürzung der Frauen in ihren Privilegien als
Bürger eingetreten ſei. Auch bier ging Miß Anthony als Märtyrerin voran, ließ ſich
wegen widerrechtlicher Beteiligung an den Wahlen in Anklagezuſtand verſetzen, hatte
die Genugtuung, die Sache durch mehrere Gerichtshöfe zu ziehen und nach allen Seiten
erörtert zu ſehen und ließ ſich zu einer großen Geldſtrafe verurteilen, die ſie nie
bezahlte.
Auch mit der Steuerverweigerung ging ſie voran, eine Maßregel, die aber bald
als unausführbar aufgegeben werden mußte.
Ihr viertes großes Arbeitsgebiet war die ſtets wachſende Vereinstätigkeit. Sie
ließ kein Jahr ohne eine Verſammlung der National Society vorübergehen, traf alle
Vorbereitungen und wußte Stimmung zu machen inmitten allgemeiner Mutloſigkeit.
Nberall nahm fie den unangenehmſten Teil der Aufgabe, die geſchäftliche Leitung auf
jis. Wenn fie aber alles vorbereitet und die Berjammlung eröffnet hatte, ftieq fie
pon der Rednertribiine berab, um Mrs. Stanton den Bins Der Vorjigenden einzu—
räumen, den fie ſelbſt beharrlich verweigerte, und erft angenommen bat, als Mrs. Stantons
Play 1892 leer wurde. Sie wadste dariiber, dah das Programm innegebalten wurde
und wenn unwichtige Tagesfragen die Aufmerkſamkeit vom Hauptpuntt abzulenken
drobten, war fie ftets Ddiejenige, Die auf die cine Aufgabe hinwies, in der alle andern
aufgingen. In der Organifation war fie uniibertrefflich. Bon ibr ging aud) die Idee
aus, Beziehungen ju den Frauenvereinen der übrigen Kulturländer ju ſuchen und einen
Welthund der Frauen zu begründen. Auf einer Reiſe nad England wurde mit den
dortigen Filbrerinnen der Plan befproden und 1888 der International Council of
Women ing Leben gerufen, deffen erjter Tagung Sufjan B. Anthony in dem Frauen:
weltkongreß bei Gelegenbeit der Ausjtellung in Chicago eine fo glänzende Vertretung
fichern Half, und dejien 3. Tagung wir im Juni diefes Jabres in Berlin erleben
werden. 1)
* *
*
1) Wir haben geariindete Hoffnung, fie bet dieſer Gelegenbeit bier zu feben und fpreden ju
boren: „J shall be very happy, ſchreibt fie der Herausgeberin diejer Seitidrift ,to be with you,
—
Sufjan B. Anthony, die Seniorin der Frauenſtimmrechtsbewegung. 333
Und nods immer ijt diefer kurſoriſche Bericht iiher das Lebenswerf diefer Frau
nicht vollſtändig. In Erkenntnis der gefchichtlichen Bedeutung der Bewegung, in der
jie geſtanden, erfaft fie die Notwendigkeit, die Gefchichte diefer Bewegung zuſammen—
suftellen. Cin ungebeures Material, Zeitungen, Programme, Flugblatter, Briefe, Tage-
biicher, bat fie gefammelt. Mrs. Stanton muß trop Sträubens an die Redaktion des
Werkes. Auch die finanjiellen Schwierigkeiten der Veröffentlichung waren nicht gering.
Auch diefes Unternehmen hat ibve unbefieghare Energie gu Ende gebracht; drei große
Bande dev History of Woman Suffrage erjchienen 1881—1887, der vierte ijt unter
ibrer Leitung foeben vollendet worden.!)
Man freut ſich der Erfahrung, dag einer ſolch unvergleichlichen Hingabe, wie fie
bier geübt wurde, aud) der dupere Erfolg ſchließlich nicht ausblieb, und Sufjan B. Anthony
in den ibe ganzes Leben lang fejtgebaltenen Hoffnungen nicht getdujet wurde. Cie
fab ihre Sade fic) aus der Verachtung erbeben zu ernfthafter Beadtung in den
Legislaturen und im Publikum. Kein Jahr vergebt jest, wo nicht im Kongreß und
in den Legislaturen mehrerer Staaten Frauenjtimmeredtsvorlagen disfutiert werden.
Vier Staaten haben den Frauen das politiſche Wahlrecht erteilt; in faft allen tibrigen
befigen fie irgend eine eingefchranttere Form des Stimmrechts. Die fiibrenden Oftitaaten,
New Yorf und Majfachujetts, baben fich der Bewegung nicht anger verſchließen können.
Die Frauen der höchſten Stände, die ſich lange ferngebalten batten, find heute der
Bewegung gewonnen und leiben neben dem Gewicht ibrer geſellſchaftlichen Stellung
und dent Einfluß ihres Kapitals tatige Mitarbeit. Die Eröffnung aller Bildungs- und
VBerufswege hat eine uniiberfebbare Schar von tüchtigen Kräften ins Feld gefiihrt,
Die zu Der greiſen Führerin verehrend aufſchauen.
Die große Women's Christian Temperance Union, die in den 80er Jahren
den feit 1850 von den Frauen aufgegebenen Kampf gegen die Trunkſucht wieder auf:
genommen hatte, und erſt der Stimmrechtsbewegung durdaus abgeneigt war, ſchloß
ſich, durch den Miferfolq ihrer Mafjenpetitionen belebrt, ibr an — /, Million
chriſtlicher und fonjervativ gefinnter Frauen befennen ſich damit zu der Anſicht, dap
cine radifale Gefesgebung gegen dic Trunkſucht von einem Méannerparlament nie ju
erlangen fein wird. Miß Anthony hatte diefe Wandlung vorbhergefagt.
Der Ton der Zeitungen ijt ſachlicher geworden in Behandlung der Frage und
refpeftvoll, ja bewiundernd gegen die einjt fo geſchmähte Perfon der Fiibrerin. Qn
Den Siidjtaaten, den fatholijden, einjt fflavenbaltenden, fonjervativiten, wo die Frauen:
bewegqung bis gu den 80er Jabren überhaupt eine unbefannte Erſcheinung blieb, bringt
die Preſſe Ausführungen wie diefe: „Miß Anthony ijt eine in jeder Hinſicht bedeutende
Arau, deren Geijt ſeine Spuren juriidlajjen wird nicht nur in der Gefechichte des
19. Jahrhunderts fondern fiir alle zukünftige Seiten in der gebobenen fozialen Stellung
der Frau. Sie war cine der erjten Frauen in Amerifa, die ihre Stimme fiir die Rechte
der Frau erhoben, und hat eS erlebt, ihre Schweſtern von gefeslicen Feſſeln befreit
zu feben, in allem, aufer dem Stimmrecht, dem Manne gleidgeftellt. Niemand fann
Die Gerechtigteit ihrer Forderungen leugnen, und im Lichte falten Verſtandes gefeben,
von Vorurteil und Gefiihlseinfliijjen befreit, find ibve Argumente nicht zu widerlegen!“
— ,MNiemand blidt in das Antlig dieſer ehrwürdigen Frau, die in ihrem Lebenswerk
ergraut ijt, obne zu fühlen, daß e& bier mebr ijt als cine abjurde Idee.“ Jest beift
eS in den Berichten über VBortragstouren: „in jeder dev bejuchten Städte wurden die
Damen von den angefebenjten Bewohnern yu Gaſt geladen, da Publikum war zahlreich
und anerfernnend, und die Seitungen brachten Lange und günſtige Berichte. Es gab feinen
Mifton in dem Chor des freundlicen Willkommens; es fiel Fein abfälliges Wort
provided I am well enough to make the trip, but I shall than be four score and four and a
little more, and a great many things may come in to prevent my making the journey, but my
friends here are very anxious to have me go and I think I shall, all things working together
for that good end. D. Red.
') The History of Woman Suffrage, edited by Susan B. Anthony and Ida Iusted
Harper im GSelbftverfag von S. B. Anthony, Rochester N. Y. 17 Madison Street.
334 Sujan B. Anthony, die Seniorin der Frauenſtimmrechtsbewegung.
gegen die Redner oder ibre Sache. Die Frage wurde in öffentlicher Disfuffion mit
dDerjelben Cachlichfeit befprochen wie jede andere, und jie zu erdrtern, verlangte nicht
mebr Mut, als irgend eine der Reformfragen des Tages.”
Welch eine Wandlung feit den Seiten jener eriten Verjanunlungen, wo Mif Anthony
ſich ſchüchtern zum Wort meldete und geradezu niedergeſchrieen wurde, da keine Frau
öffentlich ſprechen durfte; wo ſie New Hork State im Schlitten durchqueren mußte, zu
einer handvoll Leute in Dorfſchulhäuſern ſprach, lächerlich gemacht von den Zeitungen
und geächtet von der Geſellſchaft! Ihr ſiebenzigſter uͤnd achtyis fter Geburtstag brachten
geradezu grofartige Ovationen der geſamten Frauenwelt Mmierinas und darüber hinaus.
Auf all die Beweiſe von Bewunderung und Danfbarfeit, was hatte fie zu erwidern?
„Freunde, ich bin nicht gewohnt an Lob und dantesbezeugungen Ich weiß mich
Dabei nicht zu benehmen. Hättet Jor mich mit Steinen geworfen, mich geſcholten, mir
das Sprechen verboten, geſagt, ich hätte den Frauen mehr geſchadet als genützt und
verdiente am Pfahl verbrannt zu werden, hättet ihr etwas gegen die Sache geſagt, der
ich ſeit 30 Jahren zu dienen verſucht habe, dann hätte ich gewußt, was ich antworten
ſollte; ſo weiß ich es nicht. Ich bin für dieſe Bewegung geweſen, wie der Holzhauer
und Waſſerträger. Ich verſtehe nichts von der Kunſt der Rede. Was ich getan habe,
tat ich, weil ich die Frauen in beſſerer Lage ſehen wollte. Das iſt alles.“
Es iſt ein ſchöner Zug der amerikaniſchen Frauen, daß ſie dieſe Anerkennung
auch praktiſch betätigen, indem ſie der einen ſorgenfreien Lebensabend verſchafften, die
ſtets arm war, weil ſie nie für ſich, ſondern ſtets für die Sache ſorgte.
Die Forderung des Frauenſtimmrechts iſt, ſeitdem Miß Anthony fie als praktiſche
Notwendigkeit erkannte und mit der Maxime der „Gleichheit“, „Freiheit“ für alle be—
gründete, mit einer Menge ſozialer, naturwiſſenſchaftlicher und philoſophiſcher Theorien
geſtützt worden.
Miß Anthony hat dieſe gelten laſſen, aber ihrerſeits nie aufgehört, fie als eine
einfache Forderung der Gerechtigkeit hinzuſtellen. Auch iſt ſie noch immer darin
„radikal“, daß ſie nur das „volle Stimmrecht“ zu exlangen beſtrebt iſt und das
partielle Stimmrecht eher als ein Hindernis denn als Förderung anfiebt. Sie halt
feſt am Weg fongreffionaler Attion, da die Geſetze der Legislaturen der Einzelſtaaten
ſtets einer allgemeinen VolFsabjtimmung bediirfen, für einen giinftigen Wusfall
Derjelben .ijft Die öffentliche Meinung nods nicht ſtark genug. Wber die Lange
Der Beit bat auch fie warten gelebrt. est halt fie die ſtürmiſche Jugend
suriid: ,,the slow process of agitation and education is our only way“.
Immer natürlich bleibt iby das Stimmrecht die Grundforderung. An einem Brief
aus den legten Jahren fteben die taujendmal von ihr variierten Worte: „Die große
Mehrzahl dev Frauen betdtigt ſich noch immer am liebften in perſönlicher Hilfeleijtung
oder in der Hffentlichen Wohltätigkeit; wenige nur find fähig einjufeben, daß neun
Sebntel aller geſellſchaftlichen Schäden aus der Gebundenbeit der Frau berfliesen.
Man muß die Art an die Wurzel legen. Wenn ihr und alle Frauen, die jest im
ſtädtiſchen Gemeinwejen fiir charities und reforms arbeiten, das Stimmrecht hättet,
was meint ibr, wie Lange würden die Spielhäuſer und Bordelle nod offen fteben
diirfen? Wie lange, meint iby, wiirden unfere Strafen von Mannern unjicher ge-
macht werden, die unter den Frauen nach einem Opfer ibrer Liijte fuchen, und von
Frauen, die dasfelbe thun? Während ibr arbeiten müßt wie ibr tut, mit Leib und
Seele euch der Ausrottung diefer febredlicen Zuſtände unferer halb-barbariſchen Kultur
bingebt, muß ich die Wurzel gu treffen verfuchen, aus der jie hervorwachſen.“
Es ift bas Erhebendite an diefem Leben, daß es ganz ciner, mit unerſchütterlicher
Uberzeugungstreue feftachaltenen Adee bingegeben iſt. Miß Anthony hat der Frauen:
fache jede Stunde des Tages, jeden Pfennig ihres Vermögens, ibre ganze Arbeitstraft,
ibr ganzes Leben gewidmet. Cin individuelles Glück zu fuchen fam fiir fie gar nicht
in Betracht. Der Gedanfe an Heivat kommt ibr nie angesidts der großen Aufgabe,
Die auf fie wartet. Qn dem rauben Kampf, der alle Härten ibrer Natur berausfordert,
bleibt doch die Giite cin Grundjug ibres Wefens. Wie vielen hat fie perſönlich ge-
Detorative Frauentunit. 835
holfen; wie oft ijt fie fiir unſchuldig Gerurteilte öffentlich cingetreten, bat fie Verfolate
mit eigner Lebensgefahr befebiigt! Ihre Wahrheitsliebe, ihr Cifer um die Gerechtigkeit,
iby ſcharfer Verſtand, iby feltnes Organifationstalent, ibre ſtaatsmänniſche Klugheit,
ibre Furchtloſigkeit, ihre Energie, ihre phyſiſche Leiſtungsfähigkeit wereinigen fich zu
cinem Gefamtbilde, das höchſte Achtung auch vom Gegner erswingt.
Im ganzen liegt diefem Lebenswerf cin tiefer Idealismus zu Grunde, dic Sehnſucht,
das Leben reiner und glücklicher zu gejtalten, die Ungerechtigfeit zu beſchränken; der
Glanbe, daß aus der unverbrauchten Eigenart der Frau folche belebenden Kräfte yu
löſen find. Die Art, wie fie diefer Aufgabe gerecht wird, ift eine typiſch amerikaniſche,
und nicht gu löſen von dem Boden, auf dem jie gewachfen ijt. Sobald man fich in die
politiſchen Berhaltniffe der Union bineinverfegt, erſcheint fie vollfommen beqreiflic
und durchaus fonfequent. Treg alles fdlimmen , Nadifalismus,” trog des „direkten
Widerftandes,”. trog des Fauſtkampfs mit den Parteien lieben wir Suſan B. Anthony,
eben weil fie ftets fo ,,terribly in earnest’S war. Aber wir feben auch, dak gebundene
Kräfte zu löſen für uns nicht das Stimmrecht das erſte oder einzige Mittel fein darf.
Erziehung gehört dazu und Betätigung, das Feld erweitert ſich vor dieſen beiden
Schritt fiir Schritt. Bei uns haben Ideen langſames Wachstum. Aber die Frucht
pfliictt, wer den Tag der Reife erwarten fann.
— — / ccm
Vckorative Prauenkunst.
Bon
Felix Poppenberg.
Radhdrud verboren
Ean *
Ff wttcen fpiegelten fich in zwei Ausftellungen deforativer Kunjt, die im Januar
J in Keller und Meiners Salon jtattfanden. Cin Auterieur von George de Feure,
Coe’ dem Barijer, illujtrierte die Richtung des franzöſiſchen Geſchmacks, und die
Arbeiten des , Bereins der Kiinftlerinnen”, (fiir die Weltausftellung in St. Louis be:
ftimmt) gaben Gindrud von den Neiqungen des deutfchen Kunſtgewerbes.
Und interefiant war es zu feben, wie die Formenjprade des Franjofen in
Zierlichkeit und ſchmeichleriſcher Weichheit durchaus feminin,. dem Frauendienst
des Boudoirs geweiht ſchien, die deutſchen Künſtlerinnen aber ftrenge, ſachliche
männlichere Löſungen ſuchten und fo, diesmal nicht nur it ihrer Domäne, in Stickerei und
Applikation, ſondern in der Möbel- und Metallkunſt Erfolge erreichten.
Das Niveau dieſer Frauenausſtellung iſt ein ſehr reſpektabeles. Sie zerſtört den
letzten Reſt des Odiums gegen die „Weibliche Handarbeit“, hier iſt nichts Spieleriges,
feine Süßigkeit, keine Atrappenbijouterie. Man erhält den Eindruck kluger, richtig
ſehender Augen und geſchickter, erfinderiſcher Hände. Alle Aufgaben werden vom Ge—
ſichtspunkt des Zwecks und der praktiſchen Anwendungen aus angeſehen. Beſonnen
wird aller äußerlicher, nur auffriſierter Ausputz vermieden. Materialgerechtigkeit herrſcht.
Die Schönheit eines Stückes wird in der Betonung ſeines Materials, in der
harmoniſchen Ausbildung ſeiner Proportionen und ſeiner Funftionen geſucht. Sach—
lichkeit und konſtruktive Ehrlichkeit herrſcht, und verfeinerter Geſchmack hütet fic) dabei
vor der Gefahr, nüchtern, allzu ruſtikal zu werden, in einen ungehobelten Natur:
burſchenſtil zu verfallen.
836 Deforative Frauenkunſt.
Sachlichfeit und konſtruktive Chrlichfeit, die in der cinfeitiq naturaliſtiſchen
Periode des Möbelbaus das Biel Hilden, find hier einfach nur die felbjrveritdndlicen
Faktoren und Vorbhedingungen, und das Ziel, das mit dicfen Mitteln erreicht werden
foll, ijt Romfort, ift Swedmapigteit, die nicht nur dem Gebrauch frommt, fondern
durd die liebevolle Ausbildung, durch die Nuanzierung der Cinjelbeiten dem Auge
Hreude macht. Bor allem ijt ein Seichen von Kultur, wie Motive alter Stile neu
belebt und modernen Formen eingegliedert werden. Auch mandye hübſche techniſche Cin:
fälle ſind zu verzeichnen, die aus der beſonderen Behandlung der Eigenart eines
Materials Schmuckmotive gewinnen.
* *
*
Cin Rundgang durch die mannigfachen Provinzen dieſes dekorativen Reiches,
das nun auf die Völkerwanderung geht, ſoll das zeigen.
Bei den Möbeln fällt vor allem die gliidlice ren äußerlich harmoniſchen
Eindrucks und innerlicher Sachlichfeit auf.
Den Triumph diefer Miſchung erreicht der grofe, grün —— Garderobenſchrank
von Marie Kirſchner. Ein mächtiges, aber durch gute Gliederung in ſeinen Formen
wohl gebändigtes Möbel. Er illuſtriert gut die Theorie, daß aus Zweckmäßigkeit und
prazijem Funktionieren cin äſthetiſches Vergnügen kommen kann. Zweigeteilt it er,
bie rechte, die Garderobenſeite öffnet ihre Tüur durch Drehung auf der Mitte der
Seitenwand ſo weit, daß nach der Offnung der Inhalt ſich handbereit überſichtlich
darbietet. Die weite Tiefe des Schrankes iſt kein Verließ, in dem die Kleidung ab—
gründig ſich verliert, ſie iſt durch die intelligente Dispoſition, die an die verblüffend
bequemen aufrecht aufklappharen Schrankkoffer erinnert, eine Art Garderobenregiſtrator,
ein KojtiimeShannon geworden. Und der „Schmuck“ dieſes Schrankes ergibt ſich aus
jeinen praktiſchen Eigenſchaften. Gefchmiedete mattpolierte Meſſingbänder beleben die
grüne Fläche. Aber nicht willkürlich find fie als Beſchläge daraufgeſetzt, jie find
ein Schmuck, der dient; fie find die Ausldufer der Tiirangeln, fie fprechen ſchon
äußerlich den Mechanismus, die Technif dieſes Verwandlungsſchrankes aus, fie
deuten ſichtbar fein Wefen und feinen Charafter an, fie jind ſeine betonenden
Akzente.
Reize der Verwendungs- und Gebrauchsmöglichkeiten laſſen ſich auch gern bei
Bücher- und Mappenſchränken anbringen. Dafür finden ſich hier manche Beiſpiele.
Marie Kirſchner erfand außerordentlich zweckmäßige kleine Regale für Arbeitsmaterial
und Handbücherei, am Schreibtiſch zu ſtehen. Variationen alter Gebetspulte ſind es,
die Bücher ſtehen nicht aufrecht auf geraden Brettern, ſondern ſie liegen auf geneigten
und bieten ſich ſo dem Benutzer dar. Schmuck und Zweckmäßigkeitsfaktor gleichzeitig
iſt der an der Seitenwand ſich aufwärts ſchlängelnde Eiſenbeſchlag, er wächſt ſich zu
einer Handhabe aus, an dem man das auf Rollen gehende Geſtell als Bibliothek:
wägelein bequem dirigieren kann.
Cin Regal von Lina Krauſe bringt eine hübſche Reuerung damit, daß nicht
nur die Längsbretter nach Bedarf zu verſtellen gehen, ſondern daß auch aus—
wechſelbare Querbrettchen eingefügt ſind, die das Umfallen der Bücherreihen in
einem nicht ganz gefüllten Fach verhindern, ohne daß man metallene Bücherhalter ein—
ſtellen muß.
— —
Deforative Fraucnfunft. 337
Sebr gelungen iſt aud der graugrüne Notenſchrank mit den ſchönen filberqranen
Beſchlägen von der Frau von Falfenjtein. Seine Vorderfläche erhalt ibre bewegte,
lebendige Phyſiognomie durd die mannigfaltige Anordnung der horizontalen breit—
offenen und dev vertikalen ſchmalgliedrigen Fächer. Freie, reizwolle Unſymmetrie herrſcht.
Die Faſſade iſt, wie es auch bei guter Architektur ſein ſoll, Ausdruck der inneren
Gliederung und der Zweckbeſtimmung und erregt dadurch das Gefühl des Richtigen
und Stimmenden und ſomit äſthetiſcher Befriedigung.
Cin paar hübſche Sitzmöbel fallen auf, ein Dos-d-dos aus rotbraunem Holz
mit distreter Flachſchnitzerei (von Cugenie Dillmann) und ein forpergerechter grauer
dreiediger Stubl, der ein beſcheidenes Ornament aus einer Anordnung hand—
geſchmiedeter Cifennagel an feinem Unterteil weiſt.
Cin beliebter Defor für die reicher bebandelten Möbel ijt die Cinlege-Arbeit, die
Intarſia. Viel gelungene Beiſpiele gibt’s und aud) ein Gegenbeifpiel, wie man fie nicht
anwenden foll.
Die Intarſia, das Cinlegen von Holsteilen in Holzflächen, muß immer holzmäßig
ſein, dem Charakter des Holzes entſprechend. Will ſie maleriſch wirken, ſo zerſtört ſie
damit ihr eigenes Weſen. Man ſieht hier einen mit großer Mühe und Sorgfalt
gearbeiteten Teetiſch mit farbigen Blumenſtücken; ſie ſehen aus wie Malerei, ſind aber
eingelegt, die Holzſchnitte find fiir das Experiment der abgetönten Buketts beſonders
eingefärbt. Das iſt eine Verirrung, außerdem wirkt dieſe Blumenauslage plaſtiſch,
ſie macht ſich viel zu anſpruchsvoll breit; Intarſia aber iſt Flachmuſterſtil, ſie hält
ſich in der Fläche und drängt ſich nicht vor.
Richtig trifft den Intarſiaſtil ein Teetiſchchen (von Eliſe Schellbach), auf deſſen
rotbrauner Decke ſich ein gelblicher Blätterkranz rundet, nicht als eine Panoptikum—
illuſion, daß ihn jemand für wirklich halten und danach greifen könnte, ſondern als
Flachmuſter, als Vignette.
Dieſes Tiſchchen iſt wie auch ein ähnliches (von Lina Krauſe) ein Beiſpiel
ſinnvoller Überlegung, leicht beweglich, und im Unterbau mit mannigfachem offenen
und verglaſten Gefächer ausgeſtattet. Voll Eigenart und Sicherheit iſt dann noch die
Intarſia auf der Rückwand des ſtattlichen Sophabaus von Sophie Luiſe Schlieder.
In graues Ahorn wurde luftig geſchwungenes Bandwerk aus grünem Ebenholz mit
perlmuttergeränderten Miſtelblättern eingelegt.
Einen aparten Einfall fiir Einlegearbeit hatte Ilſe Schütze; fie ſchmückte die
Ladenflächen ihrer Kredenze in frei behandeltem Biedermeierſtil mit den Silhouetten
eines Jünglings und eines Mädchens in der lieblichen Tracht von 1830. Das ſcheint
cin maleriſches Motiv. Aber bier iſt es durchaus holzmäßig behandelt und wächſt
natürlich und ſelbſtverſtändlich aus ſeinem Boden, der ſchwarze Ausſchnitt der Silhouette
auf dem gelben Grunde. Schwarz und gelb ſind nämlich auch die Holzfarben dieſes
Möbels. Sie entſprechen dem Stil; man erinnert ſich dabei an die Rahmen um alte
Kupfer aus gelbem Birnbaumholz mit aufgeſetzten ſchwarzen Eckquadern. Mit viel
Liebe iſt dieſe Kredenz, die übrigens von der Kaiſerin erworben wurde, komponiert.
Der untere Teil offen, von ſchwarzen Säulchen getragen, darüber die Platte mit
einem Hintergrund von Spiegelglas, und dann ein Aufbau mit einem geſchickten
Arrangement von Käſtchen und Fächern, die teils geſchloſſen (mit jenen Silhouetten—
türen), teils verglaſt ſind und ihr mit intereſſant gemaſertem Holz gefüttertes
Innere zeigen.
22
338 Delorative Fraucntunft,
Died Stück führt zu den Bariationen alterer Stile iiber. Die ſouveränſte
ſolcher Bariationen, die nur eine. Anregung aufnimmt und fie villig ſelbſtändig in
ganz modernem Geift ausbildet, ijt der ausgezeichnete Schreibtiſch von Marie Kirfdmer.
Seine Komponiſtin erinnerte fic) an die fo febmudvolle Rombination aus Edel—
bol, mit Bronzemontierung, die in der Rokoko- und Empirezeit fo beliebt war, und
fie erneute das in gan; perſönlichem Gegenwartsgeiſt.
Sie entwarf cin zierliches Tiſchchen, das wie jene alten Möbel ein Bronjegitter
um feinen Tifehrand und Bronze-Durchbruchwerk zwiſchen den tragenden Ceiten-
pfoſten bat.
Aber diefer Bronjezierrat ijt feine Kopie nad Louis XV. oder Louis XVI.
Er ijt modern behandelte Blumenſtiliſierung, ein ſchmiegſames Tulpenmotiv. Und dazu
fommt die andere moderne Eigenſchaft: dieſer Tifch ift fein Koketterie-Schauobjekt, ſondern
ein eminent praftifdes Stic. Der Linke tragende Seitenpfoſten enthalt vier tiefe,
gerdumige Käſten mit breitgeſchwungenen, der Hand ſich anpafjenden Griffen, und Die
Seitenſchenkel de3 oberen Nandgitters laſſen ſich zurückſchlagen (fie bilden dann mit
der Rückwand cine gerade Linie), Seitenbretter fajjen fic mun herausziehen und der
zierliche Tife wird jest, obne die Anmut feiner Form einzubüßen, ju einem febr
ernjtbaften, gerdumigen Arbeitsuteniil. .
Anflange an Louis XVI.- und Empiremotive zeigt die große Schauvitrine von
Maria von Broden. Auf gradlinigen Stiigen walbt fie fich in ovaler Veibung aus der
Wand; Birnbaumbol; ijt iby Material. Breitgeſchnitzte Bandornamente, matt vergoldet,
ziehen ſich um Stirn- und Seitenränder.
* ok
ae
Rejpeftabel wie die Möbelkunſt prajentiert fied auch die in mannigfacer Form
auftretende Metallarbeit. Schon in den Befeblagen fann man das Niveau der
Leijtungen ertennen. Nichts Kleinliches ſtört, großzügig, voll Liniengefühl ijt die
Phyſiognomie.
Wie die Beſchläge, ſo ſtellen ſich in den Dienſt des Möbels die Kupferplatten, die
Hildegard Lehnert mit kunſtvoll geätzten Blättern und Blütenwerk bedeckt. Dieſe
Platten mit ihrem disfreten japaniſierenden Flächenſpiel werden als Füllungen ver—
wandt für Schränkchen oder wie hier für die Paneelwandungen zur Begrenzung des
Schliederſchen Sophabaus.
Daneben aber gibt es eine Menge ſelbſtändiges Gerät.
Wuchtige Palmenſtänder von Sophie Luiſe Schlieder, grün patiniert; Dreifüße,
die mit der Kriimmung und Spreizung lebendig die Funktion des Laſtens und
Tragens zum Wusdrud bringen und nicht nur deforativ, fondern auc zwedentfprechend
fein wollen, nicht nur an den Schein, fondern auc) an die Notwendigfciten denken
und 3. B. cin Ablaufbecken fiir das Palmenwaffer organijd und jtilfidher der Gefamt-
kompoſition afflimatifieren.
Rühmlich anjuerfennen ijt won der gleichen Künſtlerin ein Notenpult. Auf
breitem Unterfas, auf den der Geiger unbeforgt den Fuß ſetzen fann, wächſt ein
Schaft, der die doppelfeitige Bultfliche tragt. Sie beftebt aus cinem kräftig geführten,
durchbrochenen Rupferflechtiverf, dad febr wirkungsvoll fic) von der unterlegten
trangparenten, matt-qraugelb febimmernden Opalescentglasplatte abhebt; darüber hinaus
wächſt der Schaft yu einer das Ganze überragenden elcftrifcen Lampe. Sie wird
iiberfangen, — jo daß dad Licht abgeblendet nach unten fallt und, wenn feine Noten auf
Deforative Frauenfunit. 339
dem Pulte liegen, über die glasgefiillten Kupferausſchnitte fpielt, — von einem fupfernen
Rundhelm, kräftig gehämmert und mit amethyftfarbenen Glasflüſſen großaugig intruftiert.
Auch in kleineren Lampen zeigt ſich Sicherheit für gleichzeitig ſchmückende und
zweckvolle Form. Eine Schreibtiſchlampe wird komponiert in Form eines in bäumender
Bewegung ſich aufwärtsrollenden Blattes, von dem das elektriſche Licht dann gleichſam
herunterzüngelt. Der tiſchflache Teil des Blattes dient zugleich als eine Schale, und
der ſich aufwärts bäumende ſenkrechte (der die Blattrippen als Metalldurchbruch zeigt)
ſtellt ſich zwanglos als ein gut von oben belichtetes Leſepult zur Verfügung.
Einen herben aber erleſenen Geſchmack merkt man den eiſernen Hängeleuchtern
von Eliſabeth Neelſen an. Sie erinnern an ſchottiſche Kunſt, an die Handſchrift der
Makintoſh, die puritaniſch-aſketiſch erſcheint und doch fo delifat in der Nuancierung iſt.
Diefe Leuchter, die fiir die Wand oder den Spiegel gedacht find, haben ſpröde primitive
Linien, dod) die Art, wie ihre Läufe aus der apart durchbrochenen Ovalplatte, an der
fie hängen, herauswachſen, ftreng gerade ſich ftreden, dann entſchieden ju dem energifd
ausgebildeten Lichttrdger fic) biegen, — das hat Charafter.
Zu erwähnen find aus dem metalliſchen Bereich noch die blintenden, ſchmuckhaften
Schirmjtinder von Marie Kirjebner aus gebogenen Meffingftiben und der Verkleidung
des Fußkaſtens mit ivijierenden Platten aus Kloſtermühler Schmelzglas, jowie die yum
Flankieren bejtimmten Bücherhalter von Lina Krauſe, zierliche Durchbruchwände mit
Pflanzenveräſtung aus Eiſen- und Meſſinglegierung.
* *
*
Eine Fülle von Kleinkunſt, von Bibelots, von Objets d'art ſtehen noch in dieſer
Ausſtellung herum und bevölkern als Staffage die Möbel. Kaum ein Gebiet der
modernen angewandten Kunſt blieb unerprobt.
Keramiſche Experimente brachten mit Glück Hildegard Lehnert und Helene Lobedan.
Schon früher hatten ſie Gefäße mit eingeſchnittenem und geritztem Dekor entworfen,
jetzt gehen ſie auf dieſem Wege weiter und ſetzen die ſo behandelten Vaſen und Schalen
einem galvaniſchen Niederſchlagsverfahren aus, das die Motive mit metalliſchem Luſter
aus der irdenen Grundfläche heraushebt. Die Motive ſind meiſtens Blätter und
Halme. Wirkungsvoller als das naturaliſtiſche Ornament ſcheint mir noch das
urſprünglichere ſpielende freie, wie auf jener ſchmalen Vaſe, über deren graugrüner
Fläche mattgoldige Tupfen und Sprenkel ſchillern.
Neigung zu beſonderen techniſchen Verſuchen verraten die Tiſchplattenfüllungen
von Helene Lobedan. Aus ſchwarz poliertem Glas find fie, mit einem Sandſtrahl—
geblaje werden fie mattierend bebandelt, fo daß die ornamentalen Motive, meijtens
Blattgesweig, blank und ſchwarz in der durd das Gebläſe erzeugten grauen Fläche
jteben bleiben, — Cilhouetten im bellen Grunde, japanifden Schablonen gleicend.
Much ivifierende Gläſer gibt, hübſch, aber ohne Originalitat.
Sebr fein fdeinen die Emailmalereien von Dora Kellner. Blumenmotive geben
fie von einem ſo tiefen duntelgliibenden Lüſter, daß man an oftafiatifche
Schmelzarbeiten auf Kupfer denft. Schön ift auch dad tiirfisfarbene Email auf
Emmy Luthmers Dofe.
Cin gutes Zeugnis verdienen die Schmudfaden von Ilſe von Cotta. Ihre
Schließen aus rauh behandeltem Cilber, mit den Augen farbiger Steine iluminiert,
find phantafievoll und dabei einfach und materialgeredt.
* *
*
340 Delorative Frauenfunft.
Muf diefem Rundgang trafen wir die Frauen häufig bet männlicher Hantierung,
die wudhtigen Mae de3 Holzes und der Metalle balancierend und ficer und frei mit
robujtem Material fchaltend.
Das hat ibnen die Hände und den jarten Sinn fiir Sierlichfeit und zärtliche
ſchmeichleriſche Wirkung aber nicht verdorben. Neben den ftrengen männlichen Arbeiten
blüht auch deforative Lyrik.
Und eine ijt Meifterin in beiden, Marie Kirſchner. Die den mächtigen Garderoben-
ſchrank erſonnen und die ſchmuckloſen Biicherftinder aus Holz und Cifen, zaubert die
delifatejten Sticereien.
Eine Fliigeldede bezeugt die Noblefje ibres Geſchmacks. Auf bellgriinem Seiden:
qrund wechſeln dunkelgrüne Kränze von Goldfaden gebunden mit Fleineren Kränzchen
aus winjigen CSilberpailletten ab.
Erlejene Farbenjtimmung bat die Dede von Clara von Sievers, mattrofa und
mattgriin auf weif. Diefelbe ftellt mit Ilſe Schütze einen gemalten Paravent aus,
mit graulifa gezweigten Feldern und einem anmutigen Fries von Singe-Engeln.
Deforatives Raffinement zeigen zwei andere Paravents von Marie Rirjdhner.
Sie verenden mit Glid ,Nunjtformen der Natur“. Die metalliſch ftablblau-violett
idimmernden Fliigeldeden brafilianijder Kafer werden als UApplifationsingredienjen,
ſozuſagen als pailletes naturelles verwertet. Auf weichwelligem, ſchwimmendem gritnen
Moiree wiegt fics in ſchlanker Biegung ein Palmenſtamm, und in feiner Krone gligert
und blinft es ...
Emmy Luthmer Lieferte dem Raum WApplifations-Portieren, febr rubevoll in ibren
dunfelgrauen Tonen, im Schnitt den Aufnäharbeiten an die hieratiſche Linie der
Jung-Wiener Kunſt erinnernd.
Cin farbenfebweres, ſchön geſtimmtes Kiſſen der Freifrau von Maltzahn darf
nicht vergefjen werden, auf weifer Seide cine rofthraun-mattgelb-qriine Herbjtitudie
aus Abornblittern. Und bei aller Ronftruftivitit, Cachlichfeit und natiirlicher
Schlichtheit, und wie die anderen ſcheinbar proſaiſchen Tendenzen unſerer Gegenwarts—
richtung beifen, ward ſchließlich auch die zierlichſte, hauchzarteſte Poésie fugitive, die
die Ddeforative Kunſt des achtzyehnten Jahrhunderts ausgebildet, nicht vergeſſen, die
Kunſt des Fächers.
Schöne Exemplare von Margarethe Erler ruhen in der großen Vitrine, geſtickt
und gemalt voll koloriſtiſcher Fineſſe, gefaßt in koſtbaren Perlmuttergeſtellen, graviert,
vergoldet, durchbrochen, und einer der zarteſten zeigt ein verſchlungenes Bandwerk
orange und grün auf durchſichtig weißem Grunde.
* oo
ae
So ſpricht die Ausjtellung, die in St. Louis von deutſcher Art und Kunſt zeugen
foll, beredt 3u und.
Sie zeigt, daß die Frauen aud) im Kunſtgewerbe „ſich geliijten laſſen nad der
Manner Bildung, Kunſt, Weisheit und Ehre“ und dag fie darum nod nicht ibre
Weiblichkeit aufzugeben brauchen.
Auf das Ernſte, Schwere und auf das Leichte und Graziöſe in dieſem Frauen—
reich ſchaut die hohe Mädchenſtatue der Cornelia Paczka-Wagner, verſonnen, heiter
und nachdenklich zugleich; fie ſcheint an allem Teil zu haben . . . Reine Ferne macht
fie ſchwierig . ..
=
341
— 1, Moses 3. —
H. Tudwig.
Nachdruck verboten.
m tit Dr Ebeling war die ſchönſte Stunde des Tages gekommen. Er ſaß in ſeinem
AS bebaglicy ausgeftatteten Arbeitssimmer auf dem nachgiebigen Schaufelftubl, Kiſſen
im Riiden und unter den Füßen, und ſchlürfte echt ruſſiſchen Tee aus einem
feingefcbliffenen Glaje. Erquifite Zigaretten, Fleine Dinger, deren jede er nach acht,
zehn Zügen fiir verbraucht eradptete, mebhrten die woblige Bebaglichfeit. Bücher lagen
vor ibm auf dem grofen runden Tiſche, Biicher zu beiden Seiten auf fleinen Tiſchchen;
er hatte die Wahl von Seifenblaſenlektüre bis hinauf zu Ewigkeitswerken. Dieſe all-
umfajjende Möglichkeit gab ihm ftets cin Gefiihl des Reichtums und der Herrſchaft
fiber Seiten, Welten und Welteninbalt. Es war cine beilige Stunde, in der das Leben
aufhörte ein Kampf gu fein, er ſchob es zurück und betrachtete es lächelnd aus der
Diftany erhabener Befchaulichfeit. Cs war eine heilige Stunde. Nicht, dah er fic
befonders beiligen Gedanfen hingab oder fich aufmachte, Gott und die Wabrheit yu
fuchen, aber er zog ein Gebege um fie, daß niemand einbrechen fonnte in ibre nirwana—
artige Stille. .
Dr Gbeling griff eben ju feiner dritten Sigarette, da Flopfte es an feine Tür.
Sein Staunen war wie cin Sturz aus lichter Höhe; der Wortweddfel an der Flurtitr,
anfangs ein. geflitjterter, dann anfebwellend wie zerſtörungsluſtige Wafferfluten, war
ifm faum zum Bewuftfein gekommen. Nod cbe feine Verſtändnisloſigkeit dem Unerhörten
qegeniiber ſich yur Entrüſtung beraufgearbeitet hatte, trat cine junge Frau ins Zimmer
und ftellte fic) ihm vor. Er fab fofort eine große Entſchloſſenheit in ibrem Geficht,
eine jitternde Errequng in ihren Gliedern, und obne dag et fich Rechenfcbaft geben
fonnte, twie es gefommen fei, fag fie ibm gegeniiber, er ein Wartender, unrubic
gefpannt, fie nad) einem Anfang fuchend, der es ermöglichte, wirres Garn ohne Berluk
glatt abzuwickeln.
Endlich begann ſie: „Herr Doktor, ich bin Witwe; ich habe zwei Söhne und drei
zenſionäre. Die Penſionäre ſind eine Notwendigkeit; ſie ſind in dem Alter meiner
Söhne, vierzehn- und fünfzehnjährig. Ich brauche — natürlich brauche ich —“
Ebeling unterbrach die Zögernde. Ein Wald hochgereckter, ausgeſtreckter Anſprüche
mit allerlei Buſchwerk zwiſchen den kräftigen Stämmen zeigte ſich ſeinem wach gewordenen
Vorſtellungsvermögen, er kannte das, kannte dieſe Wälder mit ihrem Geſtrüpp und die
rauhe Arbeit des Sichhindurchwindens.
„Ich glaube kaum,“ — ſagte er.
Da unterbrach ihn die Frau ihrerſeits mit einem ſchnellen Aufleuchten der Augen,
das die Flucht jeder Verlegenheit bekundete.
„Sie glauben kaum, daß ſie mir etwas nützen können, nicht wahr? Und doch
haben gerade Sie, Herr Doktor, mir das, was ich brauche, geraubt, ſo ſelbſtverſtändlich
geraubt, und nicht nur mir, ſondern noch unzähligen andern mit mir, des bin ich
ſicher. Die Achtung, die ich brauche, haben Sie mir zertreten, in das Herz meiner
Söhne haben Sie Zweifel geſäet. Cie haben einen Strich gezogen zwiſchen mir und
ihnen und in zwei Welten geteilt, was eine Welt fein ſollte.“
342 1. Moſes 3.
Dr Gbeling fab fein Gegeniiber balb beſtürzt, balb beluftigt an.
„Daß ich nicht wüßte, gnädige Frau!” fagte er unficher.
Der Name feines BefucheS hatte fic ibm bet der fliichtiqen Vorftellung nict
eingepriigt, und etwas in Wort und Haltung der überaus einfach Gefleideten nötigte
ibn ju tadellofer Höflichkeit.
„Natürlich nicht!” fagte die Fran faft ſpöttiſch. „Dieſer Raub ijt Gewobnbeits:
face, Sie halten ibn fiir Abr gutes Recht.“
Cheling wurde ungeduldig.
nour Sade!” fagte er.
„Gern!“
Das ſpöttiſche Lächeln verſchwand aus dem klugen Geſicht der Frau. Sie
richtete ihre jungen braunen Augen feſt auf Ebeling, ihre ruhige Klarheit verwirrte
ihn, ganz wider ſeinen Willen.
„Ich ſchicke voraus,“ begann ſie, „daß Sie, Herr Doktor, der Religionslehrer
meiner fünf Jungen ſind; die fünf ſind in derſelben Klaſſe. Bisher wurde es mir
nicht ſchwer, die lebhafte Schar zu leiten und zu bändigen; niemand verweigerte mir
je ernſtlich den Gehorſam, man hatte Reſpekt vor mir. Es war das etwas Natürliches,
das ſich aus unſerm Verkehr und meinem mütterlichen Walten von ſelbſt ergab, es
brauchte nicht erzwungen zu werden. Ich wußte kaum, daß in unſerem ſchönen, freien
Zuſammenleben ſo viel Reſpekt vor mir vorhanden war. Da wurde es anders, ganz
plötzlich, ſo ſchien es mir. Doch als ich bei der erſten offenſichtlichen Auflehnung
gegen meine Anordnungen zurückdachte, wurde mir klar, daß dieſe Eruption ſich langſam
vorbereitet hatte. Ganz ſeltſam batte fie fic) vorbereitet, Herr Doktor; durch Anftarren,
verwundertes, neugieriges Anſtarren, als befände ich mich in einer den Knaben ſchwer
denkbaren Situation, die niemals ihre eigne werden könnte, und als wären ſie höchſt
geſpannt, wie ich mich in ihr zurecht zu finden verſtände. Bei den beiden älteſten
Penſionären ſpielte die Neugierde ſtark in Spott, ſelbſt in Schadenfreude hinüber.
Es gab oft ein Ziſcheln und Gekicher unter den Jungen, das den früheren Ausbrüchen
harmloſer Geheimniskrämerei durchaus nicht glich. Es ſtand in Beziehung zu meiner
Perſon, ich fühlte es. Die Augen der Knaben begegneten ſich oft, ſich fragend, ſich
verſtändigend, die Unbefangenheit war fort. Meine Söhne waren ſcheu, gequält, ſie
ſpielten mit mir Verſteck.
Alles deſſen erinnerte ich mich, als der älteſte Penſionär mir einmal den Ge—
horſam verweigerte, wo er ihn mir durchaus nicht verweigern durfte, denn ich ſprach
zugleich im Auftrag ſeiner Mutter. Da verlangte ich Klarheit und ruhte nicht, bis
ich fic gewonnen hatte. Ich will Ihnen den Weg dazu nicht ſchildern, auch nicht
erzählen, was ich aus Kindermund dabei vernommen und hinter Kinderſtirnen geleſen
und tief, tief in den allerdunkelſten Seelenwinkeln entdeckt habe, nicht reden von den
böſen, ſcheuen und doch ſchon recht regſamen, gierigen Wünſchen nach Schauen
und Genießen, mit denen ſelbſt der reife Menſch nur ſelten zu ſeinem Heile fertig
wird. Cie mögen ſich's in Ihrer nächſten ſtillen Nachmittagsſtunde ausmalen, Herr
Doktor!“
Ebeling maß die kühne Frau mit einem kalten, ſtrengen Blick, dann lehnte er
ſich läſſig zurück und markierte durch ein leiſes Gähnen hinter der ſchmalen, weißen
Hand ſeine gelangweilte, aber geduldige Gleichmütigkeit.
Die Frau lächelte ſchon wieder. Cie hielt den Kopf außerordentlich hoch.
Ebeling ſah immer die feinen Naslöcher, die zwei braunen Apfelkernen glichen,
und den kräftigen Bau des Halſes unter dem Kinn. Bei ihrer lebhaften Art zu
ſprechen gab's allerlei intereſſante Muskelſpiele und Ebeling fühlte den Maler in
ibm ſich regen. Rafaelſche Madonnen mit Hälſen gleich ſtämmigen Säulen ſtiegen
vor ihm auf.
„Was ich ſpreche, geht Sie etwas an, es geht Sie in der Tat etwas
an!“ begann die Frau wieder. „Die Knaben ſchöpften die Antequng, die Luft
und die Kraft zu ihrem ffeptifeben, rebellifeben Verbhalten aus Ihrer Religionftunde,
Herr Doktor.”
- *€
L. Moſes 3. 343
7 Das ift cine ſchwere Anflage,” fagte Cheling, fic) Miihe gebend, bei der Sache
zu bleiben, der er nod) immer feine allzugroße Bedeutung zuſchrieb.
xEine ſehr ſchwere Anklage,“ beftitigte die Frau voll tiefen Ernſtes, und zum
erſtenmal ſank der gehobene Kopf herab.
„Und min will ich fie begründen,“ fang’ die belle, kühle Frauenſtimme an
Ehelings Obr. „Das dritte Kapitel des 1. Bud) Mofes lehrt nach Ihnen, wie die
Frauen einzuſchaben ſind. Erſtens: Die Schlange iſt ein Symbol der boöſen Begierden,
die aus des Weibes, als aus des ſchwaͤcheren Gefäßes, Bruſt emporquollen wie
ſchlammige Waſſer det Tiefe. Alſo, alles Böſe ftammt vom Weibe. Riweitens: Jn
dem Kampf mit der böſen Luft unterliegt das Weib, weil es fich der Lüge, jum
mindejten der Verdunfelung der Wabrbheit als Waffe bedient. Beweis: Es fagt auf
Die Frage: Qa, follte Gott gefagt haben: Yor follt nicht effen von allerlei Baumen
im Garten? — Bon den Fritehten des Baumes mitten im Garten hat Gott gefagt:
Effet nicht davon, rühret es aud) nicht an, daß ihr nicht fterbet!
Gott hat ‘aber nicht gefagt: Riihret es nicht an! Die Bibel berichtet nichts
davon. Das ijt Nbertreibung, bewußte Mbertreibung, wie fie noch heute bei paffenden
Gelegenbeiten in der Frauenwelt üblich ijt. Die Frau ſcheut fich nicht, Gott anzu—
greifen, feine Größe und Güte yu kleinlicher Strenge zu ſtempeln, um ihrem Unter—
handeln mit der Schlange einen Schein des Rechtes zu geben. So lügt fie doppelt
und dreifach, ſelbſtſüchtige Ziele im Auge und zugleich den wildeſten Vorſtellungen
preisgegeben: Ihr werdet ſein wie Gott. Verlogen der Intellekt, verlogen die
Phantaſie!
Drittens. Sie koſtet die ſchlimme Frucht. Nun iſt ſie eine Gefallne. Da kommt
die Angſt. Allein ſchuldig, allein ſich vor Gott verantworten — nein, das geht nicht,
das erträgt ſie nicht. Wenn ſie ſchon ins Elend muß, wenn Strafe ſie treffen ſoll,
dann ſoll auch der an ihrer Seite ſein, der mit ihr das Glück der Unſchuld teilte, er
darf nicht ſtehen, wenn ſie gefallen iſt, er darf nicht Gottes Freund bleiben, wenn fie
zur Verſtohnen wird. Und aus dem ſchlimmſten, weil folgenſchwerſten Equismus, den
je die Welt gefchaut hat, reicht fie mit lügneriſch lächelndem Munde, den WAbgrund
ibrer Seele durch Blide der Liebe verbergend ibrem Gefährten den Apfel, deſſen Genup
jeine ftolje Unberührtheit vernichtet.
Und nun folgt viertens der Hinweis auf 1. Mofes 3, 16 und eine Auslegung,
Herr Doftor — — — Ach wußte in der Tat nicht, dag Gott das erjte Menſchen⸗
paar und mit ihm die Menſchheit in zwei ſo unverfobnlice Gegenſätze zerſchnitt, in
Subjekt und Objett' Zweck und Mittel‘, ‚„Menſch und Menſchengebärerin““.
Die Frau war aufgeſtanden, ruhig war alles an ihr geweſen wie das Wattenmeer
zur Ebbezeit, die klaren Augen, der geſenkte Kopf, die fangen ſchmalen Oande, deren
cine auf dem Tiſche gerubt hatte, die freie Haltung, jest braujte es über fie bin wie
eine gewaltige Flutivelle. Mit grofen Sebritten durchmaf fie das Zimmer, in dem
fie ein ungebetener Gaft war, als ware fie mit fid) und ibrem Zorn allein.
Ebeling ftand auf. Gtivas won der ¢ ewaltigen Flutwelle ſchien an ibm binauf-
sufteigen, sum Herzen, zum Kopf, es Beha inte Betäubung. Er ſtreckte beſchwörend
die Hand aus.
Da blieb die Frau vor ihm ſtehen, hoch aufgerichtet, den Kopf zurückgeworfen,
wiederum Ruhe in den klaren Augen.
„So, Herr Doktor! Die vierzehn- und fünfzehnjährigen Buben haben nun die
ganze Pſyche des Welbe⸗ und mit ihr die Löſung des furchtbaren Problems der Schuld
und des Leidens. Sie haben die Pſyche des Weibes, ſage ich, ihrer Mutter, ihrer
Schweſtern, mit ihr werden fie ſich durchſchnittlich recht wenig befchaftiqen, aber auch
die Pſyche der Frauen ihrer Sufunft, derjenigen Frauen, mit denen fie einft in andere
Beziehungen treten werden, die Pſyche der Geliebten, der Braut, der Gattin — —
und bier grübeln fie nach, zerſinnen fie fic) — oder fie nehmen auch einfach die kräftige
Federzeichnung an — und finden — o Areude, o Freude und abermals Freude —
Here Doktor, fie finden eine Freude, die vielen Seelen den Tod bringt.”
,Gnadige Frau!“
344 1, Moſes 3,
Die Frau trat ein paar Schritte guriid, denn Ebeling fprang auf. Gr nagte an
feinem woblgepflegten Bart, das Geſicht war flammend rot geworden. Es wurde ibm
nicht leicht, Sine Stimme yur Rube gu zwingen.
„Was Sie hier anjudeuten belieben, eriftiert wohl nur in Ihrer Pbhantafie, es
ijt Tbertreibung, weibliche Nbertreibung.” Er gewann fein überlegenes Lacheln wieder.
„Außerdem — ich bin aud) Theologe und id) habe meine Weltanſchauung.“
Seiner Gegnerin fcbien dieſe Erklärung eber cine Ermutigung als cine Entmutigung
zu fein.
„Um fo beffer,” fagte fie, „beides feblieBt doch wohl das Streben nad
Wahrheit in fich.”
Ebeling war gereizt.
„Jawohl, und deShalb eben vertrigt die Theologie feine Dilettanten, feine
Frauen, die ſich um eine Weltanfchauung nicht fonderlic) ju befiimmern pflegen, es fei
denn, um Staat damit zu machen.”
„Sehr wohl!” fagte die Frau, ,aber wenn die Wahrheit Ihre Richtſchnur ijt,
wie finnen Sie dann behaupten, das Weib habe gelogen, als es Gottes Befebl in die
Worte faßte: Gott bat gefagt: Eſſet nicht davon, rühret es aud nicht an, dah ibr
nicht fterbet!?”
„In der Bibel ſteht nicht, daß Gott gefagt babe: Rühret es aud nidt an!”
yout!” fagte die Frau. ,Dann bat aud Clifa gelogen, und Jeſus gelogen,
und die Mehrzahl der großen Propheten dazu —“
„Eliſa, Chrijtus!” jagte Ebeling entritftet.
„Wiſſen Sie nicht, daß Schopenhauer das bebauptet bat?” fragte fie mit fiiblem
Staunen. „Er beruft ſich auf Johannes. Der erzählt, Jeſu Briider forderten ibn
auf, nad) Serufalem zu geben, da antwortete er —“
Sie trat an den Schreibtiſch und nabm in ibrer felbjtveritindliden Art eine
Bibel von dem Biicherbord dariiber. Nach kurzem Suchen las fie:
„Gehet iby hinauf auf diefes Feft. Ich will nod nicht hinaufgeben auf diefes
Felt, denn meine Zeit ijt nod) nicht erfiillt. Da er aber das zu ihnen gefagt, blieb
er in Galiläa. Als aber feine Briider waren hinaufgegangen, ging er auch binauf zu
dem Felt, nicht offenbarlich, fondern gleich) heimlich.“
„Da, Sie feben, wer dieſes Rapitel fo Licjt, wie Sie den Siindenfall, Herr
Doktor, der finnte cine Liige zwiſchen den Zeilen leſen. Ach will nicht, ich kenne
meine Bibel zu gut. Und nun Eliſa. — Er log in dem entſcheidendſten Augenblice
feines Lebens, gerade als Elias, der Geiwaltige, ibn yu feinem Nachfolger erwählte.
Sch lefe es auch, damit Sie feben, wie er log in der ernftejten Stunde. 1. Rin. 19 —
bier iſt's! ,Und er (Elias) ging von dannen und fand Eliſa, den Sohn Saphats, dah
er pfliigete mit zwölf Soden vor fic bin und warf feinen Mantel auf ibn. Er aber
ließ Die Rinder und lief Elias nach und ſprach: Lah mich meinen Vater und meine
Mutter küſſen, fo will ich dir nachfolgen. Cr fpracd ju ihm: Gebe bin und fomme
wieder, Denn ich Habe mit div ju tun. Und er fief wieder von ifm und nahm ein
Nod) Rinder und opferte und fochte das Fleiſch mit dem Holzwerk an den Rindern
und gab es dem Volf, daß jie afer und machte ſich auf und folgte Elia nad und
diente ihm’. — Der Abſchiedskuß war nur ein Vorwand, nicht wahr? Eliſa log, iſt's
nicht fo?”
„Lächerlich!“ ſagte Ebeling. „Das nennt man mit dem Buchftaben Gigendienft
treiben! Man muß zwiſchen den Zeilen yu leſen veritehen.”
„Und wenn ich nun zwiſchen den Zeilen leſe, daß Gott gefagt hat: Rühret es
auch nicht an!“
„Es gehört Schulung dazu zwiſchen den Zeilen zu leſen,“ ſagte Ebeling. „Leſen
Sie Paulus recht aufmerkſam, dann werden Sie wiſſen, ans welchem Geijte heraus
man in der Bibel zwiſchen den Zeilen zu lefen hat.”
„Und wenn ich nun zwiſchen den Seilen leſe,“ fubr die Frau, obne feinen
Cinwand zu beadhten, fort, „daß der Mann dieſen tibertreibenden Sujag gemacht bat,
um fic) und fein Weib um fo ficherer juriidjufehreden? Cie wiſſen, das Weib war
— —
1, Mofes 3. B45
nod nicht geſchaffen, als Gott das Berbot ausfprad. Da dic Frau es Fennt, bat
der Mann es ibr iibermittelt. Frauen find unfelbjtindige Denker, fie beten nur nach,
— vielleicht iibertrieb der Mann?”
Ebeling wurde heute aus fic felbjt nicht Flug. Gr hatte nicht nötig die Fauſt,
et brauchte nur den fleinen Finger zu beben, bildlich gefprochen natiirlich, um die naiv
kühne Frau jum Schweigen zu bringen und mit einem demiitigen Stachel im Herzen
nad Hauſe zu ſchicken. Für ſolche Waffengdnge war Paulus ein Held unter vielen.
Aber ex hatte das Gefühl eines Reiters, dem ein flinte Hand die Sattelriemen löſt.
Sielleicht war der Schaukelſtuhl daran ſchuld, auf den er ſich wieder geſetzt hatte, weil
das barte Voreinanderitehn ihm komiſch kriegeriſch erſchien. Much nitigte ihm die Frau
Refpeft ab durch einen Zug ſtolzer, ftrenger Wahrhaftigkeit. Cr erlebte es mit, dah
die Buben Refpekt vor ihr Hatten. Dieſe ſtarke Achtungsempfindung wand ihm ſein
Rüſtzeug aus den Sanden. Er beſchloß auf das praktiſche Gebiet uͤberz sugeben, bier
ließen ſich die Schwierigfeiten, deren er fich voll bewußt war, leichter überwinden.
Aber die Frau begann noch einmal:
„Steht hier nicht in der Bibel klipp und klar: Und ich will Feindſchaft ſetzen
zwiſchen Dir, der Schlange, und dem Weibe? Und was haben Sie aus dieſem
Gottesruf an das Weib, feſt und bewußt in den Kampf gegen das Böſe einzutreten,
gemadt, Herr Doftor? Cie fagen ibm entgegen: Die Frau ift nidt Gottes Chre,
jondern des Mannes Ehre, in des Mannes Haus foll fie dem Manne dienen. So
verſchließen Sie iby das Leben und bindern fie am gottbefoblenen Kampf. Es wird
beliebig zwiſchen den Seilen gelefen, bald fo, bald fo. Cin Prinzip gebt voran und
biegt und verbiegt und zerbricht. Gott fpricht in der Bibel, fo beift’s, aber wehe
ibm, wenn er anders jpricht, als fein eingiges Ehenbild, der Mann, es will, dann tut
man ibm Gewalt an.”
„Laſſen wir das, es führt zu weit,” fagte Cheling mit feiner mildejten Stimme.
» Regen Sie fic) nicht auf! Laſſen Sie uns das Wichtigſte befpreden, wir haben es
nod) nicht berührt!“
„Ja, es regt mich auf,” fagte die Frau und bolte tief WAtem.
Sie ging an3 Feniter, Die großen braunen Augen fuchten den Horizont. Den
rebenumwachſenen Berg, dev binter freundlichen Wiefen, Garten und Villen aufwärts—
ſtieg, krönten Walder. Cie bildeten eine ſchwarze Mauer mit unregelmafigen zarten
Spiten, felten Wölbungen und tiefen, fenfrechten Cinfehnitten. Hier war's, wo
Himmel und Erde cinander umfaften, als vermählten ſich Seit und Ewigkeit, damit
alle Minder der Zeit ftrads hineinzögen in das neue Reich.
Es herrſchte villige Stille im Zimmer. Celtfam, dah Cheling die großen, weiden,
perſiſchen Teppiche, die Chaifelonque mit den vielen, zu bequemer Rube ladenden Riffen,
die ſchweren Tür- und Fenjtervorhinge mit ibren tiefen, weichen Falten, all’ die febiigenden,
wärmenden, zierenden Behänge, Sebirme, Gandarbeiten, und was es fonit noc gab,
mit all’ den koſtbaren Stickereien, daß ibm fein ganzes Zimmer, an deſſen Verſchöne—
rung er immer noch arbeitete, plötzlich echt ſybaritiſch erſchien, wie eine Verleug—
nung jeglichen Kampfes. Es war keine angenebme Vorjtellung, um jo minder ange:
nebt, alg dort am Fenfter cine Frau ſtand, von der er wußte, daß ſie den Kampf
nicht mied, ſondern ihn ſuchte als eine Pflicht und ein Recht. Er bewunderte ihre
riidjichtstofe Selbſtändigkeit, ihr völliges Muf-fich-beruben, dann wieder ſchämte ex fich
diefer Bewunderuna.
west löſte fic) die Frau aus ibrem Schauen.
Sie ſah dem Doftor gerade ins Geſicht mit einer feftfamen unperſönlichen
Ehrlichkeit.
„Da habe ich mir eben eine Frucht vom Baume der Erkenntnis gepflückt,“ ſagte
ſie. Sie bot ſich mir dar. Ich möchte Ihnen davon zu koſten geben, Herr Doktor.
Ich ſah im Geiſte eine Bibel, da ſtand: Und die Schlange ſprach zum Manne. Und
der Mann nahm die Frucht, aß, und gab ſeinem Weibe auch davon. Und das Weib
ſprach zu Gott: Der Wiann, dem Du mich jugefellet haſt, qab mir davon und ich af.
Und min hören Sie, wie die befannten Handlungen bei vertauſchten Rollen gedeutet
346 1. Moſes 3.
wurden. Des ManneS Tat hieß cine Prometheustat; Grofmut ijt e3, nicht Ver—
fiibrung, dak er dem Weibe die Frucht yum Migenießen reichte. Das Weib aber
lohnte des Mannes Hochherzigkeit mit erbärmlichem Klatſch uſw. Geben Sie die
Moöglichkeit einer ſolchen Deutung zu, Herr Doktor?”
Ebeling ſtarrte die Frau an, faſt faſſungslos. Cie hatte ibm wirklich cine Frucht
vom Baume der Erkenntnis gereicht, aber er zögerte fie zu nebmen.
„Laſſen Sie uns das Wichtigite beſprechen, “ fagte er nod) einmal. „Wir haben
Die Knaben ganz ausgefchaltet, wm die es fich im letzten Grunde doch handelt.“
„Ja, das Wichtigſte iſt noch nicht berührt,“ ſagte die Frau. „Das alles waren
eigentlich nur Vorreden, notwendige freilich. Es war die Schale, jetzt kommt der Kern.
Wie wollen Sie es rechtfertigen, Herr Doktor, daß Unſittliches in die Religion hinein—
getragen wird als ein Teil ihres Seins, um gleichzeitig durch ſie das Wunder zu
bewirken, daß die Unſittlichkeit höchſte Sittlichteit wird?”
„Gnädige Frau! Alle Achtung vor Abrem Intellekt und guten Willen,” ſagte
Cheling heftig, ,aber Sie ſchießen über das Biel. Dergleichen Anflagen beruben aut
Begriffsuntlarbeit. Ady fiible mic nicht getroffen. Ach habe meine Weltanſchauung.
Sie vertrigt fic) mit der Religion und mit der Bibel, das biirgt fiir ibre Sittlichkeit.
Ich verftebe, dak es Wabrheiten gibt, die Sie ſchmerzen müſſen. Tröſten Cie ſich da—
mit, day Ste eine Ausnahme find, denn es gibt Ausnabmen, das geftebe icy bereit-
williq zu.“
„Es kümmert mich wenig, welch einen Platz Sie meiner Perſon in Abrem Syſtem
einrdumen,” fagte die Frau ironiſch. „Bemerkenswert ijt es aber dod, dak Gott,
Shr Gott, nur zu tröſten vermag, wenn er Ausnahmen ſchafft. Wher nun yur Hauptſache.
Sie untergraben die Familie, Herr Doftor, Sie locern die beiligiten Bande der Natur.“
Eheling ftiigte Den Kopf in die Hand. Mit jeinem Denfen war es heute übel
beftellt. Es feblte die Nlarbeit, die Reinheit, Frembdes drängte fic hinein, dag fics dem
fein gefcbliffenen Beftand nicht fiigen wollte.
„Schicken Sie mir die Jungen 3u,” fagte er, „das wird das Beſte fein. Cs
muß Mißverſtändniſſe gegeben haben. Es gibt ein Zwiſchen den Zeilen lefen
auch bei dem geſprochenen Wort, das haben die Jungen im Geiſt ihrer Flegel—
jahre probiert. Es tut mir leid, daß Sie darunter gelitten haben. Schicken Sie die
Jungen mir zu, ich werde ihnen den Kopf zurechtſetzen.“
„Nein,“ ſagte die Frau, „das Zurechtrücken beſorge ich. Was ich nicht ſelbſt
aufzubauen verſtehe, reißt mir ein anderer leicht wieder nieder. Auch gibt es noch
etwas anderes zurechtzurücken als den Kopf — das Herz — das dürfte fo ganz Ihre
Sache nicht ſein. Ich kam nicht, Sie um Hilfe zu bitten, ich kam, Ihnen zu ſagen,
welch eine ſchwere Verantwortung Sie tragen durch Ausſtreuen ſolcher Saat auf un—
berührten Acker. Was ſpäter geſäet wird, wird Mühe haben ſich zu behaupten, wenn
nicht jemand da ijt, Der mit Hacke und Spaten und ätzender Lange den Acker rück—
jichtslos faubert, den Cie, Herr Doftor, als Säemann betreten haben. Diefen rück—
fichtslofen Kampf nehme ich auf, denn es handelt ſich um fünf prächtige Burſchen und
um alle die, deren Freud und Leid einſt an ihr Dajein geknüpft ſein wird.“
„Sagen Sie mir, bitte, die Namen der Knaben,“ ſagte Ebeling. „Was ich ge—
ſprochen habe, gibt wirklich zu ſolcher Entrüſtung feinen Anlaß. Es find Wahrheiten,
die ſo alt ſind, wie die Welt, die ſchon fontrete Form gewannen, als das exjte Menſchen—
paar fiel und litt. Iſt die Familie über dieſen Wahrheiten zu Grunde gegangen?
Hat fie fic micht immer mebr gehboben und geläutert in den Beziehungen der einzelnen
“lieder yu einander? Die Jungen waren gewalttitiqe Anterpreten, ich muß fie beſſer
fennen lernen und fejter ing Ange faifen.”
„Herr Doktor,” fagte die Frau, „was folche Anterpretation ermöglicht, follte
licber niddt gqeboten werden. Die Namen der fiinf Buben nemne ich nicht. Ich freue
mid, dak Sie den meinen vergeſſen haben, nun können meine beiden Fleinen Leute
nicht 3u Verrätern werden. Den Kindern ift feim Vorwurf zu machen, ibre Wäſſerlein
flojjen rein, ebe 1. Moſ. 3 zur Befprechung fame”
a
1. Mofes 3. 347
Eheling war allen. Der Tee in der Kanne war falt geworden. Cr jiindete
fich eine Sigarette an. Ther dem Berge ftanden rofenfarbene Wolfen, durchfichtige,
lange Streifen, die über den Himmel griffen wie wehende Schleier. Hier und da
freusten fie fich, al8 bliefe der Wind von zwei Seiten. Der ſchwarze Wald hob ſich
ftreng als cine fefte Maſſe von dem Lichtmeer, da hinter ihm das All ju beſitzen
ſchien. Wie eine Burg ftand er da, von der man Ausfſchau halten könnte in die zwei
Welten, die zu einander gehören und jich doch nicht vereinigen finnen. Der Doktor
trat ans Fenjter.
Er jah den Tag zur Riifte geben. Alle Farben nabm er mit ſich binab. So
tebren fie nie wieder, — aud er, der Tag, febrt nie wieder, fein Bruder it’s, dev
kommen wird, Ebeling ſtarrte auf die ergrauenden Wolfen.
Der Abendwind hatte fic) aufgemacht, er fiiblte feinen falten Atem fo. dicht vor
den Scheiben. Cheling zündete das Gas an, feine Haushalterin fam, die Laden zu
ſchließen. Cin rofa Lampenſchirm dämpfte bas Licht; wie Sonnenunterganggitimmung
lag es auf allen Bildern und Büſten des Zimmers, auch auf den Büchern. Auch
auf der Bibel dort auf dem Tiſch neben dem ſilbernen Schälchen mit dem Zigarren⸗
bündel.
Wie kam ſie dorthin? Das eingepreßte Goldkreuz auf dem Deckel, die goldene
Krone darunter, das goldene E., daß den Abſchluß bildete, fie alle batten ihr Gold
mit Dem jarten Roja getränkt. Sonnenuntergangsſtimmung aud) bier,
Ebeling wurde gan; irre. Dieje Bibel hatte er feit Jahren nicht in der Hand
gebabt; er hatte einmal nad) ibe gejucht, obne fie zu finden. Wie fam fie hierher?
Ach ja, die Frau — fie hatte dort nach oben gegriffen, nach den Borden fiber dem
Schreibtiſch und jie beruntergelangt.
Er ſetzte fice) in den Schaufelftubl und fab die Bibel an.
Eine neue Bibel — die alte Bibel. — Ja, vom alten Tage empfing ſie der
neue Tag — eine alte Bibel! Ein Tag gibt ſie dem andern!“
Er hob den Deckel und las:
Den Geheimen Regierungsrat Ebelingſchen Eheleuten zu Königsberg aus Veran—
laſſung der Feier ihrer goldenen Hochzeit zum Andenken gewidmet.
Sansſouci, den 15. November 1856. Eliſabeth.
Seine Urgroßeltern hatten dieſe Bibel von ihrer Königin erhalten.
Ein Zettel lag auf der erſten Seite mit dem Sprüchlein: Fürchte dich nicht,
denn ich bin mit dir, weiche nicht, denn ich bin dein Gott!
Maria Ebeling, geb. v v. Winterfeld, lautete die Unterſchrift. Der ſtammte von
ſeiner Großmutter. Und noch ein Blatt fand er. Er wußte, noch ehe er es aus—
einanderfaltete, was es bringen mußte, denn er hatte auf der Riidfeite ſchon die
elle Handjebrift feiner Mutter erfannt. Und richtig, ba ftand, was fie über alles
wert biclt:
1. Shor. 13. Renn ich mit Menschen: umd mit Engelszungen redete und hätte
der Liebe nicht, fo wäre ich cin tinend Erz oder cine Flingende Sdelle. ...
Ebeling las, was er ausivendig wufte, langſam bis zu Ende. Jedes Wort
hatte Leben und brannte wie Feuer.
Unſer Wiſſen iſt Stückwerk! Drei Frauen hatten ihre Namen in dieſe
Bibel eingetragen, einer vierten ward fie jum Geſchenk am Rande des Grabes. Was
hatte die Bibel ibnen gebracht? Gatte fie fie auch betrogen? Betrogen? Nun ja,
die Frau, die ihm dic Bibel hier auf den Tiſch gelegt bat, qlaubte fich betrogen, weil
die Bibel dem Manne das Erſtgeburtsrecht mit ſeiner ganzen Fülle reicheren Segens
zuſpricht. Stand ſie neben dieſen vier Frauen, ſtand ſie ihnen gegenüber?
Die Stille ſeines Zimmers ſchien ſich zu beleben. Es war, als atme die Zeit
und trüge Stimmen auf jedem Hauch, als ſich der Raum mit leiſe Schreitenden.
Die Gedanken jener Frauen jchritten durch das Sinner, ſchmerzgeborne Gedanten,
Gedanken, die fein Frember ibnen gegeben hatte, die fein Erbe waren, von ifren
Ahnen ſorglich für ſie geſanimelt und gehütet und poll Stol; ihnen jum Stolze
gereicht, Gedanfen, die Das eigne Yeben, das eigne Leid, der Hunger der darbenden
348 1, Moſes 3.
Seele erjeugt und erjogen batten. Kein Wunder, dah die Luft fo ſchwül und fo
ſchwer war.
Cheling öffnete das Fenſter. Aber nun trieh der Abendiwind feuchte Nebel ing
Zimmer, Trinengewander fiir die frierenden Gedanfen der Frauen.
„Wenn ich's einmal verfuchte,” der Doktor ſchloß haſtig das Fenfter und flüchtete
in feinen Schaufeljtubl, „das ,tat-twam asi‘ — ,died biſt du‘ — auch bier verfuchte?
Hat e3 je cin Mann getan? Hat's je ein Mann gefonnt? Chrijtus, als er yu den
Männern, die ibm die Chebrecherin daritellten ins Mittel des Tempels, alfo fprach:
Wer unter eud) ohne Siinde ijt, der werfe den erften Stein auf fie? Sprac er von
gleicher Siinde bei Mann und Weib? Sie gingen alle hinaus, die vielen Manner,
Die Das cine Weib verflagten, einer nad dem andern, von den Wltejten bis yu den
Geringiten. Für fic) batten fie fein Urteil verlangt, frei durften fie den Tempel
betreten und fret batten fie dem Herrn ins Auge gefdaut, er aber maf dag Weib an
ibnen und fie am Weibe, da zerbrac ihre Gerechtigkeit und fie verliefen den Tempel,
in Dem ein Chrijtus ftand.
Sa, das war Das ,,tat-twam asi“, Jeſus fannte es.
Uber ob es immer wirfte, zu jeder Zeit und jeder Stunde, ob es nur in
jeltnen Augenblicken über ibn fam, ein Mitleid aus Mitleid, daß es hier cin volles
,tat-twam asi nicht gab? e
Ja, wenn er dort, wo er das Leben aller in fein Leben hineinjog, wo er das
Leben jedes Geringften fein Leben nannte, nur einmal von Schweſtern geredet bitte,
wenn er gefagt hatte: „Was iby getan habt einer unter diefen meinen geringften
Schweſtern, das babt ibr mir getan. —“
Aber hatte er Das Denn nicht gefagt?
Heiß jagte dem Nachdenklichen das Blut durch die Adern, cine ganze Holle von
Vorjtellungen ſtieg in ibm auf.
Die Geringiten der Schwejtern, die Armſten der Frauen, jene Armjten —
Es brannte in feiner Seele und in feinen Sinnen, was man an ibnen getan
hatte und nod) tat.
„Was ihr der geringjten meiner Schweſtern getan habt, das babt ibr mir
getan!”
„Furchtbar!“
Ebeling ſprang auf.
Jeſus geſchändet! Zu allen Zeiten, in allen Staaten, in den Städten der ehr—
baren Biirger, von der Jugend und dem Alter, von feinen Freunden, von ibm —
von ibm!
Eheling ertrug den Gedanfen nicht, der fics ifm aufdrängte in Vorjtellungen
und Bildern, alg Saat und Ernte, in taufend Sehlugfolgerungen, in Rujammenbhangen,
Die in febauerlicher Klarheit leuchteten. Er war wie im Fieber, und in den Obren
tinte eS wie jum Weltgericht: „Von den Alteſten bis zu den Geringften, fie alle
mupten den Tempel verlajjen, da Chriftus innen ftand!”
Ebeling warf einen ſcheuen Blick auf die Bibel. Sie lag aufgefeblagen da, aber
er hatte nicht Den Mut, fie zu beriibren. Er griff nach feinem Hute, er mupte an die Luft.
* *
*
Es dunkelte lange ſchon. Nebel und ſchwere, ſchwarze Rauchmaſſen, die nicht
entweichen konnten, bildeten eine undurchdringliche Dede, die unmittelbar über den
Dächern ausgeſpannt zu ſein ſchien. Ebeling kannte das. Wenn er den Rebberg
hinaufſtieg, bis zum Waldrand wanderte oder gar fünf Minuten weiter zwiſchen Buchen
und Tannen hindurch die hohe, freie Waldwieſe aufſuchte, dann war die Möglichkeit
vorhanden, den Sonnenweg am Horizont zu ahnen in lichter Dämmerhelle; dann war
die Möglichkeit vorhanden, den aus ſchlimmer Umarmung befreiten Nebel entweichen
zu ſehen und über ſich Klarheit zu ſchauen als feſten Grund für erſtes, ſanftes
Schimmern der harrenden Sterne und fiir wandernde Wolfen.
1. Mofes 3. 849
Ebeling war auf der Straße. Es war die troftlofeite, unerquidlichite Beit. Die
Fabrifen ſpieen Menfeben aus yu Hunderten, ju Taufenden, und immer noch tinten
Pfeiſen, Läuten, Cirenenfiqnale von allen Himmelsrictungen beriiber. Bon allen
Punkten der Peripherie, aus dem Sentrum der Stadt, aus Haupt: und Rebenftrafen
fam die Menge bherbeigeitampft in großen und kleinen Menfdrentrupps, zu Dreien,
zu Sweien, ein Cinfamer. Der Boden evdrdbnte, als rüſte fic) cin Heer zur Feld-
ſchlacht.
Ebeling mußte hindurch. In der ſchmalen Hauptſtraße kam es zu Stauungen.
Dort befanden ſich vier große Warenhäuſer, die durch Säulenanſchläge und bogen—
füllende Inſerate in jeder Woche drei bis vier billige Tage proflamierten, Tage, an denen
nicht yu faufen ſich drmer machen hieß, denn jeden Cinfauf lohnte ein feinen Wert
um das Doppelte überſteigendes Geſchenk. Diefer Lodung unterlagen die um ein gutes
Stück Menjdentum Betrogenen, die Ceben, Urteilen und Sufunftsdenfen bei thren
Maſchinen verlernten. Sie ſtrömten den Warenhäuſern yu jum Gaffen, Befprechen
und RKaufen.
Ebeling befand fich pliglich unter einer Schar von Frauen, jungen und altern:
Den, müden, deren Tag inmitten der Jugend fich neigte, und ausgelafjen luſtigen, deren
Lebensgeifter wild fidy tummelten, um jede Erinnerung an die abgeitreiften Feſſeln der
Arbeit ju vernichten. Wie yur Mufterung ftanden fie um Ebeling berum, einer
Muſterung, yu dev ein „Rührt Euch“ ausgegeben worden war, damit es feine Pofe,
fein Verbergen, feine Unwahrheit gabe.
Mühſelig, beladen und unerquidt! das [as Cheling aus ibren Zügen. Für die
Männer dort fprudelten nod Quellen; neben ihren Pflichten ftanden Rechte, darum
warb man um fie und bot ibnen bie und da geiftige Nabrung. Die Freibeit des
Verfommendiirfens und die Unfreiheit den eignen innern Gefegen gemäß fic) zu ent:
wideln, bas war der Frauen Teil. Miibfelig, beladen und unerquidt!
Als es Ebeling eben gelungen war, fic) aus dem Kreiſe binausjuwinden, fab er,
was er oft gefeben, nie aber in dtejer wunderlichen Stimmung, die Dem ſturmgepeitſchten
Meere glich, das die Tiefe auſwühlt und feine Gebeimnijje dem Tage preisgibt.
Das jüngſte der Madchen, cin halbes Rind noch, mit bleichem Geficht, dunflen
Augen und jerjaujtem blonden Haar, dejjen lichte Einzelfäden fic) wie zu einem
Glorienfebein aufwärts rantten, war ihm nachgeſchlüpft von den Genoffinnen weg.
Jetzt verfchwand fie an der Seite cined Herr, den Ebeling wohl fannte, in dem
Gewühl.
Geſtern noch hätte Ebeling das kleine Erlebnis ſchnell abgetan, mit jenem viel—
ſagenden Lächeln, das ibn mit der Mehrzahl ſeiner Geſchlechtsgenoſſen zu einer
Geſinnungsgemeinſchaft verband, und mit der Überzeugung: Sie ijt wenigſtens Weib,
Arbeit allein läßt das Weib im Weibe verkümmern. Heute lebte er in einer andern
Vorftellungswelt, er fab mit unheimlicher Deutlichkeit, wie das Leben, wie die Welt,
wie der Mann fold Weibſein lohnte.
„Was ibr getan habt einer unter diefen meinen geringſten Schweſtern, das babt
iby mir getan,“ wieder ging es ibm mit ebernem Rlang durch Ropf und Herz, es gab
fein Entfliehen.
Er war nun zwiſchen den Mauern de3 Rebbergs und ftieq binan bis zum Rande
deS Waldes. Der Nebel hatte feine Schwere verloren, er lebte, glitt, ſchwebte, ſchloß
ſich zuſammen und tat fic auseinander, huſchte zwiſchen den Baumen hindurd und
jeblang fic) um Stamme und Kronen, alles nach feſten Gefegen, dte dod) fo völlig der
Willfiir glichen. Er war von mattfilbernem Licht durchflutet, die Lichtquelle war nicht
zu entdecen. Tiefer im Walde lajtete totes Duntel zwiſchen den nabe beieinander
jtebenden Stämmen.
Ebeling blich am Rande, die nachtſchwarze Stille febredte ibn. Cr tat einen
tiefen Atemzug. Die Luft war rein und friſch, fle erquidte thn.
„Mühſelig, beladen und unerquidt! fo laffen wir das Leben unferer Schivejtern,
und bei den Geringfiten werfen wir noch einen Stein in die bittere Flut, das iſt die
Schande.“
850 1, Mofes 3.
Er war wieder auf dem alten Pfade, aber jest wollte er dort fein, er mufte
alles zu Ende denfen, heute nod) in diejer Stunde. Es fam ibm cine grofe Rraft,
jeden Vergleich, jede Halbheit lehnte er ab, wie jene Frau nabm er Hade und Spaten
und digende Lauge zur Hand, fich frete Bahn zu ſchaffen, ebe er baute. Die ehrlichen
Augen der Frau überwachten feine Gedanken, fie ließen ibn nicht los. Und er fragte
fih, wo nimmt fie, die Die Mühſeligkeit und Beladenheit des Weibes mit fo feiten
Stricken gezeichnet hat, die Erquidung ber, deren fie bedarf, um ſich felbjt gu be:
aupten ?
, Qn ibren Mugen [as er die Antwort. Die Gewifbeit der Unmittelbarfeit ibres
SeinS war ibres Lebens Leben, fie fühlte fic) Gottes Bild und Chre, fie wußte,
„hier ijt fein Knecht nod) Freier, hier ijt fein Mann nod Weib, denn ihr jeid
alljumal Einer.“
„In Chriſto Jeſu“, fiigte Ebeling diefen Gedanten hingu.
„Allzumal Einer —“
Hier lag das große Vergeſſen, das furchtbare Vergeſſen. Man hatte es Langit
ſchon beilig geſprochen, wenngleich es Elend, Jammer und Leiden in die Menſchheit
bineintrug.
Der Nebel wich nicht. Immer nod trieb er fein ftilles Spiel, er verhiillte
und gab frei, immer nod) hatte er das mattfilberne Leuchten, dad ibn fichthar machte,
immer noc trennte die madtige Baumreibe am Waldrande diejes dämmerige Wallen
und Weben von dem ftarren Dunkel waldeinwirts.
„Dunkel und balbes Seben, das war's bisher,” dachte Cheling. „Die Augen
werden lichtſcheu, die Dammerung ſchläfert ein, man qreift nach weichen Kiſſen und
plötzlich ſagt Defus: Was ibr getan habt einer unter Ddiefen meinen geringiten
Schweftern, das habt ibr mir getan. Hier ijt Fein Mann nocd Weib, ibr jeid
alljumal Einer!“
Ebeling hatte die Wabrbeit gefunden, das, was ibm Wabrbeit war. Jbr
Angeficht erſchien ihm furchtbar, weil er an ihr gefrevelt hatte, an jedem Teil ibres
Seins.
Noch als er auf und niederging in dem Nebelflimmer, das tote Dunkel zur Seite,
und mit der eignen Vergangenheit rang, kam auch, zaghaft zuerſt, dann plötzlich und
unbedingt wie ein freies Liebesgeſchenk, die ſtille Zuverſicht einer Erlöſung.
Er ſchritt heimwärts. Das Laub raſchelte unter ſeinen Füßen, die Nebel um—
webten ihn, ein leiſes Zittern ging durch die Kronen der Bäume.
Ging nicht jemand neben ihm? Es rauſchte wie von Frauengewändern, dann war
es ſo ſtill, als hielte alles den Atem an, die Natur und was in ihr lebte, — die
Wandernden alle.
Ebeling blieb ſtehen, ſelbſt atemlbs von einem heißen Erſchauern. Er wußte,
welche Frauen ſeinen Gedanken das Geleite gaben und mit ihm redeten in dieſem
Schweigen. Das Schweigen floß über in leiſes Flüſtern zwiſchen den Zweigen, das
gehörte zu dem Schweigen, weil es aus ihm geboren war.
Lange ſtand Ebeling da geſenkten Hauptes und lauſchte; er vermochte kaum zu
unterſcheiden, ob er Stimmen von außen oder in ſeinem Innern vernähme. Als er
den erſten Schritt vorwärts tat, klang das Raſcheln des Laubes grell und hart wie ein
Fremdes. Er zuckte zurück, als habe er ein Reptil berührt. Dann hob er das Haupt.
„Und Du ſollſt der Schlange den Kopf zertreten, der alten Schlange, der Lüge der
Lügen!“
Feſten Fußes ging er zurück durch den ſilbernen Nebel, durch die trübe Rauchluft
der Stadt in ſein Heim. In ſeinem Zimmer lag noch die aufgeſchlagene Bibel auf dem
großen Tiſch, genau in dem Mittelpunkt unter der großen Hängelampe.
——
351
— Vadder Bito. —
Shig3e
Naddbrud verboten.
Sn den zwanziger Jahren war's, als er
feine Shute Tag fir Tag, Gonntag und
Afltag — den Charfreitag ausgenommen, an
dem er mit fener fleinen, dicken Ehehälfte
gum WAbendmabhle ging — zwiſchen Stralfund
und Ulte- Fabre hin und ber fiihrte. Pafjagiere
hatte er immer; denn fein ftattlider Dampfer
lag an der Fährbrücke und ließ fiber bequem
zurechtgelegte Planfen ftolje Karoſſen donnern,
lachende Touriſten wandeln. Rügen war ſo
ſchön, wie es heute iſt — vielleicht noch
ſchöner, je nach Geſchmack —; aber es ward
fein Auſhebens davon gemacht. Kein Menſch
ſtaunte vom Königsſtuhl, auf Stubbenkammer,
hinunter auf ein winziges Etwas, das ſich
wie ein Kinderſpielzeug auf den blauen Fluten
ded Jasmunder-Boddens ausnahm, in Wahrheit
aber ein gang anſehnliches Fahrzeug mit zwei
Maften fein fonnte. Reine Seele, aufer dem
Niger, durchwanderte die lieblide Granig und
ftérte die Hirſch- und Rebjamilien in ihrer
Behaglichkeit. Niemand ftieg ins falte Waffer,
wenn er nidt Fifder oder Waſchweib war,
und nirgends rod) es nad) Beefſteak und Bier.
Was aber hiniiber wollte auf die Inſel: Herr
oder Knecht, Traber oder Udergaul, wappen:
geſchmückte Kutſche oder voriweltlides Pfarr—
Vebhifel, hatte ju warten an der Fährbrücke
big Badder Biito und Kollegen die breiten
Schuten flott madten. Das gefdab langſam
und ſchweigſam, unter beſtändiger Umſchau die
Fährſtraße hinauf — unmöglich war dod
nidt, daß nod ein Fuhrwerk oder cin Fabrgaft
in Cidt fame, und das Mitnehmen war
„all ein awmalen.“
Oft hatten die Fährleute ſchwere Zeiten.
Mußten die plumpen Schuten auf der Alten—
Fähre (Rügenſche Seite) gleich wieder wenden,
den beſchwerlichen Weg über den Gellen
von
Ina Rex.
(ſchmales Fahrwaſſer zwiſchen Stralfund und
Rügen) zurück machen, landen, einladen, den
Stadttürmen den Rücken kehren und ſofort
faſt Tag und Nacht. Das war um die Zeit
der Rügenſchen Märkte.
Nicht alle fielen in den Sommer. Hübſch
auf die Jahreszeiten verteilt, verſorgten ſie
den Kleinſtädter, den Gutsbeſitzer, Pächter,
Bauern und Büdner mit allem, was ſeines
Leibes Nahrung und Notdurft nicht unmittelbar
von der Scholle empfing. In rieſigen Kiſten,
in Säcken und Tonnen lag es verpadt und
ftapelte fid) fdion tagelang vorber an dem
Bollwerk vor dem Fabrtore auf. Die breiten
Rollwagen befdrderten immer neue Laften
bie Fährſtraße herunter, und an der Briide
warteten die Raufleute, die Kürſchner-,
Schuſter-⸗, Klempnermeifter, die Süßküchen—
fabrifanten und Bonbonsfieder mit Gattinnen
und anderen Hilfstruppen jum CEmpfang
und zur Berladung der Waren. Celbjt
bie ,,alte Garde” — wetterfeſte Manner
in Holzſchuhen und Pudelmiigen, vom Volls—
wis mit ihrem Namen und bem Wahlſpruch
„Arbeit macht das Leben ſüß, Faulbheit ſtärkt
die Glieder“ verſehen, mit kurzen Tonpfeifen
zwiſchen den braunen Zähnen und viel, viel
Geduld unter dem ſchmierigen Kittel —, die
ſich ſonſt an der Ballaſtkiſte yu ſonnen pflegte,
war an jenen ereignisreichen Tagen von
unheimlicher Lebendigkeit. UÜberall im Wege
ſtehend, alles befühlend, beſchnüffelnd, beredend,
war ihr plötzlicher Tätigkeitstrieb den wirklich
Emſigen meiſtens mehr Hindernis als Förderung.
Doch ließ ſich von Gutmütigen auch die
ungeſchickteſte Fauſt noch verwerten und ward
für die karge Leiſtung mit einem Silbergroſchen
oder einem „Schluck“ aus der breiten Brannt—
weinflaſche königlich belohnt.
B52
Da war ber Gingfter Markt, der Sagarder-, |
der Lankner-, der Altenkirdner-, der Puttbufer
und der Gergers — der grofartigfte und
befuchtefte — und ju allen lieferte bie alte
Hanfeftadt das „Großſtädtiſche“. Berlin lag
weit ab, viel, viel, viel weiter wie heute,
wenig Menſchen wußten davon. Und hatte
gar jemand einen BVerivandten oder Befannten
bort, fo gedadte man feiner wobl mit Rilbrung
alg eines Verſchollenen, oft auc als eined
Bedrangten, Verwebten. Man [as dod in
der ſpärlich erſcheinenden Seitung von Dieb-
ftabl und Mord — fegte fid) an den warmen
Rachelofen und graulte fid.
* 9
*
Herbſt war's, und auf den 8. Oftober vom
hoben, woblldbliden Magijtrat der Pferde-,
Sdiweine-, Ganfes und Krammarft fiir dte
Kreisſtadt Bergen feſtgeſetzt.
Die Nordoſtſtürme batten fic) früh auf—
gemacht, pfiffen um die Ballaftfifte herum
und wälzten die breiten Schuten an der Fähr—
brücke hin und her. Vadder Büto ſah es mit
Beſorgnis, fein altes, vielgeflicktes Fahrzeug
war bid aufs äußerſte belaſtet. Herr v. B. . . .en
ſtand auf der Brücke, ſah ſeine alte Kaleſche
über das Trittbrett poltern und ſtieg bedächtig
hinter her. Er war ein ſchwerer Mann.
Mißtrauiſch ließ er die morſchen Planken
unter ſeinen breiten Füßen ſchüttern, bob
warnend den Zeigefinger und ſprach zum
Alten, der mit dem Tauende in der Fauſt
nod auf dem Bollwerk ſtand: „Büto! Büto!
gahn wi hier tun Deubel mit Fuhrwark un
Lüd, kümmſt Du in't Lock!“
„Nee, Herr“, ſagte der Alte, „dat hätt
nir upp fif, denn fo verſup id mit. Dat geiht
hüt a3 ümmer.“ Gr ſchob ben Priem beffer
awifden die Rufen, fpie nacbdriidlid aus und
machte gelafjen [08 Herr v. Bo. . cen
tajtete fic) die dunkle Treppe hinunter in die
Heine, dumpfe Rajiite.
Oben gab’s lebhafte Unterbaltung. Die
Frauen wußten noch mebr als die Manner,
und Mudder Fiedelmeier das allermeiite. Auf
ihrer boben Kijte mit Süß- wud den weit und
breit beriihmten Annistuden fiend, die Hande
unter dem grofen, wollenen Umſchlagtuche
geborgen, fiillte fie mit ibrer wohlgenährten
Perfinlidfeit ein gut Strid Schiff aus.
Vadder Biito.
„Weit Si all? — Tribbelwits ward verköft.
Hei hatt ſik richtig dodſapen.“
„Wehn? de off Burmeiſter? — —“
„Je, dei. De Lüd ſegen, dat geiht noch
äwer Harwſt los. Fru un Kinner batt bei
jo nich, un wat de Arben ſünd, dy täuben
nid) lang.“
„De friegen bannig Geld in be Wull.”
„Dat will id meinen; man ierft mit’:
verfift fin. Jedverein fann’t nid anfaten,
dor hürt wat to!”
Büto murmelt etwas in den grauen Bart,
wirft cinen fpabenden Blid fiber dad Fahrzeug
weg auf die im Vorderraum untergebvadten,
aufgeregt trampelnden Pferde, faut feinen
Priem und fpeit. Niemand im Kabn bat bem
Alten angemerft, wie febr ibn die Neuigfeit
interefftert bat. Niemand fiimmert fid darum,
alg er jegt -bie Treppe binunterftelpert und
mit Herrn v. B... .en ein Gefprad an—
jingt. Und Wind und Wogen verfdlingen
bas nidt unbedeutende Geräuſch, dad der
adlige Gutsbefiter dort unten in dem engen
Raum vollfiihrt, indem er dröhnend mit der
breiten Fauft den fplitterigen Tiſch bearbeitet
und ſchallend dazu lacht, wie über cinen guten
Wig.
* ”
a
Vier Woden ſpäter ift alles genau fo;
nur fabrt man jum Gingfter = Markt und
Mudder Fiedelmeier fist zwiſchen zwei Kiſten.
Auf bem Lande geht das Geſchäft flotter als
in ber Kreisftadt, two jeder Bader ibr in ben
Kram pfufdt. Und neben dem alten Büto
| liegt jujammengefaltet ein blauer Geemanné:
jacer au} der ſchmalen Steuerbant.
Mit allen Fahrgäſten zieht Büto diesmal
landeinwärts. eden Fragenden tweift er hurz
ab. Sein Fahrzeug bewacht fiir ’nen blanken
ſchwirren.
„Funken“ ein Gardemann von der Ballaſtkiſte.
Nach einigen Stunden ſtrammen Marſches
erreicht er den ſtattlichen Tribbelwitzer Hof,
windet ſich durch die Karoſſen, Halbchaiſen
und Jagdwagen hindurch, betritt dad Herren:
haus und, dem Schall vieler Stimmen nach—
gehend, den Speiſeſaal.
Man iſt ſchon mitten in der Arbeit. Büto
hat den Südweſter abgenommen und läßt ſich
die gewaltigen Summen um den Graufopf
Hier und dba trifft ihn der bes
Vadder Bilto.
frembete Blid irgend eines Qunfers; es ftirt
ibn nicht. Er drängt fic naber an den Tijd,
bon bem aus Herren ibre Brillenglajer über
die aufgeregt debatticrende und geftifulierende
Menge hinbligen laſſen, wartet auf eine Pauſe
und gibt fein Gebot ab. WMindeftens zehn
Köpfe fabren fofort berum, und doppelt jo
viele Mugen bobren ſich in die kleinen, ver:
funfenen, rotberanderten des Wien. Der ftebt
wie cin Pfahl, flein, did, fteif, in ſeinem
blauen Jächert — den Abendmablérod, in
dem er ſchon getraut worden war, zieht er
zu „ſowas“ nod) Lange nidt an — und in
feiner alten Manchefter-Hofe mit dem fauber
eingefesten, duntlen Fliden auf bem Rnie,
und wartet.
Der rotblonde Kopf des Advofaten Schroder
redt fid) auf dem furjen Halfe bin und ber,
den neuen Bieter gu entdecken. Büto wieder:
bolt langſam und gemadlid in rictigem
Pommerſchen Platt fein Angebot.
Ringsherum wird es I[ebendig. Herr
v. B. . . en ſchlägt auf den Tif und
ſchreit lachend: „Wahrhaftig! —“ Herr v. S...
durchbricht mit ſeiner ſtarlen Stimme den
Lärm. Sich wohlwollend dem Alten zu—
wendend ſagte er mit etwas Mitleid und viel
Spott im Ton: „Sei weiten woll nid, mien
leiw Mann, datt hier gliel bor Geld upp'n
Diſch legg warden möt, wenigſtens 'n ganz'
Deil?! —“
Büto knöpft gelaſſen ſeinen Jäckert auf,
fingert an der Innenſeite, bringt eine fettige,
uralte Brieftaſche zum Vorſchein, nest gehörig
Daumen und Zeigefinger und legt Blatt um
Blatt — lauter Tauſendtalerſcheine — auf
den Tiſch: „Langt dat vör't irſt? ..... *
+
Am Nachmittag figt er wieder auf ſeiner
Schute am Steuer, der blaue Dadert liegt
neben ibm und qu feinen Füßen der Garbde-
mann von der Ballajttijte. Die breite
853
| Durft, wie einem rictigen Seemann zukommt,
Branntiweinflafhe iſt fleibig zwiſchen Fähr-
mann und Fahrgaſt hin und hergegangen.
Dem Einen war ſie die vertrauteſte Freundin
in falten und warmen Tagen, aud der ein—
gebendfte Umgang mit ibr erregte ibn twenig, |
bem anderen war intimere Befannticdaft mit
ibr nur felten vergönnt, deshalb die jartere
Konjtitution! — Vadder Biito hatte foviel
ee
bielt aber vom Wafjertrinfen rein garnichts.
„Dor führ id upp,” pflegte er gu fagen.
Aud heute fonnte er trog fteifer Ladung
zu Hauſe feiner Alten nod reellen Bericht
erftatten. Gejproden hatte er fiber feine
Abſicht, das Gut käuflich yu erwerben, nicht
mit ihr. Vom überflüſſigen Reden hielt er auch
nicht viel. Aber jetzt war es ſo weit. Andere
Leute brauchten es ihr nicht in die armen,
tauben Ohren zu ſchreien. Er legte die
haarige Fauſt auf die glatte Lehne des Bretter⸗
ſtuhls, auf dem ſie jeden Tag ſaß und flickte,
beugte den grauen, zottligen Kopf zu ihr her—
unter und verſuchte ſeiner allzeit rauhen und
heiſeren Stimme einen freundlichen Klang zu
geben: „Mudder! ick hew Tribbelwitz för
Willem köft. Hei brukt ſick nu nich mihr
ünner frömd Lud herümſtöten laten. Dat
is'n ſchön Stück Land, dor kann hei ſien Brod
von eten.“
Und Mudder hordt auf. Cie vergißt
ganz, dab fie am RonfirmationStage ded
Ginjigen dem Jungen, der durchaus zur See
wollte, dad Wort geredet bat: „Von Litt
upp batt bei upp’n Rater lagen — de hilt
fein vier Woden ut upp’n Land,” und fagt:
„Dat's recht, Biito! nu fann bei friegen.
De Shut is dägern ſwach, dat wär nix mibr
por em weft... 2... Wift Du nod wedder
fog malen? — —“ Dann flidt fie weiter.
Der Alte aber ftappft die Fährſtraße
wieder binunter und ſetzt fein twadliges Fabr-
zeug in Betrieb, bin und ber — bin und ber
zwiſchen Stralfund und Wtefabre nod mandes
abr.
Gutsbeſitzer Willem läßt feine ſchwer—
beladenen Kornwagen ruhig auf die morſchen
Planken poltern — man muß doch das Ge—
treide zur Stadt bringen, und dem Alten das
Fährgeld entziehen — nee. Es iſt ja immer
gut gegangen. Aber eine feine Kutſche vom
Hof Tribbelwitz halt nie an der Altenfähre.
Willem dent wie fein Bater und legt einen
Hunbderttalerfdein auf den andern — dimmer
bi Lütten. — Catt wird er ja taglidh, und
andere Gediirjnijje fennt er nicht; wohl aber
bas unumſtößliche Geſetz, nad) dem ſich mebren
mug das, yu dem nur hinzugetan wird und
nie Davon genommen.
23
B54
(Marie von Dajmajers Besttage.
Bon
Marianne ee
Rachdruck verdoten. —
Wien, den 11. Februar 1904.
ie der Strom fließt das Menſchenleben dahin, Welle um Welle ohne Aufenthalt,
ohne Ruhepunkt. Der Menſch aber, der im Ewigen das Zeitliche iſt,
trägt das Zeitmaß in die Flucht der Tage hinein, ſchafft Merkſteine, Gedenl
und Feſttage.
An ſolchen überblicken wir das Vergangene, und iſt's ein gut Stück Menſchen—
leben, das wir überblicken, ſo ſuchen wir es zu einem Lebensbilde zu faſſen. Die
Feſttage der Dichterin Marie von Najmajer, welche am 3. Februar ihr ſechzigſtes
Lebensjahr beſchloß, waren ſolche Gedenktage.
Das Bild von Marie von Najmajers äußerem Leben iſt von ſeltener Gleichförmigkeit.
Einer Gleichförmigkeit, die durch das zurückgezogene Hauſen mit der verwitweten Mutter,
dem Mangel an Geſchwiſtern und eine ſtets geſicherte Eriſtenʒ geſchaffen wurde.
Der Tod des Vaters fällt in die Kinderzeit. Er ſtarb in Wien als penſionierter
Hofrat der ungariſchen Hofkanzlei. Als ihm ſein einziges Kind geboren wurde, lebte
er auf der Feſtung Ofen. Die Mutter, Klara, war die jüngſte Tochter des General:
pächters der faijerlichen Santeralpadstungen, Michael von Sengelmiiller. Im Jahr 1847
fiedelte die Familie nady Wien über, und wenige Jahre ſpäter war Marie allein mit
der trauernden Mutter. Diefe lebte in volliger Zuriidgesogenbeit, fuchte aber ibrer
Tochter Erjag fiir mance Dugendfreude dadurd yu bieten, dap fie ihre’ künſtleriſchen
Neigungen unterjtiigte. Das führte die jugendlice Marie yu den Schweſtern Fröhlich,
in das Haus der Spiegelgafje, in deffen viertem Stodiwerf ein reiches geiitiges
Leben herrſchte.
Die jiingite der Schweftern, Jofefine, war däniſche Kammerſängerin und erteilte
einer Anzahl Mädchen Muſikunterricht. Freudig nabm die neue Schülerin daran teil,
aber in dem Madcenfopfe tinten noc andere Weifen; Gefühle und Gedanken geitalteten
ſich darin zu Verjen; deren Zahl wuchs, bis fie in einem anjehnlichen Hefte gefammelt
vor ibr lagen.
‘War das, was ibre Seele erleichterte, oder fie freudiger aufatmen machte, denn
wirklich Poefie? Das bewegte das Herz de3 jungen Mädchens, bis fie eines Tages
Dem treuen alten Freunde der Schiwejtern Frohlich gegeniiberitand. Grillparzer hatte
die Gedichte gelejen, die 1868 unter dem Titel ,Sebneegliddeu” im Buchbandel
erfebienen. Was er ju der Siingerin fprad, das waren — Worte, einem
Segen gleich, mit dem ſie die —— Bahn betrat.
Reicher Leute einziges Kind, ein Mädchen, wer hätte damals wohl gedacht, daß
die an der Schwelle Stehende ihr Leben einzig durch die Kunſt erfüllt ſehen würde!
Aber es kam ſo, ſie konnte ſich zu keiner Heirat entſchließen, und auf dem Höhepunkte
ihres Daſeins ſchrieb ſie: „Auf daß Du nie allein ſeiſt, bleib allein.“ Dieſer Entſchluß
geſtattete ihr, ſich ganz ihrer Neigung hinzugeben, und wie ſehr das ihrer Individualität
gemäß war und ijt, beweiſt der innere Friede, der fie niemals verlajjen bat.
Schwärmeriſch, ja uͤberſchwenglich in der Freundſchaft, fand Marie von Najmajer
im Verkehr mit hochſtehenden Frauen Befriedigung für ihr volles, reiches Herz. Aber
nicht allein Freundſchaft verbindet ſie mit Frauen, ſondern alumfaſſende Schweſterliebe
laßt fie an den Wunſchen, Hoffmungen und Leiden ihrer Geſchlechtsgenoſſinnen regſten
Anteil nehmen und fiir eine würdige Stellung der Frauen in der Familie und im
Staate eintreten. Befcheiden und einfach in ibrer Häuslichkeit, ift fie überaus freigebig,
yr *
Marie von Najmajers Fefttage. 355
wenn es gilt, die Anterefien der Frauen ju fordern. Cin Penfionsfond3 danft ibrer
Freigebigkeit feine Aftivierung, und fiir den Bau eines Mädchengymnaſiums erliegt
eine von ibr gejpendete anſehnliche Summe. Und wie ſie niemals mit materieller
Hilfe kargte, wenn es galt, für die Frau einzutreten, ſo ſtellte ſie ihre Feder ſtets in
den Dienſt dieſer Sache.
Ergreifend und wirkſam iſt das Epos „Gurret-ül-Eyn“ — ein Bild aus Perſiens
Neuzeit, das 1874 erſchien. Die Lebensgeſchichte und der Flammentod einer Perſerin,
die des Reformators Bab Lehre annahm und die Frauen für ſie zu gewinnen ſuchte,
diente dem Epos als Vorwurf.
Es fehlt auch in der Gedichtſammlung „Der Göttin Eigentum“ wie in den
Dichtungen „Gräfin Ebba“ und „Johannisfeuer“ nicht der Ausdruck ſelbſt- und
pflichtbewußten Frauentums. Fließende Verſe kleiden die Außerungen in eine gefällige
Form. Auf ein neues Gebiet führt uns die Dichterin zum erſtenmale mit dem Roman:
„Der Stern von Navarra” und ſpäter mit dem fünfaktigen Trauerſpiel „Kaiſer
Julian“. In dem zweibändigen Roman ſteht Johanna von Navarra allerdings im Mittel—
punkte der Erzählung, aber die gewaltige Zeitgeſchichte, die die Schrecken der
Bartholomäusnacht vorbereiteten, feſſelt überwiegend. Die Schilderung derſelben iſt
den beglaubigteſten Quellen entnommen und veranſchaulicht eine der bewegteſten und
blutigſten Epochen aus der Geſchichte Frankreichs.
Im Trauerſpiel „Kaiſer Julian“ iſt der Kaiſer der ringende und unterliegende
Held. Wir ſtehen nicht an, die Wahl des Helden und des geſamten Stoffes als
weiteren Fortſchritt zu begrüßen; geradezu überraſchend wirkt aber die ganz eigenartige,
ſelbſtändige Auffaſſung ſeiner Perſonlichteit. Die in glaäubigen und konſervativen
Traditionen wurzelnde Dichterin erweckt warmes Intereſſe für den von den Kirchen—
ſchriftſtellern als Renegaten Gebrandmarkten. Sie zeigt uns Julian nicht als
Abtrünnigen, ſondern als den vom griechiſchen Geiſte erfüllten Schüler Platos, deſſen
treues Feſthalten an den alten Göttern, die die Gemüter der neuen Zeit nicht mehr
beherrſchen, ſeinen Untergang herbeiführt.
Wir ſtünden hier ft vor einem Ratfel, wenn Marie von Najmajers Wabrbaftig-
feitajtreben und ibre unbeſtechliche Redlichfeit uns nicht die Erklärung gaben. Wie
die gründliche Erforſchung der widerſprechenden Geſchichtsſchreiber glaubhaft Julians
Perſönlichkeit ergibt, macht fie ibn jum Helden, unbekümmert darum, daß ſeine
Perſönlichkeit ſich blendend von den Galiläern abhebt. So ſchreibt fie, die allen
Tagesſtrömungen fernſteht, der konfeſſionelle und, politiſche Parteinahme völlig fremd
iſt, ein Drama, das von der Zenſur verboten wird. Verboten, nicht weil es das
Chriſtentum ſchmäht, denn dieſes ſieht der Leſer in ſeiner Einfachheit und Naivetit,
ſeiner Hingebung und Demut Beſitz ergreifen von einer überſättigten, zerbröckelnden
Kulturwelt, ſondern weil der Kampf zwiſchen dem erſterbenden Heidentume und der
ſich verbreitenden Chriſtenwelt nicht in traditioneller Voreingenommenheit dargelegt wird.
Die Streichungen, welche die Theaterzenſur vornahm, nahmen dem Drama ſeine
Daſeinsberechtigung, ſo daß die Dichterin es vorzog, auf die Bühnendarſtellung zu
verzichten. Was ein ſolcher Verzicht zu bedeuten hat, kann wohl nur ermeſſen werden,
wenn man ſich vergegenwärtigt, daß der Autor nur niederſchreibt, was gleichſam vor
ſeinen geiſtigen Augen vorgeht, das Tun und Laſſen leibhaftiger Menſchen. Das,
was nicht zum Buchdrama beſtimmt war, iſt es notgedrungen durch die Zenſur
geworden. Die Feier des ſechzigſten Geburtstages der Dichterin wurde am 3. Februar
dadurch eröffnet, daß das Trauerſpiel „Kaiſer Julian“ im Vortragsſaale vor das
Publikum gebracht wurde. Die Wirkung war eine äußerſt günſtige, und die Freude
darüber mag alle andern, die die Feſttage brachten, überboten haben.
Durch Deputationen, Blumenſpenden und Briefe wurde die Jubilarin reich
qeebtt. Die Frauen Wiens wwetteiferten, Marie von Najmajer ibre Wertſchätzung ju
bezeugen. Mit dem bheutigen Abend ſchließt Der Reigen. Der Verein fiir erweiterte
Frauenbildung veranjtaltet zu Ehren der Dichterin, feiner Chrenprajidentin, eine Feft-
feier, die iiberaus wiirdig und herzlich yu werden verſpricht.
+E c·ß·
23+
„die hand von der Politik!
Von
Helene Lange.
Radhbrud mit Quellenangabe gefiattet.
on der Politif follen die Frauen die Gand weglafjen!” Dieſe Parole Gat
neulich Graf Poſadowsky im Reichstag ausgegeben — zugleich, wie es fcheint,
” © als feitenden Gefichtspuntt fiir die Reform des preußiſchen Vereinsgeſetzes.
„Ich bin durchaus dafür“, äußert er fich als aufgeflarter Mann weiter, „daß man den
Frauen möglichſt viel Gelegenbeit giebt, fich felbjt im Leben iby Brot yu erwerben,
und ich bin aud der Anſicht, daß man es den Frauen nicht erſchweren foll, öffentlich
ibre Rechte inbezug auf die Ausübung ihres Berufes yu vertreten.”
Wenn cine Frau diefe beiden Ausfpriiche in einem Atem getan hatte, fo würde
man iby wie üblich ibre Frauenlogif oder ibre frauenhaft dilettantifde Auffaſſung der
politiſchen Zuſammenhänge vorgeworfen baben. Beides diirfen wir dod) wohl beim
Grafen Pofadowsfy als ausgeſchloſſen betradten. Es bleibt alfo nur ein drittes:
aud er ſteht unter dem fuggeftiven Einfluß jener Männerlogik, die fo eigentiimliche
Abwege einſchlägt, fobald eS ſich um Frauenintereffen handelt.
Niemals wiirde ein moderner Staat3mann heute wagen, den Sag aufzuſtellen,
daß Manner irgend einer Berufsklaſſe imjtande feien, ihre Berufsintereſſen wirkſam zu
vertreten, wenn fie von der Politik „die Hand weg” laſſen müßten. Die Frauen aber
können es, können es fogar unter der Herrſchaft eines Rechtſprechungsprinzips, das
nahezu alles fiir „Politik“ erklart, was irgendwie die Geſetzgebung und Verwaltung
angehen könnte — alſo unendlich viele Fragen, die das Berufsleben auf das intimſte
berühren, den Frauen zu erörtern verbietet. Man braucht nur die Kurioſa aus der
Praxis des Vereinsrechts, an denen die letzten Jahre ja ſo reich ſind, zuſammenzu—
ſtellen, um zu ſehen, was ſchließlich von der Vertretung der Berufsintereſſen übrig
bleibt, wenn „politiſche Gegenſtände“ aus dem Bereich dieſer Vertretung aus—
geſchloſſen ſind.
Aber ſelbſt angenommen, daß man mit dem redlichſten Willen verſuchte, den
Begriff Politik im engeren Sinne von dem abzugrenzen, was heute eine nicht tendenz—
freie Auffaſſung darunter verſteht, ſo müßte dieſer Verſuch bei der engen Verauickung
aller wirtſchaftlichen mit den politiſchen Fragen vollftindig ſcheitern. Sobald man die
Frau — und daran feblt es eben nod — im weiteften und vollften Cinne de3 Wortes
als Tragerin ibres Berufs, als Glied irgend ciner großen Berufsqruppe betrachtet,
mug man jugeben, daß ibre Qntereffen fo gut wie die Der Männer, die fich mm den
Handelsvertragsvereinen oder im Bunde der Landiwirte zuſammenſchließen diirfen, fteben
und fallen mit den grofen wirtſchaftspolitiſchen Fragen, die heute die Weltgefchichte
zum guten Teil beftimmen. Den Frauen die politiſche Betätigung verbieten, heißt
alſo gan; cinfach, ibnen al Berufsarbeiterinnen dauernd eine ſekundäre Rolle im Wirt:
„Die Sand von ber Politik!“ 357
ſchaftsleben zuweiſen. Und nicht nur im Wirtſchaftsleben, fondern auc im geiftigen
Leben der Ration, Oder follte e3 dic Lebrevin nichts angeben, wenn wieder cine Ver:
gewaltiqung der Volksſchule durch cin reaktionäres Schulgefes drobt? Sollten die Lebre-
tinnen fein Berufsintereffe daran haben, Männer in der VolfSvertretung yu feben, von
denen fie Veritdndnis fiir die Aufgaben der Schule erwarten dürfen? Alſo auch bier
würde man die Frau nur als cine BVerufsarbeiterin zweiter Klaſſe anjeben, die in
ftummer Geduld ihren Ader bejtellt, voll gliubiger Zuverſicht, daß unter allen Um—
jtdinden, was von oben fommt, eitel Segen ijt. Dah die Frauen reif find fiir eine
Vertretung ibrer Berufsintereffen auch da, wo fie fic) mit dem politiſchen Leben direft
beriibren, das zeigen nod) eben wieder die Organifationen der weiblichen Angeitellten
in ihrem energifden Kampf um das Wahlrecht der Frauen bei den Kaufmannsgerichten.
So muf unfere Frauenlogif diefe im Reichstage vertretene Männerlogik rundweg
ablebnen. Wir wollen als Berufsarbeiterinnen nicht dazu verurteilt fein, nur yu
frobnen, obne aus der Einſicht in die Beziehungen unferer Arbeit yu dem nationalen
Gefamtfchidjal in voller Bewegungsfreibeit wie der Mann die Gefcbichte unferes Be-
rufed mit yu machen, feine Entwidlung mit beſtimmen yu können.
Die Frauenbewegung wird aber natitrlich die in Ausſicht geftellte Verbeſſerung
des Vereinggefeses noc unter einem anderen Gejichtspunft zu betradten haben. Sie
ſieht ibr felbjtverftindliches Biel, auf das die Entwidlung in anderen Kulturlindern,
auf das aud) die bisherige Entwidlung in Deutſchland ſchon bhindeutet, in der vollen
biirgerlichen Gleichjtellung der Frau, die ibr einzig und allein eine volle Vertretung
ibrer Intereſſen, ihrer Cigenart volle Wirkensmöglichkeiten gewährleiſten kann. Cie
pon der „Politik“ ausſchließen, beift ibr den geraden Weg dazu verfperren, heißt fie
wiederum auf all die Spibfindigfeiten veriweifen, durch die fie fich ſchon jest die Möglich—
feit öffentlicher Betätigung fcbafft, die fie baben mufj. Cine Verbefferung des Vereing-
geſetzes, Die noch irgend eine Klauſel fiir die Frauen (aft, ware nicht nur feine Ver-
befjerung, fondern geradezu eine Verſchlimmerung, da balbe Reformen auf lange binaus
Die ganzen auszuſchließen pflegen. Und die , Reform” ded Vereinsgeſetzes in Braun-
ſchweig ift cin warnendes Menetefel. Dort follen in Zufunjt ,rweibliche großjährige
Perjonen an ſolchen Vereinen und Verſammlungen teilnehmen diirfen, welche dem
Swed. der Nachftenliebe oder der Erziehung und des Unterrichts weiblider Perfonen
Dienen.” Wie wird es da der Frauenbewegung ergeben? Wird fie unter die Rubrif
„Nächſtenliebe“ oder „Erziehung und Unterricht weiblicher Perſonen“ fallen?
Im übrigen aber bat fic) die Braunſchweigiſche Regierung, fo wunderbar tbr
Beſchluß erfebeint, der Inkonſequenz de3 Grafen Poſadowsky wenightens nicht ſchuldig
gemacht. Sie bat den Antrag des Landtags, man möge den Frauen die forporative
Pflege ibrer Berufsinterefjen geftatten, abgelebut, und zwar mit folgender Begründung:
„Der Ausfeblug der Frauen von der Politif ware praktiſch nicht durchführbar, wenn
man ibnen das Feld der ,beruflichen Intereſſen‘ öffnete; die Unbeitinuntbeit und
Debnbarkeit diefes Ausdrudes macht eine beftimmte Abgrenzung unmöglich. Qn einer
qrofen Anjabl, vielleicht in der Mehryabl der Faille wird die Wahrnehmung beruflicher
Intereſſen auf das fosialpolitifehe, ja fogar auf das rein politiſche Gebiet übergreifen
müſſen; in allen ſolchen Fallen wiirde die Polizei wor eine bei der Flüſſigkeit der
Grenjen zwiſchen den drei genannten Begriffen äußerſt ſchwierige Entſcheidung qeftellt
werden. In den beteiligten Kreifen wiirde man beftrebt fein, den Worten des Geſetzes
cine moglichjt weite Auslegung zu geben und den Frauen Rechte zuzuſprechen, die
355 „Die Hand von der Politits”
ibnen yu gewabren nicht die Absicht des Geſetzgebers geweſen iſt.“ Und welche jarte
Ritterlichkeit bei dieſen Beſchlüſſen mitfpielt, yeigt dann dads zweite Argument der
Kegierung: , Mud davon abgefeben ijt yu befiirdten, dak es in folcben Verjammlungen,
an denen Frauen teilnehmen, bei der leichten Erregbarkeit derjelben, und gerade Der:
jenigen der hier am meiften beteiligten Schichten der Bevölkerung zu unerquidlicen
Szenen fommen wird, die cin direktes Einſchreiten der Polizei ndtiq machen, und wie
miplich dieſes notwendige, unter Umitanden mit Anwendung forperlidser Gewalt ver-
bundene Cinfcbreiten fein witrde, bedarf feiner weiteren Hervorhebung.“
Vielleicht hat den Herren aus ibrer Gymnaſialzeit das Schillerſche Wort vor-
geſchwebt: „Da werden Weiber yu Hvänen!“ Sollten fie einmal zufällig Braunſchweig
verlaſſen, ſo würden wir ihnen raten, doch eine der zahlreichen öffentlichen Ver—
ſammlungen mitzumachen, die anderswo von Frauen einberufen oder beſucht werden.
Kielleicht überzeugen jie ſich da, Dak dabei nicht Frauen unter Anwendung von
körverlicher Gewalt abgeführt zu werden pflegen. Sollte ſich übrigens einmal
Bulwers freundliche Phantaſie ,.the coming race‘ verwirklichen und auch in
Braunicweig Frauen die Geſetzgebung in der Hand haben, fo boffen wir, daß fie
den Mannern die gleiche zarte Rückſicht und weife Fürſorge eryeigen werden, die ibnen
jegt zu teil wird und dem mannlichen Geſchlecht die Teilnabme an öffentlichen Ver:
ſammlungen unterſagen ,feiner größeren Roheit und Neigung zu Geiwalttatigfeiten
wegen, die es leicht zu Schaden kommen laſſen könnte.“
* J *
„Die Hand von der Politik“ — „die Finger von der Sittlidfeitafrage.” Co
flingt es in Berlin, fo flang es in Coln. Der Colmer Frauentag bat ſeinen energifchen
Proteſt erboben; follte die Neugeftaltung des preußiſchen Vereinsgeſetzes dem Pofa-
dowskyſchen Programm entiprecen, fo wird der Proteſt der Frauen nicht minder
einmütig fein.
Denn in beiden Fallen handelt eS fich um ibre beiligiten Antereffen. Und beide
fteben iin engiten inneren Zuſammenhang. Die politiſch unmündige Frau wird auch
in der Sittlichfeitsfrage ibrem Einfluß feine Geltung verſchaffen können. Whe dringend
notivendiq aber dieſer Einfluß ijt, dafiir bot wiederum der Reichstag vor kurzem ein
lehrreiches Beiſpiel in den Ausführungen de Hamburger Vertreters tiber Me im polizet-
techniſchen Sinne nicht vorbandenen Bordelle feiner Vateritadt und = über die Frauen:
verſammlungen, die fic mit Dem Dafein diefer Bordelle beſchäftigten.
Dieſe Verbandlungen erwiefen mit aller nur wünſchenswerten Deutlichfeit, dak
der Ausſchluß der Frau von der Politif ihr auf immer die Ausſicht verſchließen
wiirde, ibre Anfchauungen auf einem Gebiet geltend yu maden, auf dem fie notwendig
von denen des Mannes abiveichen müſſen — dad liegt in Der Natur der Sache.
Die Formen, unter denen fich geqemvartiq die Proititution volljiebt, find, wie
alle übrigen Einrichtungen des dffentlichen Lebens, Durch das Bediirfnis des Mannes
geſchaffen. Sie reprijenticren im Pringip das, was die große Majorität der Manner
wünſcht. Das iit eritens das Zugeſtändnis, daß bei der geſchlechtlichen Veranlagung
des Menſchen, bezw. des Manned, die Erojtitution eine notwendige foziale Cinrictung
jet und daß die Berugung dDiefer Cinrichtung ihm unbeanfiandet freiſtehen müſſe. Da
aber dicfe Benutzung unglücklicherweiſe nicht obne fanitire Gefabr ijt, fo verlanat er
ned mebr. Cr verlangat, dah der Staat ihm die Befriedigung feiner Luſt möglichſt
gefahrlos macht und ftellt Baber ohne Bedenken Die Frauen, die er beruvt, unter ſtaat—
—
„Die Hand von der Politik!“ 359
liche Kontrolle. Sie allein ſollen die Laſt dieſer Kontrolle tragen. Sie ſollen ihm
die Anſteckung nicht übertragen können, dic ev ſelbſt ohne Sfrupel und ohne vom Staat
im mindeſten daran gehindert zu werden, auf die Familie überträgt. So hat er, als
Kunde des Gewerbes, jedes Intereſſe daran, daß die Einrichtungen im Prinzip bleiben,
wie ſie ſind, ſeine Wünſche in Bezug auf die Reform — immer die Majorität der
Männer genommen — konzentrieren ſich ausſchließlich auf die Sanierung der Pro—
ſtitution, die hygieniſche Refform. Selbſt unter den Vertretern des Abolitionismus find
viele nur deshalb Gegner der Reglementicrung, weil fie dod nicht imftande ijt, die
notivendige ſanitäre Sicherheit zu ſchaffen.
Die Frau dagegen hat jeden nur denkbaren Grund, die beſtehenden Einrichtungen
im Prinzip abzulehnen. Ihr iſt die Proſtitution nicht „das notwendige Nbel, das
immer war und immer fein wird“, ihr ijt fie das Ubel par excellence, deſſen Be—
feitiquig fie aus allen Kräften anzujtreben bat. Und zwar nicht nur, und nidt ein:
mal in erfter Linie um der furchtharen gefundbeitlicben Gefabren willen, die der
berrjcbende Suftand fiber die Familie bringt, fondern um der ſittlichen Werte willen, die
in Frage fteben. Und zwar fiir beide Geſchlechter. Die Frau wird in ibrem ganzen
Geſchlecht, fonfequenter Weife auch in der Schätzung des Mannes, degradiert, wenn
Frauen um eines männlichen Bedürfniſſes willen zu einem ſtaatlich fanftionierten
Sklaventum herabgedrückt werden, auf dem allein die Laſt einer beiderſeitigen Ver—
ſchuldung liegt. Auf den Mann aber fällt die Konſequenz dieſer Einrichtung mit der
ganzen Wucht einer böſen Tat, die fortzeugend Böſes gebären muß: faſt im Knaben—
alter ſchon fällt jede neue Generation nun der Inſtitution zum Opfer, die der reife
Mann will, ſtaatlich ſanktioniert und damit dem Jüngling förmlich aufdrängt. Zum Opfer
nicht nur phyſiſch, ſondern auch mit ſeiner ganzen ſittlichen Perſönlichkeit, durch die Zerſetzung
ſeiner Moralbegriffe, die Verachtung der Frau als Geſchlecht, die ihn dann wieder zu ehr—
licher Kameradſchaft und Arbeitsgemeinſchaft mit ihr unfähig macht. Und daher müſſen
alle Beſtrebungen der Frauen zur Herſtellung dieſer Arbeitsgemeinſchaft in Frage
bleiben, ſo lange es eine ſtaatlich ſanktionierte Proſtitution gibt, die die in ihr zum
Ausdruck gebrachten ſittlichen Begriffe immer wieder zwiſchen die Geſchlechter ſchiebt.
Alle unſere öffentlichen Einrichtungen ſtellen das Reſultat des Zuſammenwirkens
der nach verſchiedenen Richtungen treibenden Kräfte dar. Für die heutige Form der
Proſtitution iſt nur eins ausſchlaggebend geweſen: der Mann mit ſeinem weit über das
Geſunde und Naktürliche hinaus entwickelten geſchlechtlichen Bedürfnis. Will die Frau
eine Anderung, will ſie wenigſtens die Diagonale des Parallelogramms der Kräfte
erreichen, ſo muß ſie ohne alles Paktieren, ohne jeden Kompromiß ihre Arbeit vom
Standpunkt ihrer ſittlichen Begriffe aus einſetzen. Und das erſte, was von dieſem
Standpunkt aus fallen muß, iſt die ſtaatliche Sanktion des Gewerbes.
Um aber die Energie einſetzen zu können, die wirklich imſtande iſt, auf dieſem Gebiet
die Richtung der Entwicklung mitzubeſtimmen, dazu bedarf die Frau ganz anderer
Machtmittel, einer ganz anderen Stellung im Staat, als ſie heut inne hat. Den Weg
dazu hat ſie eingeſchlagen, als ſie in den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts
zuerſt Hand an die Politik legte. Die Aufgabe unſeres Jahrhunderts wird es ſein,
dieſen Weg zum Ziel zu führen. Und darum muß ſeine Parole für die Frauen auch
fernerhin lauten: „Hand an die Politik“.
yg Whe te
Ver schwedische Handfertigheitsunterricht und seine
pddagogische Bedeutung.
Zon
Helene I. Rloſtermann.
—ñ— —
Raddrud verboten.
äufiger als früher wird jetzt der Norden von Deutſchland aus beſucht. All—
jährlich hört man von einer größeren Anzahl von Reiſeluſtigen, die das Land der
Mitternachtsſonne zu ihrem Ziel erwählen. Wenn ſie nach einer mehrwöchentlichen
Juli-Seefahrt an den Küſten und in den Fjorden Skandinaviens zurückkehren und be—
geijtert von den taghellen Nachten, den felfigen Ufern, den herrlichen Wäldern, den
lieblicben Fluren und dem froblicen Leben yu Land und yu Wafer bet unfern nor-
dijchen Briidern erzählen, jo fteigt damit ein Bild der einen Seite des dortigen Lebens
por uns auf.
Sebr viel feltener lernt der Reifende auc) die Kehrſeite dieſes lieblichen, aber
furjen Sommers fennen, den fangen Winter mit feinen endlofen Nachten, mit febnee-
bededten Gefilden und ju Cis erjtarrten Waſſerflächen. Dann zieht fic) dad fröhliche
Leben, das dem Reifenden im Sommer auf Sehritt und Tritt entgegenfommt, in die
Häuſer und Hütten zurück, der Verfebr ftodt, der Landbewohner ijt auf fein Heim
angewiejen und widmet fic dort irgend einer nugbringenden Beſchäftigung mit feinen
Handen. In den Sitten und Verbaltniffen des Nordens fliegen fomit die Wurzeln
deffen, was der Schwede mit „Slöjd“ bezeichnet, und was mit „Handfertigkeit“ oder
befjer nod) mit „Hausfleiß“ iiberjegt worden ijt.
Slojd heißt wörtlich Gefchidlichfeit, e& ift verwandt mit dem englifden Worte
psleight“, und der Begriff ijt ſtreng unterfcieden von dem de3 Handwwerfs. Der
Handwerfer arbeitet fiir feinen Verdienſt, zum Berfauf und fiir andere Leute, der
„Slöjdara“ arbeitet fitr fich, fiir fein Heim, feinen eigenen Bedarf. Jn dem nordifchen
Bauernbauje regte von Alters her nicht nur die Frau die fleifigen Hande, fondern
aud) der Mann, nicht nur die Todster, fondern auch der Sohn. Während die Frauen
das Spinnrad drehten, griffen die Manner am Liebjten zum Meſſer und ſchnitzten an
den langen Winterabenden und morgens, ebe der kurze Tag erwadte, allerlei niigliche
Gegenſtände fiir den häuslichen Bedarf. Es gab jedoch neben diefem Holz-Slöjd noch
eine ganze Reihe anderer Arten von Slöjd. Metall-, Leder: und Papierarbeiten,
Viirftenbinden, Rorbflechten u. dgl. m. Hier fommt der Holy: oder Tiſchler-Slöjd,
ſchwediſch „8nickeri-Slöjd“ in erjter Reibe in Betracht. Daß es voriviegend, wenn
auch nicht überall, Gegenſtände aus Hol; waren, die mit geſchickter Hand angefertigt
wurden, hat feine natiirlice Erklärung, denn an nichts ijt ja das ffandinavijche Land
reicher als an Holy. Mit dichten Tannen, Birken- und Buchenwaldern ijt ringsum
das Land bededt; aus Hol; beſteht die Hiitte und fajt der ganze Hausrat des Land—
bewobners. So gereichte e3 denn in jedem Bauernbauje zur Erſparnis und zum nütz—
lichen Seitvertreib, wenn die Männer mit ibrem Meffer einen Vorrat von hölzernen
Löffeln, Kellen, Schüſſeln, Quirlen u. dgl. m. berftellten. Ubung fiibrte bald sur
Meifterfchaft, der Schinheitsfinn zur Erfindung neuer Formen; gar bald gefellten fid
su Dem Meffer als dem cinfadhiten, aber vielfeitigiten Werkseug andere: Sage, Bobrer,
Meifel, Hammer, Zange, Hobel und meiſt auch eine Hobelbank fanden ibren Plag in
jeder Bauernhütte und in jedem Bürgerhaus. Es entftand cine nationale Oolsinduftrie,
—
Der ſchwediſche Handfertigteitsunterridht und feine pädagogiſche Bedeutung. 361
die fogar von denen, die nicht nötig Hatten, aus Sparfamfeit zu arbeiten, aus Lieb-
haberet betrieben wurde. Einen Cinblid in den Reichtum dieſer Erzeugniſſe gewährte
die nationale Ausftellung in Stodbolm, die anläßlich des BZ jährigen Regierungs-
jubiliums von König Osfar II. im Sabre 1897 jtattfand. Bielleicht aber war fie
nur dadurch veranlaft worden, dah eben dieſer ſchwediſch-norwegiſchen Hausindujtrie
der Untergang drohte und fie jum Beſten des Volkes gerettet und wieder neu belebt
werden follte.
Das Yahrhundert der Dampffraft und de Mafehinenbetriebs übte feinen
Einfluß auch in dem ffandinavifecben Land. Bon dem Augenblid an, wo zahlreiche
Gegenſtände des Hausrats fo ſchnell mit Mafchinen angefertigt werden fonnten,
daß fie fiir wenige Pfennige gu faufen waren, erlabmte der Hausfleiß des nordiſchen
Landbewohners; immer weniger wurden Slöjdmeſſer, Sage und Hobel in Betrieb
qefebt, und der Müßiggang ftellte ficd ein. Aber er wurde der Anfang eines viel
chwereren afters, er fiillte die Wirtshaufer und Branntiveinituben. Vermehrt
wurde die Neiqung dazu durch das falte Klima, das an und fiir fich zum Alkohol—
enuf} verleitet. Unſägliche Gefabren drohten dem häuslichen, ſchlichten und ſpar—
* Sinn des Volkes, ſeinem Gewerbfleiß und ſeiner Geſundheit, als die Pflege
der Arbeit mit der eigenen Hand zurückzugehen begann.
Da erwachte im Herzen von Volksfreunden der Wunſch, Mittel und Wege
zu finden, um dieſe Segensquelle vor dem Verſiegen zu bewahren. Auch die
Regierung des Landes ſchenkte dem Gegenſtand ihre Aufmerkſamkeit, und ſo entſtand
im Anfang der ſiebziger Jahre eine Bewegung zur Wiedererweckung und Erhaltung
der Haushandarbeit. Was der Fortſchritt der Kultur dem Volke geraubt, konnte
ihm nur durch die Schule wieder erſetzt werden. Durch Einführung des Slöjd
als Unterrichtsgegenſtand hoffte man ihn wieder in das Haus und die Familie
zurückzuführen. Das Ziel ſtand allen klar vor Augen, über die Mittel gingen die
Anſichten weit auseinander. Ob der Unterricht fakultativ oder obligatoriſch, ob er
als Klaſſen- oder als Einzelunterricht behandelt, ob er von Handwerkern oder von
Lehrern erteilt werden ſollte, das waren einige der Fragen, über die die Anſichten
ſchon in der Theorie geteilt waren; noch viel größer aber waren die Schwierigkeiten,
die ſich in der Praxis herausſtellten. Wohl gewährte der Staat Mittel zur Ein—
führung von Slöjd, aber es fehlte an geeigneten Lehrkräften.
Jede große Idee bedarf einer Perſönlichkeit, in der ſie ſich gewiſſermaßen
kryſtalliſiert, um in feſter Geſtalt auch andern zugänglich und verſtändlich zu werden.
Cine ſolche Perſönlichkeit fand die Slijd-Bewegung in Schweden in Otto Salomon,
dem Direftor de3 jest weltberiihmten Slöjd-Lehrerſeminars „Nääs“ in der Nabe
von Gothenburg. Im Anfang der fiebsiger Jahre war Otto Salomon als junger
Mann auf dem Gute feines Onkels Auguit Abrabamfon landwirtſchaftlich tätig. Dieſes
Gut war das frithere fonigliche Jagdſchloß Nääs, auf einer ſchmalen Landzunge
(NAS Heift Nafe) an dem lieblicen See Säfvelängen gelegen. Seine Mußeſtunden
widmete er den Schulkindern des Gutes, zu denen ibn feine pädagogiſche Veranlagung
hinzog. Sein Intereſſe fiir HOandfertiqfeit und die Grofmut feines Onfels ließen
im Jahre 1872 in Nääs cine Arbeitsjchule fiir Rnaben und 2 Sabre ſpäter eine
qleichartige fiir Madden entitehen. Otto Salomon war Direftor und führte einen
geregelten Unterricht in allen Arten von Slöjd fiir Knaben und Mädchen ein. Die
guten Erfolge der Slöjdſchule in Nääs lockten alsbald Lebrer aus der Umgegend
Ddorthin, und nad einigen Jahren debnte fic) Herrn Salomons Tiitigfeit auch auf
die Aushildung von geeiqneten SlHjd-Lebrerm aus. Bon dem — urfpriinglichen
Gedanfen, titchtige Oandwerfer dazu heranjubilden, fam er bald ab und eriffnete
Rurfe fiir Lebrer von Volksſchulen und anderen Lebranjtalten sur Erlernung des
Slojd als cines formalen Bildungsmittels. Zu Lehrern und Lebrerinnen aus
Schweden gefellten ſich bald auc ſolche aus andern Ländern, und ſchon nach
einigen Qabren wurden, um allen Bediirfnifien Genüge zu leiſten, feſtſtehende
G6 wöchentliche Ferienfurfe fiir Lebrer und Lehrerinnen aller Nationen eingerichtet.
Sept finden deren jabrlic) vier, jwei im Sommer und zwei im Winter ftatt. Der
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362 Der ſchwediſche Handfertighcitsunterridht und feine pädagogiſche Bedeutung.
zweite Sommerfurfus de3 eben abgeſchloſſenen Jabres war der Hundertite feiner Art,
er Ddeutet alfo auf ein mindeſtens 25 jabriges Beſtehen dieſer Ferienfurfe fiir Lehrer.
Das 25 jährige Jubildum des Beftebens der Anjtalt iiberhaupt fand ſchon 1897 ftatt.
Die Richtung, die Otto Salomon der Slbjd= Bewegung gegeben hat, fenn-
zeichnet ibn als feinfinnigen Pädagogen erſtes Ranges. Aus der nationalen Gaus- _
induftrie ſeines Landes ſchuf er ein pädagogiſches Bildungsmittel von hohem Werte,
und unablifjig arbeitete er, und arbeitet er nocd beute in geijtvolljter Weife an
deſſen innerer und dugerer Ausgeſtaltung. Sein ganzes Leben hat er in den Dienſt
cines grofen erziehlichen Gedanfens gejtellt, und die Grofmut feines im Qabre
1898 [cider Ddabingejdiedenen Onkels, des ebriviirdigen Auguſt Abrabamfon, bat
bei feinen Lebseiten und über das Grab hinaus fiir die Mittel gejorgt, um den
pädagogiſchen Gedanfen Otto Salomons weiten Kreiſen der Lehrerivelt des In- und
Auslandes zugänglich zu machen. —
Und nun bitte ich den Leſer, mir zu dem idylliſchen Fleckchen Erde zu folgen, wo
dies alles ſich vollzogen hat. Wir haben Gothenburg mit der Bahn oder mit dem
Schiff erreicht, haben uns in einen der komfortablen Hotels der vornehmen Handelsſtadt
ausgeruht und geſtärkt und fahren nun mit der Bahn auf der Linie nach Stockholm
in das anmutige Tal, das von dem Flüßchen Säfveün und dem langgeſtreckten See
Sajvelangen durcdfurcht wird. Nach etwa 1%, ftiindiger Fabrt fteigen wir an der
Station Floda aus. Cin Motorbot nimmt uns anf und trägt uns in furjer, ſchneller
Fahrt iiber den See an die Landungsbriide von Nääs. Das entzückte Auge weilt
auf den lichlicben Ufern zu beiden Seiten der ſchmalen Bucht, die durch die Landzunge
von Nääs gebildet wird. Durch die herrlichen Baume der Parfanlagen ſchimmert das
weife Schloß bervor, gegenüber tritt der Wald, prächtige Buchen, Birfen und Cichen,
bis dicht an Das Ufer beran. Cine Fabritrafe und verfciedene Fupwege führen gu den
verftreut im Walde liegenden Gebduden, die zu der Anſtalt gehören. Auf der Anhöhe,
an einer Lichtung des Waldes, in der ſich cin Kornfeld ausbreitet, liegt das mit freund-
lichen Veranden gefdmiidte ,Vanhem”, das „Freundesheim“, ein einjtidiges Gebaude
mit grofen Salen, in denen die Mahlzeiten eingenommen werden, und einem Gefell-
ſchaftszimmer, wo ein Klavier, Bücher und Zeitungen Unterhaltung fiir Mupeftunden
bieten. Cinige Minuten abwärts nach der Landungsbrücke zu bliden die freundlichen
Giebel von Käll-Nääs durch die Baume. Dort befinden fich zu ebener Erde grofe
Arbeits: und Verſammlungsſäle, eine Treppe höher urgemiitlice kleine Schlafzimmer
mit gemeinfamem Vorraum und Veranden. An entgegengefester Rictung von Vänhem,
aber landeinwärts liegt mitten im Walde ein weiterer ſtattlicher Bau, das eigentliche
„Seminarium“. Wud) hier find zwei Arbeitsfale gum Zeichnen und fiir die theore-
tiſchen Vorlejungen. Außerdem befinden fic) dort zwei Zimmer, die fiir den eifriqen
Slöjdſchüler bald von der griften Widhtigkeit werden: das cine, wo die fertigen
Arbeiten oder „Modelle“, wie der techniſche Ausdrud lautet, ausgeftellt und einer
ftrengen Zenſur an einem grünen Tijd unterworfen werden; in dem andern find die
Wände von oben bis unten mit Modellen bededt, aber nicht mit ſolchen, die wabrend
des Kurſus als Muſter dienen follen, fondern mit lauter „Extramodellen“, von Beſuchern
friiherer Kurſe erfunden und gearbeitet. Mit gqebeimem Grauen vor feiner eigenen
Ungefchidlichfeit erfabrt der Neuling, daß er (oder fie) nach fünf Wochen ein folches
Modell und zwar ein noch nie dageweſenes ſelbſtändig erfinden, entiwerfen und ausführen
ſoll. Es wird ibm erjt wieder wohl, wenn er den Raum verlaft und fich weiter in
der reiqvollen Landſchaft umſieht. Hier und dort veritreut im Walde liegen nod cine
Reihe Fleinerer Hauschen mit einfacen, aber gemütlichen Schlafzimmern fiir die Teil-
nehmer deS Kurſus. Auf einer Anhöhe, wo der Wald fich nach dem See zu öffnet
und cin reizendes Bild dem Auge enthiillt, liegt faſt als legtes der genannten Hausen
das Fleine ,, Babel”. Um feinem Namen Ehre zu machen, werden dort einzelne Kurfijten
fremder Sungen untergebradt. Auf dem Wege von Babel nad Vanhem, aber etwas
suriidtretend, von dem grünen Schleier mächtiger Birken halb verbiillt, liegt „Björk—
NAS” oder VBirken-NAAs, das freundliche Wohnhaus des Direktors Otto Salomon und
feiner Familie,
a,
a
Der ſchwediſche Handfertigkeitsunterricht und feine pädagogiſche Bedeutung. 363
G8 ijt der Vorabend der Eröffnung eines Sommerfurfus. Unzählige Male hat
Das kleine Motorboot die Strede zwiſchen Floda und Nias zurückgelegt, und jedes-
mal bringt es eine Scar fremder Gäſte, Herren und Damen, die ſich untereinander
nicht kennen und nur durch das Bewußtſein, alle zu dem gleichen Zwecke hierher
gekommen zu ſein, untereinander verbunden ſind. Unermüdlich begrüßt der Direktor
Fein auf der Landungsbriide jeden eingelnen, und bald birt man aud bier und da
freudige Musrufe des Wiedererfennens von ſolchen, die früher ſchon einmal einen
Rurjus gemeinfjam durchgemacht haben. Es fommt nicht leicht vor, daß jemand, der
einmal den Weq nad Nääis gefunden bat, ibn nicht nach einigen oder mebhreren
Jahren jum zweiten Male ſuchte. An den erften Tagen nach der Anfunft ift man
iiberwaltiqt von dem Spradigewirr, das einen umgibt. Cind aud) die Schweden
immer iiberwiegend, fo nehmen dod) an jedem Sommerfurfus zahlreiche Ausländer,
namentlich Engländer teil. Norwegen, Finnland, Dänemark, die Niederlande und die
Vereinigten Staaten von Nord-Amerika find danach am ſtärkſten vertreten. Erſt in
dritter Reihe kommt neben Rupland, Ofterreich, Atalien auch Deutſchland mit einer
fleineren Sabl von Kurſiſten. Vereinzelte Bertreter anderer Nationalitaten, vielfach
aus den aufereuropdifden Erdteilen vollenden dad bunte Bild. Sogar Ojtinder,
Agvpter und Japaner find dort ſchon gefeben worden. Die Zahl der Teilnebmer an
den Sommerkurſen beträgt in der Regel 120—130, die Bahl der Lehrer überwiegt
unt ein Geringed die der Lebrerinnen, nur vereingelt nehmen auch folche teil, die nicht
dem Lebrerftand angebdren. Jeder Kurſus dauert ſechs Worden, von den beiden
Sonunerfurjen fallt der erjte von Mitte Juni bis Ende Juli, der zweite von Anfang
Auguſt bis Mitte September; alfo ziemlich gleichzeitig mit unferen rheinijden Ferien.
Die Roften des Kurſus infl. volle Penſion belaufen fics auf höchſtens 120 Mark.
Rutritt bat jeder Lehrer und jede Lehrerin, die fich frühzeitig genug melden; die
einzige Bedingung, die geftellt wird, iff das rechtzeitiqe Cintreffen zum Beginn des
Rurfus und Ausharren während der ganzen Dauner desfelben, fiir die Damen ferner
cin ärztliches Atteſt, dak fie der körperlichen Anſtrengung gewachſen find.
Erwartungsvoll fiebt der Ankömmling mun dem Beginn der Arbeit entgegen.
Am erſten Tage findet cine feierlice Eröffnung durch den Direftor jtatt. Jeder Teil:
nehmer wird aufgerufen, erbalt feine Nununer und wird ciner beftinnnten Abteilung
und einem beftinunten Lehrer jugewiefen, und dann gebt es an die Hobelbank. Cs
find meift fieben Ubteilungen mit je 18—20 Lernenden. Jeder bekommt feinen be-
ftimmten Plat, jeder feine Hobelbank und findet auf diefer Material und Werkseug
zu ſeinem erjten Modell bereit fliegen. Das Material ift ein längliches, mit der Art
annähernd vierfantiq abgebauenes Stückchen Birfenbols von etwwa 15—20 em Lange,
die Werkzeuge ein Lineal, cin Bleiftift, cin Meffer und cin Winkelmag. Die Aufgabe
beftebt Darin, aus dem Stückchen Hols ein vollftdndig rundes, genau 10 em langes Stabchen
wi fdneiden, das an dem einen Ende 8, an dem andern 3mm Durchmeſſer bat. Mit
einigen Worten wird erklärt, wie zunächſt ein winkelrecht vierfantiger Stab mit dem
Meffer zurecht geſchnitten wird, wie dann durch Abſchneiden der vier Ranten ein gleich—
ſeitig adtfantiger, durch weiteres Abſchneiden ein ſechzehnkantiger und ſchließlich ein
runder Stab entftebt. Zuletzt wird dann die Lange auf die geforderten 10 cm ver-
mindert, die Enden werden fauber abgefdmitten, das Ganze wird mit Candpapier poliert
und — dad erjte Modell iſt fertig, vorausgeſetzt, daß dad Dinh ftreng eingebalten
wurde, Iſt es L mm zu dünn oder gu fury geraten, fo mug es nocd einmal ange:
fertigt werden, ift e3 aud nur '/y mm zu did oder yu fang, fo mug e3 eben fo
lange nut Sandpapier abgerieben werden, bis es das richtige Maß erreicht hat. Mit
wahrer Befriedigung trägt man das erſte Erzeugnis der eigenen Hand in das Modell:
zimmer und gebt mit qrofer Sicherheit (denn man fühlt, daß man ſchon ſehr viel
gelernt hat) an die Ausfuͤhrung des zweiten Modells, eines vierkantigen Paketknebels
mit abgeſtumpften Kanten. Ohne Schwierigkeit, faſt ohne Hilfe des Lehrers, findet
man ſich hier zurecht, denn der rechtwinklige vierkantige Körper war ſchon in dem
erſten Modell vor dem kreisrunden gegeben, nur das gleichmäßige Abſchneiden der
Kanten und Ecken läßt man ſich zeigen. Vielleicht verurſacht es auch etwas Herzklopfen,
364 Der ſchwediſche HandfertigheitsunterriGht und feine pädagogiſche Bedeutung.
dak der Cinfcbnitt fiir den Bindfaden genau in die Mitte kommt, andernfalls müßte
ja das Modell wiederholt werden. — Das 3. Modell, ein runder Blumenfiab, wird
in derfelben Weiſe angefertiqt wie das erite und würde gar feine Schwierigkeiten bieten,
wenn es fic) nicht darum bandelte, das Stiid Hols, aus dem der Stab geformt werden
foll, felbjt von einem größeren Stück abzuſägen, was immerbin leichter ausfiebt als es
in der Tat ijt, Dankbar, dah die Sage nicht an der verfebrten Stelle zu tief ins
Hol; bineingegangen ijt, macht man fid) mit Cifer an die ſchon befannten Nbungen
bes rechtwintlig vierfantig:, act: und fects ehnkantigſchneidens und freut ſich an der
ſchönen Rundung, die man diesmal hervorgebradt Gat. Mit jedem Modell wächſt die
Sicherheit, der Cifer, die Freudigfeit, und man würde wobl nidt bemerfen, daß ein
Yor: oder Nachmittag herum ijt, wenn die Folge der Arbeit nicht auch ein ganz
mächtiger Ounger ware. Nur aug dieſem Grunde iſt die Glocke, die zur Ruhe und
zu den Mahlzeiten ruft, willkommen; im übrigen kommt ſie immer viel zu früh. So
ſchreitet die Arbeit rüſtig fort. Ein Werkzeug nach dem andern lernt man kennen,
immer ſchwierigere Modelle bringt man hervor. Kaum glaubt man es ſelber, daß
zwiſchen dem erſten primitiven Zeichenſtäbchen und der Anfertigung einer tief aus—
gehöhlten Mehlſchaufel mit geſchwungenem Griff nicht ganz ſechs Wochen Zeit liegen.
Daneben aber ſieht man Kollegen, Die ſchon den zweiten oder dritten Kurſus durch—
machen, viel ſchwierigere Gegenitinde beritellen.
Vom eriten Tage an ijt die Zeit ftreng eingeteilt. eden Morgen um 48 Ubr
läutet die Frühſtücksglocke. Funf Minuten vor 8 Uhr verfammelt man fics in zwei
Salen yur Morgenandadt, die in Dem einen in febwedifeber, in Dem andern in eng:
liſcher Sprache gebalten wird. Um 8 Ubr ſteht alles an der Hobelbank. Die Vor—
mittagsarbeit Dauert bis 4/21 Ubr und wird nur von einer PBaufe von 20 Minuten
unterbroden, von denen 10 sur Rube, 10 yu gemeinfamen gymnaſtiſchen Tbungen be-
ftimmt find. Sn der Mittagspauſe wird ein einfaches, aber reichliches warmes Früb—
ſtück eingenommen, um 1232 Uhr beginnt die Arbeit wieder und dauert bis 5 Ubr,
wiederum einmal durch cine Pauſe wie am Vormittag unterbrochen. Um 5 Uhr findet
die Hauptmablyeit ftatt. Danach ift tiglich noch cine cinftiindige theoretifde Vorlefung
oder Disfuffion. An drei Tagen der Woche find diefe in ſchwediſcher, an den Drei
andern in englifder Sprache. Die Kurſiſten find je nad ibren Sprachkenntniſſen der
einen oder anderen Gruppe jugeteilt. Für jede Gruppe find auf diefe Weife drei
Abende frei, die nun fleißig su Spaziergängen, Rabnfabrten auf dem See oder fonitigen
gemeinfamen Vergniiqungen ausgenugt werden. Zwiſchen acht und neun Ubr gibt es
nocd) cinmal Tee und Butterbrot in den Speiſeſälen; bei qutem Wetter aber ijt dann
nur ein Teil der Gefellfchaft zur Stelle, denn es kommt häufig vor, dab eine größere
oder Fleinere Anzahl einen wweiteren Ausflug unternimmt und fic) die Borrate fiir ein
Pidnid, bet dem in der Regel ein Feuer gemacht und Kaffee gekocht wird, mitninunt.
Auch nach dem Abendtee ijt von Juni bis Auguſt draußen ja noch lichter Tag. Man
findet ſich auf der Wieſe nochmals zu fröhlichen Frei- und Laufſpielen zuſammen,
und wenn die Dämmerung allmählich hereinbricht und die erſten Sterne ſich zeigen
oder der Mond ſich in der Fläche des Sees ſpiegelt, dann lagert man ſich wohl noch
am Ufer des Sees und ſtimmt Lieder, ſchwediſche, engliſche, deutſche Volkslieder an,
bis die Arbeit des folgenden Tages zum Schlafengehen mahnt.
Nun zur pädagogiſchen Bedeutung des in Nääs gelehrten Handfertigkeitsſyſtems.
Aus den kurzen, vorhin gemachten Andeutungen wird ſchon klar geworden ſein, daß
der direkte Zweck der Arbeit die vollſtändige Herſtellung einer Reihe von brauchbaren
Gegenſtänden aus Hols ijt, — dak dabei allmählich vom Leichteren zum Schwereren
vorgeſchritten wird, daß größte Genauigkeit gefordert und möglichſte Selbſtändigkeit
angeſtrebt wird. Wenn ich nun noch hinzufüge, daß der Unterricht nicht klaſſenweiſe
erteilt wird, ſondern daß jeder Lernende nach dem Maß ſeiner Kräfte fortſchreitet, jo
haben wir den Stoff zur Hand, aus dem ſich Herrn Salomons pädagogiſche Grund—
ſätze und der erziehliche Wert ſeines Slöjdſyſtems herausſchälen laſſen. Adv möchte
gleich den Kern geben: erſtrebt wird die allſeitige Ausbildung des Lernenden auf dem
Wege der Selbſtändigkeit, des ſchaffenden Hervorbringens aus dem Rohmaterial deſſen,
- ~~
*
Der ſchwediſche Handfertighcitdunterridht und feine padagogifde Bedeutung. 865
was geiftiq Ear erfaßt und angefdaut ijt. Der Lernende iſt in NAS der Lehrer oder
Die Lebrevin; was er dort lernt, foll ſpäter der Schiller von ihm Lernen, nur nicht wie
er in einem furjen Seitraum bet achtitiindiger täglicher Arbeit, fondern allmablich im
Laufe feiner Schuljeit, zur Unterjtiigung feiner geijtigen Arbeit noch mehr als zur Ent:
laſtung davon.
Es feblt weder in Schweden nod in anderen Landern an Beſtrebungen zur
Förderung der Handfertigkeit. Sofern dieſe nur eine Erholung de3 Schiilers von
geiſtiger Arbeit anftreben, fofern fie von Handwerfern anjtatt von pädagogiſch ge—
bildeten Lebrern gegeben werden, fofern die UArbeiten nicht von Anfang bis Ende vom
Schüler hergeftellt werden, fofern ftimmen fie grundfaglich nicht mit den Beſtrebungen
Herm Salomons iiberein. Bei ihm ift es immer die Erziehung des Lernenden, die
er im Auge bat. Nac meiner Nberjseugung ift der fcblagendjte Beweis dafiir der
Cinflup, den der aufmerfjame Kurjijt in NAGS an fic) felber beobachtet. Cigentlich
genügt ſchon das äußere Ergebnis, daß jeder in der fechiten Woche fo weit fommt,
ein eigenes Modell yu erfinden, zu zeichnen und auszuführen, — und e3 ijt noc nie
vorgefommen, daß jemand das nicht fertig gebracht bitte — aber dad ijt bei weitem
nod nicht alles. Nachhaltiger ift der Gewinn fiir Auge und Hand, die einem jebt
bis dabin ganz unbefannte Dienjte leijten; ebenfo die Luft und Freudigkeit zur Arbeit;
ferner Die Stählung der Ausdauer, der Aufmerkſamkeit, der Geduld, der Willenstraft,
kurz, das Wachjen der Herrſchaft tiber fich felber an Körper und Geijt. Wenn diefer
Einfluß ſchon dem Erwachſenen in der kurzen Zeit von ſechs Worden fiiblbar wird,
wie viel gréfer muß er bei dauernder Anwendung auf den biegfamen Geiſt und
Körper eines Rindes fein! Und fragen wir nad dem Grund, fo finden wir, daß
Herr Salomon jeinem Syſtem den Geijt des Dichterwortes einzuhauchen verjtanden
hat, dad mir fo ganz befonders das Wefen des Slöjd auszudrücken ſcheint: „Im
innern Herzen“ foll der Schüler ſpüren, „was er erſchafft mit feiner Hand”. Er foll
jeinen Geijt ſchulen an einem jtreng logiſchen, allmablichen Fortſchritt vom Leichteren
zum Sebwereren, wo die Anforderungen an jeine Kraft ſtetig wachſen und dennod
Diefelbe nie iiberfteiqen, wo er der Hilfe des Lehrers immer nur fitr das Neue, was
zu dem Alten hinzukommt, bedarf, aber alles übrige mit voller Sicherheit allein aus-
führt. Gr foll feinen Willen ſtärken durch peinlich forgfaltige Musfiibrung einer
gegebenen Aufgabe, dure jftrenge Einſchränkung in die gegebenen Mage an einem
Stoff, aus dem auch die feinjten Formen durch forgfiltige Arbeit fic) bervorbringen
fajjen, bei dem aber der geringſte Febler unvertilqbar ftehen bleibt. (Man ſchnitte
ſich Lieber einen Millimeter vom Finger als vom Modell!) Es ſoll fein Gemiit be-
jriedigen, indem er vom erjten Augenblick an brauchbare und durch Ebenmaß ſchöne
Gegenitinde bervorbringt und nicht Zeit und Kraft an nitzloſen Übungen zu ver:
ſchwenden braudt. Das find nur einjelue dev vielen und grofen Vorzüge der Arbeit,
wie fie in NAS unter Herrn Salomons geijtvoller Leitung getrieben wird. Ceine
theoretiſchen Vorlefungen über fein Syſtem find eine Fundgrube richtiger padagogifder
Wedanfen. Die Schriften aller großen Geijter auf dem Gebiete der Erziehung find
ibm nicht nur befannt, fondern fo geldufig, daß er ihre Worte immer als Beleg
feiner Beftrebungen bereit hat.
Es gibt auch in der Tat, wenn wir im Geijte die gqrofen Padagogen an uns
voriibersziehen laſſen, kaum einen, der nidt den Wert der Arbeit mit der Hand an—
erfannt und ihre Anwendung in der Erziehung gefordert bitte. Und fie ſtehen nicht
allein mit ihrer Forderung. Freunde der Menſchheit vereinigen ihre Stimme mit der
ibrigen. „Arbeit“! ruft Carlyle aus, , welche unberecenbare Bildungsquelle! Wie
ergreift dic Arbeit den ganzen Menſchen, nicht nur fein bischen theoretiſches Denken,
jondern den ganjen titigen, bandelnden und duldenden Menſchen; wie wet fie Schritt
fiir Schritt ſchlafende Kraft, entwurjelt fie allen Irrtum! Wer nichts getan bat,
weiß nichts . . Tue etwas! gum erftenmal in deinem Leben tue etwas! fo wird
dir fiber alles Tun ein neues Licht aufgehen. Von unbegrenster Bedeutung ijt die
Urbeit; durch fie erreicht der beſcheidenſte Handwerker Grofes und Unerlapliches, das jeder,
auch der Höchſtgeſtellte, der nicht mit feinen Handen arbeitet, zu verfeblen Gefabr läuft.“
366 Die italienifdje Frau in ben Camere del Lavoro.
Mehr als die Generation, an die folche Worte gerichtet waren, bedarf ibrer
die Menſchheit von heutzutage. Seit den Tagen Carlyles bat die Majdinenarbeit
die Wrbeit der menſchlichen Hand immer mehr verdrängt, ja, es unterliegt wohl keinem
Zweifel, daß fie es immer mehr tun wird. Sollten wir wünſchen, daß es anders ware?
Sollten wir die Seiten der Handarbeit an Stelle der Majfehinenarbeit zurückerſehnen? Und
was würde es niiben, wenn wir es täten? Wir fonnen nicht in die Speichen des Wades
menſchlichen Fortſchrittes qreifen und eS jum Ctilljtand bringen. Aber eins können
wir tun. Wir können die Bedürfniſſe unſerer Zeit verſtehen und ihnen Rechnung
tragen. Vor hundert Jahren lebte in Deutſchland ein Mann, der mit dem Auge des
Sehers die Zeit kommen fab, wo die Menſchheit ſich darauf befinnen wiirbe, Dak
die Hand nicht minder den Menſchen iiber das Tier erhebt, alg die Sprache; er
forderte die Erziehung der Tat an Stelle der Cryiehung des Wortes. Er hieß
Friedrich Fröbel. Auch er wird erft gebirt und verftanden werden, went der
Menfebheit die Segensquellen der Handarbeit verfieqt fein werden, wie er gehört
und verjtanden wurde von Otto Salomon, als diejer die Segensquelle ſtandinaviſchen
Hausfleifes verjieqen fab. Tief in der menſchlichen Natur liegen Krafte, die nur
geboben werden können durch fcbaffende, bildende Titigteit der Hand, — die Oand
unjerer Kinder, Die jebt nur die Feder führen lernt und doc nach anderer Wrbeit
verlangt. Wir lajjen fie wohl auch mit den Händen arbeiten, allein wir veriwerten
die Hand nicht fiir die Ausbildung de3 Geiftes, wir vergefjen, dah auf dem Gebraud
der Hand die Kultur der Menſchheit berubt. Mit der täglich wachfenden Erkenntnis
aber, daß die Cutwidlung der Gefamtbeit fich in der Entwidlung des einzelnen
Menſchen wwiederholt, wird die Vefriediqung des Schaffenstriebes ju einer wefent-
licen Forderung in der Erziehung unjerer Jugend. Wenn die Schule der Zukunft
dereinft dieſe Forderung erfitllt, dann wird fie auch der bahnbrechenden Verdienſte
Otto Salomons und ſeiner Anſtalt in Rääs gedenken. —
————
Vie italienische Prau in den Camere del havoro.
Gon
Dr Robert Michels.
Nachdrud verboten.
Dileguan le tue brevi ultime aurore,
O Giovinezza; tacciono le rive
Poi che il tonante vortice dispare.
Odo altro suono, vedo altro bagliore,
Vedo in occhi fraterni ardere vive
Lacrime, odo fraterni petti ausare.
(Mus Poema Paradisiaco, 1891—1893.)
in jener denfiviirdigen Kammerſitzung, in twelcher der berühmte Poet des moderni-
- fierten italieniſchen Mittelalters, Gabriele D'Annunzio, {einen Platz auf der
EJ auferiten Rechten verließ und mit der Begritndung, er fabe endlich cin, daß die
Fonfervative Partei fein Herz fiir die a i des Volfes beſäße, ſchnellen Entſchluſſes zur
Gruppe der äußerſten Linken iiberging, da hatte der nietzſcheaniſche Bertreter einer rein
äſthetiſchen Weltanſchauung plötzlich ſein ſoziales Empfinden entdeckt. Zugegeben, daß
D’Annunzio auch bei dieſer Gelegenheit ſeines an Affekten ſo reichen Lebens nicht nur
ſeinem Herzen, ſondern auch ſeinem Hang zum bel gesto nachgegeben haben könnte,
zugegeben fernerhin, dak der Dichter keineswegs yum Nationalökonomen, ja nicht cin:
Die italieniſche Frau in ben Camere del Lavoro. 367
mal zu einem Dugendpolitifer aus den Reihen der Reaktionäre auch nur die be:
ſcheidenſten Talente befigen mag, wichtig bleibt dennoch das Cine, dah fic aud) eine
jo überäſthetiſch angelegte Natur wie die des Dichter aus den Abruzzen, die fic) mit
ängſtlicher Scheu vor jeder Berührung mit ernjten volkswirtſchaftlichen Fragen faſt
inftinftiv zurückgezogen hatte, der Macht der jungen proletariſchen Bewegung feines
Landes auf die Dauer nicht gu entziehen vermochte und fich, wie durch obige Strophe
bewiejen, wenn auch mit Wehmut im Herzen gu dem befennenden Sang gendtigt jab,
Daf, wenn Jugend und Schönheit gwar verginglich fei, fic feinem Auge dafür aber
andere Harmonien und andere Pracht darbiete: brennende Tranen im Auge brüderlich
gejinnter Manner und das laute Pochen von Bruderberzen! —
Cin Poet bleibt Poet, auch wenn er von der modernen Arbeiterbewegung fpricht.
Aber dem gründlichen Lefer wird der politifche Sinn der Worte D’Annunzios dennod
flar. Was er fagen will, das ijt, daß cine fo gewaltige Bewegung, wie die des ſo—
genannten vierten Standes, alle anderen weltbewegenden Fragen mit ungesiigelter Haft
iiberfluten muß und daß diefe anderen, fo vielen Drenfden und Dichtern liebgewordenen
Heiligtiimer dennod in jenem modernen Strom nicht elendiglich zu Grunde geben,
jondern, wenn auch in verinderter Form, zu neuem Leben erivedt werden.
Früher fpielte fic) Das Leben der Frau vorzugsweiſe im Hauje ab. Der Typus
der Hausfrau hat fic, zumal iu Deutfchland, bis auf den beutigen Tag evbalten.
Er herrſcht bei den Frauen des Mitteljtandes unbedingt und bei denen der fogenannt
hiberen Schichten bedingt immer noc vor. Aber Millionen und Wher - Millionen
anderer Frauen find durd die Entiwidlung des modernen Grofbetriebs gewaltfam aus
dem Hauſe getrieben worden, hinein in die Arbeitswerkſtatt, in die Fabrif! All diefe
Frauen find zwar nocd Hausfrauen in des Wortes buchſtäblicher Bedeutung geblieben,
aber doc) nur fozujagen im Nebenamt. Wenn fie des Abend$ nad) barter Arbeit,
an allen Gliedern zerſchlagen, totmüde nad Hauſe fommen, dann haben fie ja
nod alle jene häuslichen Verricdtungen ju bewältigen, zu welchen die Nichts-als-Haus-
frau ihren ganjen Tag gebraucht. Es bedarf wobl faum nods einer befonderen Er—
wibnung, dab ein Weib, bei welchem die Gausfrauenpflichten nur einen winzigen Teil
des Tages in Anſpruch nehmen diirfen, fich dem Nichts-als-Oausfrauentypus allmählich
entfremdet und jum Prototyp eines „neuen Weibe3” mit neuen Lebensanſchauungen
und Lebensidealen wird. Die Genefis diefes neuen Weibestypus mag ja nun zweifel—
los mit vielen Gefabren fiir Leib und Seele, fiir Körper uud Geift des Individuums
verbunden fein, ja fie mag felbft voritbergebend — bei einzelnen Arbeitszweigen fogar
chroniſch — eine ernjte Gefabr fiir die phyſiſche Weiterentwidelung der Menſchheit
bedeuten, ja fie mag ſchließlich fogar mit einem gewiſſen Recht von fo fanatifden
Hogienifern, wie es der römiſche Profeſſor Tullio Rossi-Doria ijt, alg das größte Unbeil
der Jebtzeit angejeben werden, immerhin ſteht meiner Nberjeugung nad aber dod) das
Cine fejt: fie ijt nicht nur unter den gegebenen Verhältniſſen wirtſchaftlich notwendig,
fondern fie bildet auch die via Crucis ju einer höheren Spezies Weib. Die Geneſis
wird zur Regeneration.
Freilich cine grofe Gefahr ijt vorhanden. Der moderne Jnduftrialismus, als
reinwirtſchaftliche Entwidlungsperiode gefapt, wertet das Weib, das er, einem Maſchinen—
teilchen gleich, ju feinemt Raderwerf benugt und ausnubt, zwar um, aber er wertet
es nicht obne weiteres höher. Mus der fritheren Nichts-als-Hausfrau tnetet er mit
feinen rupigen Händen zunächſt bloß die de blöde Fabrifarbeiterin. Dieſe bedeutet
zwar einen anderen Topus Weib, aber noch feinen höheren Typus Weib. Und dod)
ftedt in ihr bereits der Anfak zu einem folcen höheren Typus. Zur Entwidlung
dedfelben gebdrt nur ein Koeffisient, der Koeffizient der zunächſt nur intelleftuellen
Befreiung. Wenn die Eleine hohläugige Urbeiterin arbeitet und arbeitet, ohne Cinn
fiir irgend cine höhere Frage, obne Verſtändnis fiir die großen Zufammenbhange ihrer
Tagesarbeit mit dem Gang der Weltgefdichte, wenn fie über ihr Werf, das fie
verrichtet, iiber den Lohn, den man ihr dafür in die Hand drückt, nicht jelber nach—
denft, wenn fic in egoiſtiſcher Abgefehloffenheit ſchon befriedigt ijt, falls fie nur genug
368 Die italieniſche Frau in den Camere del Lavoro.
Verdienit hat, um nicht Hungers fterben yu miiffen und vielleicht Sonntag? einmal
auf dem Karuſſell reiten zu können, und wenn es ihr gänzlich gleichgiltig tt, of und
wie ibre Arbeitagenofien und -Genoffinnen um beffere Lebenshedingungen kampfen
und jtreben, dann ift fie jweifellos nur eine Art Menſch auf primitiviter Lebensſtufe, cin
halb kindiſches, halb greifenbaftes Urbeitstier. Crit wenn die Geftalt menſchlicher
Solidaritat an fie twerbend berantritt und die Verkümmernde an allem teilnebmen
läßt, was heute Menfdenbirn und Menſchenherz bewegt, wenn fie fabiq wird, um
fremden Leides willen felbjt zu leiden und fremde Freuden felbjt mit zu empfinden,
wenn fie dann ſchließlich, von heißem Durſt nach Erfenntnis getrieben, das früber fo
geliebte Karuſſell bovfottiert und fic) in ibren ach fo fargen arbeit3freien Stunden
mit jenen Groblemen befchaftigt, von deren Löſung ibre endlicde Erlöſung abbangen
mag, nur wenn an die Stelle Dumpfen Dabhinvegetierens freudiger Lebenskampf, an
die Stelle mürriſcher Refiqnation ing fogenannt Unvermeidlice rofige Goifnungstreude
tritt und das Wifjen nicht mebr als ein beterogenc3 Clement, ja, als cine feindlicde
Macht empfunden wird, fondern als rettende Hilfe in traurigen Stunden, dann erſt
hat das Weib den Reim yu einem neuen Menfcbbeitstypus in fid. Diefer qanye
Prozeß aber entwidelt ſich in jenem Kompler geſellſchaftlichen, politiſchen, gewerficatt:
lichen und popular: wijjenfcajtliden Wejens, den man unter dem vegriff der
Organiſation zuſammenfaßt.
* *
*
Die Wurzel diefer Organifation der Arbeiterfebaft Liegt mim in Italien bei den
Camere del Lavoro. Diefe, zu deutſch Arbeiterfammern, find eine den deutſchen
Gewerkſchaftshäuſern ähnliche, aber keineswegs völlig addquate Cinricdtung. Zumal
ſpielen die Camere del Lavoro cine viel größere Rolle im Leben des italieniſchen Pro—
letariates als die Gewerkſchaftshäuſer im Veber des deutſchen. Und das fommt nicht allein
daber, dak in Stalien fich meijt aud) die Arbeiterſchaft der Heinen Landſtädte in der
Errichtung einer ſolchen Camera ihren Mittelpunkt ſchafft, während in Deutfdland
das „Gewerkſchaftshaus“ fich nur in den Großſtädten vorfindet und felbit dort in manchen
feiner eigentlich weſentlichſten Funftionen durc die Kneipe oder den Brauereijaal
erjest wird.
Was ijt alfo nun folds eine Camera del Lavoro und twas beswedt fie?
Entitanden und begriindet durd das klaſſenbewußte Proletariat bat fie zunächſft
Den ausgeſprochenen Swed der Klaſſenvertretung der proletarijden Rolleftivintereijen
am Orte. Zu dieſem Behufe hat fie ſich folgende Organe gejdaffen:
1. einzelne ftreng von einander gefonderte, villiq autonome, dic Arbeiterſchaft je
eines Berufes umfaſſende Teilvereine (leghe di miglioramento), welche fic) mittefft
engen Zuſammenſchluſſes yu ciner gemeinſamen Camera del Lavoro vereinen und durch
Gründung fogenannter Widerftandsfajjen (Casse di resistenza), nötigenfalls durch
Urbeitsausitinde, vorteilhafte AWrbeitsgelegenheiten zu erringen beziehungsweiſe zu
ſichern ſuchen. Arbeitsloje, fowie vom Arbeitgeber im Dienft der Gefamtbeit gemaß—
regelte Mitglieder der Lega werden von der Kaſſe aus gleidfalls unterftiigt.
2. Den aus eingelnen Mitgliedern der Sondervereine (Seftionen) zuſammengeſetzten
und von ibnen veh gewablten Vorftand, welcher die Giunta Esecutiva (ausfibrendes
Komitee) bildet, Diefer Ausſchuß der jtadtifcben Arbeiterſchaft hat zunächſt die Verpflichtung
des Vermittelns. Noch bevor fie befcbliefen, in einen Ausſtand yu treten, baben die
cinjelnen Seftionen die Vermittelungsdienjte der Camera del Lavoro anjurufen. Dieſe
iibernimmt dann die Unterhandlung mit den betreffenden WArbeitgebern und ftellt zu einem
etivaigen Schiedsgericht die Schiedsrichter der Arbeiterſchaft. Aber auch 3u wirtſchaftlichen
Friedenszeiten hat die Camera del Lavoro zwiſchen Arbeit und Kapital zu vermittein.
Durch Errichtung eines ſtatiſtiſchen Nachforſchungsamtes (Arbeiterſekretariat) hat ſie
ein Stellenvermittelungsbureau ins Leben zu rufen, welds, miglidvt nach mit den
Arbeitgebern vorher genaueftens feſtzuſtellenden Tavifen, in denen die Fragen de3 Lohnes,
Die italienifebe Frau in den Camere del Lavoro. 369
der Arbeitsjeit, der Wohnung und RKoft uſw. endgiltig geregelt und durch Unter:
febrift feftzulegen find, allen Urbeitern, auch ſolchen, die nicht Mitglieder der Kammer
find, jederzeit unentgeltlich zur Verfügnng ftebt. Wenn es der Kafjenitand einiger-
mafen geftattet, bat die Camera del Lavoro fernerbin Arzte, und yur Bewältigung
der juriſtiſchen Schwierigkeiten, Proseffe ufw., Rechtsanwälte als ſtändige Beiräte
zu beſolden.
Um alle dieſe Funktionen erfüllen zu können, muß jede Camera del Lavoro ein
eigenes Haus beſitzen, in dem neben dem Sekretariat und den anderen Beamtenzimmern
noch mindeſtens ein großer Sitzungsſaal ſowie womöglich ſo viele Einzelräume als
Berufsſektionen vorhanden ſein ſollen.
Außer dem wirtſchaftlichen Daſeinszweck hat die Camera del Lavoro aber auch
noch eine zweite, mindeſtens ebenſo wichtige Exiſtenzberechtigung. Sie erſtrebt auch
die moraliſche ſowie die intellektuelle Hebung ihrer Mitglieder.
Schon das wirtſchaftliche Zuſammenſtehen, die Klaſſenſolidarität, die es häufig
fertig bringt, daß, um einer in ihrem Kampf gegen das Unternehmertum unterliegenden
Sektion beizuſtehn, die ganze Camera del Lavoro beſchließt, mit in den Streik zu
ziehen — Generalſtreik —, bat eine natürliche Rückwirkung auf das rein perſönliche
Kameradſchaftlichkeitsgefühl der einzelnen Arbeiter untereinander. Gehoben wird das—
ſelbe aber noch ganz beträchtlich dadurch, daß die Arbeiter ihre Camera del Lavoro
als ihre zweite Heimat betrachten. Nach getanem Tagewerk ſieht man ſie in Scharen
in die Camera ziehen, um dort — ohne Alkoholgenuß — in traulichem Zuſammenſein
mit den Arbeitskollegen Gedanken — und nicht nur Gedanken wirtſchaftlicher Eroberungen,
nicht nur „Magenideen“ — auszutauſchen, denn auch das Bewußtſein, einer geachteten
und mächtigen Klaſſeninſtitution anzugehören, welche keinem „Wohltäter“ dankbar zu
fein bat, ſondern ein self-made-work iſt, trägt ebenfalls nicht wenig dazu bei, die
Bruſt des Proletariers zu heben und ihm das vorher unbefannte Gefiihl eines Wertes,
und mit dieſem eine ungeabnte Hoffnungsfreudiafeit einzuflößen und eine erneute Arbeits-
fraft in ibm gu erjeugen. Vortrage über ethiſche Bflichten und ſozialpolitiſche Forderungen,
Die mindejtens einmal monatlich gebalten werden, Fortbildungsfurfe in der Arbeits-
fammer felbjt, Bibliothe und Leſezimmer, Liebbabertheater und eine enge Verbindung
mit den meijt von Hochſchullehrern gebaltenen Kurſen der Universita Popolare ver-
vollitindigen das Bild.')
* *
*
Die erjten Camere del Lavoro entftanden Ende der adtziger Jahre im Norden.
Im Juni Juli 1893 fand in Parma der erjte Kongreß der Urbeitsfammerreprajentanten
ftatt. Zeilnebmer waren 12 Camere del Lavoro (Bologna, Brescia, Cremona,
Florenz, Mailand, Parma, Pavia, Piacenza, Padua, Rom, Turin und Venedig). Der
Sturm der Ier Reaktion fegte fo mächtig, dah felbft der erſt 1900 in Mailand ab-
gebaltene Kongreß Feine größere Anjabl von vertretenen Arbeitsfammern aufzuweiſen
hatte. Bon da ab aber ging die Entwidelung wieder mit Riefenfdritten vorwärts.
Der Kongreß in Reggio Emilia (1901) fiigte 54 Camere zu gemeinfamer Arbeit
zuſammen, mit anderen Worten: nicht weniger als 54 italienifeche Stadte waren bereits
im Beſitz eines folchen Arbeiterbaufes. Hier entftand auch das gemeinjame Verbandsitatut
und die Errichtung des aus 7 Perfonen bejtehenden Zentralausfdufjes, fowie eines
Agitationsfomitecs zur Forderung der Propaganda unter der nod nicht organifierten
Arbeiterſchaft. Hier wurde endlich) auch die Herausgqabe einer offiziellen Monatsſchrift be-
ſchloſſen, der Cronaca del Lavoro, welche in Mailand erſcheinen und von drei Redakteuren,
Gino Tavecchia (männliche Induſtriearbeiterſchaft), Maria Cabrini (weibliche Induſtrie—
') Gine kurze aber anſchauliche Betradtung über Biel und Zweck der Arbeitsfammern gibt
ber langjibrige verdiente Arbeiterfefretir in Monza Eugenio Ciacchi in feiner Broſchüre:
,Cos’ @ la Camera del Lavoro? 52 Edizione Firenze 1901. Biblioteca Educativa Sociale.
Nerbini Editore.
24
a
370 Die italienifde Frau in ben Camere del Lavoro.
arbeiterſchaft) und Carlo Vezzani (Landarbeiterſchaft und Rleinbauerntum) geleitet
werden follte. Inzwiſchen ijt die Bewegung fo ſtark gewachſen, dah eine genaue
numeriſche Angabe der AUrbeitsfammern nicht möglich iſt. Dagegen babe ih, um von
der Starfe und dem Wachstum einzelner, beſonders bervorragender Camere cin
ungefabres Bild ju entwerfen, folgende Tabelle zuſammengeſtellt.
Cabelle 1.
Camera del Lavoro Jahr Mitgliederzahl Seltionenzahl
in
Piacenza... 2. 1901 1755 in 23 Seftionen')
sf) vain ah tore Februar 1902 6 000 » 36 J
Mantua .. . . .. Oktober 1901 1914 „23 i
we | Dezember 1902 2501 » 40 oa
ll ae ea 1901 1 902 ~ 26 =
Wleffandria . . . .. März 1902 2805 a ot »
Neapel..... Februar 1902 12 000 ,» 68 - 2)
Pavia ....... Ende 1900 800 ?
a> tot ots yh se el Bs Dezember 1902 47744) 2
Mailand .. . . .. Januar 1902 15 000 » 150 <
Meffina ...... Februar 1902 1 200 » I -
Ferrara (provincia) — 1902 28 000 » 147 —
Brescia..... 1901 2137 » 38 -
1902 5 496 , 82 —
|) ee ee
Als die bedeutendſte und am beften geleitete Camera gilt Ddiejenige in Mailand.
Dod mögen ihr viele andere an innerer Bedeutung faum nadyjteben, fo Bologna,
Monza, Brescia und Sampierdarena‘). Das Arbeitsnachweisbureau in Mailand bat
im Jahre 1901 2779 Arbeitern Urbeit verſchafft“), die Studienfommiffion der Arbeits-
fammer in Brescia im Jahre 1901/02 unter Herangiehung bedeutender Gelehrter und
Sosialpolitifer von auswärts über die verfchiedenften Gebicte menſchlichen Wiſſens
26 Borlefungen abbalten laſſen, die Feier deS 1. Mai ijt faft allerorten von der
Unternehmerſchaft durch Cinjtellung der Arbeit in den Betrieben offiziell fanttioniert
worden. Diefe drei aus der weitgefpannten Tiitigfeit der Camere del Lavoro
herausgegriffenen Tatſachen werfen ein Helles Licht auf die in ihe zum Ausdrud
kommende Energie der Vielfeitigfeit.
* *
*
Bisher haben wir von der Frau nur im Zuſammenhang mit der ganzen Bewegung
geſprochen, wenden wir uns ihr jest einmal im einzelnen ju.
Es ift nicht gu bezweifeln, daß die Stalienerin viele Eigenſchaften befigt, die jie
sum Cintritt in die gewerkſchaftliche Bewegung förmlich pradeftinieren. Cie ift —
joweit man überhaupt folleftiviftijds urteilen darf — leicht fir grofe Ideen zu ge:
winnen, keineswegs geizig mit dem Gelde, befigt einen ftarfen Zug yur Aufopferung
und bat Blut genug, um aud) eventuellen Gefahren mit mutiger Entſchloſſenheit ins
) Nad) Mitteilungen bes Avanti und ber Cronaca del Lavoro.
7) Nac) cinem Bericht bed Prof. Arturo Labriola im Avanti 1868.
>) Rad einem Bericht von Pompeo Ciotti, Arbeiteriefretar in Pavia, im Avanti 2206.
*} Cine Geſchichte der Camera del Lavoro in Gampierdarena gibt die kleine Broſchüre von
ee Chiesa: ,Parla il Lavoro.“ Firenze 1902. Biblioteca Educativa sociale. Nerbini
cditore,
*) ,Camera de] Lavoro di Milano: Relazione Morale e Finanziaria e Bilanci dell'Anno 1901.*
Milano. Tipografia degli Operai (Societd Cooperativa) 1902.
i
Die italieniide Frau in den Camere del Lavoro, 871
Auge zu feben. Daneben freilich ift fte nicht geſchaffen für eintönig langes Ausharren.
Ihr Mut gebt mehr ing Hobe alS ins Breite. Trogdem hat die Organifation fie
auc bereits gu den mühevollſten und felbjt langwierigſten Kampfen befabigt gemadt,
wie denn Oda Lerda-Olberq gelegentlic) der Frage, ob es fiir das Weib eine foziale
Entfaltungsmöglichkeit gabe, einmal ſehr ridtig bemerft, dah neben den durch die Buren:
frauen im Kriege geleiiteten Dienften andy die ,,befonnene Tapferfeit der Land:
profetarierinnen in der Romagna,” als bejonder3 bervorjpringende , Beweiſe fiir die
„ſoziale Betdtiqung” des Weibes zu betrachten feien').
Hinderlich für das Eintreten der Frau in die ſoziale Bewegung ſind aber
neben ihrer im allgemeinen geringeren Stetigkeit die klerikale Erziehung und der
Beichtſtuhleinfluß. Doch weichen auch dieſe immer mehr der modernen Auf—
klärungsarbeit.
Erſchwert wird dieſe Kulturarbeit freilich durch den zumal unter den Frauen
herrſchenden, infolge des entſetzlichen Schulmangels hervorgerufenen Analpha—
betismus. Beträgt dod) nach dem offiziellen Bericht des Miniſteriums fide
Aderbau, Handel und Gewerbe der durchſchnittliche Prozentſatz in den Provinzial—
hauptſtädten bei männlichen Analphabeten 25,9 , bei weiblichen Analphabeten
aber 35,7 "/,!
Auf die einzelnen Städte berechnet, iibertrumpft das weibliche Gefchlecht das
männliche an Unkenntnis des Lejens und Schreibens in folgender Weife:
in Bergamo ....... fommen auf 100 männliche 100 weiblide Analphabeten
» Mailand........ J — Ze 103 - s
eS oe ea J ee 105 *
„Caltaniſſetta (Sizilien) , —72 J 110 ” 4
„Teramo..... — ae ‘ 115 2 x
a . . ...... oe. * 115 — J
» Gatamjaro. ...... ee ee * 118 ee J
Auch hier alſo wieder das alte Phänomen. Je weiter die Skala nach Süden
fällt, deſto ungebildetere Frauen trifft ſie an. Aber auch dieſes Hindernis wird durch
die Gewalt der mit Rieſenſchritten vorwärtseilenden Entwicklung allmählich aus dem Wege
geräumt. Italien iſt bas Land der Frauenarbeit par excellence. Nirgends nimmt
die Frauenarbeit einen ſo hohen Prozentſatz zur Männerarbeit ein, wie hier. Im
Norden, ſowie in einzelnen, nicht einmal immer weniger beſchwerlichen Arbeits—
zweigen, auch im übrigen Italien hat ſie geradezu erſchreckende Dimenſionen an—
genommen. Man betrachte nur beiſtehende Tabellen:
Tabelle 2.
Verteilung der Lohnarbeit von Männern und Frauen auf die einzelnen
Provinzen (1880). *)
Provingen Manner Frauen
Piemont...... 22 617 40 388
Yombardei .. ... 24 438 78 743
Benetien. 2... . 11151 21 257
Gwilia. ...... 4448 6114
Le Mardhe .... 2753 6 248
Toscana... . 7 759 11 386
) Oda Olberg: „Das Weib und der Intelleltualismus.“ Berlin-Bern 1902. p. 114.
7) Mus Vittorio Ellena: , Statistica di Alcune Industrie Italiaue’. Milano 1880 p. 32.
24%
a
372 Die italienifde Frau in den Camere del Lavoro.
Cabelle 8.
Verteilung der Lobnarbeit von Mannern und Frauen auf die eizelnen
Arbheits;weige (1880). ')
Arbeitssweig Minner Frauen
ete oka Sle wares 15 692 120 428
Baumivolle. .... . 15 558 27 309
Wes is he ine es 12 544 7 765
KFaͤn 4578 5 959
Gemiſchte Tertilinduftrie «2 185 2 530
a ra faft die gleiche Anzahl
Tabak .. 2... 22 ee 1 947 13 707
JJ a ee fajt nur Manner befdsaftigt.
So driingte denn die Entiwidelung felber die Frauen madtvoll yur Organifation
bin. Nur durch einen Zuſammenſchluß war die völlige Degeneration der Raſſe su
vermeiden. Das einzelne Weib ift der Willkür feines Urbeitgebers ohnmächtig preis-
gegeben, die Vereinigung vieler Manner und Weiber zu einer Macht aber vermag
unter Umſtänden der ganzen Unternebmerjdaft Befeble zu diftieren. Co vermochte
geiftiger und wirtſchaftlicher Fortſchritt die Frauen yu dem erjten großen Sehritt su
ibrer Befreiung, jum Cintritt in die Bewegung der Zeit. In den Jahren zwiſchen
1891—1895 Peer wir, wie aus beiftebender Tabelle erfichtlich), die Frauen ſchon
siemlich jtarf an den Arbeitsfammern beteiligt.
Tabelle 4,°)
abr der Mitglieder
Entftebung Manner Frauen
ts | Sa September 1891 2 000 20
Mailand .......... September 1891 10 000 700
SONG: eel & ara.ce ee Suni 1894 1 600 250
CHOU, ne G2 a mig as 5 Januar 1893 5000 3000
Sresii Sh acs Oktober 1892 1 311 116
Cremona.......... Auguſt 1893 1980 220
ME eg Set tt 4s sade Mar, 1893 972 —
Ct a Mat 1893 2 000 60
Piacenza. ......... Juni 1891 741 10
Sampierdarena (b. Gera) Oktober 1895 1500 35
Förenn März 1893 3 900 100
Rom ....... Mai 1892 8600 50
Oe. ie, Be apc ta Januar 1894 2 600 250
Wie Emilia Marabini bevichtet, waren aber in Rom*) auch in den Qabren
1896/97 neben 12 000 Mannern immer nur nods fnapp 50 Frauen gewerkſchaftlich
organijiert. Während die Organijation unter den Männern ſich alfo gefraftiqt batte,
war Diejenige der Frauen fteben geblieben.
Erft die Wiederaujerftebung nad der Reaktion von 1898 wirkte belebend. Die
Sabre 1900 und 1901 verbrachten wahre Wunder organiſatoriſcher Arbeit. Heute it
der Stand der gewerkſchaftlichen Frauenbewegung, wie die angefiigte, nod) nicht einmal
entfernt volljtindige Tabelle zeigt, ein ziemlich weit vorgeſchrittener:
1) Ebenfalls bei Ellena,
2) Entnonunen der orienticrenden Brofciire von Angiolo Cabrini: „Le Camere del Lavoro
in Italia.“ Genova 1896, A Cura della Federazione Socialista Ligure. p. 22 nu. 23. — Die
Bablen der Frauenorganifation in Turin und Sampierdarena entftammen eigenen Qnformationen.
) 8. Emilia Alciati-Marabini; ,,Propaganda“, Postuma, Roma 1898, Tipografia Cooperativa
Sociale. p. 62,
—
Die italientihe Frau in den Camere del Lavoro. 373
Tabelle 5,
Die italienifden Gewerlfdhaften im Auguft 1902.')
Mitglieder zahl
— — —
a) Landwirtſchaft Manner Frauen
Rationalverband der Landarbeiter, Zentralfig Mantua, friiber Bologna 213 200 26 800
b) Handel
Lega Librai (Bucharbeiter) Turin... 2... ee ee ee 8 800 800
Operai dell’ Industria Chimica (Chemifde Qnduftriearbeiter)
SUA” i. 2 line eee Sek. Olt grit i oe Se! ny Mw eae 4000 2000
Orefici (Goldarbeiter) Genta 2... ee eee 614 45
Cappellai (Outarbeiter) Momja . ee ee 3441 1779
Pellattieri (Lederarbeiter) Mailand. . ... .... . ... 3924 40
Metallurgici (Metallarbeiter) Mom... 2... ee. 49 800 200
Calzolai (Schufter) Maitland. 2... ee ee 2961 500
Operai delle Arti Tessili (Tertilarbeiter) Mailand . . . . . . .. 6000 12000
c) Verfebr
Federazione Nazionale degl’ Impiegati Postali e Telegrafici
(Poſt- und Telegraphenbeamtenverein) Mailand. . . . . ... 5 500 200
Federazione Nazionale degli Operai del Mare (Qafenarbeiter-
Derry Gea es ö 11 900 100
d) Staatsbetriebe.
Federazione Nazionale degli Operai dello Stato (Staatswerfftatten
der Königlichen Tabak, Waffen: und Wertpaypier-Arbeiter). . 7000 3000
Leider ift es mir im Wugenblid nicht möglich, einen Vergleich der organifierten
Frauen Italiens mit denen ciniger anderer Induſtrieländer anguftellen. Um aber den
Leferinnen wenigftens ungefähr cinen Begriff von der hohen Bedeutung, die gerade
die in Stalien gewonnene Bewegung bat, zu geben, habe id) hier eine Tabelle zuſammen—
qeftellt, in welder die Urbeiterinnen von Mailand die Stelle derer von gan; Stalien
einnehmen.
Tabelle.
organiſationsfähige Frauen davon
Land in Handel und Snbuftrie organifiert Progentiag
oh 4 a re 193 039 1,70
(inkl. Dienftboten)
Frankreich) 2... 402 243 2,59
Deutidland’) ...... 826 000 23 600 2,63
Mailand*)... ..... 46 512 4635 9,09
Bet diefer hohen Riffer der organifierten Arbeiterinnen in Mailand®) ift nun
freilic) gu bedenfen, daß diefe Stadt fo recht das Zentrum der gewerkſchaftlichen Bee
wegung unter den Induſtriearbeitern ijt, alfo befonders giinftige Zablenverhaltniffe auf—
weijen mug. (Schluß folgt.)
) Rufammengeftellt aus einer Tabelle, befindlid) bet Angiolo Cabrini: „Die Arbeitsfammern und
bic Gewerlidaften in Stalien” im ,,Rorrefpondengblatt ber Generalkommiſſion der Gewerkſchaften Deutſch—
lands“ XII, Rr 42. Hamburg, Oftober 1902.
2) Chagrin (ps.) in: ,,Rivista Internazionale: Problemi del Lavoro“. I. 1, Rom, Muguft 1902.
3) Commission Supérieure du Travail de l'Industrie. aris 1902.
*) Alice Salomon: ,,Sociale Frauenpflichten“. Berlin 1902 p. 110.
) Rach einer von Maria Cabrini in der Cronaca del Lavoro (1, 2) sufammengeftellten Tabelle.
9 Beilaufig! Jn England find unter den 1922 730 Mitgliedern der Trades Unions blos 120 078
weibliche Organifierte!! (Ang. Cabrini: ,L’Organizzazione Trade-Unionista* im Avanti 2385.)
—
TS
in einer am 10, Februar ftattgebabten Sitzung
entfdieden. Für die Ablehnung des vollen
Wabhlredtes der Frauen gaben die Stimmen ber
PBundesratsbevollmactigten der vier größten Bunded:
ftaaten ben Ausſchlag, die erflarten, daf dad Frauen:
wahlrecht fiir fie unannebmbar fet. Die Berteidi:
gung ber Anſprüche ber Frauen durch ben Abgeord-
neten Miiller-Meiningen und Dr Dove von ber
freifinnigen Bereinigung war dieſen Erklärungen
gegeniiber erfolglos. Es ift wohl faum ju erivarten,
daß ber Beſchluß der Rommiffion im Plenum durd
cinen giinftigeren erſetzt wird.
* Franenftudium an den deutſchen Univerſi—
titen. Im laufenden Winterhalbjabr find im
ganjen 85 Frauen an den deutſchen Univerfititen
rechtmäßig immatrifultert und, foiweit man nag
den verdffentlicbten amtlichen Perſonalverzeichniſſen
geben fann, 1260 als Sofpitantinnen eingeſchrieben,
wobei gu erwabnen ijt, dag die Univerfititen Frei-
burg, Greifswald und Roftod über die hofpiticrenden
Frauen inumer nod feine Angaben maden. Bon
den immatrifulierten Frauen entfallen 28 auf Heidel:
berg, 26 auf Freiburg, 25 auf München, 3 auf
Würzburg und 1 auf Erlangen. Wn der Univerfitit
Giefen find zwei Frauen als ,,Sofpitantinnen
aufgenommen”, im Gegenfag gu den iibrigen nur
eingeſchriebenen Hofpitantinnen. Etwa drei Biertel
der immatrifulierten Frauen ftudieren Medizin.
Als Hojpitantinnen find dann eingetragen: in
Berlin 662, in Breslau 98, in Bonn 87, in Würz-—
burg 75, in Strafburg 71, in Königsberg 67, in
Leipzig 82, in Gottingen 57, in Halle 51, 25 in
Sena, je 22 in Heidelberg und München, 18 in
Marburg, 15 in Kiel, 10 in Erlangen, 9 in Gießen
und endlich 3 in Titbingen. Uber die von den
Hojpitantinnen gewählten Vorlejungen feblen alle
Angaben, es läßt ſich nur im allgemeinen fagen,
bah weitaus die Mehrzahl der philoſophiſchen
Fakultät angebort.
*
— oN
—66 is:
Raddrud mit Ouclenangabe erlaubt.
* Nber das Wahiredt der Frauen fiir die
Kanfmannsgeridjte bat die Reichtagslommiſſion
* Zur Beteiliquug der Franen an der fommn-
nalen Schulverwaltung bat der Allgemeine
Deutſche Lebrerinnenverein an das preußiſche
Miniſterium die Bitte gerichtet,
1, bad Miniſterium wolle bie Heranziebung
der Lehrerinnen zu den lokalen Schul—
verwaltungsbehörden (Schulvoritinden, Schul⸗
deputationen) befürworten, ſoweit die jert
geltenden Beſtimmungen fie ermöglichen, bezw.
bei einer Neuregelung der Verhältniſſe der
fommunalen Schulverwaltungen der Lebrerin
die gleichen Berechtigungen hinſichtlich der Ber:
tretung in der Schulverwaltung geben wie dem
Lehrer. 2. Das Miniſterium wolle in der
ſelben Weiſe den Eintritt von Frauen in die
lommunalen Schulvorſtände als Vertreterinnen
ber Eltern der Schulfinder, bezw. ber Biirger
oder Gemeindemitglieder ermodglicben.
Der Allgemeine Deutſche Frauenvercin
hat ein Flugblatt unter dem Titel: „Frauen in
der fommunalen Schulverivaltung” veröffentlicht,
bas in furjen Zügen die Griinde fiir die Sulafiung
der Frauen gur fommunalen Schulverwaltung, die
Möglichkeiten ibrer Mitarbeit, die Mittel und Weae,
fie au erreichen angiebt. Es foll den Frauen bezw.
den Vereinen Fingerzeige fiir cine allgemcine
Agitation in der Sache geben.
* Um die Ginridjtung obligatorijder Fort.
bildungsfdjulen fiir die fanfmannifdjen weibliden
Augefteliten petitionicrten eine Reihe von Vereinen
bei dem Magiſtrat von Berlin. Die Petitionen
differieren in einem Bunft: von einer Seite
(Verein Frauenwobl u. a.) wurde um gemetnfamen
Unterrict der Geſchlechter gebeten, während man
auf der anderen Seite (Verliner Lebrerinnenverein,
Viltoriafortbiloungsidule u. a.) es aud auf Grund
der anderswo (Frantfurt) bereits vorliegenden Gr:
fabrungen fiir bebdentlid) hielt, das Pringip der
Kocdufation suerft auf dieſem Gebiet, das von
allen die größten Schwierigleiten bietet gu etablieren,
auf cine nicht focbufationale Volksſchule cine Fort:
bildungsſchule mit gemeinfamem Unterricht au
| pflanzen.
Bur Frauenbewegung.
* Der Landesvercin preußiſcher techniſcher
Lehrerinnen Halt feine 6. Generalverſammlung
vom 4. bid 6. April in Berlin, Königliche Augufta:
Soule, Kleinbeerenftrafe 16—19, ab,
* Qwei neue ftaatlidje Lehrerinnenfentinare
werdenin Preußen zu Oftern 190-4 eröffnet werden, cin
tatholiſches in Liffa und ein evangeliſches in
Lowenberg.
*Zur Fortbildungsſchulpflicht der Mädchen.
Zu dem Geſetzentwurf, betreffend die ländlichen
Fortbildungsſchulen in Heſſen⸗Raſſau hat ber Landes:
vercin preußiſcher Volksſchullehrerinnen cine Petition
eingercicht, in ber gebcten wird, dic Möglichkeit ded
Fortbildungsſchulzwanges auch fiir die Madden
geſetzlich feftlegen gu wollen, Jn der Begriindung
wird darauf bingewiefen, daß yur Hebung der
landwirtſchaftlichen Leiftungen die Frau ebenfo febr
einer ertwciterten Fachbildung bediirfe wie der Mann.
* Ausdehunug des Kinder: und Arbeiteriunen:
ſchutes anf die Maßwerkſtätten der Roufeftion,
Der Bundesrat hat in der Sigung am 11. Februar
bem Wusfhupantrag, die Kaiſerliche Berordnung
vom 31. Mai 1897 ,,betreffend die Ausdehnung der
$$ 135 bid 139 und des § 139b der Reichsgewerbe⸗
ordnung auf bie Werlftitten der Kleider- und
Wajehefabrifation” aud auf die Schneiderwerkſtätten,
in denen auf Beftellung nad Mah fiir perſönlichen
Bedarf der GBefteller gearbeitet wird, in Anwendung
zu bringen, feine Suftimmung erteilt. Bisher
galten bic Schutzbeſtimmungen der $§ 135—139b,
die ben Kindern und jugendlicen Arbeitern bis zu
16 Sabren, fowie ben Urbeiterinnen gugute fommen,
nur fiir ſolche Schneiderwerkftatten, in denen die
Anfertigung und Bearbeitung von Kleidern und
Wafee im grofen erfolgt. Da jedod häufig die
Grenzen zwiſchen den beiden Produftionsarten ver:
ſchwammen, fo ergaben fic) daraus jablreiche
Ronjlitte zwiſchen Werkftdtteninbabern und Auf—
ſichtsbehörden. Ihnen wird durch die ausnabms:
loſe Unterftellung der gejamten NRonfeftionsivert:
flatten unter dic Beftimmungen der Kaiſerlichen
Rerordnung cin Ende gemacht. (Sox. Praxis.)
* Gine „Rechtsſchutkönferenz“, d. h. cine
gemeinfame Beratung von 27 Delegierten von in
Deutſchland beftebenden Frauen-Rechtsſchutzſtellen
fand kürzlich in Dresden ſtatt. Es war zugleich
ö—t — —— — — — — — — — — — — —— — — — — —
eine Art Jubiläum bes 10jährigen Beſtehens des
Dresdener Rechtsſchutzvereins, des erſten in ſeiner
Art. Der erſte Hauptgegenſtand der Verhandlungen
war der Verlehr der Frauen mit ben gerichtlichen
Behorden. Die Musfiihrungen von Frau Bröll—
Frankfurt u. Frau Pade: Leipzig über die ſowohl
durch den ſchwerfälligen juriſtiſchen Stil als aud
375
bie perſönliche Unfreundlichkeit der Unterbeamten
erwadjenden Schwierigkeiten fiir die rechtſuchenden
Frauen wurden von allen Seiten beftitigt, und 3
wurde beſchloſſen, vor allem gegen dad Juriſtendeutſch,
wo ſich Gelegenheit bietet, entſchieden vorzugehen.
Fr. Dr Raſchle ſprach über die „Wirkungen ded
ehelichen Güterrechtes bei ber Eheſcheidung“. Das
wichtigſte Reſultat der Verſammlung war die
Gründung eines Verbandes der in Dresden ver:
tretenen Rechtsſchutzſtellen unter dem Namen
Rechtsſchutzwerband fiir Frauen”, an deffen Spite
Frau Bennewif-Halle gewablt wurde. In ciner
offentlichen Abendverſammlung fprach Frau Marie
Stritt über die Geſchichte der Rechtsſchutzbewegung
in Deutſchland, an deren gliidlicher Entwicklung
fie felbjt einen gang befonderd großen Anteil hat,
und Fr. Krieide, ibre Mitarbeiterin in Dresden
ſprach über die fosialen Mufgaben ber Rechtsſchutz
vereine; Berichte iiber die Arbeit der Rechtsſchutz
ftellen in Hamburg (Frau Eichholz) und in Bien
(Fr. Sabger) beſchloſſen den Whend.
* Der Polizeidienft sum Schutze der Frauen in
Berlin, Im September 1903 wurde zunächſt verfuchs:
weife ein Strafendienft von nichtuniformierten
Polizcibeamten zum Schutze der Frauen und Madchen
gegen Beläſtigungen eingeridtet. Die gewonnenen
Erfabrungen haben beftatigt, dak ein Bediirfnis
nad Mafnabmen diefer Art im Strafienleben
Berlins beftcht und daß ber cingefdlagene Weg
geeignete Ubbilfe ſchafft. Sum Qabresbeginn hat
bei bem Polisciprafidiunt bie erforderliche Beamten:
vermebrung ſtattgefunden, bie die Durchfiibrung cines
ſtändigen Damenſchutzdienſtes ermöglicht. Sdug:
männer in Zivilkleidung überwachen nicht nur die
Hauptverlehrsſtraßen der inneren Stadt, ſondern
auch die entlegneren Stadtteile, um insbeſondere
auch den Frauen und Mädchen des Arbeiterſtandes
auf ihren Wegen den wünſchenswerten Schutz zu
verleihen.
* Bei der philofophijden Fakultät zu Berlin
ijt cine Umerifanerin Ina A. Milroy aus Detroit
(Midigan, U. S. Amerifa) mit dem Pradifat
„magua cum laude“ jum Doltor promoviert
worden, Ihre Differtation, deren Unterfucungen
fie im Qnftitut und unter Leitung von Geb. Rat
Landolt ausfiihrte, handelt „über den Einfluß in:
aftiver Subſtanzen auf die optiſche Drebung des
Traubenjgucers.”
* Gine Schulärztin wirh Charlottenburg vom
1. April ab anjtelfen.
* Den weiblidjen Wedizinern an der Uni—
verfitit Königsberg i. Pr. ift von der mediziniſchen
Falultät nunmehr die Teifnabme am LUnterridt
in der Anatomie, und zwar getrennt von den
376 Zur Frauenbewequng.
männlichen, geftattet worden. — Der Befehlug tft | Alter erfolgt. Seiner Anſicht nad ſollten bie Cr:
bie prattifde Ronfequeny der Anfichten, die Brofeffor
Stieda jiingft aud öffentlich vertreten hat. Bei
den Schwierigteiten, die ben Medisinerinnen an fo
manden Univerfititen nod entgegenfteben, iſt ein
Enigegentommen, fo geting es aud) fei, natürlich
immer yu begriifen. Immerhin aber überwiegen
bet einem Zugeſtändnis, dad zugleich mit dem
Prinjgip des gemeinfamen Studiums bricht, doc die
pringipiellen Bedenten den prattijden Borteil.
* Das medisinife Stantsexamen beftand in
Bonn Frl. Katharina Freytag mit dem Pra:
bitat „ſehr gut“. Sie ift die dritte Medizinerin,
bie in Bonn bas StaatSeramen gemacht bat, unb
ebenfo die britte, bie es mit ,,Jebr gut” macht.
*Weiblide Gewerbeinfpeftorinnen beabficdtigt
bad fol. ſach ſiſche DMiniftertum des Innern wahr—
ſcheinlich nod) in biefem Jahre fiir die fiinf Kreis:
bauptmannfdaften Sachſens au ernennen, nachdem
bie Regterung mit ben bisher zur Abbaltung von
Sprechſtunden fiir Arbeiterinnen verpflichteten weib⸗
lichen Auskunftsperſonen, beſonders in Dresden,
die günſtigſten Erfahrungen gemacht hat. Die fünf
Gewerbeinſpektorinnen erbalten völlig ben Charakter
von Staatsbeamten, doch bleiben die Amter der
Gewerbeinſpeltoren deſſenungeachtet überall beſtehen.
* Der
@ymnafialabtcilung der hiheren
Mädchenſchule in Karlsruhe find endgiltig alle —
Berechtiqungen eines mit normalem Lcbrplan cin: |
gericbteten Gymnaſiums verlieben. Auf Veranlaffung
beS Stadtrated wird der großherzogliche Oberſchulrat
nunmebe die weiteren Schritte cinleiten, die zur
Erlangung der Anerlennung dicler Berechtigungen
durch die iibrigen deutſchen Bundesftaaten erforder:
lich fein follten, und bamit die lester Schwierig
leiten befeitigen, bie cingelnen Whiturientinnen ded
Mädchengymnaſiums bei der Jmmatrifulierung auf
nichtbadiſchen Univerfitaten in ben letzten Sabren
gemacht worben find.
Mathematif ſpricht Serr Dr Gleiden, Lehrer
fabrungen in den Gymnafiaffurfen fiir Madchen
fiir bie Handbabung des Mathematifunterricht’ über
baupt frudtbar gemacht werden. Man ſollte wer-
fucben, mit bem Wathematitunterridt erft einzu
fegen, twenn die pfrdologifden Grundlagen und
damit aud) bas Antereffe fiir bad aang abſtrakte
Denten wirklich vorbanben find. — Auf jeden Aall
find biefe Ausfitbrungen ſowohl yur Beurteifung
der geiftigen Differenjierung ber Geſchlechter. als
aud) in pädagogiſcher Hinſicht beachtendiwert.
* Gemeindewahlredjt der Frauen in Rieder:
öſterreich. Die vom niederöſterreichiſchen Candtag
befchloffene, ber allerhöchſten Ganttion barrende
neue Gemeindewablorduung nimmt ben nieder—
oͤſterreichiſchen Frauen Rechte, die thnen cin halbes
Jahrhundert cigen waren, Gin Rergleid der der:
zeit geltenden Gemeindewablordbming mit ber am
27. Ottober vorigen Jahres vom niederöſterreich i ſchen
Landtag befdloffenen macht die ben Frauen drohende
Benachteiligung erſichtlich. Schon in dem Gemeinde⸗
geſetz für Riederdfterreidh vom 17. Mary 1849
beift es § 30: „Die Ehegattin darf durch ibren
Ebemann, Witwen, von ihrem Chemann geſchiedene
und unverbeiratete Frauengperfonen können durch
Bevollmächtigte ihr aftives Wahlrecht ausüben.“
Die Gemeindegeſetze vom 24. April 1859, ſowie
das noch heute geltende Geſetz vom 31. März 1864
enthalten dieſelbe Beſtimmung mit nahezu dent
gleichen Wortlaute. — Dagegen ſchließt das neue
Geſetz die Ehefrauen vom Wahlrecht nahezu aud,
entzieht dasſelbe den Intelligenzwählerinnen und
verwehrt es den Perſonalſteuer zahlenden Frauen,
Der Bund öſterreichiſcher Frauenvereine richtete in
dieſer Angelegenhejit cine Petition an die Regierung,
daß die neue Wahlordnung dabin abgeändert werde,
daß wie bisher der Steuerzenſus und die Sef:
baftigfeit obne Riidficht auf das Geſchlecht das
Wahlrecht begriinde. — Der Fall zeigt itbrigens,
wie wenig Bedeutung dic Exiſtenz eines Rechtes
| bat, wenn die Frauen nicht dazu erzogen find, es
an den Gymnaſialkurſen filr Frauen qu Berlin, in |
einem intereffanten Artifel ber „Voſſiſchen Seitung’.
Muy Grund feiner Erfahrungen lonftatiert er eine
ganz auffallend fdnelle Muffaffung und Leichtigleit
der Rerarbeitung bei ben meiſten Schülerinnen. Cr
fiibrt dieſe Beobachtung, ber sufolge die Leiftungen
ber Mädchen im Durchſchnitt beffer find als dic
entiprechenden Leiftungen ber Knaben vor allem auf
den Umſtand zurück, daß die Cinfilbrung in bie
Mathematif bei ibnen in einem angemeffenerem
* fiber die Beſahigung der Madden fiir die benugen.
Denn es wäre wobl undentbar, dap
man ben Frauen dieſes Recht wieder nähme, wenn
es durch rege und allgemeine Benugung popular
und felbfiverftindlic) geworden wäre.
* Mehr Studentinnen als Studenten beſitzen
im laufenden Semeſter die mediziniſchen Falultäten
der ſchweizeriſchen Univerſitäten. Dieſe Fakultäten
zählen insgeſammt 1654 Studierende; davon ſind
763 Manner und 891 Frauen, Im einzelnen
verteilen ſich dic Studentinnen auf die Univerfitaten
folgendermaßen: Bern zählt S77, Lauſanne 181,
Zürich 177, Genf 151 und Bafel 5.
— — 0 — — —
— —— ——
„Geſammelte Dichtungen“ von Julius Lob:
meyer. — 50 Kinderlieder mit 50 Bildern“
von Julius Lohmeyer. (Preis 43 Marl) Ver—
faq von M. Vobad u. Co., Berlin und Leipzig. —
|
Trog alles theoretiſchen Andividualismus ift unfere |
literariſche Kritit nocd) immer nur gu ſehr gewohnt,
die literariſchen Erſcheinungen diefer oder jener
Ridtung zuzureihen und fie damit fiir erſchöpfend
charatterifjiert gu halten. Und das trifft beſonders
bie Dichter, deren Perſönliches nur in den zarteren
und verfdwiegeneren RNuancen des Ausdruds ju
lefen ift. Julius Lobmebver gehörte zu diefen Dich:
tern, und fo bat man gemeint, ibn ju kennzeichnen,
indem man ign der Generation von 1870 zurechnete,
fiir die allerlei gemeinfame Charafteriftifa feſt—
ftanden. Und doch, wer ſich in die anſpruchsloſen
aber darum fo unmittelbar und ebrlic) wirfenden
kleinen Yieder dieſer Sammlung vertieft, wird nod |
twas mehr darin finden, als den frommen Opti:
mismus, das frifde und lebbafte Nationalgefiibl,
ben ftarfen, fröhlichen, im tiefften Grund fittlicden
Lebens: und Schaffensmut, die man als ibre Bor:
züge preift. Er wird nacempfinden, wie alle dice
Kräfte aus perſönlichem Erleben herauswachſen, und
durch einen eignen Sinn ihren beſonderen Ausdruck
belommen. Und er wird den feinen Reiz dieſer
ſtillen und zurüchhaltenden Ausdrucksweiſe, der es
zugleich an Reichtum und Kraft nicht mangelt,
mit Freude genießen.
Die Kinderlieder zeigen den Jugenddichter, der
ohne die programmatiſche Gebundenheit, an denen
unſere modernen Kunſterziehungsbeſtrebungen zu—
weilen laborieren, neue Bahnen erſchloſſen bat,
weil er aus einem feinen Dichterempfinden und in
ciner feltenen Raivetit ded fiinftlerifden Ausdrucks
den Ton fand, zu Kindern und von Kindern ju
ſprechen. Die Kinderlieder Lohmevers gehören zu
dem Gefundeften, was den Kleinen aus der nicht
eben ſchrankenloſen Fülle unferer Jugenddichtung
geboten werden kann.
„Fraucesca da Rimini“.
Verſen. Von Gabriele D'Annunzio.
von Vollmoeller. Berlin. S. Fiſcher Verlag.
Eine Tragödie in
Die Nberfesung der Dichtung, die uns der Verlag |
in wundervoller Ausftattung geboten hat, ijt meifter:
baft. Qn gleichmäßig auf: und abjteiqendem Ton:
fall halt der Rhythmus dic iibermachtige Leidenſchaft
gebannt. Richt in geiwaltigen Cruptionen bricht
die brennende Glut aus, fie fiillt laſtend und ſchwer
jedeS einzelne Wort und jede Silbe. Und fo geben
bie Berfe die Hang: und farbenerfiillte, aber rhyth—
miſch ftrenge, gebaltene Melodie, zu deren Klang
Denti |
Francesca dahinſchreitet, wie in wadem Traum, |
darbieten.
willenlos, ſchlafwandelnd, mit weit offenen Augen
und ſchweren ſchleppenden Füßen. Auch den weichen
lockenden Klangen der Lieder, in denen Francesca's
Mädchen alle belle Wonne und fofende Heiterfeit
der Liebe in das dunkle Geſchick ibrer Herrin binein:
ingen Laffen, bat fic die deutſche Sprache gefiigt,
fo daß die der ,, Divina Eleonora Duſe“ geweibte
Liebesdichtung D'Annunzios fo febr unfer Cigentum
qeworden ift, wie es nur cine frembdem Boden ent:
ftiegene Blume fein fann.
,Mlaffifer der Kunſt“ in Gefammtaus-
gaben. Bd. I. Raffael. Des Meijters Gemälde
in 202 Abbildungen. (Geb. 5 Marl.) Bd. I.
Rembraudt. Ded Meijters Gemalde in 405 Ab—
bifbungen. (Geb. 8 Marl.) Stuttgart, Deutſche
Verlagsanftalt. Die beiden Bande find die erjten
Proben eines grofen Unternebmens. Es follen
nad) und nach die Rlaffifer der bildenden Kunſt in
Ausgaben erſcheinen, die ihre Werfe vollftindig
in techniſch möglichſt muftergiltigen Reproduftionen
Gin knapper cinleitender Tert gibt nur
das Notwendigſte sur Charafteriftif, im iibrigen
wird der Lefer dem felbftindigen Genuß cined
fiinjtlerifden Bilderbuchs überlaſſen, wie es edler
nidt gedact werden fann. Für die würdige Popu—
farijation unferer großen Kunſt bedeutet died Unter:
nebmen einen höchſt erfreulichen Fortſchritt. Es
ſchafft ein lidenlofes Anfdhauungsmaterial, bei Dem
nicht mehr, wie friiber fo oft, die Mangel der Re:
probuftion feinen Befdjaucr zu einem Cindrud
fommen laſſen, und es erleichtert den Beſitz dieſes
Materials durch auferordentlich niedrige Preiſe.
Dieſe Bücher ſollten Hausbücher werden, mit denen
die Kinder aufwachſen, an denen die Fähigkeit zu
tkünſtleriſchem Genuß, die jest immer noc, wo fie
überhaupt vorbanbden ift, fic auf die Yiteratur
beſchränkt, aud) in Bezug auf die bildende Kunſt
erivaden und wadjen fann — eine Quelle neuer
Lebensfreude und Lebenstraft.
Bier Werfe von Robert Browning. —
„Paracelſus.“ Deutſche UÜUbertragung von
F. K. Gerden. Preis broſch. 4 Mark; geb. 5 Mark,
„Pippa geht vorüber.“ Deutſche Übertragung
von Henry Heiſeler. Preis broſch. 3 Mark;
geb. 4,50 Marl. „Auf cinem Balkon.“
dh einer Gondel.“ Deutiche Abertragung von
F. K. Gerden. Preis brofa.3 Mark; geb 4,50 Mark.
Tragödie ciner Seele.“ Deutiche Übertragung von
F. K. Gerden. Preis brofd.3 Mark; geb. 4,50 Mark.
Unſere Deutſchen Überſezungen aus der modernen
engliſchen Yiteratur ‘find nur jum ſehr geringen
Teil ein Erfolg. ES fommt einem immer dabei
sum Bewußtſein, dah gerade der moderne englifde
878 Buůcherſchau.
Geiſt eine Phyſiognomie hat, die ſich mit unſern „Gottfried Riſſoms Hans", von Maric
Spradmitteln febr fewer reprodugieren (aft. Die | Burmester. Hanau, Verlag von Clauk & Fedderien.
vorliegende UÜberſetzung Brownings aber ift cin | 1903. Es fommt der Berfafferin nicht gu Cute,
Erjolg, der an Wert gewinnt, wenn man die gang | dag man fie von vornberein als aus „Frenſſens
befonderen Schiwierigheiten feiner Sprache und feineds | Schule” bervorgegangen binftellt. Nbr Konnen ift
dichteriſchen Ausdruds im Nechnung zieht. Boll: | ebem doc) au beſcheiden, um die Anſprüche, dic
fommen fafjen fie fid) nicht iiberwinden — aber | fic an diefe Rufammenftellung knüpfen, zu
es ijt dod) fo weit gelungen, daß man fagen darf: | befriedigen. Schließt man aber folde Beraleice
Browning ift mit diejer Aberſezung dem deutſchen aus, fo wird man fic) der Ehrlicteit und ſchlichten
Geiftedleben geſchenkt. Und ein foftbares Gefdenf | Nlarbeit der Erzählung gern freuen. Hier und da
ift es wahrlich. Möchte es gu allen fommen, die haftet den Motiven der Erzählung und dem, was
eS zu genießen verftcben. fie an — und Gedanken in den
Menſchen auslöſen, noch etwas konventionell
a Det Gomliche von Hermann Dahl. Egon | Fannucablauhaſes an — aber dann treten bod
Feeiſchet u. Eo. Berlin 1903. Der Roman ſteht auch individuellere und ſprechendere Züge hervor
in mancher Hinſicht ber „Liſelotte von Reckling“ ———— t °
A ; bie auf cin eigenes künſtleriſches Auffaſſen und
nabe. Er ſchildert die Tragddie cines Propheten, Wollen bei der Verfafferin bindeuten
deſſen Macht tiber die Menſchen nicht aus gang reinen '
Huellen fließt. Der Göttliche iſt ein Geijtlicher, ie Scham“. Geſchicht te . Bon
cine michtige Berlontiteit, neflen geifiget Gribe, | Genie made, Relay von Satter & Lecter,
deffen gewaltigem Wollen cine ebenfo mactige | Herfin. Gin qutes und cin {cledted Beifpiel
Sinnlichteit entſpricht. Er ſchöpft die Energion | einer Ehe wird mit etwas aufdrinalich wirtender
jum Schaffen ebenſo aus der Vefriediqung {eines | Kibfichtlichteit nebencinander geftellt. Schon darin
finnlicen Berlangens, wie aus dem Glauben an | scict fig etwas Anfingerbaftes, das in der Charatte:
jeine Wiffion. So wird er unverfehens sum Liigner, | riftif und der inneren Entfaltung der Handlung fied
ae aid eb the at —— tics Senate nod) mannigfach verrat und durd die ausere
und als ¢S ihm nicht mehr gelingt, Dies Zeugni . : Fran : ;
vor der Welt ju erjticen, macht ex felbit cin Ende. ee ber Crplpiung aigt Lompenfiert werden
— Das Buch ijt niet gang frei von Inkonſequenzen :
und Uniwabriceinlichbfeiten, nicht immer jtebt die „Des Rindes Chronif’. Cin Merfobucd des
Darftellung auf der Hobe des intereffanten Problems. | Lebens, von Mutterhand begonnen, zur fpateren
Aber es vermag doch bis zuletzt gu fefieln und in | cigenen Fortſetzung. Aus praftifdder Crfabrung
der Geftalt des Helden tatfacdlich die Macht, auf | zuſammengeſtellt von Helene von Schroötter.
der fein Schickſal berubt, aud dem Lefer gum | (Yebunden 5 Mark) Stuttgart, Deutſche Verlags—
Bewußtſein gu bringen. UAnjtalt. Den Riwed des —— deutet ſein Titel
7 ae an. Da es aus eigenen Aufzeichnungen hervor—
Goethe- Briefe, herausgegeben von PHiLiPP | geqangen ift, erfddeint die Ginrictung und nord:
Stein. Bd. V. Im neuen Jahrhundert. 1801 : i ; r
bis 1807. Berlin 1904. Verlag von Otto Elsner. folibe. a. ot nS ee
Der neue Band diefer Auswahl aus Gocthes Bricfen :
umfaßt cinen Zeitraum bewegten menſchlichen und »Album lyrique de la France moderne*
tünſtleriſchen Erlebens, cine Beit, da alte Fäden bon Eugene Borel. (Chrestomathie du
fich wirren und zerreißen, neue ſich knüpfen. Die Xlxieme siecle). Neuvieme édition. Avec 31
Franzoſen in Weimar, Schillers Tod, die Feftigung | portraits. Revue et remaniée par Marc-
der Beziehungen yur Homantif — dag find die ent. | A. Jeanjaquet. (Pr. geb. 7 M.) Stuttgart,
ſcheidenden Momente. Die Anmerfungen find dem | Deutſche Verlagsanftalt. Die neunte Auflage diefes
Hediirfnis des gebildeten Laien geſchickt angepaßt. Buches beruht auf ciner gründlichen Neubearbeitung,
Bezuglich der Auswahl wirdman imeingetnen hier und | die vor allem den modernften Stromungen der
da etwas hine inwünſchen oder minder widhtig finden. | franjofifcen Literatur Rechnung tragt. Die aufer:
Im ganzen ift fie auch in diefem Band swedmafig. ordentlich reichhaltige und mit feinem Verſtändnis
/ fai ausgewablte Sammlung reprafentiert tatfachlich die
„Herders Familienleben’ von Karl Mus franzöſiſche Lyrit in ihren eigenartigiten Eridei-
theſius. E. S. Mittler u. Sohn, Königl. Hof— nungen von André Chenier und Victor Hugo bis
buchhandlung. Berlin SW. 12, (Preis 1,25 Mart, | zu Baudelaire, dem Neuromantifern und Sym:
geb. 2,25 Mart.) Unter den Centenarerfceinungen | polijten. Sablreiche Yortraits ber Dichter illu:
der Gerder-viteratur ift dieſes Meine Buch cine ſtrieren die Sammlung. Auch ihre Ausſtattung
der reizvollſten. Es fpiegelt in reinftem Lichte die macht fie au cinem erfreuliden Stiid der Haus
licbensiviirdiqen Sciten ciner Perſönlichkeit, mit bibliothel des Gebildcten.
ber man tingen muh, um durd all das Wunder:
liche, Unausgeglichene, Schladenbafte Den qrandiofen „Kjield.“ Die Veichichte eines Strafenmalers.
Aufriß ibres Lebens gu ſchauen. Wir feben Herder | Bon J. Blider Claufen. Stuttgart. Aref Sunder
alS Kind unter Kindern, ihrem Lebensftil, ibren Verlag. Mit arofier Feinbett tit bier ein ciaen:
Heinen Wichtigkeiten, ihrer Empfänglichteit und | artiger und unbeimlider feelifcher Borgang dargeftclit,
ibren Außerungen ficd anfdmicgend. So fein und die Geſchichte eines irrfinnigen Kuͤnſtlers, deſſen
miibelos, wie der Aſthetiler das Leben und die Seele cine oberflächliche, leichtherzige Frau zerſtort
Sprache kindlicher Urvolter nachempfand, ebenſo bat. Nicht immer erreicht die Darſtellung über
fein und ſicher weiß er ſeine Kinder au charattert: | zeugende Realität, aber in der Anlage und in vielen
fieren, ihr Weſen zu deuten und ausjuipreden. | Hauptzuügen ift die Pſychologie dieſes balb bewußten
Das Verbaltnis des Watten ſcheint freilicy gu iwentg | Yeidens, die Duntle M acht des Erlittenen über dicies
kritiſch aufgefaßt. zerriſſene Leben mit grauſiger Schärfe durchgeführt.
Bücherſchau.
„Oliver Cromwell” von Gam. Raws.
Gardiner, überſetzt von E. KRirdner Bd. XVI
ber hiftorifden Bibliothef. Berlag von R. Olden:
burg, München und Berlin 1903. Die biographiſche
Gharatteriftif Cromwells durch den über died
Gebict am cingehendften orientierten Hiftorifer
Gardiner gebirt zu den beften Leiftungen der
engliſchen Geſchichtſchreibung. Die febr ver—
ftandnisvolle und gewandte Überſetzung trägt
auch das ihrige dazu bei, das Buch zu einem
wertvollen Zuwachs der hiſtoriſchen Bibliothet gu
machen.
„Aus Natur und Geiſteswelt“, Sammlung
wiſſenſchaftlich⸗ gemeinverſtändlicher Darftellungen
aus allen Gebieten ded Wiffens. — 49. Bd.:
„Die Jeſuiten.“ Bon H. Boehmer-Romundt.
Preis geh. 1 Mark, ged: 1,25 Mark. — 48. Bd.:
„Vom Rervenjyjtem, feinem Ban und feiner Be-
Dentung fiir Leib und Seele im gefunden und
franfen Zuſtaude.“ Bon Prof. Dr KR. Zander.
Mit 27 Abbildungen. Preis geb. 1 Mark, geb.
1,25 Mark. — 47. Bd.: ,,Die Tuberfulofe.’ Bon
Dr med. Wilh. Schumburg. Verlag von
UY. G. Teubner. Lcipsig. Die geſchickte Darſtellung
ihres Gegenftandeds (aft alle drei Bandden dem
Swed der Sammlung in ausgescichneter Weile
Dienen.
„Naturwiſſenſchaft und Technik in gemein—
verſtändlichen Gingeldarjtellungen’’, 1. Band:
„Die Phyſik ded täglichen Lebens“. Bon Prof.
Leopold Pfaundler. — Reich illuſtriert. (Geb.
7,50 Mart.)
Wie ſehr unfere matericlle und geiftige Kultur von
Stuttgart, Deutſche Verlags-Anſtalt.
379
bem Forlſchritt ber Naturwiſſenſchaften beherrſcht
wird, das zeigt ſich auch in dem ſteigenden Inter—
eſſe des breiten Laienpublilums fiir dieſe Seite
moderner Lebensbetitigung. Das vorliegende Buch
gibt dieſem Intereſſe in geſchidter Form Nahrung.
Yon den Anwendungen der mechaniſchen Gefege
bid gu den fomplizierten Gebrauchsformen der clef:
triſchen und magnetiſchen Kraft führt es den Lefer,
immer an das Konkrete, Leichtfaßliche anknüpfend.
Zahlreiche Abbildungen unterſtützen die Anſchaulich—
feit. Auch Anregungen ju leichten Erperimenten
wird mancher Lefer gern daraus entnehmen.
Cotta'jdhe Handbibliothek. Hauptwerke der
deutſchen und ausländiſchen ſchönen Literatur in
billigen Einzelausgaben. Nummer 66—82. Stutt⸗
gart und Berlin, Verlag der J. G. Cotta'ſchen
Buchhandlung Nachfolger G. m b. H. Die
„Cotta'ſche Handbibliothel“, bas neue Unternehmen
des Cotta'ſchen Verlags, hat ſoeben eine weitere
wertvolle Bereicherung erfahren. Namentlich wird
es freudig begrüßt werden, daß wieder verſchiedene
Werke, deren ausſchließliches Verlagsrecht der
Cotta'jden Buchhandlung zuſteht, Aufnahme ge—
funden haben, und zwar ſind dieſes Mal Ludwig
Anzengruber, Franz Niſſel, Marie von Ebner—
Eſchenbach uud Otto Roquette vertreten. — Dem
aftuellen Sntereffe fiir Herder fommt eine Neu—
ausgabe der ,,Stimmen der Völker“ entgegen.
Wbring'’s ,Leben Leffings” und ,,Doftor Katzen—
bergerd Badereife” vor Jean Paul jind ficer der
durch dieſe 60 Pfg.Ausgabe ermoglichten Populari:
jation wert. Die Bande find wie die vorber-
gebenden mit Sorgfalt rungs und aus:
geftattet. -
ertrter darail
Bo ewicaw 2
Mundhygienifche Trilogie.
Folgt gutem Rat
Die beſſere Tat
Geht auf — die beſte Saat
(Odol⸗Empfehlung),
(Odol⸗Gebrauch),
(Geſunde und ſchöne Zähne)!
380
fiir Haus und Familie.
Unter ben Erfindungen, die im Qntereffe einer
geſundheitlich einwandfreien Unterfleidung gemacht
find, verdient bas Hera-Rorfett mit Anerfennung ©
ES erfiillt die Dienfte ded |
alten, alS hygieniſch gefährlich verworfenen Rorfetts, |
eS dem Miidgrat cinen feften Halt gibt
und iiberhaupt cin gutes Sitzen auch anſchließender.
Kleider ermöglicht; gleichzeitig aber beengt es Bruft:
forb, Magen und Leber nicht, fo dah die Haupt:
gefabren des alten Rorfetts in gefundbeitlicer
genannt zu werden.
indem
Hinſicht vermieden werden.
Ein ausgezeichnetes Mittel gegen Heiſerkeit
und Huſtenreiz find bie Scheringſchen Malzertrakt—
Präparate. Wenn der flüſſige Malzextrakt, der ſeit
vierzig Jahren eingeführt und ärztlicherſeits anerfannt
iſt, nur fiir die häusliche Behandlung von Hals
befchiverden in Betradt fommen fann, find die
Malstadletten cin gutes Schugmittel gegen Heifers
leit und Huſtenreiz in Theater und Konjert, in Wer:
| fammiungen und bet Bortragen, nicht mur fdr den
| Redner felbft, fondern auch fiir die Subdrer, Die fo
| oft in der unangenehmen Yage find, die Rube in dem
| Saal ſtören gu müſſen. Die Scheringſchen Präparate
zeichnen fic) vor anderen Huſtenmitteln durch den Ruf
der Buverlaffigtcit und anregenden Wirkung aud) auf
den Magen ans. Die Malstabletten enthalten
ca. 75 Progent reinen Waljertraft und find tn
Gläſern gu ca. 100 Sti mit 0,60 Marl zu
erbatten,
— BI S>— ⸗
Liste nen erschienener Biicher.
(Belprehung nad Raum und Gelegenbheit vorbehalten; cine Ricfendung nicht beſprochener Bilder if nicht möglich
Baftier, Baul. Lector à laniversité
de Koenigsberg. La mére de Goethe.
D'apres sa correspondence. ere
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Yudbandlung, Berlin. ‘ — *
Biegler, Leo. (C. Leo.) Reue Ratſel Charlottenburg Berlin W.
flr Grog und Kein, Preis 1,20 Mart. Beginn des neuen Kursus April d. J.
Rarl Minters Univerfitdtsbudhandlung,
Heidelberg 1902. Um 1. Oftober v. J. habe ich mit Genebmigung der
Kal. Regierung das bis dahin Klockowſche Seminar in Char:
lottenburg iibernommen und nad) der
Sette-Verein Niirnberger Strasse 9-10,
3 Minuten vom Untergrundbabnhof Wittenbergplag, verlegt.
__ unter dem Proteftorat Ich leite meine Anftalt nach den Grundſätzen, die mir in
7 meiner elfjabrigen Tatigteit (1891—1902) als Ordinaria und
: eigentliche Leiterin des Crainschen Lehrerinnen-Seminars
ene tit W., ‘ in Berlin mafigebend geweſen find.
to ui e y :
— ae Elisabeth Willigmann, Seminar-Vorjteherin.
a) der dws bes ——— a wide — Se ——
zur Vorbereitung fir dad Auskunft erteilt gütigſt Fräulein Helene ange,
ftaatliche Mandarbeite- a: ;
lehrerinnenramen. Das: Berlin: Halenjee, Bornimerftr. 9.
—* * far ean on SRE TO ae —— father saath balk
erforderlid, welde ſich zur ie fi udiums balber
Juduftrielehrerin auabitoen He rs Jamen, (and voribbergebend) in
wolkn. — Das Seminar ; } 27> Berlin aufzuhalten gedenten, finden
befigt cine cigene Ubungbtlaſſe D. R.P. O4 272. immer mit u. ohne Penfion bei
Fur wiſſenſchaftliche Lehres 9 goldene und andere rau Seemann, Adniagragerfir, 62 LIL
rinnen ZonbderPurfe zur WMedailen, 2 Chrenpreife. — ~~!
Borbereitung jr das Hand⸗
arbeitalebreGramen in ent ⸗
ſprechend kür zerer Zeit.
der Kurſus zur Vorbereitung
fiir bad ftaatliche Haus— |
wirtichafts « Ychrerinnen «
@ramen Dauer 1!'y Jabr).
Schultuche aur bung im
Untertigten vorhanden.
Rahzere Austuntt ſchriſtlich wie
Beſeitigt den ſtarken tAtAt St Ate AY thtAtAS
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Butter zergehen, dünſtet darin
wenig kleingehackten, zarten
Schinken, gibt die vorbereiteten
Eier nebſt einigen zerpflückten
Butterſtückchen dazu und macht
das Rührei ſertig. Beim An—
richten miſcht man 4 bis 5 Tropfen
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ving Echlefien toerden gum 1 April 1906
oder friiber cine Voltsſchullehrerin uno
eine wiſſenſchaftlich geprufte Lehrerin ace
fucht. Hauptſächlich Unterricht im Mittel⸗
und Unterſtufe, auf Wunſch auc Ober⸗
ſtufe Gehalt 1000 bis 1200 Mart,
3, Wily eine bibere Privatſchule in
ber Laufig wird gum 12 April 1904 eine
wiſſenſchaftlich geprufte Lebrerin qefudt.
86 Schulerinnen. Gefamter naturwifjen:
ſchaftlicher Unterricht. Außerdem in
Mittelflafje Franzoſiſch. 26 Stunden
wöchentlich. Gebalt 1200 Mart
4. Wile cine Auratoriumfdule in
Wefipreugen wird zum 1, April 1904 eine
wiſſenſchaftlich gepriifte Lebrerin gejucht,
bie bereits einige Sabre unterrichtet und
befondere Befaͤbigung fiir Rechnen und
Sprachen bat. Giehalt 1200 Wart,
&. Fulr eine Privatſchule in Sachſen⸗
Meiningen wird zum 1, Wypril 1904 ¢ine
wiſſenſchaftlich geyrufte Lebrerin geſucht.
16 Kinder in 2 AMlaſſen in allem Fachern,
aud Engliſch. Turnunterricht wird extra
bejablt, 1,20 Wark die Stunde. Gebalt
G0 bis 1000 Wart. Woblierte Dienſt⸗
wohnung.
6. Flr eine Schule in Scblefier wird
gum 1. April 1904 eine Lehrerin geſucht
fir Hanbarbeiten, Zeichnen und Turnen, in
Oberſtuſe und Seminar; dort auc Fach—
zeichnen file Handarbeiten; Gerätkunde
und Wneatomic fiir Turnen, Gebalt
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Mathieustrasse 13.
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einer großeren Stadt Rorddeutſchlando
wird jum 1, April 1904 eine Lehrerin
mit wiffenfdaftligem Examen geſucht.
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ſucht zum 1. April 1904 cine wiſſenſchaft⸗
lid geprilfte Lehrerin sum Unterrichten
ir 2 Dtadden von und 1241/5 Jabren
n allen Fader, Bedingung vollftandige
Beherrſcung ber franzoſiſchen und eng⸗
liſgen Sprache. Mufit, Zeichnen, Hand⸗
arbeiten erwuuſcht. Gebalt nad Über⸗
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Berantwortlid fix die Redaftion: Helene Lange, Berlin. — Verlag: BW. Mocier Budbandlunag, Berlin S. — Druid: B. Rorjer Buddrucerci, tee
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| 11. —— Heft 7 awa AV. Airil 1904 ab
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Actausacgeben
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—— Lange.
Verlag:
W. Mocler Sudhbandlung.
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Lady Aberdeen.
Bon
Helene Lange.
RNadbrud verboten.
[8 im Dabre 1893 bei der großen Weltausitellung in Chicago der Frauen-Welt-
bund jum erjtenmale ein wirfliches internationales Ynterefje erreqte und, man
oy fann wohl jagen, feine erjten wichtigen internationalen Beziebungen Iniipfte,
da wiblte man als Prajfidentin fiir die nächſten fünf Aabre Lady Aberdeen.
Das Leben diejer Frau, die der internationale Frauenbund vom Jabre 1893
bis jum Kongreß von London 1899 an feiner Spite geſehen bat, ijt ein Leben mit
weitem Horizont, im Stil weltgefdichtlicher Vorginge. Alte Traditionen, durd) die
der Geiſt Shakeſpeareſcher Königsdramen und Scottſcher Romanti€ webt, verfniipfen
fic) mit der politiſchen Tagesgefcichte des modernen England, und die Frau, deren
Lebenswerk cinen Einſchlag in dem großzügigen und vielgeftaltiqen Gewebe der jüngſten
politijden Entwickelung ihres Vaterlandes bildet, ſteht nicht, wie fo mance politiſche
Frau der Gefchichte, hinter den Kuliſſen, fondern auf iby Wirfen fallt das Tageslicht
des öffentlichen Lebens ebenfo hell, wie auf das irgend eines Politifers.
Iſhbel Marjoribanks entitammt einem alten liberalen ſchottiſchen Gefchlecht,
das feinen Urjprung bis auf Robert Bruce hinaufführt. Um ibren Heimatsort in
Inverneßſhire weht die Poeſie alter Hochlandsgeſchichten und romantijder Hochlands—
ſcenen. Zu ihren Vorfahren gehörte die in der Volksüberlieferung viel genannte
Grizel Cochrane, deren Vater einſt unter König Jakob im Gefängnis zu Edinburgh
lag, den Tag erwartend, an dem durch königlichen Boten das Todesurteil von
London gebracht werden würde. Grizel Cochrane ergriff die einzige Gelegenheit, die
ihr blieb, ihren Vater zu retten; als Wegelagerer verkleidet, überfiel ſie den königlichen
25
386 Lady Wberbeen.
Boten und zwang ibn, das Todedsurteil herauszugeben; der Aufſchub, den fie dadurch
fiir ibren Vater gewann, rettete ibm in der Tat das Leben. Auch mit einem alten
iriſchen Gefchlecht war die Familie verwandtſchaftlich verknüpft. — Der Vater von Jfbbel
Marjoribanks vertrat dreißig Jabre lang die fehottifehe Stadt BVerwid im Parlament;
er war cin iiberjeugter Anhänger der liberalen Partei, dabei voller naturwijjenicbaft-
licher Intereſſen und von einer Gaſtfreundſchaft, die in jedem Commer Politifer,
Gelebrte und Künſtler in feinem romantiſchen Beſitztum vereinigte. Hier knüpfte ſich
Die Freundſchaft der Fleinen Ajhbel mit dem grofen Gladjtone, der dem lebhaften und
von den vielfeitigiten Intereſſen erfiillten jungen Mädchen von Anfang an cine vater-
liche Freundſchaft entgegenbrachte. Die Ungebundenbeit eines echten Hoclandfindes,
das in allen Wobnungen der Gutsangehirigen zu Hauſe war, den Wildbiitern des
Vaters bei ibrer Arbeit half und Berge und Welder auf ibrem Pony durchſtreifte,
wechſelte mit den Eindrücken der jährlichen parlamentariſchen Saiſon in London. Und
während die Eleine Iſhbel im innigiten Zuſammenleben mit der grofartigen Natur ibrer
Hochlandsheimat unverwiijtliche Lebenskraft und Lebensenergie trank, wedte zugleich
der Verfebr mit den politifchen Freunden ibres Vaters jenen lebendigen liberalen Geijt
in ibr, der ihr fpateres Wirfen fo ganz und gar durddrang. Im Hauje des Vaters,
das Den Angebirigen der verſchiedenſten Konfeffionen ein geijtiger Mittelpunft war,
lernte fie zugleich jene Kunſt, über die fonfeffionellen Gegenjage binweg nur den
Menſchen zu feben und auf diefer Grundlage menſchlichen Verſtehens die verſchiedenſten
Meinungen yu vereinigen, eine Kunſt, die für ihre ſpätere Stellung von fo groper
Bedeutung werden follte.
Ws Iſhbel Marjoribanks zwanzig Sabre alt war, im Jahre 1877, verbeiratete fie ſich
mit Lord Aberdeen, dem Enkel des befannten engliſchen Premierminijters aus der Mitte
des vorigen Jahrhunderts. Durch den Tod ſeines alteren Bruders war Lord Uberdeen
im Jahre 1870 Mitglied des engliſchen Oberbaujes geworden, in dem er zwar Feine
prononcierte politiſche Parteiſtellung einnabm, aber dod, den Traditionen feines
Hauſes entiprechend, von den Konſervativen zu den ihren gerecnet wurde, Seine
politiſchen Aberzeugungen jedoch zogen ibn mebr und mebr auf die Seite der Liberalen,
und die Freundſchaft mit Gladjtone diente dazu, diefer Neiqung mit der Zeit ent:
jcbeidende Bedeutung zu geben. Die Croberungspolitif der Regierung in der
afghaniſchen Frage trieh ihn vollends auf die Seite der Oppofition, und als im Jabre
1880 Lord Beaconsfield mit der ficheren Hoffnung auf cinen glänzenden Sieg Der
Tories Neuwabhlen anjeste, nabm Lord Aberdeen yum erſtenmale feinen Sig unter der
liberalen Partei des Oberbaufed ein, trogdem aud) die Whigs an der Ritdfebr des
fonfervativen Minijteriums faum jtveifelten. Die Energie, mit der die liberale Partei
nnter Gladjtones unermiidlicher Jnitiative den Wablfampf fiibrte, hatte den unerwarteten
Erfolg, dah die Liberalen Parteien über hundert Sige gewannen und über eine anſehn—
liche Majorität in dem neuen Parlament geboten.
Die Art, wie die junge Gräfin ibre Aufgabe dem Hauje und der Gefellfchayt
gegeniiber von Unfang an auffafte, läßt fich vielleicht am beſten charakteriſieren mit
Den Worten, Die fie felbjt gelegentlidy der Begründung eines Frauenverbandes gefaat
bat: , Wenn man davon fprict, dah die häuslichen Pflichten den Sffentlichen wider:
ftreben, fo liegt gewiß eine falſche MWuffajjung von dem zu qrunde, was das Haus
ſein ſoll. Die Fabigkeit, cin rechtes Heim zu febaffen, bedingt eine weite und freie
Muffaffung des Lebens; es genügt nicht fiir die Herrinnen unferer Heime, einen
Lady Aberdeen. 887
SZauberfreig um ein paar Menſchen und ibr Leben zu ziehen und nur an ibre
Bequemlichkeit und ihr Glück zu denfen; die das tun, werden gewif finden, daß fie
ibr Siel verfeblt baben. Gerade um derer willen, die uns am nächſten und liebften
jind, miiffen wir wiſſen, wie das Leben wirklich ift, feine Sorgen und Schwierigkeiten
fennen; wit müſſen alles wijjen von den Wegen, auf denen unjere Lieben einft geben
werden. Wenn wir uns nicht um die kümmern, die auferbalb unſeres Hauſes find,
wenn wir nicht diefen Ruf nach der Mutter nicht allein in unjerem Hauſe hören,
fondern in dem fozialen und nationalen Leben unſeres Landed, fo werden vielleidt
unfere eigenen Kinder die Folgen davon zu tragen haben, daß wir gegen diefen Ruf
qleichgiltiq waren.”
Yady Aberdeens erjted Werf war die Begriindung cines Vereins unter den
Vandarbeiterinnen und Landarbeitersfrauen, der den charakteriſtiſchen Namen der „Auf—
warts: und Vorwärtsvereinigung“ erbielt. In diefem Bereine fuchte fie ihr Ideal
pon der Bedeutung der Frauen im fozialen Leben zuerſt yu verwirklichen. Sie ver-
juchte Klaſſengegenſätze zu fiberbriiden, indem fie von all dem geijtiqen Beſitz, den das
Yeben den Bevorzugten in reichem Maße zukommen läßt, foviel fie vermochte, binaus-
gab, um unter den minder Begünſtigten reinere Freuden, geiftigere Genußfähigkeit yu
verbreiten. Cine fleine Seitjerift, die unter demfelben Titel , Mufwarts und Vorwarts”
von ibr herausgegeben wurde, gibt eine lebendige Vorjtellung davon, in welchem Sinne
freundſchaftlicher Teilnabme ſolche Volksbildungsbeſtrebungen mit wirklichem Crfolge
geleitet werden können; da wird über die einfachen Fragen des alltäglichen Lebens
geſprochen, da werden kleine Erfahrungen in Haus und Familie oder im einfachſten
kleinen Arbeitskreiſe in das Licht einer ſchlichten und dabei doch edlen und
vornehmen Ethik gerückt, da wird jene wurzelkräftige Religioſität gepflegt, deren erſtes
Gebot die Hingabe der eigenen Kraft im Dienſte des andern iſt. Von demſelben
Geiſt geleitet iſt ein Klub, in dem Lady Aberdeen regelmäßig das ganze Dienſt—
botenperſonal ihres umfaſſenden Haushaltes verſammelt, ſei es zu Vorträgen oder
Diskuſſionen, ſei es zu gemeinſamer Lektüre oder zu allerlei Aufführungen und
geſelligen Unterhaltungen, und es gibt vielleicht kein ſchöneres Zeugnis für das Leben
in Haddo-Houſe als der begeiſterte Ausruf eines Dieners: „Hier kann man ein Diener
ſein und doch ein Menſch.“ Im Anſchluß an ihre Arbeit in der Onward and
Upward Association gründete ſie im Jahre 1883 einen Frauenverein zur Fürſorge
für junge Mädchen, der außer einer Stellenvermittlung und einer Ausbildungsanſtalt
für Dienſtboten ein Heim und einen Klub für Arbeiterinnen umfaßte, ſich beſonders
der kleinen Halbtags-Fabrikarbeiterinnen annahm und eine planmäßige Organiſation
der Auswanderung von Frauen in Angriff nahm.
Als im Anfang des Jahres 1886 das konſervative Kabinett nach kurzer Herr—
ſchaft geſtürzt wurde und Gladſtone im Alter von 76 Jahren nod einmal an die
Spitze der Regierung kam, berief er Lord Aberdeen zum Vizekönig von Irland. Auf
Irland richtete ſich damals das ganze politiſche Intereſſe; die Irland-Politik war
geradezu der Inhalt des Gladſtone'ſchen Programms. Die Stellung des Bizekönigs
von Irland war nicht nur gegenüber dem engliſchen Parlament und dem engliſchen
Voll, ſondern auch im Verhältnis zur iriſchen Bevölkerung die denkbar ſchwierigſte.
Man muß ſich vergegenwärtigen, daß erſt vier Jahre ſeit der Ermordung des Ver—
treters der engliſchen Regierung, Lord Cavendiſh, vorüber waren; dieſe Jahre waren
ausgefüllt von Attentaten der Fenier, denen nicht anders als mit ſcharfen Repreſſiv—
25*
388 Lady Aberdeen.
mafregeln der engliſchen Regierung begeqnet werden fonnte. Es war die ett eben
voriiber, wo die revolutiondire Bewegung der Irländer yu gefeslichen und polizeilicen
Maßnahmen gefiihrt hatte, wie fie feit Rinig Heinrich VIII., wie man fagte, gegen
britifecbe Untertanen nicht angewandt worden waren. Waren auch die duferen Rund-
gebungen der aufſtändiſchen Clemente juriidgebalten, fo qrollte dod der Haß und de
Empörung gegen die engliſchen Macthaber unter der Oberfläche iveiter, und vergeblich
hatte der Vorgdnger von Lord Aberdeen im Gegenſatz jum Minijterium Salisbury,
das cin ſcharfes Vorgehen befiirwortete, verfucht, durch möglichſte Milde die Kluft
zwiſchen Volk und Regierung zu itberbriiden. Er war, ſchon ehe das Minifterinm
Gladjtone zuſammentrat, an ſeiner Aufgabe veryweifelnd won feinem Amte yuri:
qetreten. Als Lord und Lady Aberdeen in das Schloß von Dublin cingogen, ftand
die national-irifdse Partei, die das Volk beherrſchte, ibnen fo ablehnend gegeniiber,
wie allen andern Regierung3vertretern vor ibnen. Wber es dauerte nicht Lange, da
änderte fics die Stimmung. Es herrſchte in dem Jahre in dem weſtlichen Teile von
Srland ganz bejonders große Not, fodaf von feiten der Regierung Maßnahmen da:
gegen ergriffen werden mußten. Lord Aberdeen regte nun an, dah der Lord Maver
in Dublin cine Verfammlung zur Beratung iiber die Notſtände cinberufen jolle und
ſchlug durch dicje Anrequng die erite Bride siwifcen dem Schloß und dem Rathaus
pon Dublin. Aber er ging nod) weiter; trop’ der dringenden Abmabhnungen aller
engliſch gefinnten Rreife teilte Yord Aberdeen dem Lord Mavor mit, dap er und feine
Gattin an diefer Verſammlung teilnehmen würden, swar nicht in offizieller Eigenſchaft,
fondern als Birger der Stadt Dublin. Der Erfolg zeigte, daß er mit feinem kühnen
Vertrauen auf die Wirfung eines teilnehmenden und freundfehaftlichen EntgegenFommens
techt gebabt hatte; alle die Befiirdtungen, dak es yu Rundgebungen gegen den Vise:
könig und die Vizekönigin fonunen könnte, deren Wirfungen nicht wieder qut zu machen
fein witrden, erwieſen fic) als qrundlos. Im Gegenteil, als Lord und Lady Aberdeen
vor dem Rathaufe abjtieqen, begrüßten zum erjtenmale den englijchen Bertreter dic
Hochrufe de3 iriſchen Volks, und als gar Lord Aberdeen ſich durd) den Lord Mayor
mit einem der iriſchen Führer, der bereits feine Zuchthausſtrafe in Portland binter tid
hatte, befannt machen lich, da waren zwar die Unionijten in Wejtminiter Hall entiett,
aber dad iriſche Volk fafte yum erſtenmale Bertrauen zu der Lovalitdt umd dem
Viberalismus der engliſchen Regierung und erinnerte fich vielleicht auch, da Die Vize—
finigin durd alte Stammesbrüderſchaft mit der Geſchichte von Irland engverknüpft
war, Jedenfalls war die Rolle der Vizefdnigin fiir die Aufgabe der Verſöhnung
zwiſchen England und Irland von eminenter Bedeutung. Die VBegeijterung, Die ibre
Perſönlichkeit überall erwedte, bat, wie von Cingeweihten verſichert wird, „mehr Mög—
lichkeiten zur Beſchwichtigung der iriſchen Bevölkerung aufgedeckt, als alle die Ver—
waltungsmaßregeln der engliſchen Politik.“ Das Schloß wurde geradezu wieder zu
einem Mittelpunkt des nationalirifden Lebens. Aber die Tätigkeit von Lady Aberdeen
beftand nicht mur darin, Die politiſchen offiziellen Besiehungen mit der Warme und
Gute ibrer Perſönlichkeit yu durchdringen, fondern fie erfannte flar, dak dem Nativnal:
haß ver allem aud durdy Förderung der materictlen Intereſſen des Landes Der Boden
entyogen werden müſſe, und fo entfaltete fie eine rege und ſozialpolitiſch augerordent-
lich wirffame Tatigfeit yur Hebung der iriſchen Andujtrien. Der iriſchen Spitzen—
indujirie wurde hauptſächlich unter ihrem Einfluß der Weltmarft erſchloſſen, und die
Mittel, die zur Wiederbelebung der Arbeitstraft und Arbeitsfabigfeit ded werarmten
tne,
5
Lady Aberdeen. 389
Landes nötig waren, wurden zum nicht geringen Teil vom Vizekönig felbjt zur Ver—
fügung geftellt.
Alles, was Lord und Lady Aberdeen für Jrland getan haben, drängte fich in
den kurzen Seitraum von ſechs ‘Monaten zuſammen. Unterdeſſen war im Parlament
—*
Lady Aberdeen.
die von Gladftone eingebradte Arland-Borlage, die den Jren, dem Programme der
Home-Rulers entiprechend, ein cigenes Parlament in Dublin fichern follte, fie aber
dafiir von der Vertretung im englifden Parlament ausſchloß, gefallen, fo dak Gladjtone
suriidtrat und Lord Aberdeen abberujen wurde. Wber die RKundgebungen des Volfes
beim Abzug des vizeköniglichen Paares jeigten, dah feine Arbeit, wenn auch kurz, doch
390 Lady Aberdeen.
nicht vergeblich geweſen war; zum erftenmale fpielten die iriſchen Dtufiffapellen, von
den begeifterten Zurufen des Volfes begleitet, die englifdre National-Hymne.
Die folgenden Jahre, in denen Lord Aberdeen durch feinen Verwaltungspoften
in Anſpruch qenommen war, widmete Lady Aberdeen um fo intenfiver den Aufgaben,
Die fie vor ihrer Berufung nach Jrland begonnen hatte. Cie arbeitete vor allem in
der bereits feit 1881 beſtehenden, aber erjt allmablich yu fefter nationaler Organijation
gelangten grofen politifden Vereiniqung der liberalen Frauen Englands und Schottlands.
Die erjte Fiibrerin des liberalen Frauenbundes war Catherine Gladjtone, die
Gattin des liberalen Führers, gewefen; aber von den erften Tagen an, in denen
fie die Begriindung eines großen politiſchen Frauenvereins auf ibre ſchon vom Alter
geſchwächten Schultern nabm, war Lady Aberdeen ihre rechte Gand. „Kein ſchöneres
Bild gemeinfamer Arbeit”, fo berichtet eine Mitarbeiterin, „hat die Gefchichte der
Frauenbewegung in England aufzuweiſen, als das Verhialtnis diefer beiden Frauen zu
cinander, wie es fid) bei den grofen sffentlidien Verfammlungen des Bundes der
fiberalen Frauen, denen Lady Aberdeen priifidierte, det Offentlichfeit darbot. Die be:
jabrte Führerin des Bundes, die yur Seite des Präſidentenpultes fap, vielleicht cin
wenig müde von den unaufhörlichen Anfpriichen an ibre Zeit und ibre Kraft, ibre
ſchönen lebbaften Augen jedod) mit unverhoblenem Stolz auf die Freundin geridstet,
auf die fie ſich verließ und von der fie abbing, und dann die zarte Fürſorge und Ver:
ehrung, welche jeden Blid und jedes Wort der lebendigen und begabten Frau am
Prafidentenpult durchdrang; und fie ſelbſt fo ſtark in ihrer jugendlichen Friſche, und doch fo
weid) und fo liebenswürdig, die Die Frauen fo unbeirrt vorwärts führte und doch verfuchte,
felbjt im Hintergrunde zu bleiben. Solche kleinen Szenen fommen cinem in die Erinnerung
zurück fiber die Lange Reibe von Jahren, und fie adelten dic Frauenbewequng, fie
ſchlugen einen Ton von Kameradſchaft, gemeinfamer Arbeit und Freundſchaft an, der
in den Reiben der Frauen bis heute fein Echo findet.”
Die Organifation der fiberalen Frauen von Schottland ijt von Anfang an
der Jnitiative von Lady Aberdeen yu verdanfen. Am Wir; 1889 wurde der Bund
fiir Weft-Scbottland unter ibrem Vorſitz fonftituiert; die Frauen im Often des Landes
fdloffen fid) bald an, und im Sabre 1890 wurde die Scottish Women's Liberal
Federation gegriindet, deren Vorſitz Lady Aberdeen zunächſt bis zum Jabre 1894 fiibrte.
Bur Leitung beider Verbande ijt Lady Aberdeen nad) ihrer Riidfehr von Canada
wieder berufen worden.
fiber die Arbeit und die Stellung der großen Liberalen Frauenverbande von
England und Schottland geben ſowohl die Berichte über ihre Verſammlungen, als
aud ibr Organ aud) dem Ausländer cinigermagen ein Bild. Die liberalen Frauen:
verbinde unterſcheiden ſich dadurd von dem bereits friiber gegriindeten großen
fonjervativen Verband der Frauen, daß fie nicht nur die Frauen zu willenlofen, aber
um fo fanatifecberen Werkzeugen der Partet mobil machen wollen, fondern dak fie
ibre Ziele fic) vielmebr unter dem Geſichtspunkt der politiſchen Erziehung der Frau
zu felbjtindigem Intereſſe und ſelbſtändigem politifcen Urteil gefest haben. Die
liberalen Frauenvercine haben ftatutenmapig neben ihrem einen Swed, für die Siecle
des engliſchen Liberalismus yu fimpfen, den zweiten, cine gerechte Geſetzgebung für Frauen
und Kinder durchzufegen, und durch diefen zweiten Gefichtspunkt ijt ibre Stellung—
nabme yu fo manchen politijden Ereigniſſen beftimmt worden. Unter allen Umſtänden
gehörte, das zeigen die Verhandlungen des liberalen Frauenbundes oft genug, gany
= =~
Lady Aberdeen. 391
befondere politiſche Befonnenbeit dazu, wm dieſe beiden Zwecke gegebenenfalls ju
vereinigen und nicht cinen binter Dem anderen juriidtreten yu laſſen. So bat 3. B.
der liberale Frauenbund in den Verhandlungen über das Unterrichtagefeg, die die
letzten parlamentarifcben Seffionen erfiillten, mit grofer Energie gegen die Nbertragung
der Unterrichtsverwaltung an die Grafſchaftsräte Front gemacht, weil in den Grafſchafts—
räten Frauen nod feine Vertretung haben und fie deshalb yu den neuen Behörden
höchſtens als fooptierte Cachverftandige obne Stimmrecht zugezogen werden fonnten.
Im ſüdafrikaniſchen Rriege bat der liberale Frauenbund von Anfang an den Stand-
punft möglichſt groper Milde vertreten und wiederbolt, 3. B. in der Angelegenbeit
der Konjentrationslager, ber Verbrennung der Farmen und des Todesurteils über
den General Rriginger energiſche Protejte gegen das Vorgebhen der Regierung erhoben.
Auch die Art des Einfluſſes, den Lady Wherdeen als Vorſitzende dieſer Leiden
politiſch außerordentlich bedeutjamen liberalen Frauen: Organifationen geiibt bat,
michte id) mit den Worten ibrer Mitarbeiterinnen charafterifieren: „Sie war,” fo,
febreibt cin Mitglied deS ſchottiſchen Frauenbundes, ,,diejenige, von der die Jnitiative
ausging, mit ibren hohen Jdealen, ihrer felbjtlofen Hingabe und unermüdlichen Treue
fiir die Intereſſen des Verbandes. Alle diefe Cigenfcbaften und die Anmut ibres Wuf-
treten$ gaben den Eröffnungsreden der Verfammlungen den Grundton, der den jähr—
lichen Zuſammenkünften des Berbandes cine gebobene Stimmung verlich. Die große
Gerechtigkeit, mit der fie jedem Mitglied des Verbandes entgegenfam, madhte die Arbeit
unter ibrer Führung leicht; die Großzügigkeit ibres Wefens, ihre weiten und freien An-
ſchauungen von den Möglichkeiten des Lebens und dabei ibre auferordentlide Geduld
bei manchmal ermiidender Rleinarbeit und ibre niemals verjagende Liebenswürdigkeit
machte die Arbeit su einem Genuß. Sie verbindet ein rubiges Urteil mit tiefem und
intenfivem Enthuſiasmus; und eine lebendige Teilnabme fiir alles, was traurig, forgen-
voll und hilfsbedürftig ijt, trigt in ibre dffentlichen Rundgebungen den Herzenston
eines aufrichtigen Anwalts feiner Sache.” „Das Gebeinuis ibres grofen Einfluſſes“,
ſchreibt cine englifche Mitarbeiterin, liegt vielleicht in jener jeltenen Verbindung von
Weichbeit und Kraft, die fie in fo befonderem Sinne darjtellt, aber durch jedes Wort
und durch jede Handlung feblingt ſich wie ein jilberner Faden eine vornehme Ver—
achtung fiir alles, was Schein und RKleinlichfeit ift, und cine ſchöne Wahrhaftigkeit, die
aller Zuneigung gewinnt und diejem wertvollen Leben das Gepräge echter Weiblich-
Feit gibt.”
Im Jabre 1894 wurde Lord Aberdeen bei der Rehabilitation des liberalen
Rabinetts zum Generalgouverneur von Kanada ernannt und nahm dieje Stellung
fiinf Sabre, bis 1899, ein. Auch bier, in dem von nationalen und fonfeffionellen
Begenfagen vielfach zerfpaltenen Staatswefen, in dem die Kluft zwiſchen romaniſchem
und angelſächſiſchem Weſen ſchier uniiberbriidbar durd) Gefellichaft, Kirche, geiftige
Kultur und politiſche Anſchauungen jfebneidet, gab es fiir Ladv Aberdeen eine Reibe
großer und bedeutungsvoller Aufgaben. Wie fle ſich den Verhältniſſen anpafte und
in dem Kreiſe, in den fie geftellt war, gerade dad ſchuf, wozu Die Vorbedingungen
wirklich gegeben waren und was fiir die nächſte Entwidlung das widhtigite und
fruchtharfte war, dag zeigt das Aufblühen des fanadijden Fraucnbundes unter ibrer
Leitung und Mitarbeit. Mus all den Anfpraden, mit denen fle die Reugqriindungen
von lofalen Organijationen des Bundes eröffnet hat, fiiblen wir das Bejtreben
heraus, alle heranzuziehen, jedem in feinen befonderen Anjichten und feinen befonderen
302 Yady Aberdeen.
Leiftungen gerecht zu werden und über alle Verſchiedenheiten hinweg das Band reinen
und ſchönen menjehlichen Mitgefithls zu knüpfen, die edle Freude an gegenfettiqer
Hilfe und gemeinfamer Arbeit zu pflegen. Es ijt ihr gelungen, den fanadifden
Arauenbund ju einer wirklichen Vertretung der fosialen Frauenarbeit verſchiedenſter
Richtungen zu machen, wd ein von iby verjaptes Flugblatt , Was der Nationalbimd
der Frauen von Kanada bedeutet und was er tut,” zeigt am bejten, auf cine wie
weite Baſis fie die Bundesarbeit zu gründen verftanden bat. Rein Sweig ſozialer
und fostalpolitijcber Arbeit, von Kochſchulen und Hofpitalern bis yur Anjtelung von
Fabrikinſpektorinnen und zu Arbeiterinnenſchutzgeſetzen, von Mäßigkeitsbeſtrebungen bis
zu gewerblichen Bildungsanſtalten für Frauen fehlt in dem großen Programm, das
dieſes Flugblatt vor uns aufrollt. Dieſe ganze Arbeit wird getragen von dem
Geiſt echter Mütterlichkeit, die ihre Pflichten nicht innerhalb des Hauſes ſich erſchöpfen
ſieht, ſondern den Blick voll warmer helfender Liebe herausſchickt zu all denen, die
der Mütterlichkeit der Geſellſchaft bedürfen, aber ſie wird auch von dem klaren Blick
geleitet, der die tatſächlichen Bedingungen überſieht, auf denen das Wohl und Wehe der
Geſellſchaft beruht.
Wie ſchwierig die Verhältniſſe in Canada lagen, und wie hoch man in den
beteiligten Kreiſen den Einfluß von Lady Aberdeen auf die Verſchmelzung der beiden
nationalen Elemente anſchlug, iſt bereits früher einmal in einem Artikel der „Frau“
über „Canadiſche Frauen einſt und jest” dargeſtellt worden (Dezemberheft 1699).
Ich möchte zur Ergänzung auf die Ausführungen der aus eigener Anſchauung
—— Verfaſſerin zurückgreifen:
„Bis jetzt kamen auch in der guten Geſellſchaft der großen Städte die engliſchen
und franzöſiſchen Kreiſe in keine nennenswerte Berührung mit einander. Den erſten
energiſchen Verſuch, wenigſtens unter den Frauen beider Nationen mehr Verſtändnis
und Zuſammengehn anzubahnen, hat kürzlich Lady Aberdeen gemacht, die Gattin des
Gouverneurs von Canada. Mit ungewöhnlicher Begabung fir parlamentariſche und
organiſatoriſche Arbeit ausgeſtattet, hat dieſe hervorragende Frau es verſtanden, ihre
Stellung zu benutzen, wm Geſichts- und Machtkreis der Frauen in der ganzen Kolonie
zu erweitern. Sie iſt die Seele aller gemeinnützigen Beſtrebungen im Lande, und wenn
ſich ihre Tätigkeit auch vorerſt auf den engliſchen Teil der Bevölkerung gerichtet hat,
ſo zeigt doch die Gründung eines beiden Nationen gemeinſamen Frauenklubs, daß ſie
ſich das Ziel geſetzt bat, quch bier zu vermitteln. Im Chateau de Ramzay yu Montreal,
dem Altertumsmuſeum en herbe, kommt die Geſellſchaft bei Bewirtung, Muſik und
Vortragen nun regelmäßig zuſammen, und wenn die Leiden Nationen fich dabei bis
jest auch nod nicht recht verſchmelzen wollen, fo ijt doch cin Anfang gemacht und ein
neutrales Gebiet gefebarfen worden. — Wenn irgend jemand, fo wird os Lady Aberdeen
qelingen, die Urbeitsfraft auch der franzöſiſchen Canadierinnen in den Dienft des
Gemeinwohls zu ſtellen.“
In dem gleichen Geiſte hat Lady Aberdeen ihres Amtes als Vorſitzende des
Frauen-Weltbundes gewaltet; den Geiſt aufrichtiger und erhebender Gemeinfamfeit des
Wollens und der Ziele haben alle gefühlt, die mit ihr zur Förderung der inter—
nationalen Verbindung der Frauen gearbeitet haben. Bei allen unvermeidlichen si
faigen bat ibre gerechte und fiir die Sache begeiiterte Leitung einen Weg der Ve
einiqung gefunden, und wenn fie als Vorſitzende der Seftion des ———
Die Der Friedensbewegung dienen ſoll, die große Demonſtration bet dem Londoner
Der Allgemeine HOcimarbeiterfaug : Kongreß. 393
Kongreß eröffnete und leitete, fo fühlte man auch hier, wie hinter der Cinficht und
Erfabrung der praktiſchen Politiferin jene miitterliche und weibliche Warme wont,
die dad tiefe Wort der Antigone: „nicht mit zu haſſen, mit yu lieben bin ich da”,
aud in den Geſchicken der Boilfer und den Beziehungen der Staaten zur Geltung
bringen möchte.
Der Junternationale Kongreß in Berlin, auf den fich jest die Aufmerkſamkeit der
deutfehen Frauen mehr und mehr rictet, wird Lady Aberdeen auc) yu uns fiibren,
Cine Perjinlichfeit wie die ibre wird ficher in hohem Maß dazu beitragen, dem Gee
danfen einer internationalen Gemeinfamfeit der Frauen die Herzen zu gewinnen.
Se
Ver Allgemeine heimarbeiterschutz -Kongress.
Bon
Dr Robert Wilbrandt.
— -
Nachdrud verboten.
en Leſerinnen und Leſern dieſer Zeitſchrift ift fohon mebrmals das Elend der
Hausindujtrie nabe gebracht worden.) Aufſätze von Hans Grandfe, von
Helene Lange, von Alice Salomon und von mir haben durch Schilderungen dieſes
Elends an Ger; und Gewiljen und durch Erwagungen der zweckmäßigſten Neformen an
den Rovf appelliert. Es ift daber hier nicht nötig, die Notwendigkeit cines Heim:
arbeiterfduges und die Schwierigkeit, das Rechte zu treffen, nochmals auseinander ju
jeben. Die Vorausfepungen zur richtigen Witrdigung des Kongreſſes, der am 7., 8.
und 9. März im Gewerkſchaftshaus ju Berlin tagte, find beim Leferkreis der ,, Frau“
yon vornberein gegeben.
Der Kongref ijt von den Gewerkfchaften Deutfchlands einberufen worden. Auf
dem letzten Gewerkſchaftskongreß war nad einem Referat von Käming, einem der
Leiter des Schneiderverbandes, obne Debatte cine Refolution angenommen worden,
welde als Siel ein völliges Verbot der Heimarbeit aujfftellte und als Nbergangssujtand
cine Reihe von Magfregeln, vornehmlich yur Bekämpfung der Heimarbeit, forderte. Zu—
gleich wurde der Generalfommiffion der Gewerkſchaften der Auftrag gegeben, cinen
Heimarbeiterſchutz Kongreß einzuberufen.
Wie weit bei jenem Beſchluß an die Mitarbeit „bürgerlicher“ Sozialpolitiker
bereits gedacht worden iſt, weiß ich nicht zu ſagen. Jedenfalls hat ſich der Kongreß
nun zu einem ſchönen, bisher einzigartigen und eindrucksvollen Zuſammenarbeiten
politiſch getrennter Sozialreformer geſtaltet. Die „roten“ Gewerkſchaften übertrugen
von vornherein den Vorſitz des Kongreſſes neben zweien ihrer Führer Herrn Profeſſor
Francke, dem Herausgeber der „Socialen Praxis“, welche als Centralblatt der nicht—
ſozialdemokratiſchen Reformer bekannt iſt. Damit war ein über alle Erwartung günſtiger
) Jahrgang I, S. 170, 237; III, S. 356; IX, S. 257.
394 Der Allgemeine Heimarbeiterſchutz-Kongreß.
Boden gemeinfamen Arbeitens gegeben. Das Entgegenfommen fiir die biirgerlicen
Organifationen wurde durch Cinladung des Hogienifers Prof. Sommerfeld zu einem
einleitenden Referat und ant zweiten Verbandlungstage aufs nene durch den Beſchluß
zum Ausdruck gebracht, daß fortan abwechſelnd je cin Vertreter det proletarijdsen und
je ein Vertreter der biirgerlichen Ceite zu Worte fommen follte, damit den Gäſten voll
Gelegenbeit fic auszufpreden gegeben werde. Die Durchfiihrung des Beſchluſſes
brachte eine Anzahl von Arbeitervertretern um die Moglichfeit, die befonderen Schaden
der Heimarbeit in ibrem Geiverbe ju ſchildern. Trogdem wurde der Beſchluß unter
lebbafter Sujtimmung der Urbeitervertreter aufrecht erbalten. Und am Abend des
Dritten Tages war es wieder der biirgerlicde Profeffor Frande, dem es iibertragen
wurde, den Gefamt-Cindrud des Kongreſſes in einem warmen Schlußwort zuſammen—
zufaſſen und zu weiterer gemeinjamer WArbeit aufjufordern. Lebbafter Beifall gab dazu
die allgemeine Zuſtimmung.
Ich glaube, der Kongreß muß auch) auf die cinen Cindrud gemadt baben, dic
ibm ablebnend fern geblieben find: die Regierung und die ,,braven Kinder”, die chriſt—
lichen Arbeitervereine. Mögen die Griinde des Fernbleibens welche immer gewefen
fein — anf jeden Fall mup die Cinmiitigfeit der Verjammlung gezeigt baben, daß es
fic hier nicht um eine Parteiface, fondern um eine Cache des ganzen Volfes, um
cine Sache der Menjfcblichfeit und des Gewiſſens handelt. :
p viele Arzte, viele Heilmittel” konnte die Berliner Zeitung mit Rect einen ibrer
Berichte überſchreiben. Und dennod wurde am Schluß die von einer Rommifjion aus
mebreren Entwiirfen und Anträgen jufanmmengearbeitete Rejolution einftimmig ange:
nommen. Cie war der Ausdruck dafiir, dah etwas geſchehen miiffe, und daß man zwar nicht
in allen Einzelheiten, aber doch in den Grundlinien cinig fei.
Die Entwickelung diefer Refolution von jenem Gewerkſchaftskongreß bis yum
lester Tage des Heimarbeiterſchutz-Kongreſſes ijt ein intereffanter Beitrag zur Geſchichte
Der Ideen. Während in jener erſten Refolution der Gedanke eines Zwanges yu Tarif:
vertrigen überhaupt nicht vorhanden und daber auch in dem neuen Entwurf nicht gu
erivarten war, fand ich ibn bier yu meiner Freude, wenn and) weit unten, verfteckt
hinter hygieniſchen Vorfehriften zum Schutz der Konfumenten und zögernd nadhtrottend
nad Borfebriften iiber den Arbeitsraum, welche einem Verbot der Heimarbeit fast
gleichkommen. Yn der endgiltiq beſchloſſenen Refolution aber fteht der Zwang jum Ab—
ſchluß won rechtsverbindlichen Mindejt-Stiidlobn-Tarifen an erfter Stelle, als das
Wichtigſte, als der eigentliche Oeimarbeiterfdus, der gefordert wird.
„Und das bat mit ibrem Cingen die Lorelei getan.”
Nicht daß ich diefe Lorelei ware, Much nicht Frl. Dyhrenfurth und Frl. Salomon,
die ſchon Lange diefen Gedanfen vertreten. Aber dadurch, dak von bürgerlicher Seite
dieſer ,radifale”, weil ungewobnte, Gedanfe immer und immer wieder vertreten wurde,
dah Profefforen ibn aufnahmen und das Vorbild Mujtraliens priefen, dadurch ift die
immanente Vernunft dieſer Idee doch auf ihrem Siegeszug vorwärts geführt worden,
während ſie ſonſt vielleicht noch immer auf Anerkennung warten müßte.
So war es denn für die alten Freunde dieſes Gedankens ein ergötzliches, über—
raſchendes und zu froher Zuverſicht ſtimmendes Schauſpiel, was für neue Freunde er
gewann, wie die bekehrte Skepſis ihn an die erſte Stelle zu ſetzen empfahl und die
ihm früher gänzlich fremde ſchweigende Verneinung nun die beſondere Freude ausſprach,
daß ſich gegen dieſen Gedanken kein Widerſpruch erhoben habe.
Der Allgemeine Heimarbeiterſchutz-Kongreß. 395
Es ijt kaum nötig, auf die übrigen Punfte der zuletzt beſchloſſenen Refolution
einjugeben. Was nun als Ergebnis dieſes Kongreſſes vorliegt, dad ijt nod nidt ein
Lange und gründlich durchgearbeitetes Programm jur Löſung des fogialpolitifehen
Problems Heimarbeit, fondern cin Mabnruf an die Gefesgebung, dah etwas geſchehen
müſſe und daß etwas gefdeben finne. Da cine jtindige Rommiffion zur Weiter:
beratung und Förderung der Sache nicht zu Stande gefommen ijt, wird es die Sache
der Spezialforfder fein, tweiter ju arbeiten und in zwangloſer Vereinigung ibre Ge-
danken cinander vorjulegen. Bon Segen ware es freilich, wenn eine wirkliche Central:
ftelle zur Vorbereitung des Heimarbeiterſchutzes fich fcbaffen liefe. Bon Herrn Legien,
dem ausgezeichneten Leiter und RKongrefeinberufer, wurde der Vorſchlag einer ſolchen
jtandigen Kommiſſion mit der Begriindung abgelebnt, daß die Generalfonuniffion der
Gewerkſchaften Feine Vollmacht habe, fitr die Aufbringung der Koſten einer ſolchen
Kommiſſion einzuſtehen. Vielleicht aber findet ſich das nötige Geld bei den bürgerlichen
ſozialpolitiſch denkenden Orgqanifationen: beim Verein fiir Sogialpolitif, der Geſellſchaft
fiir Soziale Reform, dem Bund der Bodenreformer und, zuletzt aber hoffentlich nicht
am wenigſten, bei den Frauenvereinen.
Die Frauenvereine waren auf dem Kongreß gut vertreten. Man ſah überhaupt
im Ganzen, die zuhörenden Gäſte mitgerechnet, vielleicht ebenſo viel weibliche als
männliche Anweſende. Neben den bekannten Sozialdemokratinnen, unter denen immer
Clara Zetkin einen hervorragenden Eindruck macht, waren der Bund deutſcher Frauen—
vereine durch Alice Salomon, der Verband fortſchrittlicher Frauenvereine durch Fräulein
Lüders und der Berliner Frauenverein durch Fräulein Dr Gottheiner vertreten; und
die Mitarbeit der bürgerlichen Frauen wurde dankbar empfunden.
Dieſer Kongreß, ſo ſagte Legien ſchon bei der Eröffnung, iſt der erſte, aber
nicht der letzte ſeiner Art. Die Erfahrungen des letzten Jahrhunderts haben uns
belehrt, daß ſoziale Reformen, ſo dringend ſie auch ſind, erſt dann verwirklicht werden,
wenn eine oder zwei Generationen der nach Hilfe ſchreienden oder ſtumm unter dem
Elend zuſammenbrechenden darüber weggeſtorben ſind. Und wenn auch einer der
Beſten unter den Kongreßteilnehmern, der Lehrer Agahd, nach einem Jahrzehnt harter
Arbeit das Glück haben durfte, ſchon einen Erfolg ſeiner Arbeit zu ſehen, ſo iſt der
ermutigende Siegespreis dieſes Kämpfers doch immer noch eher eine Dornenkrone als
eine Friedenspalme zu nennen: es bedarf immer weiterer, unermüdlicher, aufreibender
Arbeit, wenn das Kinderſchutzgeſetz ein feſtes Stück Wirklichkeit werden ſoll, und gerade
in dem Dunkel der Heimarbeit hat es noch ſeine gefährlichſten Klippen. So wird
auch der Heimarbeiterſchutz nur nach hartem Ringen, und wahrſcheinlich zuerſt nur
als ein ebenſo ſchädliches wie nützliches Stückwerk, zur Wirklichkeit werden. Aber
eine ſtolze Empfindung können wir, auf den Kongreß zurückblickend, mit an die Arbeit
nehmen: Vorwärts geht es doch!
396
Cuard Morikes Briefe.
Son
Dr Edgar Alfred Regener.
Raddrud verboten.
lie deutſche Literaturgeſchichte bat erft feit verhaltnismapig kurzer Zeit cine direfte,
eigentliche Mörike-Forſchung. Hinweife auf feine künſtleriſche Bedeutung, Eſſays,
die fic) mit feinen Dichtungen beſchäftigen, finden ſich in friiberen Jabren fparlich,
gewijfermafen als verwehte Vorklänge yu einer größeren Lebensbeſchreibung. Aber dort,
wo wir ſie treffen, find fie aus der Feder feinfiibliger und berufener Literarbiftorifer
(Bachtold, Karl Weithrecht, IM. Kraus). Die erfte umfaffendere Urbeit, die auch den
literarifden Nachlaf, die Briefe und gelegentlichen Aufzeichnungen Mörikes benutzen
fonnte, war das auf Borjtudien Bächtolds fich ſtützende Buch von Harry Manne:
„Eduard Mörike, Sein Leben und Dichten,“ Cotta 1902. Feuilletoniſtiſch geiſtreich,
mit novellijtijden Pointen und trodenften Seminar-Unterſuchungen abwechſelnd, läßt
das Bud) einen Verjajfer vermiffen, der Herr feines Stoffes geworden ijt und dar-
über mit unbedingter Gewalt gebietet, Was Mayne in einem Bande in buntem
Dureheinander gieht: die Lebensgeſchichte des Dichters und philofopbijde Spitzfindigkeiten
in den Dichtungen, das ſucht mit viel feinerem Verſtändnis Mörikes nächſter Biograyh,
Karl Fifcher, auf zwei innig verbundene, aber doch felbjtdndige Werfe yu verteilen:
„Eduard Mébrifes Leben und Werke” (B. Behrs Verlag 1901) und „Eduard Mérifes
künſtleriſches Schaffen und dichteriſche Schbpfungen” (©. Elsner 1903). Damit merit
Fiſcher die Forſchungen über Mörikes fprachliche, metriſche und ſtiliſtiſche Eigentümlich—
keiten, über die Faktoren ſeiner perſönlichen Ausdrucksform, ſeines lyriſchen und epiſchen
Stils, ſeine künſtleriſchen Beſonderheiten in ſeinen Dichtungen ufiv. aus einem Zu—
ſammenhang aus, deſſen Freiheit und Tüchtigkeit unter dieſer Laſt nur leiden mußte.
Nicht nur hierdurch ſind Fiſchers Arbeiten über den Dichter von größerem Wert als
das Buch von Mayne.
Von dem, was beiden Verfaffern an Material yur Verfiigung ftand, werden jevt
von Carl Fifer und Rudolf Krauß vor allem Mörikes Briefe der OffentlichEeit über—
geben. Der erjte Band diefer Musqabe ijt bei Otto Elsner- Berlin erjebienen und
bildet cine wichtige, Dem Mörike-Freund nicht unliebe Ergänzung yu den bereits früher
durch Jakob Bächtold herausgegebenen Briefwedfeln des Dichters mit Germann Kurz
— deſſen Werke ſoeben in einer billigen Ausgabe in dem bekannten Verlag Max Heſſe
erſchienen ſind — mit Moriz von Schwind und Theodor Storm. Die Herausgeber
bezeichnen die Sammlung als unvollſtändig. „Wie weit verbreitet, wie groß und auf—
richtig das Verlangen nach Mörikes Briefen aber auch ſein mag, ſo beſtand doch von
vornherein kein Zweifel darüber, daß es ſich nicht um vollſtändige Mitteilung alles
deſſen, was der Dichter je geſchrieben, handeln kann, vielmehr nur um eine verbialtnis:
mäßig beſchränkte Auswahl, die allerdings bei der Fille des fic) darbietenden Stoffes
Eduard Mörikes Briefe. 397
den Herausgebern um ſo ſchwerer fallen mußte, je tiefer ſie in die eigenartigen Schön—
heiten dieſer brieflichen Ergüſſe eingedrungen waren.“ Die Begründung dieſes gewiß
nicht von jedem gutgeheißenen Vorgehens fehlt. Wozu dieſe Halbheit? Von den Briefen
Mörikes an ſeine Braut Luiſe Rau ſind gegen ſiebzig auf die Nachwelt gekommen —
gegen vierzig erſcheinen aber nur gedruckt. Ahnliche Mißverhältniſſe könnten bei anderen
Namen aufgezeigt werden. Der gewundene und devot geſchnörkelte Brief an Ludwig
Tieck hatte gut und gern, wo es darauf ankam, in der bekannten Holteiſchen Samm—
lung nachgeleſen werden können. Er war doch nichts weiter als ein Gelegenheitsbrief
eines jüngeren Dichters an einen älteren, eines aufſtrebenden an einen ſchon berühmten,
ganz abgeſehen davon, wie hoch ſie ſich gegenſeitig in ihrer Kunſt einſchätzten.
Ein Briefwechſel gewinnt erſt dann das vollſte Intereſſe, wenn ich Frage und
Antwort gegenüberſtellen kann, wenn der Wechſelverkehr zwiſchen Abſender und Empfänger
und wieder zwiſchen Empfänger und Abſender ſich vor meinem geiſtigen Auge vollzieht,
ich alſo wirklich den Austauſch von Gedanken, ohne nur immer die cine Seite hören
zu müſſen, auch in ihren feinſten Regungen verfolgen kann. So iſt es der größte Mangel
jener Ausgabe der Mörike-Briefe, daß wir nur immer ein Echo hören, dod) die weckende
Urſache nur dunfel erfabren. Go ijt Mörikes Verhältnis yu feinen Geſchwiſtern erft
dann voll und ganz yu verfteben, wenn wir and die Briefe der Schweſtern feinen
eigenen vores oder nadiqedrudt jeben. Und was von den Briefen der nächſten Anver—
wandten gilt, diefe Forderung beſteht auch yu Recht in dem Berkehr mit Freunden. Wo
die Schriftitiide der Gegenpartei feblen, entftebt cine ſchmerzliche Lücke. (So feblen
uns 3. B. die Briefe der Luije Rau.) Die dunflen Andeutungen Mörikes in jfeinen
Briefen an Freunde fiber das Verbhaltnis zu Maria Meyer gewinnen gewiß durdy den
Abdrud anderer, darauf bezüglicher Schreiben. Die chronologifde Anordnung fonnte
ſchon beibehalten werden, diirfte aber nicht über die ganze Cinteilung herrſchen. Dann
ergaben fic) Gruppierungen, aus denen wir Mörike viel tiefer, perſönlicher fennen
gelernt batten: Mörike und Hartlaub, Mörike und Mabrlen, Mörike und Bauer, Mörike
und feine Schweſter Luiſe ufw. Aus diejer Mannigfaltigheit fonnte eine köſtliche Cine
heit werden. Cine Geſamt-Ausgabe, die uns allein nur niigen fann, bleibt aljo der
Zukunft vorbebalten.
Die veröffentlichten Briefe umfpannen die Zeit von 1816 bis 1840 und weiſen
153 Nummern auf. Gewif fiir cinen Zeitraum von 24 Jahren nidt grade jebr viel.
Mörikes Schreiben find nicht tief, fie dienen nicht dem Austauſch kunſtphiloſophiſcher
Meimungen und Abbandlungen, in fie hinein flingen nicht die Rufe der Zeit, die For-
derungen der Bildung, das Verlangen der Kultur, wie es fich an diejes oder jenes
Ereignis des Hffentlichen Lebens fniipft; jie enthalten feine Gedanten, die finnend in
die Vergangenheit fchauen und daraus Werte fiir die Sufunft erringen. Rein jugend-
liches Schäumen, Fein raſches Aufbraufen der Leidenfchaft, fein wildes Mberftiirzen der
Erfenntnijje, fein lautes Vorwärtsdrängen ju ſeeliſchen Entwidlungen. Seine Briefe
find wie ein jtiller Sommertag mit der Würze reifender Kornfelder, mit flirrendem
Sonnenglaft in der Luft, einem Lerchenruf in der Hobe, und dem geſchäftigen
Schilfern und Kniſtern regfamer Kifer swifden den Halmen. Das ſüße, felige
Entzücken einer rubigen Müdigkeit, eines in fich felbft gefeitiqten, unzerſtörbaren Gleich-
flanges. Diefes Befcrauliche und Beſchauende feiner Art, der Mangel an pfychifcher
Handling, wenn id) damit die Scheu vor der Erörterung irgend eines Problems
bezeichnen darf, wirft lähmend auf den Lefer, fo febr auch die Eintönigkeit feiner
898 Eduard Mirifes Briefe.
Schilderungen und Mitteilungen durch Bilder und Beziehungen unterbroden wird, in
denen wir den großen Lorifer Mörike bewundern. Das find dann feine lyriſche Farben-
flede in einer breiten, ſchwäbiſch-geſchwätzigen Profa. Wie lieblich weiß er feinem
Freunde Waiblinger einen Morgen zu ſchildern, an dem ibn der Regen an fein einfaches
Stübchen feffelt. Alle Fenjter läßt er offen, damit er dem frifcben Regen, der immer
fernbafter auf die Baume tripfelt, fein behaglich zuhören kann. Da fühlt er, „daß
e3 zuweilen höchſt angenebm ijt, wenn fo der Tag recht früh mit Floferftiefeln naß
und melancholiſch angerückt kommt. Diefer und dadurch gewijfermagen unſer cigenes
Wefen fceint dann einen beftimmten gerubigen Charafter yu befommen, das Leben
felber fcbeint, wie das Griin von Bergen und Bäumen, auf diefem fanften, aſchgrauen
Grunde erjt recht beachtenswert und innig. Unfer Innerliches fühlt fich fonderbar ge—
borgen und gudt wie ein Rind, das fich mit verbaltenent Jauchzen vor dem naſſen
Ungeftiim draußen verftedt, mit bellen Augen durchs Vorhängel, bald aus jenem, bald
aug diefem vergniigten Winkelden.” Und ein andermal wieder weiß er von dem
Regen, deffen Stimmung ihm Lieb ijt, zu fagen: „Jetzt goß der Regen in nafjer platter
Proſa nieder.”
Ganz auferordentlich wirkſam gejtaltet er die Beobadtungen, die fic feinem Auge
aufdrängen, zur Anſchaulichkeit. Nicht dadurch, daß er fie rein objeftiv, als Materie,
alg Ding an fich, auf den Lefer wirken läßt, fondern dadurd, daß er ihren Inhalt
durch die Schilderung ſeines jeweiligen ſeeliſchen Sujtandes, der fic) in ibm ausgelöſt
bat, erbdbt. Co baben wir die Empfindung, als ob wir das Beobachtete körperlich
fiiblen in eigener Wahrnehmung. Seine Beſchreibungen, die er der Braut, der Mutter,
den Freunden von feinen Reifen gibt, find ficher in der Silhouette, ſcharf und prägnant
in der Hervorhebung des Bedeutungsvollen und wiſſen durch treffende Bemerfungen,
oft durch ein wibiq geqebenes Beiwort die flüchtige Skizze ju einem Bilde ju
erweitern.
Die gleiche Subtilität beobachtet Mörike in der Zeichnung innerer Erlebniſſe, in
der Charakteriſierung ſeeliſcher Vorgänge, wobei er Eigenes mit reiferer Gewißheit wieder—
zugeben weiß, als Erklärungen von Geſchehniſſen auf ſeiten der Verwandten und
Freunde, wie ſie ſich in ihrer Seelenſprache durch Handlungen offenbaren, unabhängig
und ohne Voreingenommenheit zu finden. Sonſt hätte er nicht mit philiſtröſer, moraliſcher
Uberhebung ein ſo unverſtändiges Urteil über den Bruder abgeben können, der durch
ſeine politiſchen Uberzeugungen in eine Unterſuchung verwickelt wurde, die auch Eduard
Mörike hatte nachteilig ſein können. Cr ſagt: ,... und der Vorwurf bleibt ibm, den
Frieden der Familie auf eine unverzcibliche Art geftirt yu haben.” Und Mérife felbjt
hat gewiß in feiner Sturm: und Drangzeit, als ſich fein ganjes Wejen gegen den ibm
verbaften Beruf eines Theologen aujflebnte, feiner Mutter nicht immer friedereiche
Stunden bereitet. Davon geben die Briefe Zeugnis, die er der Mutter ſchickt, um fie
über feine Kämpfe und Sorgen ju berubigen. Eduard Mörike war nichts weniger als
ein Tatenmenfeh. Sein Gemiit war yu weich und ſchreckte vor der Berührung mit der
Außenwelt zurück, fobald er in feinent Handeln und Wollen in Mitleidenfchaft gezogen
werden fonnte. Einen widtigen Aufſchluß über fein Annenleben, über die weiblicde
Genügſamkeit feiner Seele, über die Unſelbſtändigkeit feineds eigenen Selbſt und die Ab-
hängigkeit im wecbjelfeitiqen Verfebr mit Frauen gibt uns die Stelle eines Briejes
an Wilbelm Waiblinger. Ceinen Freunden gegentiber fpricht er davon intimer, als er
es 3. B. feiner Braut gegeniiber tut.
a
Eduard Möriles Briefe. 399
» . . · Es ift iiberbaupt in meinem wirklichen Suftand ein befonbderer peinlider Bug, dah alles,
aud das Kleinſte, Unbdedeutendfte, was von aufen Neues an mich kommt, irgend eine mir nur ciniger:
maßen frembe Perfon, wenn fie fich mir aud nur flüchtig nabert, mich in dad entſetzlichſte, bangfte Un:
behagen verfest und ängſtigt, weswegen ich entweder allcin oder unter ben Meinigen bleibe, wo mid
nichts verlegt, mid) nichts aus dem unglaublid) verzärtelten Gang meines inneren Defend herausftirt
und zwingt. Mit meiner dlteren Schwefter befonders und mit Klärchen treibe ih mich um. Du begreifft
nicht, welden Einfluß jene auf mich ausübt, und wie wir uns von ferne verftehen; ja fie bilft mir oft,
obne es mur gu wiſſen, dem Verſtändnis meiner felbft auf die Spur, wovon icp dir jest abſichtlich nur
ein höchſt unbedeutendes Beifpiel geben will, Tret’ id) mit ihr-in ein Simmer, deffen Tapete und
ſonſtiger Ausdruct mir neu und unterbaltend ift, und antworte id} auf ibre Frage, wie mir dad alled
gefiele, faſt mit Entzücken fiber cinen fold) anmutigen Mufenthalt, fo fann mic gwar ihre ganz entgegenge:
ſetzte Anſicht ſehr frappicren, dennoch aber, wabrend fie die cingelnen Gründe dagegen ſchnell und leicht anführt,
wird mit die ganze Herrlidfeit auf cinmal gu nichts, und ich finde, daß auch bei mir im Hintergrund
cine Stimme ganz dunfel ſchon dagegen geweſen ift, die vielleicht nur durch dad Beftechende irgend eines
zufälligen Reizes unterdriidt ward; und von jest an fdeide ich mit (ebbaftem Miffallen von dem Zimmer,
bas um feiner fonderbaren, gebeimnisvollen Einſamkeit, ja fogar um des darin verbreiteten Geruched
willen meiner gegenwärtigen Stimmung fo febr entfprocen hatte. Ich febe nun auch wirklich bas ein,
daß felbft dieſes Bebagen an der myſtiſchen Abgeſchiedenheit blos Selbjttiufdung war, fein reiner,
bleibender Genuf, nicht cin lauterer, fondern cin höchſt unfreundlicer Eindruck.
Und fo gehts burdiveg in ben bedeutendften Lebendbesiehnungen, fo daß dieſes ober jenes ſchöne
Verbaltnis, wie ich es bisher mit cinem eigenen Gemifd von Luft und Unluft und darum nach meiner
Urt mit einem Obergeiwicht der letzteren betrachtete, mun, nachdem die Schwefter mirs unwillkürlich von
einer anderen Scite gezeigt und mit treffenden Worten (Mar ausgefproden bat, cine unbegreiflid) giinitige
Anderung fiir mich erlitten zu baben febeint, cinen überaus lichreichen, herzlichen Bejug fiir mid ge-
wonnen bat. — Auf cine andere Art ftehe ich mit Marden: Da ift die Bewunderung auf ibrer, die
Wirkung oder vielmebr der Betrug geht von meiner Seite aus. Ich mache ihr taufend (jedoch unſchädliche)
Sachen und boble Riiffe vor, wodurch fie aufer fid) felbft gefest wird und mich mit grofen Augen an-
fiebt, bid wohl auc) zuweilen dieſe Bewunderung in cin lautes Sahreien, Weinen und Hilferufen gegen
bad jitierte Geifterreich ausſchlägt .. .”
Mit gutem Bedacht babe ich dieſe Briefftelle gan ausgeboben. Sie gibt nach
mebr al3 ciner Seite feine Cinblide in das feelifcbe Leben des Dichters. Bor allem
intereffiert uns dabei die eigenartige Stellung der Schweſtern ju dem ganjen Wollen
und Berlangen des Dichters. Die Liebe, die ihn mit der alteren, Luife, verknüpft,
zu der er mit all feinen Herzens- und Lebensangelegenbeiten fommt, Hilfe, Troft und
Ermunterung fuchend, überträgt er nach ihrem frithen, von ihm auf das Bitterſte
empfundenen Tod auf Klärchen, die ibm in fpateren Jahren als Schweſter und
Freundin unenthebrlicy wurde. Zumal als das Berhaltnis zwiſchen Mörike und
jeiner Frau immer unerträglicher ſich fiir beide Teile gejtaltete. Dabei konnte der
Dichter ſich leichteren Herzens von feiner Frau als von feiner Schweſter trennen.
Die Dofumente dariiber wird uns boffentlid) der zweite Band der Briefe nidt vor-
enthalten. Gewiß trug Morife an der Spanning zwiſchen den Cheleuten nicht die
wenigſte Scbuld, fo gern man ibn auch davon freifprechen möchte.
Bon Mörikes Beziehungen ju den Frauen tritt im erjten Briefbande das Verlöbnis
mit Luife Rau in den Vordergrund. Es bildet eine Epijode fiir fich, durchzittert von
tiefitem Gefühl, dargeftellt mit einer reichen Annerlicfeit und herzlichſtem Begebren
auf feiten deS Liebenden, weich in den Linien, ſchwärmend über die Gegenwart binaus
in Die Stunden, wie fie einſt fein twerden, wenn fte in ibrem Pfarrhaus allein und eins
wirtſchaften. Klar und rein ijt ſeine Liebe, erhaben über jede Mißachtung und
Anfechtung. Aus vollfter Seele flebt er das geliebte Mädchen an, gegen jeden Argwohn und
gegen jedes Miftrauen, das gehäſſige Reden hervorzurufen ſich mühen, anzukämpfen, um
a
400 Eduard Mörikes Griefe.
jede Trübung ihrer keuſchen Neigung zu vermeiden. Er ſchwatzt ſich ſelig in Träume
hinein, deren Süßigkeit er auskoſtet wie ein Kind, das den leiſen Honigtropfen aus
der Kleeblüte ſaugt und ſeine Würze auf der Zunge mehr ahnt als ſpürt. Er täuſcht
ſich die Zukunft ſchon als Wirklichkeit der Gegenwart vor und ſchafft ſich dadurch
die weihevollſten Stunden, die ihn erquicken. Als er den Beſuch der Braut erwarten
kann, da ſchreibt er ihr in ſtiller Seligkeit: „Herz! und in vierzehn Tagen du bei mir!
Wie werden wir fo heimlich unſere zwei Stühle zuſammenrlicken, während dev Topf
im Ofen ſingt, die Morgenſonne dir auf das Strickzeug in den Schoß ſcheint, ich dir
eine Hand über deine Schulter legend, mit der anderen ein liebes Büchlein baltend
und fejend, was du willft, oder ſchwatzend, was du willjt! Und dann nad Tiſche
ein Spasiergang, der uns die Gefichter anfrijdt und die Gedanfen fart! Sodann
Der gerubige Abend, von keinem ungebetenen Gaſt gejtirt; man redet von alten und
fiinftiqen Seiten, von Snnerem und Wugerem —
Und nacht, wenn Träume uns umſchlingen,
Wird alles wie ein Lied verFlingen.”
Allerdings fdslafen fie jetzt noch in „zwei wohl feparierten Stübchen,“ aber der Mond,
der bier offenbar ein ganz befondered Licht bat, befcheint das Kiſſen des Mädchen jo
gut wie das feinige, und die Träume kümmern fic nidit um Schloß und Riegel. In
diefem herrlichen Traumland geht er ibr entgegen, erwartet er fie mit verzehrendem
Bangen und genieft den Frieden ibrer Gegenwart mit allen Regungen und Schwantungen,
mit allem lieblichen Hin und Her ibres Verkehrs. Und wenn die Geliebte fortgeqangen
ift, Dann ſchreibt er ihr: ,,vor wenig Tagen nod ein Fürſt im Aberfluſſe deiner
Liebe; jest naſch' ich an jedem verlorencn Brifelein und fiible wohl, dak es
nicht ſättigt.“
Wie er vorher die ſtillen Reize der Erwartung ausgekoſtet hat, ſo ſucht und findet
er auch in dem Gefühl der Trennung ſeine Freude. Dort auf dem Stuhl in ſeinem Zimmer
liegt ein Halstuch, das feine Luiſe um den Kopf gebunden hatte, als fie von Zahn—
ſchmerzen arg geplagt wurde. Jest nimmt er es behutſam auf, fibrt es wohl an
feine Lippen, legt leiſe feinen Kopf in feine Weichheit und hat das Gefühl ibrer körper—
lidien Antwefenbeit. In feinem Sehreibpult liegen Mm hunter Mannigfaltigfeit nach
Größe und Bedeutung, fauber mit Bandden gesiert und umwickelt, aus diejer oder
jener Veranlajjung feiner Braut abgeſchnittene Haarloden. Cr gebraudt fie wie einen
Talisman, ihr Unblid fann ihm Mut und Fröhlichkeit sur Arbeit und yum Schaffen qeben.
bre Briefe behandelt er zärtlich und bedeckt ibre Schriftzüge mit Küſſen. Mörike ijt ver:
liebt wie cin Primaner, nur daß bei diefem augenblidliche, naive Sentimentalitat, was
bei jenem innerjte Wefenscigenart ijt, Der ganze Gefiihlsinbalt feines Herzens will
fic) in thre Seele ergiefen, will cin eigener Beftandteil der Geliebten werden, um fo
einer im andern aufzugeben. „Wir find es längſt gewobhnt mein teures Kind“, heißt
e3 einmal, „einander von der jedesmaligen Gejtalt unſeres Innern, wie fie bei aller
Stetigteit und Reinbeit unferes cigentiimlichen Verhältniſſes, dod unter fo viel über—
queren Ginfliiffen von außen fich felten Lange gleich bleibt, und felbft yu wunderbarem
Troſte in gegenfeitiger Kenntnis zu erhalten, und wenn ich jemals dieſe Pflicht verfaumte,
fo fonnte ich den doppelten Unfegen immer ſogleich am eigenen Herzen empfinden: ich lebte
von mir felbjt getrennt und war wie einer, der die Heimat cigenjinnig meidet, in deren Schoß
ibm dod, wie er fo deutlich weif, der Friede gleich gefunden wire.” Aus diejem
Eduard Mirifes Briefe. 401
Bedürfnis heraus gibt er ihr getreulid) Kunde von allem, was er unternimmt, be-
richtet über das Kleinite mit der gleichen Genauigkeit wie über Dinge, die ibm von
größerer Bedeutſamkeit find, nur wird er bei der Mitteilung wichtigerer Angelegenbeiten
leicht ungeduldiq und kurz. Die Sage, die er fonft mit Sorgfalt und Rube aus:
arbeitet, wo er Periode an Periode fiigt und mit ciner gemiitlichen Sicherheit
iiber die Schwere ihrer Gliederungen gebietet, gewinnen an gefdloffener Kürze
und vermeiden das Langatmige, Das ijt befonders der Fall, als er über die
Miperfolge feiner Bewerhbungen um Pfarritellen berichtet, aud) dort, wo er gegen
die langſam jerbridelnden Beziehungen zwiſchen fich und der Braut ankämpft. Es
ift nicht bureaufratifche Genauigfeit, die thn veranlaft, bei jeder neuen Vifarjtelle
der Geliebten eine genaue Sehilderung von der Umgebung, von der Lage feines
Simmers, von der Art der Beſchäftigung, von der Reiſe nad feinem Beſtimmungs—
ort und der auf dicfer beritbrten Ortſchaften qu geben, ſondern e iſt vielmebr einzig
und allein die Freude an der Schilderung, an einem Sichverfenfen in das rein Stoffliche,
ein Vergniigen dariiber, wie ſich Cag an Sag gliedert und er beim Geftalten diefes
Gefüges teils im Geijte nocd einmal das Gefebene erlebt, teils ſich mit etwas Neuem
in Einklang 3u fegen fucht. Da kommt e3 denn häufig vor, daß ec durch die Troden-
heit feines Berichtes verleitet wird, die Schwingen feiner Phantafie auszuſpannen und
fiber Raum und Beit zu fliegen. Faſt mit Schrecken merft er dann pliglich, wo er
ſich befindet, befinnt ſich auf fic) felbjt, alg ob er einen Schleier von feinen Augen
löſen müſſe, der ibn tiber den Augenblid hinwegtäuſchte: , Aber mun hab’ ich drei
Seiten vollgefdrieben und im Grunde nod) fein verniinftiges Wort, was man fo
darunter verjteht: Reine ordentliche Schilderung meines paſtoraliſchen Lebens, keine
Amtsgefühle, nichts Hochebriviirdiqes! Much bin id) in der Tat nicht aufgelegt, dir dies
Rapitel weitldufig abjubandeln: icy möchte immer nur fo fortphantajieren.” Forts
phantafieren mit dem Ruf der Sehnſucht: , Wenn wir nur erit unjer Pfarrhaufle
batten!”
Mörike unterbalt Luife Ran Lieber mit einfachen PBlaudereien, von denen ev weiß,
dak fie ihr Antereffe gewinnen. Er weif, wieviel er ibe zumuten darf in der Erörte—
rung irgend einer Begebenheit. Fein beforgt ijt er um ihre Seele, und er jergliedert
jie fic) in Gedanfen fajt ähnlich, wie es Novalis mit der Seele feiner Sophie tat.
Den Cindrud, den er davon geiwonnen, teilt er aud) jeinen Freunden mit, und voll
innigfter Freude und herzigſtem Stolz entwirft er Wilhelm Hartlaub ein Bild feiner
Geliebten.
„Mein Kind mußt bu friiber ober {pater doc feben. Gin einfaches, heilig unſchuldiges Wefen,
das, weil andere es verfannten, fange im Unflaren über feinen eigenen tief verborgenen Wert twar;
feitbem ic) fie tenne, erbob fich ibr Gefühl und Geiſt mit ſchöner Zuverſicht, dod) bildet ihre Schüchtern⸗
beit noch immer cin reizendes Gemifd mit dieſem neuen Leben. Sie ift verftindig, vorſichtig, entidieden
und im Affekt fogar fiberbraufend, zumal wenn's einem edlen Gedanken gilt, den man ihr belampft.
Bei der Leltilve feitet fie, befonders in Dingen, die über den unfcbulbigen, keuſchen Mädchenhorizont
hinausliegen, cin niemals irrender Inſtinkt, deffen verlegener, kindlich origineller Ausdrud mich oft gur
feligiten Freude vermodt bat; gewöhnlich laden wir dann beide herzlich, und ich fühle ganz den zauber—
haften Punkt im ftillen, der mic von Anfang an fie feffelte. Boe Außeres ift zart und leicht. Wer
ibe Geſichtchen beurteilt, fagte nod) jedeSmal, dah es mit längerem Anſchauen nicht bloß gefallig fei,
fondern ihre ganze Seele treu abfpiegle. Mir ijt fie fo ergeben, als es nur cin Menſch dem andern
fein fann, und ich denfe dabei oft unwillkürlich ſchnell an did!”
Er vermeidet in feinen Briefen alles, was ibrem Geijt yu ſchwer fein könnte, und
ſucht auch dort, wo cs nicht zu umgeben ijt, fiir Schwieriged eine Formel, die das
26
402 Eduard Mörikes Briefe.
Problem einfacher geſtaltet. Wenn er auch in den meiſten Schreiben immer nur von
dem ſpricht, was er „vernünftig“ genannt hat, wieder und wieder die Herrlichkeiten
ſeiner Liebe darſtellt, ſo hat er doch manchmal auch dem Verlangen nicht widerſtehen
können, ernſtere Fragen, die ihn beſchäftigen, zu behandeln. Dann findet ſich am
Schluß des Briefes aber eine demütige Bitte um Entſchuldigung, wenn er ihr den
Kopf „übervoll“ geſchwatzt hat: „Lies es aber doch noch einmal! ich bin gewiß,
du wirſt mich verſtehen und mir recht geben, auch abgeſehen davon, daß ich dein
Eduard bin.“
So ſucht er ſeine Braut zu ſtützen und übernimmt ganz unbemerkt die Führung
und Leitung ihrer geiſtigen Erziehung, weckt die Anlagen ihrer Seele yur Meife und
lebt ſo von ſeinem ſtillen Vikarwinkel aus ein doppeltes, für ihn köſtliches Leben.
Doch er vergißt nicht, daß der Lehrende in der Anleitung zugleich lernt. Er ſelbſt iſt
ſich bewußt, daß er als Gebender auch Empfangender iſt. In jener Zeit, die der
Löſung des Verlöbniſſes vorausgeht, gibt er zurückblickend ſich gewiſſermaßen Rechen—
ſchaft über die Jahre gemeinſamen Verkehrs. „Seit wir uns kennen, es iſt wahr, iſt
eine Veränderung meines Weſens vorgegangen, aber ſie kann, wie ich dich gern über—
reden möchte und du künftig gewiß noch einſiehſt, nicht anders als zum Vorteil unſerer
Liebe fein, fo wie fie zuverläſſig auch die Frucht derſelben war. Ad bin ruhiger
geworden, weil ich mich fiderer in mir felbit fiible.” So fab anch Morife
in Luife cine Stütze feines eigenen Wefens. Um jo tiefer erfdiittert ¢3 ibn, als das
Schidjal beide trennt. Er bat ſchwer darunter qelitten, und es dauerte lange, ebe er
ſich von dieſem Schlag erbolte. Bur Feftiqung feiner Stimmung trug nicht jum
wenigften bei, daß er nach furyem Aufenthalt in Ochſenwang, Weilheim, Owen und
DOethlingen endlich Pfarrherr von Cleverfuljbacdh wurde. Das war im Jabre 1834,
und ein Jahr fritber löſte fid) Das Berldbnis. Wo Luiſe als Pfarrfrau wirfen follte,
zog Mörikes Schweſter Klärchen ein, ſorgte für die Bebaglichfeit des verzartelten
Bruders und hielt alles fern, was den Träumer in ſeinen Träumen und Spielereien
ſtören fonnte. Die Seele des Dichters ſchuf in dieſer harmoniſchen Rube die klang—
und duftdurchwehten Werke ſeiner Kunſt, die ſeinen Namen langſam über die engen
Grenzen ſeiner Heimat hinaustrugen. Der Verkehr mit der Außenwelt wird reger,
ohne ihn ſelbſt in ihren Lärm hineinziehen zu können. Er iſt der Lauſchende, dem die
Natur ihre Offenbarungen zuraunt und der ſie mit keuſchen Händen aufhebt, um, reich
durch ihre Gaben, aus dieſem Reichtum anderen zu ſpenden. Hatte er ſich in ſeinen
Liebesbriefen nur mit ſich und der Geliebten beſchäftigt, ſo tritt jetzt ſeine Kunſt und
ſein Schaffen mehr und mehr in den Schreiben hervor. Für ſein inneres Werden
und Wachſen bieten allerdings jene die wertvollſten Dokumente, in ihnen prägt ſich das
Weſen Mörikes am ſchönſten und reifſten aus; alles andere trägt nur dazu bei, den
Eindruck dieſer Weſenheit hie und da zu heben und zu verſtärken. Darum gewinnt
dieſe „Epiſode“ fiir mich ihre überlegene Bedeutung über alle in dem Bande enthaltenen
Briefe, die Mörikes Charafter in ibren Einzelheiten yu feiner Harmonie abtinen.
—— ae Or.
Re SD
403
Ces Ramps Rinder. —< >
Son
Elisabeth Siewert.
Nachdrud verboten.
Du Poſtbote und Ramp, der ſchon feit
mebreren Dabren in Libau Wirtſchafter war,
ftanden in ber Mittagspaufe am Gartenjaun
und unterbielten fid. Das kleine Fleckchen
Erde, Das den Vordergarten abgab, iiberdedte
eine Kürbispflanze von groper Pract, eigentlid
nicht viel mebr als dieſe, denn die gelben und
lilaroten Commerblumen fiibrten nur ein ge—
duldetes Daſein zwiſchen den madtigen Blattern
nnd den energifden Ranken. Der Pojftbote
befah fic den grofen Riirbis, der da im
Griinen lag, die Farbe cines nadten Menſchen
hatte und auf feiner Rinde die aufgequollene |
Jahreszahl trug. „Ich würd' nid’ nad |
Dombrowo zieh'n, id nich'“, ſagte er fopf: |
ſchütkelnd und überlegen, „nur nich' nad |
Dombrowo! Überall bin, nur nid’ in dad |
Neft. Das ift ein Neſt!“
„Woher?“ fragte Ramp. Er ftand in|
Hemdsärmeln, eine kurze Pfeife raucdend, lang |
und kräftig da. Bon Zeit ju Zeit warf er ,
aus feinen braunen, dolerijden Augen einen
Blid auf den Wirtſchaftshof, den die ſchwarz— |
weife Herde, befonders dict um die Pumpe,
bedeckte. |
„Als Kinder baben wir durch'n alted
Fernglas nod) pom Onfel ber, der Ubrmader
|
war, oftmals nad'm Mond gefudt. Da faben
wir nidt viel, aber wenn's in Dombrowo
brannte, das ging gut durdjufeben. Rauf
auf'n Boden mit’m oflen Glas nach der Lue.
So'n grofen feurigen Rlumpen baben wir
gefeben, richtig wie'n Höllenrachen. Ru’ |
giebt's Malhör, fo hieß 4, irgend was. Jn |
Dombrowo brennt’s.”
„Na ja, und?” Ramp fab aus feinem
fleinen braunen Geficht ftreng auf den Poft-
boten, der aber hatte nur Auge fiir den
Riirbis.
„Wir rauf auf'n Boden, an die Luk' —
jedes Mal. Es rif nid)’ ab mit Branden in
Dombrowo. Das ift da 'ne Sorte!” Der
Poftbote mit feinem ſträhnigen grauen Haar
und den diden Baden hatte das Ausfeben und
die Manier einer alten Klatſchbaſe. Ramp
widerftrebte diefe Art gang und gar, trotzdem
wollte er mehr über Dombrowo hören.
„Und fonft, wer da hinzieht, verliert, der
verliert. Bor Stiider zwanzig Jahren”, der
Poftbote lachelte und lehnte fic) bequemer auf
den Zaunpfoften, „hat's ba ’n Biebfterben
gegeben, nur die Ragen blieben am Leben.
Auf den Wiejen foll 'n bitteres Kraut wachſen,
jagte meine Groptante, die von daber war.
Die Cholera ijt dba, anno — na, wann war's
gleich? — fcblimmer geweſen, wie wo
anders.“
Ramp wurde ungeduldig: „So was twird
/ man meift aus allen Dérfern hören, wenn
man nadforjden tut.”
„Na ja, febr ſchön. Qn der Dürre vor-
poriges Jahr find Leute ausgewandert, weil
die Brunnen vertrodneten; fein Waſſer ju
haben tweder fiir Menſch nod Vieh, fein Teich,
fein Flies, Fein nichts, weit und breit.”
„Paſſen Sie man auf, Bladef, in diefer
Ernte wird's mehr Wajfer geben als genug,
aud) in Dombrowo, wie aud voriges Jahr
fein Mangel war.” Kamp lachte bitter auf
und blidte wieder nad bem Hofe. Zwei junge
Ochſen rangen mit gefenften Köpfen miteinander,
und der Hiitejunge knallte mit ber Peitſche.
„Na ja, febr ſchön. Man follt’n Bogen
machen um ſo'n Ort twie das, aber nich’ zu—
26*
404
ziehen. Die Leute fommen da gu nidts. Der |
Uder iſt hungrig durch und durd. Die
Kathen bringen fein Glück. Wer drin ftedt,
mug ausbalten, aber um Himmels Willen
nich’ zuziehen.“
Ramp verfinfterte fic immer mehr. Er
fah fic um, ob nicht irgend etwas vorfam,
was das Geſpräch unterbride. „Da, wo
ih mic anfaujen will, is fowobl 'n aus—
giebiger Brunnen als aud) gute Wiefe, und
ber Uder ift im Suge”, erklärte er barfd.
Der Pojftbote lehnte fich weiter über den
Baun, der Anblick ded Kürbiſſes machte ihn
gang benommen. „Sehen Sie, mein Schwager
bat dba auf bem End’ gewobnt, wo Sie dran
benfen. Der Adler ift ba befjer, gewiß dod).
Der Schwager zerbrad bie Achſe, als er bin:
fuhr. Na fein. Drei Worhen ſpäter hat
ibn cin Wiesbaum erfdlagen auf ſeiner
eigenen Denne.”
Kamp judte mit ben Adfeln und jog
Falten um den Mund. Über den Wirtſchafts—
bof famen zwei fleine Gejtalten angetwandert. |
Aus der friſchen Farbenpradt der roten Stall: |
mauern, der geteerten Pappdächer, der griinen
Pappelbäume auf bellidimmerndem trodenen
Grund, von blauer Luft umfdloffen, famen
fie, gang dazugehörig mit allem, was unter
der Sonne glänzte, und furdtlos vor dem
madtigen Rindvieb, den unrubigen Hunden
und dem blanfen Geflitgel. Hand in Gand
famen fie an, ein Junge und ein Madden.
Gradewegs auf den winjigen Anbau des
langen Viehſtalles fteuerten fie los. Das
fleine ‘Fenfterchen, dads war Waters und
Mutters Fenfterden, und die Haustiire
war ibre.
„Hab 'n Wolf geſeh'n,“ fagte der Junge
mit einem ſpitzbübiſchen Blid aus gliihend
braunen Yugen. „Bei die Kaulen hab’ ich
'n geſeh'n. Recht groß — wie'n Ralb, porn
Zähne wie Karo, aber größer, — hinten ’n
Schwanz wie Karo, aber ſechzig mal fo lang.”
Er lief Emmys Hand fabren und ftredte
jeine Diinnen Arme, fo weit er fonnte, aus,
dabei fah er herausfordernd jum Vater auf,
blähte die Nafenfliigel und zog die Stirne fraud.
Ramp und der Poſtbote lachten.
Der Junge jeigte blitzſchnell die Milch—
zähnchen in feinem gierlidhen Mund und
— 6
|
|
anfiebt.
Ramps Kinder.
wurde lauter und prablerifd. „Bei die
Kaulen! Lauft bin und ſeht euch Wolf an!
Ich friegt? Angft.” Cr lachte wieder blig:
ſchnell auf. „Ich faq: Emmy, fag id, fomm
fling, der Wolf ijt auf Kinder.”
Emmy nidt gang ernfthaft und blidt mit
ibren Gammetaugen yum Bater auf wie cine
fleine Heilige, die Schreckliches mit Geduld
ertragen bat und glücklich entronnen ijt und
nun in Unfduld zehnmal ſchöner ſtrahlt.
„Komm GEmmyden, fag id,” fabrt der
Knabe fort, ,,wir laufen. Aber morgen und
nidjte Wode und alle Tage nebm id 'n
Stod mit. Auf Wolfe mup man Stod baben,
bas ijt befier fiir Wölfe, ba rennen fie, da
rennen fie bis auf die naffe Wief’, weiter
rennen fie bis in die Mühl' und da — —“
Ernſt geht die Pulte aus, fein feines Geſicht
ſieht gang verzehrt aus vor Cijer und
abenteuerliden Cinbilbungen, die ihm durch den
Sinn geben und feinen Körper tragen.
„Vatta“, fagt er fid) balb abiwendend mit
einem funfelnden Ccitenblid, mit dem a
Kamp ju bezaubern verſucht, „ich möcht' 'ne
große Peitſch' haben, wie auch die Knechte
haben, 'n gang große Peitſch' —“ Das blanke,
kleine Fenſterchen klirrt, ein Frauengeſicht mit
glatten Scheiteln ſieht heraus. Das eine
hellblaue Auge ſchielt nach dem Wirtſchafts
| bof, das andere richtet ſich, wie es eigentlid
beide wollen, auf die Kinder. „Mittag!“
ruft ſie mit melodiſcher Betonung, ſo wie ſie
jeden Tag freundlich zum Eſſen ruft. Kamp
tauſcht mit Bladek dem Poſtboten einen
ſympathieloſen, ſchlaffen Händedruck und nimmi
ſeine Emmy auf den Arm, ſeine Puppe, ſein
Herzblatt, und küßt ſie, während er ſie herein—
trägt fiber das ganze glatte Blumengeſicht.
Wenn ſie ſich ſo beide haben, dann ſind ſie
ſehr glücklich.
„Du, bring mir Brief’, hundert Brie?
jeden Tag,” ruft ber Junge im Abgehen dem
Poftboten yu, der fic) nod einmal ben Kürbis
„Hundert jeden Tag und auch zwei
an Emmy!” Ernft madt einen fpigen Mund,
wirft den Kopf auf und verſchwindet in feiner
eigenen Haustiire wie ein fleiner Ronig.
„Der Bladef rat mir ab von Dombrowe,*
fagt Kamp fiber dem Mittagefjen yu femer
Frau.
Ramps Kinder.
Was weiß denn der von Landwiriſchaft,“
ſagt Frau Ramp ein wenig veridtlid. ,,Der
hat immer was gu nörgeln.“
„Er fagt, in Dombrowo fame fein Menſch
zu was, fondern verliert alles. Er würd'
fiir'n Tod nich’ dabin ziehn.“
„Für'n Tod nich',“ fagt die Frau, Ernſt
einen Klaps auf den Mund gebend, teil er
pfeift und zugleich mit den Stiefeln an den
Tiſchfuß poltert. „Für'n Tod nicht, aber für'n
auskömmliches Leben auf dem Eignen, dazu
zieht man nach Dombrowo.“
Kamp macht eine Bewegung mit dem
Kopf. Es ſitzt da in ſeinem Gemüt wie ein
Balken, an dem er ſich ſtößt. Die vielen
Brande, das Viehſterben, der Schwager mit
feinem Unglück Seiner Frau ijt es
garnicht recht, dag er fic) bon dem Poftboten
wieder ſchwankend maden apt. Cie wollen
bod) nun fort aus Libau, das Grundftiid in
Dombrowo ift umftandlidh und eingebend
bejeben, es ift gebandelt worden, als follte
man davon. franf werden, immer dasfelbe und
immer dasfelbe. Ja, und es ift bier dod
manderlei, von dem fie [oéfommen wollen.
Dies zur Wäſche geben bei der Herrſchaft, wo
fie felbjt alle Hände voll yu tun bat, ijt der
Frau yu viel, und die enge Wobnung, wo
eins auf bem anbdern ftebt; nidt mal Emmys
Bettchen ijt aufyuftellen, die Kinder müſſen
gufammen ſchlafen.
_* 2 * ©
„Es gibt fo Orter, die was von Unglück
an fic) baben,” fagt Ramp.
„Man ſoll nidt aberglaubifd) fem”, ent-
gegnet ibm ſeine Frau raſch. „Wenn man’s
recht bedenft, hat's überall Unglück gegeben,
an jedem Ort.“
„Ja, das ſchon,“ ſagt Kamp gedehnt und
aus einer ſchweren Bruſt, „aber es mag
ſchon Ortſchaften geben, wo ſo'n beſonderes
Kreuz drauf liegt. Wenn einem abgeredt
wird... Es braucht ſchließlich Dombrowo
nicht zu ſein.“ Kamp hilft Emmy mit einem
Knochen fertig werden. Seine Frau fixiert
ihn mit Ungeduld. „Sollen wir uns wieder
aufs Anſehen von Grundſtücken legen?“ fragt
ſie. „Blos, weil es dem Bladek einfällt,
alte Schnurren von Dombrowo auszu—
kramen? Nee. Der Acker iſt ganz gut,
das Wohnhaus in Stand und groß genug,
405
mit 'm Vreis ſeid ihr einig. In Gottes
Namen.“
„Und wenn der Wolf fommt?” fragt
Ernft und nidt und fiebt fein Schweſterchen
bedeutfam an. „Und wenn der Wolf fommt,
dann gebt er auf die Kinder. Auf die Emmy.”
Emmy verjicht den Mund und ängſtigt fid,
zwei flare grofe Tränen tibertwilben ihre
ſchönen Mugen.
„Nu' ſchwatz nid,“ fagt ber Vater ju
Ernjt, und Emmy fiebt thn an und verjinft
gang in Liebe und Bertrauen, das fpiegelt
ſich deutlich und Lieblid) in ihrem Geficht.
Sie will yu Vater auf den Schoß. Und er
weif fic) nichts Befjeres, als fie gu nebmen
und qu balten, als wäre fie nun in dem
ſicherſten Neſt. Seine Frau ſtößt bei ibrem
emfigen Abräumen des Eßgeſchirrs jest an
feinen Gtubl und dann an ſeine Schulter.
Sa die, die ift jung und obenbin, Ddenft er, :
fein raubes Rinn auf Emmys glatte, feine
Scheitelbaare legend. Wer weif, von wo die
ibren Mut nimmt, bah fie immer meint, ire
Meinung ift ridtig. Ich bab’ die Berant-
wortung. Ich geb’ twas Feftes auf und zieh'
ind Ungewifje, ih mug auswählen und mid
ftrap’jieren, dak ich nicht jebl greife und ins
lend fomme. Warum fdiwagt der Bladef
fo, wie er tut? Ctedt ba nich’ was binter,
‘ne Warnung? Wer fann das wiſſen!
Ernſt reitet auf feiner Mutter Ausſtattungs⸗
faften und fangt von dem Berg an, den der
Vater mal fpater maden twollte, cin Berg,
auf dem er und Emmy fpielen fonnten, um
ben ein Weg in die Runde führt nad oben,
oben ftebt ein Banden, da fann man bis
Amerifa feben, tenn man oben ijt. Das
war ein alte’ Gefpradésthema zwiſchen dem,
Vater und feinen Rindern. Was fiir frifde
Freude Hatten fie ſchon davon gebabt! Wie
jtolg war Ernft darauf, cinen Vater gu haben,
der ibm einen Berg machen fonnte!
„Wird fddon dazu fommen,” fagte Ramp,
,wem wir erft auf unſerm Grundjtiid find.”
Ernſt nidt und bligt den Vater freund-
ſchaftlich an und ftrablt in Borfreude. Das
find feine Dummbeiten, die wir befpreden,
das will er ausdrücken. Wenn Vater ja fagt,
dann iff das ja und gut.
*
*
406
Kamps Kinder.
Es fommt dazu, daß Ramp feinem Brot: | Haus mit überſchäumend gliidliden Geberden
berrn fiindigt. Er tut dies mit ciner Scroff-
beit, die feinen alten Herm unangenchm
berührt. Man hatte fic in den ſechs Sabren,
in denen man miteinander gefdafft, ftets gut
geftellt, und es ware wünſchenswert geweſen,
wenn Ramp, nod ein Jahr wenigſtens, ge-
blieben tare. Ramp war verbijjen und zeigte
gar feine Unbanglidfeit, Der Umſtand, dap
er nun tvirflid) nad) Dombrowo 30g, die Er:
requng, die es mit fic) bradte, auf eigenen
Grund und Boden zu fommen, das war eg,
weshalb in feiner Brujt nun fein Raum blieb
fiir bag, was geivefen war. Bielleidht, daß
er fic) fpater befann und bdanfbar war fir
eine verbiltnismapig rubige und bekömmliche
Beit. Er batte bier in Libau, nicht mehr
jung wie er war, Ende der Vierziger geheiratet.
Gine viel jiingere, tiidtige, gute Frau hatte
ex gum Weib genommen, aljo einen guten
Griff getan. Dbm waren zwei Kinder bier
geboren. Ceine Emmb und der Ernft. Alle
liebten die Kinder. Cie wurden wie ein paar
zahme Bogelden, frei, luftig und reizend anzu—
feben, itberall mit Wonne empfangen. So twaren
feine Rinder. Ramp twunderte ſich nit, dah
feine Herrſchaft ſo gut mit ibnen war. Was
befjeres gab es in Libau gewiß nidt.
Der Abſchied war unter ben Umſtänden
ein wenig getrübt an Herglichfeit und Reinbeit.
Ramp empfand feinen eigenen Mangel und
wurde nur immer kürzer und knurriger. Und
fo gogen fie ab. Den Kürbis nabmen fie mit,
Es war cin wenig regneriſch, ein wenig ſchwül,
ein Sommertag im Herbjt mit raſcher Sonnen-
beleudtung und tiefem Schatten, die Baume
ftanden in vollem gelben Laub.
Frau Ramp nahm ibre Kinder gleid) von
Anfang an unter ihren Rod, jedes in einen
Arm. Ernſt ließ fich dies nicht lange gefallen.
Es regnete nod nicht, und er war ju glück—
felig, um ftill gu fipen. Cr mute dod den
Brounen feben, der das Gefährt zog und den
Vater, ber mit der Leine in der Hand daneben
ging. Als fie vor das niedrige, ftrohgededte
Bauernhaus famen, hatte es da getade ab-
geregnet. Ob das nicht ein Glück war! Wlles
frifeh gegofjen, und ein Regenbogen über dem
Kiefernwaloden am Kirchhof und fie gan;
troden angefommen. Ernſt fprang um das
und Ausrufen: ,, Mein gutes Dach, meine
ſchönen vielen Fenfter, mein Holz, mein Stroh!”
Frau Kamp fagte: Jn Gottes Namen, als
fie über die Schwelle fcbritt mit Emmy auf
dem Arm, die eingeſchlafen war; dabei fab fie
qu ihrem Mann zurück, er follte es horen, tm
Fall er nod immer den dummen Sdnad von
dem Poftboten im Kopf hatte. Er war fo ein
Menſch von der Sorte, die alles lange Beit
bei fic tragen und dran würgen und drehen,
die tagelang ſtill und jftreng find und nie
bergefjen. So twar er, aber im übrigen ibr
lieber Mann. Und ed war ein Liebesblid und
cin zärtliches Lächeln, mit bem fie ibn auf:
muntern und ei klein wenig bevormunden
wollte, und triumpbierend war fie aud, da
fie ben Unfauf mit ihrer aufgeflarten, guten
Meinung durchgeſetzt hatte,
Es ging nun fo ſchlecht und recht. Die
Wiefe hatte getaufdht, das Sdeunendad war
löchrig. Alle Hinde voll ju tun, ganz gewif
nod) mehr Urbeit als in Libau, aber aus dem
Grunde nicht viel Zeit, um Vergleiche angu-
ftellen. Sur Danfbarfeit fiir bas Bergangene
| fam man vollends nidt, dazu war vielerlei
angenebmer jest. Der Leutedrger fiel fort,
bie Abhängigkeit; alles, was man tat, tat man
fiir fi. Das Dorf war diifter, viel Armut
und Unordnung drin und ein verſtecktes,
diebiſches Weſen unter den Einwobnern. Wan
mufte fic) fernbalten von den Nachbarn ober
wenigftens fid) feine Leute genau anfeben.
Das taten Kamps.
Sebt hatte Emmy ihr eigenes Betichen.
Das gefiel ihr fo gut, dah fie eines Morgens
erflirte, fie wolle nicht aufftehen. Die Mutter
war beim Brotbaden und hatte feine Beit,
lange ju fadeln. Der Vater war gang früh
fiir zwei Tage verreift. „Raus mit die!” rief
fie und jog das Kind an einem Arm in die
Höhe. „Wo iſt ſchon der Ernft? Der fpielt
Schneeball, du Faulpely! Ci, woll'n mal
jehen, two der Ernſt iſt!“
Emmy blidte der Mutter über die Schulter
und fab, daß es draußen gang weiß war.
Sie ftaunte und dachte, fie fiele vom Stubl
in cin grofes, groped, weißes Bett bhinein.
Sih an die Mutter mit Armen und Beinen
flammernd, jdprie fie auf.
Ramps Kinder.
Bumms, ba flog etwas an die Fenfter-
ſcheibe, cin grautweifer Ker, und Ernfis Gefidt,
von einer Miike mit Obrenflappen umgeben,
jah triumpbierend herein.
Emmy iweinte fo kläglich, fo ſchmerzlich,
ließ fo ſchwer ibr Köpſchen der Mutter auf
die Schulter fallen, dag diefe ihre Ungeduld
mit bem Kinde [08 wurde. „Lieg twieder,”
fagte fie reſigniert. „Was beulft bu denn?
Das war der Ernft, der ſchneeballiert.“
Emmy blidte nod einmal nad dem Fenfter
in dieſes ängſtlich große, weiße Bett binein,
fing an zu zittern und ließ ſich in ihr eignes
heimliches Neſt fallen. Da lag ſie ganz
ſtill.
Ernſt kam herein. Wie ein Großer
trampelte er ſich den Schnee von den Stiefeln.
„Und Vater weg,“ ſagte er plötzich erſtaunt.
„Wo jo was fommt, Vater weg?’ Cr
hauchte fic) in die Hande und trampelte aufs
Neue. „Ich ſchmeiß die Fenjter ein, übers
Dach ſchmeiß ich,” fagte er ladend. „Üübern
Schornſtein ſchmeiß id) Sdyneeballen — bu, ja,
dann fallt der Schnee durch'n Schornſtein
auf'n Herd, da haben wir heut Winterfpeife
ju Mittag. Mutter, Winterjpeife, fo viel, von
bier fibern Wald, allenthalben Winterfpeife.
Da effen wir fo viel, bis wir dick werben tie
die Mühle, fo dic!” Ernſt rebete und tangte
und fonnte ſich vor Ausgelaſſenheit faum
bändigen.
„Still, ſtill,“ ſagte Frau Kamp, „ſieh
mal nad Emmy, die twill nich’ aus'm Bett.“
Und fie lief fort, um nad ihrem Brot ju
feben. Als fie wieder fam, fand fie Ernft an
Emmys Bett über fle gebeugt, und die
Rinder tuſchelten miteinander, lachten und
fiiften fid). Die Mutter ſchob den Jungen
beijeite. Wenn Emmy gang gefund war,
dann follte fie jest auffteben, aber Emmy lag
da fo rotbadig, fo grofaugig und mit cinem
fo fonderbaren Musdrud der tieſen, ängſtlichen
Erregtbeit, dak Frau Ramp meinte, fie müſſe
fiebern. Während fie fic) mit ibr abgab,
refelte Ernft am Bettpfoften, „Ich will ju
Bett wie Emmy auch,” fagte er, die Fauft auf
dem einen Auge, mit dem andern lachte er die
Mutter fpigbiibifh an. Die Mutter fdalt.
Ernſt blich dabei, daß er müde fei und gu
Bett wolle.
greifen ließen.
407
Der Wintertag war kaum aufgeſtanden,
da war es ſchon mit ihm zu Ende. In der
gelben Dämmerung lagen nun die beiden Kinder
in ihren Betten. Ernſt wurde es ſehr heiß und
ſehr wunderlich, ſobald er lag. Er wollte ſich
mit Emmy beſprechen, das hatte er ſich herrlich
gedacht, von Bett zu Bett. Ihm kamen fo
viele Bilder vor die Augen, immer neue
Bilder aus Libau und aus Dombrowo, alles
gang genau, damit hatte er zu viel zu tun.
Und er ging mitten in den Bildern umber.
Alles war leicht fiir ihn, laufen wie das
bimmlifde Rind, der Wind, und reiten und —
nein, es war gum laden, dap fid) die Hühner
Nur dunkel follte es nicht
werden und etiva der Wolf — dann fabric
Ernſt.
Bei einer Nachbarin, einer hartgewohnten,
ältlichen Frau ſprang gegen Abend die Türe
auf, als ſie gerade mit dem Aufwaſch fertig
war und ſich zur Lampe mit einer Näharbeit
geſetzt hatte. Die Tür ſprang auf, und eine
Frauensperſon fiel herein, die Hände zuerſt,
und ſchlug auf die Knie und hob die ver—
ſtauchten Hände auf und ſtammelte wie cine
Irrſinnige: „Nachbarin, Nachbarin — — die
Kinder! Barmherzige Nachbarin!“
Und die Geſtalt kroch heran und griff
wimmernd nad dem Rod der entfesten
Alten. ,Mein Mann — die Kinder —
Nachbarin.“
Die Alte faßte Frau Kamp unter die
Achſeln und richtete ſie auf. „Schrecken mich
rein zu Tod,“ ſagte ſie entrüſtet und ſtotternd.
„Ja, zu Tod,“ hauchte Frau Kamp ganz
ſinnlos. Wie ein Stück Holz lehnte ſie an
der alten Frau.
„Nehmen Sie Ihren Verſtand zuſammen.
Was iſt denn! Was iſt los mit den Kindern,
mit'm Mann?”
Frau Ramp befam Leben; ihre aufiwarts-
gedrebten Augen ricteten fic gerade. Cie
bob fic) auf und jog die Alte mit fic) fort,
qu fic, über die Schneeſtraße in bie Wohnung,
an Die Betten und wies ihr, was darin lag,
und flebte und ſchrie, daß fie belfen folle.
Die Alte deckte die Kinder ab. „Helfen?
Beten!“ fagte fie rauh. Frau Ramp ſchob fie
wild zurück. „Sie leben dod nod!” ſchrie
fie fie gornig an. ,,Sie werden leben, bis
408
mein Mann fommt, fie werden [eben und
geſund fein!”
Aber Emmy war fon tot, und Ernft |
fonnte nicht mebr fiebern, fein Herz hatte ſich
qu febr abgebest beim Umtun in all den
ſchönen Bildern, ex ergab fic, er fonnte nichts
mebr jeben und tun.
Frau Ramp ertwartete ihren Mann mit
folder Sehnſucht, als fei es das erjte Mal,
bap er gu ihr fommen follte und fie ihm
feierlich verlünden twollte, daß fie ibn lich
babe fiber alles und auf ewige Seiten.
Da lagen bie beiden Rinder nebeneinander
auf mit Elarer Leinwand bezogenen Brettern,
gang weiß, ganz ſchön. Es war zum Weinen,
wie fdin und wie weiß fie waren! Man
fonnte nur bie Hande yum Himmel! beben und
fi wundern und fragen, daß es fo etwas
gab wie dieſe toten Kinder und beinabe lob—
preijen und Gott danfen, bak endlich einmal
Engel auf der armen Erde yu feben twaren,
und vollends in Dombrowo. Die Nachbarin
hatte Kränze gewunden aus weißen Seiden:
papierrofen, Myrtenſträußchen, dem und dem
in die Hand gegeben. Die beften Hembden
batten fie an, und die Haare waren gekämmt.
Sie waren gewafden. Wls ob man Glieder
aus Wlabajter mit lauem Waſſer wüſche, —
die eigene Mutter ftaunte über diefe Glieder,
fie erſchienen ihr fremd und ebrfiirdtig. Co
ſchienen fie gu lächeln fiber ihren eigenen
Etaat. Und die guten Lichter brannten in
glafernen Yeuchtern, drei bei jedem. Wenn
man das fo auf einmal fab, fonnte einem der
Verjtand fteben bleiben oder fic) verivirren.
Jetzt ftreute die Nachbarin aud nods getrodnete
Marienblatter und Kalmus auf den reinen
Hupboden. Frau Kamp arbeitete und fcdaffte
feit der Sterbejtunde, und der Morgen war
nabe. Die Nacbarin ſchaufelte draußen einen
Steig fiir Kamp, wenn er nach Haufe fame. |
Die ſchwarze, ftille Nacht erbellte noch fein
glithte rot. Rod war immer mebr, dies und
jenes im Haushalt würdig berjuricten, und
immer wieder beteten die Frauen, fo bald fie
qu den toten Rindern famen. Und es war
wie ein beiliger Rauf, in dem fie lebten,
befonders Frau Kamp war es fo. bred
Körpers war fie fic) nidjt bewußt, ihre Brujt
—
Ramps Kinder.
war hohl, ganz vertrocknet, das Herz ein
leerer Krug. Das twas fie bewegte, ſaß wie
ein Licht auf ihrer Stirn und erleuchtete ſie
und trieb fie an, ſtark und begeiſtert ju fein.
Beim Rnien fiiblte fie die harten Dielen nicht,
und die Gebete floffen ihr gu wie mod) nie-
mals, denn fie tar eine recht jerftreute
Beterin getwefen bis dahin. Wenn ibr Miann
nun fame, würde fie ibm entgegen geben und
fagen: Wir haben zwei Engel in unferer
armen Stube. Gott hat unfere lieben Rinder
genommen und er zeigt uné zugleich, daß tir
zwei Engelein zu Kindern batten. Störe fie
nicht und bete.
* *
*
Ramp fam nad Haufe geftapft; won der
Fuptour in dem loſen Schnee und einer Fabrt,
teilS in der Gifenbabn, teils iiber Gand war
fein zäher Rirper dod etwas erſchöpft.
Schließlich war er nidt mebr der Jüngſte,
und die Zeit, feit er bas eigene Grundjtid
bejaf, batte an ihm gejebrt, doppelt fo ftarf,
wie die als Wirtſchafter. Seine Frau fam
ibm auf einem forgfaltig gefchaufelten Weg
bis an die Pforte im Zaun entgegen, durch
bie offene Haustiire und bas Fenfier fab
er belles Licht. Ma nu? Weibnadten bat
bod) nod gute Wege, was foll denn bas?”
fragte er unwirſch fiber die Verſchwendung
pon Lidt. Der Frau verfagten die Worte.
Sie wart fid ibm an den Hals und ftreichelte
feine Baden, driidte feine Hande und legte
bie Stirn darauf, dabei ſtammelte fie Worte
von Gott und Engeln und der Seligfeit.
Ramp war gereijt, eine Angft, ein Brand
jtieg ibm in der Bruſt auf. „Haſt du deine
Sinne nicht, jum RKudud! Was redjt bu dat”
Da fie bei ibrem Stammeln und Liebfofen
blieb, fchob er fie wild bei Seite. In der
Haustiir fam ihm eine frembde Frau entgegen,
die verbeugte ſich und ſchluchzte und redete
Morgen, nur das Lidt aus den Fenftern |
ebenfalls von feligen Cngeln und dem Willen
Gottes,
„Was iſt denn los?“ ferie Ramp. ,, Was,
meine Kinder?“ Gr fah die beidben Weiber
an, die ihm die Hände auflegten, als wolle
er fic mit ben Flammen ſeines Entſetzens ver:
brennen. Cie bielten ibn an feinem Rod.
atau Kamp fiel auf die Knie. Es war im
Kamps Kinder.
Hausflur, von ba aus fah man nidt, wad |
bie Stube furchtbar Schreckliches, Herrlides
barg — nur das
Ramp trat fiber feine fnicende Frau heriiber,
ftie® die Tir mit bem Fuß auf und fah feine
beiden weifen ftilen Kinder im Roſenſchmuck,
im Lichterglanz.
, einem Tage?
jtifle volle Kerzenlicht.
Es war ein ungeheuer großes Unglück,
bas Schmerzlichſte, was ihm geſchehen konnte.
Wie ſollte er das faffen? Wenn er ſich nicht
Wefte und Hemde aufrif, dann barjt fein
Herz. Mochte es berjten; auf dem Fleck feinen
Geift aujgeben, wo dies gefdeben war, dad |
wäre das befte.
lafjen, ifn nicht anrühren. — Rein Wort, vor
allen Dingen feine Gebete und Redereien von
Engeln und Gottes Ratidlup. Dies war
mebr, alg man damit abtun fonnte, Died
waren Grnft und Gmmb, beidte Leiden!
Rechenſchaft wollte er fordern fiber die un:
menſchliche Grauſamkeit, die fie dahingeſtreckt
hatte. Sein Weib! Nein, ſein Weib konnte
er nicht anſehen, ſie hatte die Kinder ſterben
ſehen. Warum ſtarben ſie? Er knirſchte mit
den Zähnen und fuhr an die Wand wie ein
wildes Tier. So war einem zu Mut, der
von einem Felſen ſtürzte und mit zerſchmetterten
Gliedern in einer grauſigen Schlucht zum
Bewußtſein ſeiner Lage kam. Es murmelte
über ſeinen geſträubten Haaren. Die Frauen
beteten: „Wie ſie ſo ſanft ruhn“. Kamp ſchrie
mit Tränen, ſie ſollten aufhören, fortgehen,
aus der Stube gehen. Dann ſchlich er gebückt
zu ſeinen Kindern. Er betrachtete ſie, er lauſchte,
er mußte die Stille feſtſtellen, dieſe tiefſte
Stille, die uns bewußt wird, die in ihren
toten Körpern. Kein Geräuſch! Schnee fiel
draußen vom Dach, ſo klang es. Da lagen
Ernſt und Emmy.
Stuhl, feine Gelenfe knackten. Cr fegte ſich
bin und fiiblte, wie Grimm und Schmerz an
ibm riffen und ibn zunicht machten. Und
alles por und um ibn war leer und albern,
wo dies geſchehen war.
Es war cin grofes, ſchweres Ungliid, aber
wie Ramp es auffagte, twas er daraus madte,
wie es ibn veränderte, das war nod nidt
dagewejen, bebauptete man im Dorje. Er
fagte: „Das, twas ich verloren hab, fo'n
Verluſt ift aud nod nich’ dagewefen. Wem
Kamp holte fid) einen |
| Vergleidhe mit Rnofpen und feimenden Caat-
Man follte ihn ungefdoren |
408
ift eine Emmy und ein Ernft geftorben an
Wer hat fie gefannt? Wobl
nur tbr Vater!“ Das war ein Seitenbhieb
auf jeine Frau, die nichts tat, als [aut und
leife beten, während fie fiir zwei ſchaffte und
arbeitete, denn ibr Mann war wie gelabmt
an Gliedern und bléde im Geijt. Dann und
wann heimlich in der Rammer brad fie jus
fammen. Die Erinnerung aber an die Nat,
ba fie die Kinder verloren hatte und Gott”
lobpreifen und danfen fonnte, rif, fie wieder
in die Hobe. Gort liebte fie, tweil er fie fo
ſchwer züchtigte.
Die Kinder mußten begraben werden.
Das Ehepaar verſtand ſich in nichts, was ſie
dazu verabredeten. Kamp wollte ſich arm
machen für ſeine toten Kinder, und ſeine Frau
hatte nur im Auge, was üblich war und
nannte das Mehr Unvernunft und Hof—
färtigkeit.
Bei dem Begräbnis auf dem hodgelegenen
Kirchhof, der von einer Seite von einem tweite
lauftig ftebenden furjen Rieferntwald, die
Bauernheide genannt, von der andern Seite
von einem Exerzierplatz begrengt wurde, benabm
fid) Ramp fo fonderbar, dah feine Frau aus
ber bangen Grivartung garnicht berausfam.
Zuerſt zeigte er Ungeduld bei der Rebe des
Predigers, ftdbnte auf und trat mit dem Fup
auf, während er Undeutliches murmelte.
Alles, was der Prediger in ſeiner Rede ſagte,
machte ihn ſo entſetzlich ungeduldig, verletzte
und beleidigte ihn. Der fremde Mann wollte
wohl über ſeine Emmy und ſeinen Ernſt
aburteilen! Der wollte wohl Beſcheid über
ſeine Kinder wiſſen! Fort in die Erde mit
ihnen, die ſchon das Maul aufſperrte! Er
mußte es ausleiden, ausleiden ganz allein und
es gab keinen Troſt! Welche langweiligen
körnern! Das, was zur Landwirtſchaft gehörte,
ſagte er ſich längſt allein und viel anderes.
Seine Frau hielt ihn am Rock, an ſeinem
Alltagsrod, denn er hatte ſeinen guten Tuch—
rod nicht anziehen mögen. Ich bab’ dod)
nichts, was meinen Kindern Ehre erwieſe,
hatte er geſagt und hatte ihn wieder von den
Schultern geriſſen und nur die gute Hoſe und
Weſte anbehalten. Vielleicht hätte man von
Sternen ſprechen können, wenn man von ſeinen
410
Rindern reden wollte. ber einen fo rect
verquedten, lüderlich beftellten, trodnen Wer,
über einem verwabrioften Gehöft an einem
Sturmabend im Herbft, der Froft bradte und
Schneewolken, wo nod die Kartoffeln in der
Erbe ftedten, da find plötzlich zwei Sterne in
gang beiterem windſtillen Blau zwiſchen den
Wolfen aufgegangen.
geben die Sterne, fondern fie traufelten Tau
berunter, der nährt und erquidt und twarmt
und gut tut: fo waren feine Kinder getvejen.
Bu Ende, gu Ende, murmelte Kamp, und
bas war unpafjend, denn es fonnte aud auf
die Rede des Predigers gemiingt fein. Kamp
fannte fic) felber nidt, er fiiblte den Doppel-
finn und bereute ihn nicdt, und feine Scheu,
webder bor dem Pfarrer nod fonjt twem fam
ibm. Der Raijer hatte finnen fiber den
Ererjierplag angeritten fommen, es hätte ihn
nicht eingeſchüchtert.
Mls es dazu fam, die Erde nachzuwerfen,
fiifte er die Erde oder er fenfte dod) fein
Gefidt darauf und ftand und iwantte, als
miifje er ins Grab fallen. Man ſtützte ibn.
Die Dombroiwoer Erde; die hungrige Erde,
jetzt bat fie bas Befte, jest bat fie ibr Teil,
fagte er auper fich, fdbleuberte die Erde von
fid) und lief fic) fortführen. Man fam auf
ben Gebanfen, dak er vor Schmerz fic ange= |
trunfen .batte, er, der fonft fo niidtern und |
anjtinbdig war. Gin paar Sebritt ging er mit
feinen Führern, dann rip er ſich [08 und
ftiirmte gu dem Grabe juriid, wo der Toten:
gräber und fein Neffe emfig ſchaufelten. Da
bielt er jum Entſetzen feiner Frau und der
Andern, ausgenommen die rohen Naturen, die
Und nidt nur Licht
Ramps Rinber.
verbrannten in fid) felber, und fein Geficbt
war ganz flein geworden, der Hals lang.
„Mann, denf an Gotted Willen und dah
e3 die Kinder jest gut haben,” fagte feine
frau, fid) nabe gu ibm ftellend. Und fomm
nad Hauf’.”
„Und in Libau,” fubr Ramp mit Heftigheit
fort, fich nad denen umwendend, die ſich davon
madten, „in Libau vorgen Sommer, als
mid) der Schweizer bis auf die Knoden mit
feinen Gemeinbeiten und Untreue geargert
hatte, ba find fie gefommen wie die Engel
und haben mid an den Handen genommen
und baben mid) nad dem Hühnerſtall abge-
kammer wollt'.
ſich über Abſonderliches nur vergnügen, eine
Art Anſprache. Er ſetzte auseinander, wie
ſeine Kinder geweſen waren, garnicht zu be—
greifen. Alles hätten ſie verſtanden, für alles
hätten ſie ihn belehrt und für alles getröſtet.
Jeden harten Schlag hätten ſie beſchwichtigt,
ob es nun ein Fall mit dem Vieh war oder
mit der Witterung oder Leuteärger. Gut
hätten ihn ſeine Kinder gemacht, ihn richtig
beſchwichtigt, wenn ihn die Wut faßte.
Kamp war nicht betrunken, ſondern ſtand
ganz feft und redete garnicht ſchlecht. Seine
Augen nur waren ſchrecklich und nicht zu er—
tragen, denn ſie ſchienen nichts zu ſehen, ſondern
führt ein Ei ſuchen, wo ich nach der Häckſel—
Da band der Schweizer Heu.“
Kamp zitterte und bewegte ſeine Hände auf
und ab. „Wegen einem Ei zogen fie mich bin.
Der Ernft fagte: Batter, fagt er, glaub man,
fo’n Gi ijt grop, bas ift mandmal fo groß
wie'n ganzes Libau. Verſteht Ihr das? So
groß — er meinte, wenn ein Menſch geht und
bückt ſich nach 'nem Gi, da kann er in der Zeit
zur Befinnung kommen und war auf 'm Wege
weiß Gott, auf Tod und Leben ‘nem Feind
an den Kragen gu geben und ein Verbrecher
qu werden.” Frau Ramp beſann fic auf die
Begebenheit, fie hatte die Kinder geſchickt, weil
ibr angft war wegen dem Zuſammenſtoß mit
bem wütenden Schweizer. Aber dag tat nichts
sur Sade. Wie fie eS angefangen batten,
den Vater fortzubringen, nidt cin Mal, viele
Male! Aber wenn er nur jest fommen
wollte —
„Und fo twaren meine Kinder. Da war
ein Sinn darin, was fie fagten, daß ih mid
oft verwunderte und dadte, wie fann das fein,
find bod Eleine Kinder. Und fie müſſen bier
in ber Erde faulen, fie müſſen erwürgt fein
und waren unfdulbig und niemand jum
AUrgernis,“ fubr Ramp mit Lauter anflagender
Stimme fort.
„Es ift cin grofes Ungliid,” fagte cin
ſchmächtiger Familienvater befiimmert. „Die
zwei Einzigſten!“
„Aber id) werd’ meinen Kindern cin Dent:
mal fefen, das werd’ id,” fagte Ramp mit
ſchweifenden Augen, die Faufte auf der Bruit.
„Hier auf'm Kirchhof werd id 'nen Hiigel auf—
fiibren mit einem Weg rauf und oben eine
Ramps Kinder.
Bank. Zum Andenfen fiir Ernſt und Emmy.
Gin Stander mit ‘ner Holztafel und rings:
berum Gebiijde und Blumen. Damit man’s
überall fiebt, dazu ift der Plak gut. Zum
Undenfen fiir Ernft und Emmy.”
Der Ortsfdulje und fein Schwiegerſohn,
ber ſchmächtige Familienvater, beteiligten fid
mit Ratſchlägen an bem Plan, damit fid
Ramp. berubigen follte.
„Sie brauden jest nidt fo viel Aufhebens
und Denfmaler, Mann,” fagte die gedngftigte
Frau Ramp. „Sie find Engel bei Gott, ihnen
gebt nidts ab.”
„Aber mir geben fie ab,” fubr fie ibe
Mann an, iiber fie fort mit ben Handen weijend,
pim Himmel mögen genug Engel fein, dad
mag feine Rictigleit haben oder nicht. Dod
batt’ —“ Ramp fdlug fic) auf die Bruft, „ich
batt’ meine Kinder nötig bier auf der Erde in
Dombrowo, mir waren fie Engel. Und wer
fie mir nabm, der madte mid) gang 3u ſchanden
und nidt fromm.“
Frau Kamp biidte ſich entfest und betete.
„Und wenn das Denfmal fertig ijt, dann
werd id) auch fterben, dann bin idy aud) fertig.” |
Kamp iwollte fic) nun gleid) an das Ab—
fteden des Bodens madden, troh der Schnee—
ſchicht. Der Ortsſchulze hielt ihn zurück. „Noch
gehört er garnicht Ihnen, Kamp. Und iſt noch
die Frage — Gehen Sie jetzt nach Haus, Kamp,
trinken Sie, eſſen Sie was. All das Grämen
und Bäumen hilft nichts, das will getragen
ſein.“ Der Schulz führte Kamp fort, der es
einſah, daß das Abſtecken noch nicht lohnte.
Er konnte ſich auf Papier einen Plan machen.
* *
*
„Ob eine Mutter nicht grauſam genug
darbe und traure in den leeren Stuben?
Und all die fleine Wäſche und die leeren
Betten? Er tue gerade fo, ald hatte die
Mutter nidt das richtige Herz fiir ihre Kinder
gebabt!” Das fagte Frau Ramp gefranft yu
ihrem gang veranderten, finfteren, von ibr ab-
gewandten Mann und wartete auf eine Ent:
gegnung. Als feine fam, fubr fie fort: ,,Be-
denfft bu benn gar nidt von twem fold) Trübſal
fommt? Der Herr hat's gegeben, der Herr
bat’s genommen! Gottes Wege find duntel,
aber fie führen gum Licht.“
411
„Ja, ja,” fagte Ramp, feine tranenroten
Augen reibend. „Das ijt ja gan; flar!” Cr
lacte auf. „Tröſte du did) damit und fei zu—
frieden. Schön, febr ſchön. Mir ijt das duntel,
was dies fiir cine Wobltat von Gott fein foll!”
Gr jab feine Frau falt und fremd an. Elend
| genug fab fie aus mit ihrem fcbielenden Auge
freuen, Dann nabmen fie den Mund voll vor
und gänzlich ergeben. Wbgemagert war fie,
bie Hinde {nodig. Sie war nist ſchön. Cr
ſchmachtete nach feinen Rindern; feine Rinder
|
waren ſchön geweſen.
Da fand ſie etwas beim Kramen in der
Schublade, ein paar kleine Fauſthandſchuhe aus
grober Wolle. Fuür dieſe Händchen ſolche
groben Dinger! Gleich kamen der Frau Tränen
und dann kurzer Hand das Gebet, dazu ging
ſie in die Kammer, da hörte ihr Mann unge—
fähr den Wortlaut. Bald kam ſie getröſtet
wieder. Wozu 's gut ift, weiß Gott allein,
| meine arme fleine Emmy follt fic nicht aus:
/ wadjen und müd arbeiten, die wurde gleid
| bet Seiten ins Paradies verfegt.
„Meine Frau ift ſchwach von Geift, tweil
fie fich immerju mit Gebeten betiubt. Cie fann
nicht leiden,” fo dadjte Ramp, Er litt, er Litt
ohne Ublenfung, obne Betiubung bei leben-
digem Leibe. Er ſchmolz dabin in unendlider
Rührung, in einer ſchmerzhaften Béartlichfeit
beim Anblick der Faufthandfdhube. Seine ganze
Seele war eine Wunde, und er twollte von
Wundwatte nidts wiffen, denn nur fo fonnte
er um Ernſt und Emmy trauern, wenn er fie
taglid) vor Wugen und im Cinn hatte. Seine
Rinder batten MAufridtigfeit und Mut gebabt.
Die hatten offen gefagt, was ſüß, was fauer
war; twenn fie fich fiirchteten, verbeblten fie
bas nicht, und wenn es ihnen anfam, fic ju
Glid. Solche Geſchöpfe täglich zu beſitzen
und dann plötzlich eine große Leere und kein
Weſen auf der Welt, das ihnen gleich war,
dafür gab es keinen Erſatz im Geſangbuch.
„Mann, du ſitzſt nu' wieder ſeit zwei
Stunden auf einem Fleck. Geh, hack' mir Holz,
| ich bad’ morgen Brot,” ſagte Frau Ramp in
| flagendem Ton.
Ramp fubr zuſammen. Meine Stimme tut
ibm web, dachte feine rau, das ift nod
bas allerjcblimmfte: feine Rinder und der
| Mann wenbdet fic) ab! „Die Urbeit mus dod)
412
verjeben werden, lieber Mann. Dad Vieh will |
fein Teil. Du must heut nod Riibenblatter
aus der Miete graben.“
Um zu erproben, ob ihre Nabe ibm aud
lajtig mar wie ibre Stimme, fie wollte nicht
recht daran glauben — ftellte fie fich neben ibn.
„Ja, a,” fagte er und ging im Bogen um
fie berum jur Tiire, da blieb er fteben und
warf ibr einen gebaffigen Blid zu. „Und bat
Kamps Kinder.
mit furjen, barten Bewegungen zurecht und
ſenkte bie runzliche Stirn fiber die Arbeit.
„Mit meinem Mann ift jest nicht leidt
auszukommen,“ fing Frau Kamp zögernd an.
darüber ging.
ber Bladef nicht gewarnt und getan, wir
follten nicht nad Dombrowo?“
groflend. „Hat er nicht gefagt, bier bat fid
das Unglück feftgefest, und wer bier zuzieht,
verliert? Und wie ber Ernft —“ Ramp jitterte
ba nicht eine Warnung und eine Kenninis
fragte er |
Auf den Lippen brannte ibr orbentlid die
Klage über ibren Mann, die gum erjtenmal
yer ſucht Streit. Ich mad’
ibm nichts nad feinem Sinn. Meine Frommig:
feit wirjt er mir bor!” Sie fühlte ibre Rafe
falt werden und blingelte auf ibren Ehering
berab. „Als ob man gu fromm fein fann!”
„Na, gewiß dod!”
„Man kann zu fromm ſein?“ erkundigte
fidh Frau Ramp.
ber Rinnbaden — „wie ber Ernft gerade vom |
Wolf erjablen mufte, gur felben Stunde, war —
davon, wie's fommen follte? Der Wolf ijt auf |
bie Kinder . . .“ Kamp drebte fein Geficht dem
Türpfoſten gu und weinte.
Seine Frau ftand wie verdonnert. ,, Nein,
wenn du mir das yum Vorwurf madft, dann
ift bas ungerecht,” fagte fie gekränkt und wund,
aber mit Standbaftigfeit. „Ich fag’ nod) beut:
aberglaubifd foll man nicht fein. Und ſterblich
waren unfere Kinder überall.“
und ſchluchzte.
beit!” ſchrie er dann auf: ,, Wir waren ſicht⸗
barlich gewarnt, zweimal gewarnt. Aber Du,
obenauf, als weißt du alles im voraus, wie's
fommt, ſchlägſt alles in den Wind! Du tuft
bid wunder was, teil du fagit: im Namen
Gottes.”
Es ging jum Frühling, alg Frau Ramp
„Na gewip,” fagte die Alte. Sie batte mit
ibrem Cobne, dem fie wirtſchaftete, Urger ge-
babt und twar in grimmiger Laune.
,cagen Sie mir, Nadhbarin, wie meinen
Cie das?”
„Na — bas fonn auf verſchiedene Art
fein. Wenn eins immer bas Wort Gottes
im Munde bat und der andere ift ftreng und
_ findet fic) nicht feicht aus und feine Worte,
Ramp jitterte |
„Ja, Du mit Deiner Kluge |
eines Abends gu der Nadbarin herüberſchlüpfte,
mit der fie feit bem Todestage ihrer Kinder
befannter getvorden war. Die junge Frau
fag bei der Wlten, und es war fein Anfang
zu finden.
kurz, und beffer ware es wobl, bie Junge
ginge wieder, wie fie gefommen. © mein
Himmel, aber das Gemitt war zu bee
briidt! Won wem follte ibr denn einmal
ein Wort fommen, das beriet, wenn nit
pon einer alten flugen Frau, die viel erfahren
batte ?
Die Ulte machte Licht an, denn die ſchmale
Sichel, die durch das blaue, fleine Fenfter fab,
gab feinen Schein. Mun nabm fie einen
Stridjtrumpf vor mit groben Nadeln, ſetzte fic
: lichen Ehe leben.”
Die Alte war aud qu barjd) und |
dann muf ibm das auch zur Laft fallen, wenn
ex immer übertrumpft wird.“
„Im Munde führen?“ fagte Frau Ramp
und errötete. „Wenn cinem aber das Wort
gang bon felbjt in ben Mund fommt und man
weif fic) nichts Beſſeres bei allen Sachen?“
„Na, denn foll man fid aud begeben und
weiter nichts wollen, als vom lieben Gott ver-
jtanden ju werden.” Die Alte ſchlang ibren
Faden drei Mal um den Finger und greinte
vor fid) bin.
Frau Kamp errötete nod tiefer, ,, Man ift
aber bod nicht allein und foll im einer chrift-
Mad einer Pauſe fubr fie
fort: „Beſinnen Cie ſich nod, Nachbarin, auf
den Whend, wo meine Kinder ftarben und id
fam fie bolen?” Die Alte nidte gleidmiitig.
„Wiſſen Cie nod, wie wir da gefonnen
waren, und folde Crleudtung fam über uns,
daß wir mit Freunden ſchafften und ſchmückten
zur Ehre Gottes? So tat ic, die Mutter, und
dankte Gott.“ Frau Kamp fah aufwarts und
hielt Den Atem an und fangte mit ibren Geiſtes—
kräften berauf in jene wunderbare Region, von
ber fie damals ein Spürchen gefdaut batte.
„Mir war im Leben nid’ fo fonderbar, beinab
felig, wo id) meine lieben Rinder hergeben
Ramps Kinder.
mupte und fab fie jämmerlich fterben. Beide.
Da fonnte id beten und lobpreifen und wußte,
daß es fo ſchön und gut war, twas gefdab.”
Die Alte nabm eine Stridnadel und rieb
fihd ihren Scheitel. Sie nidte und dadhte
nad. „Ich bab’s nachher iiberlegt: wir
famen gu febr in die Heiligheit und tounder:
lide Sachen berein, beſonders in Anbetradht,
bap der Mann von der Landftrabe fam und
nidts wußte, nidts, von rein garnidts.
Wie follte der fic finden? Das war ju viel
fiir ibn.”
Frau Kamp ſtutzte.
„Der Mann hat mehr Sinn fiir fein
Hab und Gut. Wenn ibm twas genommen
wird, Dann baumt er auf und midte fid
bas nidt gefallen laſſen und find’ nid’ fo
rafd das Händefalten. Mein Se, ich fen’
wohl Mannesleut’ und feb ibnen twas nad,
aber ben Sobn lern id) nich’ aus, der treibt’s
wie’n Berritdter. —“ Die Alte gog die
Luft burd die Zähne und judte mit der
Naſenſpitze. „Eine Frau,” fubr fie fort, „die
nid’ fo vicl bat, was ibr allein gehört und
fonft immer vielfad) in ber Klemme fist, die
findet fic) eber, tenn ihr twas genommen
wird, und ift demütig.“
Frau Ramp riidte auf ibrer Ofenbanf
und feufgte. „Er wirft mir vor, dak ich es
gewollt bab’, nad) Dombrowo zu ziehen,“
fagte fie beunrubigt. „Er ijt gewarnt, bap
bier Ungliid fei. Aber ich fagte: dad ift
UAberglauben. Bin ih nidt im Rede?”
„Viel Glück ijt bier nich’ yu haben,” meinte
die alte Frau mit einem trüben Blick. „Nein,
viel Glück nich’ — aber anderwärts aud nich'.“
Sie gudte mit einer Schulter.
„Aber es ftedt bier dod fein Zauber
oder fonft eme Berherung wegen Unglück?
Das war dod) Teujelswerf, mit bem man
nidts zu fdaffen bat, wenn man Chriſt
ift —?”
Die Alte machte eine vage Handbewegung
und jagte: „Die Wiejen find meiſt bitter, und
bie Kühe haben die Neigung, gu verfalben.
Und ber Schulz taugt nidts, der denft nur
an fic und feine Familie, und das Bier in
ber Rneipe ſchmeckt gu gut.” Und fie ftridte
mit ciner Grimafje des Spottes auf dem
feiften Geficht. Frau Ramp fagte angetan:
‘
413
„Ach, Sie fpafen!” Ihre Schuhe knirſchten
auf dem Sand der Dielen, und ihr Kleid
ruſchelte. „Na, na, gehen Sie man noch
nid’, junge Frau,” ſagte ba die Alte. „Wir
haben nod nid)’ ausgeredt'. Setzen Sie fid
man nod’n bisden. Wie alt find Sie dod
ſchon?“
„28 Jahre, im Mai 29,” ſagte Frau
Ramp im Steben.
„Und er? Na, er ift ‘ne gange Ladung
filter. Sie find jung, und der Mann hat
fein alles an die Kinder gehängt. Hm —
und Gottes Wort fommt ibm nid’ fo leicht,
er ift widerbaarig und ftreng und itberlegt
fidh alles jebnmal von allen Geiten. Sie
bangen dod meift aud) nod) an was anderm!“
„An meinem Mann,“ fagte Frau Ramp
raſch. „An dem hang’ ic mehr als an den
Rindern. Die Kinder find tot und in Gottes
Hand, aber er, cr verfommt ganj, und id
fann ihm nicht beifommen ihm ju belfen!”
„Ihr rechnet wohl aud nod, bak eud
bas Leben was bringt — na, etwa ein neues
Rind ?“
rau Kamp ſchlug die Augen nieder.
„Ich wüßt' mir nidts im Leben, wads ſchöner
wir’, als wieder gefegnet gu fein.” Cie
drebte an ihrem Tafdentud, und ihre Miene
wurde bitter, „Aber dazu ift feine Ausſicht
vorhanden, Ramp bat ſich gang von mir
abgewwandt, feit Ernſt und Emmy tot find.
Ich glaub’, er will fein Rind mebr nad
foldjen, wie wir verloren haben, die ibm tag:
lih vor Mugen ftebn. Cr will fterben, wenn
bas Denfmal geſetzt iff und im Commer
begriint.” Frau Kamp trat fdleunigft an das
Fenfter, um ibren Schmerzensausbtuch ju
verbergen.
Die Alte nidte mit dem Kopf und blies
die Baden auf. „So gedadht — und fo
getan”, fagte fie gu einer Bewegung ihrer
rechten Hand nad dem linfen Oberarm und
herab bis auf den Nagel ihres Seigefingers.
„Das Denfmal wird uns wobl nich’ den
Sonnenuntergang verbauen, das wird wobl
meift in Ramp feinem Geift fteben bleiben,
ſchãtz ich.”
Frau Ramp bebte der Riiden; binter ibren
Handen flofien die Tranen der ungliidliden
Liebe fiir ibren Dlann.
414
Die Alte feste fic ihre Brille auf. ,,Man |
Nod) ijt der |
nid)’ verjagen, junge Frau.
Mann vorhanden, und der Froft ift nod nic’
mal aus'm Boden. Nic’ verjagen! Wenn
euch Gott ein neues Rind fdentte, das iware |
| Graber auf'm Kirchhof.“
ganz gewiß das Beſte. Warum ſollen Sie
nic)’ mehr ſchöne Kinder haben? Maden Sie
man, dag ihr Mann Ihnen wieder gut twird,
dazu gebirt nicht blos die
fondern Überlegung. Uberlegung iſt nötig,
junge Frau. Nachher wird er auch nich'
ſterben wollen.“
* *
*
Der Ortsſchulze nabm fic feinen Schwieger⸗
ſohn, ben ſchmächtigen Familienvater, mit, als
er ju Ramp mit einem abſchlägigen Befdeid
pom Ronfiftorium geben mußte. Er hatte an—
cin Stii€ Land auf dem neuen Kirdbof ers
werben Diirfte, um ba einen Denfmalshiigel
fiir feine beiden an einem Tage verftorbenen
Kinder gu errichten. Co viel Raum, wie ein
Grabſtein braudt, fo viel gewif, aber, um
einen Hügel mit Wegen und einer Bank da
qu erridjten, dazu fei der Kirchhof nidt, fo
ſchrieb bie Behörde.
Der Ortsſchulze hatte das im voraus
gewußt und Kamp von feinem Plan abgeredet.
Mittlerweile waren nahezu fechs Monate ver—
ftriden, er meinte, Ramp würde fic) berubigt
haben und den Beſcheid ohne viel Aufhebens
binnebmen. Darin irrte er ſich nun. Verein—
famt und wund, wie er war, traf ibn dieſe
Abweiſung wie ein Backenſtreich und eine
Verhöhnung. Noch nicht ein Titelchen von
feinem Plan hatte er aufgegeben, im Gegen—
teil, cr war gewachſen, aufs feinjte tiberlegt,
aufgezeichnet, bie Schrift gu der Tafel mühſam
aus dem Drud ber Bibel jufammengeftellt.
Bei diejen Arbeiten hatte fic) feine Sehnſucht
mandmal in Heiterfeit verwandelt. Da war
ibm, als ftanden Emmy und Ernft jedes an
einem Cllenbogen und faben ju und freuten
jebt der Schweif aus allen Loren. Er jtierte
und war fpradlos, und als er gu Worten
fam, waren fie voll Hah gegen das erbärm—
liche geizige Nonfiftorium, das ibm fein bisden
Troſt raubte,
—
Frömmigkeit,
Kamps Kinder.
Der Orisſchulze ſetzte ſich, nahm eine Priſe
und ſagte: „Und wenn nun ein jeder mit ſo
einem Plan käme, Kamp? Darin hat doch
das Konſiſtorium recht. Da hätten wir bald
ebenſoviel Buſchhügel und Ausſichtspunkte tie
„Jeder mit ſo was kommen? Was ift bas
fiir eine Dammelei“, ſchrie ihn Ramp an.
„Es fommt eben nicht jeder damit, weil fo cine
Trauer, wie ich erlebe, nod vielleidt nid’
alle bunbdert Jahr' vorfommt!”
„Ihr nebmt aber ben Mund aud voll,
Ramp,” mifdte fic ber junge Familienvater
in die Unterbaltung. „Das ijt doc mebr als
auf'n Rubbaut raujgebt! Als ob nich’ jeder
von uns twas erzählen fann von Sterbejallen.
Shr tut grade fo, als ob bei euch erſt rect
das Trauern angefangen hat.“
gefragt, ob der Gigenfathner Eduard Ramp |
„Ihr vermeßt Euch,“ fagte aud der Orté-
ſchulze ſalbungsvoll. „Das gibt Argernis,
wenn ſich einer vermißt.“
Kamp hatte ſich halb abgewandt von ſeinem
ihm verhaßten Beſuch, der nur da war, um
ihn zu hetzen und zu verhöhnen. Da in die
Ecke ſtarrte er, die knochigen Fäuſte auf die
Bruſt gepreßt. Seine Kinder hingen an ſeinem
Herzen mit ihrer Süßigleit und ihrem beſon—
deren Wefen tvie eine Laft und zogen ibn von
allen Menfden fort, Ihnen treu ju fein, war
alles, was er nod wollte. „Ich vermeß mid
nicht,” fagte er trogig. „Gott ift mein Benge
daritber, was id auszuſtehen babe in diefem
Leben ohne meine Kinder. Da ift feiner, der
fagen finnte: bier bin id, meine Trauer iſt
gleid) fo wie Deine. Und wenn’s nicht meine
Kinder geweſen waren, fondern frembe und id
batt? fle genau gefannt, fo genau, twie ich fie
fannt’ als ibe Bater, id würd' mid) rein
zu fdanden gramen, daß fo was fierben
| mufte.“
Kamps Blicde irrten von dem Geficht ded
Ortsſchulzen gu dem feines Schwiegerſohnes
mit ciner Art miftrauifder Spannung. Ob
er ibnen im Guten begreiflich machen fonnte,
fid. Bor Enttaufdung und Zorn brad ibm
was es um Emm und Ernſt gewefen wart
„Und die Pillagen, die ihren erwachſenen
Sohn begraben hat, und ber Poftbalter, dem
die verbeiratete Todter und die zweite Frau
in einem Sabre ſtarb?“ frabte ber Familien:
vater erregt.
Kamps Kinder.
415
Kamp {diittelte mit dem Kopf und tourde | Schwiegerſohn. „Er bringt rum, Dombrowo
überdrüſſig, fein Blick ließ die Gefidter, er
fab befjer ind Leere.
„Mir alten Mann werden Sie fic) dod)
nidt gegentiber auffpielen wollen, Ramp,” fagte
der Ortsſchulze mit faniter Entriiftung. „Ich
fenn’s Leben, das fag id) Ihnen, id bab
Kinder begraben, Geſchwiſter beqraben . . .”
„Was iſt da lange gu ſchwatzen. Ich weiß,
was ich weiß und wie's in mir ausſieht. Und
iſt kein Troſt. Dieſe jämmerliche Bande von
einem Koſiſtorium hat auch nich' für'n Dreier
Verſtändnis von was.”
Ramp ſchoß einen jornigen Bli€ in der
Ridtung, wo der Ortsſchulze fag, erhob ſich
und drehte ibm den Rücken.
„Und Cure fromme Frau, die fo gott=
ergeben ijt? Un der nehmt Abr Euch fein
Beifpiel, das fiebt man.” Der Ortsſchulze
ftand nun auc auf und war aufgebradt, wie
das fein Schwiegerſohn fchon langft war. Der
wartete nur darauf, mit feiner Meinung heraus-
zukommen.
„Als ob Ihr mehr ſeid wie irgend Einer,
Ihr mit Eurem Hügelwerk, Ihr! Raußbeißen
wollt Sor Euch! Was ſeid Abr denn herge—
kommen, möcht ich wiſſen? Die Leut' ſagen,
Ihr habt Dombrowo in Verruf gebracht, als
ſäß' hier beinah die Peſt!“
„Macht ſchon, dak Ihr rauskommt,“ fagte
Ramp mit zitternden Gliedern und feuchend.
„Ich Qin bald auf'm letzten Faden mit eurem
Geſchwätz.“
„Kurz nach dem Todesfall ließ man ſich
noch Euer Weſen gejallen, man dachte, der
kommt ſchon zur Bernunft, aber heut ſeid Shr
noch verrückter als damals.“ Der Ortsſchulze
pruſtete ärgerlich und wollte gehen.
„Und Cure Frau...”
Da flopft es, und gleich darauf trat Bladef
ein. Bladek war jest nicht mehr Pojtbote,
fondern Rolporteur von Volksſchriften. Wud
beute am Gonntag war er unteriwegs mit
jeiner ſchwarzen Taſche.
„Laßt die aus dem Spiel, die iſt eine
beſſere Kirchgängerin als Mutter,“ ſchrie Kamp
den kleinen Familienvater an.
„O fo, fo, fo traftiert Shr Eure Frau.”
Der Ortafdulje war empört. ,, Anflagen follte
man ibn. Das follt’ man,“ jeterte fein
ware verhert gum Unglück!“ „Fragt den
Bladef, der hat mid gewarnt, der hat gefagt,
bier verliert man.“ Samp zeigte auf den Alten,
ber an der Türe ftand und Miene madte,
feine ſchwere Taſche abjulegen. Der wubte
nidts mebr über bie Gace. Gr befann fic,
machte wenigftend ein Gefidt, ald tite er fo,
fteifte fid) aber innerlich nicht unflug zu ver-
raten, was er bon Dombrowo gefagt. Er
wollte bier Schriften abſetzen. ,,Gebrannt hat's
frither öfter bier,“ meinte er, „ob Ramp darauf
raus wollte? Und dann fam mal fo'n Ungliid
mit Schulfindern von den Wusbauteu vor, die
in ciner Schneeſchanze umfamen. Das fann
aber aud) anderwärts paffiert fein.” Cr blingelte
ben Ortsfduljen an und fragte an, ob er ibm
Schriften vorlegen diirfe.
Kamp ladte Hohn. Co war Blade,
heuchlerifd, feige, dumm — alle waren fie. fo,
nur feine Kinder. nidjt, die waren dad Gegen—
teil davon geweſen, und darum liebte er fie.
Gegen alle diefe erbärmlichen Menfden ftand
er, ein Cinjelner, im Kampf und wußte nicht
aug und ein vor Hie und Whfdeu. Bn den
Tumult ber aufeinander plagenden Clemente
trat Frau Kamp ein. Bm ſchwarzen Kaſchmir⸗
kleid mit einem Umſchlagetuch um die Schultern
fam fie aus der Rirde. Die bedauernswerte
Frau, deren Wann aus dem Leim gegangen
war,
„Ihr Mann fiibrt fics wie närriſch auf!’
rief ihr der Ortsfdulje entgegen. ,, Weshalb?
Weil das Konfiftorium ihm veriweigert, da auf'm
Kirchhof ‘nen grofartigen Bufdbiigel auf—
zuführen. Und hat es nidt recht, Frau?
Wozu fol vas? Einfache Leute haben fic
nichts rausjunehmen, twas fic fiir fie nicht
ſchickt.“ Der Ortsſchulze ſchlug mit der fladen
Hand auf das Sdreiben und erwartete Ver-
jtand von Kamp's Frau.
„Das find’ id aber häßlich vom hohen
Ronjijtorium, daß fie meinem armen Mann
nich’ ben Croft ginnen, ein Denkmal fiir
unjere Kinder aufzuführen“, fagte die nach—
drücklich.
„Na nue?” -
„Na jal Wem ijt denn fo cin Unglück
geſchehen alg uns? Wer hat fo obne Vor:
bereitung zwei ſchöne geſunde Kinder begraben,
416
an denen fein Fehl war, nid’ innen, nod
aupen?” Frau Kamp legte dad Umſchlagetuch
ab und das Gefangbud) auf den Tiſch und
ging dann an dem Ortdfculjen vorbei gu
ibrem Mann, neben den fie fich ftellte. ,, Wenn
die unglidliden Eltern twas tun wollen fiir
dad Andenken der Kinder, die fie nicht ver-
geffen werden, fo lange ein Hiigel ſteht und
wieder griin wird, warum wird bad nidt ge-
litten ?”
„Sein 'Se froh, wenn Ihr Mann feinen
quedigen Uder richtig beftellt”, erbofte fic) der
Familienvater, feinen mageren Kopf vor-
ftredend. ,, Man immer fadte!”
„Wie er das madt, ob in der Nacht oder
Leute dazu annimmt, das gebt feinen twas
an“, verfebte ihm Frau Kamp.
Der Ortsfdhulze pfiff.
„Weil er obne Gottedsfurdht ijt, dedhalb
verfteift fic) Ramp auf ſo'n beidnifden Ge-
danfen”, höhnte fein Schwiegerſohn.
„Laſſen Sie man, Gramſch. Wer Gottes-
furdt bat und wer nid’, fann feiner fid
rausnehmen ju unterfdeiden. Der eine hat
fie, und dann ijt fie wieder tveg, und dem
anderen fommt fie, wenn man’s garnidt
bdenft.”
„Das foll woll Gottesfurdt fein, wenn
Ramp von Bladef zuſammengeſchwatzten
Unfinn aujgreift — der Bladef fagt nod
ſcheenſtens, das er's nicht war — und ftreitet,
dag es fo etwas giebt wie Warnung und
Vorahnung, und an einem Ort fist dad
Unglück fefter wie wo anders.“
Frau Kamp ſchlug die Augen nieder.
„Ich weiß eS nicht, wie bad befchaffen ijt.
Ob an manden Stellen mehr Ungliié auf
ung lauert wie an andern — ich wei nic’,
id) meine meift nein, wir find wobl iiberall
fo geftellt, da} Gott von uns weif, aber in
|
Ramps Kinder.
der Bibel fteht: wir feben feiner Werfe das
wenigfte, denn viel größere find uns nod
verborgen. Wir feben aud nid’, too Rranf-
beit in den Wänden ſteckt oder im Grund—
waſſer, oder ſchlimme Geiſter — ich weiß
nid’! Ich weiß blos, daß id) wollt', id
hätt' meinem Mann gefolgt damals. Und
daß ich ihm abbitten muß.“
Kamp wiſchte ſich den Schweiß von der
Stirne und erholte fic) etwas.
„Macht aus feinen Rindern rictige
Wunder,” nahm der Familienvater den Streit
wieder auf. „Waren fie nid’ mie anbderer
Leut’ Kinder aud? Was war denn an ibnen,
bag er fo groß tun muf mit feiner Trauer ?”
Kamp lies die Fauft auf den Tif fallen
und ſtöhnte auf. „Kinder find nu’ ſchon
verfdieden, Gramſch,“ fagte feine Frau rafd.
„Sie find uns geſchenkt, wir baben fie nicht
gemadt. Wenn Gott fie ſchön macht und
gut und flug wie unſern Ernft und unſre
Emmy, denn ijt bas bitter, ſolche Kinder gu
verlieren, beinah’ fo, dag man’s nid’ tragen
fann, obne gang yu verjagen.“
Bladek packte feine Schriften wieder ein,
weil er fab, da nichts damit ju verdienen
war bei diefen Menfden bier. Ciner nad
bem anbdern verließ die Stube. Frau Ramp
gab dem Ortsſchulzen das Geleit, wie es
ſich gebirte; in Gedanfen flog fie fdon
zurück ju ihrem Mann, bei dem ihr Herz
war. Sie dadte: wenn id ibn jegt nidt
ju mir zwinge, daß er merft, er ift nidt
allein geblieben auf der Welt, die Frau ift da,
die Mutter von fo ſchönen Rindern, dann ijt
in meiner Liebe aud) nidt ein Fünkchen Rrajt
und Sajt, und meine Gottesfurdht taugt nicht
viel.
Frau Kamp zwang ihr Schickſal jum
Guten.
417
Jas Stimmrecht der Prauen in kirchlichen Angelegenheiten.
Bon
Paula Miiller.
Ragdrud verboter.
n unferer Zeit ijt cine ftarfe Bewegung fiir die Erlangung der firdliden Rechte
der Frauen, d. h. dev Berechtiqung, an allen innerhalb der Kirchengemeinden
vorfommenden Wablen teiljzunehmen, entitanden. Die Frauengruppe der firdlich-fozialen
Ronferen3 in Berlin, der Deutſch-Evangeliſche Frauenbund haben fics ſchon feit längerer
Beit mit dem Gedanken diefer Criveiterung des Franenrechtes im firchlicen Ge—
meindeleben befchaftiqt und ibre dabingehenden Forderungen mehrfach ausgefproden;
der Deutſche Verein fiir Frauenſtimmrecht ijt ebenfalls in die Agitation fiir diefes
Wablrecht der Frauen cingetreten. Wenn ſchon die Ausſichten auf Crfiillung diefer
Forderungen noch feinesivegs jebr giinjtige genannt tverden können und die Frauen
auch in diefer Beziehung kaum Gelegenbeit baben diirften, fich über cin allju raſches
Tempo der mafgebenden Faktoren bei der Regelung diejer Frage yu beflagen, fo
ijt doch nicht yu verfennen, daß die Möglichkeit einer Beteiligung der Frauen an den
kirchlichen Wahlen jest immer haufiger ertwogen wird. Der Kreis der Manner und
Frauen, der die Heranjiebung der Frauen zu den kirchlichen Wahlen als eine Forde:
rung der Gerechtigkeit anfiebt und fie im Intereſſe des kirchlichen Lebens ſelbſt wünſcht,
vergrifert ſich zuſehens. Es ift died febr begreiflich, denn es liegt auf der Hand, wie
der Ausſchluß von der Beratung aller verantiwortungsvollen Fragen in einer Ge-
meinſchaft, zu der fie ſich ausdriidlich berufen fiiblen, und die mit ihrem inneren per:
finlichen Leben aufs engſte verknüpft ijt, die Frauen aufs empfindlichjte treffen muß,
und daß vorurteilslofe, den Frauenbeftrebungen woblgejinnte Männer dies mitempfinden
finnen, Derartige die Frauen aus der Gemeinſchaft ausſchließende Beſtimmungen
mögen zu anderen Zeiten den Gemeindeintereſſen entiprochen haben; yu den heutigen
Berhaltniffen paßt es nicht mebr, wenn die Frauen, die ftet3 einen befonders regen
Anteil am kirchlichen Leben nebmen, die die Hauptitiigen der Geiftlichen find, bei der
Durchfiibrung dev Fürſorgetätigkeit innerhalb der Gemeinden, an den inneren Fragen
der Gemeindeverivaltung keinen Teil haben ditrfen.
Sn den meiſten proteftantijdyen und namentlich in den evangeliſch-lutheriſchen
Vandern find die Frauen ju den Wahlen fiir die Gemeindevertretung und den RKirchenrat,
sur Bfarrwabl, da, wo diefes Recht den Gemeinden guftebt, zugelaſſen. In der Schweiz
ijt dies bis jest nur in eingelnen Kantonen und meiſt nicht in der Landesfirche der
Fall, hingegen hat die ftrengere Richtung der Schweizer reformierten Kirche, die église
libre, den Frauen dieſe Rechte gewährt. Die Agitation fiir diefe Fragen hat in neuerer
Beit in der Schweiz ebenfalls mit befonderem Nachdruck eingejest. Die Synode des
Waadtlands bat am 30. September v. J. mit 39 gegen 15 Stimmen dad allgemeine
firdliche Wablrecht der Frauen für die Yandesfirde angenommen. Dieſer Beſchluß iſt
aber noch durch den Grofen Kat zu genehmigen. Auf Antrag des Züricher Kirchenrats
27
418 Das Stimumredt der Frauen in kirchlichen Angelegenheiten.
ijt die Frage ded firchlidien Frauenjtimmrechts auf die TageSordnung der diesjährigen
allgemeinen Schweizer Kirchenkonferenz gefegt worden. Die dort bevorftehenden Ver—
handlungen und Beſchlüſſe werden, wenn ſchon nicht direft enticheidend, fo dod) ficherlids
von weſentlichem Intereſſe fiir den Fortgang diefer fiir die Frauen fo wichtigen Ange-
legenheit in Deutſchland fein. ')
Dänemark hat den Frauen das Recht, in firchlichen Dingen gehört zu werden,
neuerdings verlieben, ebenfo Norwegen, wo es feit 1899 in beſchränktem Umfange
exiftierte, feit 1903 aber allgemein durchgeführt iff. In Island wird es jeit dem Jahre
1886 ausgeübt; auch in Finnland befigen die Frauen kirchliche Rete. Der dabin-
gehende § 4 ded Däniſchen kirchlichen Gemeindegefeges fagt: , Wablredt und Wablbar-
feit jum Rirchen:Gemeinderat haben Männer und Frauen einer zur Landesfirde ge—
hörenden Gemeinde nach vollendetem 25. Jabr und wenn fie wabrend eines Jahres
fejten Wohnſitz in der fircdlicden Gemeinde gebabt haben.” Es folgen die Beftim:
mungen, die fics in allen Rirchenordnungen finden, nach welchen unter beſtimmten Vor—
ausſetzungen, bet ebrlofen Handlungen, Errequng eines öffentlichen Argerniffes, Trunk,
Lajfterbaftiqfeit ufw. das Wablrecht rubt. Weiter heißt eS dann: ,,Cin jeder Wabler
foll febriftlich bitten, in die Wabllijte eingetragen yu werden. Niemand, der Wahlrecht
und Wählbarkeit zum Kirchengemeinderat befigt, darf fich weigern, die Wabl yu dem—
felben anjunebmen, wenn er nidt über 60 Sabre alt ift oder von dem Biſchof
(General-Superintendent) von diejen Verpflichtungen befreit ijt.“ Die däniſchen
Frauen haben aljo nidst nur das Recht, fondern ausdriidlicd die Pflicht diefer Teil:
nabme am firchlichen Gemeindeleben.
Am früheſten geſchah wohl dieſe Anerkennung des kirchlichen Frauenrechts in
Schweden: Dort hatte bereits am Anfang des 18. Jahrhunderts jede Frau mit
Grundbeſitz das Recht, bei den Pfarrwahlen mitzuwirken, ſowie in einigen kommunalen
Angelegenheiten ihre Stimme abzugeben.) Auf dieſer fiir die Frauen fo günſtigen
Grundlage hat ſich dann die ſpätere Geſetzgebung für die Kommunal- und Gemeinde—
angelegenheiten von 1862 aufgebaut. Nach ihren Beſtimmungen hat jede ſchwediſche
Frau, die ſtimmpflichtig iſt, d. h. jede unverheiratete Frau, die cin Einkommen von
wenigſtens 700 Kronen hat, kommunales Stimmrecht und dadurch das Rect, fowobl
bei Stadtverordneten:, wie Pfarrwahlen innerhalb der evangeliſch-lutheriſchen Staats—
kirche, bei der Wahl des Schulrats, bei der Anſtellung von Lehrkräften, bei der
Entſcheidung von Gehalts- und vermögensrechtlichen Verwaltungsfragen mitzuwirken.
Wie weit ſind die deutſchen Frauen von einer derartigen Anerkennung ihrer
Wünſche noch entfernt!
In Deutſchland finden wir nur ganz vereinzelte Anſätze zu der Erweiterung des
Frauenrechts in kirchlichen Dingen. Die St. Georgengemeinde zu Berlin, die
reformierten Gemeinden in Hamburg, Lübeck, einige reformierte Gemeinden in Ojt-
friesland, ſowie die Mennonitengemeinde in Emden ſind zur Zeit, ſoweit es in Erfahrung
zu bringen war, die einzigen Gemeinden, die die allgemein giltige Anſicht, daß die
Frau in den Angelegenheiten der kirchlichen Gemeinden keine Stimme haben dürfe,
durchbrechen. Wohl haben die Frauen in einigen Gegenden, u. a. in Schleswig—
) Die evangeliſche Kirchengemeinde in Kesmark in Ungarn bat ganz kürzlich den Beſchluß gefaßt,
daß Kirchenſteuer zahlende Frauen wahlberechtigt ſind. Bei der im Sommer vorigen Jahres ſtattgehabten
Wahl der Kirchenräte haben ſchon 31 Frauen iby Votum abgegeben.
2} Work and aims of the Frederika Bremer Association. Stockholm. 1903.
a —
Das Stimmredht ber Frauen in firchlichen Angelegenbeiten. 419
Holftein, Hannover, Heffen- Naffau gleich den männlichen Gemeindegliedern das
Recht, Cinfpruch zu erbeben, wenn jie gegen eine Pfarr- oder Kircenvoritandswabl
begriindete Einwände haben. *)
Die Vertreter der Anſicht, daß der Frau mit Recht diefe eng umgrenzte Stellung
in den Gemeinden zugewieſen ijt, pflegen ibre Auffaſſung einmal durd) den Hinweis
zu begriinden, daß auf Grund der beiligen Schrift, namentlics auf Grund des Gebotes
des Apojtels Paulus, die ſtrengſte Zuriidbaltung der Frau allen öffentlichen Angelegen-
heiten gegeniiber bedingt iſt. GHervorragende Vertreter unferer evangelifden Kirche
baben die aus dem „Das Weib fchweige in der Gemeinde” abgeleiteten Vor—
wiirfe gegen die moderne Betätigung der Frau ausdriidlich zurückgewieſen und wollen
dicje Worte des Mpoftels nur auf die Verfiindigung des Wortes, das öffentliche Gebet
und dic Austeilung der Saframente im Gottesdienft der Gemeinde angetwandt feben. *)
Andere haben in dem Wort 1. Kor. 14, 34 lediglich cin Sittengebot fiir die Ver—
haltnijje und Bediirfnijje der damaligen Beit und eine Ermahnung fiir die befonderen
Zuſtände in Rorinth feben wollen. Jedenfalls wird die buchftablide Anwendung und
Befolqung diefes Wortes heute wohl nur nod von folchen gefordert, die überhaupt
den Frauenbejtrebungen fremd, um nicht zu fagen feindlid) gegeniiberfteben, fie werden
ſchwerlich dazu beitragen, eS den Frauen zu ermöglichen, lebendige, tätige, ver-
antivortungsvolle Glieder der kirchlichen Gemeinden zu werden.
In der und gegebenen bibliſchen göttlichen Offenbarung finden wir im Gegenteil
viele Worte, die wohl den Grund legen diirften fiir die Anſchauungen, die eine ftarfere
Heranziebung und lebendigere Anteilnahbme des weiblichen Gefcblechtes an den Wuf-
gaben der Kirche fordern. Wir ſehen zunächſt, wie Chrifti Worte das Weib in reli:
giöſer Besiebung dem Manne gleich ſtellen. Beide verfolgen ein Ziel, beiden ijt eine
Norm als Lebens- und Sittenregel gegeben. Mann und Frau haben Jefus Chrijtus
bei feinent erften Tempelgang begriift (Luk. 2, 25—39), Manner und Frauen haben
fic) dem Herrn nähern diirfen. Wir finden fromme Frauen yu Jeſu Füßen, und wenn,
aud ausdrücklich nur Manner ju jeinen Jüngern berufen wurden, fo feben wir dod,
wie Frauen bis zuletzt um ibn waren, ibm die Treue bewabrten. Wenn es in alt:
fircblicher Zeit als ein Seiden des Apoftolats galt, den Herrn nach feiner Auferſtehung
geſehen und von ibm Auftrag erbalten gu haben, nun jo ijt dies den Frauen, die thm
nachfolgten, zu Teil geworden (Ev. Job. 20). Und im Urebhrijtentum, in der apofto-
liſchen Beit feben wir, dak prophetiſche Gaben Männern und Frauen gegeben werden
(Apoſtelgeſch. 2, 17 u. 18), und wir hören, wie weibliche Diafone (Römer 16, 1)
und Witwen (1. Tim. 5) der Gemeinde dienen ditrfen, ja wie fie yu Ehrenſtellungen
innerbalb der Kirche berufen werden. Nach der apoftolifchen Rirdenordnung wurden
jeder Gemeinde 3 Witwen amtlich jugeordnet. Erſt in den Synoden und Konzilien
des 4. und 5. Sabrhunderts wird die Ordination und Ronfefration der Witwen ver-
boten. Es iſt charakteriſtiſch, daß die 2. Synode von Orléans dies mit der Schwäche
des weiblichen Geſchlechtes begründet.) Daß die im Nittelalter yur Citte gewordenen
1) Der darauf bezügliche § 12, Abf. 3 bes Hannoverfden Kirchengefeges vom 22. Deyember 1870
fautet: „Jedes fonfirmierte Ricchengemeindeglied, auch wenn dasſelbe fonft zu den kirchlich Stimm—
berechtigten nicht gehört, ift berechtigt, Cinwendungen gegen eine Wahl voryubringen, wodurch die
Einfiibrung des Gewählten bid zur Erledigung der Cinwendungen verſchoben wird.”
2) Central⸗Ausſchuß fiir Innere Miffion, Leitfage yur Frauenbetwegqung.
7) Ublborn, Chriftliche Liebestatighcit. Stuttgart 1895,
27*
420 Das Stimmredt der Frauen in kirchlichen Angelegenbeiten.
Anſchauungen über die kirchlichen Rechte der Frauen von uns heute nicht als bindende
Geſetze empfunden zu werden brauchen, beweiſt uns in der Zeit der Wiederherjtelung
der Urkirche, in der Reformation fein geringerer, als Dr. Martin Luther. In feiner
Sehrift „Vom Mipbraucd der Meſſen“ fagt er ausdrücklich, nacdem er vorbher jeine
Auffaſſung des allgemeinen Prieftertums klar gelegt bat: ,Der Glaube ijt allein
das rechte prieſterliche Ampt, darum find alle Chriſtenmänner Pfaffen und alle Weiber
Pfäffinnen.“
Der zweite Einwand pflegt ju fein, die Natur der Frau geftatte ihr keinerlei
Betätigung im öffentlichen Leben. ber diefe Theorie ijt die moderne Entwicklung
mit den Anforderungen, die das heutige Leben oft unvermittelt genug an die Frauen:
kräfte ftellt, derart zur Tagesordnung iibergegangen, dah es fich eriibrigt, an dieſer
Stelle cine Beweisfiibrung fiir die Unhaltbarkeit diefes Cinwandes zu geben.
Die Frauen, die nun die Forderung des kirchlichen Stimmrechts fiir fich und
ibre Gefechlechtagenoffinnen erbeben, find nach reiflicher Uberlegung und eingehender
Priifung yu der Nberjeugung gefonunen, daß die Erfiillung diejfer Forderung 1. Feinen
Widerfprud enthalt gegen die Gebote des Evangelium, das Mann und Weib zur
Gemeinde Chrijti beruft (Gal. 3, 28); 2. eine Ungerechtigkeit gegen die Frau befeitigen
wiirde, die gerade dort, wo das Gebot der Liebe ausſchlaggebend fein müßte, nicht
aufredt erbalten werden follte; 3. der Kirche felbjt zum Segen gereichen wiirde,
da e$ ihr nur erwiinfebt fein müßte, alle bem firchlichen Leben wahres Verftandnis
entgegenbringende Chrijten auch) zu titigen, verantivortlidien Gemeindegliedern zu
gewinnen.
Der Verein Frauenſtimmrecht hat vor einiger Zeit eine Umfrage an namhafte
Theologen ergehen laſſen, um ſie zu Außerungen über die Frage des kirchlichen
Stimmrechts der Frauen zu veranlaſſen. Die Antworten lauten übereinſtimmend
dahin, daß aus den Reden Jeſu und aus der Verfaſſung der Urgemeinden ſich kein
Verbot der Gleichberechtigung von Mann und Frau in der Verfaſſung der Gemeinden
ableiten laſſe. Dieſe Erhebung, deren Reſultat zweifellos eine Stärkung für die
Sache bedeutet, iſt dankenswert, obwohl es nicht verkannt werden darf, daß es für
die Herbeiführung der Entſcheidung in den Landesſynoden außerordentlich erſchwerend
ſein wird, wenn der deutſche Verein für Frauenſtimmrecht das kirchliche Frauenwahlrecht
weiter verfolgt. U. E. würde die Propaganda für dieſe Gedanken beſſer einem evangeliſchen
oder kirchlichen Verein überlaſſen.
Jedenfalls iſt zu hoffen, daß mit der Zeit — raſch wird ſich der Gedanke des
kirchlichen Frauenſtimmrechts ſchwerlich einbürgern — die Wünſche der Frauen auf
dieſem Gebiete Gehör finden. Die 5. preußiſche Generalſynode hat zwar noch eine
dahingehende Eingabe des Deutſch-Evangeliſchen Frauenbundes als „ungeeignet“ für
die Beſprechung im Plenum erachtet, vielleicht gelingt es bei der 6. preußiſchen
Generalſynode und künftigen Synoden anderer Bundesſtaaten die Anſchauung mebr
zur Geltung zu bringen, daß das kirchliche Stimmrecht der Frauen keine Beunruhigung
in die Familien und Gemeinden hineintragen, ſondern die Liebe zur Kirche befeſtigen,
das Intereſſe an ihren Einrichtungen, ſowie an allen religiöſen und kirchlichen
Fragen neu beleben und in weite Kreiſe des deutſchen Volkes tragen würde. —
421
„Wie helfe ich meinem Schalkinde?
Bon
@ertrud Baumer.
— ——
Nachdruck verboten.
as iſt im eigentlichſten Sinn eine Mutterfrage, und wahrlich keine bedeutungs—
cA loſe. Kindertranen und Mutterforgen, häusliche Verſtimmungen und allerlei
ſchlimme Ronflifte mit der Schule beften fid) daran. Wer hat nicht ſchon
fo ein Schmerzenskind in tiefiter Hilflofigkeit vor ſeinen Arbeiten figen feben, wenn
e3 allen gutgemeinten Vorſchlägen fein versweifeltes, „ſo dürfen wir's aber nicht
maden!” entgegenfebt, und auf die vorwurfsvolle Frage: „Ja, wie follt Ihr's denn
machen?” nur cin troftlofes: „Das habe ich vergeſſen“ oder „Das habe id nicht
verſtanden“ zur Antwort bat. Es ijt wirklich oft cine Schidfalsfrage fiir das Gaus:
„Wie belfe ich meinem Schulfinde”.
Es giebt Lebrerfreije, die auf die Frage eine kurze und einfache Antwort haben:
„Gar nicht“. Aber das Diftum: „Das Kind muh allein fertig werden, wenn es in
der Schule aufpaßt“ erweijt fics der Wirklichfeit gegentiber doch eben als cin Jdeal,
das verhältnismäßig jelten qu erreichen iit. Qn einer Klaffe von vierzig Kindern und
mebr ijt fiir den Lehrer niemals die Sicherheit zu gewinnen, dah jedes Rind dem
Unterricht gefolqt ijt, und fein Kinderpfydologe wird ſich der Illuſion hingeben, dak
jelbjt ein pflichttrened Rind bei all den fleinen und großen Erlebniſſen, die fein Her;
bewegen, einer gleichmapigen und nieverfagenden Aufmerkſamkeit fabig ift.
Und aud aus cinem anderen Grunde foll die Hilfe der Eltern nidt abgelehnt werden.
Die Schule darf fiir die Eltern feine terra incognita fein. Sie follen ibr Intereſſe
an den Schularbeiten des Kindes jeigen, fie follen auch dieſen wichtigen Teil des F
findlichen Lebens in feiner Wichtigfeit miterleben. Cie follen wijfen, was in der
Schule gefdieht, und wie dies Schulleben mit feinen Anforderungen in das innere
Leben ibres Kindes bineingreift, was es zur Blitte bringt, und was es mit Staub
bededt und verfiiimmern läßt. Und fie follen in jedem Augenblick fähig fein, ihrem
Kinde das Cinleben in dieje Welt außerhalb des Elternbaufes und der Kinderjtube yu er:
leichtern. Sie follen fo oder fo, in der allermannigfaltigiten Weife, ,ibrem Schul—
finde belfen.”
Und darum ijt e3 auperordentlic) danfenswert, da cinmal ein Pädagoge diefer
Wrage ein befonderes, praktiſches kleines Buch gewidmet hat.') Es ijt ein Lehrer des
Frankfurter Reformgumnafiums. Er hat bei den praftijden Beiſpielen, die das Buch
in Fiille bietet, vor allem den Gymnafiajten im Auge — auc) mehr den älteren, 11
und 12jährigen, wie mir ſcheint. Aber das Hindert nicht, dah feine Ratſchläge auch
fiir Fleinere Schulfinder und aud) fiir Madchen wohl anwendhar find und viele gute
Fingerjeige geben, ſowohl fiir Miitter als aud) fiir Lehrer und Lebrerinnen.
Zunächſt möchte man ein paar nur auf die Schule bezügliche Gedanfen ded
Verfaſſers mit einem nachdriidlicden Ausrufungszeichen verſehen. Das ijt vor allem
die Suriidjtellung der ſchriftlichen Leijtungen bei der Beurteilung des Kindes. Trog
alles Protejtes der verjtindigen Pädagogik wird nod immer bei uns die Reife eines
Kindes in erfter Linie nach der Lijte der Exerzitienfehler beurteilt. Ob ein Kind in
) , Wie belfe ih meinem Scultinde?” Bon Dr Mar Banner. Berlag von Belbagen und
Klafing. Leipzig 1904.
422 „Wie belfe td) meinem Schulkinde?“
feiner Auffaſſungsfähigkeit für Geſchichte und Dichtung, in feiner Beobachtungsgabe
fiir alles, was die Schule ihm anzuſchauen gibt, in der Regfamfeit feines Phantaſie—
lebens über oder unter dem Durchſchnitt der Klaſſe ftebt, das pflegt alles nicht fo
wichtiq zu fein, wie das ſchicſſalsſchwere Notizbuch des Lehrers mit dem verhangnis⸗
vollen Regifter. Das ift aud) in der Madchenſchule fo, trogdem eine der beſten und
einfichtigiten Forderungen der preußiſchen Maibeſtimmungen ausdrücklich verbietet, die
unter Klauſur angefertigten Probearbeiten dem Urteil über die Leiſtungen zu Grunde
zu legen. Hier iſt eben damit gerechnet, daß das Kind bei der ſogenannten „Probe—
arbeit“ unter den denkbar ungünſtigſten Bedingungen ſteht. Es iſt ganz durchdrungen von
der folgenſchweren Bedeutung des Augenblicks, die vielleicht von ſeiten des Lebrers
oder der Lehrerin noch durch allerlei bedrohliche Ermahnungen: „Ihr wißt, worauf es
ankommt, nun nehmt Cure Gedanken zuſammen“ u. dgl. ihnen ſchreckensvoll yu Gemüte
geführt wird, nachdem die häusliche Borbereitung auf bas Ereignis, das fiir Mutter
und Rind gieich qualvolle „Proloco-UAben“, das Selbſtvertrauen eher erſchüttert als
geſtärkt hat. Es iſt ganz felbftveritindlich, daß die Klaujurarbeit mebr über die
nervöſe Widerſtandskrafi als über die wirklichen Fähigkeiten des Kindes ein Urteil
gibt. Und ſo möchte man das, was Banner von Zeit zu Zeit dem Schulkinde klar
macht, vor allem auch der Schule ans Herz legen:
„Wenn dein Lehrer das Zeugnis für dich ſchreibt, ſo ſtehſt du ihm in deinem ganzen Tun und
Laſſen vor Augen. Gr ſieht dic) unter den Vorwärtsdrängenden, unter den Zurüchaltenden oder aber
unter den Untaͤtigen. Wm liebſten erinnert er fich deiner als eines Schiilers, der ihm bei feinem Bor:
trage ftandig die Worte vom Munde (a8, beim Abfragen fich unermiidlic) gur Antwort bereit hiclt, der
jede aufflirende, belebrende Außerung aus dem Unterrichte treu bewahrte, der mitunter Zweifel vor—
brachte und wohl aud einmal cine Unklarheit im Buche oder im Unterricht aufdeckte, der alſo geradezu
anregend und fördernd auf den Gang der Stunde einwirkte. So vor allem bildet der Lehrer gern ſein
Urteil über dich, und erſt in zweiter Linie und zumal dort, wo der Schüler ſich nicht in dieſer lebendigen
Weiſe der Vorſtellung des Lehrers aufdrängt, wird das Notizbüchlein mit ben Reſultaten der ſchriftlichen
Arbeiten als Berater herangezogen. Doc trotz aller Bemühung und ungeachtet tüchtigen Könnens
mögen ſolche Arbeiten bisweilen mißlungen ſein. Die mündliche Leiſtung aber liegt mit
Erfolg und Mißerfolg weit mehr in der Hand des Schülers.“
Auch Banners Anficht fiber den Nugen des „Sitzenbleibens“ möchte man von
Herzen unterſchreiben. Meiſt bebalt das Kind dabei denjelben Lebrer. Dann wird
e3 ganz gewiß gegen Die wiederbolte, gleichartige Behandlung desſelben Stoffs gleich—
giltig und intereſſelos ſein, um ſo mebr, wenn die Mängel ſeiner Leijtungen vielleict
{con damit jujammenbingen, dah der Lehrer es in ſeiner Qndividualitat nicht yu
nehmen wufte — jeder ebrliche Pädagoge weif, dah er ju vielen Kindern einfach
den Weg nicht findet und iby Können nicht aus ibnen herausyubringen verjtebt. Und
e3 ijt auch fiir Das Rind fo deprimierend und entmutigend, wenn es nad fo einer
Niederlage auf den ganz gleichen Weq suriidgefest wird, auf dem alle die Schatten
feiner Kümmerniſſe und Enttauſchungen ſtehen. Gerade das Rind bedarf deſſen fo
febr, Daf man einmal binter ibm reine Bahn macht und ibm das Gefiibl gibt: jest
geht's von neuem an mit friſchem Willen und friſchem Vertrauen. Banner iſt natürlich
ein viel zu erfahrener Lehrer, um nicht zu wiſſen, daß in unſeren vollen Klaſſen, in
denen es dem Lehrer unmöglich iſt, von Anfaug an in wünſchenswertem Maße zu
individualiſieren, das „Sitzenbleiben“ oft das einzige Mittel iſt, um die Gleichmaßigkeit
des Klaſſenniveaus zu erhalten, aber es ijt mehr cin notwendiges UÜbel, als cin Er—
ziehungsmittel im unbedingten Sinn.
Aber wir ſind ganz von der Frage und dem Hauptthema des Buches abgelommen:
„wie helfe ich meinem Schulkinde“? Banner gibt eine Reihe von Vorſchlägen fiir die
Reiteinteilung der häuslichen Arbeit, er empfiehlt cine Abwechslung zwiſchen dem viel
Ronjentration erfordernden Lernen und leichteren, mebr mechaniſchen febriftliden Arbeiten.
Gr lenft die Aufmerkſamkeit der Eltern auf die Urjachen, die mandymal dem Kinde
jolche Konzentration unmöglich machen, Crlebnijje, die es prdoccupieren, uneingeftandene
Gewiffensnite oder die Abfpannung nad ftarfer körperlicher Anftrengung. Auf den
Wert der Morgenitunde, in der nocd eine friſchen Crlebnijje ihr Recht baben wollen,
fiir Das Memorieren weift er Hin; aud) darauf, daß man den Kindern die Möglichkeit
~
p Wie belfe id meinem Schultinde?“ 423
geben foll, (aut zu memorieren, oder im Auf- und Abgeben, je nachdem ſolche Ge-
wobnbeiten das Lernen erleichtern. Wird dem Kind freilicy das Lernen nicht befonders
ſchwer, ſo, meine ich, ſollte man es möglichſt anhalten, ſich ohne ſolche Mittel, die es
eben doch febr abbangig von den äußeren Verhaltnifjen machen, ju behelfen. Auch das
ſcheint mir richtig, daß die Kinder ihre Arbeiten möglichſt einen Tag eher machen, als
es unbedingt notwendig ijt, damit ihnen das Gefühl der Freiwilligkeit ihrer Leiſtung
und der ſelbſtandigen Dispoſition über ihre Zeit die Luſt zur Arbeit erhält; man macht
das Kind dadurch vom Knecht zum Herrn, es hat eine ganz andere Befriedigung, wenn
es ſich ſagt, daß es „vorarbeitet“. Freilich für langer hinaus beſonders Memorier-
aufgaben erledigen zu laſſen, empfiehlt auch Banner nicht. Für dieſe Art der Okonomie
pflegen Kinder nicht viel übrig zu haben.
Den Hauptinhalt des Bannerſchen Buches bilden nun Vorſchläge, wie man Kindern
beim Memorieren, bei grammatiſchen Arbeiten, bei Exerzitien und Aufſätzen helfen
könne. Sehr bebersigensivert ijt fein Proteit gegen die Art von ,, Arbeitsftunden-“
Beaufiichtiguna, deren einziges Biel ijt — nicht das Rind wirklich arbeiten zu lehren,
ſondern für einwandfreie Herſtellung der Hausaufgaben zu ſorgen. Wie das gemacht
wird, pflegt dabei den Eltern gleichgiltig zu ſein, auf jeden Fall trägt der Lehrer oder
die Gebrerin, Die dieſe Arbeitsjtunde leiten, die volle Verantwortung fiir alle Unjicerbeit
in den Memorierpenjen und fiir jeden Febler in den ſchriftlichen Mufgaben, und das
Rind, im Bertrauen auf diefe Anitans, —— natürlich ganz die Fähigkeit, ſich ſelbſt
Rechenſchaft zu geben über das, was es kann und nicht fann, und die fichere Ausſicht
auf die Urbeitsftunde macht es bequem und unaufmerffam in der Schule.
Wenn id in einem Punkte gegen die Vorſchläge Banners ein Bedenken habe,
fo ijt e3 gegen die ſtarke Heranziehung der ſchriftlichen Ubung beim Memorieren.
Vokabeln ſollen, wenn ſie bei ein- oder zweimaliger Repetition nicht ſitzen, in allerlei
Anordnungen aufgeſchrieben werden, Gedichte ſollen zur Kontrolle ſicheren Beſitzes auf—
geſchrieben werden, Geſchichtsdaten ſollen durch Niederſchrift in allerlei Ordnungen und
Arten gelernt werden. Freilich betrachtet auch Banner dieſen Weg als einen Umweg,
den man erſt beſchreiten ſoll, wenn der gerade ſich als zu ſchwer erweiſt. Aber er
benutzt ibn dod ſehr baufig, wenn er z. B. ſagt (S. 36) man ſolle ſich bei ſchwer
einzupragendem Memorierſtoff in der Regel auf das Abhören nicht einlaſſen, ehe das
Rind den ſchriftlichen Weg bereits durchgemacht habe. Zunächſt ſcheint es mir felbjt-
verſtändlich, daß dieſer Weg nur bei größeren, mindeſtens elfjahrigen Kindern empfohlen
werden kann, denen das Schreiben nicht mehr eine Extrabelaſtung iſt, die extra Kraft
und Aufmerkſamkeit erfordert. Aber aud da hat er ſeine Schattenſeite. Handelt es
ſich um Vokabeln, bei denen zugleich das orthographiſche Bild eingeprägt werden muß,
fo halte id) ibn fiir nützlich. Hier nimmt man tatſächlich die „Anſchauung“, auf der
nad Banners Anſicht der Wert dieſer Nbungen berubt, zu Hilfe, bier fann man die
ſchriftliche Darſtellung des Wortbildes als Rnfchauung⸗ bezeichnen. Ebenſo oder noch
mehr iſt natürlich auch der Entwurf von Rartenffizzen zur Veranſchaulichung geogra—
phiſcher Stoffe berechtigt — immer vorausgeſetzt, daß die techniſchen Schwierigkeiten
für das Kind nicht zu groß ſind. Das Einprägen aber von Gedichten durch Rieder-
ſchrift halte ich fiir einen Weg, auf dem man das Kind in die unglückliche Abhängig—
feit vom Schwarz auf Weis, die unſer tintenfledjendes Säculum leider Gottes
fo bedriidt, geradeyu bineintreibt. Hier foll die Erinnerung nidt an das geſchriebene
Wort, fondern an das Gehörte, an die Klangwerte, an all die Eindrücke anfniipfen,
die der Dichter durch feine Darjtellung auf Poantafre und äſthetiſches Gefühl aus-
iibte. Viel ſympathiſcher erſcheint mir deshalb die Anregung zur dramatiſchen Dar⸗
ſtellung der Gedichte, ſo weit ſie ſich dazu eignen; da kann man wirklich von einer Zu—
hilfenahme der Anfſchauung⸗ und der körperlichen Betätigung ſprechen. Solche „Auf—
fiibrungen” laſſen ſich ja mit den primitivjten Mitteln arrangieren, die Phantafie der
Kleinen ergänzt unglaublich viel; ich erinnere mich einer improviſierten Aufführung
von „Klein Roland“ in der Klaſf e, wo die kleine Frau Bertha mit tödlichem
Ernſt in der Felſenkluft, d. h. unter dem großen Kathederſtuhl, Blag nahm und ihr
„bittres Leid“ ſo eindringlich klagte, daß die Klaſſe voller Enthuſiasmus war.
424 » Wie belfe ich meinem Schulfinde 2”
Und um gleich nod cing zu fagen, was mir in dem Buch nidt richtig erfdseinen
will: die Heranjiehung des Schulweges und des Spazierganges jum Lernen. Der
Verfafjer fagt ganz richtig, da} Spaziergänge mit Crwadjenen dem Kinde dod) meiit
cine Tortur find, man nimmt ibm nicht viel, wenn man fie zum Lernen benugt. Ja,
aber fie find dod auch die einzige Gelegenheit, bei der Vater oder Mutter, oder wer
fonft das Rind begleitet, ihm fiir alles das die Augen öffnen finnen, was
nicht Biicherwifjen und Wiſſen aus zweiter Hand ijt, fir ſelbſttätige Beobadtung und
das ummittelbare Intereſſe an den Dingen felbft. Wenn fie diefe Gelegenbeit nicht zu
benugen verjteben, fo ijt das eben ein Mangel, fie aber deshalb den Sweden der
Schule ganz undgarpreiszugeben, das hielte ich fiir ein Ungliid. Und ebenfo die Verwendung
de3 Schulwegs jum Lernen, zum gegenfeitigen Abbiren. Ich muf gefteben, dah ich mid
immer freue, wenn die Berliner Schuljungen, mit denen id) mandymal in der Stadt:
bahn jufammentreffe, mitten in einem Schulgeſpräch ans Fenfter ſtürzen: „Seht mal,
die Wagen haben eine neue Verfoppelung” und dariiber alles andere vergeffen. Cin
gefundes und natitrliches Rind bat auf dem Schulwege taufend andere Dinge zu feben
und 3u reden als ſeine Memorierftoffe, und fo lange unfere Schule fo einjeitiq durch
das ,, Buch” beherrſcht ijt, fann man gar nicht wünſchen, dak fie alle Gedanfen und
Intereſſen fo ausſchließlich gefangen nimmt.
Sehr praktiſch ſind Banners Vorſchläge über die Ausnutzung der Extemporalien,
über Nbungsarten für grammatikaliſche Regeln und Analyſen und vieles andere. Cie
können bier natitrlich nicht eingebend wiedergegeben werden, und follen e3 auch nicht,
denn es ift allen, die Sdhulfindern zu belfen baben, febr zu empjfeblen, das kleine
Buch felbft su ftudieren. Das foll dieje Beſprechung nicht erſetzen. Es ijt ein Beitrag
gur häuslichen Pädagogik aus warmem Gefühl fiir Kindesglück und Kindesbedürfniſſe
heraus, das aud) den Schlußſatz diftiert bat: „Jedes unferm: Kinde in früher Jugend
eingebrachte Sonnenjabr beleuchtet ibm feinen Pfad bis an fein Lebensende.”
Aber freilid) — fieht man dieſe dreifiq Drucfeiten durch, in denen Schemata
und Methoden gegeben werden, wie man dem Schulfinde feine Grammatif eindrillt,
birt man dann horribile dictu! von dem Nutzen von Orthographie-Spielen oder
Geſchichtszahlen-Spielen, denkt man daran, daß das Rind Schulweg und Spaziergang
oder gar nod die Zeit Abends im Bett vor dem Einſchlafen zu Hilfe nebmen mug,
um die Anſprüche der Schule zu befriedigen, dann möchte einem ein leiſer Zweifel
auffteigen, ob von Sonnenjabren bei einem Schulfinde die Rede fein fann, und ob
die Sonnentage nicht aud) ziemlich dünn geſät find. Tint nicht auch aus dieſem
Bud ,der ewige Gefang” vom Memorieren, den dem Schulfinde obne poetiſche
Nbertreibung ,,beijer jede Stunde fingt?” Das ift freilic nicht Schuld des Verfaſſers,
den die Not feiner Vater: und Lebrerfecle erfinderiſch machte, und der felbjt nicht
felten die Anſchauung ausſpricht: es muß nun einmal fein, alfo fiebt man ju, wie
man fics am beften und ſchnellſten damit abfindet. Aber ſeine Vorſchläge, fo qut und
praktiſch fie unter den geqebenen Verhältniſſen find, werfen dod) ein belles Licht auf
die Tatjache, daß die Schule die Aufgabe nicht erfiillt, die ibr einft der grofe Stein
zugewieſen bat: durch eine auf die innere Natur des Menſchen gegründete Methode
jede Geijtesfraft von innen heraus entivideln, jedes edle LebenSpringip anreizen und
naibren, alle einfeitige Bildung vermeiden. Cie ijt, weif Gott, einfeitig, wenn
fie mit Orthographie und Memorierjtoffen ſelbſt die Spiele ufurpiert, wenn Grammatik
und Vofabeln auf Spaziergdnge und Schulwege Beſchlag legen, und wenn jie der
inneren Natur des Kinde3 fo wenig ju bieten hat, dah die Ausficht auf das Frei:
fommen von ibrem Swang immer der ſtärkſte Impuls fiir die prompte Erlediqung der
Schularbeiten bleibt.
So flange ſich darin nichts ändert, wird trog aller guten Ratſchläge und
praftijden Winke der Seufser „Wie helfe ich meinem Schulfinde” im Elternhaus nidt
veritummen,
—
Oie italienische Prau in den Camere del havoro.
Dr Robert Michels.
Nachdrud verboten. ESchluß von Seite 373.)
og Bezug auf dic Art der Organifation der Frauen ift das Syſtem vorherrſchend,
~~ dah die Frau, die ja genau diejelben wirtſchaftlichen Jnterefjen bat als der Mann,
ftetS mit ibren Urbeitsfollegen in denſelben Berufsverband eintritt. Nur dann, wenn
in cinem Arbeitszweige bloß weibliche Kräfte hefchaftiqt find, bilden die betreffenden
Urbeiterinnen in der Camera eine befondere Frauenfeftion fiir fich. Auch eine kurze
Unterſuchung fiber die Spesies der Frauen, welche in Stalien einem Zuſammenſchluß
zugänglich find, diirfte von Intereſſe fein.
Werfen wir deshalb zunächſt einmal einen furzen Blick auf die Arbeiterfammer
der grofen lombardifden Zentrale.
In Der Camera del Lavoro ju Mailand, welche, wie bereits gefagt, wobl die
größte in Stalien überhaupt fein dürfte, find die Frauen im Ganjen in nicht weniger
alg 43 Berufsgruppen vertreten. Bon diefen find 31 Seftionen, nämlich die der
Stadtſekretärinnen, Bergolderinnen, Rartonarbeiterinnen, Schirm- und Stodarbeite:
rinnen, nopfarbeiterinnen, Strobbutarbeiterinnen, Chofoladenarbeiterinnen, Papier:
firberinnen, Gewandjeichnerinnen, Arbeiterinnen in chemiſchen Fabrifen, Beamtinnen,
Lehrerinnen, Wäſcherinnen, Cichorienfaffeearbeiterinnen, Reramifarbeiterinnen, Gummi-
arbeiterinnen, Spigenndberinnen, Tabafarbeiterinnen, Trifotarbeiterinnen, Bandarbeite-
rinnen, Goldarbeiterinnen, Pofamentenarbeiterinnen, Kürſchnerinnen, Lobgerberinnen,
Kammacherinnen, Seifenarbeiterinnen, Herrenſchneiderinnen, Tertilarbeiterinnen, Färbe—
rinnen, Schmelzarbeiterinnen und Arbeiterinnen in Korkfabriken in ſogenannten sezioni
miste nit ihren männlichen Berufsgenoſſen zuſammengeſchloſſen, während 12 weitere
Kategorien, nämlich die der Putzmacherinnen, Korſettnäherinnen, Handſchuhnäherinnen,
Weißnäherinnen, Seiden- und Goldbrokatſtickerinnen, Damenſchneiderinnen, Arbeiterinnen
in Staniolfabriken, Trikotarbeiterinnen und Saumnäherinnen ihre eigenen ſogenannten
sezioni femminili beſitzen. Außerdem exiſtiert noch eine sezione femminile mista, eine
gemiſchte Frauenfeftion, in welder fich alle diejeniqen Frauen zuſammenfinden, die felbft
im erweiterten Sinne des Wortes nicht eigentlice Proletarierinnen, wohl aber Sozialiftinnen
find, die alſo nad) einem Beſchluß ibrer Partei bekanntlich ebenfo wie die ſozialiſtiſchen
Ridtproletarier männlichen Geſchlechts die Verpflicitung haben, zur Stärkung der
Gewerffdaften und dev Disziplin fowie zur Erhaltung des proletarifden Grund-
gedantens in der ſozialiſtiſchen Partei, der Arbeiterkammer als Mitglieder beizutreten.
In dieſer Ceftion finden wir alfo Sebriftfiellerinnen, Schaufpielerinnen, Malerinnen
und Hausfrauen verfchiedenfter Gefellichaftstlaffen ziemlicy bunt durcheinander. —
Die dem Alter nach erften Seftionen find die der Handſchuhnäherinnen (Gründungs—
jabr 1886), darauf folgen die der Kammmacherinnen (1887), der Gerberinnen (1893)
und der femminile mista (1893), der Bandniberinnen, der Pofamentenndberinnen
und Trifotarbeiterinnen (1894) ufw. Die Angabl der vor dem Sturmjabr 1898
gegründeten Seftionen betragt 13. Die ftarfiten Seftionen find die der Tertilarbeiterinnen
(800 Frauen), Buchdruderinnen und Arbeiterinnen in Gummifabrifen (je 400),
Tabafarbeiterinnen (300), Knopfarbeiterinnen (262), Gerberinnen (250), Handſchuh—
naberinnen (150), Rrawattenndberinnen (127), Cichorienfaffeefabrifarbeiterinnen (117),
Bandmacherinnen (110) und Damenſchneiderinnen (100) ?).
) Nac ciner Tabelle der Maria Cabrini in der Cronaca del Lavoro, loco cit.
426 Die italienifche Frau in den Camere del Lavoro.
In Turin exiftieren laut der letzten Belanntgebung der dortigen Camera del
Lavoro!) zwei nur aus Frauen beftehende Seftionen (Sezione Femminile Mista und
Sezione Sarte, Modiste ed Affini), fowie drei weitere, den Frauen zugängliche
emiſchte Seftionen, die der Konſumvereinsbeamten (Sezione Alleanza cooperativa
Persenslel). die ber Tabafarbeiter (Sezione Operai dello Stato [Tabacchi]) und
die ber Kranfenwiirter (Infermieri).
Die Camera del Lavoro 3u Brescia?) befigt eine große sezione femminile
mista (100 Frauen), ferner find die dortigen Frauen — in folgenden Sektionen
organiſiert: Krankenpflegerinnen, Textilarbeiterinnen, Schneiderinnen und Buch—
druderinnen. Die Camera del Lavoro in Meſſina?) beſitzt neben einer sezione
mista femminile nod) organifierte Frauen in folgenden Seftionen: Bidelli e Bidelle
(ſtädtiſche Beamte), Maestri e Maestre (Lehrer) und Infermieri e Infermiere
(Rranfenpfleger). — Dieſe Beifpiele mogen geniigen um die Mannigfaltigfeit der in
der Camera del Lavoro organifierten Berufgarten darjutun.
Was dem Deutſchen dabei ganz befonders auffallig erſcheinen mug, das ijt die
gewerkſchaftliche Betätigung einer grofen Anzahl von teils ftaatlicden, teils kommunalen
Beamtinnen, wie 3. B. der Lehrerinnen, Poftbeamtinnen (fogen. ,,postine*), Stadt:
ſchreiberinnen und Kranfenpflegerinnen, fowie die der an ftaatliden Fabrifen angeftellten
Arbeiterinnen, wie die der Tabafarbeiterinnen. *)
Zum Verſtändnis diefer Tatſache möchte id) zunächſt daran erinnern, dab der
italienijche Staat weit mehr demofratijde Keime in fic) birgt als der deutfde. Co
fénnen fic dort eben auch Eiſenbahnbeamte und Poſtbeamte ungeftraft orqanifieren
und mit der unabhängigen Arbeiterſchaft zuſammenſchließen. Es verdient, erwähnt yu
werden, dah das Deutiche Perjonal jenes Extrazuges, mit weldem Wilhelm LL. jüngſt
nad) Rom fubr, dort von organijierten italienifden Cifenbabnbeamten eingeladen
und mit der offiziellen Hymne der fozialdemofratifden Partei, der von Filippo
Turati gedicteten Inno dei Lavoratori empfangen wurde. — Die von der Gemeinde
befoldeten Beamten ferner find vollends unabhängig. Die italienijden Gemeinden,
autonomer als die unjrigen, geben in ihrer Arbeiterfreundlicfeit ja vielfach fogar jo
weit, zur Unterjtiigung der Camere del Lavoro Zuſchüſſe zu bewilligen. Go erhalten
3. B. die Camere folgender Städte Jahresbeiträge aus dem Stadtfadel: Maitland,
Turin, Molfetta, Intra, Pija, fowie die der fozialijtijdhen Stadtverwaltungen von
Catania, Gan Remo, Budwio, Molinella, Bordighera, Sampierdarena, Reggivemilia,
Colle Bal d' Elfa, Imola, Piombino und Andria.
Aber von der Miglichfeit der Bewequngsfreibeit bis zur Ausnugung derjelben
ijt nod) cin weiterer Schritt. Dieſe tapferen Lebrerinnen und Beamtinnen balten 3
nicht fiir unter ihrer Würde, mit ,einfacen” Arbeiterinnen gemeinjame Gache ju
maden. Gie haben die Tiir der Camera del Lavoro gefunden und Einlaß begebrt.
Mit klaſſen- und gefcblechtsfolidarifeer Liebe hat man fie empfangen.
* *
*
Welche ungeheuren Vorteile die Camera del Lavoro der Arbeiterſchaft aller
Schattierungen bietet, iſt ſchon an anderer Stelle geſagt worden. Hier ſoll nur noch
kurz von der beruflichen Seite derſelben die Rede *
Manche Kategorien von Arbeiterinnen haben durch ihren alleinigen Eintritt in
die örtlichen Camere di Lavoro, ohne es ju einem Streik kommen ju laſſen, cine
Verbefferung ihrer Arbeitsgelegenheit durchgeſetzt: ſo im Friihjabr 1901 3. B. die in
') Memoriale presentato della Camera del Lavoro di Torino e Circondario all’ Ill™o
Sig. Sindaco, Onorevole Ginunuta ed Onorevoli Consiglieri Comunali della Citta di Torino,
30. Dicembre 1903.
2) ,,L’ Opera della Camera del Lavoro di Brescia.“ XV. Giugno MXMII, Brescia, Tip.
La Provincia 1902.
4) Cronaca I, 23.
*) Bon den 1500 Tabalarbeiterinnen der Staatsmanufattur in Florenz find nicht weniger als
1200 organifiert.
Die italient{dhe Frau.in den Camere del Lavoro. 427
der Congregazione di carita beſchäftigten Wäſcherinnen in Imola eine Herabfesung
Der UArbeitsjeit um eine Stunde.) Nach einem Berit in der Frauenzeitung Eva hat
die Camera del Lavoro einem Fabrifanten (Weberei) in Savigliano, der die Ange:
wohnheit hatte, ſeinen Arbeiterinnen acht Tagelöhne juriidyubehalten, um fiir etwaige
Streifverjuche ein vorbeugendes Mittel in der Hand yu haben (er faffierte dann näm—
lid) gan; einfach die Gelder ein), ohne daß die Frauen ihre Macht in einem Streif
erſt zu erproben brauchten, ohne weiteres gerichtlich verurteilen laſſen?).
In Bologna ſetzten die organiſierten Krawattennäherinnen auf friedlichem Wege
einen neuen Tarif durch (Februar 1902) und einen Monat darauf ſogar eine Lohn—
erhöhung, und die Korſettnäherinnen derſelben Camera del Lavoro erreichten auf dem—
ſelben Wege ebenfalls eine Verbeſſerung ihrer Arbeitsbedingungen.) In Seſtri Ponente
ſetzten die Arbeiterinnen der Tabakmanufaktur eine Lohnerhöhung, die Arbeiterinnen der
Baumwollenfabrik in Cornigliano eine Verkürzung der Arbeitszeit durch, ebenfalls ohne
zum äußerſten Mittel greifen zu miifjen. *)
Iſt die Camera del Lavoro in überaus vielen Fällen ein Linderungsmittel im
Klaſſenkampf und verhindert ſie den Ausbruch unüberlegter oder leicht zu vermeidender
Arbeitseinſtellungen, ſo wirken umgekehrt Streiks unorganiſierter Arbeiterinnen oft
organiſatoriſch zurück, wobei es meiſt gleichgiltig iſt, ob der Streik günſtig oder ungünſtig
verlief. So beſtand z. B. das Hauptreſultat des günſtigen Lohnkampfes der Seiden—
wirkerinnen in Ponte a Moriano (Lucca) im Januar 1901 (Lohnerhöhung 12 Prozent)
in dem Anſchluß der Arbeiterinnen an die dortige Lofalorganifation,*) ebenfo wie das
ded ebenfalls giinftigen Lohnkampfes der bei Bender & Martini befchaftigten Arbeiterinnen
in Turin und de der Tabakarbeiterinnen in Cagliari (Quli 1901). Aber auch das
Rejultat der im Lohnkampf geſchlagenen Arbeiterinnen der Spinnerei von Schroeder
in Vicenza war das gleiche. *)
Des iweiteren fonnen wir uns hier iiber das Thema: Die Frau und der Streif,
jo intereffant es auch ijt, nicht mehr verbreiten. Sm Rahmen diefes Eſſays fam es mir
nur darauf an, die Wechfelbesiehung de3 Streifs yur Camera del Lavoro fur; zu ſtizzieren
und auf die in jeder Besiehung heilfame Wirkung hinzuweiſen, welche fie auf die
Frauen ausübt.
* *
*
Und mim nod) die Beantwortung einer legten Frage.
Wie feben dieſe Camere del Lavoro duferlid) aus? Nady den vieren, die
id) perſönlich kennen gelernt babe, Biella (Piemont), Mailand, Imola (Romagna)
und Turin ju fcbliefen, febr verſchieden. Während die Biellefer ein ſehr ſchmuck
loſes und, wenn man von einem grofen Verfammlungsfaal abjiebt, nicht übermäßig
gerdumiges Gebaude ijt und die Mailinder gwar einen Riefenfompler, man könnte
beinah jagen, einen ganjen kleinen Stadtteil einnimmt, dafür aber an Dunfelbeit und
Unfreundlichkeit nicht (cicht iibertroffen werden fann, nod dazu in ciner elenden fleinen
Gaffe liegt, macht die Turiner, welche an einem grofen freien Plage, der Piazza
Venezia gelegen ift, mit ihrer hohen ſtolzen Front und den prachtigen Fresfengemilden
deS befannten Malers Rodolfo Morgari, eines Bruders des ſozialiſtiſchen Barlamentariers,
an der Facade einen fiberaus vornehmen, palaſtähnlichen Cindrud, und erwedt die
Imoleſer endlich mit ihrem alten Snnenhof und der peinlichen Sauberfeit, mit der fie
gebalten wird, den Gedanfen, man befände fich in einer forgfam bebiiteten alten Mönchs—
Hlaufe. Aber dennoch haben fie alle auc) wieder viel Abnlides: die mit Emblemen,
Marrxſchen Sentenzen und roten Fahnen gefdmiidten Wande in den Verfammlungsfalen,
') Al. Schiavi, Sviluppo capitalistico e organizzazione proletaria, II, in ber ,Critica Sociale“,
anno XI, No. 21.
*) Eva“, Genua. II, 51.
+) Argentina Altobelli in der ,,Cronaca del Lavoro“, I, p. 22 und p. 47.
4) Cronaca, I, p. 58,
5) Avanti 1478,
*) Unione Femminile“, I, fase. 9.
428 Die Ausftellung der Malerinnen im Berliner Künſtlerhauſe.
die Bilder berithmter Arbeiterfiibrer, und Fiibrererinnen — Marx, Lassalle, Gnocchi-
Viani, Turati, Costa, Anna Kuliscioff, vor allem aber der Brofeffor Enrico Ferri,
unter deffen Bildnis mit grofen Buchftaben gu lefen ſteht: Il flagellatore della Camorra
(Der Züchtiger der Camorra)! — an den Wanden der Seftionsftuben die kleinen mit
Regijterbinden und Bibliothefen gefiillten Spinde, die Leſeſäle mit ibrem grofen Tijd,
auf welchem fich die ungebeuer vielen ordnungsmäßig aufgeſchichteten Fachzeitſchriften
und Lofalzeitungen der jozialijtifden Partei aus ganz Jtalien yum Lefer anbieten.
* *
In dieſen Räumen, ſo unſcheinbar ſie oft auch ſein mögen, weht der Wirbelwind
der Zukunft. Hier iſt es, wo — auf dem Boden eines intellektualiſierten Proletariats —
die neue Ethik, deren Keime der Wirbelwind aus Hütte und Palaſt, Studierſtube und
Kaſerne, Pfarrei und Fabrik zuſammenträgt, entſtehen wird und in ihren erſten An—
fängen ſchon jetzt im Entſtehen begriffen iſt. Hier iſt es, wo ſich in ſchweſterlicher
Kameradſchaftlichkeit die feine Hand der ſtädtiſchen Lehrerin in die ſchwielige der Land—
proletarierin legt zum Zeichen energiſchen Zuſammenſtrebens, und wo die Profeſſorenfrau
ſich mit der Induſtriearbeiterin zu gemeinſamen Beratungen zuſammenfindet. Hier iſt
der geweihte Boden echter Menſchlichkeit, und der Nährboden für das „neue Weib“. —
——
Vie Ausstellung
der Malerinnen im Berliner Kiinstlerhause.
Bon
Anna I. Plehn.
Nachdrud verboten.
it einer iiberlegen und juriidbaltend gewablten und vornebm = an:
C geordneten Gruppe von Gemälden treten act Malerinnen — fie leben in
Berlin und Paris — im Berliner Kiinfilerbaufe vor das Publifum. Wenn dies
Blatt in die Hände der Lefer kommt, wird die Musitellung nocd zu feben fein. Cie
dDauert bis zum 8. Wpril. Man wird denfelben etwas vergriferten Kreis finden, der
ſchon vor zwei Jahren an der gleichen Stelle zuſammenkam. Wir fonnen alfo darauf
recbnen, dah fic) bier eine Gewobnbeit bildet, und das ware febr wünſchenswert.
Dank einer ftrengen Sichtung der Perſönlichkeiten und der Werke ift ein hohes Niveau
erreicht.
Aufſehen erregen wird die Veranjtaltung trotzdem ſchwerlich. Das wird wobl
der gleichseitiq Den Hauptſaal fiillenden Rolleftion von Lenbadhbildern vorbehalten
bleiben, trogdem fie faſt mit alleiniger Ausnahme cines allerdings grandioſen Bismard:
portrats vom Sabre 1895 aus ſchwachen, um nicht zu fagen ſchlechten Lenbachs be:
fiebt. Nebenbei bemerft, batten grade die Frauen feine Veranlajjung, dieſem friiber
oft fo glänzenden Portratmaler danfbar ju fein, da er mit weniger Ausnahmen aus
Frauen eigentlidy nur Rarifaturen gemacht bat, wie man ſich beſonders diesmal über—
zeugen Fann.
Doc ich wollte fagen, warum der Crfolg der Franenausitellung vermutlic fein
fauter werden wird. Der Gauptgrund jcbeint mir einer, der den Künſtlerinnen zur
Ehre gereicht. Es feblt am Streben nach Bravour und auch am jtoffliden Intereſſe,
Die Ausftellung der Malerinnen im Berliner Miinftlerbaufe. 429
das die Aufmerkſamkeit am leichteſten anzieht. Porträts obne Poſe, ſchlichte Anterieurs,
Landſchaften voller Ehrlichkeit, Blumen, ohne Prahlerei mit der ſtillen Keuſchheit ihrer
Art und ihres Wachstums dargeſtellt, kurz mehr innerliches Verhältnis zur Natur als
Gepränge.
So viel iſt gewiß, daß es garnicht viele Künſtler überhaupt gibt (ich ſpreche
fier von Mannern ſowohl als Frauen), welche ſolche Porträts wie die der Boznanska
malen, und von Kathe Kollwiks Zeicnungen wird diefelbe Bebauptung wohl nach—
gerade von den meiften jugegeben.
Olga von Boznanska fandte aus Paris vier Portrats und ein Rofenjtill-
leben. Das legte cine virtuofe Leijtung in Waſſerfarbe. Die Menfcdbendaritellung
Diejer Künſtlerin wird immer rubiger und dadurch zugleich größer. Die Lebendiagfeit
des Ausdruds liegt bei ihr ſchon lange nicht mebr im Auffallenden. Da find keine
Punkte, auf die der erjte Blick ſehen foll und mug. Außerlich fcbeinen die ver:
ſchiedenen Bilder ſich yu gleichen. Die Lilligen Unterfcheidungsmittel find vermicden.
Die Rleidung wird mit Vorliebe ſchwarz gewablt und iiberbaupt fiir die Kennzeichnung
der Einzelwerke ausgefebieden. Diesmal ijt der Anzug ſowohl bei dem Frauenbilonis
wie bei den drei Männerporträts ſchwarz (und zwar nidt nur dem Ramen nad,
fondern auch tatſächlich) Die Hintergrimdstine find wie gewöhnlich indifferent.
Vielleicht ijt eine deutlichere Scheidung der Gejtalt vom Raume gewollt und erreicht
al$ früher. Damit hängt aud) zuſammen, daß cine Hand gelegentlid mit einer
ſchwachen Bewegung nad vorn dargejtellt und mit der verkürzten Handflache und dem
Armgelenk (ebhafter berausmodelliert ijt als fonjt in dieſer Malerin Neigung lag.
Cin Meiſterſtück, dieſe Hand mit ibrer flaren Charattrijierung als ju einem eigenwilligen,
ftarfen Menfeben gebdrend. Man vergleiche auch die Gefichtsfarbe der drei männ—
lichen Köpfe, die ohne daß einer einen auffalligen Teint hatte, febr beftimmt drei
verſchiedene Typen darſtellt. Wie diefe fiir jedes Portrat entſcheidendſte Note mit den
unwichtigeren jujanmengeftimmt ijt, das zeigt boben folorijtifden Taft.
Das beweglichſte Farbengefiibl aus diefem Rreije hat Hedwig Weif. Aber
auch bei ibr tritt der Kolorismus nicht in lauten Ausbrüchen auf. Die meijten werden
ibn nicht effeftvoll nennen, und man würde vergebens nad einjelnen Fanfarenſtößen
ſuchen. Wird cin Rot gemalt, fo ijt es cher cin tiefes Gliihen als ein heißes Lodern,
Gerade diesmal ftellt die Kiinjtlerin die Skizze eines Innenraumes aus, an dem das
gut zu beobachten ift. Ober die roten Poljteritoffe, das fpiegelude Hal; eines ſchwarzen
Flügels und über die Goldrahmen, welche die Wände in dichten Reihen bededen, fließt
vom Kronleuchter herab belles Licht, das mit feinem Hine und Widerfpielen und
Spiegeln die an fich ſtark unterſchiedenen Farben vermifeht und in vielfacen Nuancen
miteinander verſöhnt. Sie fucht alſo in der Regel nicht die Lofalfarben auf, fondern
jie gebt fiebevoll den Veranderungen aller farbigen Flächen nach, wie fie durch die
Stelling zum Licht oder durch Oberflächenverſchiedenheiten bhervotgerufen werden.
Dabei liegen aber diefe Nuancen, wie fie mun feftgeftellt werden, fo nabe bei cinander,
daß das Rolorit einfach erfcbeint. Ohne genauere Betrachtung wiirde man die Ab-
wandlungen gar nicht bemerfen, fondern grofe Fladen als gleicartiq zuſammenfaſſen.
Trogdem macht die Beobachtung all diefer tatſächlich vorhandenen Unterfciede den
Gindrud reich) und gebaltvoll, Es ijt dies die Antimitdt de3 foloriftijden Gefühls,
die ſich ſehr von der deforativen Farbenbehandlung unterfcheidet. Mit der legteren
wüßte Hedwig Weiß fehon darum nichts anzufangen, weil ibr die Farbe Stimmung:
480 Die Ausftellung der Malerinnen im Berliner Kiinftlerhaufe.
geberin und feelifdes Musdrudsmittel, nicht nur Augenfreude ijt. Wieder wird der
oberflächliche Betracdter an diefem Inhalt voritbergeben, dem aud die an den
wichtigſten Stellen nad) impreffionijtifdem Grundſatz eindringlich vertiefte Zeichnung
dienen muh. Scheinbar ijt wenig Formbeobachtung in diefen Bildern. Und
gelegentlich, das fei in Parenthefe gejagt, find aud Formnadlajfigfeiten da. So eine
Tiſchkante, die eS nicht vertriige, Dak man die Reiffchiene anlegte. Wher dafür wird
beim Weſentlichen die Beobachtung fo intenfiv, dah eine ganze Szene lebendig wird.
Eine Fleine Familie figt um einen Tiſch. Cin tief im Lebnftubl lefender alter Gerr,
hinter dem Tiſch cin jiingerer Mann, der nach unten, wobl aud in cin Bud ſieht,
an der Borderfeite eine Dame. Unter den vielen leidt abgewandelten grauen Tönen
fällt hauptiichlid) der weifumrabmte Kopf und der vertiefte Musdrud ded Alten auf,
und zum Fenfter herein ſcheint in den kühlen Word des gefehloffenen Raumlichtes
das warme Griin einer Landſchaft. Es ijt cin mit Worten febwer zu faffender Eindruck.
Ich mupte an den Danen Jobannjen denfen, und diefen Namen nennen, bheift, das
Wort Familienpoefie ausſprechen. C3 ijt ganz gleich, twas der Gegenjtand ſolcher
Auffajfungsweife ijt. Cin Stillleben, Roſen in einem Glaje oder ein Frühſtückstiſch,
auf dem zwiſchen vielem Weiß und dem fraftiqen Schwarzgrün eines Jasminſtraußes
ein lichtblauer Schal zurückblieb, zeigen die gleichen Eigenſchaften.
Maria Slavona, eine Deutſche, die in Paris lebt, ift auc in Berliner Aus—
jtellungen ſchon wiederholt gefeben worden. Mod) die letzte graphiſche Ausitellung der
Sexeffion brachte von ibr gan; bervorragende Ragenjtudien, in denen fidy bei
ſtizzenhafter Behandlung die lange Beſchäftigung und genaue Bekanntſchaft mit dem
Tierleben verriet. Auch diesmal hat fie ein Nagenbild. An Olfarbe gemalt und
durchgeführter als zuerſt, etwas vom Leben der Tiere im Wobhnraum. Die weige ſich
ſchlafend dehnend, die prichtiq ſchwarze den breiten Schweif nachſchleppend und den
geſchmeidigen Niiden windend. Jn dem lebhaften Braunſchwarz und Weif, die dicht
aneinander gedvingt find, ſteht ein zweifaches Blau in der Umgebung. Dies jüngſte
Bild zeigt cine ſtärkere, klarere Farbe als frühere. Cin Parijer und ein Liibeder
Strafenbild teilen miteinander den Vorzug einer Nawmvertiefung, bervorgerufen durd
ein höchſt gewijfenbaftes Studium aller Tonwerte und durch cine liebevolle Befchaftiqung
mit dem Detail.
Eva Stort widmet ihre Aufmerkſamkeit vorwiegend den Hauptſachen. Ihre
Landſchaften befommen dadurch das Herbe, da8 in ibnen allen zu finden ijt. Auch
Glanz und Sonnenfdein behält eine ftrenge Note. Aber dafür ijt ftets etwas un-
gewöhnlich Echtes in dieſen Flachlandftimmungen. Die Ehenen fchieben gut und tie
in das Bild hinein, an den Baumen ijt das Wufragen hauptſächlich betont, ohne dah
die Stämme doch charafterlos im Kontur wiirden, und die Farbe fprict, auf wenige
Noten zurückgeführt, die Cigenart von Ort und Jahreszeit que aus.
Ejther Booth halt es ihrerfeits mit der fubtilen Durchführung der Details.
Sie bringt ein Antericur, ganz einer Zufallseingebung folgend. Im Moment ijt ibe
in dem Zimmer, das fie gerade bewobnte, der Reiz einer Farbe an altväteriſchen
Möbelſtücken, in Verbindung mit einem roten Steinfufboden, aufgefallen. Zu dem
einen Rot gefellte fie noch an verſchiedenen Ctellen fleine Steigerungen derfelben
Farbe, jtudierte liebevoll das luftige Suriiciweichen der Wand, obne docs die Dunklen
Streifen ju iiberjeben, die in der Zimmerede in die Hobe fteigen, lief auc im
Die Ausftellung der Malerinnen im Berliner Künſtlerhauſe. 431
gleichen Sinne dem Mufter de Möbelſtoffs fein Recht werden und brachte es
durch dieſe liebevolle Aufmerkſamkeit yu einer eigenartigen Raumſtimmung mit den
beſcheidenſten Mitteln.
Voll Feinheit im Cinjelftudium find aud) die Portrats von Ida Gerhardi
mehr als von zwingender Geſamtauffaſſung. Dazu iſt die Erſcheinung etwas ab—
fichtlich bizarr. Die Farben, die nicht unbeeinflußt ſind durch Aman Jean und
Besnard — die Künſtlerin lebt ſeit einigen Jahren in Paris — laſſen an irgend ein
ſprödes Material denken, dad eine eigentliche Naturwahrheit nicht erlaubt hatte. Die
zwiſchen warmem und faltem Licht in bunten Refleren figkende Dame in griinblauent
Rleide erinnert an eine Emailmaleret mit opafen Farben.
Endlich fomme ich zu Clara Siewert und Kathe Kollwitz. Bon bheiden
habe ich in diefer Zeitſchrift ſchon wiederholt ausfiibrlicher gefproden. Die erſte bietet
diesmal die Mbglichteit, ihre Anſchauungsweiſe in verſchiedenen Stadien neben einander
gu feben. In der Hauptſache ijt fie faſt die Gleiche geblieben. Zwei Selbjtportrats
in ganzer Figur wurden etwa vor zehn Jahren gemalt, ein Damenbildnis von zartem
Teint und lebhaft blondem Haar, umgeben von Schwarz und lebhaftem Scarlachrot,
entjtand im letzten Jahr. Früher wurde die Linie etwas mehr betont, bejonders in
bem Selbjthild mit Unterjicht. Durch einen tief geftellten Spiegel wurde dieje Anſicht
gewonnen. Geute ift eine mehr maleriſche Auffaſſung entftanden, welche die Konturen
bis yu einem geiwiffen Grade auflöſt und Gejtalt und Raum mit einander verbindet.
Unter den Zeichnungen Fleinen Formats ijt ein befonders ſchönes Blatt: eine Kinder-
feicse aufrecht auf einem Stuhl figend, cin ahnungsloſes Kleines daneben, über deſſen
Kopf weg die verftirten Ziige einer Frau nad dem ftarren Totenantlip ſchauen.
Käthe Kollwitz fandte die Refultate ihrer legten Arbeit: Studienjeichnungen nad
zwei ganz Eleinen Rindern. Das eine wohl nod) fein Vierteljabr alt, das andere um
einige Donate weiter entwidelt. Die noch völlige Hilflofigteit und der fonderbar
ärgerlich erjtaunte Musdrud ded erſten Lebensftadiums in immer anderen Stellungen,
und die prächtiger entwidelten, feſter zuſammenhängenden Glieder de3 feiner felbjt ſchon
bewupten Bambino. Hier und da die Hand der Mutter als Zugabe. Das alles mit
der meifterhaften Feftigfeit gegeben, welche auch den flüchtigen Cindrud nicht als ver:
ſchwimmende Smpreffion, fondern als volle Formerfenntnis binjtellt.
Und nun frage ich bei diefer Gelegenbeit zum Schluß — obgleic dies Thema
eigentlich ausführlicher erörtert werden follte: Wo find die weiblichen Macene, welche
dieſen Leiftungen auc) den äußereu Erfolg bereiten, den fie verdienen? Gewiß giebt
es reiche Frauen, die aud) dic Frauenfunft unterftiigen. Man ftiftet Beiträge zur
Griindung von Schulen, die dann ſchließlich vielfach gerade die Mittelmäßigkeit heran-
ziehen. Man läßt feine Kinder von der talentvollen Anfängerin malen, die zufällig
Hausfreundin ijt. Wer das will, mag es tun. Das weiblice Künſtlertum aber wird
nur wirffam unterftitgen, wer die wirklich bedentenden Leijtungen gu finden weiß und
wer die Durch tatſächliche Beweije ded Verſtehens ermutigt, die durch produftive Kraft
fiir weibliche Fabigfeit Zeugnis ablegen.
——
432
Sur Statistik des weiblichen Unterrichts in den
Vereinigten Staaten.
Don
Run Glasgow.
Radhbrud verboten.
veben erſcheint der zweite Band des Berichts des Comissioner of Education
jiir Das abr 1902, Gr enthalt eine amtliche Generalitatifti® des gejamten
@ Unterrichtsmejens der Union und bringt über dad Verhältnis der Geſchlechter
in ibrer Beteiliqung an den verſchiedenen Schulkategorien als Sebiiler, Lehrer oder
Veriwaltungsbeamte fo ungemein intereffante Sablen, daß es der Mühe lobnt, fie aus
dem ungebeuren Material herauszuziehen.
Was zunächſt das Volksſchulweſen betrifft, fo ift das Jahr 1902 infofern be-
deutungsvoll, als in dieſem Jabr yum eritenmal die Babl der weibliden Schulauf—
jichtsbcamten die der mannliden überſchreitet. Dm Jahre 1900 bis 1901 betrug
in Den Städten über 8U00 Cimwobner die Zabl der männlichen Schulaufſichtsbeamten
(supervising officers) 2416, Die der weiblichen 2317. Im Jabre 1901 bis 1902 iff
die Sabl der manntichen Beamten auf 2492, der weiblichen auf 2533 geftiegen. Diejes
in der ganzen Rulturwelt wohl bis jest nod) einjigartiqe Verbaltnis hat natürlich
in der Verteilung der Geſchlechter auf den Lehrkörper der Volksſchule überhaupt feine
Wrundlage. Die Zahl der Lebrerinnen in famtlichen Volksſchulen der Stadte über
8000 Einwohner betrug im Jabre 1901/1902 83775, die der Lebrer nur 6969, alfo
etwa den zwölften Teil. Cs ijt febr bemerfenswert, daß died Verhältnis in dem letzten
Jahrzehnt annähernd fonjtant gqeblieben ift. Ceit dem Jahr 1890/91, da die Zahl der
Lehrer 3874, Die der Lebrevinnen 48557 betrug, find die beiden Zahlen etiva in
qleichem Verhaltnis geftiegen, bis fie fich falt verdoppelten. Leider find, dieſe Sablen
fiir Die Stadte und Dörfer unter 8000 Cimvobner nicht berechnet.
Dieſen Verhältniſſen entſpricht natürlich die Statijtif der Lebrerfeminare — aus
der übrigens nod jebr deutlich bervorgebt, daß nur cin verbaltnismapig geringer
Prozentias der Lebrfrajte in den Vereinigten Staaten eine ordnungsmapige Fach—
bildung bat. Zum Teil bilden aud) die Univerfitaten und Sekundärſchulen in
befonderen Kurſen Lebrer und Lebrevinnen aus, fo dag als Lehrerbildungsanjtalten
neber Den 173 Sffentlichen und 109 privaten Seminaren nods eine viel größere Sabl,
nämlich 959 Anſtalten in Betracht kommen, die Lehrer und Lebrerinnen in Neben:
furfen ausbilden. Aus den öffentlichen Seminaren gingen im Qabre 1901,1902
1632 Lebrer und 6952 Lebrerinnen als Graduierte bervor. Cigentiimlicder Weife it
der Projentjag der männlichen Schüler im Verhaltnis zu den wweibliden in den
Privatieminaren erheblich größer als in den Hffentlichen, Während in den öffentlichen
Seminaren die Manner weniger als 25 Prozent der gefamten Schülerzabl ausmachen,
umfaſſen fie in Privatſeminaren anndbernd 48 Prozent. Worin dieſe eigentümliche
Erſcheinung — die im ſtrikteſten Gegenſatz zu deutſchen Verhältniſſen ſteht — ihren
Grund hat, gibt der Bericht nicht an. In öffentlichen und privaten Univerſitäten und
höheren Lehranſtalten wurden Lehrer und Lehrerinnen in folgendem Zahlenverhältnis
ausgebildet:
Bur Statijtit ded weiblichen Unterrichts in den Bereinigten Staaten. 433
Lehrer Lehrerinnen
UniverſitätTtenn. 4446619 6171
Offentliche höhere Lebranftalten . . . . 1913 8570
Private höhere Yebranftalten 2. 2... 3395 4497
Um die Siffern der Schiiler und Schiilerinnen in den jogenannten Secondary
schools richtig zu beurteifen, mug man fich erinnern, daß das amerifanifde Unter:
richtsſyſtem auf der Einheitsſchule berubt. Die erften act Schuljabre gehören
unter allen Umſtänden der Elementarſchule. Die hoberen Lebranjtalten bauen auf der
Elententarjdule auf und umfajjen nur vier Jahrgänge. Daran fdliefen ſich dann
die Hochſchulen, d. h. die Univerfitdten, techniſchen, mediziniſchen, theologiſchen,
juriſtiſchen Hochſchulen ꝛc.
In dieſen vier Jahrgänge umfaſſenden Lehranſtalten, die den Übergang von der
Elementarbildung zur Univerſitätsbildung bilden, alſo etwa der Unterſekunda bis
Prima unſerer höheren Lehranſtalten entſprechen — freilich mit Beſchränkung der
Ziele — überwiegt die Zahl der Mädchen gleichfalls auffallend. Die öffentlichen
high-schools batten im Jahre 1901—1902 323 697 Schülerinnen gegen 226 914
Schiller, die privaten 58154 Schiilerinnen gegen 51536 Schüler. Es ijt min
interejjant, daß aud die Zahl derjenigen weiblichen Schiiler dieſer Anjtalten, die fich
ausdrücklich auf einen ſpäteren Beſuch der Univerjitét vorbereiten, die der männlichen
faſt erreicht bat. €8 waren im ganjen 30704 Knaben und 27 987 Madchen.
Charatterijtijcs ijt dabei, dak der Überſchuß der Knaben ausfeblieflich auf die mathema-
tiſch-⸗naturwiſſenſchaftlichen Zweige fallt, alſo auf die unferen Oberrealſchulen entſprechen—
den Anſtalten, während die Mädchen den humaniſtiſchen Bildungsgang bevorzugen.
Das Verhältnis iſt ſo:
Knaben Madden
realiſtiſche Anſtalten . eee) «616406 11 488
humaniſtiſche Unftalten 2 2. 2. 2 2. 14.298 16 499
Die Anzahl der Knaben, die fich auf die Univerfitit vorbereiten, ijt in privaten
Anjtalten eigentiimlicberweije prozentual groper als in öffentlichen. Das Verhältnis
ijt Das folgende:
Knaben Madden
humaniſtiſche.. 409016 5346
realiſtiſchee... 423421 2791
UÜbrigens ijt in den letzten zehn Jahren das Zahlenverhältnis der Geſchlechter
in Den höheren Lehranſtalten faſt konſtant geblieben. Cin klein wenig haben die
Mädchen gegen die Knaben zugenommen. Im Schuljahr 1891/1892 waren die Knaben
44,01 Prozent, die Mädchen 55,99 Prozent der Geſamtzahl. 1901/1902 find die
Knaben nur nod 42,49 Prozent, die Madden 57,51 Prozent. Das Zablenverbhaltnis
der an höheren Lehranſtalten beſchäftigten Yebrer und Lebrerinnen entſpricht etwa dem
Anteil der Gefeblechter an dem Sebhiilerfontingent. Cs waren an öffentlichen Schulen
10958 Yebrer und 11457 Lebrerinnen angeftellt, an privaten 4073 Yebrer und
5830 Lebrerinnen. Leider ijt aus dem diesjährigen Bericht nicht erfennbar, wie weit
in Diefem Zweige des Unterrichtswejens Coeducation herrfcht, und das aus den
Hunderten von Seiten, die Das namentliche Verzeichnis der einzelnen Anſtalten umfaßt,
auszuziehen, wäre eine Herfulesarbeit. Sieht man aber dieſes Verzeichnis durch, fo
find in weit iiberwwiegendem Mage von den einzelnen Anjtalten beide Rubriken ,male“
und ,female ausgefiillt, alfo Coeducation überwiegt.
Und nun die Hochſchulen, zunächſt Univerfititen und Colleges. Es bejteben in
den Vereinigten Staaten 595 Univerjitdten und Colleges, von denen 134 nur Manner
julajjen, 131 nur Frauen und 330 Manner und Frauen. Dazu fommen 43 techniſche
Hochſchulen, von denen 27 yugleich von Frauen bejucht werden.
Die Sabl der ftudierenden Dinner und Frauen bat fich im lesten Jahrzehnt an
all dieſen Anjtalten in folgender Weife verändert.
28
434 Zur Statijtit des weibliden Unterridhts in den Vereinigten Staaten.
Techniſche Hochſchulen
Manner
Univerfitdten fiir Manner und | Univerfitaten
fiir beide Geſchlechter fiir
Manner | Frauen Frauen
Frauen
6 870 | 707
|
1889—1890 ......... 38 056
1890—1891 ......... 40 089 6 131 481
1891—1892 2. 06s ess 45 032 6 131 481
1892—1893 ........4. 46 689 8616 845
1898—1894 .........- 50 297 9517 | 1376
1894—1895 ......... 52 586 9 467 * 1 106
1806 —1806 335 vin Beas 56 556 8 587 | 1 065
1S9G— 1807 a5 se eenaue 55 755 8907 1 O94
LOST 1606 2 5.05.0, #959: 58 407 8611 1 289
1898—1899 .. ...... 58 467 9 038 1 339
1899—1900 2... eee 61812 10 347 1 449
1900—1901 ......... 65 069 10 403 1151
1901—1902 ......... 66 B25 11 808 1 202
Gin paar furje Angaben feien nocd über die VBeteiliqung der Frauen an den
Hochſchulen fiir einjelne Zweige akademiſchen Studiums gemadt. Cie find auch
tabellariſch geordnet am überſichtlichſten.
Manner Frauen
Hochſchulen für Theologie. ..... 7 335 108
je » Surigpudeny .. . . 13 747 165
a |. Se 25 644 1177
— „Zahnheilkunde . . . 8258 162
* — POOLE 5. was 4 209 218
Vielleicht wird es überraſchen, dak in dieſen Anjtalten die Zabl der Frauen nod
neben der der Manner faſt verſchwindet. Befonders in den zahnärztlichen Hochſchulen
jind die Frauen mit einer ganz auffallend niedrigen Zabl vertreten; von den 56 An—
jtalten nebmen 18 nod) feine Frauen auf. Auch Theologinnen und Juriſtinnen treten
bier nod) mebr zurück, als man ſich im Ausland gewöhnlich voritellt.
Etwas giinjtiger ftellt fic) das Verhältnis fiir die Frauen in den landwirtſchaft—
lichen und fogenannten ,mechanical Colleges“; unter dieſem lester Namen find An—
jtalten zuſammengefaßt, die, obne die wiſſenſchaftliche Höhe von techniſchen Hochſchulen
zu erreichen, Kurſe in technologiſchen Wiſſenſchaften eingerictet haben. Colche Kurſe
ſind häufig landwirtſchaftlichen Schulen angegliedert und entſprechen wobl den Be—
dürfniſſen der Koloniſten, die in einſamen Farmen zugleich Baumeiſter, Schmiede ꝛc.
ſein müſſen. In dieſen ſtaatlich ſubventionierten Anſtalten betrug die Zahl der männ—
lichen Schüler 32517, der weiblichen 9287. Jn den für Farbige eingerichteten Kurſen
waren 2887 Männer und 2356 Frauen. Dabei ſind auch Schüler, die nur Einzel—
kurſe belegt haben, mitgerechnet.
Pfarrer Naumann bat in ſeinem Vortrag über die Frau im Maſchinenzeitalter,
der kürzlich in München auch im Dru erfecbienen ijt, den wefentlichen Fortſchritt der
Hrauenfrage darin gefeben, daß es den Frauen gelingt, in die mittleren und oberen
Schichten der gewerblichen und kommerziellen Berufe einzudringen. Soweit die Statijtif
der Handelsſchulen Rückſchlüſſe erlaubt, ſcheinen die Amerifanerinnen dazu auf gutem
Wege. Jn den eigentliden Handelsſchulen — die Handelsfurje, die in high-schools,
Univerjititen ꝛc. abgebalten werden, follen bier nicht beriicfichtigt werden — alfo in
den cigentlichen Gandelsfculen waren 81 344 Schüler und 55903 CSchiilerinnen.
Dieſe Anjtalten find mit ganz geringen Ausnabmen fiir beide Gefadledter beftimmt;
das namentlicde Verzeichnis weiſt bet jeder eingeluen Manner und Frauen auf. Wie
weit der Unterricht gemeinjam ift, wie weit er fich etwa in getrennten Kurſen vollziebt,
gebt aus der Statijtif nicht bervor.
Nachdrud mit Quellenangabe erlaubt.
* Prefitimmen zu dem Wabhlredjt der
Frauen bei den Ranfmannsgeridten. Die
„Deutſche Zeitung” hat fic) am 3. März in
langerer Betractung dariiber aufgeregt, daß man
in der ReichStagsfommiffion den weiblichen An:
geſtellten das aftive Wablredt fiir die Raufmanns:
gerichte zugeſtand und aud das paffive nur mit
minimaler Majoritat ablehnte. Sie warnt bringend
por dieſem Sebritt und gwar mit folgender tief:
finnigen politifden Erwägung:
„Was indeffen vor allem den Politifer abbalten
mup, Den weibliden Angeftellten das Stimmredt
gu gewähren, ijt die ſehr berechtigte Befürchtung,
daß man damit der Sozialdemokratie den größten
Gefallen tut. Bei der durchaus nationalen Grund:
ftimmung der mannliden Handlungsgehilfen in
Deutſchland fann es geradeju als ausgeſchloſſen
gelten, daß die Sozialdemofratie an den Beifiger:
wablen fiir bie Kaufmannsgerichte Freude erleben
wird. Der ſozialdemokratiſche Gebilfenverband
siblt in ganz Deutſchland nur 1500 Mitglieder
— die anderen Verbände rechnen nad Zehn—
taufenden — und von dieſen 1500 find nicht weniger
als BOO weibliche Ungeftellte der Arbeiterkonſum—
vereine.
Alſo da Hat es eine Gefabr, da obnehin die
anderen Bereine, wir erinnern an den deutſch—
nationalen, ungemein jeblagfertig organifiert find.
Ganz anders dagegen fann der Haſe laufen,
wenn die Frauen das altive Wahlrecht bekommen.
Der grofte Teil von ihnen wird vorausſichtlich
nicht zur Urne ſchreiten, weil er fiir Standed:
angelegenbeiten fein Qntereffe bat. Cine Ausnahme
von dieſer Regel aber werden die weiblichen An:
gefteliten der Warenhäuſer und vor allem die der
Ronfumvereine machen; und fie gerade find es, die
infolge der Berührung mit ibren vielfach jüdiſchen
Geſchaftslollegen ſozialdemokratiſchen Bertretern
ihre Stimme zuwenden dürften.“
Ob die „Deutſche Tageszeitung“ nur übergeht,
oder ob fie wirklich nichts ahnt von den 15.000 in
den Hilfsvereinen der weiblicen UAngeftellten organi:
ſierten Handelsgebilfinnen, die ibre ,,Schlagfertige
teit“ und ihr Intereſſe an den öffentlichen Rechten
ibres Standed wahrlich oft und deutlich genug ge:
zeigt haben?
Sehr wobhltuend berührt dagegen die rubige und
gerechte Befpredung der gangen Frage durch die
ae
—*
„Deutſche Warte“. Nachdem fie aud fiir bas
pafjive Frauenwablredt mit allem Nachdruck ein:
getreten ift, ſchließt fie:
„Merkwürdig ift und bleibt dieje Angſt vor der
Teilnabme der ate an den öffentlichen Ange:
legenbeiten, die fo nabe angeben, die damit be:
gründet wird, daß ihnen alsdann aud) an anderen
Offentlichen Einrichtungen, wie am Gewerbegeridt
ufw., diefe Teilnahme eingeräumt werden müßte.
Erflens einmal wäre das abſolut fein Unglück,
ſondern nur eine ſehr gerechte Neuerung, die in
anderen Staaten, die ſonſt gar nicht in Bezug auf
ſozialpolitiſche Neuerungen an der Spitze der Zivili—
ſation marſchieren, wie Oſterreich, bereits eingeführt
iſt. Zweitens würden jedenfalls die Erfolge des
erſten Experimentes abgewartet werden, ehe an
eine Nachahmung geſchritten wird. Werden alſo
dic Erfahrungen, die man mit dem Frauenwahl⸗
recht bet den Kaufmannsgerichten macht, ſchlechte
fein, dann wird man ja die ſchönſte Ausrede baben,
eS ihnen gu anderen dffentliden Einrichtungen zu
verfagen, und find die Erfabrungen im Gegentgil
gute, dann bat bas Frauenwablredht feine Be—
rechtigung eriviefen und dann ift fein Grund abs
sufeben, warum man es ihnen gu den Gewerbe-
geridten, an denen fie fo ſtark beteiligt find, nicht
aud gewähren ſoll.“
Ahnlich äußert ſich in der „Solinger Zeitung“
ein „unparteiiſcher, national geſinnter Handels—
gehilfe“ unter dem Eindruck des rheiniſch-weſt⸗
fäliſchen Handelsgehilfentages, der das Frauen:
ſtimmrecht rund ablehnte.
Auf das Schickſal dieſes Paragraphen der
Vorlage im Plenum darf man nun geſpannt fein.
Bekanntlich haben die verbiindeten Regierungen
erflirt, daff dad Gefets durch die Aufnabme felbft
des aftiven Wahlrechts der weibliden Angeftellten
fiir fie unannebmbar würde. Sachliche Griinde
fiir dieſe Stellungnabme find nicht angefiihrt
worden. Biclmebr ftellen fie fich lediglich auf den
Pringipienftandpuntt, bet einem Sondergeſetz ,,den
wichtigen Grundſatz unferer ganzen Berfaffung
und Berwaltuna, daß nur die Mitglieder ded
männlichen Geſchlechts das altive und paffive
Wahlrecht ausiiben follen”, nicht gu durchbrechen.
Nach diejen biindigen Erklärungen der Staaten,
die im Bundesrat die Majoritat bildben (von
28*
436
Sur Frauenbewegurg.
58 Stimmen verfiigen fie über 31) ſcheint nicht | von politifden und firdlidien Berfantmlungen.
viel Ausſicht, daß das Plenum in der zweiten
Refung bas Frauenſtimmrecht fefthalten wird.
* Die Petition bes Allgemeinen Deutſchen
Frauen Vereins, dic Ausbildung von Wewerbe:
injpeftorinnen betreffend, ift vor furgem im
Petitions: Wusfhuf der Bavyerifden Kammer der
Wbgeordneten yur Verbandlung gefommen. Die
Petition wurde fiir bie Crérterung im Plenum
nicht geeignet befunden, „da dad jegige Inſtitut der
weiblicden Gewerbeaufſichtsbeamten bisher gu keiner
Unjufriedenbeit Anlaß gegeben bat und deshalb
gurgeit fein Grund beftebt, auf eine Anderung cin:
zugehen.“
Der Landtag des Fürſtentums Schwarzburg—
Sondershauſen hat dagegen in ſeiner Sitzung vom
12. Februar 1904 beſchloſſen, „mit Rückſicht auf
bie ſozialpolitiſche Bedeutſamleit ber Frage und auf
bie im der Petition enthaltene banfensiverte Wn:
regung die Petition ber Fürſtlichen Staatsregierung
als Material yu iiberweijen.”
* Cine „deutſche Arbeiterinnenseitung’ wird
feit Februar d. J. von ber Rentralftelle fiir
Urbeiterinnenorganifation des Berbandes Fort:
ſchrittlicher Frauenvereine herausgegeben, Das
Blatt ift politiſch und religids neutral und wird
mit Nachdruck die Anterefien der Arbeiterin ver:
treten.
Befreiung der Arbeiterin vor wirtſchaftlicher Aus—
beutung“ kennzeichnen die Tendenz des Blattes,
hat. Das Blatt wendet ſich in erſter Linie an
die Arbeiterinnen ſelbſt, daneben bezweckt es auch,
in anderen Frauenkreiſen erhöhtes Verſtändnis und
regeres Intereſſe für die Lage der Arbeiterin zu
erwecken. — Das Blatt erſcheint monatlich einmal,
zunächſt im Umfange von 4 Seiten, ſpäter
8 Seiten im weiten Kreiſen dads Abonnement
zu ermöglichen, iſt der Abonnementspreis äußerſt
niedrig angeſeyt: jährlich BO Pf. vierteljährlich
20 PF. Gegen Einſendung des Betrages in Brief—
marten an die Erxpedition ded Blatted, z. H.
Fräulein Klara Schleker, Berlin W., Deſſauer
Straße 23, erfolgt freie und prompte Zuſtellung
durch die Poſt.
*Das Bereinsgeſetz und die Frauen in
Brauuſchweig. Der Braunſchweiger Landtag bat
in letzter Stunde dem Frauenparagraphen in der
Vereinsrechtvorlage bod noch einen anderen Wort:
faut gegeben. Es twurde am 19. Mary cin Antrag
angenommen, demzufolge Fraucn an folden Ver:
fammlungen tet(nebmen diirfen, in denen Berufs—
interefjen beraten werden. Ausgeſchlofſſen find fie
— _
Dic Worte des Leitartifels der erften |
Nummer: ,,Befreiung ber Wrbeiterin ale Frau, ;
| Snfonjequengen“).
Gewährt diejer Beſchluß aud gegeniiber
| anbeimguftefien.
der
Regierungdvorlage den Frauen weiteren Spielraum,
fo fcheint er bod) wieder wie in Breufen dic
Entideidung, ob politiſch, ob nicht, gang der Polizet
Gr fiibrt gerade den unbaltbaren
Zuſtand cin, der in Preußen alle vie Curiosa ber
Polizeipraxis gegeitigt Hat.
* Die Anjtellung einer Arztin gur Unter:
ſtützung des Stadtarztes ijt in Frantfurt a. M.
befehloffen worden. Die Stadtocrordnetenfigung
bat ben Antrag, der von ben Arzten [ebbaft
betadmpft wurde, ſchließlich mit grofer WMajoritar
genebmigt.
* Die erjte Direftorin ciner ſtädtiſchen Schult
ift kürzlich in Berlin ernannt worden. Es bandeit
fic) um cine ber ſtädtiſchen Fortbildungsſchulen
fiir Madchen, deren Leitung von Fraulein Schal
born, bisber Oberlebrerin an der Luiſenſchule,
iibernommen werden wird.
* Die Sulaffung gum Gramen pro facultate
docendi ift nun endlich aud in Preußen einer
Ubiturientin, die Mathematit ftudtert bat, gewabrt
worden. (val. Februarhejt der Frau: , Bebsrdlide
Der minifteriellen Berfiigung,
| die thr anbeimftellt, fich bei ber fonigliden Prüfungs
deſſen Scbriftleitung Elſe Lüders fibernommen | Men TE eriolithe.
fommijfion gu melden, ift bie Bemerfung binju-
Aefiigt, daß fie durch bas Befteben des Examens
ein Ret auf Anftellung im Sffentliden Schul
Wir diirfen troy bicfer vor:
faufig wohl erflarliden Einſchränkung die €r:
fiillung einer feit Jahren immer wieder geftellten
Forderung mit Freubde begriifen, um fo mehr, als
ibre Tragiveite fiir die ganze Frage der Wadden:
gymnaſien und der Yebrerinnenbilbung außer—
ordentlich groß ijt.
Der Entwurf eines Arbeiterinnenſchutz
geſetzes für Bafel-Stadt, ber focben vom He-
gierungsrat bent Großen Rat vorgeleat worden tft,
greift auf die Anträge von 1496 zurück, die cine
Revifion bed Arbeiterinnenſchutzgeſetzhes von 1888
im Sinne einer Reduktion ber täglichen Arbeitszeit
neben gleichzeitiger Errichtung eines kantonalen
Gewerbeinſpeltorats forderten. Während die letztere
Forderung bereits 1901 erfüllt wurde, ſoll die
erſtere nunmehr zur Verwirklichung gebracht werden,
Die Vorlage beſchränkt ſich nicht auf die Arbeits
zeitverlürzung von 11 auf 10 Stunden, ſondern
jtrebt gugleich cine Ansdebnung des Geltungs
bereiches ded Geſetzes auf famtlide Ladengeſchäfte
an; nur fiir iiber 18 Sabre alte Berfiuferinnen
barf die tägliche Arbeitszeit 11 Stunden betragen.
Zur Fraucnbewegung.
Die Mittagspaufe betragt 1'/. Stunden. File jeden
Sonntag, an bem die Verkäuferin beſchäftigt ift, ift
cine entſprechende Zeit an einem Werktage frei
gugeben. Für die fonftigen UArbeiterinnen gilt
ftritte SonntagSrube. Uber die geſetzliche Arbeits—
seit binaus Arbeit mit nad Haus gu geben, iſt
verboten. Ausreichende Sitgelegenbeit und Re:
duftion ber guldffigen Geloftrafen auf höchſtens
', ded Tagelobnes (bisber '/2) wird gefordert.
Wöchnerinnen diirfen vor und nad) ibrer Niederkunft
im ganjen wabrend 8 Boden nicht befcbaftigt
werden. Die Mberjeitarbeit wird eingeſchränkt
auf ausnahmsweiſe täglich 2 Stunden. — In—
tereſſant iſt die Begründung der Arbeilszeitver—
kürzung: Das kantonale Schutzgeſetz Lanne ſehr
wohl über den 11-Stundentag des eidgenöſſiſchen
Fabrikgeſetzes hinausgehen, weil dieſer Arbeitstag
längſt aufgehört hat, die Regel zu bilden. 1901
batten von ben ſchweizer Fabriken nur noch 47°,
mit 41,1. %o ſämtlicher Arbeiter ben 11 Stundentag,
bagcaen 9°, mit 12,,%, der Arbeiter den
10 4/, ſtüundigen. 35,,°, der Betriebe mit 38, %/
ber Wrbeiterfdaft ben 10ſtündigen und der Reft
der Betricbe einen nocd fiirgeren Arbeitstag. Der
Sebnftundentag hat übrigens bereits in dem Ar—
beiterinnenſchutzgeſez des Rantons Zürich yom
Sabre 1894 Aufnahme gefunden. Mit der Mus:
dehnung diefer Arbeitszeitverlürzung auf bas Laden:
perfonal aber geht der anton Baſel bahn—
bredend voran; denn die Normalarbeitswode von
65 Stunden, die bas neuenburgifde Geſetz von
1901 und der waadtländiſche Entwurf von 1903
vorfeben, garanticren den Ladnerinnen damit dod
ben Rebnftundentag nod nicht. Sehr niiglich iſt
aud cine Beftimmung des neuen Bafeler Entwurfs,
bie die Beſchäftigung von Madden unter 14 Qabren
in gewerblichen Getrieben, deren Möglichkeit dic
bidherigen Geſetze offen lichen, verbictet, fowie cine
ganze Reihe fanitarer Beſtimmungen iiber die Ar:
beitsräume und Vorſchriften über Urbeitsordnungen,
Schlichtung von Streitigtciten ufw. Sämtliche der
von dem Entwurf geregelten Betriede follem der —
Fabrilinipeftion unterftelt werden. Der Entivurf
der Revifionsvorlage foll von dem ſozialiſtiſchen
Regierungsrat Wullſchleger herriibren. (Sogiale
Praris vom 25. Febr.) Ym Ranton Wargau ijt
ein Arbeiterinnenſchutzgeſez angenommen worden,
bas den Arbeiterinnen der Konfeltionsgeſchäfte, den
Wäſcherinnen, Verläuferinnen und den WAngeftellten
in Gaftiwirtidaften gewiffe Erleicterungen bringt.
Die Maximalarbeitszeit ift bier fiir die Urbeiterinnen
11 Stunden, an Borabenden von Sonn: und Feier
437
tagen 10 Stunden. An diejen Tagen muß um
4 Uhr gefdloffen werden. [bergeit mug mit 25 #/,
Lohnzuſchlag vergiitet werden und barf 2 Stunden
täglich während ber Dauer von langftens 2 Monaten
nicht iiberfdjreiten, Für die Ladnerinnen wird
einftiindige Pauſe im Lauf des Tages und eine
ununterbrodene Nachtruhe von 10 Stunden, fowie
Sibgelegenbeit gefordert. Weibliche Bedienftete in
Gaſtwirtſchaften haben das Hecht auf 8 ftiindige
Rubeseit. Sie müſſen im Monat mindeftens einen
freien Sonntag und an einem andern Sonntag
Beit gum Gottesdienft baben. Für jeden Sonntag,
an bem fie beſchäftigt find, ift ihnen ein balber
freier Worhentag zu gewahren. — Dies find die
weſentlichſten Beftimmungen aus einem Geſetz, dads
freilic) nod) keineswegs dad ſozialpolitiſch Wilnfdend-
werte fichert, aber dod) gegen bisherigen Zuſtände
einen bemerfendwerten Fortſchritt bezeichnet.
* Die Rulafiung der Frauen zur Advofatur
ift von der italienifcen Rammer kürzlich genehmigt
worden. Es ſcheint aber nicht viel Ausſicht gu
fein, daß ber Gefegentivurf vom Senat angenommen
wird,
*Weiblide Juriften in Norwegen, Kürzlich
bat nad bem Borgang des OdelSthings auc das
Lagthing den von der Regierung vorgelegten
Gefegentwurf iiber bie Zulaſſung von Frauen
als Redtsanwalte und Advokaten mit 19 gegen
10 Stimmen angenommen.
* Fortbiloungsturfe fiir Fabrifarbeiteriunen
beabfichtigt der Grafſchaftsrat in London ein:
surichten. Es follen Tages: und Abendfurfe ein:
gerichtet werden, in benen die Schülerinnen unter
anbderem auc) in Sinderpflege unterwiejen werden
follen. Die Rurfe ftehen unter Leitung von
Mrs. Creighton, der Witwe des friiberen Biſchofs
von London.
* tin bie Frage eines ,,humaneren und wir:
ſameren Syjtems zur Befampfung der Ans:
dehuung der veneriſchen Krankheiten“ zu ftudieren,
bat die ſchwediſche Regierung cine Kommiſſion
eingeſetzt. Der Rommiffion, die vom Konig crnannt
worden tft, gehören an: der Gouverneur einer
Proving, zwei männliche Arzte fowie cine Arztin,
ein Polizeilommiſſar, ein Juriſt und Otto Weſtenberg,
ber ein eifriger Vorkämpfer der abolitioniſtiſchen
Bewegung in Schweden iſt. Die betreffende Arztin
iſt Dr Alma Sundquiſt, die in der Allgemeinen
Poliflinit in ber Wbteilung fiir Frauenleiden und
veneriſche Rrantheiten wirkt.
—öæ
Quternationaler Franenfongref.
Dem Bericht deS Bundesorgans iiber die Vor—
ftandsfigungen des Bundes deutſcher Frauenvereine
am 29, Februar und 1. Marg fet im bejug auf den
Kongreß folgendes entnommen:
Im Anſchluß an die ausführlichen Berichte der
Borljigenden über die Borbereitungsarbeiten ded
Organifationsfomitees und der Borfigenden ded
Berliner Lofalfomitees iiber die getroffenen lokalen
Vorbereitungen gum Ynternationalen Frauenkongreß
wurbe das gange Programm nun endgiltig feft-
geſtellt, ſowohl in bezug auf die Arbeitsfisungen
und großen Propagandaverfammlungen, wie auf die
ju einem wiirdigen Empfang der bereits zahlreich
angemeldeten fremben Gaſte vorgefebenen Ber:
anftaltungen, Cmpfinge, Ausſtellungen, Auffüh—
rungen 2. Ferner wurde iiber bie verfdiedenen
Abzeichen fiir 1. C. W. und Kongreß, die Teil
nebmerfarten, die Cinladungen und den Verkehr mit
der Preffe, das Kongreßhandbuch, das Bilderalbum
u. a. Beſchluß gefaßt. Bon ftenograpbifden Be—
richten und der ſpäteren Herausqabe eines Kongref-
werles beſchloß der Borftand abjufeben, da nach
allen bi8berigen CErfabrungen das Bedürfnis und
ber Mugen eines derartigen Werfes qu der grofen
Muhe und den bedcutenden Koften, die es ver:
urjacht, in feinem Verhältnis fteben.
Da das ganze Kongrefprogramm ſpäter im
Sentralblatt verdffentlicht werden wird, fei bier
nur die Tagesordnung der fiinf öffentlichen Ver:
fammlungen, wie fie nunmebr feftgeftellt ift, mitgeteilt:
Montag, den 13. Juni, Abends 8 Uhr:
„Der Stand ber Frauenbewegung in den
Kulturländern“.
Dienstag, den 14. Juni, Abends 8 Uhr:
„Frauenlöhne“.
Donnerstag, den 16. Juni, Abends 8 Uhr:
„Das Verhältnis der Frauenbewegung
zu den politiſchen und konfeſſionellen
Parteien“.
Freitag, den 17. Juni, Abends 8 Uhr:
„Frauenſtimmrecht“.
Sonnabend, den 18. Juni, Nachmittags 4 Uhr:
„Grundlagen und Ziele der Frauen—
bewegung“.
Schluß des Kongreſſes.
Uber die Sitzungen der Seltionen wird die
Tagesordnung demnächſt auch von einzelnen feſtgeſtellt
werden. Da die Sektionen gleichzeitig tagen und fo:
mit zur Erörterung ihrer Gebicte wenigſtens in großen
Umriſſen Zeit haben, ſo iſt zu erwarten, daß es zu
einer wirklich fruchtbaren Ausſprache über Fragen
von internationaler Bedeutung kommen wird,
—
|
|
|
I. Yuternationaler Schulhygiene-Kongreß.
Nürnberg 4.—9, April.
Qn der Wode nach Oftern tagt in RNiirnberg
der I. Ynternationale Kongreß fiir Schulbpagiene,
in erfter Linie von Medizinern berufen. Aber
aud) cine Reibe nambafter Padagogen nimmt durch
Vortrage und Referate an demielben teil. Das
Programm ijt cin auferordentlic) reichbaltiges.
Auf die offigiellen Referate folgen in elf Abteilungen
lange Reihen von Vorträgen. Bon Fragen, dic
aud fiir unfere Frauenkreiſe cin ganz ſpezielles
Intereſſe baben, fommen — in Referaten — wu. a.
folgende zur Verhandlung: Mbt. IV. Koédukation
(Ref. Prof. Hertel ArelsRopenbagen und Prof.
Palmberg-Helfingfors). Wht. V. Hygieniſche
Unterweifung der Schiller (Ref. Prof.
Wernide-Pofen) und verſchiedenſte Bortraac.
Mbt. IX. Elternabende (Ref. Stadticulrat Wei f-
Niienberg). Wht. AL. Die Bedeutung ſchul—
hygieniſcher Beftrebungen fiir die Frauen
und fiir die Familie (Ref. Frau Elsbeth
Krutenberg- Kreujnad, Fraulein Helene
Sumper-Miinden), Die beiden legten haben
folgende Theien aufgeſtellt:
1. Es ift notwendig, in Frauentreifen Ver:
ftandnids und Intereſſe fiir ſchulhygieniſche
Fragen su weden, weil
a) der giinftige Einfluß ſchulhygieniſcher
Maknahbmen durch unverjtandiges Ent:
geqenarbeiten von Seiten der Mütter
vielfach vernichtet wird,
b) die Arbeit der Miitter an gefunder
firperlicher und ſeeliſcher Cntwidlung
ibrer Kinder bei feblender Unterftiitung
durch gecignete ſchulhygieniſche Wap
nabmen gleichfalls gu ciner vergeblichen
wird.
2. Der Cintritt erjabrener Frauen (Mütter
und Lebrerinnen) in die Rommifftonen und
Ruratorien der von Mädchen bejuchten
Schulen ift in ſchulhygieniſchem Intereſſe
dringend zu wünſchen.
3. Einſtellung von Schulärztinnen in den
gleichen Schulen iſt warm zu befürworten.
4. Im Intereſſe jeder Familie liegt es, daß
in Knaben- und Mädchenſchulen (Bolts:
ſchulen und höheren Lebranftalten) auf:
Elarender Unterricht iiber Gefundbeits-
lehre nicht nur im Legten Schuljabre, fondern
vom erften Schuljabre an in regelmäßiger
Wiederholung erteilt wird. (Mit Hinsweis
auf die in Amerika getroffenen Einrictungen).
Bur Frauenbewegung.
Frau Rrulenberg wird fpegiell die Qntereffen
der Miitter betonen und die höheren Schulen beriic:
fichtiqen, wabrend Fraulein Sumper auf die Volls—
und Fortbilbungéfdule im befonderen eingeben
wird.
Auch in Wht. X. referiert eine Frau: Dr med.
Frl. von Tuſſenbrok-Amſterdam. Vorfigende
ded empfangenden Damen-Ausſchuſſes iſt Frau
Helene von Forſter, gugleid) Delegierte ded
Allgemeinen Deutiden Frauenvereing.
Wir madden unfere Lejerinnen auf die Ber:
handlungen dieſes Rongreffes noc) einmal dringend
aufmertiam,
Wiffenfdjaftlide Kurfe gum Studinm des
foholismus,
(Abgehalten in Berlin vom 6.—9. April 1904 im
Baraden-Auditorium der Univerfitdit, Cingang
Raftanienwaldden.)
Programm:
1. Dien8tag, 5. April.
1O—11: Geſchichte des Rampfes gegen den
Alloholismus.
Franziskus Hähnel, Bremen.
11—12: Allohol und Vollswirtſchaft.
Dr med. A. Grotjahn, Berlin.
4— 5: Gefchichte des Kampfes gegen den
Alkoholismus.
5 — 6: Einwitkung des Allohols auf Körper und
Geiſt.
Profeſſor Dr Grawitz, dirig. Arzt
am ſtädt. Krankenhauſe in Char—
lottenburg.
2. Mittwoch, 6. April.
: Der Altoholismus und die Arbeiterfrage.
Dr Georg Keferftein, Liineburg.
: Alfobol und Volkswirtſchaft.
> Ulfobolismus und Projtitution.
Dr med. Agnes Hacer, Berlin.
5— 6: Cinwirfung ded Alfohbols auf Körper
und Geift.
3. Donnerstag, 7. April.
10—11: Geſchichte ded Rampfes gegen den
Wlfoholismus.
11-12: Altohol und Volkswirtſchaft.
4— 5: Alfobol und Berbrechen.
Profeffor Dr Afdaffenburg,
Halle a, S.
5— 6: Wirfung bes Alkohols auf die Nach—
fommenfcbaft.
Drmed.UlfredPloeh, Schlachtenſee.
4, Freitag, 8. April.
10—11: Alfobol und Verbreden.
: UAllCobolismus und Proftitution.
> Wirtung des Wlfohols auf die Nach:
tommenſchaft.
Der Alkoholismus und die Arbeiterfrage.
5. Sonnabend, 9. April.
Wirkung des Allohols auf die Nach—
lommenſchaft.
5— 6:
1O—LI:
11—1]2:
gegen ben Alkoholismus.
Dr med, Trüper, Jena,
Schule und hausliche Erziehung im Kampf
gegen den Alloholismus.
5— 6:
Schule und hansliche Erziehung im Kampf |
439
Teifnehmerfarten à 6 WM. durch bie Geſchäfts—
ftelle fiir Wohlfahrtsbeſtrebungen in Charlottenburg,
Krummeftrafe 89. Su eingelnen Vortragen Karten
40,50 M. Wir weijen auf dic Kurſe noc einmal
naddriidlich bin; es find die berufenjten Kräfte fiir
die cingelnen Bortrage berangesogen worden, jo dah
dieſe Kurſe eine auf feftefter wiffenfdaftlicher
Grundlage rubende Cinfiibrung in die Frage des
Wtoholismus geben.
Berein fiir ,,voriibergehende Hilfe im Haushalt“.
(Berlin.)
Welder Haushalt ift wobl nicht ſchon in die
Lage verſetzt worden, bet Erfranfung der Hausfrau,
der Rinder oder des Perfonals, beim Wochenbett
uſw. gang, plötzlich cine Aushilfe in Anfpruch
nehmen zu müſſen, die vorübergehend die Lücke
auszufüllen imſtande fein ſoll, die durch ſolche Vor—
tommniſſe entſtanden. Zu dieſem Zweck bat ſich
der Verein fiir „Vorübergehende Hilfe im Gaus:
halt” fonftituiert, ber, alS Zweigverein ded. Haus:
beamtinnen: und Sauspflegevereins, feit nun bald
einem Sabre auf feine vielbegebrte und ſegensreiche
Tätigkeit zurückblickt.
Er hat ſich die Aufgabe geſtellt, geeignete, nur
gut empfohlene, ehrbare, zuverläſſige und erfahrene
Frauen nachzuweiſen, welche die ihnen anvertraute
Arbeit tage:, wochen⸗ und monateweiſe übernehmen.
Dieſelben refrutieren ſich aus den einfachen und
aus den befferen Kreiſen und find je nach dem ge:
willt, mit oder obne Hilfe von Dienftperjonal ein:
autreten. Die Vermittelung von Dienſtmädchen und
Reinemachefrauen iibernimmt der Verein nicht, um
cinmal die vielen Gefindevermittelungsbilreaus, in
denen dieſe geniigend Auskunft erhalten, nicht nod
u vermehren, gum andern, um nicht aus dem
abmen der bumanen Beftrebungen herauszutreten.
Es werden nun ſowohl Uuftraggeber wie Stellen:
fudende, letztere find gu Zeiten, um die vielen
Nachfragen gu decken, febr ftarf begebrt, erfucht, ſich
ſchriftlich, mündlich oder telepbonifd) an unfere
drei Sprechftellen gu wenden, bei denen Aufträge
und Muefiinfte ſchnellſtens erledigt werden.
1 Bei Frl. A. Mery NW. 23, Siegmunds-
bof 17, Gartenbaus part., Dienstag und Freitag
pon 2—3 Uhr. 2. Bei Frl. KR. Schwerin W 30,
Lutberftr. 30 J, Montag und DonnerStag von
4—5 Ubr. 3. Bei Frl. Marg. Miller SW 47,
@rofbeerenftr. 28a Wmt Via 10997, Mittwoch
und Gonnabend 10'/,—12 Ubr.
Der Frauen-Rettungsverein
(Berlin, Gr. Hamburgerſtr. 10°11) erläßt einen
Aufruf sur Griindung eines Aſyls fiir Gefallene,
in dem Madden in jedem Augenblid, bei Tag
und Racht, unentgeltlich Aufnahme und Shug
finden. An dieſes Aſyl foll fic ein Arbeitsfaal
anſchließen, in welchem dicjenigen Madden, die
forperlich, beziehungsweiſe moralifd zu ſchwach
ſind, um in einer Fabrik uſw. tätig zu ſein, ſich
unter Aufſicht einer Dame zu beſchäftigen haben.
Der Arbeitslohn ſoll den Mädchen unverkürzt zu—
fließen, damit die Arbeitsluſt durch den Verdienſt
geweckt und gefördert wird. Zugleich ſollen fie ſich
vorerſt wieder an leichte Arbeit und an den Ver—
lehr mit geſitteten Menſchen gewöhnen.
440
Insbeſondere aber betrachtet eS ber Frauen:
Rettungdverein als eine feiner wichtigſten Buf:
gaben, fich in Berlin um das weitere Fortfommen
der Madden au bemilben, die nad Qabr und Tag
aus den Befferungsanitalten entlaffen, aufs neue
den Berfilbrungen der Grofftadt ausgefegt find.
Der Verein wendet fic) mit einem warmen
Appell an alle Frauen und Manner, die imftande
find, das Unternehmen ju unterftiigen. Wir geben
dbiefen Appell mit bejonderer Freude weiter. Wird
aud ſolche Rettungsarbeit unter ben Taufenden,
die unſeren twirtidaftliden Berbaltniffen und
ſozialſittlichen Zuſtanden gum Opfer fallen, immer
nur einzelne erreichen — auch fiir diefe einzelnen
follte fcine Miihe gu groß erfebeinen, und je weiter
das Arbeitsfeld, um fo wertvoller ift jede neue
Kraft, die eingeſetzt wird, — Dads Komitee des
Vereins befteht aus folgenden Damen: Pringeffin
Elifabeth Radbgiwill, (Kurfiirftendamm 242),
@rafin Talleprand-Perigord, Frau Wanda
von Lukowitz, Freiin Elfp von Wangen:
beim, Freifrau F. von Redlig-Leipe, Fraulein
Regina Kilz, Frau Dr A. Dosquet.
Spenden und Jahresbeiträge nimmt entgegen:
Die Deutſche Bank und deren Depofitenfafjen in
Berlin unter der Moreffe: „Für den Frauen:
Rettungsverein”, ferner: Herr Bankier Bernhard
Kilz, Berlin, Wilhelmftr. 43, 1.
Der Frankfurter Franenbildungsvercin
bielt am 24. Februar feine 27. Generalverfamm:
lung ab. Dem Bericht, der dieſes Jahr nicht im
Druck erſcheint, entnebmen wir Nachſtehendes. Der
Verein zählte im Jahr 1903: 686 Mitglieder. Auch
im abgelaufenen Jahr bat der Verein eine erſprieß—
fiche Tätigkeit entfaltet. Cine betradtlide Anzahl
Schitlerinnen bat in demjelben die erboffte Wud:
bildung erlangt. Die jungen Madchen verwerten
das CErlernte teils in beruflicher Arbeit, teils gum
Nutzen der cignen Familie.
Die Gewwerbe:, Handels- und Fortbildungsſchule
war von 403 Sehiilerinnen befucht, welche 1010
Kurſe belegten. Nambafte Preisermäßigung wurde
4 Schülerinnen gu teil. Soweit zu unſerer Kenntnis
gelangt iſt, fanden 118 Schülerinnen Anſtellung
oder ſelbſtandige Beſchäftigung. Zwolf beſtanden
die Prüfung für Handarbeitslehrerinnen an höheren
Schulen.
Im Monat Oftober ließen wir auf Wunſch der
ſtädtiſchen Bebdrden die HandelSturfe eingeben, da
die Stadt felbft cine Handelslehranſtalt aud) fiir
Madchen, mit eins und zweijährigem Kurſus im
Yaufe des Sabres eroffnet hatte. Cin Teil der
bisher bet uns angeftellten Yebrfrafte wurde, fo:
weit diefe es wünſchten, an der neu cingerichteten
Schule beſchäftigt. Die Sabl der Penfiondrinnen
betrug 7. Die jungen Mädchen bejuchten die
Sur Frauenbewegung.
Sdulvorftehberin Fraulein Agnes Perbhi
unterftellt.
Die Kochſchule war von 87 Schülerinnen be:
fucht. Außerdem wurde im Sommer cin Einmach
turjus abgebalten. Qn der Speifeanftalt fir Damen
find 15129 Portionen Effen verabreicht worden,
wabrend nod durch bie Borftandsmitglicder feinere
Speifen Abnabme fanden.
Der Kurſus fiir Hausarbeit wurde hauptſächlich
ot Rindergirtnerinnen und von Penſionärinnen
beſucht.
Den Bügelkurſus beſuchten 23 Schülerinnen
mit gutem Erfolg. Im Herbſt und Fruhjahr fanden
je ein Servierkurſus ſtatt. Am Schluß desſelben
veranſtaltete der Vorſtand das eine Mal ein Abend⸗
eſſen, das andere Mal einen Thee, um ſich von den
Erfolgen des Unterrichts perſönlich gu überzeugen.
Für beides wurden ſelbſtverſtändlich die Speiſen in
der Kochſchule zubereitet.
Den Kindergarten I beſuchten 65, den Kinder—
garten I] 40 Kinder. Im Seminar fiir Rinder-
gärtnerinnen und Rinbderpflegerinnen waren 32
Schiilerinnen, von denen Oftern 10, im Herbft 7
ihre Priifung beftanden und ſämtlich teil in Fa—
milien, teils an Kindergärten Stellung fanden.
Auf unfer Gefuch erbielten wir fiir bad Seminar
die ftaatliche Konzeſſion.
Im Frühjahr fand, wie alljabrlich, cine qut bes
ſuchte Wusftellung von Sehiilerinnenarbeiten ftatt.
Die ausſcheidenden Vorftandsmitglieder wurden
— foweit fie cine Wiederwahl annahmen — wieder
erwählt. Neu treten hingu Frau O. &. GR. Simon
und Fraulein Marie Hartmann.
Kaſſeler Fröbellurſe.
Bur Förderung der Fröbelſchen Pädagogil in
Kindergarten und Schule richtet das Naffeler
Frobeljeminar vom 19, Juli bis 2. Muguft fir
Kindergdrtnerinnen, Lehrer und Lebrerinnen cinen
Fortbiloungsturfus in Theorie und Prarié der
Fröbelſchen Pädagogik ein.
Um möglichſt vielen Damen und Herren die
Teilnahme an dem Kurſus zu ermöglichen, ſollen
die Koſten für Wohnung, volle Beköſtigung und
fiir Vorleſungen mit praltiſchen Übungen, ing
geſamt nur 60 Mark betragen.
Um bet dieſem Ferienklurſus auch Erholung zu
bieten, werden Ausflüge in die herrliche Umgegend
Kaſſels, Führung in Muſeen und Gallerien ſich
der Arbeit anſchließen.
Programme ſind zu beziehen und Anmeldungen
find ju richten an Fraulein Hanna Mecke, Leiterin
des Kindergärtnerinnen Sentinaré, oder Rektor
— Hend, Leiter der Volksſchule Rothenditmold Kajiel.
Näheres durch das RKuratorium des Evangelifdren
| Frobeljeminars Raffel.
Sule ein Sabr und nahmen faft an allen Stunden |
teil. Sie find der forafamen Leitung unferer
ES wird zur Fortſetzung ded Kaſſeler Frobel:
turjus die Teilnabme an einem „Ferienkurſus in
Sena” (4.—19, Wuguft) empfoblen.
„Peter Camengzind’ von Hermann Hefie.
Berlin. S. Fifer Verlag. Als wenn die Pra:
raphacliten in der Yiteratur das Wort ergriffen,
fo mutet die Gefcichte des Peter Camenzind an.
ber der Wirrnis und Zerfaſerung, der qualenden
Bewußtheit des ſeeliſchen Lebens der Moderne ſteigt
dad grofe, unendlidd cinfade Evangelium der Liebe
auf mit feiner unerſchütterten, ticfgriindigen Wabr:
beit. Die Kindesbotſchaft des heiligen Frang von
Aſſiſi von der Liebe, die Kreatur und Menſchen als
Briider und Schweftern umfangt, ift dem Helden
Leititern auf dent Wege, ben er, der Sohn der
Verge, durch die moderne Welt wandert. Die Be:
beutung und das Wefen von Pflangen und Tieren,
von Winten, Regen und Meerjarben, bejonderds
aber von den Wolfen — den ewigen Geichniffen
aller Menſchenſehnſucht, alles Wanderns, alled
Suchens und Heimbegehrens — wird ihm twunder:
voll lebendig. Der heilige Franz und die ftumme,
felige Gebefreudigttit der Natur, ber er auf cin:
famen Wegen immer tiefer ins Herz ſchaut, zeigt
ibm den Weg auch su den Menfehen, die ihm bis
daber nur Objefte Hibler kritiſcher Beobachtung und
biffiger Ironie gewejen find. Und ſchließlich kehrt
er zur Heimat zurück; er endet ſeinen Weg durch
die Welt auferlich, wie cr ibn begonnen, als einer
pon den Dorfleuten in Nimifon, in dem verfallenden
{lcinen Häuslein ber Camenjinde am See. Und
jeiner Secle bat der Flug durch alle Fernen, die
Menſchengeiſt durchmeſſen fann, auc nicht mebr
geben fonnen, als er nun befitt: aber feine Wander:
ſchaft bat feine Secle ibrer wahren Schätze gewif
gemacht. Sie war nidt verloren.
Ich wüßte faum ein Buch der modernen Literatur,
das fo wie Peter Camenjind voll Poefie ftedte, fo
wundervolle Bilder und eine ſolche Stimmungs:
fraft der Sprache hatte, das cinen jo vollfommency
Cinklang von innerer und duferer Form erreidte
und cine folche Meiſterſchaft, die angeſchlagene
Melodie in all ibren Harmonien ju entfalten und
rein und jart austinen ju laffen.
Kunſt“.
Albert Langen. München 1904. Die Verfaſſerin,
die ſchon in „Daatjes Hochzeit“ und den drama—
tiſchen Scenen „Frauen unter ſich“ ein ſtarkes
Beobachtungstalent und große plaſtiſche Kraft ge—
zeigt hat, beſchreitet mit ihrem Roman ein anderes
Stoffgebiet, als das, auf dem ſie begonnen. An
Gorki'ſche und Hauptmann'ſche Motive erinnerten
manche Scenen aus „Frauen unter ſich“ und
„Daatjes Hochzeit“. Ihr Noman aber umfaßt
ſeeliſche Probleme und Kämpfe moderner, diſſeren
Roman von Auguſte Hauſchner.“
zierter Menſchen. Er projiziert den Kampf wm die
neue impreffioniftifde Kunft auf einen Menſchen,
der alS ber Triiger dieſes Kampfes erfeheint. Jn
ibm ijt zugleich dad Schidjal ibrer Helbin be—
ſchloſſen. Es ift cin Weibesſchickſal: die Kraft ju
ſchaffen ift bei ihr nichts fiir fic) Vorhandenes,
feine urjpriingliche Kraft; fie ift geweckt durch das
Erlebnis der Liebe und an die Trunfenbeit der
Leidenfdaft gebunden. Er, der Künſtler, hebt ſich
unverlest aus ber Wonne, die fie thm fiir kurze
Reit nur zu geben vermodite. Die Liebe hat feiner
Runft nits nehmen finnen. „Ihr aber hatte fie
das Ich getrunken. Sie fab zwar und verftand.
Luft und Ton. Das Spiel des Lichtes auf den
Formen, den Reig der Farben und den Schwung
der Linien. Doch wie fie ſchaffen wollte, war nur
erin ihr, — — Richt ibres Könnens, ibrer Sebn:
fudt Seugnis waren dieſe Blitter. Kein Kunſt-
werf, cin Befenntnis.” Was die Heldin von Wnna
Haufdner individuell erlebt, verdichtet fie gu einer
Lebenslehre: ,, Die Sklaventetten des Geſchlechts
muß das Weib zerbrechen, das ſchaffen und er:
reichen twill, dem Manne gleich. Sie war zu weid
und zu empfindfam. Zu fewer belaftet von dem
Erbe taufendjabriger Knechtſchaft. Nicht Künſtlerin,
nur eine licbeSftarfe Magd — — — Und fo be-
grub fie Kunſt und Liebe in derfelben Stunde.“
Anna Hauſchner verrat in ihrem Roman cin
Können, das fie cinmal gu den beften unferer
Schriftſtellerinnen ftellen wird. Es find Stiide
darin, die in ibrer Kraft und Feinbheit auf die
reichſten Entwicklungsmöglichkeiten deuten. Cine
nod) etwas ftraffere und gedrangtere Rompofition
und cine nod etwas mehr durchgearbeitete Cha:
rafteriftif, die vor allem auch Reberfiguren aus
dem farblos Typiſchen, dad ihnen zuweilen anbaftet,
berausarbeitete, wiirden ihr nithen,
„Von Sonnen und Sonnenſtänbchen“. Kos:
mife Wandcrungen von Wilhelm Bölſche.
Berlin. Georg Bondi. (Preis 6 M. broſch. 7,50 M.
geb.) Die Sammlung popularer naturtwiffenfdaft-
licher Muffate läßt fie) faum beffer charafterifieren
als mit dem Bilbe des Borivorts: durch den uner—
meßlichen Staub, den die Naturforfebung unferer
Tage aufgewühlt hat, kleine Lichtfegel hindurchzu
werfen, damit dicfer graue Natur⸗Staub ſich au
,Sonnenftaub” vergolde. Und es iſt nicht nur
dic Weltanjdauung des Naturforſchers, die diese
goldene Einheit in all den fleinen Einzelcharalteriſtilen
deS Buches giebt, fondern aud das Empfinden des
Didhters. Cin Didter macht uns den feierlichen
Zauber fühlbar, der den Seugen vergangener Ur:
442 Biicheridau.
ſchöpfungsãonen in unferer Alltagswelt innewobnt,
cin Dichter Vbilofoph vertieft fic in die rätſelhafte
Schönheit der Radiolaren, cin Dichter deutet uns
den fdftlicden Humor des Schnabeltiers oder des
Nilpferdes, und die liebenswürdige Gafienbuben:
frechbeit des Grofitadtipagen. Für ben, der nur
wie in cinem Guckaſten allerlet Kurioſitäten der
weiten bunten Welt feben will, fiir den, der dem
neuen Wiffen unferer Beit um diefe Dinge nad:
gebt, und ſchließlich fiir den, der in all dieſem Ber:
ganglicen nur cin Gleichnis geiftiger Welten ſucht,
fiir alle iff das Buch cin fonniges Buch.
„Friedliche Eroberuugen“. Cittenroman aus
dem modernen Aghpten von Gräfin Urkull.
Fontane & Co., Berlin 1903. Im Mittelpuntt
des Homans ſieht der deutſche Qnduftrielle, der das
Yand der Poramiden durch die Macht des Geldes
unterjodmt. Er wird in zwei Bertretern gezeichnet,
der eine, der nichts ift als Eroberer, der ſtrupellos
das Recht des Starferen anwendet, wo ed fein |
Vorteil erheiſcht, und den der brennende Kon: |
furrengfampf der auf diejem Fled Erde gufammen: |
ftofenden Nationen gelebrt bat, feinen Wea iiber
Menſchenleben und Menſchenglück hinweg yu babnen,
alles in allem aber eine grofe Natur, der bei allen
Herfcberinitinften aud die Grofmut des Mächtigen
nicbt feblt. Die Rontraftfigur ift cin Deutſcher,
der ſich die Herrenmoral, die auf dieſem unblutigen
Schlachtfeld der Volfer herrſcht, nicht anecignen mag
und fann, in dem ein Stück deuticher Weichheit dieſem
harten, rückſichtsloſen Ausbeuten der ſchwächeren
Gegner widerjtrebt. UÜbrigens ift ber Noman an
ſich nicht die Hauptiace ded Buches, fondern die
Schilderungen des Zuſtändlichen, des Milieus, die,
wenn aud die Farben von künſtleriſchem Stand—
punt aus guiveilen etwas grell aufgetragen find,
dod des Intereſſanten genug bietet.
„Die Sehnſüchtigen“. Noman von Gertrud
Frande-Sdievelbein, Egon Fleiſchel & Co.
Berlag. Berlin 1903. Der Roman fest ſich ein
grofes Problem. Cr ift das philoſophiſche Be:
tenntnis der Berfafferin. Cine Frau ijt die Heldin
eines Weltanſchauungskampfes.
und Fille trifft fle Der Blick cines Wanderers, der
andere Wege gebt, cines ftrengen und cinfamen
Usteten, der in fanatifcer Aufopferung ſeines
Selbjt an die Menſchheit Frieden vor dem Ragen
einer alten Schuld ſucht. Sie folat ibm als Er:
zieherin feines Sohnes und feine Gehilfin in feinem
ärztlichen Wirlen unter einem ftumpfen und roben
Yandvolf. Und wabrend fie unter dem Bann
feiner mächtigen Perfonlichteit bet aller Hingabe
doc innerlich ſehnſüchtig und friedles bleibt und
nad anderen Yofungen der Lebensratiel verlanat,
tritt iby der junge Pfarrer des Ortes entaegen in
der fonnigen Friſche eines Menſchen, deſſen Religion |
die Viebe iff. Was er fie lebrt, wird ihr yum
eigenen inneren Erlebnis, als fie Das Rind, das
ihr ans Herz gewachſen ift, wie ein eigenes, dem
Tode abrinat, Dem cS der düſtere Peffimismus des
Vaters ſchon preigacacben hatte. — Es ift etwas
Großzugiges in der Konzeption dieſes Nomans, das
aud da feſſelt und mit ticfer Befriedigung erfüllt,
wo dic finftlerifde Kraft nict gang yureicht, um
alles Gewollte und innerlich Geſchaute gang Fleiſch
und Blut werden ju laſſen. Und wenn Gertrud
—
Mitten anf dem |
Weae zu cinem Leben voll finnlicber Schönheit
Frande in bem Roman nicht gany ans Ziel fommmt,
wenn das Programmatifde des Entwurfes von
dem inbdividuellen Leben ibrer Geftalten niet ganz
aufgefogen ift, fo verfiigt fie doc auch als Runitlerin
iiber jo reiche Mittel, daß man fich ibrer Leiſtung
aud im rein ajthetifcben Sinn freut.
„Aus der indifdjen Kulturwelt“. Geſammelte
Aufſätze von Dr Arthur Pfungſt. Stuttgart.
Fr. Frommanns Verlag. (E. Hauff), 1904. Tre
Aufſatze, die Arthur Pfungſt unter dieſem Geſamt
titel herausgibt, find einzeln in der Franffurter
Zeitſchrift „Das freie Wort’ und in der ,, Frank
furter Zeitung“ erſchienen. Ter Verfaffer beſttzt
den Schliiffel gu den Schätzen indiſchen Geifres-
lebens nicht nur in bem dGuferen Sinn eines gründ
lichen und reichen Wiffens, er bat fic) Darin tm
ticferem Sinn heimiſch gemadt und zeigt, welche
Weltanfdauungswerte gerade fiir uns modernen
Abendlander aus der langen Reibe der indiiden
Dichterphilofophen zu gewinnen ſind. Tie
Geſpräche des Sutta Nipata, die tieffinniaen
Dijputationen jwijden Konig Milinda und dem
Rircendlteften Nigaſena, dte bunte Welt der
Jaͤtalas, des alteiten Fabel- und Mardenbuchs der
Menſchheit, in der wir cine Fille ven Marden-,
Fabel: und Novellenjtoffen unjerer abendlandijd@en
| Miteratur twiebderfinden, und nod jo manches andere
wird in der (ebendigen Weife beſprochen, die mur
aus dem tiefen inneren und gang peridnitden An
teil an diefer Gedanfemwelt flichen Cann. Jeder,
der fic in die Sammlung verticit, wird daraus
mande Frucht unmittelbar gewinnen und nod
mebr Wnregung gu weiteren Studien erhalten.
„Beichte cines Kindes feiuer eit’ vor
Wlfred de Muffet. Deutſche Ubertragung von
Heinrich Conrad. Anfel Verlag. Leipzig 1905.
(Vreis 5 Mark in Leder geb. 7 Mart.) Das auto:
bivgrapbhifibe Dofument, dem Muſſet's Verhältnis
qu George Sand zu Grunde liegt, ift eines der
eriten, dDaS ben Stempel moderner feelticher Ana:
lyſe tragt. Es ift cin ſcharfer Strich, der dies
Tofument 4. B. vom Werther trennt, unb er be
zeichnet nicht mur den Unterſchied franzöſiſcher und
deuticher Art. Bielmebr beginnt bei Muſſet die
Heflerion tiber die finnliden Seiten des erotiſchen
Erlebniſſes, die das fiinftlerifehe document humain
der Tefadeny kennzeichnet. Cin wildes, baltlofes
und zerfetztes Leben, dad allein im erotiſchen Rauſch
all feine Wonnen und Steigerungen bat und von
ber Ernüchterung zerſtört wird: fo (cat der ſchwache,
| aber geniale Jungling fein Leben vor uns bin.
Fait wird man es mide, dem giellojen Auf und
Ab feines Begebhrens und Genießens zu folgen,
und doch feſſelt die Feinheit der Selbſtbeobachtung
und der Reiz der künſtleriſchen Darſtellung immer
wieder von neuem. Die UÜberſetzung ijt fo, daß
dieſer Reiz voll zur Geltung kommt.
Hamburgiſche Gausbibliothef. Die von der
Gefellichaft Hamburgiſcher Kunftfreunde, der patrio
tiſchen Geſellſchaft und der Lebrervereiniqung fiir
die Pflege der künſtleriſchen Bildung berausgegebene
Bibliothet billiger Bücher ift wieder um 2 Banre
vermebrt worden. Sn einem fleinen, in bellblaues
Yeinen hübſch und folide qebundenen Banddben wird
cine femme Muswabl von Hebbels Lyrit, das Stud
Bücherſchau.
Selbſtbiographie „Meine KRindheit“ und eine Aus—
wahl Gedichte von Guſtav Falke geboten. Der
Preis des ca. 90 Seiten umfaſſenden Bändchens
beträgt nur 0,50 Mark. Ein anderer Band ent:
balt UG, der Knecht“ von Jeremias Gottbhelf.
Much bier ift Musftattung und Drud mufteratltig,
und der Brets ven 1,30 Marl wird die Maffen-
verbreitung dieſes echten Vollsbuchs ficer leicht
machen.
„Narren“, Roman von Marie zur Megede.
„Sport“, Novelle von Marie zur Megede.
Verlag von F. Fontane & Co., Berlin. Beide
geben Bilder aus der Geſellſchaft, aus oſtpreußiſchen
Offizierkreiſen.
in ihren Verwicklungen geſchickt gelnüpft und gelöſt,
in der Charakteriſtik anſchaulich und ausdrucksvoll
genug, um zu ſpannen und zu ſeſſeln, gehören die
beiden Bücher entſchieden yur guten Hälfte unferer
Romanliteratur, wenn fie auch nicht gerade ein ſehr
tiefed pſychologiſches Intereſſe haben.
Aarda.“
Roman aus dem alten Agypten
von Georg Ebers. Mit Bildern von Richard
Mahn. (2 Bande geb. 12 Mark.) Stuttgart,
Deutſche Verlags Anſtalt.
von der modernen Kunſtrichtung überwunden, ſich
doch immer noch einer gewiſſen Popularität er—
freuen, zeigt das Erſcheinen dieſer neuen illuſtrierten
Ausgabe.
bak aus dem höchſten Enthuſiasmus und ber (eiden:
ſchaftlichſten Ablehnung immer ſchließlich cine bes
fonnene Würdigung hervorgebt, auch fiir die Uarda
wieder Stimmung yu machen.
„Friedrich Spiclhagen, Romane“ — Neue
Folge. — Wohlfeile Lieferungsausgabe in 50 Heften
A 35 Pfg. Alle vierzehn Tage cine Lieferung.
(Verlag von L. Staadmann in Leipzig. Die Liefe:
rungen 31 bis 37 entbalten den Schluß der Nos
pelle Herrin”, und den Roman „Stumme deh
Himmels“.
MA. Müllers Allgemeines Wörterbuch der
Ausſprache ausländiſcher Eigennamen. Cin Hand:
buch für Gebilbete aller Stände und cine not:
wendige Ergänzung aller Fremdwörterbücher.
7. Auflage. Ergaͤnzt und bis zur Gegenwart fort:
geführt pon 5. Midaclis. Preis broſchiert
4,50 Mart, qebunden 6,50 Mart.
Die Ausſprache frembdlandifcber
bilbet cine große Schwierigleit fiir jeden, felbjt den
Gebildetiten, Es ift deshalb wertvoll, daß gu dem
Hefannten, bereits in 7. Muflage vorliegenden
Wörterbuch von A. Müller jetzt cin 4'/, Drucbogen
ſtarles Ergänzungsheft von Rektor H. Micbaclis
erſchienen tft. Die Auswahl der Worter iſt ſehr
geſchickt getroffen und bringt in erſchöpfender Weiſe
alle Namen, die der Gebildete nur irgend in die
Verlegenheit kommen könnte ausſprechen gu müſſen.
Die Ausſprachebezeichnung wurde nach dem Syſtem
ber Association phonétique internationale por:
genommen, welde jebt wobl unbeftritten als befte
angefeben werden fann,
re
Distret und boc lebendig erzählt,
Bielleicht hilft jie dau, nad) dem Geſetz,
443
Im Verlag von E. Wunberlich im Leipzig
erſchienen nachfolgende Bilder, deren Prüfung und
Verwendung wir namentlich den Lebrerinnen aus
unferem Leſerkreiſe warm empfeblen:
Unterfudungen fiber die Rindheit von Dr
Sames Sully, iiberfest von Dr J. Stimpfl.
Zweite vermehrte Auflage. Breis broſchiert 4 Mark,
fein gebunden 4 Marf 80 Pf.
Die allgemeine obligatorijdje Mädchen—
Fortbildungsſchule. Bortrag von Job. Sofmann.
Preis 50 Pi.
Die Beziehungen zwiſchen Rants Ethik und
jeiner Pädagogik von Dr phil. Otto Brauer.
Preis HO Pf.
Die Unterridtsleftion als didaktiſche Kunſt—
form von Dr Ricard Seyfert. Preis 2 Mark
40 Bf, gebunden 8 Warf.
Diftatftoffe, suc Ciniibung und Befeftiqung der
neuen deutſchen Rechtſchreibung, bearbeitet von
| Paul Th. Germann L. 89. vermebrte und ver
Daf Cherd Romane, |
befferte Auflage. Preis 2 Mark, fein gebunden
2 Marl 40 PF. IL 4. vermebrte und verbefferte
Muflage. Preis 1 Marl 60 Pf. fein qebunden 2 Mark.
Der ſtiliſtiſche Auſchauungs-Unterricht von
Ernſt Lüttge. J. Teil. Anleitung zu einer plan:
maßigen Geſtaltung ber erſten Stilübungen auf an:
ſchaulicher Grundlage. 3. durchgeſehene Auflage.
Preis | Mark 60 Pf., gebunden 2 Mark I. Teil.
» Der Auffagunterricht der Oberftufe als planmiifige
Gigennamen |
Anleitung gum freien Aufſatze. 2. Auflage. Preis
2 Marl 40 Pf. gut aebunden 3 Mart.
¥riparationen fiir den geographifden Unter:
richt an Bolfsjdulen von Julius Tifdendorf.
I, Teil. Das Königreich Sachfen. 5. umgearbeitete
Auflage. Preis brofebiert 1 Mark’ 60 Pf., fein
gebunden 2 Mart.
Menfdenfunde und Gefundheitslehre von
Dr Richard Sepfert. 38. Auflage. Preis
2 Mart, gebunden 2 Mark 50 PF.
Die Bedeutung der Kunſt fiir die Erziehung.
Bortrag von Heinrid Wolgaft. Hamburg.
Rur Yugendidriftenfrage. Cine Sammlung
von Aufſähen und Kritifen. Herausgegeben von
ben Rercinigten deutſchen Prüfungsausſchüſſen fir
Jugendſchriften. Preis 1 Mark 60 Pf. gebunden
2 Mart.
Dic Landfdaftsfmhilderung von Dr Ricard
Sevfert. Preis 1 Marf 6O Py, gebunden 2 Mark.
Empfehlenswerte Qugendfdriften, Gerausd-
gegeben von ben vereinigten deutſchen Priifungs-
ausſchüſſen fir Jugendſchriften. Preis 60 Pi.
Pie pidagogijde Yoee in ihrer allgemeinen
Bedeutung. Cin erweiterter Vortrag von Dr
Richard Seyfert. Preis 60 PF.
Für Hers und Gemiit der Kleinen. Sechs—
undfünfzig bibliſche Geſchichten für die erften vier
Schuljahre in erzählend darſtellender Form auf
Grund Wundtſcher Pſychologie von Max Paul.
Preis broſchiert 2 Mark 40 Pf., gebunden 3 Mark.
Das Leben der Pflanzen, [1]. Band. Das
Weld. Bilder aus der Pflanzenwelt von Baul
Saäurich. Heft 1. Preis 1 Markl 6O PF, ge:
bunden 2 Mart.
Liste neu erschienener Biicher.
(Befpredung nad Raum und Gelegenheit vorbehalten; cine Hildfendung nist befprodener Bader tft nidt miqlid.
Biedenfapp, Der Georg, Was erzähle
id) meinem Sedsjibrigen? Aus Urzeit
und Gegenwart. Hermann Coftenoble.
Merlin.
Bif, Baul. BWeltfinder. Gedidte.
Preis 2 Mark. L Wilhelm Siedenburg.
Herlin 1908.
Braintigam, Ludwig. Überſicht Uber
bic neuere deutſche Literatur 1880—100%,
Sweite Muflage. Preis gebeftet 1 Mart,
einfach gebunden 1,30 Mart, Georg Weiß.
Caffel.
Breſch, Nidjard. Theoſophiſche Grund:
beqriffe in bret Bortragen.
Grobdded, Georg von. Gin Frauen⸗
problem. ©. G. Naumann. Leipsig.
Huber, Albert. Stadtrat Qobaun
Kaspar Groh 18f1—1901. Gine
biographiſche Stijze. Separatabdruck
aus dem Jabrbuch des Unterrichts weſens
in ber Schweiz ſfür bad Jahr 1900.
Buchdruderei ved Schweiger Griltli«
vereing, Silrid) 1902.
Karſten, Paula, Wer ift mein Nichfter?
RMegertopen aus Deutidd>Weftatrita,
brojdiert 2,50 Marl, gebunden $ Mart.
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Krebs, Julius Dr med. Frauenarst
in Breslau. Wie follen fid unfere
en Madden leider? Allgemein
verſtandliche hogie niſche Abbandlung.
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Bred.
Verlag von Heinrid Handel.
lau 1903.
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Novelletten. Deſterreichtſche Werlagss
anftalt. Linz⸗Wien⸗Leivpzig.
Lift, Guido. Das Goldftiid. Cin Liebes⸗
drama in finf Aufzügen. Preié 2 Mark.
YiteratursUnftalt Auftria Bien unb
Leipzig 1903,
|
Litt, Frau Bla von der. Die gefellige |
Haustrau. Plaudercien ber Geſellig⸗
feit, Ratſchläge file Geſellſchaften, Fefte,
Vazare, Heft{piele, Aufführungen, Unter⸗
haltungen ufiv. Theaterverlag Eduard
Bod, Berlin C. 2, Brdderftrape Me. 2,
Magen, R., Dr med. Dic Berufs-
frantheiten der Lebrer nod Urſachen,
Berbiitung und Behandlung. 1. Auflage.
Lumenverlag, Wadebeul 1, Sa.
Maul, Anna (WM. Gerhardt). Tauges
nits. Carl Reißner. Dresden und
Leipzig 1902,
Mertle, Anna, Gedichte. Feſtgabe yur
1. Ausſtelung Pfärz. Frauenarbeit.
Rommijfionsverlag: Avton Ottos Sof⸗,
Buch⸗, KAunſt⸗ und Wufitalienbandlung,
Reuſtadt a bd. Haardt.
Michels, R., dottore in Istoria et
Economia Politice. Attorno ad
Una Questione Sociale in Germania.
FEstratts dalla Riforma Sociale.
Fase. 4, anno VIIL, volume XL. —
Seconda serte. Roux e Viarengo,
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Reugebauecr, Emil. Halte Haus. Buch:
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Rens, Soe v. Die Frau der Gegenwart
im Umgang und Verkehr, 3. bedeutend
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Willer, Berlin,
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irrungen, Sechſte burdigefebene Auflage
Wilhelm Miler, Berlin 8.
Schreiber, Der Rudolf. Grundehge der
Coemle mit bejonderer Hidfibt auf
Riche u. Haus file den Unterricht an
}
—8* Maodens und Haus baltungs⸗
chulen, forte gum Selbftunt ert icht.
Frieder, Scheel. Caffel 1900.
Schultze, Dr Ernft. Bie wir anjere
roficn Dichter ebren foliren. Gin
Bort uber Didhter-Dentmitler uns
anbderes. Werlag von &. Staadmann,
Leiprig 1902.
Sommer, Dr H., Privatdezent. Tie
Pringipien oer Sdughnasernadruna
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Pflanzen · und Inſektenkunde. Ervocitert
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Rinialiden Hofbuchdrucderet Tromigia
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Univerſit atsbuchhandlung. Heidelberg
1903,
Weidemann, Magnus. Reform ber
Arauentleipunga als fittlige Pfliche
Preis 1 Wart, Berlag ven Liphins
unb Zifcher, Niel und Lcipsig. 1903.
Wilm, Eliſe. FSpracveralene und
Sprachgeſchichte in Maodhenfdule und
Seminar. Cin Hilfobuch fite Lebrer
und Schiller, Gebaucr-Schrwerihle,
Druderet und Werlag m, b. H, 1903,
Halle a, S.
Reine Mitteilungen. — Angeigen. 445
Schering’s Pepsin:
veh Vorthrift vom GehsRath Profelor Dr. O. Lichreich, befeitigt binnen kurzer Zeit Verdauungs-
beſchwerden, Sodbremnen, Magenverſchleimung, de Forgen von Unmssigteis tm Spen
und Frinfen, und ij: gang belonders Feauen und Madchen su empfehlen, die wnfolge Bleichfucht, Hoyfierie und Abulicer
Suftanden cn nervéfer Magenſchwäche leiden. QDreid 4, Fil. 3 M., FIl. 1.50 M.
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Nicrerlagen in faft famtlichen Apotheken und Progenhanutinngen,.
Mon verlange ausdridlid BA Sdhering’s Pepiin-Ciien;. Wa
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Kleine Mitteilungen. Damen-Penfionat.
Jm Berliner Fröbel Verein. j Qnternetionales Heim, Berlin SW.,
Vorſ. Brof. D. Dr. Simmer) Der Vereinsbote, —— 7 I dicht F An halier
abnbof, bietet alteren u. jing. Damen
beginnen am 12. April TENE Kurſe. Organ bes Bereins Deut{ger fiir fiirgere umd lanere Seit cinen an:
Tas Kindergärtnerinnen— Lehrerinnenu. Erzieberinnen genehmen Aufenthalt in der Reims:
Seminar (Stadt. Schulhaus: ee erſcheint jahrlich —— ——— ————
—J— 4 J * * geteiltem Simmer monatl. bei
Wilms: Raat Barwaldjtr. - Ede, Bu bejieben burh dad Derein’s cigenem Summer v. 75 WE an, Paffanten
Yeiterin Frl. A. Pappenbeim) bureau §=16 Wyndham Place, v. 2,50 Dif, Lis 4,50 Me p. Taq Penfion.
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gegen Einjendung von 2,20 Part SW., Yortitr. 66 I und Herr Paror
Pless, SW., Tcltower Str. 21 IL
—— fr. Selma Spranger, Vorſteherin.
höherer Töchterſchulbildung die
zur Fröbelſchen Aleinkinder—
Pädagogit erforderlichen Kennt—
niſſe und erweckt durch praktiſche
Tatigleit in den Vereins Minder⸗
gärten Verſtändnis fiir das = =
Wefen und die Bebandlung des Lehrerinnen-Seminar
Kindes; auch zur Erlernung der 53
Siuglingspflege, ſowie zur Arbeit mit Ubungsschule
in cinem Kinderbort wird Gelegen:
beit geboten. Charlottenburg-Berlin W.
Fiir Madden mit Volksſchul⸗ Beginn des neuen Kursus April d. J.
bildung eignet fic) die Kinder: Wm 1. Ottober v. J. habe ich mit Genehmigung der
pflegerinnen⸗Schule (Stadt. Kgl. Regierung das bis dabin Klockowſche Seminar in Char:
Schulhaus: Stallſchreiberſtr. 54 lottenburg übernommen und nad der
Leiterin Frl. A. Sebrfeld) zur Niirnberger Strasse 9-10,
Borbercitung für Familien—
ſtellungen. Reben dem theoretiſchen
Unterricht werden dic Schülerinnen
gue praftifder Hilfeleiftung in
einem Rindergarten, fowie in
einem Haushalt, auc Bei der
3 Minuten vom Untergrundbabnhof Wittenbergplay, verlegt.
Ich leite meine Anftalt nad den Grundſätzen, die mir in
meiner elfjabrigen Tatigteit (1891—1902) als Ordinaria und
cigentliche Letterin des Crainechen Lebrerinnen:- Seminars
in Berlin mafgebend geweſen find.
Pflege jiingerer Kinder, angebalten. Elisabeth Willigmann, SeminarWorſteherin.
Projpette und Stellenvermitthing Sprechzelt: Viiglich 1—2, ausser Sonntags.
im Vereinébureau: SW. Johan— Uustunft erteilt giitigit Fraulein Helene Lange,
niterjtr. 1911. Berlin: Halenfee, Bornimerftr. 9.
Turnfurfe fiir Madden und
Frauen bat Frau Klara Hef- Hi e
ling im Anſchluß an die unter e | | al Frauentrost
ihrer Leitung ftebende höhere * ied
¢ ebend ber .R.P. 04 272.
Maddenichule (Berlin SW., ents
9 goldene und andere
Deffaucritr. 24) eingerichtet. Sie Medaillen, 2 Chrenpreiſe. Gedanken fir Minner
dienen zugleich der Vorbereitung Wejeitigt den ſtarken Madchen und Frauen
auf das Turnlebrerinnencramen Meib u. Süften u. gibt
und erfreuen fic) groper Bes | cine ftolje, elaftifdre 4. Abdruck. 7-9. Tausend
Haltung. Borzuglichſter
teiligung. Wir machen unfere | Sorietterjag f. jede Dame. — Mk. 1.80 —
Lefer mit bem Wunſch darauj
A Pa Map: Nr T unter der leicht gebunden
—— a das Salt Brujt, Il Hufte gemeſſen. in den Buchhandlungen
turnen fic n viel mebr als auch zur Apsicht,
<a ‘ae * fi |
bisher cinbiirgern midbte. OTe Gueee Ein feines und reines Buch,
DieR ſch j 4 das far die Befreiung des
D ca ea ag rg * Agn Fleischer- Weibes im Weibe eintritt.
amenheim nimmt, wre un . }
Verlag C. H. Beck,
mitgeteilt wird, nach der volligen ri J.
Reuordnung ihrer Verhältniſſe liriebel Miinchen.
unter der tatfraftigen neuen | BERLIN, Breitestr. 28a, II. l |
446
einen erfreulichen Auf—
ſchwung. Da die Einzahlung von
Kapital nicht mehr zur Be—
dingung gemacht wird, iſt der
Eintritt vielen Damen ſehr er—
leichtert. Die mit allen modernen
Bequemlichkeiten, wie Zentral—
heizung, Fahrſtühlen, Bädern,
Fernſprechern uſw. ausgeſtatteten
Häuſer des „Damenheim“
bieten zu angemeſſenen Preiſen
alleinſtehenden Damen freund⸗
liche Wohnungen bei unbedingter
Sicherheit in jeder Hinſicht. Die
lomfortablen Geſellſchaftsräume
geben den Mieterinnen Gelegen—
heit zu geſelligen Vereinigungen.
Die Direktion des „Damen—
beim befindet ſich jest Schöne—
berg, Hauptſtr. 204.
Originalrezept. Kohlrabi
mit Sahnenſauce. 6 Perjonen.
14, Stunden. 12—15 junge
geſchälte Kohlrabi werden in
Salzwaſſer weich gekocht, dann
abgetrocknet und in Scheiben ge—
ſchnitten. Unterdeſſen laäßt man
einen Loffel Mehl in 40 gr. Butter
qar werden, verkocht diefe Cin:
brenne mit '/, Liter dicker, faurer
Sabne zu einer. ebenen Sauce,
läßt die Roblrabifdeiben darin
orbdentlich aufivellen, ſchmeckt nach
Leitung
Salz ab und gibt 8 10 Tropfen |
Maggi's Würze an das Gemiife.
v. Bea.
Ausinug aue dem
Stellenverm Zmnpevegiter
deo Aligemeinen deutſchen
£ehrerinnenvereine,
Sentralleitung:
Berlin W. 57, Culmitrafe 5 pt.
1. Fiir cine Privatichule in dex Mhein⸗
proving wird jum 1, Mpril 1904 cine
wiſſenſchaftlich gepritfte Lehrerin geſucht.
Engliſch und Franzoeſiſch erforderlich;
wird in einzelnen Faͤchern durch andere
Lehrkrafte unterſtüurgt. Gehalt 1200 bis
1400 Warf und freie Station.
2. File eine bobere Privatſchule in
einer grojeren Stadt Witteloeutidlands
wird gum 1, April 1904 cine wiffene
ſchaftlich gepritite Lehrerin geſucht, die
Erfahrung im Unterrichten bat und Langere
Heit in Frankreich gewejen iſt. Gebalt
14—1800 Mart. Rach feſter Anſtellung
Einkauf in Penflonsta fhe,
2. Filer cine Privatſchule in Rage
Hamburgs wird zum 1, April 1904 cine
wiſſenſchaftlich geprufte Lebrerin geſucht.
Bedingung eine fremde Sprache tm Aus⸗
lande erlernt. 24 Stunden wocentlich.
Gehalt 1200 Wart, jteigt vorläufig bis
1500 Wart.
| Turnkurse,
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— für das Seminar,
Lehrerinnen-Seminar mit eigener Ubungschule,
Vorbereitung zur Erginzungspriifung.
auch zur Ausbliidung
von Turnlehrerinnen.
Frau Klara fessling
Vorsteherin.
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SW., Dessauerstrasse 24
{nahe dem Anhalter, Potsdamer
und Ringbahnhofe),
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(vormals im Comeniushause).
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der Frau Prof. Marchesi, Paris.
BERLIN W., Bilowstr. 88.
Angeigen.
447
in Schleſien fucht gum 1. April 1904 cine
wiſſenſchaftlich geprilfte Yebrerin yum
Unterricht filr 2 Maoden von 12 und
8 Jabren und cin fremdes Rind im gleiden |
Alter. Mufit er wünſcht. Gebalt 1000 We,
und freie Station.
6. Ene Familie im Auslande fucht
jumt 1. Mpril 1904 cine fatbolifebe wiſſen ⸗
ſchaftlich geprufte Lehrerin. Hu unterridten
find 3 Ainder von 11, 10 und 8 Jahren
in allen Fachern. Gutes Franzöſiſch Be⸗
dingung Diufit erwünſcht. Gehalt
1500 Mark und ſreie Station.
6. Gine adlige Familie in Heffene
Raffau fudt jum 1. April ised cine
wiffenidaftlics gepriifte Lebrerin yum
Unterridt fiir 3 Warden von 10, 8 und
7 Jahren in allen Fadhern. Franzöſiſch
und Diufil erforderlid. Gebalt 800 INE
FJ. A. E. Z. Reiſe vergiiter.
Yn einer hoͤheren Mädchenſchule in
der Rabe von Berlin foll cine Ober-
febrevin angeftelle werden. Anfangs-
gebalt 1500 Warf, dazu freie Station.
Das Gebalt -fteigt ven 3 yu 8 Jabren
um 200 Marl bis 2500 Wart. Unkünd⸗
bare Anſtellung. Penfionsberedtigung
nad den ſtaatlichen Beſtimmungen.
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Vervantwortliad fdr bie Redaktir Berlin, — Verlag: WB. Mocjer Budbanolung, Berlin S.— Druid: B. Moefer Buddruderesy te
LETT TENG)
factausgegeben é: Ge
Verlag:
pon W. Morler Sudhandiung.
Melene Lange. Berlin Ss.
May Wright Sewall.
Bon
Helene Tange.
Raddrud verboten.
n den Vereinigqten Staaten, dem klaſſiſchen Lande des indujtriellen Grofbetriebes,
angefichts wirtſchaftlicher Riefenorganifationen, in denen die ideale Einzel—
leijtung ein einziger höchſt routinierter Handgriff ijt, ift man auf das Schlagwort
von der Mechanijierung des Menſchen gefommen. Diefe mechanifierende Macht des
Grofbetriebes bleibt nicht auf ibrem eigenen Gebiet; fie beftimmt in großem Mage
auch die Betriebsform des öffentlichen Lebens. Auch hier beginnt man die Bewältigung
möglichſt großer Maſſen als das höchſte Problem zu betrachten; das Geheimnis des
Erfolges beſteht darin, Tauſende und Millionen zum geräuſchlos und elegant arbeitenden
Apparat irgend eines Zweckes zu machen; korporativer Zuſammenſchluß wird die
allgemeine Tendenz. Jede Idee, jede geiſtige oder ſoziale Bewegung drängt zur
Organiſation; ſoziale Organiſation wird mehr und mehr der Ausdruck aller geiſtigen
und ſozialen Macht überhaupt; der äußere Erfolg vor den Maſſen wird das Kriterium
der inneren Werbekraft von Programmen und Beſtrebungen.
So weckt das öffentliche Leben in Amerika Kräfte, denen vielleicht andere Zeiten,
denen vielleicht heute auch noch andere Kulturvölker die Möglichkeiten der Betätigung
verſagt hätten; die Kunſt der korporativen Organiſation aller möglichen Beſtrebungen,
die Kunſt, für Ideen und geiſtige Strömungen einen Mechanismus zu finden, der auf
die Wünſche und Bedürfniſſe der Maſſen eingeſtellt iſt und ſeinem geiſtigen Gehalt in
beſtmöglicher Form zur Geltung verhilft, dieſe Kunſt bietet auch ausgezeichneten
Intelligenzen cin reizwolles Aungsfeld.
29
450 Ray Wright Sewall.
Wir miiffen unſeren deutſchen WAnfchauungen das Charakterijtifdbe dieſer
amerikaniſchen Verhältniſſe gegenivirtig balten, um die Bedeutung der jesigen Bor:
fibenden des Frauenweltbundes richtig zu wilrdigen; denn Mrs. May Wright Sewall
ijt, wie ibve Freunde fagen, ,,pre-eminently an organiser“, nicht nur infofern, als
fie felbjt cine Reihe bedeutſamer Organifationen in ihrem Lande geſchaffen bat und
leitet, fondern aud) indem fie iiberall, wo fid) iby die Gelegenbeit bot, Anregungen
dazu, Jdeen und Wege der Verwirklichung gegeben bat.
Nicht als ob diefe ihre organijatorifche Arbeit, auf die ein hervorragendes
Talent und eine ftarke Vielfeitiqteit der Anterefjen fie binwies, obne die Grundlage
ciner foliden Gerufstatigfeit mare. May Wright Sewall ijt Graduierte der North:
Weftern-Univerfitat; fie bat die Bildung einer afademifechen Lebrerin. Bor ibrer Ver—
heiratung war fie Inſpektorin der dffentlicden Schulen in Plainwell, und fie war die
erfte Frau, die in diefer Stadt eine folche Stelle befleidete. Später ftand fie ciner
öffentlichen höheren Schule in Franklin vor, und nach ihrer Verbeiratung beqriindete
fie mit ihrem Gatten eine höhere Schule fiir Madden in Indianopolis, die fie von
1882 an bis heute geleitet bat. Cin Zug, durch den fich diefe Schule von Abntichen
ibrer Art ausjeichnete und nod heute auszeichnet, ijt die ftarfe Berückſichtigung der
firperlichen Erziehung durch energiſche Fiirforge fiir hygieniſche Kleidung und einen
ausgedebnten, nad orthopädiſchen Grundſätzen ſyſtematiſch erteiltem Turnunterridt.
Denn Mrs. Sewall bulbigt dem febr gefunden Grundjfag: deep thinking requires
deep breathing, und eine Abbildung der Fechtklaſſe ihrer Schule mit Rapieren
und Fechtfirben bietet cine febr frifde Illuſtration dices Sages. Auch die
Einführung des Haushaltungs- und Kochunterrichtes hat diefer körperlichen und
praktiſchen Ausbildung der Mädchen, die, wie bei uns in Deutſchland, in den höheren
Mädchenſchulen der Vereinigten Staaten auch noch ziemlich im Rückſtande war,
dienen müſſen.
Die große Vereinstätigkeit von Mrs. Sewall knüpft zum Teil an ihre erziehlichen
Intereſſen an. Ihre Vaterſtadt Indianopolis verdankt ihr die Gründung eines
Propyläums, d. h. eines gemeinſamen Geſellſchaftshauſes, das den geſamten aus—
gedehnten Klubbeſtrebungen einer amerikaniſchen Stadt den äußeren Mittelpunkl giebt.
Dieſes Klubleben in ſeiner Vielſeitigkeit, ſeiner äußeren Angeregtheit bietet ja der
Eigenart amerikaniſchen Geiſteslebens den angemeſſenſten Spielraum. Der demokratiſche
Geiſt, der das ganze Volksleben beherrſcht, drängt auf die Beteiligung aller an neuen
wiſſenſchaftlichen Taten und künſtleriſchen Schöpfungen. Kann dieſe Anteilnahme
natürlich auch, je mehr ſie in die Breite geht, deſto weniger tief ſein, ſo hat ſie doch
jedenfalls die ausgezeichnete Wirkung, daß ſie die Menſchen voll lebendigen Intereſſes
erhält für alles, was um ſie herum vorgeht, und daß ſie ſo manche zur Beteiligung
an der geiſtigen Arbeit der Geſamtheit heranzieht, die vielleicht von den exkluſiver und
ſtrenger umgrenzten Kreiſen unſerer deutſchen Wiſſenſchaft nicht erreicht werden. In
ben Klubs wird von allen alles diskutiert, volkswirtſchaftliche Fragen und literariſche
Neuerſcheinungen, Pſychologie und griechiſche Dramen, religiöſe Strömungen und die
beſte Art zu reiſen oder dergleichen. Mrs. Sewall hat ſelbſt einmal geäußert: „Ich kann
mich keiner Zeit erinnern, da ich mich nicht für alles und für Jeden intereſſiert hätte“,
und wer mit ihr gearbeitet und die Schlagfertigkeit und Gewandtheit ihres öffentlichen
Auftretens kennen gelernt hat, kann ſich wohl vorſtellen, daß ſie in dieſem Klubleben,
in Dem es vor allem darauf ankommt, unermüdlich und nach allen Richtungen An
May Wright Sewall. 451
regungen ju geben, fo recht in ihrem Clement ijt. Es ijt denn aud nicht nur der
fogenannte Contemporary Club ihrer Baterftadt, der aud Männern und Frauen beftebt,
nicht nur der Frauenklub von Yndianopolis unter ihrer Beteiligung und Leitung
kraftig gediehen, fondern auc) die Gefamtorganijation aller Frauenflubs der Vereinigten
Way Wright Sewall.
Jetzige Vorfikende des Internationalen Srauenbundes.
Staaten, eine viele Taufende von Mitgliedern umfafjende Vereinigung, verdankt ibrer
Anregung jum Teil ihre Entitehung und ihrer Mitarbeit die erfte kräftige Cntwidlung.
Und damit fommen wir zu der organijatorijden Arbeit grofen Stils, mit der
Mrs. Sewall der amerifanifchen Frauenbewegung und in vieler Hinſicht auch der
Hrauenbewegung der Welt wertvolle Dienjte geleijtet bat.
29*
462 May Wright Sewall.
Mrs. Wright Sewall hat jabrelang als Vorſtandsmitglied de3 großen nord:
amerifanifden Frauenſtimmrechts-Vereins gearbeitet. Qn der monumentalen Geſchichte
deS Frauenjftimmredts, die in vier umfangreicden Banden von den Fiibrerinnen der
Stimmrechtshewegung in Nordamerifa herausgegeben ijt, berichtet der Abſchnitt über
den Staat Indiana von Mrs. Sewalls Tatigkeit; die Berbandlungen der Frauen
ſtimmrechts-Geſellſchaft eigen fie in der parlamentariſchen Cicherbeit, mit der
humoriſtiſchen Friſche und dem echt amerifanifden Wis, wie fie aud) die Deutfchen
in ihrer Tatigheit im Frauenweltbund fennen gelernt haben.
Tritt vielleiddt hier die mehr techniſch leitende und organiſierende Arbeit, die
Mrs. Sewall leijtete, hinter dem Cindrud marfanterer Perfinlichfeiten wie Suſan Anthony
und Reverend Shaw mehr zurück, fo entfaltete fie ihre Fabigkeiten und ihre ganz be:
fondere Begabung vor allem gelegentlich des Frauen-Weltfongreffes, der in Verbindung
mit der Weltausftellung von Chicago im Jabre 1893 ftattfand. Etwas von der
Kühnheit amerifanifden Unternehbmertums, das durch grofe Aufgaben, durch ſcheinbar
uniiberivindliche Hinderniffe nur zu feinen höchſten Leijtungen angefpornt und gereijt
wird, webt einen an, wenn man in dem Bericht fiber diejen Frauen-Weltkongreß
die Gefchichte der Vorbereitungen durchblittert, wenn man fic voritellt, was e3 be:
deutete, den Gedanfen einer Vereinigung aller fortſchrittlichen Frauen der Kulturivelt
zu fafjen und die Wege dazu zu fucken. Der Mut, die Frauenbewegung als eine
Weltbewegung auc) duperlich organiſatoriſch hinzuſtellen, fonnte vielleicht nur in einem
Lande zur Tat fiibren, wo die techniſche Entwidlung daran gewöhnt hatte, dads Unge—
heure zu wollen und zu erreiden.
Im Dabre 1887 wurde in der Frauenftimmredhts-Liga der VBereinigten Staaten
beſchloſſen, das viersigiibrige Jubiläum der Frauenftimmredtsbewegung im Sabre 1888
mit einem internationalen Kongreß in Wafhington zu feiern. Bei diefem Kongreß
entiwidelte Mrs. Sewall ibren Blan, zugleich in einem nationalamerifanifden Bunde
den Frauenbeftrebungen der Bereinigten Staaten eine gemeinfame Repräſentation yu
ſchaffen und einen Frauenivelthund zu begriinden, der dasfelbe fiir alle organijierte
Frauenarbeit der Welt bedeuten follte. Die Ausjtellung von Chicago bot qiinjtige
Gelegenbeit, die Frauen der Welt zu einem großen internationalen Kongreß yu
vereinigen; Dirs. Sewall wurde die Borfigende des Organijations£omitees. Dit
auferordentlicer Cnergic hat fie es verjtanden, bei mehrmonatlichem Wufenthalt auf
dem europäiſchen Nontinent fiir iby Unternehmen Stimmung ju madden, gewiß feine
leichte Mufgabe unter Frauen, denen der Juternationalismus immerhin nicht viel mebr
bedeutete, alg eine ziemlich blaſſe und gebaltlofe Vorſtellung. Aber der Kongreß
von Chicago hat gejeigt, daß der Jnternationalismus mehr ijt als das, und der
Fraueniveltbund bat in den ibm angefchloffenen Frauen der verfebiedenen Nationen die
UAberzeugung erivedt, daß fiir die internationale Bereinigung der Frauen in dem inter:
uationalen Charafter der Frauenbewequng, die iiberall denfelben grofen Zielen zuſtrebt,
tätſächlich ein bedeutſamer Inhalt vorbanden war.
Dieſe Uberzeugung bat ſich auch ſeit dem Kongreß von London 1899, während
des Quinquenniums, das die Präſidentſchaft von May Wright Sewall umfaßt,
gefeſtigt und vertieft. Nachdem einmal der Anſtoß zu internationaler Verſtändigung
unter den Frauen der verſchiedenen Nationen gegeben war, haben ſich raſch überall
neue Beziehungen geknüpft, und die beſtehenden find nach allen Seiten ausgenutzt und
fruchtbar gemacht. Wir haben erfabren, wie der internationale Austauſch unfere
—
Thilringer Weberet. 453
eigene Bewegung in mander GHinficht geflart und bereichert hat, und wir wiſſen, daß
dieſer Austauſch aud über das engere Gebiet unferer eigenen Angelegenbeiten hinaus
eine allgemeinere fulturelle Bedeutung gewinnt. Darin aber vor allem fceint mir
der Wert unſeres Frauenweltbundes yu bejtehen: eigentliche eigene Wtionen liegen
jeinem ganjen Wefen nach) faum im Bereich feiner Aufgaben. Er reprijentiert aber
in feiner Exiſtenz felbjt eine hiſtoriſch bedeutſame Tat, die fich in den grofen Rahmen
der werdenden wirtſchaftlichen und fulturellen Zuſammenhänge zwiſchen den Völkern
würdig hineinſtellt.
Wenn die Berliner Tagung des Frauenweltbundes, wenn der mit ihr ver—
bundene Frauenkongreß den deutſchen Frauen die Bedeutung ihrer Zugehörigkeit zur
Internationale der Frauenbewegung lebendig machen wird, fo wird in dieſem Bewußt—
ſein die Note des Dankes für die Arbeit der bisherigen Präſidentin May Wright
Sewall nicht fehlen.
—
Chipinger Weberei.
Zugleich cin Wort an die Honfumentinnen,
Dr Robert Wilbrandt.
Nachdrud verboten. ——
n Thüringen iſt die Gegend um Mühlhauſen am meiſten mit Hausweberei durch—
ſetzt. Der bahnloſe Fleck zwiſchen Mühlhauſen und Eiſenach, der auf der Eiſen—
bahnkarte auffällt und Hausinduſtrie vermuten läßt, weiterhin das ganze Eichsfeld,
ſodann nordöſtlich von Mühlhauſen die Strecke in der Richtung nad) Nordhauſen
ſowie die Gegend von Puſtleben, endlich im Süden nahe bei Gotha einige Dörfer am
Fuß des Thüringer Waldes: das ſind, ſo viel ich erfahren konnte, die Hauptplätze
der Thüringer Hausweberei. Sie liegen hauptſächlich in gebirgigen Gegenden, in
denen die Landwirtſchaft die Bevölkerung nicht zu ernähren vermag und die Fabrik
mangels einer Bahn nur ſelten möglich iſt.
In den Zeitungen findet man zuweilen eine Anzeige des Thüringer Weber—
vereins. Seiner Preislijte, welche allerhand Leinenwaren, yum Teil mit altthüringer
Kunſtweberei, umfaßt, fest der Verein einen Appell an die Wohltätigkeit voran. „Ein
Verein der Nächſtenliebe“, ift ex 1891 zu dem Zweck gegründet worden: „den Webern
lohnendere Arbeit gu ſchaffen, ibre Leiftungsfabigkeit ju jteigern, den Abſatz und
Vertrieb der von ihnen hergeftellten Waren yu übernehmen und kaufmänniſch yu leiten,
ihnen durch Zuweiſung etwaigen Gefchiaftsgewinnes Anteil aud an dem Geſchäfts—
betrieh ſelbſt zu gewähren, einen Teil der Weberfinder in andere Berufsarten iiber-
quflibren und überhaupt alles anjuftreben, was die wirtſchaftliche Lage der Weber zu
fordern im ftande ijt.” Die Vorjtandsmitglieder verwalten ibr Amt als unbefoldetes
Ehrenamt. Nach den Jahresberichten des Vereins hat fich fein Warenumſatz von
454 Thiringer Weberet.
30 000 auf rund 250000 Mart geboben, alfo verachtfacht. Das ijt aber leider dod
nur der Umſatz eines Fleinen Verlegers. Die Jahresberichte fiigen daher bingu, daß
vielen Weberfamilien trog ihrer Bitten feine WArbeit sugewendet werden Fonnte, da dic
geringen Betriebsmittel es nicht gejtatten. Und trog des Proteftorats der Herjogin:
Witwe von Koburg-Gotha, trog eines Anerkennungsſchreibens aus dem Zivil€abinett
des Kaiſers, trop mancher Unterſtützung aus den woblbabenden Kreiſen, auf deren
Kundſchaft das Unternehmen infolge feiner relativ hohen Preife ausſchließlich an:
gewiejen ijt, muß ein den letzten Berichten heigelegter Zettel die dringende Bitte aus-
fpreden: „Wenn unfere armen Weber nicht durch die Abnabme ihrer guten hand—
gewebten Waren unterftiigt werden, fillt das mit grofen Opfern und vieler Mühe
beqonnene Werf der Nachjtenliebe, das nun feit zwölf Jahren bejtebt, in fic) felbjt
zuſammen!“)
Ich habe den Leiter des Unternehmens in Gotha aufgeſucht. Er iſt Landtags:
abgeordneter, neuerdings Kommerzienrat, und widmet feine Zeit, wie erwabnt, gan;
unentgeltlicd der guten Cade. Der Reingewinn, jährlich 15 000 bis 18000 Mart,
wird jum größten Teil als 20 Prozent Dividende den Löhnen hinzugefügt; cin
fleiner Teil, einige Taujend Mark, dient den Abjebreibungen vom Webutenfilien-
Konto und dem Refervefonds. Mehr alS 1000 Mark werden jabrlicd fiir ein:
malige Unterftiigungen an notleidende Weberfamilien ausgegeben. Die ber:
fiibrung von Weberſöhnen alljabrlic etwa 10, in andere Berufe wird von der
Coburg-Gothajdhen Staatsregierung mit etwas fiber 1000 Mart im Jahresdurchſchnitt
unterſtützt.
Namentlich während der Wintermonate werden durchſchnittlich 300 Weber,
Spuler, Näherinnen und Stickerinnen beſchäftigt; die gezahlten Arbeitslöhne betragen
im Ganzen zwiſchen 75.000 und 100000 Mark. Die den Webern mit Landbeſitz
febr wertvolle Rückſicht, daß der Verein hauptfacblid im Winter weben läßt, macht
e3 unmöglich, aus diefen Zablen cinen Schluß auf den Qabresverdienft der Weber yu
ziehen. Nach Angabe de3 Borjfigenden ijt der Verdienft der Vereinsiveber durch—
ſchnittlich 5300 Mark im Jahr. Doch läßt auch dieſe Zabl einen Schluß auf ibre Lage
nod) nicht yu. Denn nicht nur, dak mance 600, 900, ja mit Hilfe der Kinder und
bei grofer Nberanftrenqung auch 1000 Mark verdienen, es alfo famt der Dividende
bis auf 1200 Mark bringen, fondern vor allem die dabei aufgewendete Arbeitszeit
muß mit in Betracht gezogen werden: fie ijt ſehr lang im Vergleich mit anderen
Induſtrien, aber dod) eine furje im Vergleich mit den iibrigen Handiwebern, und die
Vereinsweber haben es infofern relativ gut, als fie wvielfach im Commer etwas Land:
wirtſchaft treiben, alfo nicht alle vom Weblohn allen [eben und ibm nicht allgemein
ibre ganze Arbeitszeit widmen. Den Vereinswebern fommt daber der Segen ibrer
fleinen Nebenerwerbslandwirtſchaft voll gu gute. An der freien Konkurrenz, gegeniiber
den Mühlhauſer Verlegern, find dagegen die Eleinen Landwirte im Winter die ſchlimmſten
Lobndriider; fie arbeiten von morgens 4 bis abends 12 Ubr, um fo 6 Mark in der
Woche zu verdienen. Beiſpielsweiſe arbeiten fie beim Verleger dasfelbe fiir 3,50 Mart,
wofiir der Verein 10 Mark 4+ 2 Mark Dividende zahlt.
1) Wir verweifen unfere Lefer auf die Preislifte des Webervereing, der wir in unferm Annoncentei!
gern cine Stelle gegeben baben, und möchten auc) unferericits den Frauen’ bie Unterftiigung dieſes
ſozialpolitiſch außerordentlich fegendreichen Unternehmens dringend ans Hers legen. D. Red.
—
Thilringer Weberei. 455
Infolge feiner höheren Löhne ift der Verein, obwohl Unternehmergewinn und
Kapitalverjzinfung bei ſeinem mildtätig geftifteten Kapital wegfallen, auf dem freien
Markt, vor allem bei den ftaatlicen Submiffionen, nicht fonfurrensfabig. Die gute
Qualität feines Garns ijt zwar cine Empfeblung, und von den Kunden liegen viele
Anerfernnungen vor; aber der mechaniſche Webſtuhl arbeitet viel billiger und fogar
hübſcher. Ob weniger dauerbaft, wie die alte Meinung und aud) der Thiiringer
Weberverein qlaubt, fann ich als Nichtfachmann nicht entſcheiden; von einem Sach—
fenner, einem tüchtigen Weblebrer, ijt mir die größere Haltbarfeit des Handgeiwebten
als Märchen bezeichnet worden. Jedenfalls aber ijt der mebr nach Wohlfeilbeitsqriinden
porgebenden Submiffionsvergebung des Militärs der Thitringer Weberverein zu teuer.
Selbjt das niachftgelegene Armecforps läßt nicht bei ihm arbeiten. Gr kann weder
mit den Fabrifen nod) mit den hungernden Seblejiern fonfurrieren. Der Befebl des
Raifers, daß die Handweber beſchäftigt werden follen, erreicht daher unter dem bisher
ibliden Submiffionsverfabren nicht feinen Swed.
Obwohl nur auf dem Boden der Mildtitigheit lebensfabig, trägt der Verein
indireft dod) dazu bei, die Löhne aud) bet den Mühlhauſer Verlegern etwas zu
jtiigen: wer von ibnen entlafien wird, befommt vom Verein Arbeit. Und jo lange
nicht Fabrifen die Tätigkeit des Vereins erjegen, it er fiir Hunderte von Familien ein
Segen; wenn auch gegeniiber feinem Appell an die Wohltätigkeit niemals wird gefagt
werden finnen: „Da habt Sor ein grog’ Publifum.”
Die örtlich begrenzte, aber ſegensreiche Wirkſamkeit des Vereins ift mir dann auf
meinen Wanderungen von den Webern felbft beſtätigt worden.
Um Thiiringer Wald habe ich nur nod einzelne gefunden, eingeftreut zwiſchen
sablreichen anderen Hausindujtrien; zum Teil find fie von werdenden Fabrifen auf:
genommen worden. Go in der Sommerfriſche Cabarz. Cin buntleudtendes Dorf am
Fuß des tief grünen Thüringer Waldes, mit dem Ausblick in eine harmlofe, naiv
beitere Landſchaft. Und fo ift aud) die Bevslferung. Der Sage nach mit einem Cin
flag von Zigeunerblut, die Madchen die flotteiten Tangerinnen, Muſik ſitzt allen in
Seele und Gliedern. In ciner fleinen mechaniſchen Gurtenweberei, die vor drei
Jahren aus bisheriger Hausweberei entitanden ijt, erftaunte id) fiber das Ausſehen der
Arbeiterſchaft: faſt lauter ſchöne, blühend geſunde Menſchen; Manner, Mädchen, altere
Frauen, alle mit dem Typus der Landbevölkerung. Kehren ſie abends nach Hauſe, ſo
geht's in den Kuhſtall; Sommers bleiben fie zuweilen ein paar Tage aus der Fabrik
fort, um anf ihrem Feld zu arbeiten. Die Wochenverdienfte der ctwa 20 Perfonen
find: Die Männer 14 bis 18 Mark, die Madden 5,40 bis 7,90 Marf. Die WArbeits-
zeit ift elf Stunden. Und trog dieſes geringen Lohns und langen Stehns diefe
ferngefunden, beiteren, oft bet dev Arbeit fingenden, mit harmlos ausgelaffener Heiter:
feit aus der Fabrif heimkehrenden Madchen! Es ijt eben Landbevilferung, fiir die
aud die Hausweberei wohl nur Winterarbeit war, und anjcheinend eine befondere
Raffe; cine Ausnahme, die den Wanderer freut, aber die in all den andern Tertil-
fabrifen gefebenen Bilder, die nach Arbeitszeitverkürzung geradezu febreien, nicht ver-
wifden Fann.
Auch ein Handweber, der in einer grofen Stube drei Webſtühle aufgeſtellt bat,
ijt ſchon an feinem gefunden Ausſehen als halber Landwirt yu erfennen; desqleichen
der junge Sohn, der iveben lernt, um ſpäter in einer Fabrik einen befferen Poften
zu befommen. Sie weben Tiſchtücher mit Sprüchen drauf und ähnliches, alles fiir
456 Thüringer Weberei.
den Weberverein, deſſen Bemühen, das Gewebte an Badegäſte loszuwerden, der Mann
dankbar humoriſtiſch ſchildert.
Im nächſten Dorf, Schwarzhauſen, gleichfalls über eine Stunde von der Babn
entfernt, iſt eine Handwebereifabrik für Drahtgeflechte entſtanden. Der Vorſitzende
des Webervereins hat den Unternehmer veranlaßt, ſie gerade hier anzulegen. Bis auf
einige ältere Leute, die nach Angabe des Faktors 10 bis 12 Mark in der Woche mit
der üblichen Hilfe der Famile erweben, ſind die Hausweber ausgeſtorben, da die
jüngeren meiſt in die Drahtweberei übergegangen ſind. Manche ſind Drechsler geworden,
für die Ruhlaer Pfeifeninduſtrie, „was nun aber auch ſehr herunter iſt.“ In der
etwa 40 Perſonen beſchäftigenden Drahtwebereifabrik dagegen haben die Weber
einen guten Tauſch gemacht: nach den übereinſtimmenden Angaben der Bevölkerung
und des Leiters der Fabrik verdienen die Männer bei zehnſtündiger Arbeitszeit im
Akkord 15 bis 22 Mark, in ſeltenen Ausnahmen ſogar 30 Mark, immerhin häufig
18 bis 20 Mark in der Woche. Die Mädchen als Hilfsarbeiterinnen allerdings nur
1 Mark täglich. Aber fiir die ganze Weberbevölkerung iſt's doch ein guter Nbergang.
Das zeigt die Schilderung, die mir ein Webersſohn, jetzt Drechsler, aus ſeiner
Jugend gibt: der Vater hatte zwei Webſtühle, am zweiten webte tags der ältere
Sohn, Nachts bis 2 Uhr ein jüngerer, ein Schuljunge, und von 2 Uhr an den Reſt
der Nacht der dritte Sohn, auch ein Schuljunge!
Ein weit größeres Gebiet der Hausweberei hat ſich nördlich von Eiſenach
erhalten. Im Dorf Nazza, mehrere Poſtſtunden von Eiſenach und Mühlhauſen
entfernt, iſt die größte Faktorei des Webervereins. Dahin wandte ic mich nun.
Zunächſt, ſo lange die Wartburg noch ſichtbar iſt, führt der Weg nur in Bauern—
gegend. Ein Bauer, der mich für Geld und gute Worte auf ſeinem Wagen mitnimmt,
erzählt mir: Die Bauern dreſchen im Winter ihr Korn, vielfach nach alter Art, ohne
Dreſchmaſchine, damit die Zeit ausgefüllt wird; da ein Verdienſt für die arbeitsloſe
Zeit nicht vorhanden iſt, lohnt ſich's nicht, Dampfkraft anzuwenden. Eine Haus—
induftrie, ftimmt er mir zu, würde durch das ihr eigene Sinken der Löhne nur die
Händler reich machen, für die Arbeitenden kein Vorteil ſein. Was könnte dagegen,
möchte ich hinzufügen, ein wirklich guter Winterverdienſt für die kleinen Landleute
bedeuten!
Eine Stunde vor Nazza liegt das große Dorf Mühla, mit etwa 1700 Ein—
wohnern. Hier geht jest ein junger Bauer, von dem Typus, wie Thoma ibn zeichnet,
auf der Landftrake neben mir und ersiblt: „Fünf Sigarrenfabrifen find am Crt,
mit etwa 350 jungen Leuten drin, auch junge Frauen, deren Kinder zu Hauſe
find. Noch feblimmer ijt’s fiir die Kinder, wenn Heimarbeit. Die Zigarrenarbeiter
jeben feblecht aus und werden nicht alt. Gin rofiges Geſicht fiebt man da nicht.
Noch feblechter aber feben im Nachbardorf Nazza die Weber aus; zwanzigjährige
junge Leute fehon wie We. Das Weben ijt ungefund, immer figen. Früh um balb
vier, wenn man durch Nazza fubriverft, Dann weben fie ſchon.“
Jn Miibla beftebt auc eine Siegelei und viel Fubrgefchaft, fiir Eiſenach. Das
Fuhrwerken ijt bier die Winterbeſchäftigung der Banern; im iibrigen fcblafen fie ſich
im Winter aus von der Sommerarbeit, die oft faum ein bißchen Zeit zum Schlafen
läßt. Auch geben viele, die Sommers in der Ziegelei oder als Maurer arbeiten, im
Winter in die Zigarrenfabrif. Die jungen Madden und Frauen aber bleiben das
ganze Jahr bei der Sigarrenarbeit.
Thüringer Weberei. 457
Eine Bahn bis Mühla wird jewt angelegt. Nac Nazza hinauf ijt das Land
gebirgiq; dod) plant man den Babnbau aud von Mühlhauſen nad Nazza, iiber
Hejrode, durch die Zentren der Hausiveberei. Man erhofft davon die der Roblen-
sufubr folgenden Fabrifen, yur Erlöſung der Hausweberei, und außerdem befferen
Abſatz fiir das Holz der Gegend.
Die Schwarghaufener Drahtweberei war fiir Nazza geplant gewejen; aber obwohl
Handbetrieh und feiner Kohlen bediirftig, hat die Fabrif die weiten Cntfernungen von
der Bahn doch geſcheut und die kürzere in Schwarzhauſen, etiva eine Stunde, vor:
gezogen. Nur die Zigarrenfabrifen, denen an nicdrigen Löhnen viel und an den
ohnehin geringen Transportfojten wenig gelegen ijt, dringen aud in die entlegenen
Dörfer ein. Auch in Nazza find ibrer zwei, von denen die fleinere etwa ſiebzehn
Madden mit 7 bis 8 Mark Wochenlohn und die gripere eine bedeutendere Zabl
beſchäftigt, auch etwas mehr bezahlt: die jiingeren Mädchen verdienen bier als Wiel:
macherinnen 4 bis 5, die alteren als Rollerinnen meiſt etwa 9 bis 12 Marf in
der Wore.
Razza iſt ein reizendes Dorf, zwiſchen Bergen ſchmal eingebettet; die Felder
jteigen die Anhöhen binauf. Das Dorf muß neben der befcheidenen Landwirtſchaft
cine Heimarbeit haben, bis cine Bahn die Fabrif bringt. Auch ijt meift, bei 100
Familien unter 700 Einwohnern, die Weberet der Hauptberuf; dod) haben alle etwas
Landwirtſchaft dabei.
Beim Faftor in Naya hängt ein Doppelbild, von „einem armen Weber“
gezeichnet: oben die “Weberfamilie, wie fie friiber war, der Weber verzweifelt und ab—
gezehrt am Webjtubl, die Kinder, nur mit ein paar Lumpen befleidet, am Spulrad,
die Frau vergrämt; unten die Weberfamilie, wie fie jegt ift, Durd) den Weberverein:
der Weber arbeitet behaglich, die Kinder find wohl gefleidet und fpielen mit Spiel:
jacen, die Frau ift jung und hübſch geworden. Auch andere danfbare Kunſtwerke
der Weber bezeugen ihre Crfenntlichfeit fiir den Vorjipenden des Webervereins. Und
tatfichlich find die fiir ibn webenden vor äußerſter Not bewahrt. Nur fann er nicht
genug Arbeit ſchaffen.
So ſagt mir ein Weber im Nachbardorf Hallungen, bei dem ich eintrete: er
kann nur für 7 Mark wöchentlich Arbeit vom Weberverein bekommen; er könnte,
meint er, bet den Mühlhauſener Verlegern jetzt doppelt fo viel verdienen. Aber er
bleibt beim Weberverein, weil die Weberei ihm nur Winterarbeit iſt und nur Neben—
beruf neben der Landwirtſchaft: im Sommer aber wollen die Mühlhauſer Verleger
gerade die Arbeit haben, während der Weberverein ihm gern nur Winterarbeit gibt.
Der Mann iſt ein prächtiger Mitteldeutſcher mit blitzenden Schwarzaugen; keineswegs
ein abgezehrter Weber. Ein Bub von ihm ſitzt am Tiſch und lieſt, an die Frau am
Webſtuhl geſchmiegt ein blühendes Kind, ein erwachſenes Mädchen ſpult, und die Alte,
die hereintritt, meint: im Winter ſind ja nur die paar Stück Vieh zu beſorgen, einer
von der Familie kann dabei doch am Webſtuhl ſitzen. Dieſes behagliche Bild hat
eine bodenreformeriſche Tat zum Hintergrund: ſeit zwanzig Jahren hat ſich das Dorf
gehoben durch Aufteilung eines großen Guts, ſo daß nun faſt jeder Kühe hat und
nur nebenher webt. Manche wandern in norddeutſche Zuckerfabriken und Konſerven—
fabriken, deren Arbeitsſaiſon gerade die Wintermonate gut ausfüllt; auch für dieſe iſt
zu Hauſe ſicherer Boden.
458 Thüringer Weberei.
Erſt im hochgelegenen Hejrode, einem großen Dorf, kommen wir ins Zentrum
des Weberelends. Hier iſt weniger Landwirtſchaft bei den Webern. Manche ziehen
als Hauſierer in die Fremde. Die Madden finden jum Teil in Zigarrenfabriken
am Ort Wrbeit.
Sch trete bet cinem etiwa fünfzigjährigen Weber cin. Die Frau neben ihm ift
febr cingefallen; cin Bub arbeitet am anderen Webftubl, ein Fleinerer am Spulrad.
Nach dem Verdienſt bei gewöhnlicher Arbeitszeit gefragt, erzählt mir der Mann; er
beginnt mit der typiſchen Außerung: „Ja, das müſſen Sie wiffen, bei uns ijt nicht
ein gewöhnlicher Tag wie andersivo, von feds bid feds, fondern von ſechs bis elf.
Drum gibt’ auch fo viel Anvalide bier. Debt ijt ja wenigftens Arbeit . . . Der
Verdienft: 8 bis 12 Marf in der Woche auf einem Stubl, famt Spuler, alfo
anderthalh Menfchen, und davon geben nod etwa 2'/, Maré ab fiir Fubrlohn und
Spulen, foweit ¢3 die Familie nicht machen Fann. — Ya, wenn da twas geicheben
finnte, dam der arme Weber wenigftens feine Arbeitszeit foweit einſchränken könnte,
dap es cine Arbeitszeit wäre wie bei einem Taglibner . . . aber: je geringer der
Lobn, um fo anger muß man arbeiten, denn man muß ja doc bejteben. Cine
Familie von neun Perfonen, die braucht dod) 20 Mark in der Woche. Denn alle?
muß man faufen. Die in Hallungen, die haben wenig Leute und viel Land, aber
bier haben das Land die Bauern.”
Haus an Haus hort man den Webjtubl klappern. Ich trete nod bei einigen
ein. Cine Frau, deren Mann fern in einer Zuckerfabrik ift, arbeitet am Webftubl,
während die fleine Tochter Schularbeiten macht und andere Kinder in den Betten der
gerdumigen Stube liegen; die Frau verdient den Tag eine Marf. Dann ein finder-
loſes Ehepaar: fie geſund, er febr iiberarbeitet, fie fonnen 12 Mark in der Woche er:
arbeiten, aber nur bei der üblichen Arbeitszeit von ſechs Ubr friih bis elf Ubr abends.
Immerhin ift's giinftig: denn die Frau tit finderlos!
Wenn mance von den Kindern und Erivachfenen nicht gerade feblecht ausjeben,
fo jind die Urjaden wohl die Landluyt, obwohl fie bier faft nie draußen im Freien
qeatmet wird, und die villige Stille ded Lebens. Als id) Whends durch die Dorf—
jtrafen gebe, öffnet ſich ein Fenjter nach dem andern; der Tritt eines Menſchen ijt
ein ungewohnter Laut!
Much ijt jest immerhin cine giinjtige Zeit. Die modernen balbwollenen Herren:
kleiderſtoffe, ſcwwarz mit weifem Einſchuß, find oft aus ſchlechtem Faden, der am
mechaniſchen Webftubl reißen würde; daber haben die Gandweber Arbeit. Wud) find
fie infolgedefien jest relativ gut bezahlt.
Aber beim Weberverein iſt's dod) nod) viel bejfer, fagen fie aud hier: man
arbeitet dort viel fiirjer, man bat die Landwirtfchaft und dod) 500 Mark und die
Dividende.
Ym nächſten Dorf, wo ich übernachte, ijt wieder die Landwirticaft die Haupt:
jache. Much die Weber, die das ganze Jahr weben, haben mebr als in. Hejrode
Landwirtſchaft daneben. Cin groper ftarfer Mann mit bäuerlicher Geſichtsfarbe gibt
mir 12 Mart als Weberwodsenverdienjt an; ſelbſtverſtändlich das Spulen der Frau
mit eingeredinet. Seine Familie bejorgt felbjt das Fubrwerfen nad) Mühlhauſen zum
Verleger und ſpult alles felbjt, jo da die 12 Mark reiner Verdienft find — allerdings
fiir eine Familie! Und dann die vielen Seiten der Arbeitslofigfeit. Und die Arbeits-
- !
Thüringer Weberei. 459
zeit? Der Mann macht eine Handbewegung, die ſagt: Fragen Sie lieber danach nicht,
wie lang iſt die —
Immerhin iſt's nicht wie in Hejrode, das faſt ganz auf die Weberei angewieſen
iſt und viel mehr Weber hat. Bauern ſehe ich hier im Zylinder und ſchwarzem Rock,
Bäuerinnen in langen ſchwarzen Capes und großen ſchwarzen Hauben mit ſeidenen
Bändern zur Kirche gehn. Die Jungen haben einen friſchen Turnverein. Aus der
abgelegenen Webergegend, der „umgekehrten Oaſe“, find wir wieder heraus. Es ijt
nur noch eine Stunde nach Mühlhauſen, an die Bahn.
In guten Jahren wandern aus dieſen Gegenden viele auf Arbeit. In den
ſchlechten war bekanntlich auch draußen nichts zu finden. Um ſtetigere und lohnendere
Arbeit zu ſchaffen, das Abwandern in die Städte unnötig zu machen, das Bleiben auf
dem an ſich geſunden Bergland zu ermöglichen, iſt der Bau von Bahnen durch das
ganze Elendsgebiet die Vorbedingung.
Der Bierkutſcher einer Mühlhauſener Brauerei, unter deſſen Korbdach ich einen
Teil der Strecke zurücklege, erzählt mir, daß auch bei ihm, in Mühlhauſen, noch ein
Stückchen von der Hausweberei vorhanden iſt. Seine Frau ſpult zu Hauſe für eine
Fabrik, etwa zwei Lis drei Stunden täglich, und verdient fo 1,50 Mark in der Woche.
Sie hat cine zwölfjährige Tochter, die ſchon in der Wirtſchaft mithilft, und zwei
fleine Kinder, cind im erjten Jahr. Trogdem ijt felbjt diefer lächerlich fleine Verdienſt,
in der Stunde faum 10 Pfennig, cin erwünſchter Gewinn in freien Stunden: ,, Die
Beit gebt auc) obne das vorbei, und wenn's aud nur ein paar Grofden find am
Ende der Woche, e8 ijt doch da.” :
Diefe Auffaffung ijt typifc fiir die Nebenerwerbsheimarbeit. Und man fann ibr
cine Berechtigung nicht abjpreden. Co techniſch riidjtindig auch dieſe in vielen
Tertilfabritftadten noch zu findende Hausſpulerei ijt, und fo ſchlecht fie lohnt, fo un-
erwünſcht wiirde die bei beſſerer Bezahlung fofort eintretende Ubernahme in den
techniſch bier viel swedmapigeren Fabritbetrieh vielen alten und jungen Frauen fein,
fo lange ibnen nicht giinftigere Mbglichfeiten in ibrer Lebenslage geqeben find. Und
dasſelbe gilt im Großen von den Reften der Hausiveberei. Drum ijt eS ein Fleined
Mittel, aber doch aller Unterjtiigung wert, den Handwebern möglichſt günſtige Arbeit
zu fcbaffen, fo Lange bis ihnen eine modernere Technik auf der heimatlichen Scholle
ermöglicht ijt.
Gegeniiber dem von nambaften Sozialpolitifern beiderlei Gefchlecht3 geäußerten
Gedanfen, man folle die Hausweber durch Ausdehnung des Arbeiterſchutzes auf die
Hausindujtrie ausräuchern, ibre Hausweberei unmöglich machen — diefem Gedanten
gegeniiber fann man fic) angeficht2 der Wirflichfeit eines bitteren Lächelns nicht
erwebren. Die Anjicht, man folle die Hausweber arbeitslos madsen und der Armen:
pflege iibergeben, denn verbungern laſſe man ja heute niemand mehr, dieſe Anficht fennt
weder die Hausweberei nod die Armenpflege. Was die Weber wünſchen, iſt Arbeit,
cinigermagen lohnende Arbeit; alfo fo lange nichts beſſeres möglich ijt, wenigitens
anjtdndig bezahlte Hausweberei, wie der Weberverein fie ihnen gu ſchaffen bemüht iſt.
Vas Sichfiqungsrecht des Chemannes.
Boa
Dr jur. Ernſt Goldmann.
NAachdcud derboten
¥S wird unſeren Leſern und Leſerinnen nicht unbekannt ſein, daß nach den Rechts-
anſchauungen des Mittelalters der Ehemann eine faſt unbeſchraͤnkte Gewalt fiber
ye Leib und Leben ſeiner Frau hatte. Für die Frau jener Zeiten gab eS mur
einen Rechtsſatz: du haſt deinem Manne yu geborden. War fie dem Manne ungebor-
jam, fo durfte er fie einfperren, bungern laſſen und züchtigen; war fie ibm untren,
fo durfte er fie titen. Sein Wille war fiir fie die erjte und die letzte Inſtanz. Wie
uns die alten Rechtsbücher jeigen, tar man zwar aud damals fdon bemilbt, die
@ewaltherricaft des Mannes ju mildern, aber dieje Bemiibungen nebmen fic fiir
unſeren beutigen Gejdmad recht fonderbar aus. So verbot 7. B. das nordgermanifde
Recht dem Manne, die Frau bei der Züchtigung wund yu fdlagen. Die Stadtrechte
von Augsburg und von Brinn empfablen dem Manne, auf die Frau Lieber durch
gutes Bureden und durd das Buchtmittel der Rute als durdh Befchimpfungen,
Peitidungen und beftige Priigel einguwirfen. Gn Breslau mußten die Ehemanner
jeit dem Jahre 1431 verfprechen, ibre Frauen fimftighbin nur nod mit Ruten ju
züchtigen und zu ftrafen, wie eS siemlich fei und einem Biedermann juitebe bei Treue
und bre.
Nad diejen Milderungsverſuchen fann man fid ein Bild davon machen, in
weldem Umfange die Ehemänner des Mittelalters das Recht der Ziichtigung beſeſſen
und wie fie es ausgeiibt baben. Dieſe Barbarei ijt aber keineswegs mit dem Mittel:
alter ing Grab gejunfen. Das Zitchtiqungsrecht des Chemannes bat fich vielmebr in
weiten Gegenden lebendiq erhalten, obwohl ſich die Rechtsſtellung der Ebefrau ſchon
grundſätzlich geaindert hatte; fo in Hamburg, defien Statuten von 1603 dem Manne
ein mäßiges Züchtigungsrecht juerfannten, und in Freiburg, nad defien Statuten der
Mann die Frau aber nur nocd fcblagen durfte, wenn fie es ,,verdient” batte. Am
längſten hat fics dad gefeglide Zuchtigungsrecht des Manned in Bavern erbalten.
Dort war bis zum Inkrafttreten de3 Biirgerlichen Geſetzbuchs für das Deutiche Reich,
aljo bid zum 1. Januar 1900, das Bayeriſche Landrecht von 1756 in Geltung, und
dieſes Geſetzbuch enthielt folgende Vorſchrift:
Inſonderheit wird der Ehemann für das Haupt der Familie geachtet, daher
ihm ſeine Ehegattin nicht nur in Domesticis (in den häuslichen Angelegenheiten)
ſubordiniert und untergeben, ſondern auch zu gewöhnlichen und anſtändigen
Perſonal- und Hausdienſten verbunden iſt, wozu ſie von ihrem Manne der
Gebühr nach angehalten und nötigenfalls mit Mäßigkeit gezüchtigt
werden mag.
—X
os
Das iichtigungsrecht des Chemannes. 461
Die Münchener Gerichte haben wiederholt durch Urteile feftgeftellt, 3. B. in den
Jahren 1862 und 1875, dah diefe Beftimmung in Bavern fortgefest Geltung hatte.
Mit Unrecht hat man dagegen behauptet, dak aud das Preupifde Allgemeine
Landrecht, das von 1794 bis 1899 in Kraft geweſen ijt, ein Recht des Ehemannes
zur Züchtigung anerkannt habe. Man bat fich fiir dieſe falfche Wnfieht auf die §$ 701
und 702 If, 1 berufen, die folgenden Wortlaut batten:
§ 701. Wegen bloß mündlicher Beleidigungen oder Drohungen, in-
gleichen wegen geringerer Tätlichkeiten, follen Cheleute gemeinen Standes nicht
gefchieden werden,
§ 702. Auch unter Perfonen mittleren und höheren Standes fann die
Scheidung nur alsdann ftattfinden, wenn der beleidigende Chegatte ſich folcher
Titlihfeiten und Beſchimpfungen, ohne dringende Veranlaſſung, mutwilliq und
wiederbolt ſchuldig macht.
Aus diefen Paragraphen hat man gefolgert, dak in den niederen Ständen der
Mann das freie Recht habe, die Frau in mapigem Grade yu ſchlagen, und daß ifm
dieſes Recht in den mittleren und höheren Standen wenigitens dann zuſtehe, wenn
ihm die Frau dringende Veranlaffung dazu gebe. Diefen Sinn haben die Paragraphen
aber nicht gehabt. Es handelte fich bier nur um die Frage, ob und iniwieweit Tatlich-
feiten unter Cheleuten einen Scheidungsqrund abgeben, und das Gefeg fagt nichts
weiter, alS dak geringe Titlicfeiten als ausreichender Scheidungsgrund nicht ange:
feben werden finnen. Man wird e3 anc nur billigen finnen, daß wegen einer Obr-
feige oder eines leichten Schlages nicht gleich) die Che gefdieden wird. Aber deswegen
waren geringe Tatlichfeiten dod) keineswegs erlaubt! Konnte man ibretiwegen aud
nicht die Eheſcheidung verlangen, fo konnte mah doch die Beftrafung des Titers wegen
Korperverletzung oder Beleidiqung beanſpruchen. Durch die §§ 701 und 702 war alſo
die Beftrafung deS Mannes, der feine Frau ſchlug oder ftiep, nicht ausgeſchloſſen.
Nbrigens fprechen die $$ 701 und 702 nicht bloß von Tatlichfeiten de3 Mannes gegen
die Frau, fondern aud) von folden der Frau gegen den Mann, fo daß ſchon dadurch
die Annahme, der Ehemann babe nach dem Preußiſchen Landrecht ein Siichtiqungsrecht
gehabt, widerlegt ift. .
Wie aber fteht ed heute, nach dem Inkrafttreten des Biirgerlichen Geſetzbuchs
fiir das Deutſche Reich, mit dem Züchtigungsrecht des Chemannes?
In weiten Kreiſen, felbjt in den Kreiſen der Gebildeten ift die Meinung ver-
breitet, da dem Ehemann auch heute nods das Necht zuſtehe, die Frau in den
Grenzen der Mäßigung zu züchtigen. Dem Verfaffer ift diefe Meinung an verſchiedenen
Orten und von Perfonen verfebiedener VolkSfreife entgegengebracht worden. Vor
ciniger Zeit wandte fich eine Lebrerin an die Redaftion diefer Seitidrift und bat um
Ratidlage, wie einer von ihrem Manne unaufhörlich mifbandelten WArbeiterfrau ju
belfen fei; auch fie war der Anficht, daß es Dem Chemanne geſeßlich geftattet fei,
jeine Frau ju fehlagen. Man muß aus ſolchen Erfabrungen ſchließen, dak der Glaube
an das Ziichtiqgungsrecht des Mannes nod) ſehr viele Anhanger hat und daß eine
Menge von Frauen fic febweigend eine Behandlung gefallen läßt, die keine Recht—
fertiqung in den Gefegen findet. Deshalb ift es nicht überflüſſig und wird hoffentlich
sur Aufklärung in weiten Kreiſen beitragen, wenn wir bier einmal die Tatfache felt
ſtellen, daß nach dem Heute in ganz Deutſchland geltenden Rechte der Chemann nidt
1 2 enw
462 Das Züchtigungsrecht bes Chemannes.
befugt ift, feine Frau zu ſchlagen oder fonftige Buchtmittel gegen fie anjuwenden, aud
nicht in den Grenzen der Mäßigung. Unfer Biirgerlides Geſetzbuch enthalt feinen
Sag, aus dem ein Züchtigungsrecht des Mannes berjuleiten wire. Aus den
§§ 1352 folg. ijt vielmebr ju entnehmen, dak die deutſche Chefrau als ebenbirrtige,
prinjipiell gleichberechtigte Perſönlichkeit neben dem Manne ſteht. Dem Manne iſt
zwar in den das gemeinſchaftliche Leben betrejfenden Angelegenbeiten das Recht der
Entſcheidung eingeräumt, und in diefen Grengen muß fic) die Frau dem Willen des
Mannes fiigen. Aber fie ijt nicht verpflichtet, der Entſcheidung des Mannes Folge qu
leijten, wenn fie fic) als ein Mißbrauch feines Rechts daritellt, und keinesfalls darj
der Mann einen körperlichen Zwang anwenden, um feinen Willen durchzuſetzen. Bon
Buchtmitteln, wie fie den CEltern gegeniiber dem Kinde zuſtehen, fann bei den Ehe—
gatten ſchon deshalb nicht die Rede fein, weil der Chemann nicht der Erzieher der
Ehefrau iſt.) Auch dann aljo, wenn fic) die Frau den Wünſchen und Anordnungen
des Manned widerfest, wenn fie ein unordentliches Leben fiibrt oder in anderer Weije
ibre Chepflicten verlebt, bat der Mann nicht das Recht fie gu fdlagen. Dede Tat-
lichkeit des Mannes gegen die Frau ijt eine Rechtsverlegung; der Körper und die
Ehre der Ehefrau fteben geradefo unter dem Schutz der Gefege wie der Körper und
die Ehre aller anderen Menſchen. Deshalb fann die Frau, welche von ibrem Manne
geſchlagen worden ift, feine Beſtrafung wegen vorfaplider Körperverletzung oder tat
licher Beleidigung fordern. Solche Strafantrige werden leider nur febr felten gejtelit
und aud dann nur in Fallen, wo ſchon fortgefegte und geradezu unertraglice Miß—
bandlungen ftattgefunden haben: die Frau mug ja die Race des Manned fiirdten, wenn
ex auf ihre Anzeige bin beftraft worden ijt. Fänden folche Beftrafungen häufiger
ftatt, fo wiirde fic) das Los vieler Frauen bejonders in den unteren Volksſchichten
bedeutend beſſern. Vielleicht wird aber fchon die Muffldrung dariiber, daß der Mann
fein Recht bat die Frau yu ſchlagen und daß er fich ftrafbar macht, wenn er ed
dennoch tut, 3u einer Verminderung der in Stadt und Land leider noc fo häufigen
Mißhandlungen führen. Darum mige eS jeder als feine Pflicht betrachten, die Fabel
yon dem Züchtigungsrechte des Ehemanns recht gründlich zu zerſtören!
An dieſem Ergebnis darf man ſich durchaus nicht irre machen laſſen, daß nach
dem Rechte des Bürgerlichen Geſetzbuchs — wie wir es ebenſo ſchon beim Preußiſchen
Landrecht geſehen haben — die Ehe nicht wegen jeder Tätlichkeit des Mannes
geſchieden wird. Einen Scheidungsgrund liefern nach § 1568 nur grobe Mißhand—
lungen. Das ſchließt übrigens nicht aus, daß eine Ehe auch wegen leichterer Miß—
handlungen geſchieden wird, z. B. wenn leichtere Mißhandlungen fortgeſetzt und ohne
jede Veranlaſſung geſchehen find oder wenn fie ſich durch beſondere Umſtände (die
Frau iſt krank oder ſehr ſchwächlich) als ſchwere Verletzungen der Ehepflichten dar—
ſtellen. Selbſt wenn aber die Schläge im einzelnen Falle nicht ausreichen, um die
Scheidung der Ehe zu rechtfertigen, werden ſie dadurch nicht zu erlaubten Handlungen;
jede Tätlichkeit des Mannes gegen die Frau iſt ein nach dem Strafgeſetzbuche zu
verfolgendes und zu ſühnendes Vergehen oder Verbrechen.
) Vergl. die Ausführungen hierüber im letzten Sanuarheft dieſer Zeitſchrift S. 201 folg.
—
463
Ces Deuntes Oebof, ——R->d
Bon
Radbrud verboten.
Ves ber Sculjugend hatte Anna Blo
von jeber als etwas befonderes gegolten; yum
Teil war daran ihr Bubaufe Sduld oder |
ber Weg, den fie dahin yu machen hatte. Sie
batte nie Beit gebabt, mit den anderen Rindern
nad ber Schule auf dem Markte zu fpielen
und um die Kirche berum, fondern twar immer
fofort bie Straße bhinuntergelaufen, die an
den Fluß führt. Buweilen hatten einige
Rinder fie bis ans Wafer begleitet, um gu
feben, wie fie fiir zwei Pfennige vom alten
Timmes iibergejest wurde. Sie waren
bewundernd oder neidiſch fteben geblieben, bis
das Boot am anbdern Ufer hielt, das Rind
ang Land fprang und an der grofen Rub-
wieſe vorbei landeinwärts trabte. Geſchah es
dann, daß ihre Spiele ſie nach einiger Zeit
noch einmal an das Waſſer brachten, ſo
legten ſie wohl die Hand über die Augen und
entdeckten winzig im weiten Grün den feuer—
roten Rock der Anna. Noch einige Zeit
ſpäter war er aber nicht mehr zu finden, und
dann wußten ſie, daß Anna Block in der
dunkelgrünen Baumgruppe verſchwunden war,
die ein wenig erhöht wie eine Inſel mitten
im lichten See der Wieſen lag.
Ihre feuerroten Röcke waren ein anderer
Grund, weshalb Anna Block als etwas
beſonderes gegolten hatte. Um ihretwillen
hatte ſie ſich auch ſelbſt ſtets ein wenig höher
eingeſchätzt als die anderen Kinder, welche
dunkelblaue oder braune trugen, die nicht
ſchnell ſchmutzig wurden. Die Röcke waren
aus den vielen roten Kleidern gemacht, die
Annas Mutter mit in die Ehe gebracht hatte,
von denen ſie die meiſten noch gar nicht
getragen hatte, alg fie ſtarb. Ihr Mann
hatte rot fo gern an ibr gejeben und ftets gelobt,
wie gut es ju ihrem dunkeln Haar pafje.
|
!
Elfe Hildrich.
Enbdlih war Anna Blod aud) wirklich
etwas beſonderes gewefen, nämlich die befte
und bravfte Schülerin; bas bing damit
jufammen, daß fie fich ſchon als kleines Rind
gang feft und flar porgenommen batte, in ben
Himmel gu fommen.
Sie war es im letzten Jahre, ebe fie gur
Schule mubte, häufig müde geworden, allein
im fonnenivarmen, blumigen Gras der tweiten
Wiefen herumpuleben oder im Winter zuzuſchauen,
wie die Kühe in ber grofen Halle gemolfen
wurden, fondern batte fic) viel zur Grofmutter
gchalten und ihr in der Küche gebolfen oder
beim Muftrennen von all bem vielen roten
Beug. War ihr diefe Beſchäftigung nad
einiger Beit langweilig geworden, fo pflegte
fie bie Grokmutter zu fragen, wem denn die
vielen Rleider gebirten, die gu Ridden fiir
fie zerſchnitten würden, und der darauf ere
folgenden Erzählung gu lauſchen, die fie ſchon
oft gehirt hatte. War dieſe bis gu dem
Punkte vorgefdbritten, an welchem die Tranen
der Grofmutter zu ſteigen begannen, war
befdricben tworben, wie gut die Eltern es im
Himmel batten, wie fie auf das Rind herab—
blidten und es erivarteten, fo nahm Ddiefes
plötzlich und gefdidt ben Redefaden in feine
Hand und die frither ftets mit erbobenem
Finger und Feierftimme erfolgte Ermahnung
poriveg: „Darum mußt du febr adt geben
und forgen, daß du aud in ben Himmel kommſt;
das weiß ich dod) ſchon, Grofmutter.“
Sn ber Schule hatte fie bann febr gut adt
gegeben, twenn die Rede bavon war, was
man 3u tun babe, um ficer und gradenwegs
in den Himmel ju gelangen, und hatte die
Aufmunterung, ju diefem Swede brav und
fleifig gu fein, fo gut beberjigt, daß ibr, als
fie erwachſen war, bas Tugendbajtfein zur
464
Gewohnheit und das Pflichterfüllen zum Ver—
guiigen getvorben war.
— Renn Anna Blod von dem harten
Teil ihrer körperlichen Arbeit beim Rartoffeln-
ſchälen oder Strümpfeſtopfen ausruhte, fo
machte ſie ſich vielerlei Gedanken und nicht
zum mindeſten über ihren Künftigen, wie er
eines Tages kommen und wie ſie ihn lieben
würde. Cr würde ſehr ſtark, klug und redt-
ſchaffen ſein, anders als die jungen Leute im
Städtchen, die fie bisher fennen gelernt hatte;
ob blond, braun oder ſchwarz, das ſorgte ſie
nicht; darüber zu klügeln überließ ſie den
Mädchen aus dem Ort. Auf keinen Fall
wollte ſie ſchon vorher mit einem anderen
etwas gehabt haben, ehe jener eine, rechte
erſchien.
Sie hatte ſich noch mit niemanden ein—
gelaſſen, auch nicht im geringſten mit dem
jungen Doktor, der im Sommer wochenlang
im Ulmenhof gewohnt und denſelben von
verſchiedenen Seiten gemalt hatte. Sie pflegte
ihn munter anzulachen, wenn er ſtehen blieb
und ernſthaft beobachtete, wie ſie Heu rechelte
oder mit aufgeſtreiften Bluſenärmeln an der
Waſchbütte ſtand; kam er aber mit dem Wunſch
zum Vorſchein, ſie abzubilden, ſo lachte ſie
ihn aus und verjagte ihn mit einer Handvoll
Heu oder Seifenſchaum. Nicht einmal photo—
graphieren ließ ſie ſich von ihm. „Sie müſſen
doch einſehen, daß hier im Vordergrunde
etwas fehlt“, ſuchte er ſie zu überreden und
zeigte ihr das Bild des Pfades, den ſie täg—
lich zu gehen hatte. Am untern Rande des
Bildes war er breit und ganz deutlich von
Gräſern und Blumen begrenzt, wurde aber
ſchnell ſchmal gegen den Hintergrund und
erſchien, wo er mit der dunkeln Inſel des
baumumſtandenen Gehöftes zuſammenſtieß,
faſt als ein Strich. Der ſtrohüberkappte
Giebel des Gebäudes ſchimmerte durchs Laub;
unter ihm lag grell der beſchienene Vorplatz,
auf den das Innere der Halle kohlſchwarz
hinausſtarrte durch das geöffnete Tor. „Es
wäre hübſch, wenn Sie hier vorne ſtänden
und den Pfad hinunterblickten, vielleicht mit
der Hand über den Augen gegen das Licht.
Ihr Schatten würde ſo wirkungsvoll quer
über die große Helle der Wieſe fallen.
Morgen verſuchen wirs einmal, Fräulein Anna.“
or
|
|
|
Neuntes Gebot.
Sie hatte aber nicht gewollt, war dann
freilid) eines Tages durdh Lift von ihm ge—
fangen worden.
Sie hatte laut aujgefdrien, als er ihr das
Bildden iiberreidte. „Ich ſchenke es Abnen,
wenn e3 Ihnen gefallt.” Da floß der Strom
quer iiber das Bild, und mitten darauf im
Boot faben Jakob Timmes und fie felber
leibbaftig. Run wußte fie aud), was der
Doftor vorgeftern am Waſſer getan hatte, ebe
er fo flint vor ibr bergegangen twar dem Hoje
qu. Cie wurde gang warm vor Freude an
dem Bild, da alles fo richtig wiedergegeben
war. Safob Timmes ſaß mit ftraffen Armen
rückwärts geftemmt, als werde er im aller:
nadjten Augenbli€ die Ruder aus bem Waſſer
heben; dabei hatte er den Ropf gewandt und
lachte übermütig aus dem Bild beraus. Er
fab, was am Ufer vor ſich ging und batte
feinen Spaß, bak die Anna gar nidts babon
merfte. Die bielt den leeren Gierforb mit der
Rechten auf dem Schofe feft und lies die
Linke im Waſſer hängen. Gie erinnerte fid
gan; genau ber ſchönen Kühlung, bie fie dabei
genofjen batte und ded feltjamen Unblids, den
bie Finger durch das Hare, bewegte Waſſer
geboten batten; twie jappelnde, fdimmernde
Meergewächſe faben fie aus.
noo hübſch ift mir nod felten ein Bild
geraten”, fagte der Doktor, und Anna be—
banfte fic) febr, ftedte e8 forgfam in die
Taſche und ftellte es fpater binter bie Glas-
ſcheibe des kleinen Wandſchranks in ihrer
Stube.
Da ſtand es nun ſchon wochenlang. Anna
beſah es oft; ſie verwunderte ſich immer wieder
darüber, wie ſo ähnlich das Geſicht des Jalob
Timmes war und mußte zuweilen ſein Lachen
erwidern. Daß er nichts geſagt und ſie ſo
ganz ahnungslos gelaſſen hatte, der nichts—
nutzige Menſch!
Sie beſah den Jakob Timmes jeden Tag.
Er war der Sohn des alten Timmes, der ſie
täglich übergeſetzt hatte, als fie nod in die
Schule ging; er war im tüchtigſten Mannes-
alter und batte Kraft fiir zwei. Das Boot
ging gang anders, twenn er ed bewegte, als
Machinittags, da Peter ride ruderte, während
jener in der grofen Cifengieferei beſchäftigt
war. Bis zwölf Ubr Nadts war er in der
Neuntes Gebot.
Gießerei; wann er wobl eigentlich ſchlief?
Wenn man ibn fragte, würde er laden und
jur Antwort geben, ein geſunder Rerl braude
nicht gu ſchlafen. Anna Blod rechnete aus,
daß er von zwölf bis fünf Uhr ſchlafen werde.
Er war ein fleißiger, ſtarker Mann, und recht—
ſchaffen auch, das war er! Die jungen Weiber
aus dem Orte ſchauten gern nach ihm, und
einige ihrer Männer, die hitzig waren, mochten
den Jakob Timmes nicht leiden. Es war
aber keiner, der ihm etwas hätte nachſagen
können. Daran, daß ſie nach ihm ſchauten,
waren ſein Übermut ſchuld und ſeine Kraft;
oder der lange Bart und die ſcharfen Augen?
Es konnte ihr gleichgiltig ſein, was die uns
nützen Weiber an ihm fanden. — Als einmal
zugleich mit Anna Block der Kuhhirt und ein
paar Männer aus dem Ort im Boote waren,
wurde von der Frau des Jalob Timmes ge—
ſprochen. Es gehe ihr nicht gut, ſagte ihr
Mann, ſie müſſe immer liegen und huſte mehr
als früher, daß es ein wahres Elend fei.
„Er iſt geſchlagen mit der Frau“, ſagte
der Kuhhirt, als er danach noch eine Strecke
weit mit Anna Block zuſammen ging, „nichts
als krank und armſelig iſt die immer geweſen;
Kinder haben ſie auch nie gehabt.“
Das Mädchen ging allein weiter. Das
Mittagslicht über der Wieſe war ſo grell, daß
es die Augen klein machen und ſenken mußte.
Bliibender Sauerampfer und Wucherblumen
drängten ſich im trocknen, hohen Graſe. Das
Inſektengeſumm ſtand eintönig in der Glut.
Wenn nun die Frau des Jakob Timmes
ſtürbe, ſo würde er wieder heiraten und könnte
Kinder befommen, kräftige Buben mit über—
miitigen Augen.
Es fiel ihr ein, daß es unnütz fei, dariiber
nachzudenken, fie febnellte ben Kopf hod) und
fudte nad) cinem gegenwärtigen Ding, daß
es ihre Mufmerfjamfeit gefangen nehme. Es
war aber nichts als das ſchmerzende Licht
ringsum.
Zu Hauſe ſtellte ſie das Bild im Wand—
ſchrank werfebrt gegen das Glas. Was
braudte der fie immer anjuladen. Wenn
welde vom Geſinde jujammenftanden, fo ging
fie langſam und bantierte [eifer, ob von der
Frau Timmes die Rede ware. Das madhte
fie müde und ungeduldig. „Ich frag ibn
|
465
morgen nad der Frau”, nabm fie fic vor;
es ijt gut, gleid gu hören, wenn ibr beffer
ift. Cie fah ibn anbdern Tags im Boote
aufmertfam von ber Seite an, ob nichts aus
feinen Mienen gu ſchließen fei. Den darauf
folgenden Morgen fragie fie ihn. Es fei
nicht beſſer geworden, eriwiderte er, der Arzt
meine, ſie könne ſich zwar noch Jahre lang
ſo halten, es könne aber auch auf einmal
ſchnell mit ihr zu Ende gehen. Das Mädchen
ſagte Worte des Anteils und ſah ihn wieder
heimlich an mit heißen Wangen, bis ihm nach
einiger Zeit das Gefühl einer großen Be—
friedigung bewußt ward, die mit der ver—
nommenen Nachricht ſein Gemüt ergriffen
hatte, und es erkannte ſeinen Wunſch, die
Frau des Jakob Timmes möge ſterben.
Es war ſo ſonderbar, daß die Anna Block
einer andern Mann begehren ſollte. Keiner
würde das von ihr glauben im Ort, von ihr
am allerwenigſten. Begehrte ſie ihn denn?
Begehren! Es traf ſie keine Schuld. Sie
hatte nichts getan, als was ſie tun mußte;
ſie mußte die Eier zur Stadt bringen und
überfahren jeden Tag. Die Brücke war eine
halbe Stunde oberhalb, ſie verlor zwei
Stunden, wenn ſie über die Brücke ging;
vielleicht müßte ſie doch darüber und könnte
eine Strecke weit laufen beim Riidweg? Die
Leute würden ſich aber wundern, zu Hauſe
würden fie fragen und Jakob Timmes felbjt?
Er hatte doch nichts getan und wußte nichts;
ſchließlich lief ſie für eine Einbildung über die
Brücke.
Einbildung würde das ganze ſein. Sie
wollte ſich zwingen, nicht mehr daran zu
denken, ſie brauchte ja auch das Bild nicht
mehr ſo lange anzuſehen.
Sie ließ es umgekehrt im Wandſchrank
ſtehen und legte es andern Tags ganz fort in
ein Buch hinein. „Bis ich die Einbildung
los bin“, dachte ſie, „erſt dann beſehe ich es
wieder, vielleicht fühl ich mich nächſte Woche
frei, vielleicht ſchon übermorgen.“ Sie wünſchte
ſehr, es möge ſchon morgen ſein, daß ſie es
wieder betrachten dürfte.
Eigentlich müßte ſie es zerreißen. Dann
erſt hätte ſie bewieſen, daß der Vorſatz ganz
ernſt war, die Einbildung los zu werden.
Wenn ſie es vernichtete? Sie wollte darüber
30
466
ſchlafen und fid dann entſchließen. Vielleicht
finnte fie es ja aud) gang weit forttun, gut
veriteden, daß fie es wabrideinlid) nie wieder
finden twitrde, Nur, daß es nod) da wäre,
fiir den Fall, daß fie es einmal braudhte
irgendivie.
Frühmorgens am britten Tage war fie
entidlofjen, e3 gu vernichten. Cie warf einen
gang kurzen Blick dariiber, während ein feiner
Schmerz ihre Keble beflemmte. Er hatte dod
nidts getan und wußte nidts! Dann hatte
fie eS gefnidt und nod einmal bdoppelt.
Etwas Naſſes lief iiber ihr Geficht, daran der
Schmerz in der Keble ſchuld war. Cie wifdte
es fort, jerfleinerte die vier Teile in winzige
Stiidlein und nabm fie in die Hand, in der
fie leit und [oder Ingen. Auf der Wiefe
befam fie ber friftige, feucte Wind.
Der Himmel war voll leidten, ſchnell
ziehenden Gewölls, das juiveilen die Conne
verftedte, Anna Blod ging vor bem Wind
und lief ſich von ihm treiben; zuweilen drebte
fie fich gegen ibn, bag er ihr die flatternden
Haare gliattete; fie nabm volle Züge der
falten, reinen Luft und gab auf bie
ſchwankenden, braufenden Ulmen des Hofes
adt und auf die Windmiible, die fic gar
fo munter drehte in der Ferne. — Gie twar
frei und ftolj; fie wußte, was fie fonnte,
fie fiibrte aus, twas fie wollte, fie fühlte fic
ftarf und kühn.
Sie freute ſich über zwei Störche in ihrer
Mahe, die fcnabelgefentt durch den blujternden
Wind ibr Futter fudten und bei jedem
Srhritte mit dem langbebhalften Ropfe
wippten. Fern vom Norbrande der Wiefe
wuchs ein ſchwärzlicher Tridjter in das leichte
Gewilf bes Himmels hinein. Er fommt
geradewegs vom Meer, dadte bas Madden
und fab ihm gu, bis feine Breite riefengrof
gu ibren Haupten war. Cie twunderte fic,
wie ſchnell er berangefommen war, und wie
die Windmiible draußen arbeitete, als bliefe
ibr ber Catan in bie Schwingen.
Dann erreichte fie felbft ber Sturm, und
es fiel ibr ein, dap fie fic) fputen miiffe, um
fiber das Waſſer gu fommen, ehe es nod)
ſchlimmer würde.
Neuntes Gebot.
gu ſehen ſtromab und -auf, als aufgeregt
hüpfende, ſchäumende Wellen; fie hatte dag
Waſſer nur ſelten fo lebendig gefeben.
„Sollen wir fahren?“ fragte Qafob
Timmes. Cie ſaß ſchon im Boot und nidte,
fie batte gar feine UAngft bor dem Wafjer, fo
froh und frei, twie fie twar, und aud) vor
Jakob Timmes nicht; fie war ja Herr über
ſich! Sie lachte, wenn fie recht in bie Tiefe
fielen, und twenn die Kühe, die nod) auf dem
weifen Sandjtreifen des abſchüſſigen Ufers
waren, mit hochgehobenen Schwänzen und
plumpen Sprüngen bor den leckenden Wellen
auf das Grüne flüchteten. Er ruderte mit
ganzer Kraft und ſah fie ernſt und durd-*
dringend an, als nähme es ihn wunder, daß
fie fo gar feine Angſt verriete. Cie funkelte
und ladte ibm in die Mugen. „Wenn ich mit
Peter Fride fibre! Wher fo? De höher, dejto
luftiger.“ —
Anna Blod war ben ganzen Tag in der
Küche gewefen, wo es fein Ctiindlein bell
geworden war und two man das Fenfter nicht
hatte öffnen können, weil in einem fort der
Regenivind darauf ftand. Sie hatte Morgens
gekocht und Nachmittags gebiigelt und eine
gang trodene, gefpannte Haut davon bee
fommen. Abends mußte fie nod ein grofes
Geridht Erbſen ausſchälen fiir den anbdern
Tag; da hielt fie es nidt mehr aus in Hike
und Dunft, fondern trug eine kleine Want
durch die Halle mitten in das gedffmete Tor;
ben Korb voll bellgriiner Erbſen ftellte fie
neben fic) auf ben Boden und nabm die röt—
liche irdene Schüſſel auf den Schoß, in welche
ſie die aus der ſpröden Schote befreiten
Kügelchen hinunterrollen ließ. Die Schüſſel
und die Erbſen waren ſehr kühl und taten
ihren Händen wohl, während die feuchte
Friſche der Luft ihr Geſicht wie eine kalte
Flut erlabte. Der Wind war ſtill an dieſer
Seite des Hofes; es fielen vereinzelte dide
Tropfen von ben Ulmen auf den Vorplatz
binunter; auf der Wiefe aber ſtäubte der
Regen nocd, durd das Laubtor fab man ibn
filbrig ziehen und ſchwanken. Cie drückte
ganz langfam bie Schoten auf, legte zwiſchen—
Das Boot lag auf ihrer | durch die Hände in die Schiifjel hinein und
Ujerfeite und tanzte, als ob eben ein Dampfer | genoß bas Atmen und das Ruben. Es war
vorbeigefahren wäre.
—
Es war aber nichts ſo viel Geſundheit in ihr und Luft und Ver—
Reunted Gebot.
trauen; es könnte einer glücklich durch fie
werden, wenn er fie rect erlännte. —
Weit draufen auf dem Pfade fah fie
jemand fommen, der war fdief und wadelte
beim Geben; es mute der Briefbote fein.
Ws er fo nahe war, daß man den feudjten
Boden unter feinen Schritten ächzen hörte,
fam die Grofmutter durd die Halle, um
ju feben, wer es fei. Sie erbielt Seitungen
fiir den Obeim und einen Brief fiir fid
und fagte dem Mann, er möge fic) cin wenig
ausruben auf ber Bank; das tat er, jah eine
Zeitlang neben Anna Blod und ſchwieg.
Beim Aufſtehen ſagte er, indem er ſeine
Taſche auf dem Rücken zurechtſchob: „Dem
Jakob Timmes ſeine Frau iſt auch geſtorben.“
Dann ging er über den Vorplatz unter den
Ulmen weg und den Pfad entlang. Den
Platz, auf dem er geſeſſen, nahm die Groß—
mutter ein und erzählte eine breite Geſchichte über
die Timmes und ihre Eltern und Geſchwiſter,
darin viel Krankheit und Mißgeſchick vorkam.
Das Mädchen gab nicht acht, wie das zu—
ſammenhing; es grub ſeine Hände in die
Erbſen hinein und taſtete über den glatten
Boden der Schüſſel, wobei ihm die kühlen,
kleinen Dinger um die Finger rollten. „Nun
dürfte id) das Bild ſuchen gehn, wenn es nur
vergraben wäre“, dachte fie; ,aber nod nie
im Leben bin ic fo froh über etwas geweſen,
als dariiber, bah ic es zerriſſen babe.” Als
fie nad einer Stunde die Arbeit vollendet
hatte, waren ibre Wangen nod ebenfo gliib-
beif wie in bem Augenblide, da fie in die
frifche Luft hinausgetreten war.
* *
*
Mad mehreren Monaten fing Dafob
Timmes an, un Anna Blod gu freien, und
nad anderthalb Jahren heirateten fie ſich.
Sie brachte ihm ein fleines Vermigen ju und
die Ausfidt auf den Befis des Ulmenhofes
fiir bie Beit, wenn die Großmutter und der
Obeim tot fein wiirden,
Wenn möglich arbeitete er nun nod mehr
alg früher, und da fie fleifig war und ju
wirtfdaften verjtand, ging es ibnen gut, und
fie waren nicht nur das ftattlidjte, fondern
aud das lebensluſtigſte Ehepaar im Orte. |
467
Bei jedem Schiigenfefte oder Tanz fonnte
man fider fein, den Jalob Timmes mit jeiner
Frau erjceinen ju feben zwiſchen dem jungen
Volk. Cie tanjten rafder und ausdauernder
als die andern; wenn fie endlid) außer Atem
ftehen blicben, faßten fie fich bei Den Handen und
faben fic) fo ftol; und lachend in die Augen,
alé follte erſt nächſten Sonntag Hochzeit fein.
Gr fitmmerte fic) um feines ber Weiber aus
bem Orte mebr und duldete nicht, dah fie
mit einem anbdern tanjte. Jn dem Punfte
nabm er es feltjam genau. Einmal, als fie
im Begriffe war, den Antrag eines jungen
Burfden ju einem Rundgang tiber die Wieſe
anjunebmen, bielt er fie guriid mit ſolchem
Griffe, daß fie leiſe aufſchrie im Schmerz.
„Was haſt du?“ fragte ſie mit erſchreckten
Augen. Da nahm er ohne ein Wort ihren
Arm und ging mit ihr fort von dem ſonnigen,
grünen Platz. Die Alten und Jungen aber,
welche die Hecke entlang ſaßen und ſtanden,
ſchauten ihnen nach und tuſchelten.
„Was hatteſt du?“ fragte ſie, nachdem ſie
ſtumm durch einige leere Straßen gegangen
waren. Er ſuchte ihre Hand und preßte ſie:
„Ich kann es nicht leiden, daß du mit den
Jungen tanzeſt. Etwas ſanfter hätt' ich ja
zufaſſen können. Hat es weh getan?“
„Nun iſt es vorbei“, ſagte ſie und ſah
auf den Boden und betrachtete den Schatten
ihrer Geſtalten, der ſich ſeltſam kurz gedrungen
über das grelle Grau des Straßenſtaubes
ſchob. Es war das erſtemal, daß ſie nicht
wußte, woran ſie mit ihm war.
„Du weißt doch von der Nacht, wie es
mich zuweilen packt, daß ich auffahren und
zugreifen muß, es kommt ſo wie ein Schrecken,
es iſt nichts.“
Sie nickte, das kannte ſie an ihm.
In derſelben Nacht wurde ſie wieder da—
durch geweckt. „Biſt du wach“, fragte er,
als er danach wieder ſtille lag, und da ſie
bejahte, „haſt du bemerkt, wie ſie ſchwatzten,
als wir dieſen Nachmittag von der Wieſe
gingen?“ Sie hatte nichts bemerkt. „Haſt
du wohl nie gehört, was ſie über mich
reden?“
„Nie, was reden ſie denn?“
„Narrheiten! Aber es wundert mich, daß
du nie etwas gehört haben ſollſt!“
30*
468
„Ich weiß nichts und will aud gar nidts
hören“, fagte fie, ſchon balb im Schlafe. Sie
waren fo gliidlid, e3 war Reid von den
Leuten, dap fie ſchwatzten.
* *
*
Nach einem Jahr bekamen ſie einen Knaben,
danach ein Mädchen und ſpäter noch eines;
als die herangewachſen waren, der Sohn zur
Lehre in die Stadt zog und die beiden Töchter
geheiratet hatten, blieben Jalob Timmes und
die Frau ſo allein, wie ſie vor zwanzig Jahren
geweſen waren. Um die Zeit ſtarb der Oheim,
der bis dahin den Hof bewirtſchaftet hatte.
Die Timmes traten ihr Erbe an und jogen
auf bie Wiefe hinaus. „Für die Giegerei bin
id) dod) nichts mehr”, fagte der Mann, fein
Haar war grau und fparlid) geivorden, die
Augen Hatten aber nod diefelbe Durdhdringende
Schärfe wie in den Jahren, ba die Weiber
des Ortes darin vernarrt gewejen waren.
Sie war cine febr riijtige Frau und nabm
den größern Teil der Arbeit auf fied.
Er pflegte häufig neben ibr gu fteben oder
ju figen und zuzuſehen, wenn fie am Butter:
faß befchaftigt war oder mit fiarfen Schlägen
Waffer pumpte, und pflegte dann jede ihrer
Bewegungen mit nachdenklichen Bliden ju
verfolgen.
„Was ſitzeſt bu denn und guckeſt fo in einem
fort?” fragte fie einmal, da ibr fein Wefen
feit einigen Seiten aufgefallen war, worauf er
von ſeinem Cite auffprang, den Pumpen—
ſchwengel aus ibrer Hand nabm und mit
folder Rraft fiibrte, bah ber Cimer in zwei
Schlägen gefiilt war und das Waſſer tiber
und iiber flog. Zuerſt vertounderte fie fic, dann
ladte fie und dann flebte fie wm aller Heiligen
willen, er möge aufhören, der Brunnen werde
leer. Cr hörte aber erjt auf, als ibm ber
Schweiß auf der Stirne ftand, dann bolte er
jum letztenmale wuchtig aus und rief:
aud ein alter Mann geworden bin” und ging
die Rellertreppe hinauf. Jn der Halle hörte
fie ibn laden.
Seitdem fprad er oft von feinem Alter
und ſchien die Gelegenheit dazu aus der Luft
qu greijen. Er febe ja ein, dab fie nun yu
jung fiir ihn fei; fie babe ibn aber freitwillig
Neuntes Gebot.
genommen und nun müſſe fte aushalten mit
dem verjdlifjenen Bann. „Was du nur
rebeft”, fagte fie; fie hatte immer ibre Pflicht
an ibm getan und liebte ibn aus Herjens-
grund; es hatte feinen Ginn, was er
ſprach.
„Du biſt noch eine junge, ſehr hübſche
Frau“, ſagte er ein anderes mal, als ſie vor
der Halle unter den Ulmen ſaßen, und nach
einer Pauſe „ich möchte wiſſen, was noch mit
dir werden wird, wenn du Witwe biſt?“ Er
ergriff ſie beim Handgelenk und hielt es feſt,
ſodaß ſie den Strumpf, an dem ſie ſtopfte,
fahren laſſen mußte. Sie fab ibn forgenvoll
an: „Wie du immer auf ſolche Gedanlen
kommſt; an fo etwas benft dod) fein geſunder
Mann.“
„Ich bin nun einmal zwanzig Jabre alter
alg bu. Zwanzig Sabre wirft du Witwe
fein, fo muß man rednen. Oder twas!
Zwanzig Sabre wirft du nidt Witwe fein;
id weiß fdon, wie es geben wird. Ja, ja!”
Er ftand auf, ging fiber ben Vorplatz bis
babin, two er bie Wiefen weit überſchauen
fonnte und wies mit ber Hand nad der
Flupfeite. „Dahin geht der eine Bug und
bierber fommt der andere, nod ebe der eine
fibers Waffer ijt; die Anna Timmes hat die
Wahl.“
Er wandte ſich, um von neuem ihren Arm
zu faſſen. „Aber krank bin ich nicht, hörſt
bu? und bald find wir nod nicht fo weit.
Denk nur nidt, es könnte bald fein! Bb
rate dir, bent, daß ich immer lebendig bliebe;
id bin aud febr 346 und ftarf. Ich werde
langer eben, ald fie alle meinen.”
Danad ging er langfamen Cobrittd in
die Halle hinein. Cie betrachtete die weißen
Flecken auf ibrem Arm, bie von dem Drud
feiner Finger geblieben waren und beobachtete,
| wie fie allmählich bunfelten und verſchwanden.
„Da
ſiehſt du, ob ich noch etwas kann, wenn ich
durch die
Der graue Strumpf fing an, vor ihren
Augen zu ſchwimmen und das Abendrot
Ulmen zu flimmern und zu
ſchwanken. Sie wußte nicht, was mit ihm
war. Sie grübelte, ob er ein Unrecht von
ihr denken könne, bis ihr einfiel, daß die
meiſten Menſchen im Alter Eigenarten an—
nehmen ſollen. So etwas mußte es mit ihm
fein; es durfte fie nicht kränlen. —
RNeuntes Gebot.
Er fing auch an, fie zu bewachen; fie be=
merfte es befonders gegen ben Winter, ba
ibn cin Kränkeln iiberfiel, bas ibn zwang, im
Haufe gu bleiben. „Was haſt du driiben ju
tun?” fragte er, wenn fie fich gum nötigſten
Gange in die Ortſchaft riiftete. Sie gab
genauen Beſcheid und beeilte fic) auf dem
Wege. Gr aber betradtete fie mit fdjarfen,
unrubigen Bliden, twenn fie juriidgefommen
war, und forfdte und rechnete aus: Zwanzig
Minuten fei fie gu fpat, fie müſſe nod
anbersivo geweſen fein.
An einem Radmittage im November fagte
er, nun fiible er, daß er cine Rranfheit be-
fomme und ging ju Bette, als es eben
dunkel geworden war, Den ganjen Tag
iiber hatte er neben bem Küchenherd gefefien
und mit ben Zähnen geflappert. Sie forgte
ſich und fragte, ob er den Arzt haben wollte;
ba er bejabte, riiftete fie fic), um in Eile den
469
ſchweren Beinen ging fie in bas Zimmer
guriid, löſte bag Tuch und weinte. „Jakob,
Jakob, was ift mit dir?”
„Ich will, daß du bleiben follft; es ift
nichts.”
Er Ing ftill und fah die Dede an; fie
madte fic) im Bimmer zu ſchaffen, bis er die
Augen gefdlofien hatte. Dann ging fie leife
hinaus und die Stiegen binab. Unten webte
es feucht und falt durd) bie Dunfelbeit; fie
tajtete fid) gum Tiirgriff der Halle, trat in
' die dunftige Warme des ſchwach beleudteten
Raumes und aging zwiſchen den Kühen hin—
durch bem Gerdufde der firdmenden Mild
Weg in die Stadt gu unternehmen, damit er
wenigſtens morgen früh fame, wenn es heute
zu ſpät ſein ſollte.
Timmes lag auf dem Rücken und blickte
ibe nad auf Schritt und Tritt. „Wer fetst
über?“ fragte er plötzlich.
„Andreas Fride.”
„Warum ſchickſt du nidt die Marie?”
» die melft dod, Jakob.“
Wabrend fie ihr Tuch um den Kopf
legte und auf der Bruſt feftftedte, hörte
man den Wind joblen und mit den Ulmen |
rajdeln.
„Es ift dod) nichts, fo in der Nacht tiber
ben Flug”, fagte ber Mann, „du gehſt beffer
fiber bie Briide.”
Da fcbiittelte fie den Kopf; es war nod
nicht fieben Uhr und fie hatte bundertmal im
Dunfeln fiber den Flup gefest. „Ich werde
nod) Umwege maden!
id) wieder dDabeim bin.”
Mls fie bie Hand auf der Klinfe hatte,
rief er fie zurück. „Ich will nidt, dak du
überfährſt; bu follft nicht Abends heraus! Es
ift Unfinn, jum Arzt zu laufen; morgen ift
Beit genug; hörſt bu nicht?” Erx richtete fid
auf mit rotem Gefidt. „Du ſollſt fommen!
Mad das Tuch herunter! Was haſt du
drauken verloren?”
Ihre Hand zitterte auf der Rlinke; mit
Ich bin frob, wenn |
entgegen.
„Marie, Du mußt den Doktor holen.“
„Jetzt gleid 2”
„Wieviele baft bu noch?“
„Dieſe und die Schwarze und die Fable
nod.“
„Laß mid; du mußt gleich geben.”
Sie trat neben die Ruh und nabm den
Platz der Magd ein. Geit fie verbheiratet war,
hatte fie bad Geſchäft nicht mebr verfeben;
bad Tier merfte die ungeiibte Hand und jab
fidh zuweilen nad. ibr um. Sie melfte mit
hajtenden Fingern, wiſchte zwiſchendurch die
Augen am Ärmel ab und hielt haufig inne,
ob iby Mann nicht gerujen hatte. Cie
hörte dann die Tiere fauen und den Regen
gegen bie Scheiben fniftern.
Der Mann war unrubig, als fie wieder
qu ibm fam. Gr fprad viel von diefem und
jenem und fagte, er wiſſe dod, was fie über
ibn rebdeten und ob fie es nie gehört
habe?
Das hatte er fie ſchon einmal gefragt,
früher, als fie nod) zuſammen jum Tanje
gingen, auf die Wiefe unten am alten Tor;
fie hatte nie mehr daran gedadt. „Was ift
e3 denn nur, twas fie reden?” Cie febte fid
auf ben Rand feineds Bettes und ſtrich fiber
bas feudte Haar.
Da nahm er die Hand und auch ihre andere.
„Du friegft einen Schrecken; paß auf; id
will es bir aber fagen; es ijt gum Ladjen.
Ich hatte meine Frau umgebradt; die Narren!
Siehſt du, nun haſt du einen Sareden, twas
madjt bu fiir Augen! Glaubft du denn fo
etwas? Hobo, du glaubjt es aud!”
470
„Nichts glaub id; du bift frank; fei ftill,
bald fommt der Doftor. Niemand redet
etwas, lieg ftill.”
„Die Narren, als wenn ſie nicht wüßten,
daß ſie an der Schwindſucht geſtorben iſt;
fie haben fie dod) huſten gehört all die Zeit.
Sie hat immer entfeslich gebuftet. Nachts
bin id) aufgeftanden, wenn id wad) davon
wurde und bab’ fie aufgeridtet, fonft wär fie
erftidt. Sch bab’ oft gemeint, fie wär' er-
jtidt. Was ſchwatzen fie denn, wenn fie
erſtickt iſt?“
„Sie ſchwatzen ja nicht; Feiner ſagt was
von dir; lieg ruhig, du biſt krank.“
„Die eine Nacht war es ſchlimmer als
ſonſt; nun mußte es zu Ende gehen. Als ich
Licht anmachte und ſie ſah, hab ich gedacht,
nun muß es das Ende ſein — und hab ge—
wartet.“
„Haſt du fie nicht aufgerichtet, Jakob?
Jakob!“
„Aufgerichtet! Was heißt das, daß du ſo
fragſt? Meinſt du nun auch, ich hätt' ſie
umgebracht? Du haſt es doch geſehn, ich
hab' ihr nichts getan; ich hab' ihr kein Haar
gekrümmt. Du haſt doch geſagt, daß ich
warten ſoll; es wire das Ende, haſt du
geſagt.“
„Ich, Jakob, id?”
„Ich weiß genau, wie es war; paß auf;
da haſt du geſtanden, da in der Ecke mit dem
roten Kleid und haſt mich angeguckt und haſt
genickt und immer fo angeguckt, und da bab’
id warten müſſen. Du haſt fo funtelnde
Augen gebabt, Anna! — Aber jet bift
du häßlich, du lachſt ja nidt Was |
baft du? Ich habe dod nichts getan.
Web, dak fie das immer fagen, Gott, o
Gott!
„Lieg ftill, was foll ih tun? Sei rubig,
|
}
|
Neuntes Gebot.
fol id) ben Pfarrer rufen? Nur, dak du
rubiger wirſt!“
„Der Pfarrer? Was willft du mit dem?
Dak id) ibm fagen foll, id batt fie um-
gebradt?” Gr fubr bod) auf und erbob den
Arm gegen fie.
„Nur, dah bu fagen follft, du fagen kannſt,
daß bu — nichts getan baft, Jakob.“
*
*
Wenige Woden darauf wurde Jakob
Timmes begraben. „Er hat einen ſchweren
Tod gehabt“, ſagten die Leute; „das iſt immer
fo, je lebendiger einer geweſen iſt, deſto
ſchwerer hat er das Ende.“ Außerdem wurde
viel Gutes über ihn geſprochen. Seine Frau
lebte in den Tagen mehr mit den Leuten
zuſammen, als ſie in den Jahren ihrer Ehe
getan hatte. Sie hörte mit Aufmerffamfecii
die wortreichen Lobeserhebungen der Weiber
an, nickte und weinte dazu und ſuchte, ſobald
eine vollendet hatte, eine andere auf, damit
bie ibr dasfelbe fagte. Abends fragte fie ihre
Kinder, ob fie aud gebirt batten, wie gut
der Vater beleumbdet fei, ob fie einen eingigen
wiiften, ber ihm was bles nachſagen könnte.
Sie midten aud act geben, was binter
ibrem Riiden geſprochen würde, daraus könne
man erſt recht die Wahrheit erfahren. Sie
ſollten aufpaſſen, wenn die Frauen nach der
Arbeit an den Türen ſchwatzten oder die
Männer im Wirtshaus ſäßen, und dann
ſollten fie erzählen, ob fie was gehört batten,
nur ein einziges böſes Wort.
Nachdem das Begräbnis voriiber war und
die Rinder fie verlafjen batten, madte Anna
Timmes eine Wallfabrt zehn Stunden ju Fup
in das Land binein. Cpater fagte man von
ibr, daß fie febr viel fiir die Armen tue.
Wieder verbeiratet bat fie ſich nicht.
471
Von den Ronigen and der Krone.
Gertrud Baumer.
—ñ— —
Radhbrud verboten.
G iſt die unbeirrbar ſichere Ausgeſtaltung einer feſtgegründeten künſtleriſchen
yo Cigenart, die bei jedem Buch von Ricarda Huch wieder von neuem
überraſcht und entzückt. Cie wurjelt mit ibrem Schaffen nicht in der äußeren
Wirklichfeit. Aus gang innerlichen, feelifcben, individuellen Crlebniffen heraus fliefen
ihre Gejtalten gufammen. Sie gehören der Dichterin allein an als Verfdrperungen
ihrer Trdume, ihrer Lebenserfabrungen, ibrer tiefen Einſichten in das Menſchliche;
und etwas Traumbafteds und Verfcbleiertes bleibt ihnen. Die äußeren Creigniffe
werden nicht als künſtleriſches Objeft Selbjtywed; fie dienen nur der Entfaltung der
Gejtalten, die Ricarda Huch in immer größerer Fiille und Tiefe ihres Wejens erſchaut.
Die dupere Folge der Behandlung bat etwas Willfiirliches und Zufälliges: eine
wechſelnde Reihe von Vildern, in denen einmal diefe, einmal jene Farbe aufglüht;
etwas vom Spiel der Phantafie, der Erfindung bleibt in der Fiigung des Ganjen.
Es fteigt auf in der Seele eines Dichters, der fich in feine Vifionen verfenft und der
bald diefe, bald jene Seite feiner Geftalten entdedt.
Ricarda Huch hat fic in ibrer Dichtung „von den Königen und der Krone” mehr
nod als in ihren anderen Romanen eine Atmoſphäre gefdaffen, die etwas vom
Märchen hat und die dod aud) die Wirklichfeit rein und gwanglos aufnimmt. Cin
Bergvolk irgendwo am Adriatiſchen Meere, eine aus grofen Volferbewegungen iibrig
gebliebene Inſel, in unzugänglicher Gebirgzeindde, von deren Wildbeit und ein—
jamer Herbheit das Wefen der Menfchen fic) verſtärkt abbebt; das gibt den Hinter-
grund fiir Den Roman. Unter diefen Menſchen lebt nod die Königsfamilie, geringe
Arbeiter, wie die andern, ja nod geringer; denn eS war aus alter Seit, da man die
Königsfamilie durch abſichtlich yur Schau getragene Geringſchätzung vor Erfennung
und Verfolgung fciigte, die Gewohnbeit geblieben, iby mit Verachtung und Bös—
willigteit zu begegnen.
An dieſem Zug wird ſchon die Art der Symbolik Peutlich, in der das künſtleriſche
Weſen der Ricarda Ouch ſich ganz befonders rein und ftarf entfaltet. Sie reibt die
äußeren Ereigniſſe, die fie mit ſtiller Objeftivitdt berictet, an dem Faden tiefer
innerlicher Lebenseinfichten auf; der Faden felbit bleibt verborgen. Die feelifchen
Konjequengen, an denen ſich ibre Erzählung fortipinnt, find Wabrbeiten, Urteile einer
tiefen, von Schmerz und Luft errungenen Lebenspbilofophie. Wher nie wird das äußere
Bild gum fteifen Gleichnis, zur moralpredigenden Allegorie. Ganj leije nur bebt ſich
hier und da eine Linie bedeutungsvoll beraus, an der der tiefe Sinn des Ganjen
leichter erfannt werden fann. Die Gefchichte von den Königen und der Krone ift
472 p Bon ben Ronigen und ber Krone.”
ſymboliſch in diefem feinen und edt künſtleriſchen Sinne. Cie begleitet zwei aus
dem alten Königsgeſchlecht, die beiden legten, auf ihrem Wege durch die Welt. Laftaris
königlicher Sinn bat ſich nicht mit dem Tageldhnerdajein in den heimiſchen Bergen
beqniigt; er zieht mit feinem Sohne Lasfo aus, um fic) draufen ein cigenes Schidjal
zu febaffen. Wild und bunt ift fein Leben; eS verflicht ifn mannigfacd mit menfdliden
Verhaltniffen, feltfamen und abenteuerlichen in fernen Landern und gang tagbellen
und nüchternen.
Ricarda Huch erfaßt mit ibrer Charakteriftif menfeblices Wefen in gewiffem Sinn
weiter als irgend cin Riinjtler der Gegenwart. Der moderne Roman bat fich
- eine techniſche Okonomie gefdiajfen, nad) der die Charaktere in wenigen grofen Ziigen ent-
iworfen und dann mit einer gewiſſen Strenge und Sparjamfeit durchgefiibrt werden. Bei
Ricarda Oud) find die Grenjen, innerhalb derer fich das Wefen ihrer Menſchen erſchöpft,
ſchwebender; fie verſchwimmen im Reich unendlicher Miglichfeiten; die adeligiten und
sarteften Empfindungen, aber aud) qraufame Inſtinkte, Blutgier und Leidenſchaft umſchließt
die Sphäre ciner Perſönlichkeit, eines Menfchenlebens. Die ungeheure Macht der Stimmung
ijt ibr bewuft, die ratfelbaft, wie Nebel um Berghäupter aus unbefannten Tiefen
aufiteigt und den Menſchen unentrinnbar einhüllt. Wie wenn das unficdere, wedfelnde
Licht eines fladernden Feuers mit den Farben und Konturen der Dinge fpielt, fo
erfcbeint dad Weſen ihrer Gejtalten im Wechſel der Stimmungen, die bald diefe, bald
jene Züge aufleuchten laffen, bald alles in Dunfelbeit taucen, bald den Ausdrud ibres
Wefens grotest verzerren. Wie faum ein anderer Seelenfundiger beobadhtet fie das geheime
Muf und Ab des Lebensfluibuns im Menſchen, das ihn bald feine Umgebung mit
voller Cnergie und wachen Cinnen nabe und vertraut empfinden läßt, bald alles
müde in blafje Fernen rückt.
Und doch beben fics ſchließlich die Menſchen aus dem bunten Spiel ihres Lebens
als etwas Ganjes und Wefenhaftes. Bon den beiden Trägern des Königtums ijt
Laſtari der ſtärkere. Ungeſchwächt nährt ibn die ungeftiime Blutfraft feines königlichen
Gefcblechtes; fie treibt ihn von Land gu Land, von Schickſal zu Schidjal, von Unter:
nebmen zu Unternebmen. Ob er in feinem grofartigen fouverdinen Selbjtvertrauen, in
feinem Stolz und der Sechuglofigfeit einer edlen Naivetat unter den „krämerklugen“
Menſchen immer wieder fcheitert, ev bleibt ungebeugt; immer neu fteigen in ibm weit:
ausgreifende kindlich-kühne Blane auf, mit denen ev unbedenflic) über das Schidfal der
Menſchen, die ibm nabefteben, verfiigt, gleidgiltig, ob fiir fie zu Schmerz ober Luft.
Kein Lebensleid dringt in die heimlichen Quellen feiner Kraft zerſtörend und vergiftend
hinein, fremd und ſtark, unbewußt in ſich felbjt rubend, gebt er feinen Weg an den
Menſchen vorbei, die fid) vom Leben quälen laffen. Und nod als er gegen Speife
und Trank vor den Häuſern der Dorfbewohner jingt, ftebt er als Herrſcher da, der
mit ſtolzem Bebagen die Menfchen, deren Dienjte er empfingt, an der majeftitijden
Schinheit feines Weſens teilnehmen läßt.
Mit wehmütiger Liebe hat die Dichterin gegen ſeine glückverbürgende equijtijche
Kraft die Geftalt des Lasko abgeboben. Jn hundert feinen bunten Refleren fpiegelt die Er—
zählung feine jarte Beweglidfeit zu Freude und Lcid, die verſchwenderiſche Dppigkeit
feiner Dichterfeele, Die nun. von feder und liebenswürdiger Laune fiberfprudelt, dann
aus tiefverborgenem, ſehnſüchtigem Schmerz wunderbare Geftalten und Schichſale dichtet.
Ihm ſpringen, „wie dem edlen Kind des Märchens, mit den Worten, die er ſpricht,
Perlen und Edelſteine von den Lippen.“ Aber unerſchöpflich ſind die Schmerzen, die
ie.
„Von ben Königen und ber Krone.” 473
der mie endende Reiz de3 Häßlichen, Schweren und Unzulänglichen im Leben und in
den Menſchen ibm erzeugt. Dann erregt fich fein königliches Blut yu bitterer Feind-
feligfeit gegen alle, die feine wunde Seele mit Cigenfucht oder Liebe qualen, fein Haß
fucht die geheimen Schwächen der Menſchen zu trejfen, die Har und quälend vor feinen
helljichtiqen Cinnen fliegen. Und wenn fold) Sturm in ibm wütet, „ſteht feine Seele
trauriq und jitternd in einen Wintel gedriidt,” ein Fremdling im eigenen Hauje, das
cine ritjelbafte Macht gang erfiillt. Und immer liegt der Sinn der Rolle, die er im
Leben fpielt, in dem beimlichen Bewußtſein: „es hat feinen Zweck, die Dinge fo feit
an3 Herz zu ſchließen, die wir nad cinem bangen Augenblic wieder wegwerfen müſſen
und nie mebr ſehen.“ Für bas Leben find andere beftimmt, die werden ,,die Luft mit
ibrem Laden jittern machen, die ſchwer von unferm Staube ijt.” Jn einem Erlebnis
von Ddiifterer gewaltiger Symbolif wird es ibm bildlich, daß er der legte ſeines Ge—
feblechtes ijt, ju febwach, um feinen Ahnen gleich zu fein. Es ijt, als er feinen Vater
fucht, der im Gebirge von Ort yu Ort twandert.
„Er war unvermertt aus der Thalmulde heraus auf die Hocdebene getommen, die wie cin riefiger
Drachenleib über glimmenden Schagen hingewälzt fag, und ¢3 war, wenn ber Wind fic fiir einen
Augenblick legte, als vernahme man fein faucendes Atmen ober cin ſchwaches Knarren feiner glanglo3
dunkeln Schuppen. Der Himmel war weiß und rubte dict auf dem Sturm, der [aut hinter Lasto
herblies; was aus der unenbdliden Ebene bhervorftarrte — fable, wirre Eichen und faufende Föhren,
cinjam zwiſchen Geftriipp und Steinen —, verbreitete fein traumvolled Leben weit in die erregte Luft.
Diefen Weg mute der alte Laſtari auch gegangen fein, wenn er auszog, um gu betteln. Lasko dadhte
fic) feine wanbdernde Geftalt am duferften Ende bes Weges, den ex vor fich erfennen fonnte, breit und
geiwaltig, von cinem Mantel in Fetzen umflattert, unter deffen Schutze der zierliche Jüngling folgte.
Bielleicht ging er im Schlafe, welden Vermögens ex in fritherer Zeit fic) gern gerithmt hatte, und
wahrend cr ftetiq durch bie tönende Cindde fehritt, ſchwangen fic) dic unerſchöpflichen Zaubergeburten
ded Traumes durch feine Seele. Das Rollen des Winded wurde zuweilen fo ftarf, daß es fic) anbirte,
alé ob eine Herde wilder Roffe iiber bie Steppe donnerte, und Lasto mute von Beit gu Heit. ftillfteben
und fid) gegen ben Andrang ftemmen. Es ſchien ihm, als würde ber Raum zwiſchen ibm und ben
Geflatten feiner Einbifoung immer größer: hinter bem Wanderer fah er ein Bolf von Geiftern, bobe
Luftleiber mit hochgetragenen Hiuptern, cingebiillt in Gewänder, von denen nicht ein Sipfel fic im
Winde rührte. Die Alten waren es, die ihrem Sobne nachzogen; feiner blickte fic) nach ibm um, feiner
gab ibm ein Seiden, feiner erfannte ifn. Es war ibm gumute, als müſſe bad fo fein, als miiffe,
wibrend jene wie Rauchjiulen fiber Feuerbergen mächtig und ſicher am Horizonte binriidten, der Sturm
mit galoppterenden Oufen ihn gu Boden reifen und jertreten und die gudenden Seelen feined toten
Leibes jauchzend vor fich ber blajen, bid fie im Strome der Luft verfiegten.”
Die Stelle mag zugleich einen Cindrud von dem eigenwüchſigen dichteriſchen
Reichtum des Buches geben. In diefem finnlich ftarfen und dod fo merfiwiirdig
juriidbaltenden, auf alles Cenjationelle, Jähe, Nervenberiihbrende vornehm verzichtenden
Weſen des dichterifdyen Ausdrucks zeigt Ricarda Hud) eine künſtleriſche Selbſt—
jttindigfcit, bie fie ben Größten an die Seite ftellt. Ctwas, an das die geläufigen
Maßſtäbe der literariſchen Kritik nicht heranreichen, dad fie der Möglichkeit, in diefe
oder jene „Richtung“ eingeordnet, mit den an anderen Dichtern und literariſchen
Geſamtſtrömungen gebildeten Mitteln kritiſcher Beſchreibung beurteilt zu werden, ganz
entzieht.
Uns Frauen möge es verziehen werden, wenn in die reine Freude an dem
ſelbſtändig großen Künſtler ſich ein leiſes Gefühl des Triumphes miſcht darüber, daß
eine Frau dieſer Künſtler iſt.
— te
474
Geburtsurkunden vorehelicher Kinder.
H. Ludwig.
wt eee
Raddrud verboten.
@): „Soziale Praxis” brachte kürzlich durch drei ihrer Nummern einen Artikel,
„Gerechtigkeit“ betitelt. Cine Fille von Beijpielen liefert darin den Beweis,
dah diefe Kardinaltugend nur allju häufig durch Abweſenheit zu glänzen pflegt, nicht
nur in den perſönlichen Verbhaltnijfen von Menſch gu Menfch, die fic) ftets individuell
geftalten, fondern auc) in der Rechtfpredung, die Staates Stimme ijt, Staates Wille.
Gin anderes ijt es ibr, ob der Arbeiter ftreift, oder der Fabrifant ausfperrt, ein anderes,
wenn ein ftreifender Arbeiter Arbeitswillige zurückzuhalten fucht, als wenn Fabrifanten
diejenigen zu ſchädigen droben, die fich einem zu bildenden Ringe nidt anſchließen;
der ftreifende Arzt wird anders getwertet als der ftreifende Arbeiter; den Vorgefesten,
der einen Untergebenen mifbandelt, trifft geringere Strafe als den Untergebenen, der
im Affekt fic an feinem Vorgefesten tatlic) oder mit Worten vergreift. Cine Klafjen-
juſtiz drobt mit Zerfplitterung, wo Cinbeitlichfeit höchſte Loſung ſein müßte. Wo es
fic) um Gerechtigkeit bandelt, da follte es fich fiirwabr nur um ein ens unum, verum,
bonum bandeln.
Aber finnen wir uns denn twundern, daß die Rechtfprechung ſolche Wege ein-
ſchlägt? inden wir nicht überall ungleides Mag, in dem Verhaltnis von Leiſtung
und Lohn, in der Moral der Gefchlechter, auf dem Gebiete der Erziehung und Bildung,
in dev Handhabung des Vereinsgeſetzes wie in dem Vereinggefes felber, in dem Ab-
wägen der Berufsflaffen gegeneinander? Drängt eS fic nicht in die innigften und
zarteſten Verhältniſſe binein?
Vielfach erzeugt dieſes ungleiche Maß die Tragik des ſtellvertretenden Leidens.
Das ſtellvertretende Leiden! Auf geſchlechtlichem Gebiet durchzieht es unſer Leben in
wahrhaft grotesker Herbheit! Aberall ſonſt pflegen Verantwortlichkeit und Kraft Hand in
Hand zu geben, aus ihrer Vereinigung werden Privilegien abgeleitet; Volfern, Ständen,
Klaſſen, die nach Erweiterung ihrer Rechte ſtreben, wird meiſt entgegen gehalten, daß
ſie noch nicht ſtark und reif genug wären, die damit verbundene Verantwortlichkeit zu
übernehmen. Auf geſchlechtlichem Gebiete herrſcht das umgekehrte Verhältnis; dem
Starken wird der ſchwerſte Teil der Verantwortlichkeit abgenommen und dem Schwachen
aufgebürdet; das Prinzip, das im politiſchen und ſozialen Leben eine ſo große Rolle
ſpielt, wird hier auf den Kopf geſtellt, es kehrt ſein Innerſtes nach außen. Freilich
fällt die Verantwortlichkeit hier ſofort mit Strafe und Leiden zuſammen, und Leiden
iſt eben nicht des Starken Sache. Die Folgen gemeinſamen Handelns legt er in ihrer
niederdrückenden Schwere auf die ſchwächere Gefährtin, die gewöhnlich auch die Un—
ſchuldigere iſt.
. Geburtsuctunden vorebelider Rinder. 476
Bei ibr wird ftellvertretendes Leiden dem Leiden fiir eigenes Tun hinzugeſellt,
eine Doppellaft, die zur harten Anklage wird durd) ihre Unnatur, ibre Ungerechtigkeit
und weitbingreifende Graujamfeit. Aber fie ijt fo oft aufgebiirdet worden vor aller
Augen, fo oft getragen worden im hellen Tageslict der Gejege und Citten, dag fie
als mitgewablt gelten könnte, als ihre Trigerin das wablte, was zu ihr führen mußte,
sum mindeften fic) ihm nicht entzog. Wollen wir hier von Schuld ſprechen, fo ijt
immerbin eine Schuld ba, ein Tun, mit dem das zukünftige Leiden ſchon gegeben war.
Aber die Folgen enden nicht in dieſem zur Halfte verſchuldeten Leiden, fie
branden weiter und ergiefen fic) mit voller Wucht auf den Unſchuldigſten, den ab-
folut Unſchuldigen; ftellvertretendes Leiden legt fich anf fein Dafein von Anbeginn an.
Das Kind muß am barteften büßen, wenn feine Eltern Außenwege wandelten und
nicht durch die Pforten der Ehe zu ibrer Vereinigung fdritten. Schon vor der Geburt
ijt es cin Beraubter und zugleich Belaſteter, es tritt ins Leben, ein Ausgefonderter,
fiir den Sondergefege geſchaffen find, die feine Sonderſtellung ftarf charafterifieren,
Es werfdrpert die Schmach feiner Mutter, als Schmach wird es zur Schmach geſtellt,
ihre Doppellaſt iſt die ſeine und die eigene kommt bingu.
Wohl bricht in unſerer Zeit eine gerechtere Beurteilung ſich Bahn, aber nicht
allerorten und allerwegen, wohl gewährt das Geſetz dem unehelichen Kinde mehr Schutz,
aber doch nicht genügend, um es fiir dad zu entſchädigen, wads es entbehren mug und
für das, was es heraushebt aus dem feſten, geachteten Gefüge, das als Grundlage
des Staates und aller Geſittung geprieſen wird. Der Kwilecki-Prozeß hat uns in
einen Abgrund der Ungerechtigkeit, der Grauſamkeit, eines Egoismus, der an Ent—
menſchtheit grenzt, blicken laſſen. Wo folche Affekte herrſchen und fic) tummeln ditrfen,
wo fie knicken, vernichten, niederhalten dürfſen, wo fie jum Vegetieren und ſittlichen
Verkommen verurteilen dürfen, da iſt die Unzulänglichkeit des öffentlichen Rechts
offenbar, da iſt irgendwo eine Lücke, die den gewährten Schutz illuſoriſch macht. Mit
allen Mitteln muß daran gearbeitet werden, die unehelichen Kinder den ehelichen
möglichſt gleich zu ſtellen; das Unterſcheidende iſt an ſich ſchon gegeben und wiegt
ſchwer genug; die Geſellſchaft, die es verſchärft, verletzt nicht nur alle Gebote der
Gerechtigkeit, ſie ſchädigt ſich ſelbſt und ſchafft eine Wunde an ihrem eigenen Körper.
Leider wird bei uns dieſes Unterſcheidende geſetzlich auch da aufrechterhalten, wo
die Eltern getan haben, was in ihrer Macht ſteht, um es zu verwiſchen, wo ſie nach—
träglich eine Ehe eingegangen ſind, die ihr Kind legitimierte. Bei Einführung des
Bürgerlichen Geſetzbuches iſt namlich die Beſtimmung in Kraft geblieben, daß wörtliche
Abſchriften des Geburtsregiſterblattes ſeitens des Standesamts als Geburtsurkunden
ausgeliefert werden. Die Kinder, die vorehelich geboren, längſt aber legitimiert worden
ſind, erhalten dadurch eine Urkunde, die ſie als unehelich bezeichnet. Am Rande
befinden ſich erllärende Bemerkungen. Vor Einführung des Bürgerlichen Geſetzbuches
hieß es da z. B.: „Der Vater erklärt, ſein Kind erzeugt zu haben.“ Wie die Rand—
bemerkungen nach Einführung des Bürgerlichen Geſetzbuches gehalten ſind, lehren uns
Formular A 3, auf Seite 25 der Vorſchriften yur Ausführung des Geſetzes (Carl
Heymanns Verlag, Berlin); da ftebt: ,Die Witwe Hartung erflirte, dab fle von der
Niederfunft aus eigener Wiſſenſchaft unterrichtet fei”, — ferner die Fornulare A 3
bezw. A 4, wo es beifft: „Der Weber Reinide erklärt, daß er feine Vaterſchaft an-
erfenne”, und „der Dienſtknecht Naumann erflart, dah das nebenbezeichnete Kind das
feinige ijt”.
476 Geburtsurfunden vorebelicher Kinder.
Weld eine moralijde Wirkung eine derartige Geburtsurfunde auf diejenigen aus—
iiben mup, denen fie verabfolgt wird, ift leicht erfichtlid). Die Konfirmation des Kindes
pilegt ibre Forderung zu veranlaffen. Bei den Cltern wird längſt Nberwundenes auf:
gededt. Was ibnen in der Verklärung ibrer jungen Liebe oder aus einer Anfdauung
heraus, die unfere ſchwierigen wirtſchaftlichen Verhaltniffe groß gezogen haben, als durch—
aus gerechtfertigt erſchien, und unantaſtbar in ſeiner Ehrenhaftigkeit, feſt verwachſen
mit einem Pflichtgefühl, dad treu aushielt, bis es fic) in die Tat umſetzen konnte, das
hat ſich urplötzlich in etwas unſagbar Trauriges verwandelt angeſichts des Kindes,
deſſen Augen auf der Randbemerkung ruben. Es iſt unmöglich, vierzehn- bis ſechszehn—
jährige Kinder zu einem Verſtehen zu bringen, das die Not ihres aufgeſchreckten Be—
wußtſeins tilgt. Jede Entſchuldigung der Eltern klingt wie eine Anklage, keine
Erklärung wäſcht das Wiſſen fort, das zum Grübeln reizt und zum Stachel wird.
Und dieſes Wiſſen muß das Kind nun jedem zuführen, zu dem es in ein ernſteres Ver—
hältnis tritt. Die Konfirmation hat ihren Glanz verloren, die neue Laſt, eine ſo
ſeltſame, unerwartete, ſo unbegreifliche Laſt hemmt jeden Aufſchwung. Was die
Enthüllung dem jungen Menſchen gebracht hat, iſt in ſeiner ganzen Tiefe auch ſchwer
zu erfaſſen.
Eltern, die er beieinander ſah vom erſten Augenaufſchlag an, deren Gemein—
ſchaft ihm wie eine Naturnotwendigkeit erſchien, hier werden ſie voneinander getrennt,
das Band, das ſie umſchlingt, iſt zerriſſen. Am Rande, fern von dem Namen der
Mutter und dem des Kindes, ſteht die Erklärung des Vaters, wie das widerwillig ge—
gebene Bekenntnis einer Schuld. Wie ein Fremder ſteht er abſeits, und auf dem
Namen der Mutter ruht Schmach. Der Erſtgeborene hat eine traurige Ausnahme—
ftellung; wie Vater und Mutter hier voneinander getrennt werden, fo ijt er jetzt
getrennt von feinen Gefchwiftern. Sie brauchen fich nicht zu febeuen, wenn fie jum
Pfarrer gehen, und nicht gu ſcheuen, wenn fie fic) um Arbeit und Stellung bemühen,
mit ben Behörden ju tun haben, ihre Geburtsurfunde ift ohne Fleden. Der junge
Menſch wird ein ifolierter im Schoße der Familie.
Und feine Eltern haben alles mit ju durehleben, fic) immer wieder preiszugeben,
fic) an den Pranger ju ftellen mit ihrem Kinde. Bet jedem Herzeleid, das ibrem
Kinde zugefügt wird, bei jedem roben Wort, bet jeder unjarten Bemerkung, die es Hort,
müſſen fie fitrdyten, feine Liebe und Achtung einzubüßen, falls das Wort der Cnt-
frembung, der bitteren Loslöſung nicht ſchon volljogen ift durch jene Urkunde felbjt, die
ibnen fo und nicht anders auszuhändigen der Staat in feinen Gefegen angeordnet bat.
Aus dem Verhaltnis gegenfeitiger Liebe und Achtung ijt ein VBerhaltnis der Schuld
geworden, Schuldgenoffen die Eltern, fremde Schuld tragend nod über das Leben und
Leiden der Eltern hinaus der völlig Unſchuldige.
Und wer biirdet dem Unfehuldigen diefes ftellvertretende Leiden auf? Die
Eltern haben getan, was in ihren Kräften ftand, fie haben ihrem Kinde gegeben, was
fie gu geben vermochten, fie haben alle geſetzlichen Mittel erfcbdpft, um ihr Kind yu
einem ebelichen gu machen, das in feinen Rechten nicht hinter etwaigen Geſchwiſtern
zurückzuſtehen habe. Von dem Augenblide an, in dem der Vater nach der Verehelichung
mit der Mutter auf dem Standegsamt die Cintragung bat vollziehen Laffen, daß er das
Rind als das feinige anerfennne, von dem WAugenblide an ijt das Rind nicht mebr
das Kind feiner unverebelichten Mutter, fondern das Kind des Vaters, deffen Namen
es tragt, und der verehelichten Mutter.
- *
Geburtéuclunden vorebelider Kinder. 477
Wer bürdet ibm alfo fein unverfdulbdetes Leiden auf, wer nimmt ibm dag
Beſte, wer beraubt die freie, die einftige Unterlafjung fiibnende Tat feiner Eltern des
tiefften, ded wahrhaft fittliden Werts?
Der Staat mit feiner ungliidjeligen Bejtimmung. Wie febr es ibr an innerer
Logif mangelt, lehrt das Leben unaufhirlich. Cin zwei Tage vor der Eheſchließung
geborenes, alfo am bdritten Tage feines Dajeins legitimiertes Kind, ijt auf der
Geburtsurfunde immer nod als unehelich beseichnet, cin zwei Tage nach der Ehe—
ſchließung geborencd Kind ijt legitim von Anbeginn.
Warum ift diefe Beſtimmung eingefithrt? Der Zwed ift nicht erfichtlid. Das
ſtatiſtiſche Material, das Zahlen- und Tatſachenwahrheit bieten foll, bleibt unberiibrt,
es befindet ſich ja in den Geburtsregiftern und ijt unabbangig von der Geburtsurkunde,
es ſteht der wiſſenſchaftlichen Bearbeitung nach wie vor unverfälſcht ju Gebote, auch
wenn für die biirgerliden Verhiltniffe ein kurzer Auszug zur Anwendung font.
Gin Awedlofes aber, das in fic) unzählige Keime ſittlicher Gefahrdung, des Elends
und ded Jammers trägt, das glückzerſtörend wirkt, verhängnisvoll in unzählige
Lebensgeftaltungen eingreift, darf feinem toten Prinzip juliebe aufrechterhalten
werden, es follte fallen.
Die Kirche ijt dem Staat mit gutem Beiſpiel vorangegangen, fie ftellt die
Taufſcheine vorehelicher Kinder fo aus, als waren fie in dex Che geboren. Der
Staat follte ifr folgen. Fort mit jenen Randbemerfungen, und der Name der ver-
ehelichten Mutter trete an die Stelle des Namens der unverebelichten,
Die „Jugendfürſorge“, eine Monatsfdrift, (Gerausgeber Franz Pagel), hat in
einem Urtifel, , Ther die Geburt8urfunden vorebelicher Kinder”, dieſe Sache guerft zur
Sprache gebracht. Der Berfaffer des Artikels ijt ungenannt geblieben, aber feine
Worte haben überall ergriffen, gezündet, Hoffnungen gewedt, verſchwiegenem Kummer
eine Stimme gegeben, einfame, verbitterte Herzen gu dent Bewußtſein eines Zuſammen—
hangs gebradt, den reine, mitleidgetragene Nächſtenliebe ſchafft. Seine Worte haben
Hoffnungen gewedt, die Hoffnung, dah Volkes Stimme Gottes Stimme werden finnte,
cine Stimme, die Madit gewinnt, auch das Feſteſte zu brechen. Volkes Stimme aber
miifte werden, was faſt eines Volkes Leid ijt, denn nach den freilich nur vorläufig
angeftellten Durchſchnittsberechnungen dürfte das Deutſche Reich nahezu eine Million
legitimierter Kinder zählen, das gibt eine Million Vater und eine Million Mütter,
die unter der entiprechenden Beftimmung des Bürgerlichen Geſetzbuchs Leiden.
Es ijt daber mit Freuden zu begriifen, daß der Jugendfiirforge-Berband der
Berliner Lehrerſchaft cine Petition vorbercitet, die die Abanderung diejer Beftimmung
beantragt. Alle Frauen: und Lebrerinnenvereine, wie jede deutſche Frau, follten dieje
Petition yu dev ihrigen machen.!)
1) Bal. dic Petition, gu deren Unterftiigung aud wir aufs wärmſte auffordern, im Auszug unter
der Rubrif: Berfammlungen und Bereine.
478
Vie Bedeutung schulhygienischer Bestrebungen
fiir die Prauen und fir die Pamilie.
Bon
Elsbeth Rrukenberg.
— —
Nachdrud verboten.
enn der internationale Kongreß fiir Schulhygiene auc) Frauen zur Beteiligung
VS an feinen Berbandlungen eingeladen bat, jo ift er dabei gweifellos pon dem
Geſichtspunkt ausgegangen, dah feine Bejtrebungen durch faum etwas andereds
fo weſentlich unterftiigt werden können, als dadurch, daß dad Intereſſe der Frauen fiir
die bier zur Verhandlung fommenden Fragen erwedt wird. Nicht nur das Intereſſe
der Lebrerinnen, die ja ibe täglicher Beruf von der Notwendigfeit vermebrter ſchul—
hygieniſcher Maßnahmen immer wieder überzeugt. Die Lebrerfdaft allein tut es nicht.
Von gleich grofer Bedeutung ijt eS, das Intereſſe des Haufes und — gang bejonders —
der Miitter fiir die Schulhygiene zu gewinnen.
Su der Hand der Mutter liegt in faft allen Familien die Erziehung der Kinder
bis jum febulpflichtigen Wlter, dad Verſtändnis, die Befahigung der Mutter fiir diefe
ihre Erziehungsaufgabe ijt entſcheidend fiir körperliche und ſeeliſche Entwicklung
ihrer Kinder.
Die Schule iſt in ihren Erziehungsbeſtrebungen auf das Schülermaterial an—
gewieſen, das daheim unter dem Einfluß der Mutter heranwuchs. Will man geſundes
Schülermaterial — und das ijt dod) das einzige Material, auf dem die Schule wirkſam
aufbauen fann —, fo muß man die Mutter von der Bedeutung ihrer Arbeit zu über—
jeugen ſuchen, man muß fie erfennen lebren, wie unmöglich es ijt fiir die Schule,
das nachzubolen und twieder gutzumachen, was in der erften, der Familienerziehung,
verſäumt wurde. Auch auf dem Gebiete der Schulbygiene gilt das, was wir auf fo
vielen anderen Gebieten als bedeutjam erfernen: daß das Vorforgen beffer ift als
das Rachforgen. Wenn es gelingt, bet den Müttern Verſtändnis dafiir gu weden, in
weld) engem Zuſammenhang die erſte grundlegende Erziehungsarbeit an. den Rindern
mit jedem Gedeiben und Fortfdreiten im fpateren Leben, insbejondere im Schulleben,
jtebt, fo find die ſchulhygieniſchen Beftrebungen ibrem Biele einen weſentlichen Schritt
näher geriidt.
Denn auch nach Cintritt des Kindes in die Schule bleibt dic Bedeutung der Mutter
als widhtigfter häuslicher Erziehungsfaktor befteben. Celten wird ein Bater die Zeit,
und jelten wird er Neigung und Geduld genug dazu haben, fic um die Cinjelbeiten
in der Erziehung feiner Kinder gu fiimmern. Darum erwarten wir mit Redyt, daß
die Mutter auc) tweiterhin in erfter Linie für das Kind forgt, mit Recht machen
wir fie fiir Verfiumniffe auf dem Gebiete häuslicher Kindererziehung an erjter Stelle
verantwortlih. Die Art unferer Schulfinder pflegt ein getreues Spiegelbild von der
Art der Eltern — und ganz befonders der Mutter — ju geben. Forſchen wir bei
nervöſen, zerjtreuten, unordentlichen, unpünktlichen Rindern der Urfache diefer ftdrenden
Eigenſchaften nach, fo werden wir in der Mehrzahl der Falle im Clternbaus eine Mutter
finden, die ihrer Mufgabe nicht gewachſen ijt oder die fie gedanfenlo3, obenbin ausübt.
Derartiq unbequem tt 3. B. Müttern, die eingiq daran denfen, ibr Leben mit Be:
hagen zu geniefen, der ftreng regelnde Einfluß der Schule, dag fie häufig genug —
wenn aud balb unbewugt — gegen die Schulregeln Gegenpart ju balten verfuchen.
PY
Die Bedeutung ſchulhygieniſcher Beltrebungen fiir bie Frauen und fiir die Familie. 479
Sie lehren die Kinder, um Forbderungen, die die Schule an fie ftellt, herumzugehen
und find weit davon entfernt, ibrerfeits folde Forderungen wirffam zu unterftiigen.
Nehmen wir einige uns heute nabeliegende praktiſche Beifpiele. Wie felten wird
der Arbeitsplatz der Kinder im Hause mit Verjtindnis gewählt, wie felten fiir eine
eſundheitsgemäße Arbeitsweife, fiir ausreichende körperliche Bewegung, die die Kinder
Pie die Schule friſch erhalt, Sorge getragen, Die erften Schuljahre allenfalls alten
das Anterefje der Miitter nod) rege. Je Langer aber das Lernen dauert, je mehr die
Kinder heranwadjen, defto läſtiger fcbeint der durd) die Schule geithte Zwang. Der
Refpeft vor den Lebrern wird in gar vielen Haujern wiſſentlich untergraben, der
Möglichkeit wirkfamer Beeinflujjung durch die Schule — auf pädagogiſchem wie auf
ſchulhygieniſchen Gebiete — wird dadurd von vornberein jeder Soden entzogen.
Ganz abgefeben davon, dah es Mütter gibt, die ſchon die Kinder zu Zerjtreuungen,
Vergniigungen mit heranziehen, fie bis fpat in die Nacht binein auffigen laſſen, und
yon der Citelfeit gang zu ſchweigen, die zarte Rinderfdrper ciner veriverflicden Mode
wegen in Rorjette einſchnürt, cine Schadigung, die übrigens in den durchaus gefundbeits-
widrigen, immer höher und enger werdenden Stebfragen, die unfere Jünglinge {chon
auf der Schulbank tragen, ein Gegenſtück findet.
Run ijt aber nur in vereingelten Fallen wirklich böſer Wille vorhanden. Meijt
feblt e3 an Einſicht, an Verftindnis fiir da8, was dem Sahulfinde not tut. Welchem
Widerftand begeqnet 3. B. die Forderung ausreidender und ungebinderter körperlicher
Bewegung bei den Miittern unjeret Madden! Wie lange hat man fic, gerade im
Kreiſe folder Miitter, denen althergebracdte Begriffe von Schidlidfeit als Norm
gelten, dem heilſamen Cinflujje des Mädchenturnens widerfest. Wie ftrduben fic) die
Miitter gegen verftindige, den Kirper unverbildet erhaltende Kleidung. Wenige Miitter
erachten es fiir eine wirklich notiwendige Ausgabe, fiir das Schulkind ein richtig
gebautes UArbeitspult anzuſchaffen, ihm tagsiiber und Abends einen gut beleuchteten
tubigen Plas zum Arbeiten einzuräumen, und wenige tiberlegen fic) eine der Lebens-
weife eines Schulfindes angepaßte, ausreidende und dod nicht überernährend wirkende
Dist. Das alles fcbeinen Kleinigkeiten. Aber fie fpielen im Leben des Kindes eine
Rolle, beeinfluffen fein Wobhlbefinden, feine körperliche und geiftige Leiſtungsfähigkeit
aud) in der Schule.
So ſcheint e3 im Jntereffe der Schule gu fliegen, in den Müttern Verſtändnis
fiir geſundheitsgemäße Regelung des Tageslaufs ibrer Schulfinder zu weden. Aber
aud das mütterliche Jnterefje fordert aufs dringendfte Förderung und felbjttatige
Unterjtiigung ſchulhygieniſcher Bejtrebungen.
Mit hingebender Liebe und Sorgfalt tiberwadht eine rechte Mutter das Gedeiben
ihres Kindes. Stol; und froh ijt jie, wenn es gejund und kräftig beranwidjt, geiſtig
frijeh und angeregt ijt, Dann kommt die Schule, und nun mug gar manche Mutter mit
anjeben, wie der fleine nod nicht widerftandsfibig gewordene Körper den an ibn
berantretenden Forderungen nicht gewachſen ijt, wie er ermildet und die Spannfraft
verliert. Den Cintritt in die Schule ein fiir allemal auf das fechfte Lebensjabr feft-
gulegen, wird von vielen Seiten, aud) von erfabrenen Pädagogen, fiir unridtig gebalten.
Ein Jabr mehr freier körperlicher Cntwidlung bedeutet fiir die Kinder faft durchweg
großen Gewinn. Dazu fonunen die häufig genug nod ganz unbygienifden Cin-
tichtungen der Schule, die auf die Kinder nachteiliq einwirfen. Die Naume, eng und
beſchränkt, bejonders wenn e3 fic) um private Mädchenſchulen handelt. Fir Aus—
geftaltung unferes öffentlichen Madchenfdulwefens haben Staat und Gemeinde ja
befanntlidy felten genug Geld übrig. Die Ventilation äußerſt mangelbaft. Auf Banten
yon gan; veralteter Ronjtruftion in häufig durch ungeeignete Ofen volljtindig über—
heizten Räumen fiben die Kinder Stunde fiir Stunde, vielfach obne fic) rühren zu
diirfen. Und die Anforderungen an ibr Lernvermigen find — in den Mädchenſchulen
wenigitens — gegen frühere Jahrzehnte bedeutend gewachſen, wenn es ſich auc) vielfach
nur um Memorierftoff, nicht um Anregung zu felbftindigem Denken handelt. Ob das
der körperlichen Entwicklung, die fiir die künftige Mutter doch eine befonders bedeutjame
Rolle fpielt, sum Segen gereicht, iſt oft —8 worden. Dringend iſt jedenfalls zu
480 Die Bedeutung ſchulhygieniſcher Beftrebungen fiir die Frauen und fiir die Familie.
fordern, daß aud die Mädchen unter gleich) giinftigen ſchulhygieniſchen Bedingungen
wie die Knaben arbeiten. Die Gefundheit des Volfes leidet, wenn der Staat auf
eine gejunde Entwicklung der finftigen Mütter nicht geniigenden Wert legt.
Daß der Staat die Aushildung der Knaben foviel höher einfchagte und in
fo viel umfafjenderer Weife beriidjichtigte als die Erziehung der Madden — eine
Pflicht, der er erjt neuerdings gerechter zu werden verſucht — das lag zweifellos mit
daran, dah man die Frauen, die Miitter, obwobhl fie naturgemaf die gegebenen
Leiterinnen und Erzieherinnen ihrer Töchter find, von jedent makgebenden Cinfluf
auf die Geftaltung der Mädchenſchule fern hielt, daß man es ibnen unmöglich machte,
in derfelben Weife auf geſundheitsgemäße Arbeitshedingungen fiir die Töchter ded
Bolfes zu drängen, wie der Mann für ſolche geſundheitsgemäße Wrbeitsbedingungen
fiir die die Schule befuchenden Söhne eingetreten ijt. Damit will ich nicht fagen,
daß der Mann, der Vater fein Herz habe fiir feine Todhter, daß er ibre Ausbildung
mit Wiffen und Willen vernachlajfige. Aber ijt es nicht ganz natürlich, daß jeder
das, was feinem eigenen Gefchlecht not tut, am beften beurteilen faun? die Fran in
diefem Fall alfo berufener ijt, als der Mann, der fich wohl — das werden ficher alle
zugeben — in die Art eines jungen Mannes, aber doc nie in das Empfindungs- und
Entwidlungsleben eines jungen Mädchens verfegen fann. Das fann eben nur die
Frau, die Lebrerin oder die Mutter. Colder Erkenntnis entipringt die Forderung,
Frauen Sig und Stimme in der fommunalen Sdulverwaltung ju geben.
Dah Miitter dabei berückſichtigt werden, nicht nur Lehrerinnen, das möchte ic aus
dem einen, der beutigen Verſammlung befonders nabeliegenden Grunde befiirworten,
weil bie Mutter, ſelbſtverſtändlich nur, wenn fie einjidtiq und verſtändig genug tft,
mebr Wert vielleicht nocd als die unverheiratete Lebrerin auf das körperliche Gedeiben
der Tichter legt. Wei fie doch aus eigenfter CErfabrung, welche Bedeutung cin
geſunder, kräftig ausqebildeter Körper fiir den Mlutterberuf bat.
Run ift die Forderung, Frauen in die fommunale Schulverwaltung einzuſtellen,
durchaus nicht neu und tiberrafdend. Schon eine preußiſche Miniſterialverfügung
pom 26. Suni 1811 beftimmt: „Bei der Aufſicht über die Töchterſchulen werden die
Schuldeputationen die verftdndigften und achtbarſten Frauen aus den verſchiedenen
Stinden zu Rate ziehen, ihnen wefentliden Anteil an Schulbeſuchen, Priifung und
Beurteilung der Arbeiten, der Erziehung und Unterweiſung geben und die Hausmiltter
des Orts auf alle Weife fiir Verbefferung der weiblidhen Erjiehung gu intereffieren
fuchen.”
Uber diefe Verfiiqung, die ja freilich heutigen Verbaltnifjen nidt mebr recht angepapt
ijt, war in Vergeijenbeit geraten. Man unterjtellte die Mädchenſchule mehr und mebr
ſtaatlicher Aufſicht. Man verſäumte aber, der Frau die ibr zuſtehende Anteilnabme
an det — ihrer Töchter durch Teilnahme an der Geſtaltung und Uberwachung
der Mädchenſchulen yu ſichern. Das Produkt, dad bei dieſer Ausſchaltung jeglichen
Fraueneinfluſſes bei der Einrichtung von Mädchenſchulen herauskam, die ſo vielfach
verſpottete körperlich wie geiſtig verbildete, unreife oder frühzeitig überreife höhere
Tochter war — man braucht das heutzutage kaum mehr zu erwähnen — keineswegs
erfreulich.
Frauen — ſo fordern wir — ſollten in allen die Erziehung ihrer Töchter
betreffenden Fragen als kompetente Beurteiler mit herangezogen werden. Das würde
auch das Verantwortlichkeitsbewußtſein in unſeren Müttern ſtärken und
wecken. Nicht nur Lehrerinnen, ſondern auch Mütter müßten das Recht haben, durch
Mitarbeit in den Schulkommiſſionen auf die Notwendigkeit vermehrter ſchulhygieniſcher
Maßnahmen in den Mädchenſchulen hinzuwirken, die allzuoft — ich wiederhole das
nochmals — im Vergleich yu den Knabenſchulen arg vernachläſſigt werden. Das gilt
weniger von den Volksſchulen, in denen Knaben und Mädchen ja meiſt gleiche Fürſorge
zuteil wird, als von den höheren Schulen, in denen für Mädchen faſt durchweg
ſchlechter geſorgt wird als für Knaben.
Der gleichen Auffaſſung, daß eine Frau vor allem berufen iſt, die weibliche Jugend
zu überwachen, entſpringt auch der Wunſch, Schulärztinnen in Mädchenſchulen an—
— ——
Die Bedeutung ſchulhygieniſcher Beftrebungen fiir die Frauen und fiir die Familie. 481
jujtellen, wie das von feiten einiger Stidte (Charlottenburg, Breslau) auch bereits
qejchehen ijt. Diefer Wunſch wird doppelt dringend, wenn wir in der Schulärztin
nicht nur den Berater de3 Sehulleiters in hygieniſchen Dingen ſehen, fondern ibre
Cinjtellung aud aus dem Grunde befiirworten, weil fie die berufenfte Perſönlichkeit
wire, um den Unterridht in der Geſundheitslehre zu erteilen, ein Unterricht, der in
ſchulhygieniſchem und volfshygienifecbem Intereſſe dringend zu wünſchen ift, der den
Madchen — ganz befonders den Madchen der oberen Schulklaſſen — aber mur durch
cine Frau wirklich wirkſam erteilt werden fann.
Die Einführung von Gefundheitslebre in den Unterrichtsplan ijt cin viel um:
ftvittener Punt. Für die Oberklaſſe ijt fold) Unterricht meijt vorgefeben. Wie er
gehandhabt wird, ift freilidh cine andere Frage. Man ſcheint vielfach nicht
Daran zu denfen, welche Vergeudung an VolfSsvermigen, Gejundheit und Kraft durch
Unfenutnis der Frauen in hygienifehen Dingen bhervorgerufen wird. Ernährung,
Reinigung, Kleidung liegt ſpäterhin durchiveg in den Händen der Frauen. Aber die
Schule beriicjichtigt das nicdt, Erſt langſam findet die Forderung, die Madchen fiir
ſolche ſie ſpäter erwartende Aufgaben durch rechtzeitige Unteriveifung vorjubereiten,
Verſtändnis und Unteritiigung. Cinmaliger furzer Hintweis aber geniigt nidt. Dringend
erwünſcht febeint e8, die Madden von klein auf mit den Gefegen der Gefundheits-
lehre vertraut 3u madsen, ſodaß ibnen das Gefagte frühzeitig zur ſelbſtverſtändlichen
Gewöhnung wird. Cine Unteriveifung int lester Schuljahre allein kann unmöglich
dieſelbe nachdriidliche Wirkung üben, wie cin ſyſtematiſches Wiederholen und Vertiefen
von Anbeginn an,
Das gilt befonders, und das nicht nur in bezug auf die Mädchenſchule, wenn
man cinen Punkt der Gefundheitslebre beriidfictigt: die Aufklärung über die
Folgen des Alfoholmifbraudhs. Ach möchte folche geſundheitliche Unterweifung,
obwohl fie, wie ich ſpäter nod) ausführen werde, fiir die Knabenſchulen von befonderer
Bedeutung ijt, aus der Mädchenſchule nicht ausgeſchloſſen ſehen. Denn in diefen
Schulen wachſen unſere künftigen Mütter, die Bildnerinnen der fommenden Generation,
heran. Ihr Cinfluh auf die Erziehung der Jugend darf nicht gering eingeſchätzt
werden. Aud) die Miitter miiffen, wenn wir durchgreifende volkshygieniſche
Reformen herbeiführen wollen, die Gefabren erfennen lernen, die unjere
Volksgeſundheit bedroben. Cie miiffen die Beftrebungen ſtützen, die von feiten
der Schule betreffs rechtzeitiger Aufklärung der Jugend über die Folgen einer gefund-
heitswidrigen Lebensweiſe gemacht werden.
Die Amerifaner find uns auf diefem Gebiete weit voraus. Yn der unterjten
Klaſſe beginnend, wird dort in jablreichen Schulen Gefundbeitslebre, verbunden mit
Aufklärung über die ſchädlichen Folgen von Tabaf und Alkohol in jedem Sehuljabre
wiederbolt.') Das zuerſt in einfacher, findlicher, leicht faglicher Form Gejagte wird
in jeder folgenden Klaſſe vertieft und erweitert, fo dak das Kind nad und nad flare
und fichere Vorſtellungen über das erbalt, was der Geſundheit zuträglich und das,
was ibr ſchädlich ijt. Die Belebrung fest cin — darauf möchte ich befonderen Wert
legen —, bevor das Rind in Verſuchung geführt ijt.
Das möchte ic) vor allem fiir unfere Knabenfchulen befiirworten. Schon vorbin
wies ich Darauf bin, wie notiwendiq rechtzeitige Belebrung der männlichen Jugend
fiber die nachteilige Einwirkung de3 Alkohols auf den noc) unentwidelten jugendlichen
Körper ijt, tiber die ſchweren Schädigungen, die nicht nur notoriſche Trunkſucht,
ſondern ſchon das gewohnheitsmäßige Trinken in jungen Jahren und auch im ſpäteren
Leben hervorruft. Wir begegnen da einer eigentümlichen Erſcheinung. In den
Volfsfehulen wird vielfach vor den Folgen des Alkoholmißbrauchs gewarnt. Die
bekannten Tafeln mit Darſtellungen über den mangelnden Nährwert des Alkohols, über
die durch den Einfluß des Alkohols entarteten menſchlichen Organe, werden in den Volks—
ſchulen aufgehängt. Unter den Volksſchullehrern macht die Abſtinentenbewegung immer mehr
) Vergl. den Artikel „Der Kampf gegen den Alkohol“ im Septemberbeft 1903. Siehe auch
Zentralblatt fiir die geſamte Unt..Verw. in Preußen. Dezemberheft.
31
482 Die Bedeutung ſchulhygieniſcher Beftrebungen fiir die Fraucn und fiir die Familie.
Fortſchritte, aus der richtigen Erfenntnis heraus, dak der Lehrer nicht nur in Worten,
fondern aud in Taten den Schülern Vorbild fein foll. Daß Kinder von der Schule aug,
wie das 3. B. in Riederbavern gefchieht, yur Feier von des Pringregenten Geburtstag
Wurſt, Brot und ,a Bier” befommen, ijt dod nur eine vereinjelte, typiſch bayeriſche
Erjdeinung. Im ganzen nimmt e3 die Volfsfdule ernft mit ibrer Warnung vor
dem Alkohol. ,
Gang anders auf unferen höheren Schulen. Es hieße ja unjer ganzes
ſtudentiſches Treiben, dem die jungen Leute dod) zuſteuern, verurteilen, wenn ein
Lebrer gegen Komment und Trinffitten, denen er als früherer Studiofus oft ſelbſt
faum entiwachfen ijt, energifeh Front madsen wollte. Wie oft findet fic yum Schaden
unferer Jugend ein iibertriebenes Nachabmen ſtudentiſcher Sitten, trotzdem eS offiziell -
verboten wird, fdon auf unferen realen und gymnaſialen Anjtalten. Alkohol in
Mengen vertragen ju finnen, gilt als bewundernswert, als mannlic und forſch.
Selten mur * ein Lehrer nachdrücklich warnend ſeine Stimme, und es gehört
beſondere Charakterfeſtigkeit, die in ſo jungen Jahren wohl nur vereinzelt zu finden
iſt, und beſondere, auf der Schule leider kaum zu gewinnende Einſicht dazu, der
Verführung durch Kommilitonen zu widerſtehen. Unſere Lehrer, unſere Arzte — daran
müſſen wir immer denken — ſind ja vielfach ſelbſt noch mit ganz anderen Anſchauungen
über den Alkohol groß geworden. Sie müſſen wie wir alle erſt umdenken, ſich umge—
wöhnen lernen. Dadurch erklären ſich die außerordentlich großen Schwierigkeiten, mit
denen Reformen auf dieſem Gebiete in Schule und Haus zu kämpfen haben. Denn
gerade auf dieſem Gebiete muß das Haus die Schule nachdrücklich unterſtützen. Das
gute Wort des Lehrers kann nicht ausgleichen, was das böſe Beiſpiel im Elternhauſe
verdorben hat.
Noch auf eine Frage, die heutigen Tages viel ventiliert wird, möchte ich zum
Schluſſe kurz eingehen: auf die Frage des ſogenannten Aufklärungsunterrichts in unſeren
Schulen. Sie muß meines Erachtens für Volksſchulen, für Knaben- und für Mädchen—
ſchulen geſondert behandelt werden. Die Verſchiedenartigkeit des in dieſen Schulen
vorhandenen Schülermaterials fordert Berückſichtigung. Jn der höheren Mädchen—
ſchule — das iſt meine perſönliche Uberzeugung — ſcheint mir Aufklärungsunterricht
über die Funktionen des weiblichen Körpers, über das Verhältnis der Geſchlechter nur
in beſchränkter Weiſe am Platze. Ein Lehrer kann ſelbſtverſtändlich ſolchen
Unterricht nicht geben, eine unverheiratete Lehrerin auch nur in ſeltenſten Fällen. Am
erſten noch eine naturwiſſenſchaftlich gebildete Frau oder eine Arztin. So weit angängig,
würde aber auf dieſem Gebiete das Haus, die Mutter, einzutreten haben. Einzel—
unterweiſung, eine bei zufällig ſich bietender Gelegenheit angeknüpfte Erläuterung wird
jedenfalls immer dem Aufklärungsunterricht in einer ganzen Klaſſe vorzuziehen ſein,
in der Kinder verſchiedenſter Art, verſchiedenſten Alters und verſchiedenſter Reife
zuſammenſitzen.
Das aber iſt in allen Schulen zu verlangen, daß man den Sinn des Kindes
für alles Geſunde, Naturgemäße unverbildet erhält, daß man das Natürliche nicht zu
etwas Unreinem, Verbotenem ſtempelt. Sieht man die Bemühungen mancher Pädagogen,
alles, was auf das natürliche Verhältnis der Geſchlechter hindeutet, zu umgehen, zu
verdecken, ſo müſſen wir im Intereſſe geſundheitsgemäßer Erziehung unſerer Jugend
dagegen energiſch Proteſt erheben. Solches Verfahren ruft nur ungeſunde Neben—
gedanken, ungeſunde Heimlichtuerei hervor. Und gerade die 5 die doch auf
dem Zuſammenleben von Mann und Weib aufgebaut iſt, muß in ihrem eigenſten
Intereſſe darauf hinwirken, daß man das Verhältnis der Geſchlechter als etwas
Geſundes, Naturgemäßes und darum Heiliges hinſtellt, daß man nicht jeden Hinweis
darauf als etwas, deſſen man ſich eigentlich ſchämen müßte, aus dem Unterricht aus—
zumerzen verſucht.
Denn nicht darin allein liegt die Bedeutung der Schulhygiene, daß die außeren
Arbeitsbedingungen geſunde, dem Körper zuträgliche werden, ſondern ebenſoſehr
darin, daß dem Kinde geſunde, reine Gedanken gegeben werden, daß die Auffaſſung für
naturgemäße, der Geſundheit zuträgliche Lebensweiſe in der heranwachſenden Jugend
Die Gefchichte einer Stiftung. 483
qewedt wird, daß ſchon das Rind Ehrfurcht befommt vor dem Wunderbau des menſch—
lichen Körpers. Wenn in dem Knaben und aud in dem Madchen beim Verlaſſen
der Schule Verjtindnis dafiir gewedt wurde, was der Cinjelne, den Naturgeſetzen
entſprechend, zur Erhaltung und Beredelung feiner Art bedeutet, wenn fie als Pflicht
erfennen lernten, ibren Körper fiir foldje Aufgabe gefund und rein zu erhalten, jo
wird das fiir unfere Volkshygiene von bhervorragender Bedeutung fein. Und die
Volksgeſundheit zu heben, ijt ja dod das Biel aller Schulbygiene.
die Geschichte einer Stiftung.
Dem Leben nacherzahlt
Raddrud verboten. ——
nd ob ich mich ihrer noch erinnerte, der Familie Ludolf?! Bild auf Bild aus
iy den Tagen meiner Kindbheit taucte beim Klange dieſes Namens vor meinem
Gedächtniſſe auf. Cine hohe, diijtere Mietskaſerne zunächſt — und vor ibr
auf dem Biirgerfteige, in fonnenbhellen Stunden, eine gebrochene Männergeſtalt mit
langem filberweigen Haupt- und Barthaar und großen, trog feines unverfermbaren
Siechtums nod immer leuchtenden Augen. Und neben ibm, ibn führend und ftiigend,
die ſchmächtige Cricheinung einer Frau in mittleren Jabren, mit ängſtlich verkümmertem
Sefichtsausdrud und ſchlichtem Anzuge, der allen Verlodungen der Mode — jelbjt
der Damals als unvermeidlich geltenden Krinoline — fiegreich widerftand. Dazwiſchen
im Haufe aus: und eingebend, die Schule oder Kollegienmappe im Arme, cine Scar
herangewachjener junger Manner, derbe Perſönlichkeiten, denen man nicht anſah, daß
— wie man fic im Publifum zuflüſterte — Schmalhans Kiichenmeijter bei der Familie
war. Ginter den Fenjtern der Parterrewohnung dann, hübſch, ja ſchön zu nennende
Madchen, die volle Biifte meift mit lebenden Blumen geſchmückt und ab und ju, mehr
oder weniger verftoblen, die Straße einer griindlichen Rekognoszierung untersiehend.
Su dem binter dem Haufe gelegenen, wenig gepflegten Gras: und Gemiijegarten
endlid) cite Rotte halbwüchſiger, verwabrlofter Rnaben und Madden, die dort ibr
Wefen trieben und deren nimmer ju ftillende Begebrlichfeit ſich, jum Schrecken der
Nachbarſchaft, durchaus nidt auf die eigene Obſtzucht allein beſchränkte — — —
Und der ſtattliche Fremde, der ſeit einigen Minuten meinem Gatten und mir als
Beſucher gegenüberſaß, entpuppte ſich jetzt als einer jener ſechzehn Nachkommen des Land—
gerichtsrats Ludolf, ja ſechszehn waren es geweſen, er ſagte es ja ſelbſt. Seit langen
Jahren in Amerika anſäſſig, ſuchte er jetzt zum erſtenmale die Heimat wieder auf. Nicht
etwa aber um alte Erinnerungen aufzufriſchen, — dieſen Verdacht ſchien er mit einer
faſt verächtlichen Handbewegung weit von ſich weiſen zu wollen. Nein! Herr Ludolf
war vielmehr, wie aus ſeinen Reden mehr und mehr hervorging, gekommen zu dem
Verſuche, ſich von ihnen zu befreien. Von jenen wenigſtens, die an den durch des
Vaters Krankheit jahrelang vorbereiteten und mit deſſen Tode unabwendbar erfolgten
Zuſammenbruch ſeines Elternhauſes anknüpften und die offenbar verdüſternd auf ſein
ganzes bisheriges Leben eingewirkt hatten. Vieler Einzelheiten, die er jetzt aus der Ver—
gangenheit mitteilte, erinnerte ich mich noch recht wohl. Ich mochte ſie ſeinerzeit, wenn auch
31*
484 Die Geſchichte einer Stiftung,
in noch weit qrellerer Beleuchtung, aus den unbedachten Reden Erwachfener aufgeſchnappt
haben. Daß die forperlichen und moraliſchen Kräfte der Mutter, die durd die
Anforderungen ibrer Che vollftdndig aufgebraucht waren, jene Ratajtrophe nicht batten
fiberdauern fonnen, war nur als ein Gliid zu betrachten gewejen. Der jiingeren
unter den veriwaiften Nindern hatte ſich die Verwandtichaft angenommen und fie in
die einzelnen Familien verteilt. Wie hatte man fic auch anderenfalls der Stimme
des eigenen Gewiſſens und — — der öffentlichen Meinung gegeniiber zu balten
vermocht? Der ſchlecht verhehlte Widerwille, der dabei zutage trat, hatte die älteren
Geſchwiſter mit ohnmächtiger Wut erfüllt. Unter den bisherigen Kollegen des Vaters
war eine Geldſammlung zum beſten der erwachſenen Söhne veranſtaltet worden. Daß
dieſe ſämtlich — wie damals ſelbſtverſtändlich in der Familie eines höheren Beamten
— allein für das Univerſitätsſtudium vorgebildet waren, zum Teil ein ſolches bereits
begonnen batten, mit ganzer Seele an den damit verbundenen Zukunftsausſichten
hingen, mußte jetzt natürlich unberückſichtigt bleiben. Da war es denn doch bedeutend
einfacher, wenn man zwei von ihnen einem überſeeiſchen Truppenkörper einverleibte. In
ſeinem Dienſte waren ſie nach kurzer Zeit ſchon geſtorben — verdorben. Ihn
ſelbſt, den Alteſten, hatte man für einige Jahre als Lehrling in einem Kaufhauſe
untergebracht, und dadurch auf ſeine Bahn gewieſen — nicht gu ſeinem Schaden,
wie er jetzt in ſeine Erzählung einſchaltete, eine Bemerkung, die man ihm, der als
Typus des self-made man im guten Sinne erſchien, gern glaubte!
„Sie alle aber, Freunde, Kollegen und Verwandte,“ fuhr Herr Ludolf jetzt nach
einer beſchaulichen Pauſe fort, „zeigten ſich am eifrigſten, als es galt, die erwachſenen
Schweſtern zu verſorgen. Darüber, daß dies nur geſchehen könne, indem man ſie ſo
bald wie möglich und um jeden Preis an den Mann zu bringen trachtete, waren, als
gute Deutſche, alle einig. Da ſie alle drei junge, hübſche Dinger waren, man ihnen
außerdem klar gemacht hatte, daß ſie in ihrer Lage durchaus nicht in irgend einer Art
zu Anſprüchen an das Leben berechtigt ſeien, wurden die zu dieſem Zwecke gemachten
Anſtrengungen in jedem einzelnen Falle raſch von dem gewünſchten Erfolge gekrönt.
Die Dummen unter uns Männern werden ja nicht alle — bei einiger Beſonnenheit
hätte es ſich ein jeder von denen, die damals meine Schwäger wurden, leicht voraus—
ſagen müſſen, wie wenig Gutes bei einer Ehe herauskommen könne, die von der
weiblichen Seite nur der Not gehorchend, nicht dem eigenen Triebe geſchloſſen worden
war — felbft dann noch, wenn es fic) unt Wefen von geſchulteren Cigenfdaften des
Herzens und des Charatters, als im vorliegenden Falle gebandelt hatte.”
Mein Mann war uncubiq geworden. „Sie deuteten foeben an, Verehrteſter,“
warf er min ein, „daß die von Ihnen erwähnte Art, unvermbgende Mädchen ju
verjorgen, gerade in Deutſchland als die allein mögliche betradtet werde. Vor dreipig
Sabren und mebr — denn fo lange liegen die in Rede ftebenden Ereigniſſe binter
uns — mag dies aber wobl allerorts fo geweſen und feitdem in diefer Beziehung,
Wott fet Dank, auch bei uns ein Umſchwung jum befferen eingetreten fein.”
Der Fremde lächelte boflich, dod) nicht tiberzeugt. „Immerhin,“ meinte er dann,
„dürfte es wobl angebracht fein, yu verſuchen, in eingelnen Fallen wenigſtens, gleichen
oder ähnlichen Creignifien vorjubeugen. Ich babe die Abjicht, yu diefem Swede cin
gewiſſes Kapital auszuſetzen. Seine Zinſen follen, foweit fie ausreichen, dazu dienen,
unverforgt zurückgebliebenen Töchtern höherer Beamten cine jährliche kleine Rente ju
ſichern. Daß ich dabei in erfter Linie an Angebsrige Ihres Kollegiums denfe, Herr
Rat, Dem ja auch mein Vater feine Dienite geweibt bat, diirfte als ſelbſtverſtändlich
erſcheinen.“
Ich war aufgeſprungen und ergriff die Hand des menſchenfreundlichen Mannes.
„Oh! das iſt ſchön, das iſt edel von Ihnen gedacht! Und wie ich mich freue! Ich
weiß ſchon gar manche — da iſt vor allen anderen Toni Wende und die vier Töchter
der Rätin Herrlein.“
Er nickte mir lächelnd zu. „Ich wußte es ja wohl, verehrte Frau, daß ich bei
Ihnen vor die rechte Schmiede gekommen ſei.“
Die Geſchichte ciner Stiftung. 485
Cinige Woden ſpäter. Wieder figke ich in meinem Simmer, diesmal allein.
Nicht obne Spannung febe ich den nächſten Stunden entgegen. Da — ein Klingel—
stig! follte eta ſchon die cine oder andere —?
Das Dienſtmädchen erſchien. „Gnädige Frau, Fraulein Wende —?“
„Ich laſſe bitten!”
Ich gehe einer kleinen, ſchlichten Frauenerſcheinung entgegen. „Ah, liebſte Toni,
wie freut es mich, dich nad fanger Paufe wieder mal bei mir zu feben —“
Sie nidte nur fur;, aber nicht unfreundlich. „Du baft mir gefdrieben —“
Ich mupte lächeln. Noch immer die alte Toni! fie, die vor allen anderen unter
uns Ultersgenoffinnen von jeber, durd das unſcheinbarſte Außere und die ſprödeſten
Umgangsformen, wie vorausbeftimmt zur alten Sungfer geweſen mar.
„Ja! und du twirft dic gleich mir gefreut haben ae
Ihre bellen Augen blitzten mich an — nicht ohne Spott. „Uber die gute
Abſicht — gewiß! die mir zugedachte Unterſtützung gedenke ich jedoch abzulehnen.“
„Aber Liebſte —?“—
Wieder nickte ſie energiſch mit dem ſchmalen Kopfe. „Ich weiß, was du ſagen
willſt. — Jn deinen dir vom Schickſal verwöhnten Augen gehöre ic) ja wohl zu den
Bedürftigen. Es iſt ja auch wahr — ich habe nur eine ſehr beſcheidene Wohnung,
keine regelrechte Bedienung zu meiner Verfiigung, fann mic nur febr einfach fleiden,
al& einzige Abwedslung bietet ſich mir nur bier und da ein Aufenthalt als Uichen-
bridel oder Tante Hilfreich bet Freunden und Verwandten. Du wirſt meiner
Verſicherung aber dennoch Glauben ſchenken müſſen, daß mich, die ich nie Anſprüche
an das Leben gemacht babe, yu ſolchen auch — das wirjt du sugeben — faum
beredhtigt bin, meine Dafeinsbedingungen volljtandiq befriedigen. Cie diirften aud)
dDereinft nod) geniigen, wenn die Tage gefommen fein werden, von denen wir fagen:
fie gefallen uns nicht, um mir einen Unterſchlupf als Penſionärin in irgend einem
Stift yu ermöglichen.“
„Aber ich bitte dich, liebe Toni,” unterbrac ich fie, „ſei doch nicht fo verblendet.
Wie ganz anders würdeſt du dein Leben genießen können, eben durch jenen Fleinen
jährlichen Zuſchuß. Welchen Wert hätte es gerade fiir dich, deren vielfeitige geiftige
Intereſſen und Talente icy wohl fenne, wenn du bier und da eine ſchöne Reife
machen könnteſt —“
„Es würde aber einfach keine Freude für mich ſein, eine Reiſe zu machen, zu der
mir ein reich gewordener Pſeudoamerikaner das Geld geſchenkt hätte —“
Ich drohte ihr mit dem Finger. „Aber Toni, das iſt ja —“
„Einfältiger Krackel! ſtrafwürdiger Hochmut, nenn es wie du willſt! Wohl—
meinende, zu denen ich ja in dieſem Falle, da von mir ſelbſt die Rede iſt, natürlich
gehöre, könnten es auch als Pietät bezeichnen. Denn ich bin meiner Sache gewiß,
daß Papa, der ſo ſtolz daxauf war, ſeine Tochter, nach langem Streben, endlich ſeiner
Meinung nach wohlverſorgt zurücklaſſen zu können, es nimmermehr billigen würde,
wollte ich mir von irgend einer Seite Geld ſchenken laſſen, um mir einen, doch nicht
unbedingt notwendigen Luxus zu erlauben.“
Nun, das war allerdings ein Standpunkt, den man achten mußte. Ich drückte
der ſich zum Abſchied Erhebenden herzlich die Hand. „Ich hoffe ſehr, auc du, Toni,
tragit das deine dazu bei, damit wir uns in Zukunft wieder öfter eben. Bufallige
Umſtände allein baben uns bisher auseinander gefiihrt.”
Ihr Lächeln war diesmal nicht gang frei von Bitterkeit. „Siehſt du, auch du
ſchätzeſt mich infolge meines Entſchluſſes ſchon bedeutend höher ein. Cine Dderartige
Auffriſchung der Achtung, die man bei anderen und fich felbjt verdientermafen genieft,
tut dem moralifchen Bewuftfein des Menſchen von Beit yu eit bitter not. Sie foll
mit aud in dieſem Falle mit der Einbuße von ein paar hundert Mark jährlich nicht
zu tener erfauft fein.”
Da fie nicht Langer yu halten war, geleitete ich fie sur Haustüre und entnahm
dort dem Brieffaften ein Schreiben. Meine Adreſſe — von mir unbefannter Hand?
Lebhaft erregt riß ich den Umſchlag ab. Der Brief lautete:
486 Die Geſchichte ciner Stiftung.
Sehr verebrte gnädige Frau! Abre freundliche Sufebrift hat mid) burd ihren Inhalt in eine nit
geringe innere Unrube verfest. Rach Rückſprache mit meinen zufällig bier eben verfammelten Schweſtern,
als den mit mir gleicbeteiligten, bin ic nun gu dem Entſchluſſe gekommen, Ihr geſchätztes Anerbieten mit
ciner offenen Darlegung unferer pefuniaren Verhältnifſſe gu beantworten. Meine mir im Wlter zunächfi
ftebende Schwefter und ich find — wie Sie vielleicht wiffer — {eit mebreren Jahren als Lebrerinnen
an der biefigen Töchterſchule tätig. Wir begieben als ſolche cin jabrlides Gebalt von je ca 1600 Mart.
Da wir mit unferer Mutter cinen gemeinfamen Oaushalt filbren, fteht uns yu dieſem Swede außerdem
nod deren Witwengehalt mit nabequ taufend Mark jährlich aur Berfiigung. Ware die fo entftehende
Gefamtjumme bei ben biefigen Verbiltniffen nicht mehr als ausreicend, um drei Damen von nicht
alljuieitgebenden Anſprüchen cine angemeffene Lebensfiihrung gu ermiglicben, fo dürfte es ſchlimm
um deren häusliche Fähigleiten beftellt fein. Meine zweite Schwefter hat fic sur Diafoniffin ausgebildet
und ſteht augenblidlid) bem Rindergarten ciner benadbarten Stabt als Yeiterin vor. Cine dritte und
legte ift alS Erzieherin bet einer engliſchen Familie, mit der fie foeben bas europäiſche Feſtland bereift.
Cine jede von = hig ift ſehr wobl imftanbde, fiir die cigenen Ausgaben aufjufommen.
Nac dieſen Mitteilungen, fehr verehrte Frau, werden Sie es ſehr gut begreifen, wenn wir
ung, nad) Kenntnisnabme Ihres Schreibens, die Frage vorlegten: find wir denn eigentlich berechtigt —
oder, wie wir uns Lieber ausbdriiden, gendtigt, als der Unterſtützung bediirftig gu gelten? — — Wir
glauben dicfe Frage getroft mit nein! beantworten zu dürfen, und das Bewuftfein, died der eigenen
Kraft ju verdanfen, erfiilllt uns mit Freude und mit Stolz.
In diefer Außerung bitte ic) Sie jedoch, nicht etwa cin ſchnödes Abweiſen einer edlen Abſicht
erbliden gu wollen, Dads Leben hat uns in cine gu herbe Schule genommen, um wbermitige
Gefinnungen in uns auffommen gu laſſen und uns außerdem durch Baterd frühen und unerivarteten
Tod gezeigt, wie triigerif cin Bauen auf Glücksumſtände ift, die cingig und allein an Leben oder auch
nur Geſundheit bes Menſchen angefniipft find. So liegt und allen ber Gebdanke an die Maglichfeit
nabe genug, dag itber kurz ober [ang eine Beit fommen fonnte, in ber wir banfbar Gebraud von
jenem grofmiltigen Anerbieten machen würden, deffen Segnungen wir fiir jest aber anderen minder
Vegiinftigten gufommen laffen wollen. Mit ergebenem Grufe, febr verehrte gnädige Frau,
Shore Marianne Herrlein.
Alſo wieder ein Korb — mehr noc, ein vierfacher! von an und fitr fic gewiß
erfreuliden Griinden veranlaft — aber wie [eid tat mir Herr Ludolf ob der mebr:
fachen Enttäuſchung, die er fiir feine woblwollende Gefinnung einerntete! — Auch
mein Mann würde ihm gegeniiber ſchwerlich mit einer oder der anderen Außerung des
Triumphes zurückhalten, nachdem die Ereiqnifje feiner Bebauptung, daß fich auch in
Deutfdland gar manches zum Beſſeren gewendet habe, fo über Erwarten zugeſtimmt
batten. — Gewiß gab e3 nod) die eine oder andere, die man in die Liide einjpringen
Lajjen Fonnte —? ja, wer nur?
Wieder trat das Madchen mit einer Meldung ein.
Fräulein v. Winghof?! — Ich fannte die forciert jugendliche Dame, die,
auffallend elegant gefleidet, auch wirklich noch febr gut ausfab und über tadellofe
Manieren verfiigte, recht wobl — „die Hofdame”, wie fie in der Stadt hieß, weil
fie, wenn auch unbefoldete Dienfte einer ſolchen bei einer mediatifierten Grafin der
Nachbarjcaft ju verſehen liebte — „die Verkehrshyäne“, wie man fie ſpöttiſch im
intimen reife der Rollegen benannte; fie pflegte fich, oft ganz unmotiviert, in diefe
oder jene zu ibm gebdrende Familie einzuführen, auf ibre Rechte als Tochter cines
früheren Präſidenten podend, und Cinladungen yu Ballen und Gefellfebaften immer
wieder durch kleine Aufmerkſamkeiten berauszufordern. Natürlich nur bei folchen, die
„ein Haus machten“. Was aber wollte die Verkehrshyäne bei mir — die ich eigentlich
nur meinem Manne und meinen Kindern lebte?
p Mein gnädiges Fraulein —!?”
„Sehr erfreut, verebrte Frau, Sie zu Haufe zu finden.”
Ich bin ihr entgegengegangen und habe fie auf einen Ceffel gendtigt. Cine
furje Paufe tritt cin. Wie ein Blitz fommt mir die Erinnerung an eine fleine heitere
Sjene, die fic abgefpielt hatte, als wir uns vor kurzem aud) einmal fo gegeniiber
ſaßen. Gelegentlidy eines zufälligen Sufammtreffens bet einer qemeinfamen Befanntin
war es gewejen. Da hatte das Fraulein der Verfuchung nicht widerſtehen fonnen,
un beiden anderen, ftets febr unfebeinbar gefleideten Frauen mit den verborgenen
Reizen ibrer Toilette zu imponieren. Su dieſem Swede 30g fie den Nod ibres febr
ſchicken dunfelblauen Schneidertleides fortwährend ohne jeden zwingenden Grund über
Die Rnie bin und ber. Cin vielfagendes Raufden und Rnijtern, das fo entftand,
mufte uns nun freilich überzeugen, daß dad Kleidungsſtück in der Tat ein feidenes
Die Geſchichte einer Stiftung. 487°
Unterfutter enthielt. Da war mir plötzlich eingefallen, dak auch mein febr feblichtes
qraues Kleid — mein Mann hatte eS einſt bei einer Dienſtreiſe in Berlin fiir mic
gefauft — ebenfalls mit diefem Seichen höchſter Eleganz ausgejtattet fei. Nun hatte
mid) der Neckteufel gepact — unwiderſtehlich. Ich ſetzte mich in Pofitur, ergriff mit
ſpißen Fingern mein Kleid und lich es in furjen Zwiſchenräumen iiber die Knie bin:
und herſchnellen — gerade fo, wie ich es von ihr gefeben hatte. Ihr ungliubiges
Aujfhorden, ihre vor UÜberraſchung ftarre Miene und ibre Verlegenheit dann waren
von unbeſchreiblich komiſcher Wiring gewefen. Wllein dadurch, daß fie baldmöglichſt
ibren Rückzug angetreten hatte, war der Hausfrau die Blamage eines Heiterfeits-
ausbruches erfpart geblieben.
Heute lauſchte ich umſonſt auf das bewußte Geräuſch. Die Toilette meiner
Befucherin erſchien überhaupt von ungewobnter Schlichtheit.
„Ich fomme als Bittitellerin,” begann fie endlich.
Aba! Unwillkürlich griff meine Hand nad der Kleidertaſche.
Sie bewegte verneinend den Kopf. Cine neue Pauſe entftand.
„Sie haben die Zinfen der Ludolfſchen Stiftung ju vergeben, verebrte Frau —?
jagte fie dDannn.
Ich rückte näher heran. „Und Cie, liebes Fraulein, wiſſen mir einen oder den
anderen Vorſchlag zu einer geeiqneten Verwendung zu machen —?”
Sie zögerte aufs neue und vermied meinen Blid. „Ich babe an mich felbjt
gedacht — wer gleich mir wire berechtiqt —?”
Wie vor den Kopf geichlagen fuhr ich zurück. Cinige peinliche Sekunden ver:
ſtrichen. „Ob cine derartige Verwendung des Geldes im Sinne des Gebers ijt, weiß
id) nun dod) wirklich nicht —“
Ich gab mir feine Mühe, meine innerliche Entriiftung zu verbergen. Auch ibre
Stimme bebte.
„Weil Sie, befte Frau — ich ſchenke Ihnen, im unbedingten Glauben an Ihre
Distretion, mein rückhaltloſes Vertrauen — weil Sie fich iiber meine cigentlicen
Verhältniſſe täuſchen laſſen durch die Art meiner Lebensfiibrung, durch deren flotte
Aufenfeite vielmebr, die id) meiner Stellung als Tochter meines Vaters febuldiq ju
fein glaube und die hinter den Kuliſſen täglich aufs neue durch Einſchränkungen, ja
Enthebrungen erfauft werden muß.“
Xa, durch das, was fie Entbhebrungen nannte! Im Geijte fab ich ibre hübſche
balfon: und erfergefdmiidte Parterrewohnung, ihre gutgeſchulte Dienerin, birte cin
gewiſſes vieljagendes Rauſchen und Rnijtern — —
„Zu dem ſtandesgemäßen Auftreten einer Beamtentodter,” fiel ich cin, „gehört
meinem Ermeſſen nad gar manche Lurusausgabe nicht, von der id — weiß,
daß Sie ſie ſich erlauben.”
Hatte icy wirklich, ohne es zu wollen, mit fpigen Fingern nach meinem Kleide
gefaßt —? ic weif es nicht — jedenfalls aber war meine Anfpielung von ibr ver:
ftanden worden. Ginerlei! Ich durfte es ibr nicht erfparen.
„Es war cin Rleid, das mic die Grain Gilfa geſchenkt hatte,” ſagte fie
bedriidt, „Erlaucht gefielen fic nicht darin. Ich babe ja überhaupt manchen Vorteil
porn dem Verfebr in dem gräflichen Hauſe, wenn er auch freilich andererfeits dazu
beitragt, daß mir die Verhältniſſe bier und da über den Kopf yu wachſen droben.
Denn fagen Sie felbft: wie könnte ich mich heute in der gräflichen Equipage feben
laffen und morgen in der dritten Cifenbabnflajje?”
„Aber wie finnen Cie, mein gnädiges Fräulein,“ rief ich erregt, „ſich Ihr
Yeben in der Art einvidten —? Wie ein folches, aus Widerfpriicien, ja Unwabhrbeiten
zuſammengeſetztes Daſein iiberbaupt nur ertragen?”
„Nun feben Sie,” entgeqnete fie ebenfo lebhaft, „Sie gelten ja fiir eine
moderne Frau und werden daber einem jeden Menſchen gern das Recht zugeſtehen,
feiner Individualität entiprechend yu leben. Die meine geftattet mir eben alles andere
weit eher, alS ein Leben in der Verborgenheit einer Dachkammer — fo etwa a la
Toni Wende. Rednen Sie dazu nod die Art meiner Erziehung, da$ mir von Ffrith
488 Die Geſchichte ciner Stiftung,
an cingeimpfte Bewußtſein, zu großen Anſprüchen an das Leben berectigt yu fein —
id), die id) jabrelang mit Recht fiir das ſchönſte Madden der Stadt galt —“
Das ftimmte. Es war mir erft neulich wieder von Herrn Ludolf beitatigt
worden, als er fich nach ibr als einer Qugendbefanntin erfundigt hatte.
„Und bitte mir nun,” fubr fie in heiſerem Fliftertone fort, „das Scidjal auch
nur einen Teil diefer Anjpriiche erfiillt, fo ware — das weif ich beftimmt — eine
vortrefflide Hausfrau, Gattin und Mutter aus mir geworden. Go aber — was
bleibt einer alten alleinftehenden Jungfer, zu der id) geworden bin, denn anders übrig,
als dem Dajein, um es überhaupt ertraglich gu finden, fo viele Annehmilichfeiten wie
möglich abzuringen? Denn den Umſtand, daß id) in meiner Lage von Anfang an
darauf verzichtet babe, als Ronfurrentin meiner gänzlich mittellofen Mitſchweſtern in
den Rampf um einen Beruf einzutreten, darf ich mir ja im Hinblick auf die fozialen
Verhältniſſe geradezu als ein Verdienjt anrechnen.“
Wohl fiihlte ics, dak ich mit blöder Miene diefe eigentiimlide Philoſophie
entgegennabm. Traurig! traurig! und das Schlimmſte daran war der Sdiein von
Berechtigung, den manches, was fie fagte, enthielt — fiir fie, fo wie fie nun cinmal
war — da8 Produft ibrer Heit und ibrer Erziehung.
„Nicht etwa,“ vernabm id) nun wieder ihre vor Errequng heiſere Stimme,
„nicht etiva, daß ich gu den niemals Begebrten gebirt hatte! Nein! gar mancher bat
mir einft fein Herz, feine Hand und feine ganze Sufunft zu Fiifen gelegt. Das
Bewußtſein hiervon ijt mir in mander ſchweren Stunde der eingige Troſt geweſen! —
Warum ich feinen unter ibnen erbirt habe —? Da, feben Sie, verehrte Frau — ich
weif nicht, ob Sie aus eigener Erfabrung abnliches fennen gelernt haben — wenn
einem nicht immer, gerade im WAugenblice, in dem man cine Liebeserflarung entgeqen-
nimmt, in ſich felbjt alſo das ſtolze Bewußtſein der unbedingten Macht über ein
Menfchenhers fühlt, der Gedanke käme: dieſes haſt du zu befiegen vermodt — follte
dir dies nicht über kurz oder lang ebenſo gut einem anderen gegenüber gelingen, den
zu beſitzen dir nod) wertvoller wäre —? So denkt man, bis es auf einmal gu ſpät
iſt und einem nur die Reue übrig bleibt. O! wer ſie kennt, die endlos langen
dunkeln Nächte, in denen man ihr rettungslos verfällt, wenn ſich einem die Nber-
zeugung aufgedrängt hat, den Augenblick des Glückes ein für allemal verpaßt zu
haben —!“
Düſter ſtarrte ſie vor ſich hin. So abſtoßend mir ihre Bekenntniſſe waren,
hätte ich ihr doch nun gern ein tröſtendes Wort geſagt. Doch eben dies Gemiſch
von Mitleid und Grauen verſchloß mir den Mund.
„Ich werde Herrn Ludolf in Ihrem Intereſſe zu beeinfluſſen ſuchen,“ war alles,
was ich endlich hervorbrachte. Sie kam dadurch zur Gegenwart zurück. Eine flüchtige
Röte flackerte über ihr Geſicht. Sie faßte nach meiner Hand.
„Ich danke Ihnen! Aber ich habe noch eine Bitte! Herr Ludolf — er iſt ſo
fremd in den hieſigen Verhältniſſen geworden — er fragt wohl kaum nach den Namen
derer, die ſeine Wohltat genießen — wenn man die Sache geſchickt einfädelte, könnte
ibm wohl der meine verſchwiegen bleiben — es ware mir im hohen Grade peinlich,
wenn er wüßte — Sie werden das begreifen, wenn ich Ihnen mitteile, daß gerade
er als Student zu meinen glühendſten Anbetern gehörte —“
Auch das mochte wahr ſein — ſchien mir ſogar jetzt mit Beſtimmtheit aus der
Art, wie er ſich neulich über ſie geäußert hatte, hervorzugehen.
Mein Mitleid ob ihres Elendes verdrängte alle anderen Gefühle, als ich fie jest
yur Tür geleitete. „Ich will tun, was icy fann, wm alles nad Doren Wünſchen gu
geftalten, gnädiges Fraulein!”
489
Gelehrte Prauen der Stadt Bologna.
@on
Alice Wengraf (Wien).
Nachdrud verboten.
Jer titige Anteil der Frau an der literarijden Produftion des Volfes ift bei
den einzelnen RNationen ganz verſchieden. In Deutſchland traten die Frauen
in den vergangenen Jahrhunderten faſt gar nicht aus der beſchränkten Häuslichkeit
heraus. Wo ſie in größerem Maße an der Geiſtesarbeit teilnehmen, geſchieht es
meiſt im Dienſte religiöſer Beſtrebungen. Die älteſten deutſchen Dichterinnen,
Hroswitha und Ava, find Nonnen; in der Zeit der Glaubenskämpfe tragen die Frauen
eifrig zur Weiterverbreitung der reformatorifden Ideen bei; fpater, im 17. abr:
hundert; find fie ſchwärmeriſche Anbangerinnen der pietijtifden und myſtiſchen
Strimungen, und Anna Maria Schiirmann, die von ibren Zeitgenoſſen als gelebrteite
aller Frauen gepriejen wurde, iſt eine trene Siingerin der Labadijtengemeinde.
Namhafte Dichterinnen, wie die Gräfinnen Stolberq und Zinzendorf, zählt diefe
Epoche hauptſächlich anf dem Gebiet der geijtliden Poefie. In Gottſcheds „Deutſcher
Geſellſchaft“ finden ſich wobl einige gelebrte Frauen; einzelne Fürſtinnen fleben im
literarifcben und wiſſenſchaftlichen Leben, wie die pfälziſche Prinzeſſin Eliſabeth durch
ibren Freundſchaftsbund mit Descartes und Kinigin Sopbie Charlotte von Preußen
durch ibre wiffenfdaftlicben Beziehungen ju Leibniz. Qn der klaſſiſchen und romantifden
Periode der deutfchen Dichtung übt manche geiftreiche Frau einen entfcheidenden
Einfluß; allein die rege Produftionsfraft der deutſchen Frau, die fich gegenwärtig nad
allen Richtungen bin entfaltet bat, erwadt erft im 19. Jabrbundert. Jn Frankreich
bingegen ijt nicht nur der Einfluß der Frau auf die Literatur bedeutend, fondern ibre
aftive Mitwirfung von Anfang an eine ganz bervorragende. Von Marie de France,
einer Der glänzendſten Vertreterinnen der Fabel und Legende des 12. Jahrhunderts,
bis zur krönenden Erfebeinung einer George Cand, welche Fülle weiblicher
Individualitäten! Chriſtine de Pijan, die aus Italien ftammende Dichterin annuttiger
Geſänge und graziöſer Balladen — in ihren polemiſchen Schriften cine mittelalterliche
Atauenredtlerin, die ihr Gefeblecht gegen die Angriffe des herrſchenden Rofenromans
verteidigt und gründliche wiſſenſchaftliche Wusbildung fiir die Frau verlangt —,
Margarete von Valois, die Verfafjerin des ,.Heptameron”’, die „Précieuses“ de3 Hotel
Rambouillet, die Memvirenfehreiberinnen aus der Epoche Ludwigs XIV., die Salons
ber Tencin, du Deffand, Lespinafje, Geoffrin und Epinay, die den Höhepunkt des
Kunſt und Wiſſenſchaft beherrſchenden Cinflufjfes der Frauen bedeuten, geben der
Geſchichte des franzöſiſchen Geijteslebens ibr gan; beſonderes Rolorit.
In Italien wiederum zeitigt die Renaijfance cine ganze Reihe merfwiirdiger
Rrauengeftalten, den herrſchenden Fürſtengeſchlechtern entitammend, die alle den Stempel
einer cigenartigen, bedeutenden Perſönlichkeit tragen. Fiiritliche Frauen wie Coſtanza
490 Gelebrte Frauen ber Stadt Bologna,
Sforza, die bereits im Kindesalter cine lateiniſche Rede halt, Battifta da Montefeltre,
die durch ihre auperordentliche Beredjamfeit berühmt ijt, Iſotta da Rimini, die
Sappho ibred Beitalters, Lucresia und Iſabella Gonzaga, deren Briefe viel bewundert
werden, und Midel Angelos unſterbliche Freundin Vittoria Colonna ') zeugen von dem
qeiftigen Reichtum einer Beit, die beiden Gefchlechtern die gleichen Cntwidlungs-
bedingungen, diefelbe umfaffende geiftige Erziehung yu teil werden Lief.
Die große Maffe der weibliden Bevslferung verharrt freilich, wie in anderen
Ländern, fo aud) in Stalien durd all die Jahrhunderte in der Abgefdbiedenheit des
hauslichen Herdes, in völliger Unbilbung und Unwwijfenbeit. Durch einen Umſtand
erhält jedoch die Geſchichte der italienifden Frauen eine eigentiimliche Phyſiognomie:
gleich den Fiirjtenfamilien lieben es auc) die Gelebrtenfreife, ibren Tichtern die gleiche
wiſſenſchaftliche Ausbildung zu geben wie ibren Söhnen. So erhält Stalien eine große
Anzahl gelehrter Frauen, deren Ruf fich weit über die Grenzen ihres Vaterlandes ver-
breitet. Die Zentren italienijder Geiftesbildung werteifern miteinander um ibre ftudierten
Arauen. Ferrara und Mantua ftreiten um die Chre, welche der beiden Stadte der
Geburt8ort der beriihmteften Frau des 16. Jahrhunders, Olvmpia Fulvia Morata,
fei, und Bologna und Modena kämpfen flange um die gelebrte Lucia Bertana, bis
Ferrara den Sieg davontrigt. Ebenſo Hat Padua feine ausgezeichnete Rednerin
Caffandra Fedele, Verona feine Philofophin Iſotta Nogarola, Der Sammelpuntt weib-
licher Gelebrtheit aber ijt bie Univerſität Bologna, und diefer alteften Stätte der geiftigen
Rultur Staliens gebührt das Borredt, nicht nur den Frauen, die Neigung und Talent
zur Wiffenfehaft trieb, das Studium erſchloſſen, fondern auch ihrer wiſſenſchaft—
lichen Betätigung feine uniiberwindlichen Schranken entgegengejtellt gu haben. Die
Begünſtigung der gelebrten Frauen gebt fo weit, daß ibnen die afademifche Lebrtatigkeit
ermoglidt wird, und fo bietet denn die Univerſität Bologna ſchon feit vielen Jahr—
hunderten der Welt das feltene Schaufpiel weiblicher Profefforen. Andere italienijde
Hochſchulen find diefem Beifpiele in vereingelten Fallen gefolgt, Bologna weiſt jedoch
ſchon in den erjten Entwidlungsphajen einer Hochſchule in modernem Cinne weiblide
Namen auf, deren Triigerinnen die Lehrſtühle befegt haben. Im 18. Qabrhundert
pollends erreicht die weibliche Lebrtitigfcit ibren Höhepunkt, und es werben viele
Frauen zu gleider eit an die Univerfitit berufen. Dieſe Glanjzperiode der Frauen
an der Univerfitit Bologna fallt mit dem Pontififat ded aus Bologna ftammenden
Papftes Benedift NIV. zuſammen. Cr war ein cifriger Förderer der Künſte und
Wiffenfehaften; das Studium der Frauen bat er auferordentlic begünſtigt, viele
weiblide Kräfte an die von ibm begriindete benediktiniſche Akademie gegogen und aus:
ländiſche Frauen zu deren Mitgliedern ernannt.
Die Univerſität Bologna ijt die altefte Univerſität des ganzen Abendlandes. Cie
erfreute ſich ſchon im Mittelalter grofer Berühmtheit; die Legenden, die fie vielfach
unuveben, reichen ſogar bid in die römiſchen Kaiſerzeiten zurück. Gemeinhin wird
aber dad 11. Jahrhundert als Griindungsepoche der Rechtsſchule betradhtet, die in der
Folge zu fo weltheberrfchender Bedeutung gelangte. Die Stadt Bologna verdantte
Macht und Reichtum hauptſächlich ibrer ,, Universitas“, der Taujende von Fremden
aus aller Herren Linder zuſtrömten. Die Perivde der höchſten Blüte bat auch der
Stadt den bleibenden Stempel aufgepragt, fo dah felbit die Gegenwart mit ihrem
') Tiraboschi: Storia della lettcratura italiana,
Gelehrte Frauen der Stadt Bologna. 491
völlig verdnderten Getriebe nicht vermodst bat, ibren altertiimlich gemächlichen, ernjten
Charatter zu verindern. Die engen Strafen, durchweg von düſterſchattigen Bogen:
hallen umſäumt, die vielen uralten Palijte mit den weiten Säulenhöfen, in denen
veriwitterte Marmorbrunnen ftehen, die beiden ſchiefen Türme Aſinelli und Garijfenda,
die feit 900 Jahren ihre ſchmuckloſen Riefenleiber trogig in die Hobe reden, der
mächtige gotiſche Dom mit der unvollendeten, zerbröckelten Fajfade, alles deutet arf
eine Lange, ebrwitrdige Vergangenbeit bin, deren Spuren unverwiſchbar find.
Schon mit der Begriindung der Rechtsſchule wird der Name einer Frau in
Zuſammenhang gebracht. Die aus dem Fabre 1226 ftammende Chronif des Probftes
Burdard von Urfperg berictet nämlich, dap die Marfgrafin Mathilde von Tuscien
(mit dem Beinamen ,,die Große“), die Modena, Brescia, Ferrara und Toscana
unter ihrer Herrſchaft vereinigte, den in Bologna anſäſſigen Rechtsgelehrten Yrnerius
(1056—1130) zu Geridtsbarfeiten nach Ferrara enthot.') Sie foll ihm die Anregung
gegeben haben, fic) mit den Quftinianifeben Bandeften, den Quellen des römiſchen
Rechtes, gu beſchäftigen. Arnerius griindete hierauf die Schule der Gloffatoren, welche
der Ausgangspunkt der gefamten modernen Rechtswiſſenſchaft geworden ijt.
Das nächſte Jahrhundert befigt bereits zwei Frauen, die fic mit dem Rechtsſtudium
befaften: Bettifia Gozzadini und WAccurjia.?) Erſtere (1209 in Bologna geboren)
wurde 1236 yum Doftor der Rechte promoviert. Cie foll 2 Jahre lang vor mebr
als 30 Hörern gelefen haben und hielt mebrere öffentliche Reden. 1261 ftarb fie an
den Folgen einer Verſchüttung durch den Zufammenbrud eines Hauſes. WAccurfia wird
als Tochter des Gloffatoren Accurfius genannt und foll ebenfalls Jurisprudenz gelebhrt
baben; doch wird die Exiſtenz diejer Frau angesweifelt, und authentiſch beglaubigt
find nur die Söhne des Wccurfius.
Das 14. Jabrbundert nennt als Qurijtinnen die beiden Schweſtern Novella und
Bettiſia d'Andrea, Tichter des Gelehrten Giovanni D'Andrea. Novella foll die Schiiler
ibreS Vater unterricbtet haben, wenn dieſer franf war; fie war dabei hinter einem
Vorbang verborgen, um nicht durd) ihre Schinbeit yu beirren. Chrijtine de Pifan,
ihre (in Paris lebende) Zeitgenoffin, beridptet in ibrer Schrift ,Le trésor de la cité
des dames“ über die wiffenfchaftliche Tätigkeit der Novella. Ungefähr in diefelbe
Seit fAllt die Wirkfamfeit der Magdalena Buonſignori-Bianchetti, von der eine Schrift
fiber Chegefebe ftammt.4) Am Jabre 1400 erfeheint zum erſtenmale cine Arztin als
Gebhilfin ibres Vaters verjzeidinet, Dorothea Bocchi, die deſſen Schiiler unter großem
Zulauf unterrictet haben foll und auferdem das Studium der antifen Sprachen eifrig
betrieb. 1428 wirkte Teodora Grifolora an der Univerjitit als Lehrerin der griechiſchen
Sprache. Das 15. Jahrhundert nennt ferner eine Wleffandra Gigliani als anatomiſche
Lebrerin und Battijta da Montefeltre, die iiberaus gelebrte Gemabhlin de3 Galeazzo
Malatefta, welche öffentlich philoſophiſche Vorlefungen hielt und aus einer Dijputation
mit bedeutenden Gelehrten als Siegerin hervorging. Sie rictete an Raifer Sigismund
und an Papſt Martin V. cine lateinifche Unfprache und hinterließ Reden und zahlreiche
Schriften poetifden und religiöſen Jnbhalts.*)
i) Rashdall „The universities of the Middle-ages in Europe.“ Oxford 1895.
2) Die Altefte Erwähnung der Gozzadini geſchieht in Ghirardaccis ,Storia della città di
Bologna‘.
3) Maddalena Buonsignori-Bianchetti ,De legibus connubialibus*.
‘) Tiraboschi ,Storia della letteratura italiana’.
492 Gelehrte Frauen der Stadt Bologna.
Während der jwei folgenden Jahrhunderte erregen nur zwei Frauen durch ibre
wifjenfcaftlicde Bildung die allgemeine Aufmerffamfeit: Lucia Bertana dall’Oro, von
der ſich nod) Briefe und poetiſche Werke in den Bibliothefen von Bologna finden
und Febriona Pannolini, deren lateiniſche und italieniſche Didtungen 1610 in Bologna
qedrudt wurden. — Noch in das Ende des 17. Jahrhunderts fallt dic Geburt der
Tereſa Bettini-Zanni (1687—1752), und von da an reicht wieder cine ununterbrochene
Kette gefeierter und verdienftvoller Frauen, die an der Univerfitdt wirften, bis ing
19, Jahrhundert hiniiber.
Tereſa Zanni betrieh lateiniſche, philofophijde und mathematiſche Studien; ſie
war Mitglied vieler wiſſenſchaftlicher Akademien. Sie ſchrieb auch cine Abbandlung
iiber Das Studium der Frauen. 1722 verteidigt Maria Delfini-Doji mehrere Thefen
in einer öffentlichen Sigung. Cie hat cin Buch gefehrieben, in dem fie die von
mebreren Autoren angesiveifelte Crijten; der Bettifia Gozzadini zu beweifen fucbt.
Einer der beriihmteften weiblichen Profefforen Ataliens ijt die 1711 geborene Laura
Catharina Baffi-Verati. Cie wurde am 12. Mai 1732 jum Doktor der Philoſophie
promoviert. Bereits im Oftober desſelben Sabres wurde ibr ein Katheder verlieben.
Ihre Borlejungen waren auferordentlid) befucht. WS 1776 der Lebritubl der
Erperimentalphofif durd) den Tod Balbis erledigt war, wurde fie zu feiner Nach:
folgerin ernannt. aura Baffi hat wiſſenſchaftliche Schriften, Briefe und poetiſche
Werke hinterlajjen, die wiederholt gedrudt wurden.') Die Mitwelt bat diefe Frau
befonders gefeiert. Die Univerfitdtshibliothe® zu Bologna bewabhrt allein etwa dreifig
Werke verſchiedener Autoren, die fich mit ihr beſchäftigen. — Ru derjelben Zeit wird
die Mailanderin Maria Gaétana Aqnefi (1718 geb.) an die Univerfitdt als Profeijor
der analytifden Geometrie berufen. Es wird von ihr erzählt, daß fie bereits mit
neun Jahren eine Mythologie aus dem Griechifeben überſetzt babe. Sie hieß dag fieben:
jpracige Orakel. 1748 vevdffentlichte fie die Schrift „Analytiſche Inſtitutionen“,
der fie ihre Ernennung in Bologna verdanfte. Bis 1796 unterrictete fie in Bologna,
dann kehrte fie in ibve Vaterftadt zurück und ftarb dort hochbetagt im Jahre 1799.*)
Bianca Mileſi, eine der gelebrtejten Frauen ded 19. Jabrbhunderts, bat ihre Biograpbie
geſchrieben. 1756 wurde Anna Morandi-Manjzolini (geb. 1717 als Tochter des
Advokaten Giov. Morandi) vom afademifchen Senat ein Ratheder fitr Anatomie
verliehen. Cie war cine außerordentlich geſchickte Modelleurin und ijt die Erfinderin
der anatomifden Wachstafeln. Ihre Präparate erlangten einen Weltruf. Bon den
Stidten Mailand, London, Petersburg erbielt fie ehrenvolle VBerufungen; jie zog es
jedoch) vor, in ihrer Heimat ju bleiben. Cie war Mitglied der Elementinifden Akademie,
der gelehrten Geſellſchaft zu Foligno, der Malerafademie zu Floreny und vieler
anderen Rorporationen. Ihre Vorlefungen wurden ſtets von vielen Fremden befucht
1777 wird Maria Amoretti-Pellegrini infolge einer Dijfertation (,.De jure dotium
apud Romanos“), die einen großen Erfolg errang, jum Doktor der Rechte promoviert;
1779 erbalt Maria-Maſtellari Collizzoli-Sega den Doktorhut und halt von 1799—1824
chirurgiſche Vorleſungen. Im Dezember des Jahres 1799 promoviert Maria Dalle
*) Laura Cath, Bassi: „De problemate quodam hydrometrico* — ,,De problemate quodam
mechanico*. Lelio della Volpe Bologna 1751. — Lettere inedite Bologna Tip. Sassi 1836.
*) Maria Gaétana Agnesi: ,Pro studiis mulierum* — ,Propositiones philosophicae*. —
Lettere latine e italiane 1799 p. G. Galeazzi, Milano.
—
Gelehrte Frauen ber Stadt Bologna. 493
Donne; fie hat Philofophie und Chirurgie ftudiert und habilitiert fic) als Medizinerin.
1804 wird fie zur Directrice der Hebammenfdule gewablt, cin Wmt, das fie bis zu
ibrem Tode (1842) unter allgemeiner größter Anerfernung verivaltet. 1829 wird fic
Mitglied der Lenediftinijden Wfademie. — 1793 wird Clotilda Tambroni zur Lebrerin
der griechiſchen Sprache an dev benediftinifden Afademie ernannt. 1798, da Bologna
unter die franzöſiſche Herrſchaft gerät und fie den republifanifcen Schwur nicht leiften
will, wird jie ihres Amtes enthoben. Zwei Jahre ſpäter wird ihr Katheder in
anbetradt ibrer grofen Verdienjte vom Minifterium rejtituiert, und fie lebrt mim
wieder bis 1808. Dann wird ibr Lehritubl durch cin Dekret de3 Vizekönigs gan;
aufgehoben und fie erbalt cine Benfion bis zu ibrem Tode (1817).') 1807 wird
Maddalena Noë-Canedi zum Doftor der Rechte promoviert und habilitiert ſich. Es
ijt Die lefte Der weiblichen Profefjoren aus diefer Epoche.
Erſt in jüngſter Beit wirken wieder Frauen an der Univerfitét Bologna. Gegen:
wärtig befleidet Eliſa Norta daſelbſt den Poſten einer Wijiftentin fiir Zoologie. Mina
Monti2), die auferordentlicher Profejfor fiir Anatomie in Pavia ijt, erbhielt bei einem
der in Italien zur Erreichung einer akademiſchen Unjtellung iiblichen Konkurſe, an dem
jie teilnabm, von den Bolognejer Profefforen einjtinunig die Fähigkeit zugefprochen,
den Poſten eines ordentlichen Profeffors der Anatomie zu verfeben. Giufeppina
Cattani*), feit 1884 als Affitentin am Labaratorium fiir allgemeine Pathologie zu
Bologna titig, wurde 1898 zur Leiterin des bakteriologiſchen Laboratoriums des
Spitales zu Imola beftellt, wo fie nod) heute wirft. Sie bat bereits zahlreiche
Arbeiten in verſchiedenen Fachzeitſchriften verdffentlict. „Giuſeppina Cattani, der
Affiftentin am pathologijdem Inſtitut, wünſchen wir, dap fie in Anerfermung ibres
ernſten Strebens und in Wiirdigung ibver Fabigfeiten einen Lehrſtuhl ervingen und
den Cnthufiasmus, der fiir die Bafft herrſchte, wicdererweden möge“ ſchreibt die
lllustrazione Italiana‘ in einer 1888 anläßlich der 800jährigen Gründungsfeier
der Univerfitit Bologna herausgegebenen Feſtſchrift, in der ein ausfiihrliches Kapitel
den weiblichen Gelebrten der Hochſchule gewidmet ijt. — Nberbaupt wird den Frauen,
die an der Univerſität gewirkt haben, das ebrendjte Zeugnis ausgeſtellt und die Berichte
jind voll des Lobes fiber ihren bingebungsvollen Cifer und die Bflichttreue, mit der
fie ibr Amt verſehen haben. Jedenfalls ijt die empiriſche Erfabrung einer Univerjitat,
Die Die Wiege der Jurisprudenz und der Anatomie ijt und aus der Männer wie
Malpight und Galvani, Grimaldi und Caſſini, Balbi und Matteuci hervorgegangen
find, höher su ſchätzen, al die Hypotheſen mancher deutſchen Gelebrten, die fo gerne
den „phyſiologiſchen Schwachſinn“ und die Inferiorität des Weibes ins Treffen führen,
wenn es gilt, die Untauglidfeit der Frau jum Studium yu beweifen. Wenn Frauen
iiberbaupt imftande waren, fic) gleichseitiq mit Galvani an einer und _ derfelben
Univerſität im mediziniſchen Fade zu bebaupten, müſſen ihre Fabigfeiten nicht gar zu
gering veranſchlagt werden. Was aber die phyſiſche Leiſtungsfähigkeit betrifft, ſo
braucht man nur die überaus lange Berufstätigkeit der Mehrzahl der genannten Frauen,
fowie das hohe Alter, das fie erreicht haben, in Betracht zu siehen, um yu dem
') Clotilda Tambroni Ode greco-italiaga 1792 — Ode pindarica 1793 — Ode saftica
1797 —- Verse e Prose Parma 1807 — Orazione inaugurale 2. gen. 1806.
2) Unione feminile 3. Jahrgang Nr 2.
*) Unione feminile 1. Jahrgang Nr 10.
494 Gelehrte Frauen der Stadt Bologna.
Schluffe zu fommen, dah die geiſtige Arbeit ihre Kräfte durdaus nicht frühzeitig
untergraben fat.
Die Stadt Bologna weit überhaupt einen auffallend hohen Projzentjag an Frauen
auf, die am geijtigen Leben aftiv teilgenommen haben. Schon dem Fremden, der
fliichtigen Fußes die Stadt durcheilt, fallt es auf, wie viele Frauen mitgeſchaffen baben,
um der Stadt ihre Kunſtſchätze gu ſchenken. Wllerorten begegnet man Werken von
Frauenhand, die einen ebenbiirtigen Platz neben denen der Manner einnebmen. Bon
den wenigen Bildhauerinnen, die Italien befigt, gehören allein zwei Bologna an:
Properzia de Noffi') (7+ 1530), eine vielfeitige Kiinftlerin der Nenaiffance, deren Werke
im Dome S. Petronio bewahrt werden, und Clarice Vafini (1730 in Bologna geb.).
Die Zabl der Malerinnen ift febr groß. Die bedeutendjte ift Clifabetta Sirani,*) eine
der beſten Malerinnen der bolognejer Schule überhaupt. BWiele ihrer Wltarbilder
ſchmücken die Rirden Bolognas, und die Wfademie beſitzt eine große Anzahl ihrer
Gemälde, von denen mance fic) auc) nod) in Privatgalerien und den Gemäldeſamm—
lungen von Modena, Rom, Petersburg und Wien vorfinden. Im Wlter von 27 Jahren
vergiftet, hinterließ diefe Riinftlerin nicht weniger als 177 Bilder. Wie febr fie von
ihrer Vaterjtadt geebrt wurde, beweijt der Umftand, dah fie in derfelben Rapelle wie
der zwanzig Sabre frither verftorbene Meijter Guido Reni beigefebt wurde. Die das
gemeinfame Monument ſchmückende Inſchrift lautet: ,,Diefes Grabmal umſchließt die
fterblichen Tberrefte der Elijabetta Sirani und des Guido Reni. Go fonnte der Tod
zwei Maler vereinigen, welche fein Wunder im Leben vereinte.” Auch von den Schüle—
rinnen der Sirani ijt manches Werk in den Rirchen ju finden. In den Kreis der
bolognefer Malerinnen gebirt ferner Lavinia Fontana (1552—1602), die aud) in Venedig
und Floren; vertreten iſt. Die literariſche Produftion der Frauen von Bologna war
eine febr nambafte. Nod) aus mittelalterlichen Seiten, da die Klöſter noch der Brenn-
puntt geiſtiger Bilbung waren, haben fics theologiſche und poetiſche Schriften der
Nonnen von Bologna in der Literatur erhalten. Die Heilige Catharina von Bologna
(7 1563) binterlieB gleich ibrer beriihmten Namensſchweſter, der heiligen Catharina
von Siena zahlreiche Schriften.) — Sn der Renaiffance bildete Vernvica Gambara, *)
neben Vittoria Colonna die bedeutendfte Dichterin diefer Zeit (Martin Opig hat mehrere
ihrer Dichtungen überſetzt) den Mittelpunkt der geiſtigen Geſellſchaft während ibres
Aufenthaltes in Bologna, und auch die folgenden Jabrhunderte nennen eine Reibe
Atauennamen auf allen Gebicten des literariſchen Schaffens in Bologna, *)
) Vasari ,,Vite de’ piu eccel. pittori, scultori ed architetti.“
4) Malvafia, cin Zeitgenoſſe der Girani, entwirft in feinem Werle Felsina Pittrice* cine begeifterte
Schilderung von dem Talente der Sirani und Jatob Burdhardt nennt fie im ,, Cicerone” unter den bedeutenften
Radicrern des 17. Jabrhunderts. (Viele ihrer Stiche finden fic in Bartſch ,Peintre Graveur*, Wien 1795.)
3) Sa. Cat. di Bol: Le armi nec. alla battaglia spirituale, gedr. 1630, 1652 und 1654. —
Rime Venezia 1726, Bassano 1821. — Modo di perveuire alla perfezione Cristiana 1554.
‘) Rime e lettere di Veronica Gambara Brescia 1759, Florenz 1879, Mailand 1892. —
Lettere a Pietro Aretino.
‘) Ginige Bol. Dichterinnen: Girol. Castellani, Rime, Son. e Canzone. — Crist Paleatti, Sonetti,
Rime 1556. — Maria Is. Dosi-Grati: Commedie 1688-1709, — Elisa Hereolani-Ratta: Lettere
Venezia 1791. — Pepoli-Sompieri, Sentenze e Detti memorabili di antichi e di moderni Autori
Milano 1828. La donna s. e am. Capolago 1838. — Cath. Ferrucci: Canzone 1834 Vita di Elis.
Fry, Vita e rimembranze di XXX illustri Bolognesi, Vita di Laura Bassi, L’esilio, Canto.
Siimtlid in Ferri: Bibl. feminile gu finden.
Bon Frauen und iiber Frauen, 495
Gs wire falſch, aus dem Hervortreten einzelner hervorragender Frauen in
Stalien auf die Stellung der Frauen im allgemeinen günſtige Schlüſſe yu jieben. Die
Htauenbewegung fteht an Bedeutung und Ausdebnung hinter der anderer Lander
zurück, ſoweit fie fich nicht auf proletariſche Rreife befchrantt. Nur die Bildungsfrage
bejdaftiqt heute, wie überall, jo auch in Stalien alle Frauenkreiſe. Der Zudrang ju
den Hochſchulen ijt gwar, mit Deutſchland oder Schweden veralicen, ein ſehr geringer.
Das mag aber gerade darin feine Begriindung finden, daß die italienifden Frauen
feit alters Vorrechte bejigen, die fic) die Frauen anderer Lander in heißem Ringen
kaum noch balb erjtritten haben. Indeſſen fteigt die Siffer der weiblichen Studenten
in den allerlesten Jahren betridtlich. Rom hat bereits mebhrere gemiſchte Gymnafien
und ein Mädchengymnaſium, und das Studium der Naturwiffenfehaften und der
Philologie ijt den Frauen nunmehr allgemein zugänglich.)
Der alte Kaftengeift, der bloß cinjelnen Frauenfreifen, wie den Adels- und
Gelebrtentichtern, die humaniſtiſche Bildung ermiglichte, ift gebrocen, und frei ftrdmen
die Frauen aus allen Schichten der Bevölkerung den höheren Berufssweigen zu. Wie
ſich aber der moderne Wettfampf zwiſchen Mann und Weib in dem Lande Lauras
und Beatrices gejtalten wird, fann erjt die Zufunft lebren.
) Handbuch ber Frauenbewegung. Berlin 1902.
CUR?
Von Prauen und aber Prauen.
&s ift ſchon deShalb nicht wahr, daß die Frau fied gang auf ihre Mütterlichleit als ihren
Dafeindswed zurückzuziehen bat, weil ibr Leben fic weit über bie Grenge hinaus erftredt, in der dad
Rind ihrer bedarf.
Was der Menfeh gum Jnbalt feined Lebens madt, muß fo fein, dab feine Wirtung und
Bedeutung alle Lebensalter umfaft, nicht das cine überreich bedentt, wihrend bas andere [eer ausgeht.
Mit einiger Nbertreibung fonnte man fagen, dah die Mutterfdaft einen Saijoncharafter tragt. Unfer
Leben wabrt fieben oder act Jahrzehnte. Die Zeit, in der bas Kind auf die Mutter angewieſen ift,
betragt wenig mebr als ein Jahrzehnt.
Sid cinen neuen Daſeinszweck ju ſchaffen, mit der Berufsbilbung erit zu beginnen, wenn die
Rinder erwachfen find, dilrfte in den meiften Fallen viel gu ſpät fein.
Und fo geſchieht 03, dag Frauen in vorgeriidten Qabren, aber mit nod) ungebrodjener Kraft —
von Wannern dberfelben Altersſtuſt fagt man, daf fie im beften Mannesalter ftehen — als Schwieger:
mütter und Grofutiitter bon ber Kinder oder Ainbestinder Gnade (eben, die Schiwiegermutter nidt felten
als Friedensbreder, die Grofimutter als eine platoniſche Exiſtenz ohne Gebrauchswert.
Bedwig Pohm.
{, Die Mütter“. S. Fiſcher Berlag, Berlin.)
Dies, ics. Wile iia Mkt Re TRENT ] Nl 4
496
Vie Besoldungsverhaltnisse der Lehrerinnen an den
koniglich preussischen Seminaren.
Radbbrud mit Gucllenangabe erlaubt.
Nivor 3 ijt eine ſchöne Sache um den Idealismus. Und wenn gerade diefe Eigen:
’ ſchaft bet den deutſchen Lehrerinnen wieder und wieder anerfennend bervor-
@? geboben wird, jo’ liegt darin etwas, defjen fie ſich freuen können. Andererſeits
aber follten fie felbft und alle, die ihnen den Idealismus erhalten möchten, bedenfen,
dak er in unferer Körperwelt dauernd nur auf der Grundlage irdiſcher Exiſtenzmittel
bejteben fann, die wenigftens einigermaßen im Einklang mit dem Kräfteaufwand fteben,
Der ecingefest werden muß.
Daf dieſes Gleidhgewicht bei den Lebrerinnen feblt, dak bier die Wagſchale der
materiellen Gegenleiftungen in Zukunft nod) einer gang bedeutenden Auffüllung bedarf,
weiß jedermann. Die Lebrerinnenfchaft felbft hatte gebofft, daß dic rückhaltloſe Aner:
fennung ibrer Leiftungen und da8 damit verbundene Aufriiden in höhere und bedeut—
jamere Stellungen in Balde auch das bei Männern dafiir übliche Aquivalent nad ſich
ziehen wiirde, cine Hoffnung, die ſich bis heute nur in febr beſchränktem Mage erfiillt
hat. Wenn das bei den königlichen Anjtalten nocd mehr als bei den ſtädtiſchen der
Fall ijt, fo wiffen wir febr wohl, dah die Urface nicht ctwa in einem Mangel an
Wohlwollen auf Seiten de3 Kultusminifteriums, fondern beim Finanzminiſter liegt,
dem die Natur feines Amtes zu einem befonderen Wohlwollen fiir die Lebrerinnen
weiter frine Veranlaſſung gibt. Sache der jablreiden Abgeordneten, die den Bildungs—
fragen Intereſſe entgegenbringen, wäre es mun, die Notwendigkeit größerer Geldauj-
wendungen fiir die Lebrerinnenjiellen in das belle Licht zu feben, das ſchließlich jum
Sehen zwingt. Angefichts einer Petition yu diefer Sache, deren Beratung im Abge-
ordnetenbaus noch ausſteht, michten wir den Scheinwerfer nur auf einen Buntt
tidsten, auf die Gebaltsverbaltnifje der königlich preußiſchen Seminarlebrerinnen. Es
bedarf nur einer ganz objeftiven Darjtellung, die Tatſachen werden fiir fich felbit
ſprechen.
Bekanntlich beſtehen in Preußen im ganzen 11 ftaatliche Lehrerinnenſeminare
(gegen 116 für Lehrer!), von denen fünf nur Volksſchullehrerinnen, ſechs in erſter
Linie Lehrerinnen für mittlere und höhere Mädchenſchulen ausbilden. Zwei weitere
ſtaatliche Seminare werden gerade jetzt eröffnet. Einzelne dieſer Anſtalten ſind mit
Internaten verbunden, an faſt alle gliedern ſich jetzt nach und nach Volks- oder Mittel—
ſchulen als Nbungsfdulen der Seminariſten an; die Seminare fiir Lehrerinnen höherer
Mädchenſchulen ſind außerdem an eine höhere Mädchenſchule angeſchloſſen.
Seit 1894 werden nun zum Unterricht an dieſen Anſtalten in ſteigendem Maße
Lehrerinnen verwendet. Das iſt ſicherlich an ſich ein ehrendes Zeugnis für die Leiſtungen
der Lehrerinnen, um ſo mehr, wenn man in Rechnung zieht, daß die Lehrerinnenbildung
in Preußen augenblicklich ganz im Stadium des Experiments ijt. Miniſterielle Lehr—
—
Die Befolbungsverhaltnifje der Lehrerinnen an den königlich preußiſchen Seminaren. 497
pline fiir Lebrerinnenfeminare find befanntlich bid jest in Preufen noch nicht vor-
handen. Sie follen binnen kurzem gefchaffen werden. Die Königlichen Anjtalten vor allem
baben jest gangbare Wege praktiſch zu erproben. Sede Lebrerin arbeitet dabei natürlich
im gan; anderem Maße als fonft unter eigener Verantwortung; an ibre Leiftungen
werden in jeder Hinſicht beſondere Anſprüche geftellt. Es ift begreiflich, daß der Staat
fic) fiir diefe Mufgaben das tüchtigſte Lehrerinnenmaterial ausſucht. Neben den im prak—
tiſchen Dienft erprobten Lebhrerinnen werden mit Vorliebe ſolche herangezogen, die nach
mebrjabrigem afademifdem Studium die feit 1894 beftehende wiſſenſchaftliche Prüfung,
das Oberlehrerinnencramen, beftanden haben. Wie gefagt, man fann die Anftellung
folcher afademifch gebildeten Lebrerinnen im Qntereffe unferer ftaatlichen Ceminare, an
denen, wie fiberall im Mädchenſchulweſen, hinſichtlich des Lehrfsrpers manches im
Argen lag, nur freudig begrüßen.
Uber nun fommt die Kehrſeite! Die Leiftungen diefer Lebrerinnen hat der
Staat gern in Unfprud) genommen, aber dem mit höher qualifizierten Lehrkräften
verbundenen Mehraufwand an Koſten bat er fich gu entziehen gewußt. Obwohl an
jedem Lehrerinnenfeminar ein Oberlebrer angeftellt ift und cine zweite Oberlebrerjtelle
angeftrebt wird, bat man in feinem eingigen ſtaatlichen Lebrerinnenfeminar
eine Oberlebhrerinnenjtelle gefdhaffen. Wohl ijt in den mit den Seminaren
verbundenen ſtaatlichen höheren Mädchenſchulen je eine Oberlebrerinnenftelle geſchaffen
worden — die Regierung fonnte fic) bier natürlich nicht in Widerſpruch mit ibren
eigenen VBeftimmungen von 1894 fegen, die die Anftellung einer Oberlehrerin an jeder
höheren Mädchenſchule verlangen und die Auszeichnung der Stelle im Befoldungsetat
empfeblen — aber diefe Stellen wurden nicht mit afademifch gebildeten, fondern mit
bewährten, ſchon lange im praktiſchen Schuldienft ftebenden Lebrerinnen beſetzt, die in
der Skala der Ceminarlebrerin Langit die Gehaltshöhe erreicht batten, die der
anfangenden Oberlehrerin zuſteht. Wlfo dieſe Einrichtung von Oberlehrerinnenſtellen
foftete den Staat feinen Pfennig. Cie find auferdem in erfter Linie geſchaffen, um
die in den Maibeſtimmungen geforderte ,Gebilfin” des Direktors, ju der ſich cine
praftijd bewabrte Lehrerin meift auch beffer eignen wird, als eine neugebadene Ober—
febrerin, anjuftellen, und mit wiſſenſchaftlichem Unterricht auf der Oberftufe nicht
notwendig verbunden. Und, wie geſagt, diefe nicht afademifch gebildeten Oberlebrerinnen find
nur an den ſtaatlichen höheren Mädchenſchulen, nicht an den Seminaren angeftellt.
Die Lehrerinnen an den Königlichen Seminaren aber werden, gleidgiltig, ob
akademiſch oder ſeminariſtiſch gebildet, trogdem fie an Stundenzahl und Arbeitsleiftung
ihren männlichen Rollegen durchaus gleich fiehen, nach dem Normaletat fiir ,,ordent-
liche Lebrerinnen” folgendermafen befoldet: Privatdienjte werden unter feiner
Bedingung angerechnet; fie beginnen mit 1200 Mark! Gebhalt, und erhalten, je nach
der Servisflafje des Orted, in dem fie arbeiten, 216, 360 oder, in Berlin, 540 Mark
Wobnungsjulage. Qn Berlin haben fie, den Teurungsverhältniſſen entſprechend, noc
300 Mark mebr Wnfang3gebalt. Die Oberlehrerinnen der ftaatliden höheren Mädchen—
ſchulen beginnen mit 1800, in Berlin mit 2100 Mark und haben dementfprechend
540—900 Mark Wobnungsjulage.
Nun twird man fragen, warum laſſen fic) akademiſch gebildete Lebrerinnen darauf
cin, im ftaatlichen Dienft unter Bedingungen ju arbeiten, die feine ſtädtiſche und keine
private Anſtalt ibnen bieten fiunte? Sum Teil mag daran der Bdealismus Schuld
jein, der in den deutſchen Lebrevinnen gerade in der Zeit ihres Kampfes um die höhere
82
498 Die Befolbungsverhaltniffe der Lebrerinnen an ben königlich preußiſchen Seminaren.
Frauenbildung ein ftarfer Faktor ijt. Die Freude über den weiten verantwortungs-
reichen Wirfungstreis, der ſich ihnen eriffnet, und der Cifer, einen weiteren bedeutſamen
Schritt ber Frauen ing weibliche Unterrichtsweſen hinein gu verwirklichen, madt gegen die
pefunitire Seite der Frage gleichgiltiger, als gut und ridtiq ijt. Gleidgiltiger, als
qut ijt, —- denn der Staat Lift fic, wie nur irgend ein UArbeitgeber, durch Angebot
und Nachfrage beftimmen. Für ihn wird diefer Idealismus cin Faktor, den er kühl
in das Rechenerempel: gute Wrbeit fiir wenig Geld, einftellt. Andererſeits aber bat
natürlich die Erwartung mitgefproden, daß man feitend der Regierung fiber fury oder
lang Oberlehrerinnenftellen an den foniglichen Lebhrerinnenjeminaren ſchaffen würde und in
diejer Vorausſetzung ſich ſchon jebt wiſſenſchaftlich gebildete Lehrerinnen fichert. Wenn
der Staat unter ausdrücklicher Anerkennung ihrer in der Praxis oder in der wiffen-
ſchaftlichen Prüfung gezeigten Leijtungen Lehrerinnen in feinen Dienjt zieht, gleichſam
al eine Auszeichnung, fo ift feitend der fo Ausgejeichneten wohl das Zutrauen be:
rechtigt, da der befonders verantivortungsvollen Arbeit nicht dauernd ein ganz be:
fonders fubalternes Gebalt gegeniiberiteben würde.
Zunächſt müßten unbedingt an den ſtaatlichen Seminaren Oberlebrerinnenjtellen
geſchaffen werden. Es ſcheint uns cin einer ftaatlichen Unjtalt wenig witrdiger Zuitand
gu fein, daß fie die höher qualifizierte Leiftung nicht auch entfprechend höher bezahlt,
ganz abgeleben davon, daß die Negierung durch die Gleichſetzung von afademifd) und
feminarijtifa gebildeten Lebrerinnen im Gebalt den Wert des von ihr eingefiibrten
Oberlehbrerinneneramens in ein merkwürdiges Licht riidt. — Die Regierung felbjt bat
in einem Erlaß vom 20. April 1885 75 bis 80 Prozent des Lehrergebalts als das der
Lebrerin Angemeſſene erflirt. Wir jtehen alfo auf dem Boden ibrer eigenen Anſchauung,
wenn wir fiir die Ceminarlebrerinnen diefe Forderung ftellen, d. 6. fie die Seminar:
oberlebrerin 75 bis 80 Projent wom Gebhalt bed Oberlebrers, fiir die ordentliche
Lebrerin 75 bis 80 Prozent vom Gebhalt de8 ordentlichen Lebrers. — Denn aud) das
Gehalt der nicht akademiſch gebildeten Ceminarlebrerin ijt fowobl in Anbetradt der
von ihr geforderten Wrbeitsleiitung, als aud im Verhältnis yum Seminarlebrer durch—
aus unzureichend. Niemand wird es als cin gerechtes Berhaltnis bezeichnen können,
wenn, wie es jebt im Normaletat der Fall ijt, das Maximalgehalt der ordentliden
Seminarlebrerin dem Minimalgebalt des Ceminarlebrers etwa entfpridt — bei
gleicber Arbeitsleiſtung.
Die Frage hat nod eine weitere Bedeutung. Die Lehrerinnen der ftaatlicen
Schulen fteben auf vorgeſchobenem Poſten. Was fie fich an duperen UArbeitshedingungen
erfampfen, fann ſehr leicht cinmal entſcheidend werden fiir die große Maſſe ihrer
Kolleginnen in ſtädtiſchen Dienſten. Schon mebhrjad hat man Vorſchlägen hinſichtlich
einer geſetzlichen Gebaltsrequlicrung fiir die höhere Mädchenſchule den ,,Normaletat”
zu Grunde gelegt. Kommt es einmal ju folcher gefeslichen Regelung, fo wird ed fiir
die Einſchätzung der Lebrerinnen von vornberein von großem Gewicht fein, wie der
Staat felbit bisher ſeine Lebrerinnen bejablt bat. Und febon jest bat natiirlich die
ſtaatliche Wnftalt immer etwas das Gewicht eines Vorbildes. Es ijt alſo neben allem
andern eine Pflicht der Kollegialität, eine ſoziale, cine Standespflidt, daß die ftaat-
lichen Seminarlebrerinnen alles tun, was in ibren Kräften ftebt, um fics würdigere Ge-
baltsverbaltniffe zu verſchaffen.
— — Helene Lange.
AIR
Frauen an willenichaftlidien Bibliotheken
in der Schweiz.
Qn ber Schiveig find Frauen an wiffen:
ſchaftlichen Sffentliden Bibliothelen ſchon feit
mebreren Jahren angeftellt. Es fei nur daran
erinnert, daß Dr Ricarda Oud) vor ihrer Ber-
heiratung an ber Stadtbibliotbe! in Zürich als
wiſſenſchaftliche Gebilfin tatiq war. Qn Bern,
wo es faft fein Privat: und nur ziemlich wenig
Bebhdrdenbureaus ohne cine fog. Bureautochter (fille)
gibt, beforgt auf der Stadtbibliothet ein Fraulein
als ,,Cuftos” den Musleibdienft und die cinfaderen
Bureauarbeiten, cine Frau als „Abwartin“ das
Holen und Cinftellen der Bilder und die Gaus:
dienergeſchäfte. Wn der Hochſchul-Bibliothet
Vern ift ſeit 1897 cine kdaufmänniſch vorgebildete
Tochter“ beſchäftigt, die ſich fo cingearbeitet bat,
dah fie in dem Bierteljahe gwijden dem Tode des
letzten Bibliothefars (Degember 1900) und dem
Dienftantritt ded neuen alles Wefentliche gur Auf:
rechterbaltung ded faufenden Betriebs gu bejorgen
imjtande war. Debt verfieht fie als „J. Gebilfin”
den Ausleihdienft ziemlich felbftandig und bat fied
raf in die gu Gunjten ber Beniiger cingeridteten
Anderungen ded Ausleibbetriehs und die ftraffere
Führung ber Geſchäfte durch den neuen Vorftand |
eingewöhnt. Sie muß auch, wie friiber fcbon, die
Bücher holen und einftellen, da die bisber feblende
RNumerierung nod nicht vollendet und deshalb fein
Diener (Abwart) dazu verivendet werden fann.
Gleichzeitig ift fie auc geſchult, den ebenfalls nicht
alademiſch gebildeten I]. Gebilfen nad Bedarf in |
ber Aufſicht des Leſezimmers gu vertreten. Wenn
fic) aud) die Grenjen nichtakademiſchen Wiffens |
bemerfbar madden, fo ift dod innerbalb des vor:
banbenen und durch die mebrjabrige Ausleihtätigleit |
erweiterten Bildungsgebietes die Arbeit im all |
gemeinen zuverläſſig und bibliothelsſicher. Der
Verkehr mit den entleihenden Studenten iſt gleich
weit entfernt von dem Amtsdünkel eingewöhnter
fubalterner Kräfte wie von etwa zu vermutenden
Auswüchſen galanter Art. An der Hochſchul—
Bibliothel ijt auch cine ältere Dame aus beſten
Kreiſen, die ſchon früher an einer ſüddeutſchen
Bücherhalle mitgebolfen hatte, ſeit 1902 während
des Sommers als freiwillige Hilfsarbeiterin mit
großer Aufopferung und unermüdlichem Eifer kätig
und zeigt ſich auf den verſchiedenſten Gebieten der
Bibliothelsarbeit zuverläſſig verwendbar. Endlich
find ſeit März 1903 an dieſer Bibliothel die bis
dahin vom II. Gebilfen mitheforgten Dienergeſchäfte
ebenfall8 ciner Frau als „Abwartin“ tibertragen
worden. — An der Schweizeriſchen Landes:
bibliothel in Bern find ſeit 1898 swei nicht alademiſch
gebildete Gebilfinnen, darunter cine als Sefretarin
des Direltors jur vollen Zufriedenheit beſchäftigt,
ebenfo bat die Sentralfommiffion fiir die Biblio—
graphie ber Schweizeriſchen Landesfunde
cine Bureauangeftellte. — Ob nod an anderen
größeren Bibliothefen der Schweiz Frauen ans
geftellt find, vermag ich gur Seit nicht zu fagen.
Die gemachten Erfabrungen jeigen aber, daß weib-
liche Krafte auch bet feblender alademiſcher Bildung
auf groferen Bibliothefen in der Regel juverlaffige
Dienfte leiſten. Insbeſondere fcheinen fie berufen,
den wiſſenſchaftlichen Beamten folde Arbeit ab-
| punebmen, die der Hochſchulbildung nicht bedarf.
Dadurdh werden mehr Kräfte fiir die Hoberen
VibliothelSaufgaben frei, mit denen nod fo manche
Bibliothel aus Mangel an Perfonal und eit im
Rückſtand ift. Die Anftellung ftudierter Frauen
an Qibliothefen ift aber in dem Lande der
Studentinnen, Affiftentinnen und Privatdoyentinnen
nur nod cine Frage der eit und — ded Geldes.
(Mus dem Rentralblatt fiir Bibliothelsiwefen 1904,
S. 134.) Dr Langin: Bern,
Sohne
82 *
Raddrud mit Quellenangabe erlaubt.
* Die Mechtsfahigheit der Ehefrau erſcheint
der Kaiſerl. Ober: Poftdireftion in cigentiimlidem
Lidt. Wir erhalten von einem belannten, fiir
die Frauenſache ſehr intereffierten Berliner Rechts—
anwalt cine Zuſchrift, die fiir unfere Rechtsſchutz—
vereine von grofem Intereſſe fein dürfte:
poor einiger Zeit wollte mir cine Ehefrau,
deren Mann im Muslande weilt, eine Poftvollmadt
erteilen.
Als id) diefelbe dem juftandigen Poftamt cin:
reichte, teilte mir diefed mit, dah die Ober: Poft:
direftion verlange, daf die fraglice, mir qu erteilende
Vollmadt auch von dem Chemann mitunterfdrieben
ware,
Ich wandte mid) darauf, um den Tatbeftand
feftsuftellen, an die Raiferlide Ober: Poftdireftion
direft um Auskunft umter Hiniveis darauf, daß die
Sache von pringipieller Bedeutung fei und dak ic
alS Rechtsfundiger nicht wife, auf Grund welder
geſetzlichen Beftimmung ein derartiges Verlangen
geftellt werde.
Sch erbielt von der Kaiſerl. Ober Poftdireftion
unter dem 12, März 1904 die Antwort:
„Daß bei den von Ebefrauen ausgeſtellten
Vollmadten von den Poftanftalten die Mit:
unterfarift der Chemanner verlangt wird,
berubt auf einer dienftlicben Vorſchrift, die
vom Reichs: Poftamt erlajjen worden ift.”
Sonftige Griinde hat mir die Kaiferl. Ober: Poft:
direftion nicht angegeben.
Ich halte dieſe Vorſchrift fiir geſetzwidrig, indem
ich darauf hinweiſe, daß die Poſt verpflichtet iſt,
ſämtliche Sendungen, welche ihr unter der Adreſſe
einer Ehefrau übergeben werden, der Adreſſatin
auszuliefern, ohne etwa bei der Auslieferung die
Quittung des Ehemanns verlangen zu dürfen, und
tatſächlich handelt ja die Poſt auch ſo.
Wenn ein Adreſſat berechtigt iſt, die Auslieferung
| (( — cS.
einer Sendung an fic) yu verlangen, fo muf er
bod aud) folgerichtig berechtigt fein, einen Dritten
gu beftellen, der fiir thn die Sendungen entgegen:
nehmen darf.
— ~~
⸗
hes
[A
Ich meine, dak dieſe einfache Überlegung allcin
ſchon ausreicht, um die Unhaltbarkeit des Stand-
punktes des Reichs-Poſtamts klarzulegen.
Dazu klommt aber, dah an ſich zweifellos cine
Ehefrau berechtigt iſt, Vollmachten zu erteilen, ohne
Genehmigung ihres Mannes. Dieſe Vollmacht
würde nur dann nicht für den Bevollmächtigten
ausreichen, wenn es fic) um Rechtsgeſchäfte bandelt,
die das cingebradjte Vermögen ber Frau angeben,
wo alfo das gefeplich gu prdajumierende Verwaltungs⸗
und Richbraudsrecht des Mannes in Frage ftebt.
Die Verfiigung des Reichs-Poftantis klingt fo, als
ob fie aus ciner Seit ftamme, bei der man annabm,
daß die Frau feine rechtsfahige Perfon fei, ſondern
unter der Vormundſchaft des Chemannes ftebe.
Bu welden prattifden Ungutriglidfeiten der im
Gefeh feine Begriindung findende Standpuntt ded
Reichs: Poftamts führt, geigt der bet mir vorliegende
Fall.
Die Genehmigung des Mannes ware nur in
Woden zu ſchaffen gewefen, die Ehefrau felbft
wollte verreifen und braudte dringend ibrer Geſchäfte
wegen bier cinen Poftbevollmadtigten. Was foll
alfo in fold cinem Fall geſchehen?“ Dr B.
* Die Frage des Examens fiir das hihere
Lehrfach ift nunmebr fiir die Frauen, wie es ſcheint,
pringipiell und endgiltig geregelt. Es find gleich—
zeitig mit der Bewerberin in Preufen, von deren
Bulajiung wir im vorigen Heft bericteten, rite
fiir das höhere Lehrfach vorgebildete Studentinnen in
Elſaß Lothringen und Baden zum Eramen pro
facultate docendi jugelaffen, und die Univerfitat
Sena iff von Seiten der großherzoglich und ber:
zoglich ſächſiſchen StaatSregicrungen in Kenntnis
geſetzt worden, dak grundfipliche Bedenken gegen
die Zulaſſung von Frauen zum Examen pro facul-
tate docendi, vorausgefest, daß fie die Vor—
bedingungen erfiillen, nicht vorliegen.
* Das miediziniſche Staatseramen beftand
Dr Jenny Springer in Berlin mit der Ge:
famtnote gut. Dr Springer bat fic, nachdem fie
auf Grund der Schweizer Approbation bereits
Bur Frauenbewegung,
mebrere Sabre prattijiert hatte, der nochmaligen
Vorbereitung auf die deutſche Staatsprüfung unter:
zogen.
* Seine erſten vier Abiturientinnen entließ dad
1899 begriindete Stuttgarter Mädchengymnaſium.
Die Berliner Gpymnafiallurfe baben 14 Abitu:
rientinnen entlajfen, die ſämtlich das Examen vor
ber löniglichen Priifungstommiffion eines Berliner
Gymnaſiums mit gutem Erfolg beftanden.
* Der Kultusminifter genehmigte die von ben
Breslauer Stadtbehörden beſchloſſene Crrichtung
eines ſechsllaſſigen Realgymuaſiums fiir Mädchen
im Anſchluß an bie ſtädtiſche Viltoria-Töchterſchule
mit dem Endziele der Reifeprüfung. Die neue
Anſtalt wird unter allmählicher Auflöſung der bereits
beſtehenden vierklaſſigen Realgymnaſialkurſe für
Mädchen ſofort eröffnet.
* Die Stelle eines Schularztes in Breslau
ift zum erftenmal mit ciner Dame, Fraulein
Dr Oppler, befest worden.
* Zum Paragraph 3616, Cin ſchwerer
polizeilicher Mißgriff ift im Wartefaal erfter
und zweiter Kaffe in Bielefeld vorgefommen. Dort
wurde auf bie unbegriindeten Angaben einer Dirne
bin cine junge Yebrerin aus Minden, die, vom
Beſuch ibrer Verwandten beimfehrend, den Anſchluß
zur Weiterreife abwartete, verhaftet. Da bie Dame
die ihr von dem betreffenden Kriminalbeamten einen
Augenblick vorgebaltene CErfennungsmarfe nicht
bemerfte, auc dic Situation nicht verftand, ba fie
ſich feiner Schuld bewuft war, weigerte fie fic,
bem Fremden gu folgen. Der Beamte zog nun,
wie der Hann. K. mitteilt, die junge Dame gewalt:
fam fort, ſtieß und jerrte fte weiter, ſodaß fie mit
aufgeloftem Haar im Poltyeibureau anfangte. Cine
große Menfchenmenge hatte vom Bahnhof aus den
Bug begleitet, Im Poligeibureau mußte fie ein
peinliches Verhör über ſich ergeben laſſen. Dah
der dienſthabende Kriminalkommiſſar, ſobald er den
Mißgriff erfannte, ihr in jeder Weiſe ſeinen Schutz
gewahrte, war natürlich nur ſelbſtverſtändlich. Der
betreffende Schutzmann iſt ſeitens der Bielefelder
Polizeibehörde ſofort zur Diſpoſition geſtellt worden.
Vom Regierungspräſidenten ſoll ein ausführlicher
Bericht über den Fall eingefordert fein.
Es iſt anzuerkennen, daß man ſeitens der
Behörde derartige Vorkommniſſe jetzt ſchwerer nimmt
als früher. Daf die ſtrenge Beſtrafung des Schutz
manns aber ein ſicheres Mittel iſt, ſolchen Fällen
fiir die Zukunft vorzubeugen, wird niemand glauben,
der die lange Reihe all der „Mißgriffe“, von denen
die Offentlichleit erfahren bat, überſieht. Die
Schuld an dieſen Vorkommniſſen trägt eben nur
zum geringen Teil der Beamte, zum größeren
501
fallen fie einem Syſtem zur Laſt, bas untergeordnete
Polizeiorgane mit derartigen Aufgaben betraut.
Der Fall beweiſt wieder in eklatanter Weiſe, wie
notiwendig dad Vorgehen der Frauen gegen § 361 *
bed Strafgeſetzbuches ift.
* Gine Qufpeftorin der Waifenpflege, der
die Aufgabe gufallen wird, bie von der Stadt in
den Provingen in Privatpflege gegebenen Waifen:
finder au beſuchen, ift in Berlin angeftellt worden.
Bisher fag diefe Arbeit in den Handen von
Gnfpettoren, Die Wahl ijt auf Frl. Charlotte
von Trebra gefallen, die fic) bereits in der
ſtädtiſchen Waijenpflege, namentlich in ber Beauf:
ſichtigung bed Haltekinderweſens, bewährt bat.
* Gin weiblicher Gefangenentransportenr ijt
bon der fol. Polizeidireltion in Wiesbaden angeftellt
worden. Rad deren Anordnung werden fortan
die weibliden Gefangenen nicht mebr durd cinen
männlichen TranSporteur, fondern durch eine Fran
von einem zum anderen Orte gebracht werden,
Diefer zweifellos nicht leichte Poften iſt der Ehe—
frau cines Schutzmanns iibertragen worden. Ihr
liegt namentlich auc) der Transport der—
jenigen weiblichen Perfonen ob, fiir bie pom
Gericht die Fiirforgeersiehung angeordnet ijt, und
bie daraufhin zur Zwangserziehung entiveder in
Anſtalten ober Familien untergebradt werden.
* Fn der Gartenbanſchule fiir gebildete Franen
in Marienfelbe fand am 24. März d. J. die Abgangs—
pritfung von fiinf audgebildeten Gärtnerinnen ftatt.
Zwei Damen beftanden das Examen mit dem Pra:
dilat „ſehr gut” und erbielten cine Prämie, zwei
Damen nit „gut“ und cine mit „genügend.“
* Die CErridjtung eines Ledigenheims fiir
weiblide Angeftellte in Ulm beſchloſſen dic biirger-
licen Kollegien daſelbſt. Mit einem Aufwand von
105 000 M. follen Wobhnraume fiir 60 Madden
fowie fiir die Berwaltung und Bedienung hergeftellt
werden. Dad Gebdude wird fo angelegt werden,
bak es im Falle einer geringen Inanſpruchnahme
als Doppelwohnhaus vermietet werden kann.
(Soz. Prax.)
* Ob Frauen cin Jutereſſe an den Biirger:
vertreterfitungen batten, fam kürzlich in Roftod
gelegentlid) ciner Beratung über die Offentlichleit
diefer Sigungen jur Sprache. Berjdiedene fort:
ſchrittliche Stadtverordnete erflarten, daß man auc
Frauen das Recht geben miiffe, als Zuhörer bei
dieſen Sibungen anweſend gu fein, da fie baufig
mebr Berftandnid und Intereſſe fiir fommunale
Ungelegenbeiten Hatten wie mander Mann. Jn
der Ubitimmung wurde jedoch die Ratsvorlage, die
dieſes Hecht auf Biirger beſchränkte, faft einftimmig
angenommen.
502
* Armenpfiegerinuen in Witten. In der
Armendeputations: Situng vom 22. März 1904
wurden durch ben Borfigenden zwölf Frauen in the
Amt als Helferinnen der SHffentliden Armenpflege
eingeführt. Die Anregung zur Aufnahme weiblicher
Hilfsträfte in die ſtädtiſche Armenpflege ging vom
Verein Frauenwohl aus, dem fieben von den zwölf
gewiblten Frauen angebiren. Die Berufung iſt
nad längerem Widerftand auc) jest nur verſuchs—
weife erfolgt und die Herangichung der Frauen in
jedem eingelnen Fall dent BegirfSvorfteher refp.
per Urmendeputation iiberlajjen. Dod ift ben
gewählten Helferinnen die Teilnahme an den Be—
ratungen der Bezirksverſammlungen geftattet und
ihnen damit Gelegenbeit gegeben, einen Cinblic
in die Praxis der ſtädtiſchen Armenpflege gu ge
winnen.
* Bur Einſchränklung ded Mädchenhandels
iit vom Bundesrat in der Sifung vom 4. Februar
der Beſchluß gefakt, der Ziffer 10 des § 70
der Befanntmacdhung, betreffend Vorſchriften über
Musivanderecfehtife, vom 14. Mary 1898 die
folgende Faffung yu geben: „Dem Führer eines
MAuswandereridiffes fliegen die folgenden Ber:
pflictungen ob: Rad) Beendigung jeder Reife als:
balb bem fiir den überſeeiſchen Landungsplatz zu—
ftandigen deutſchen Konſul cine Meldung oder cine
Feblanseige über etwaige auf der Reife beobachtete,
den Mädchenhandel betreffende Vorlommniſſe oder
Verdachtsfälle gu eritatten; ferner, falls hinſichtlich
beftinunter auf bem Schiff befindlicher Frauens-
perfonen ber Verdacht entftebt, daß fie gu Ungucdts:
jweden ind Ausland verbracdt werden follen, dem
fiir den Ausſchiffungshaſen der betreffenden Frauens:
perfonen jujtindigen deutſchen Konful fo frühzeitig
alé möglich Mitteilung von Namen, Staats:
angeborigheit und Reiſeziel diefer Perſonen und ibrer
Begleiter zu machen.“
*Fraueuwahlrecht in Schweden. In der
Zweiten Kammer des ſchwediſchen Reichstages iſt
ein Antrag eingebracht, wonach der Reichstag bei
Erledigung der Frage der Einführung des allgemeinen
Wahlrechts fiir Manner die Regierung erſuchen
ſoll, einen Vorſchlag zur Einführung des Wahl—
rechts zur Zweiten Kammer auch für die Frauen
auszuarbeiten und dem Reichstage
Der Antrag wird durch 30 Abgeordnete unterſtützt.
* Das Recht zur Ansiibnng des Anwalts—
berufs iit der Rechtslizentiatin der Univerfitat |
Wenf Fraulein Rellp Favre vom Regierungsrat
vorzulegen.
gegnen wir ihrem Ramen.
Zur Frauenbewegung.
des Kantons Genf erteilt worden. Fräulein Favre
iſt der erſte weibliche Anwalt im Kanton Genf.
* Gin Beſchlußantrag zugunften des Fraucu-
ſtimmrechts wurde im engliſchen Unterhaus mit
182 gegen 68 Stimmen angenommen.
* Totenſchau. Gm 83. Lebensjahr ſtarb in
London Frances Power Cobbe. Abr Name wird
aud unter deutſchen Leſern die Erinnerung an dic
erften Kampfjahre der engliſchen Frauenbewegung
auffteigen laſſen, einer eit, aud ber Franced
Cobbe alS cine ber wenigen Beteraninnen nod
übrig geblieben war, Ihrer Feber verdanfen wir
die Berichte iiber Mary Carpenters erfte Reform:
tätigleit in ber entſetzlich verwabrloften engliſchen
Armenpflege. Mit Mary Carpenter war fie im
Rettungsweſen als eine ber Frauen tatig, bie aud
auf dieſem Gebiet die erften babnbrechenden
Neformen durchgeſetzt haben. WS Schriftſtellerin
und Sournaliftin vertrat Miß Cobbe ſoziale und
auch religidd-philofopbifde Intereſſen. Unter den
erften Borfimpferinnen bed Frauenftudiums be:
Die legten Jahrzehnte
ihres Lebens fonjentrierte fie ihre Beftrebungen
auf bie Abſchaffung der BVivifeftion, freilich obne
den Erfolg, den fie als Leiterin ber Geſellſchaft
gegen Bivifettion hoffte. — An Forefthill in Eng:
(and ftarb die älteſte Tochter Ferdinand Freiligraths,
Kathe Freiligrath« rocker. Wir haben in der
„Frau“ ſchon mebrfad auf bie als Schriftſtellerin
und Uberſetzerin bekannte Frau hingewieſen. —
Im Alter von 71 Jahren ſtarb in Paris Louiſe
Michel, die bekannte Mitlämpferin der Pariſer
Kommune. Sie war die uneheliche Tochter eines
adligen franzöſiſchen Grundbeſitzers, und ſicher bat
dieſe ihre Herfunft, durch die fie mit einem leiden
ſchaftlichen Temperament und einer guten geiſtigen
Bildung doch außerhalb der Geſellſchaft ſtand, über
ihr Leben entſchieden. Sie war lange Zeit Lehrerin,
wurde dann wegen ihrer Beteiligung an den Auf—
ſtaänden der Kommune nad Neu-Kaledonien expor—
tiert, wo fie 9 Jahre, bis ju ihrer Begnadigung,
blieb. Rach zweijährigem Aufenthalt in Parié
wurde fie 1883 wegen ber Teilnabme an anarchi—
ſtiſchen Kundgebungen wieder fiir ſechs Sabre ver:
urteilt. Längere Zeit lebte ſie auch in London,
feit 1895 aber meiſt in Paris,
Berichtigung. Auf S. 435 bes vorigen Hefted
ber ,, Frau” (1. Spalte, Beile 3 von oben) ift ein
Drudfebler ftehen geblichen. Es ift gu leſen, wie
in ber 9. Seile von unten „Deutſche Tageszeitung“,
nicht „Deutſche Zeitung”. Die Redaktion.
AGRA
503
Der internationale Kongreß fiir Sdulhygienc.
Es ijt felbftverftandlich ausgeſchloſſen, an dieſer
Stelle einen aud) nur andeutungsweiſe erſchöpfenden
Vericht iiber die wichtigen, wiſſenſchaftlich glänzenden
Verbandlungen des Kongreffes gu geben. Wer ein
Yntereffe daran hat — und welche Mutter oder
Erzieherin hatte das nicht! — fei auf das Kongreß—
wert verwiefen, dad alle Bortrage in extenso
bringen wird. Hier fei mur das die Frauen
fpesiell und im engſten Sinn Berithrende ermabnt,
Aus weldem Geifte die Frauen den Bers
bandlungen ihre Mitarbeit und ibr Antereffe entgegen:
brachten, bas zeigt am beften die Anſprache, mit
der Frau Helene von Forfter die Verjammlung
begriipte:
„Als Delegierte zweier großer Körperſchaften,
deren Vorſtänden ich anzugehören die Ehre babe,
ale Delegierte ded Allgemeinen deutſchen Frauen:
vereins. der mit feinen Ortsgruppen und Siweig:
vereinen fic) fiber gang Deutſchland verbreitet, und
als Delegierte de} Bundes deutſcher Frauenvereine,
der gegen 171 Mitglicdervereine in allen grofen
und kleinen Städten des deutſchen Reiches mit
90000 Einzelmitgliedern umfaßt, und endlich ald
Vorſitzende des Damenausſchuſſes, der es ſich zur
Aufgabe gemacht bat, mitzubelfen, daß den Gäſten
in unſerer Stadt der Auſenthalt in ihr behaglich
werde, entbicte icp diefer Verſammlung herzlichen
Gruß. Was uns Frauen mit befonders herzlicher
Freude erfiillt, tft, daß die Leiter dieſes Kongreſſes
ded altniirnberger Wappens gedenfend, das ald
Sinnbild die adlerfliigelige Qungfrau tragt, den
Frauen bei diefer BVereiniqung die gleichen Rechte
gaben wie den Mannern, dah fie an ihm teilnehmen
fonnen, nicht nur als mebr oder minder willkommen
acheifiene Begleiterſcheinungen, fondern als Mit:
beratende, als Mitaufgerufene gur Tat. Wir haben
eS willfommen gebcifen, daß nicht nur der Lebrerin
und der Sdhulvorfteberin, nicht nur den Ver:
treterinnen von Ninderfebubbeftrebungen bier das
Wort geacben wird, fondern daß man auch dic
Stimme der Mutter Hiren will, jene wichtige
Stimme, die nod) fo felten in der Offentlichteit
ſich bervorivagt. Damit tritt bier cine Erkenntnis
in den Vordergrund, die wir Frauen auf erzieheriſchen
Gebieten fiir befonders wichtig eradten. Die Er—
fenntnis, dak bei Bearbeitung ded ſchulhygieniſchen
Tatigteitsfeldes, dad auf fozialem Boden fic) abgrengt,
bic Frau neben dem Mann, die Lebrerin neben
dem Lehrer, die Arztin neben dem Arzt, die Mutter
neben dem Bater in Pflicht und Arbeit gu fteben hat.
Mur wenn fie beide den Boden fo pfleqen, wird
er fo bereitet werden, daß die jungen Pflanzen,
die ibm anvertraut find, bliibend voll Mark und
Kraft hineinwachſen in die Belfer. Die beiden
Körperſchaften, die ich vertrete, find von dabin:
gebenden Gedanken angeregt und getrieben fiir die
Cinfiibrung der Gejundheitslebre in den Schulen,
fiir bas Aufnehmen erzieheriſcher Maßnahmen yur
fittlicen Veredelung der Jugend in die öffentlichen
Lehranſtalten eingetreten. Sie bemühen fic gegen:
wartig, die Zuziehung der Frauen gu den Schul—
deputationen und Sdulverivaltungen zu erreichen.
Diefe Tatfacen diirfen als beiweifend gelten fiir
das Intereſſe, dad die von mir vertretenen Körper—
febaften den auf diefer Tagung zu pflegenden Be:
tatungen entgegenbringen, jie kennzeichnen zugleich
bie Anteilnahme der Frauen iiberhaupt an diefen
Veratungen. Das Verantwortungsgefiihl, das die
Frau bet dem Vollerfafjen ibrer erjieberifehen Auf—
gabe befeelt, tft fo [ebendig, daß es längſt über
die Grenzen des Hauſes hinaus auf die Gebiete
der öffentlichen Erziehung ſeine Wirkungen entfaltet
hat. Qn richtiger Abſchätzung der Errungenſchaften,
die dieſe Wirkungen bedeuten, ſind die Frauen zu
dieſem Kongreß gerufen, um hier die Pfeiler ſich
bilden zu ſehen, auf denen die Schule der Zukunft
aufgebaut werden ſoll, jene Schule der Zulunft,
aus der phyſiſch und pſhchiſch ftarfe Weſen mit
geſteigerten Geiftestraften, mit frifthem Blut und
tlarem Blick hervorgehen follen jum Ruben der
Voller, fie werden fic mithen mit einem Blic, der
qreift, dieſen Borgingen gu folgen. In diefen
Gedanfen bringen die von mir vertretenen Körper—
idajten dem internationalen Kongreß fiir Schul—
hygiene ibre twarmen Sympathien entgegen. Qn
dicfem Sinne grüßen wir die Frauen, die berbei-
gecilt find aus allen Yandern, mit herzlichem
Schweftergruf. Mage die geiftige Sufammen:
geborigtcit, die zwiſchen den Frauen aller Kultur—
lander befteht, dazu dienen, in diefen Tagen zwiſchen
ibnen und unS ein Band von feftem Gefiige gu
tniipfen, migen fie auf diefem fatamorganifc die
Inſchrift leuchten feben, die unjer Wappenbild, die
ablerfliigeliqe Jungfrau, verfinnbildlicht, die Inſchrift:
Frauen empor!“
Von deutichen Rednerinnen waren Frau Profeſſor
RKrutenberg, deren Ausführungen wir in diefer
Rummer jum Abdruck bringen, und Frl. Helene
Sumper mit Referaten vertreten. Frl. Sumper
ſprach als Rorreferentin der erſten Rednerin über
die Bedeutung ſchulhygieniſcher Beſtrebungen für
die Frauen mit beſonderer Berückſichtigung der
Vollsſchule. Sie ſieht vor allem in der weiblichen
Fortbildungsſchule den empfänglichſten Boden fiir
hygieniſche Unterweiſung. Das reifere Ulter der
504
Mädchen gibt die Garantie dafür, daß ſie nicht nur
den Inhaäalt der in der Schule empfangenen
Belehrung, fondern aud) das Intereſſe fiir hygieniſche
Unterweiſungen, wie fie ibnen {pater durch Vortrage,
Bücher rc. geboten werden, mit ins Leben hinaus
nebmen. Sie ertweiterte deShalb die von Frau
Rrufenberg begriindeten Forderungen vor allem
durch die ber obfigatorifden Fortbildungs—
fdule. Denn „was unfere Frauen fic) angecignet
haben, bas werden unfere Kinder verteidigen”.
Gine fiir die Frauen außerordentlich intereffante
und widtige Erorterung fand im Anſchluß an die
Referate der Profefforen Arel Hertel, fommunaler
Arzt in RKopenbagen, und Palmberg, Helfingfors,
iiber die ,,gemeinfame Erziehung der Geſchlechter
in höheren Schulen“. Wahrend Projeffor Hertel
die phyſiologiſchen Bebdenten erdrterte, die zweifellos
ciner gleichmafigen unterrichtliden Belajtung von
Madchen und Knaben bei körperlich doch verſchieden—
artiger Entwicklung entgegenfteben, fich im übrigen
aber nicht alé prinjipieller Gegner der Cocducation
acigte, enthielt das Referat des Profeffor Palmberg
jebr entſchiedene Angriffe auf die bibere Frauen:
bilbung iiberbaupt. Sie ftiigten fic beſonders
darauf, daß von ben finniſchen Madden, die mit
den Rnaben zuſammen höhere Schulen befuchen
und das Abiturium machten, verhältnismäßig
wenige wiſſenſchaftliche Berufe ergriffen. Es fei
deshalb falſch, um dieſer wenigen willen alle Frauen
eine Bildung genießen zu laſſen, die im Intereſſe
ihrer künftigen weiblichen Beſtimmung weder
geſundheitlich nod geiſtig zwedmäßig fei. Die
Behauptungen des Prof. Palmberg wurden durch
eine von Frau von Forſter verleſene Entgegnung
der belannten finniſchen Frauenrechtlerinnen
Baroneſſe Gripenberg und Lucina Hagmann
widerlegt. Wir lommen auf die ganze ſehr
intereſſante Auseinanderſetzung noch einmal zurück,
wenn die im Druck vorliegenden Verhandlungen
einen vollen Einblick in das Für und Wider
geftatten werden.
Auf die wichtigen Crirterungen iiber dad
Frauenturnen, die Fraucnfleidbung, feruelle Auf:
tlirung 2¢. einzugehen, verbietet bier der Raum,
Wud in dieſer Hinficht verweifen wir auf den
bevorftebenden Drud der Verbandlungen.
Petition betreffend die Geburtsurfunden
vorchelid) geborener Kinder.
(Bal. den Artifel von H. Ludwig auf S. 474 dieſes
Heftes.)
Die vom Qugendfiirforge-Verband der Berliner
Lehrerſchaft (Vorjigender Rektor Bagel) an den
Bundesrat bezw. das ReichSjuftizamt gerichtete
Petition beleucdtet im Cingang die Harten der
beftebenden Praxis binfictlicd der Geburtsurfunden
von den Gefichtépuntten aus, die der in diefem
Heft enthaltenc Artifel bervorbebt. Wm Schluß
ber ſehr cinachenden Begründung wird die Bitte
folgendermafen formuliert:
An ein hohes Reichsjuſtizamt richten wir mit
Rückſicht auf Vorftehendes die ebrerbictigite Bitte,
hocbgenciatelt einem boben Bundesrat
unfere Scblupbitte befiirwortend unter:
breiten zu wollen, welche dahin geht:
daß im Intereſſe der vorebelich geborenen,
durch nachfolgende Ehe legitimierten
Verſammlungen und Vereine.
Kinder im Wege einer Ausführungs
verordnung ein weiteres den Bermert
fiber bie Vorehelichkeit fortlaſſendes
Formular zum Geſetz, betreffend die
Beurkundung bes Perſonenſtandes, cin:
geführt werden, und daß an die Standes—
aimter bie Untweifung ergeben mae, fiir
die Qutunft bei Gefuden um Auszuge
aus dem Geburt8regifter bei ehelichen
fowie bet fegitimierten Kindern dieſes
Formular ſtets zu verwenden, wort:
getreue Auszüge aber nur dann noch zu
erteilen, wenn ſolche ausdrücklich von
den Eltern oder behördlichen Organen
im Staatsintereſſe gefordert werden.
Formulare der ausgeführten Petition ſind von
Herrn Rektor Pagel, Berlin N. 31, Stralfunder:
ſtraße 54, zu begieben. Die Unterftiigung der
Petition durd recht zahlreiche Unterſchriften möchten
wir allen unjern Leſern aufs wärmſte empfeblen.
Der Landesverein preufifdjer techniſcher
Lehrerinnen
hielt in den Oſtertagen ſeine Generalverſammlung
unter dem Vorſitz von Fri. Eliſabeth Altmann
in Berlin ab.
Der Verein zählt heute 844 Mitglieder, von
denen 588 in 12 Ort&gruppen vereiniat, die übrigen
256 als direfte Mitglieder angeſchloſſen find. —
Tiber die Frage: ,, Wie madden wir ben Unterricht
im Ausbeſſern fiir dad Leben nutzbar?“ bielt die
Inſpizientin fiir ben Handarbeitsunterricht in den
Berliner Gemeindefdhulen, Frl. Brenste, einen
febr anregenden Vortrag, in dem fie zunächſt zeigte,
wie ber heutige Lebrplan in diejem Fade aus den
fosialen Forderungen unferer Zeit entftanden fei.
Die Lebrerin folle die Töchter des Bolles zu wirt:
ſchaftlicher und fittlicher Tiichtigheit erjicben und
fo zur fosialen Hebung des vierten Standed bei:
tragen. Durch genaue Berechnungen widerlegte
die Rednerin den Einwand, daß es heute faum
fobne, Wafde und Strümpfe aussubeffern. Weiter
fei dex Unterricht im Musbeffern cine Lehrplanfrage.
Der ganze Unterricht von unten berauf müſſe bad
Madden darauf bintweifen, die eigenen und aud
der Geſchwiſter Sachen in Ordnung gu balten, und
Schülerinnen in ibrer Arbeit ſelbſtändig machen.
Dem Bortrag folgte eine angeregte Beſprechung
Das zweite Thema des Tages war ein Enhwuri
zu einem Handarbeitslebrplan fiir Vollsſchulen, der
dem der Berliner Gemeindeſchulen ziemlich ähnlich
war. In der zweiten Sffentliden Verſammlung
gab zunächſt bie Borfitende Frl. Altmann cinen
Bericht über den Lebrplanentiwurf fiir ben Hand-
arbeit&unterridt in boberen Töchterſchulen. Die
Lebrgiele find nach folgenden Grundſatzen aufgeſtellt:
Augen und Hand ju iiben, guten Geſchmack beran-
subilden, die Rinder an planmäßiges Arbeiten zu
gewobnen und fie au befabigen, das Crlernte im
ipateren Leben praktiſch anzuwenden. Als Anfangé:
arbeit wurde von der Verſammlung das Stridex
und fiir die 1. Klaſſe die Ginfiibrung des Majchinen-
nabens angenonunen. Bei dent lesten Pune der
Tagesordnung berichtete Frl. Altmann über den
Stand der Yor: und Fortbildung der Oandarbeits:
(ebrerinnen, Durch Verfendung von Fragebogen
an 14 RBorberettungsanftalten, darunter zwei
ſtaatliche und zwei ſtädtiſche, ift feftgeftellt worden,
Bücherſchau.
daß zwar ein weſentlicher Fortſchritt in der Vor—
bildung gu bemerken iſt, dennoch aber manches zu
wünſchen übrig bleibt. Hauptſächlich wurde durch
die Generalverſammlung gefordert: Längere Aus—
bildungszeit, vertieftere padagogiſche Durchbildung
und größere Allgemeinbildung, vorzugsweiſe im
Deutſchen. Im Anſchluß an die überaus rege
Debatte wurde beſchloſſen, eine Petition an das
Kultusminiſterium um Anderung bezw. Ergänzung
der Prüfungsordnung einzureichen.
Su der Abteilung fiir Turnweſen ſprach Fri.
Meinede, Dortmund, iiber bas Thema: „Entſpricht
das heutige Turnen in den Maddenfdhulen den
Forderungen, die wir im Hinblid auf die gefteigerte
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505
geiftige Tatigtcit und den juliinftiqen Lebensgang
der Schillerinnen in verftarftem Maße an die
Hebung und Krajtigung der Gejundbeit und Körper—
traft ſtellen müſſen?“ Die dem Bortrage zugrunde
gelegten Leitſätze wurden mit einigen Whanderungen
faft cinftimmig angenommen. Frl. Thurm,
Krefeld, fprach bierauf iiber die „Vor⸗ und Fort:
bildung der Turnlebrerin’. Da ſich die Ber-
ſammlung mit ibren Ausführungen voll und ganz
cinverftanden erfldrte, wurde beſchloſſen, bei den
mafgebenden Behirden eine diesbesiigliche Petition
einzureichen. Die arbeitsreichen Tage beſchloß cin
Feſtmahl, das die Teilnehmerinnen im „Hotel
Imperial“ vereinigte.
— Som
— Biicherschau. —
Neue Literatur zur Frauenfrage.
Man Hat bei den jiingften Erzeugniſſen ber
Frauenfrage-iteratur häufig ben Cindrud, dah die
theoretiſche Behandlung allgemeiner Bringipien im
Augenblick etwas iiberfultiviert ift; fie btetet dem
Renner ber Frauenfrage-Literatur vielfach Wieder:
holungen, oder man kommt bei dem Berjuch, dem
Problem neue Seiten abjugewinnen, gu verftiegenen
und ausgelliigelten Theorien, die irgend cinen
einzelnen Geſichtspunkt einſeitig ausbeuten. Immerhin
entſpricht die Art dieſer Propaganda-Literatur
vielleicht der tatſächlichen Ungleichmäßigleit ded
Verſtändniſſes, das Freunde und Gegner der
Frauenbewegung ihr entgegenbringen. Hier iſt
man über die allgemeinen Prinzipien ſchon längſt
zur Tagesordnung, d. h. zu den Spezialfragen
übergegangen; dort beginnt eben erſt die Idee
Wurzel zu ſchlagen oder wenigſtens in den Geſichts—
kreis ber Betrachtung gu rücken, und man erörtert
fie von einem Standpunkt aus, der innerhalb der
eigentlichen Frauenbewegung ſchon überwunden ift.
Zu dieſen letzten Schriften gehört ein Buch von
Luch von Hebentanz-Kaempfer mit dem
vielverſprechenden Titel: ,,Bleibet im Hauſe“
(Berlag von Ferdinand Sdiningh, Raderborn 1903);
es find die Plaudercien ciner Dame über eine
Frage, in deren ſoziologiſche Bedeutung — fie
feinen febr ticfen Cinblid hat. Hören wir, daß
fie 3. B. Naturgeſchichte und Phyſik in der Bolfs:
ſchule fiir Spielerei erfliirt, bafiir aber die Gin
fiibrung einer frembden Sprache mit einer taglichen
Unterridtsftunde verlangt, daf fie die Ausbildung
der Vollsſchulmädchen fiir irgend einen Zweig der
landesüblichen Hausinduſtrie empfiehlt, — dah fie
ferner fiir Dic Erziehung der ,, Dame" das Klojter
als die einzig paſſende Stitte erflart, fo ift zur
Charalteriſtik ihrer Gefichtspuntte fiir die Fraucnfrage
genug geſagt. Wenn fie bier und da gang verftindige
und gejunde Anfichten ilber Dienfthotemvesen, Wobl:
fabrtspilege und dergleichen verrat, fo ijt dad an:
gueriennen, aber keineswegs als geniigende Nom:
penfation für den Dilettantismus ihrer volfsiwirt:
ſchaftlichen Anſichten gu betrachten. — Cin gewifjer
Dilettantismus in vollswirtſchaftlicher Hinſicht fern:
zeichnet aud bad Buch von Marie Diers: „Die
Mutter des Menſchen“ (Verlag von Wlerander
|
|
i
Dunder, Berlin 1903). So feine Gebdanfen und
Urteile dic Verfaſſerin über das Berhaltnis der
Gefchlechter, ither die Aufgabe der Mutter, in der
Familie ausſpricht, fo febr feblt eS ibr an einer
Haren Gorftellung ber fojialen Seite ded Problems,
dad fie bebandelt. Ihre Schrift ift, wie die von
Johannes Miiller, der Ausfluß eines einſeitigen
Individualismus, der nicht damit rechnet, daß alle
die Fragen, die erörtert werden, nicht mehr nur
die Beziehungen des einzelnen Menſchen zum einzelnen
Menſchen betreffen, ſondern in beſonderer Weiſe
Angelegenheiten der Geſamtheit geworden ſind und
als ſolche ihre beſonderen Schwierigleiten zeigen.
Sie verfennt den Inhalt und die Bedeutung der
Frauenbewegung vollftindig, wenn fie bebauptet,
daß fie alle ibre Kräfte darauf fonjentriere, dad
Weib in die männlichen Berufe gu drangen und
daß iby Zweck dabei nicht nur die Verbefferung
der materiellen Notlage fei, fondern vor allen Dingen
bie Erhebung der Frau in eine geachtetere
Stellung. Wenn Marie Dierd die hiſtoriſche Ent:
widelung der Frauenbewegung wirklich fernte, fo
wiirde fie wiffen, daß es ibr von vornberein darauf
angefonmmen ift, der Frau als Perſönlichkeit in ihrer
weiblichen Cigenart und in bem dadurch bedingten
Wirkungskreis die Fille ber Entwickelungsmöglich—
feiten wieder zuzuführen, die ibr bei ber wachſenden
Sojialifierung unferes öffentlichen Lebens und bei der
zunehmenden Gergejellichaftung unferer Kultur ent:
zogen worden find. Die ideale Mutter, deren Weſen
und deren Einfluß Marie DierS fo fein gu defi:
nicren weiß, müßte eben notwendig zur lama”
herabſinken, wenn ſie es nicht mehr vermöchte, die
Vermittlung aller Intereſſen zu übernehmen, die das
Leben an ihre Kinder heranträgt. Ein Blick in
unſere Geſellſchaft, deren Frauen durch dieſen
Mangel an Fühlung fiir das große, weite oHffent:
fiche Leben innerlich verfiimmert find, fann fie
von ber Notwendigkeit der Frauenbewegung in
dieſem Sinne überzeugen. Daf die cine Seite der
Fraucnbewegung, die Eroberung neuer Berufs:
zweige fiir die Frauen, in einen geiftiaen und
materiellen Wettfampf der Geſchlechter ausgeartet
ijt, hat nicht ausſchließlich ſeine Urſache bei den
Frauen, fondern in grofem Make in den An—
idauungen ibrer männlichen Sonfurrenten.
Die Bedeutung der Frau fiir das fojiale Leben,
506
deren Grfenntnié den Urfprung der Frauen:
bewegung bedeutet, ijt in feiner und klarer Weiſe
erortert in einem Aufſathe von Elfe Hajfe:
„Der Kulturwert der Fran einſt umd jest’
(Berlag von Konrad Weisfe, Dresden); fie geigt,
wie bie Mufgabe der Frau, perſönliche Zuſammen—
binge gu ſchaffen und gu pflegen, durch die meu:
zeitliche Entwickelung auf cin weitereds Gebiet ald
das der Familie gewiefen ijt, auf das Gebiet ded
fojialen Lebens. — Allgemeine Erodrterungen jur
Frauenfrage baben auc) da noch ibren Wert, wo
es fi um eine Berteidigung gegen Angriffe
banbdelt, bie von ſolchen allgemeinen und pringipiellen
Geſichtspunkten ausgegangen find; es ift ſicher bid
jest noch eine richtige Praxis, folde Angriffe, auch
wenn fie von ſchon überwundenen Vorausſetzungen
ausgeben, nicht totzuſchweigen, fondern zu wider:
legen. So bat fic) gegen bas Buch von Better:
Mann und Weib, deffen Afthetifierende, gefühls—
felige Berichwommenbeit das Töchterſchulniveau
älteſten StilS in ciner Reinfultur zeigt, Marie
pon Wilm mit einer feblagfertigen, beleſenen
und last not least wigigen Gegenſchrift gewendet
(, Mann und Weib von Marie von Wilm,
DOebmigkeS Verlag, Berlin). Das Buch bietet
nicht nur ein Arſenal braudbarer und ſcharf—
geſchliffener Waffen gegen Gegner vom Schlage
des Herrn Better, ſondern iſt auch in ſeiner
klaren Friſche und geſunden Auffaſſung der
Frauenfrage an ſich ſehr leſenswert. — Gegen
Herrn Profeſſor Möbius hat Dr med. Heberlin
cine Polemik eröffnet mit einem Buch über den
„habituellen Schwachſinn des Mannes“ (E. Pier:
ſon's Verlag); er windet ſeinem Gegner die Waffen
aus der Hand und wendet ſie gegen ihn, indem er
die einſeitige Beurteilung der Frau durch Möbius
in geſchicter Form auf den Mann überträgt, unſeres
Erachtens die cingige Art, wie Mobius wirkſam ju
begegnen tft; denn es gibt Angriffe, deren Un—
fachlichfeit eine fachliche Widerlequng ausſchließt. —
Cine ähnliche Anſchauungsweiſe, wie die Mobius’ febe,
war in der mebrfach neuaufgelegten Broſchüre des
Profeffor Runge im Gottingen vertreten. Frau
Marie Brühl bat im Verlag von Hermann
Seemann Nachflg. unter dem Titel: ,,Die Natur
der Fran”, cine Erwidcrung auf die befannte
Rungeſche Schrift veröffentlicht, die hnapp und flar
auf die Einſeitigkeiten und Nbertreibungen des Ber-
faſſers hinweiſt. — Unter den Schriften gu Spezial—
fragen, die in jiingfter Zeit auf dem Gebict der
Frauenfrage Literatur yu verzeichnen find, find am
erfreulichften die auf dem Frauenbildungsgebiet.
Daß ver Sedanle der Heform der hoberen Madden:
febule in dem Sinne, wie ihn der Allgemeine
Deutiche Lebrerinnenverein vertritt, bereits in dem
deutſchen Schulwejen des Auslandes gesiindet bat,
verrat cine Broſchüre: ,,Die moderne Franen:
bewegung und dic Heform des hiheren Madden:
ſchulweſens““ von Dr Bernhard Gajter, dem
Direttor der deutſchen Schule in Antwerpen (Verlag
der Hecknerſchen Druckerei, Wolfenbiitteh. Der
Verfaſſer wertritt den Gedanken ciner ywilfflaffigen
Oberrealſchule fiir Madden, gu der cin intereffanter
Lehrplanentwurf von ibm aujgeftellt iſt. Es fei
bei diefer Gelegenbeit zugleich auf den Entwurf
zu einem Lehrplan fiir höhere Mädchenſchulen
hingewieſen, der im Auftrag der Seltion für höhere
Schulen des Allgemeinen Deutſchen Lehrerinnen—
vereins von Anna Jungk, Karléruhe, unter
Bücherſchau.
Mitwirkung einer Anzahl von Sachverſtändigen
herausgegeben iſt. Gr iſt als Sonderabdruck aus
der Lehrerin im Verlag von Theodor Hofmann,
Leipzig, erfcienen; der Plan, der augenbliclich
nod ciner Umarbeitung nad der ſchultechniſchen
Scite unterlicgt, ftellt die befte Loͤſung der Frauen—
bildungsfrage dar, die augenblidlich gefunden werden
fonnte. Ginen febr cingebenden und bis in bie
einzelnen Fächer gang detaillierten Lebrplan bat
kürzlich bie Krauſeſche höhere Mäbdchenſchule, cine
ber beſten unter weiblicher Leitung ſtehenden Privat:
ſchulen Deutſchlands, veröffentlicht (Gräfe und
Unzer in Königsberg); dieſer Plan führt aufs beite
in die Arbeit der deutſchen höheren Mädchenſchule
in ibrer gegenwärtigen Geftalt cin und jei allen
Antereffenten warm empfohlen, Auf cine eine
biftorifcbe Studie fei bei dieſer Gelegenbeit nod bin-
gewieſen: „Die Mädchenhochſchulen in Amerita’’
pon Dr Johannes Siegler (Verlag von Thiene—
mann, Gotha); mag man den Standpuntt, den der
Rerfajjer fiir die Beurteilung diejer Anſtalten cin:
nimmt, nicht teilen, fo ift es immerhin wertvoll
und intereffant, mit den Mugen eines deutſchen
Bejucers den Unterrichtsbetrieb im amerifaniiden
Schulwejen yu beobadten, wobei man freilich ſich
gegenwartig halten muf, daß er fubjettive An
idauungen von ficher nicht unbeſchränkter Giltigfeit
vertritt. — Gin andered Gebiet der Fraucnbewequng
reprajentiert Heft 28 der freien firdlid ſozi—
alen Konferenz, dad die Referate von Paula
Müller, der Borjigenden des deutſch-evangeliſchen
Frauenbundes, und von Adolf Stöcker über dite
Mechte und Pflidten der Fran in der kirchlichen
nnd biirgerlidjen Gemeinde’ enthalt (Berlag ber
Vaterlindifden Verlags- und Kunftanftalt, Berftr).
Paula Miiller bebandelt ihren Gegenftand in der
bekannten flaren und umfichtigen Urt, die in dieſem
Fall wobltatig abjticht gegen die Nonebalence, ju
der Herr Hefprediger Stoder in dem Beftreben,
popular gu fein, ſich zuweilen verleiten läßt.
Was man bei der Behandlung ded Themads
ale notwendige Ronfequeng der aufgeftellten
Gefichtspuntte vermift, ift die Forderung des
fommunalen Wablrechts fiir die Frauen, umjomebr
vermift, als Serr Hofprediger Stider in einem
friiber gebaltenen Yortrag bereits für dieſe
Forderung cingetreten tft; vielleicht liegt in diejer
Beſchränkung cine Rückſicht auf das Publitum,
vor bem beide Referate gebalten wurden. Immerhin
ift es erfreulich, daß die Stellung der kirchlich
ſozialen Ronfereng zur Frauenfrage fic) feit der
Beit, als fie fich gum erften Male mit thr
bejchaftigte, merklich geändert bat; pringiptelle
Bedenten, ob die Frauenbewegnng fic mit dem
Chriftentum vertrage, wurden in der Disfuffion
diesmal nicht mebr erhoben. Es fet übrigens bei
dieſer Gelegenbett auf cine vorurteilsfreie, tmappe
Behandlung diefer Frage durch eine Heine Broſchüre
hingewieſen, bie unter dem Titel: ,,Befteht cin
Wegenfat zwiſchen dent Chrijtentum nud der
modernen Frauenbewegung?“ von Lixentiat
Dr M. Sdian im Görlitz (Verlag von Rudolf
Miler) verdfientlicddt worden iſt und ſich ald
Propagandamaterial febr gut cignet. — Ms
Propagandafcdhriften, die durch thre friſche und
zugleich befonnene Muffaffung ihres Themas ibren
Swed voll erfiillen werden, erwähnen wir aud
die beiden fleinen Schriften von Elsbethb
Krufenberg: „Aber Studinm und Univerfitirs
Bücherſchau.
leben der Frauen“ (Verlag von J. H. Maurer:
Greiner Nachf. Gebhardshagen) und ,,Agitation
in der Fraueubewegung“ (Univerfitats - Buc:
druckerei bon Carl Georgi, Bonn).
„Fraueumacht“. Roman von Gultav af Geijer-
ftam. Autorifierte Nberfegung von Therefe Kriiger,
Berlin. S. Fifer, Verlag 1904. Es ware ſchwer
zu fagen, worin die Eigenart dieſes Buched liegt.
Der Held cin Menfeh, wie ibn die Mobernen lieben,
ben feinerlet außerer Ehrgeiz oder was auch immer
ju „Taten“ und Erfolgen fpornt, der dem Wunſch
oder dem inneren Gebot des Augenblicks folgt und
feine Stunde feines Dafeind gum Mittel fiir die
Zwecke der tiinftigen mat. So nimmt er die Lajt,
die ihm bas Schidfal auf die Schultern legt, ohne
ben fleinften Berfuch, ihe zu entgehen, auf fic:
er beiratet bas Madchen, bas er auf der Strafe
gefunden bat, als fie Mutter wird, Er weif, dag
ber Weg, den er beſchreitet, nicht leicht fein wird,
aber das beirrt ibn feinen Augenblick in dem fiir
ihn unentrinnbaren Bediirfnis, fich felbft su genügen.
Aus dem unvermeidliden Sufammenbruc feiner
Ehe mit ibr rettet er fein kleines Madden, die
aus einer Atmoſphäre voll Schuld und unedlen
Gebeimnifies cin banged, lajtendes Wiſſen um das
Häßliche davongetragen hat und dem Vater die
ſchwärmeriſche, opferdurftige Liebe entgegenbringt,
deren Glut aus der Erfabrung des Leidens ſtrömt.
Aber aud fie, deren Wejen fein Leben durchklingt
wie cine weiche, ſüße Melodie, vermag nicht, feinen
ſtärkſten und innerlidften Lebensanſprüchen Geniige
ju tun. Sie finden CErfiillung bet einer Qugend:
_ geliebten, die er als verbeiratete Frau in dem
Augenblick feiner tiefften Vernichtung wiederfindet.
Darin liegt min auch bas Wejentliche und Eigene
ded Buches: in der Durchführung diefes wundervoll
reinen und Haren Verhältniſſes zwiſchen ibm, der
Frau und ihrem Gatten, drei Menfden, deren
Seelen hoch über der prefaren Ronftellation der
ménage A trois fic) feblicht und ſelbſtverſtändlich
geben, was fie filr cinander haben. Und nod in
etwas anberem: in der Art, wie bier bas Wefen
ded Edelmenſchen gefaßt iſt. Ougo Brenner ver-
achtet alles feige Ausweichen vor ſelbſtgeſchaſſenen
auferen und inneren Anſprüchen und verſchmäht,
etwas zu wollen, was er dod) nur dilettantifd
und kleinlich verivirflidjen fann. Dem Vollmenfden,
der die heilige Chrfurcht vor dem Eten und
Ganzen bat, giemt cin Leben im vornehmer Refig:-
nation: das ift die Weisheit ded Buches.
„Frau Autonie.“ Roman von Marie Tyrol.
Leipzig 1903. Verlag der Fraucn-Mundfdau. Das
fein geſchriebene Buch, das cin fraftiger Bug oft:
preußiſcher Heimatluft durchweht, iſt nach feinem
fubjettiven Anlaß cine Tendenzſchrift. Es iſt das
Problem der unehelichen Mutterſchaft, zu dem die
Verfaſſerin das Wort ergreift, die Loͤſung der Frage:
»Weshalb das Sittengejeg die gefallene Frau fo
ftreng verdammt.“ Sie fteht auf dem Boden dieſes
Geſetzes, und der Roman ift eine Rechtfertigung ſeiner
Harte. Frau Antonie hat als cine ,,Gefallene” die
Ehe mit ihrem nichts abnenden Gatten geſchloſſen.
Seine Liebe und jein Stolz, alS er fie in fein
fiver errungened Heim fiibrt, zwingen fie gum Ge:
ſtändnis ibrer Schuld. Lange Sabre hindurch lebt
fie mun neben dem Mann hin, der fte in unerbitt-
licher Härte verachtet und nur deshalb nicht ver:
ſtößt, weil er ſeinen eigenen Ramen nicht gebrand:
507
martt wiffen twill, [ange Sabre unablaffigen ftummen
Rampfes um feine Verzeihung und feine Wchtung.
Sie wird ibr endlich gewährt. Den beiden Rindern,
bie fie nad) dem Tode ded Mannes allein gu er:
ziehen bat, ift ihre Schuld verborgen. Sie ſcheint
aus ibrem Leben getilgt. Da tritt ibe, als cin
Entgleifter und Verfommener, ibr Verfiibrer ent:
gegen. Er bat nun ibr Sebicfal in der Hand. Um
bon ibrem Sohn cine Unterftiigung gu ergivingen,
verrät er ihm ben Makel feiner Geburt. Für ibn
und feine Schwefter war bie Mutter bis dahin die
Verkörperung alles Hohen und Guten; die Grund:
feften fcines Lebens, des äußeren und des ſeeliſchen,
ſtürzen mit diefer Entdedung. Die alte Schuld
ftebt in unabwendbarer ſchickſalsmächtiger Kon—
fequen; wieder auf und fordert neue Sühne. —
Der Roman verleugnet auch in feiner künſtleriſchen
Durchführung nicht ganz den tendengidjen Charatter.
In der Harte, mit der fich ber Sohn und die Tochter
von der Mutter abiwenden, alS thre Richter, liegt
etwas Peinliches; man hat das Gefühl, als müßte
das, was ibnen die Mutter ift, den Sieg davon
tragen fiber dag, was fie vor Jahrzehnten getan
hat — obne daß es nod) ciner bejonderen Sitbnetat
bedurjte. Und wie es zu dbiefer Tat fommt, das
erſcheint ein wenig gezwungen und romanbaft. —
Immerhin hat die Art, wie die Verfafjerin das
fo viel und fo leichtfertig befprocene Problem in
feiner ſoziologiſchen Berkettung zeigt, etwas Zwin—
gendes. Dazu tragt nicht jum wenigſten die ftraffe
und fparjame Kompofition de3 Ganjen bei — und
cine Darftellung, der es zwar an leidenſchaftlicher
Rraft, nicht aber an Klarheit und Plajtif feblt.
Meyers Grokes Konverſations-Lexikon.“
Gin Nachſchlagewerk des allgemeinen Wiffens.
Secbfte, gänzlich neubcarbeitete und vermebrte
Auflage, Mehr alS 148,000 Artifel und Ber:
weijungen auf iiber 18,240 Seiten Tert mit mebr
al§ 11,000 Abbildungen, Karten und Plänen im
Tert und auf iiber 1400 Illuſtrationstafeln
(darunter etwa 190 Farbendrudtafeln und 300 ſelb—
ftandige Rartenbetlagen) fowie 130 Tertbeilagen.
20 Bande in Galbleder gebunden zu je 10 Mark.
Verlag des Bibliographifden Inſtituts in Leipszig
und Wien. Bon „Meyers Grofem RKonfervations-
Lerifon” gelangte foeben der VI. Band zur Aus:
gabe, welder die Stichwirter „Erdeeſſen bis
Franzen“ umfaft. Wie diefe beiden Wörter ſchon
grundverſchiedenen Gebieten angehören, fo find die
dazwiſchenliegenden Stichwörter aus fo mannig:
faltigen Materien, daß tatſächlich fiir jedermann
etwas darin geboten wird. Und wer ſich mit dem
Worte allein nicht begniigen will, den feffeln gewif
bie zahlreichen farbigen und ſchwarzen Bilder:
tafeln, die aufer den Tertabbilbungen in vielen
Fallen zur Erlauterung des Textes beigegeben find.
Wir können bier ſelbſtverſtändlich nicht die Stich:
worter der Reibe nach auffiibren und müſſen uns
mit einigen Proben bebelfen, um die BVielfeitigteit
der weltbefannten Enzyklopädie dargutun. Qn das
Webiet ber Haus: und Landiwirtichaft führen und
die Abſchnitte „Ernte“, Fiſcherei“, mit Tafel,
Künſtliche Fiſchzucht“, ebenfalls mit Tafel,
„Fleiſch“, „Fleiſchextrakt“, „Forſtwirtſchaft“. All—
gemeines Intereſſe erweckt der Artikel „Europa“,
der auf 17 Seiten alles Wiſſenswerte über unſern
Erdteil bringt, während 6 Karten die politiſche
Einteilung, das Fluß—- und Gebirgsſyſtem, dad
508
Klima, die Bolter: und Spracencinteilung und
bie Bevillerungsdicdtigteit uns vor Augen führen.
Un weitern Artikeln aus der Geographie und
Völkerlunde erwähnen wir nod „Erdkunde“, mit
zwei Karten und einer Portrattafel: „Geographen“,
„Erfurt“, „Erzgebirge“, „Eskimo“, „Eſthland“,
„Etrurien“, „Euphrat“, „Finnland“, „Flandern“,
„Florenz“, „Frankfurt a. M.“, „Frankreich“.
Der letztere Sammelartikel umfaßt auf 53 Seiten
34 Ubfehnitte, die bis auf die neuefte Beit ergänzt
find, fogar Ereigniffe bes Jahres 1904 finden ſich
Bucherſchau.
ſchon verzeichnet. Daß die Technik durch eine
große Anzahl von Abhandlungen vertreten iſt,
diitfte bet dem ſtändigen Fortſchritt auf dieſem
Gebiete felbftverftindlid erſcheinen. Fragen von
allgemeinem Intereſſe bebandeln die Artifel
„Evangeliſcher Bund", „Ferienkolonien“, ,, Finan}:
weſen“, „Flagge“, „Flottenvereine“, „Fortbildungs⸗
ſchulen“, „Fortſchrittspattei“/. Daß auch dieſer
Band der neuen Auflage durchgehends neu
bearbeitet und bedeutend erweilert iſt, beweiſt
wohl ſchon die Zunahme von 26 Tafeln.
‘
—-BVfa-—
Liste neu erschienener Biicher.
(Belpredung nad Raum und Gelegenheit vorbehalten; cine Rildfendung nist beſprochener Bilder tft nicht möglich)
Anfermann, Bruno, Pfarcer. Goethes
Stelung jum Chriſtentum. Bortrag.
Thomas &A Oppermann. Abnigsberg
i Qr. 1902,
Asmus, Martha, Der Liebe Launen.
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Nadhfolger, Leipzig 1908,
Baumann, Dr Julius. Neudriftentum
und reale Neligion. Cine Streitſchrift
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Strouf. Bonn 190!,
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Stubenberg): Der arme Wengl. Georg
Weis. Cajjel 1904.
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Georg Bigand. Leipsig.
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Rat. Ernſt Siegfried Mitiler & Sohn,
Berlin 1903,
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Chemnig 1904,
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Wiener Dentmals.
Sonberabdrud aus: Ferdinand
Raimunds ſamtliche Werte in drei Teilen.
Herausgegeben von Eduard Cafile.
Mar Heſſes Verlag, Leipzig.
Cronberger, Bernhard. Ctiidt. Lebrev
in Feantiurt a. WW. Brattice Rature
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furt a. M. 1804 preisgetrént. Preis
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tunde“. erlag von Otto Salle,
Berlin 1903,
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Winden u. Berlin.
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Hartenficin, Anna, Die Freundin.
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Heffel, Nari, Deutſches Leſebuch filr
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A. Marcus & G Weber. Bonn 1901.
Hila, Karl. Giordano Bruno, Gin
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Hoffmann, Mar. Hochzeitnacht. Ge:
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Seemann Radfolger, Leipjig.
Qanitide?, Diaria, Die neue va.
Hermann Seemann Racfolger, Leipzig
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tm Jahre 1902. Sm Wuftrag dee Bore
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Wy Miter fodendem Waſſer yu
Kraftbrühe aufgeldft. Inzwiſchen
röſtet man in flacher Pfanne
3 bis 4 Weisbrotſcheiben in
Butter, nimmt fie beraus, gießt
bie Kraftbrühe zu der braunen
Butter, ſchlägt vorficdtiq 2 bid
& friſche Cier binein, fo daß die
Totter gan; bleiben und gibt
wenig Pfeffer und Sal; dariiber,
Wenn das Weife anfangt, ſich
zuſammenzuziehen, nimmt man
die Pfanne vom Feuer, rührt
4 bis 5 Tropfen Maggi's Würze
in die Suppe, taucht die geröſteten
Brotſcheiben hinein, ſtreut Barme-
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2,50 M., fur das Ausland 3 M. Antragen, Bestellungen. Beitrage (auch die Geldbeitrage) und Mitteilungen sind an die Expedition ru mehie
Se ee
——— jis bie Redaltion: Helene Lange, Berlin. — Berlag: B. Moeſer Buchhandlung, Merlin s. — Druc: W. Woefer Buddruderet, Gerina
* —
Juni 1904
@p '. 11. Jahrg. Heft 9 ah Lio a
DEC TENT Ta
— i Ne ca z Derlag:
pon CL v3 W. Meeſer Sudhandlang.
Berlin S.
Kaeclene Lange.
Ver internationale Horizont der Prauenbewegung.
Gertrud Baumer.
Raddrud verboten. a
2
ie Deutfchen Frauen riijten zum internationalen Kongreß. Bum erftenmale jeigt
Z ſich unjere verhältnismäßig junge deutſche Frauenbewegung als cin Glied jener
grofen Gemeinſchaft, die, ein Lebendiges Zeugnis fiir die weltumfajjende Macht
unjerer Sache, die Frauen der Kulturländer verbindet.
Man ſchätze die Bedeutung dieſes Schrittes fiir unfere deutſche Franenbewegung
nicht gering. Sie wird fic) nicht erſchöpfen, ja, fie berubt vielleicht nicht cinmal in
erfter Linie in den tatſächlichen Ergebniſſen, die ſich aus der internationalen Crorterung
von Ginjelfragen der Frauenarbeit, der Frauenerziehung, der Frauenrechte ergeben
werden. Viel gewichtiger erſcheint die Tatſache dieſes Kongreſſes, wenn man ibn im
Zuſammenhang der Gefamtgejcidte unjerer Bewegung betradtet, als ein Symptom, an
dem ibr eigentlicher Inhalt, ibve durch nationale Grenjen nicht zerſchnittene Cinbeitlic-
feit zum Ausdruck fommt.
Denn es diirfte vielleicht in der Gefchichte der Ideen und der Völker faum eine
Bewegung geben, die fich aus der Gefamtbeit der fulturellen, d. h. der wirtſchaftlichen und
geijtigen Bedingungen in allen Landern fo durchaus fpontan entwidelte und dabei in ihren
großen Sielen folche unbedingte Nbereinftimmung zeigte. Dede fulturgefchichtliche
Neubildung bat mehr oder weniger ibren Mittelpunft in einem einjelnen Volk gefunden.
Sie hat den Charafter ihrer nationalen Herfunft auc da bewabrt, wo fie die Grenzen
ihres Heimatlandes mächtig iiberflutete; fie bat fich auf fremdem Boden nict in gleicher
Fülle und Reinbeit geftalten finnen. Man denke etiva an die Renaiffance, die von den
germaniſchen Landern nicht in ihrem eigentliden Sinn, in ibrer edlen menfcblichen
bo
514 Der internationale Horizont der Frauenbewegung.
Alljeitighcit erfaft werden fonnte, fondern bon mächtigeren geijtigen Impulſen in
Feſſeln geſchlagen, im Dienſt rein religiöſer Bedürfniſſe aufging.
Anders die Frauenbewegung. — Wohl vermögen wir hier und da Fäden auf—
zuzeigen, die von Land gu Land geſponnen, auf einen Mittelpunkt guriidfihren. Wir
jeben die erjten Reime einer ,,Frauenbefreiung” durch den Sturmivind der franzöſiſchen
Revolution fiber den Kontinent, ja über den Osean getragen, wir erfennen, wie ftart
die Gedanfen von Bohn Stuart Mill ither die Hörigkeit der Frau die theoretiſche
Formulierung der Frauenfrage, die Beweisfiihrung in dem Kampfprogramm der Frauen
in Deutfehland, in Dänemark, in Holland, in Polen beeinflugt haben. Bot dod
das Bekanntiwerden feines Buches, wie es in Deutſchland durch die Nberjepung von
Senny Hirſch, in Dänemark 3. B. durch die 1869 bereits erfdeinende Nberfesung von
Georg Brandes vermittelt wurde, die Ankniipfung fiir cine erfte im ftrengeren Sime
wiſſenſchaftliche Erörterung des Programms nicht mur nach feiner wirtſchaftlichen Seite,
fondern nach feinen fozialen und geiftigen Geſichtspunkten.
Aber fo deutlicd wir in dem grofen theoretiſchen Unterbau, auf den die Frauen:
bewegung der eingelnen Lander im Laufe der Zeit fics zu ſtützen gelernt bat, die Steine
erfennen, die aus den Syſtemen der radifalen franzöſiſchen Staatstheoretifer, des großen
englifden Bhilofophen hineingefiigt find, viel mebr iiberiviegt dod) in jedem Lande das,
was feine Frauen — und feine Dinner aus eigner urfpriinglicser Erfahrung und
Erfenntni3, aus eigenem Kraftgefiihl und eigenem Leiden, aus cigenem Ringen um
neue foziale Anfchauungen dieſem Gedanfenbau gegeben haben. Wenn irgend etwas
uns von der hijtorifden Notwendigfeit unferer Sache zu überzeugen vermag, wenn
irgend etwas yu einem unividerleglichen Seugnis fiir fie wird, fo ift es die Tatſache,
daß wit die Frauenbewequng in einem beftimmten Zeitraum unter den verſchiedenſten
Nationen, obne dah eine Nbertraqung nachweisbar ware, erwachen ſehen, ja mehr nod,
daß wir das cinmal aufgeftellte Pringip, die einmal erhobene Forderung aus einer
inneren Notiwendigheit heraus fic) in der gleichen Weife auf den verfchiedenften Gebieten
des geiftigen, des fosialen, des politifden Lebens entfalten feben.
Und wie vollzieht fic) diefe Entwidling? Wir feben, wie in den erften abr:
zehnten des 19. Jahrhunderts faft iiberall Frauen, im denen die inneren Anſprüche des
Weibes, der Perſönlichkeit, befonders ſtark und elementar ibr Recht Legebren, zu dem
Gedanfen erwaden, daß die moderne geiſtige und wirtſchaftliche Cntwidlung der Frau
Wiirde und Bedeutung nehmen muh, wenn eS ihr nicht gelingt, unter den neuen Bee
dingungen einen neuen Inhalt fiir iby geiſtiges Leben, ein neues Arbeitsfeld fiir ibre
Rulturleiftungen ju erobern. Es liegt fiir uns, die wir die Verantwortung fiir unfere Ziele
mit Millionen teilen fonnen, etwas Grandiofes und jugleich unendlich Ergreifendeds in
dem Schickſal diefer Frauen. Cie alle, die ſtolze und leideuſchaftliche Idealiſtin Marv
Wolftonecraft, oder die ,, Mutter der Armen” Laura Mantegazza, oder Mathilde
Fibiger in Danemarf, begannen den Kampf fiir das innere Heiligtum ibrer Perſönlich—
feit gegen eine Welt von durd Jabhrtaufende gefeltigten fittlicsen und fozialen Begriffen,
ohne Abnung von einander, ohne die michtige Stütze, Dem gerade fir fie fo unendlich
wertvollen Riidhalt der Aberzeugung, nicht allein yu fein. Dede von ibnen bat das neue
Vand felbit entdbeden, den Glauben an ihre Cache ganz aus eigner Kraft beftreiten müſſen.
So fimpften fie fiir die Millionen von Frauen, die jest über die Grenzen ibres Bater:
Landes binweg, ſich die Hand sum fejten Bunde gereicht haben — fiir das, was jest cin
Maffenideal geworden ijt, allein mit ihrer Perſönlichkeit haftend.
Der internationale Horijgont der Fraucnbewegung. 515
Wohl mag der Riickblice auf diefe erjten ein miichtiger Faftor fiir die Nber-
zeugung werden, daß der tiefite Inbalt der Frauenbewequng, ihr cigentlicher Kern, nicht
an die Nationalitat gebunden ijt. Klingt dod) über die Jahrzehnte herüber die Runde
pon der erjten Befeftiqung ihrer Grundgedanfen in einer lebendigen Perfinlichfeit fiir
die Frauen aller Lander mit faft dem gleiden Klange. Ob eS aus der fittlicen
Genialität der Marvy Godwin heraus formuliert wird, „wenn die Frau nicht durch
Marie Stritt,
Dorfigende des Bundes deutfcher Srauenvereine.
Erziehung dahin geführt wird, die Gefährtin des Mannes zu werden, fo wird fie den
Fortſchritt von Kenntnis und Moral aufhalten; die Wahrheit mug allen gemeinfam fein,
oder fie wird wirfungslos in ibrem Cinflug auf die Geſamtheit“ — ob in dem tiefen
Sehnſuchtsruf der Mathilde Fibiger „wüßtet ihr nur, was es beift, ein Kind gu fein
an Berjtand und Erfenntnis, aber begabt mit dem göttlichen Willen und dem Sebnen,
Göttliches yu ſchaffen“, ob aus dem unflaren Pathos der fimonijtijchen Bewegung die
bange Frage nad) der „Mutter“ erfchallt, in der die geſchlechtliche Hörigkeit der Frau
33*
516 Der internationale Horizont der —
= fiberwunden fein wird, 06 Rabel Varnhagen in dem ſchmerzlich emp inden
> ihres außeren Schidfals und ihrer geiftigen Anjpriiche bitter Host, i
“a unfunde, wenn die Geute fic) einbilden, unfer Geijt fei anders und
dürfniſſen forftituiert und wir finnten jum Erempel ganz von des
Sobnes Exiſtenz mityebren”, — in all diefen Zeugnifjen wird das g
Erleben zur Frage, zur Forderung, zur Sutunftsfebnfucht.
Und die Gefchichte der Frauenbewegung in den eingelnen Landern
daß jede Nation, jede Kultur nicht nur dieſe Frage aufzuwerfen,
dieſe Forderung als ein Ferment für ſoziale Geſtaltungen aufzunehmen
ſcheint faſt, als ob, nachdem der Gedanke einmal ausgeſprochen war, ganz
glückliche Umſtände die allgemeinen ſozialen Bewegungen hervorriefen, die 1
praktiſche Leben binein zu tragen vermochten. Wir denfen daran, wie der ¢
der Antifflaverei-Bewequng in den Vereinigten Staaten, wie die fosialen §
1848 in Deutſchland, die nationalen Unabhängigkeitskriege Italiens, wie das
liche Erwachen des finnländiſchen Volkes zu nationalem Selbſtbewußtſein d
rungen det Frau nad) Anerkennung ihrer geiſtigen und bürgerlichen Perfonti ——
den Kampfplatz der Beit drängten. So ſehr dieſer Zuſammenhang * die 25"
Frauenbewegung mit den befonderen Kampfen und Schichſalen einer jeden Nation ber
tniipft, fo febr er dazu gebolfen hat, ihren befonderen nationalen Charatter in d
einzelnen Ländern zu bilden und auszupriigen, fo deutlich er ums zeigt, daß ſi
aus dem Boden nationalen Lebens heraus ihre beſte Kraft empfängt, fo far geht
aus der Verknüpfung des Kampfes der Frau mit dem Kampf moderner, zum demokratiſchen
Bewußtſein erwachter Volker hervor, daß die Frauenbewegung an einen nicht nur national
A begrenszten, fondern einen Fortſchritt der Menſchheit gebunden ift, an die Berwick .
9 lichung eines neuen menſchlichen Ideals: „ein Kulturdafein aller, gegriindet auf das
Recht der freien Perſönlichkeit.“
Wie der Gedanke der Befreiung der Frau und wie feine erjte hiſtoriſche Ver—
wirklichung in den verſchiedenen Landern Abnlicen Charatter tragt, den gleichen ſozialen
und geiftigen Grundbedingungen unterjtebt, fo entfaltet fic) auch der Inhalt diefes —
Gedanfens in allen Landern zu den gleichen praktiſchen Forderungen und Beftrebungen.
Aud) hier ift der Horizont cin internationaler. Die Begriindung des Wllgemeinen
deutſchen Frauenvereins ftand unter dem Heiden des Wortes von Augufte Schmidt:
„Wir verlangen, dah die Arena der Arbeit auch fiir unfer Gefchlecht erſchloſſen werde
Wir verlangen, dah die Arbeit fiir cine Pflicht und eine Ehre der Frau gebalten
J werde“; der Name eines der erſten holländiſchen Frauenvereine „Arbeid Adelt“ deutet
—J auf die gleiche geiſtig wirtſchaftliche Grundlage. Aus demſelben Geiſt heraus ſieht Anna
Jameſon es als cine unerträgliche Erniedrigung an, dah die Frau nur „als Anhang
und Rierrat von des Mannes Auferer Crijteny” betrachtet werde, anftatt als „eine
Gefährtin feines Lebens und alles dejjen, was in dem wabren Sinne diefes Wortes
beſchloſſen liegt.”
5: Es entfpricht diefem Bewußtſein, wenn die erften Organifationen der Frauen-
a bewegung in den einzelnen Landern, wenn dic von Shaftesburb gegriindete Geſellſchaft
sur Förderung des Frauenerwerbs, der Fredriffa Bremer-Bund in Norwegen oder die
Arauenerwerbsvereine in Deutſchland yu allererft die Eröffnung einer Reihe neuer Berufe fiir
die Frauen fic) jum Biel febten. Hier berührte fich überall die biirgerlide Frauen
bewegung, die faſt in allen Ländern ibren Urſprung bei Frauen hatte, die vom der
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Der internationale Horizont der Frauenbewegung. 517
eigentlichen wirtſchaftlichen Not perſönlich unberiihrt waren, mit dem Schickſal der
Tauſende, die bereits von der Induſtrie in Beſitz genommen waren. Mberall ftellte
man Ddiefe Forderung: Erſchließung neuer Berufe, zugleich unter dem Geficht3puntt,
daß das berangebot ungelernter Arbeit in den niederen ſozialen Schichten gu der
Frauennot fiihrten, wom der die zu fozialem Bewußtſein erwachte Frau der höheren
Stände zum erjtenmale mit Entfegen und Empörung RKenntnis nabm. So hat
Hedwig Heyl,
Dorfitjende des Berliner Coſalkomitees.
Laura Mantegazza in Jtalien juerft Die Not der Arbeiterinnen durch Begriindung von
Vildungstitten, von Genoſſenſchaften zu lindern verſucht, während Luije Otto- Peters
mit feltenem ſozialpolitiſchem Weithlic von einer Organifation dev weiblicen Arbeit
gejproden bat.
Die andere Seite der Befreiung, nach der die in ibren beften Kräften gebundene
Perjinlicfeit der Frau verlangte, — aud) das wurde in allen Landern gleichmäßig
empfunden, — lag auf dem Gebiet der Bildung. Was Salvatori Morelli, den die
518 Der internationale Horizont der Frauenbewegung.
Frauen Staliens wohl als ibren John Stuart Mill verehren mögen, in feinen
legten Lebensjabren ausfprad: „Man muß der Frau cine gründliche Bildung geben,
man muh ibr einen Ginblid in die Gebeimniffe der Wiſſenſchaft vermitteln, injofern
fie das Verſtändnis der Wirklichkeit ermöglicht und yur Gewinnung einer Welt-
anſchauung führt“, das vertritt die Franzöſin Maria Desraimes, wenn fie flagt, dab
bie Frau in der fojialen ArbeitSteilung bisher nod) eine ,verlorene Kraft” jei, dak
fie nod) Lange nicht alles gegeben Habe, twas die Rultur von ibr empfangen finnte,
wenn man ihrem intelleftucllen Leben ſeine Entfaltungsmiglidfeiten ſchüfe; und in dem
gleichen Sinne zieht Luiſe Otto aus ibrer Forderung, dak die Frauen an den
Anterejjen des Staates teilnehmen follten, zunächſt die Konſequenz auf cine Bildung,
die ibnen dieje Anterejjen verſtändlich machte. Der Anjpruch der Frau an das volle Bürger—
recht in dem unſichtbaren Königreich geiftigen Schaffens und Empfangens ijt von den
geſtaltenden Mächten des 19. Jahrhunderts iiberall, in allen Ländern, und in jeden
einjelnen unabbingig, zur Geltung gebracht worden; das gibt dieſem Anjprud feinen
kulturgeſchichtlichen Charafter, feine eigentümliche Berechtigung.
Die Frau, die im ſozialen Leben, die als geiſtige Perſönlichkeit etwas anderes
und neues geworden iſt, ſteht auch in der innigſten Lebensgemeinſchaft mit dem Mann
als eine andere da; was ſie als Menſch gewonnen hat, muß zurückwirken auf ihr
Daſein als Weib, als Geſchlecht. Schon Mary Godwin hat die Konſequenz aus der
Umbildung des individuellen Verhältniſſes zwiſchen Mann und Weib ſowohl nach der
rechtlichen Seite, als nach der fozial-ethijchen gezogen; ſchon fie bat verlangt, daß der
Mutter das gleiche Recht über ihre Kinder zuſtehen müſſe, wie dem Vater, und die
Forderung geſtellt, daß die Gemeinſchaft von Mann und Weib auf durchaus freier,
innerlicher Ubereinſtimmung, nicht auf Unterordnung der Gattin unter den Gatten
beruhen müſſe. Ihr Zeitgenoſſe in Deutſchland, Theodor Hippel, proteſtiert geiſtreich
gegen die „Geſetzes-Galanterien“, die die Frauen „ihr Lebelang zur Würde alter
Kinder erhöhen“ und die Ehe, das „arctissimum vitae commercium™ von vornherein
unter prefire Bedingungen ftellen. Die erften praftijden fozialreformatorijden Anfänge
Der Frauenbewegung find in allen Ländern mit einer Agitation zur Verdnderung der
familienredbtlichen Lage der Frau verknitpft. Schon um die Mitte des 19. Qabr-
hunderts fand Ddiejer Gedanke in England und Amerika energiſche und erfolqreiche
Vertretung, und um diejelbe Zeit, da der liberale Abgeordnete Lars Hierta in Schweden
für die Gleichftellung der Frau als Gattin und Putter wirfte, erhoben ſich die Frauen
in Frankreich gegen den Code civil.
Aber wie Mary Godwin, fo hatte aud) die erjte große Frauentonvention in den
Vereinigten Staaten, die Verſammlung von Seneca Falls, fo hatte eine der
VBegriinderinnen der Schweizer Frauenbewegung, Marie Goegg, den Gedanfen der
menſchlichen Gleichberechtiqung der Frau auf dad qrofe und dunfle Gebiet der ſozialen
Sittlichfeit besogen. ede der Frauen, die den Kampf um die Rechte ibrer Perſönlichkeit
innerlich durchkämpften, mußte an diefen Punkt kommen, wo die geſchlechtliche Sklaverei
der Frau ihren ſchärfſten Ausdruck gefunden hat. Hier verkörperte ſich das neue Problem
in einer ſozialen Anititution, in der DAS Menſchentum der Frau täglich taujendfad
in den Staub getreten wurde, an der alles idealiſtiſche Streben nach Reinbeit und
Mdel in dem Verbaltnis von Mann und Weib hilflos zerſchellte. Schon Marv
Godwin hat mit einer bewundersiviirdiqen Niidbaltlofigteit und dem bellfidtigen
fittlichen Inſtinkt, der fie ausseichnet, leidenſchaftlich die Forderung gleider Moral
Der internationale Horizont ber Frauenbewegung. 519
fiir die Gejchlechter erhoben, weil nur fo der ſittliche Imperativ iiberbaupt als ein
Imperativ bingeftellt werden inne, und die Schweizerin Lina Bed-Bernard hat, nod
weiter blidend, ſchon den fozialen Zuſammenhang zwiſchen Frauenlöhnen und
Projtitution erfannt. Reine dev Fiibrerinnen der Bewegung ijt innerlid) an diefer
Frage vorbeigekommen, wenn aud mance nod nicht den Mut fand, fie feit ins Auge
qu faſſen. Selbſt ein-fo fenfitiver Menſch wie die greife Begriinderin der modernen
engliſchen Frauenbewegung, Anna Jameſon, hat mit feiner Zuriidbaltung, aber mit
der Aufrichtigkeit, zu der, wie fie fagt, ihr Wter fie herechtigte, ausgefprocen, dah
das gefährlichſte Hindernid einer gefunden Gemeinſamkeit der Arbeit zwiſchen den
Geſchlechtern auf dem Gebiete der feruellen Cittlichfeit Tage.
Und fo war es leicht gu zeigen, in wie taufendfaden Parallelen die Entwidelung
unferer Bewegung in den verſchiedenen Ländern verliuft und wie der gleiche Grundriß
der fittlichen Geſamtanſchauungen iiberall ben Beweis Liefert, dah die Impulſe der
Frauen ihrem tiefften Anbalte nad einem inneren und äußeren Fortſchreiten der
allgemeinen menſchlichen Kultur entftammen. In der Anerfennung diefes Inhalts liegt
das Bewuptfein unferer Gemeinfamfeit am fefteften begriindet. In diefem Cinne
qedeutet, zeigt der internationale Rongref der Frauen unfere Vewegung gelöſt von
ibren nationalen und hiſtoriſchen Grenzen im Licht der etwigen Werte, die ihr im
tiefjten Grunde Leben und Wärme gegeben haben. Gr foll uns mehr, als e3 das
Wort des einjelnen, alS es die ftillgendbrte Uberzeugung der vielen vermag, ein
Zeugnis dafür fein, daß das befte und das innerlichjte unſerer Gache ihre fittliche
Berechtigung ijt. . —
*.
Die deutſche Frauenbewegung hat ſeit Monaten alles aufgeboten, um dem für
ſie ſo bedeutungsvollen Ereignis eine würdige Form zu geben. Aber wenn ſie dem
Kongreß mit der Zuverſicht auf Gelingen entgegenſieht, ſo iſt es vor allem, weil ſie
das Schwergewicht der geſamten Arbeitsleiſtung nach ſeiner inneren und äußeren
Organiſation auf die Schultern der Bundesvorſitzenden, Frau Marie Stritt, und
der Leiterin des Lokalkomitees, Frau Hedwig Heyl, legen konnte. Es iſt ſicher die
beſte Konſtellation, die die deutſchen Frauen aus den zur Verfügung ſtehenden Kräften
zu ſchaffen vermochten. Seit Jahren bewährt die Bundesvorſitzende in der Leitung
eines ſo komplizierten Apparats, wie der zentrale Verband der deutſchen Frauen—
bewegung ihn darſtellt, ihre ſeltene organiſatoriſche Begabung. Seit Jahren
repräſentierte ſie für die deutſche Frauenbewegung in gewiſſem Sinn „das Auswärtige
Amt“ — die verantwortliche Stelle für die „internationalen Beziehungen“. Und wen
batten wir mit den gaſtlichen Pflichten des Kongreſſes beſſer betrauen können, als
unſere „erſte deutſche Hausfrau?“ Auf das Wirken der beiden Frauen in unſerer
deutſchen Frauenbewegung einzugehen, iſt im Rahmen dieſes Artikels nicht möglich.
Es iſt in dieſer Zeitſchrift (im Aprilheft 1901 und im Aprilheft 1895) längſt gewürdigt
worden. Aber ein warmes Wort des Dankes für die außerordentliche Arbeit und
die Verantwortung, die der Kongreß ihnen auferlegt hat, ein Wort auch der Verſicherung,
wie ſehr die deutſchen Frauen die Bedeutung dieſes Dienſtes an ihrer Cache empfinden,
fei ihnen auch von diefer Stelle ausgeſprochen.
——— *
520
Ces; Sezession, —<">
Bon
Felix Poppenberg.
Nadhdrud werboten.
ie Sezeffions-Ausitellung diefes Jahres ijt die fete in dem fleinen ſchlichten
Gebius „Unterm Sturmbut’ auf dem Gelände des Welten= Theaters. Die
Räume find ibr zu eng geworden. Wie jie Fiinftiq ibren Rahmen geftalten wird, iſt
nod) nicht befannt. Man fann aber wohl annebmen, daß fie das ftrenge und ſachliche
Prinzip des einfachen lichten, dabei intim geſchloſſenen Raumes wahren wird.
Das unterfcheidet die Berliner Sezeffion von der Wiener. Die Wiener geben
durchaus anf die phantafievolle Anterieurivirfung. Jn dem Olbrichſchen Tempel, den
d'Annunzios Wabhrzeichen, der goldene Granatapfel, krönt, fpielen alljährlich üppige
deforative Variationen. Nicht das Bild ijt Selbftswed, die Symphonie aus Dede,
Boden und Wand mit Bilb und Plajtif iſt dad Riel. Dem Geſamtkunſtwerk des
Raumes dienen die Kräfte.
Anrequngsvolle Gefchmadsfejte fonnte man in diefen wechſelnden Metamorphofen
der Interieure erleben. Dofeph Hofmann und Kolomann Moſer ließen bier
ihre unerſchöpflichen Schmuckeinfälle ſich tummeln. Und die Freibeit der leichten,
nur für das kurze Leben eines Kunſtfrühlings beſtimmten Improviſation erlaubte
dekorative Launen, die bei dem gebundenen, feſtgegründeten Hausinterieur nicht
angingen. Wie hier weißer Putz mit metalliſch luſtrierten Flieſen ſich verband, wie
aus goldkörnigen Wänden Marmorreliefs leuchteten, wie im weißen Leiſtenwerk der
ſchmalen preziöſen Türen die Facetten des Kriſtalls funkelten, wie in der winkligen
Geſtaltung des Saales Kojen zum ruhigen Verweilen mit den tiefen Korbſeſſeln voll
weichen Linienfluſſes ſich pikant herausſchnitten, wie ein jedes Kabinett durch die
delikate Farbenſtimmung ein Bild für ſich bot, das iſt unvergeßlich. Aber, wenn man
aus Berlin oder München kam, dann war es doch auffällig, in welchem Kontraſt zu
dem hohen Geſchmackswert der angewandten Kunſt die Bilder an dieſen liebevoll—
nuancierten Wänden ftanden,
Die angewandte Kunſt ſchien bei weitem zu überwiegen. Auch wenn gar keine
Gemälde hingen, fo bitte dieſer Rahmen als Ausſtellungsobjekt nichts verloren.
Im Gegenſatz zu den Wienern wollen nun die Berliner die Scheidung zwiſchen
den dekorativen Künſtlern und denen, die wirklich Bild und Plaſtik machen. Nicht
das Schmücken wird bier betont, ſondern die Arbeit. Nicht Schmuckkäſtchen werden
gebaut, fondern zwiſchen Wanden, die durch nichts ablenfen und nur durch rubige Neutralitat
wirfen, werden künſtleriſche Refultate gezeigt.
Reine Hilfsfonjtruftion, feine Phantaſieſtimulanz, feine Suggeftion durch Neben—
werfe, nur das Werf: VBilde Miinjtler, rede nicht.
Sezeſſion. 521
Die Wiener Sezeſſion könnte zum Motto Verſe Hugo von Hofmannsthals aus
dem „Tod des Tizian“ wählen:
„Und alle Früchte ſchweren Blutes ſchwollen
Im gelben Mond und ſeinem Glanz, dem vollen,
Und alle Brunnen glänzten ſeinem Ziehn
Und es erwachten ſchwere Harmonien ...“
Für unſere Sezeſſion aber gilt das Wort, das die Schwelgeriſchen zum Be—
ſinnen bringt: Il faut étre sec, und dieſe Parole deutet ja auch die Lebens- und
Kunſtanſchauung des heimliden Kaiſers der Berliner Sejeffion, Mar Liebermanns.
In diefer Sachlichfeit, die allein Dem Werf anbangt, fic) nicht an Nebendinge
verliert und fider ihre Wege geht; die fo in ſich berubt, dah fie im Gefühl ebrlich-
fonfequenten Wollens, aud den Srrtum nicht fürchtet, pat das Schmuckloſe und paßt
die gleichmütige Rube, die diefe Gruppe jest in dem tobenden Fehdegeſchrei bewahrt.
Reine Phraſen von der „Freiheit der Kunſt“ und ähnlich billige Münze wurden bei
der Eröffnung verſchwendet, fondern der Grundton war: arbeiten und betweifen.
An Goethes große reife Gelaſſenheit erinnert dag, der auf die Invektiven der
Briider Schlegel nur fagte: „Wir wollen das alles, wie feit fo vielen Jahren, voriiber-
geben Lajjen, und nur immer auf dad binarbeiten, was wirkfam ift und bleibt...”
* *
Unpathetiſch und ohne Proklamation geben ſich dieſe Ausſtellungen. Die ſie
veranſtalten, wiſſen ſelbſterkennend, daß ſie nicht in jedem Jahr Ereignis und Erlebnis
bereiten können. Sie haben zuviel Reſpekt vor allem Wirklichen; bei allem Stolz (es
iſt kein Hochmut des Könnens, ſondern der Stolz auf ihr unbeſtochenes, vorurteils—
freies Wiſſen von künſtleriſchen Dingen) verletzen ſie nicht die Beſcheidenheit der Natur
und prablen mit Unfehlbarkeiten. Die Ernten find verſchieden, aber immer gleich iſt
das ftrebende Bemühen diefer Riinfrler, die eigene Wrt zu vertiefen und auszuprägen.
Und immer wieder könnten die Uncinjichtiqen bier lernen, dah Sezeſſion feine Richtung
ijt, und dak es keine „ſezeſſioniſtiſche Malweiſe“ gibt. Cinjfeitiqfeit des Sebens und
gleichmäßig patentierte Schönſchrift findet fic) nur bei den ,,Runftbeamten’.
In der Sezeſſion werden feine Parolen ausgegeben, dah die Baume violett
gemalt werden müſſen und daß fie nun ,rwieder grün gemalt werden dürfen“, wie ein
Wighold einmal ſcherzte; bier Fann wirklich jeder, wenn er nur die Fabigkeit bat, feine
inneren Vorgänge anſchauungsſtark aussujprechen, nad feiner Façon ſelig werden, ob
er nun nad) realijtijder WirklichEeitstreue ftrebt oder ob ex Vijionen und Träume
verdichtet, oder ob fich ihm die Erſcheinungen zu Symbolen und Ornamenten wandeln.
* *
*
Die Ausftellung diefes Sommers ijt nicht eine der glänzendſten. Ihr feblen die
Chef d'oeuvre-Uberraſchungen, die oftmals bier geboten wurden, die Meijterferien,
wie fie im Winter 3. B. durch die Turners und Wubray Beardsley-Rolleftion feffelten.
Aber dice Wusftellung bat ein gewichtiges Moment in der vornehmen, felbjtficheren
Ausgeglidenbheit und Rube, mit der die verſchiedenen Temperamente hier neben einander
in Farben reden. Neife ſpricht fic) Darin aus, daß gerade jest, Da mande Erbitterung
beritber und hinüber ſchwingt, diefe Stätte rein gebalten ift vom Demonjtrativen, von
trogigen Ertravaganzen, von Verblüffungs- und Brusquierungsproduktion.
522 Segeffion.
Die CSejeffionijten find feine abfurd fic) gebdrdenden Moſt-Jünglinge mehr,
fondern ernjte Leute, die wiſſen, was fie wollen, die weder Nedensarten machen, nod
fid) durch Redensarten einſchüchtern laſſen. Bemerfenswert ift aud, daß diesmal bei
weitent die deutſche Kunſt iiberwiegt, daß man obne den Abnenfultus der großen
franzöſiſchen Anreger ecinmal das Gegenwartiqe und Eigengewachſene zeigen will.
Der Vorraum allerdings ijt gajtlich geſtimmt. Cr ward ju einer Halle der
Sfandinavier. Und Wace haltend grüßte fie die machtvolle Geftalt de Bogen:
fpanners von Nicolaus Friedrich, der mit Knie- und Armgewalt und gefammelter
Kraft fein Werkzeug fich swingt.
Die Hinterwand fiillen zwei große Bilder, die man mit dem Titel einer Ola
Hanſſonſchen Novellenfammlung „Nordiſches Leben” nennen finnte. Von Danen find
fie gemalt. Das eine von dem Ropenhagener Paulfen „In der Heimat”, das andere
pon Hammershoj „Fünf Porträts“. Paulfens Bild gibt Trink und Gefelligkeitshumor
einer froben Männergeſellſchaft, Pjolterftimmung, wie fie derb und frohbehaglich in
Guſtav Wiedſchen Junggeſellengeſchichten fic) regt, — die ,,Sfal“laune der Berbriiderung
und der Lieder. Es feblt nur die Laute.
Hammerhoj, der fich bisher in feinen „ſtillen Stuben”, den verblagten altmodiſchen
Interieurs, worin die Atmoſphäre alter Seiten und Geſchichten ſchwebt, lyriſch—
ſtaffagelos gezeigt, füllt diesmal ſeinen Raum mit Menſchen. Fünf Männer im trüb—
ſchwelenden Zwielicht zweier Kerzen, ſchattenumhüllt, bei geleerten Gläſern. Jenes
andere Stimmungsklima, das oft in Bangſchen Novellen herrſcht, iſt hier zum Ausdruck
gebracht: das Bedrängte, dumpf Verſonnene. Als ob Laſten drücken, als ob eine
ſchwere Angſt ſich ſenkt, ſo wirkt dies Häuflein ſchweigender Menſchen. Und dieſe
Köpfe, die etwas Gedrungenes, gleichſam vom Grübeln Verquollenes haben, etwas
Geballtes, ſie ſind mit lebendigem Griff aus dem Dunkel modelliert.
Darüber zieht ſich cin Fried von dem Finnen Axel Gallén. Er gibt in einem
gewiſſen ethnograpbijd - primitiven Stil Landſchaftsbilder. C3 find Entwiirfe zu den
Fresten im Maujoleum yu Björneborg. An fic ftehen fie uns vielleicht ferner, aber
fie baben cine nachdenfliche Bedeutung dadurch, dag fie die Erfiillung eines nationalen
Auftrags und doch perſönlich unfonventionell ausgefallen find.
Rody mehr gilt das von einem Werk des Schweizers Hodler im grofen hinteren
Saal. Es ijt fiir cine Fefthalle beſtimmt und bat eine jo ftarfe raffige Art, wie wir
fie in unferer dffentlichen Kunſt vergebens fuchen. Es beweiſt, dak aus Patriotigmus
und Nationalbewußtſein echte Kunft bervorgeben fann, eine Wahrheit, die uns jeit
Schlüters Großem Rurfiirften und Heinrich von Kleijts Prinzen von Homburg
verloren ging und die Herr von Werner uns nicht zurück retten Fann.
Hodler malt den „Rückzug von Marignano”. Die Stimmung Conrad
Ferdinand Meverfdrer Fresfen liegt iiber diefem Rundbogen, in dem, von Banner
farbig iiberflattert, tropige Gejtalten dabingichn in gepuffter und geſchlitzter DH
dunfelbartig oder bartlos, mit dem ſcharfen Schnitt heraldiſcher Wappentrager,,
klingt in dem Bild, und der Mufrechte, der mit gejpreisten Beinen unerfdiitte
Boden ju wurzeln ſcheint, mit dem Lanzengriff voll Todesitirte, alB mF”
den Rückzug decken, iſt fein Gerold. Cine feltene Miſchung de3 Menfebf
Gropitilifierten (,,Helvetia ſei's Panier“) ftedt in dem Werk. sf
* *
* —
Sexeffton. 523
Zwei Stärken der Sezefjion find immer die Landfchaft und das Portrait.
Die Meijter der Landſchaft jind Liebermann und Leiftifow. Liebermann bringt
wieder cing feiner oft bebandelten Lieblingsmotive: Reiter am Strand. Unendlicher
Hintergrund, und auf ſchmalem Scheideſtrich Bewegung der Menſchen und Pferde.
Diejer Rbvthmus, das Flutende, Rollende, zu dem Staccato des Rofjetrabs,
fodt das ſprühende Temperament Liebermanns immer wieder: es ſchlug mein Herz,
geſchwind zu Pferde, und die weife, belle, endloje Weite umfpielt aufléfend die Konturen,
Dies huſchig, im Hauch feftyuhalten, die „unendlichen Schdpfungen des Augenblicks“,
wie fie von Licht und Luft, von allen Refleren in ewigem Wechſel gedichtet werden,
der Natur yu entreifen, das ijt das Wejen des Ympreffionismus und darin liegt feine
erregende Wirfung.
Erſtaunlich iſt das aud) in den badenden Jungen am Strand erreidt. Das
Gewimmel und Durceinander der Figuren, alle in der Unruh und Haft des Angiehens,
fonne-iiberflimmert, in blendender Helle ſchwimmend, wirft frappant.
Diefer jähen, zuckenden, fajt raubgierigen Leidenſchaft, fics Beute im Fluge einzu—
fangen, ftebt die traumerifde Verjonnenbeit Leiftifows gegeniiber. Abn reizen nicht
die Menſchen, er fucht in der Natur die „große Stille’. Und im andidtig
qefammelten Schauen verlangt ibn weniger nad dem im Flug erbafdten und im Blitz
des Pinfelftrichs wiedergegebenen Uusdrud, fondern er wird gum Bildner; er raubt
die Landſchaft nicht, er verjenft fic) in fie und prägt fie fid) aus. Dadurch fommt
in feine Bilder etwas CStilifiertes. Cr gibt nicht die „unendlichen Schipfungen des
Augenblicks“, ibn reizt es, mehr das innere Geſicht, die Seele eines Naturausſchnitts
zu treffen, er bordt binein; die heimliche Melodie will er fich einfangen und den
Wald mit den Organen eines Sonntagsfindes ſehn. Liebermann bat die überſcharfen,
qewedten Sinne, die Witterung des Clementaren und aller Phänomene der Freiluft,
er nimmt fie faclics, nur vom Furor des Croberns und Beſitzens beſeſſen; Leiftifow
empfängt die Ericeinungen in einem mitſchwingenderen Gefiibl, dem jeder Cindrud zu
einem Seelenzuftand wird. Yiebermann identifiziert fics, foweit das einem Temperament
möglich, mit der Natur; Leijtifow fiebt in iby Spiegelungen feines inneren Wefens,
feine Landſchaften find Gefühlslandſchaften.
Mit moderneren, nuancierteren Mitteln ſpricht er aus, was die lieblich-einfältige
Snnigteit Hans Thomas in deutfden Wäldern mit feiner einfaceren Seele
empfand.
Sein herzliches Bild „Träumerei an einem Schwarzwaldſee“ hängt hier altdeutſch—
kleinmeiſterlich unter den Werken der Jugend, ein Volkslied aus des Knaben
Wunderhorn.
Sicherer Gefühlstakt gehört dazu, die reale Naturwirkung zu malen und gleich—
zeitig ſymboliſche Stimmung auszudrücken. Die Stimmungswirkung muß indirekt
kommen, ſie muß im Bilde latent enthalten ſein und unbewußt ihr Fluidum ausſtrömen,
ſonſt begibt ſich fatal ſtatt echter Stimmung Stimmungsmacherei. Das zeigt ſich in
Martin Brandenburgs „Sommertag“. Cin mächtiger, vielfältig veräſtelter Baum wird
vom Sprühfeuer der Sonnenſtrahlen durchflammt; ein ſchönes und reiches Thema voll
lebendiger Fülle und an ſich poeſievoll genug. Die heimliche Poeſie des Bildes zerſtört
der Maler dadurch, daß er in zudringlicher Perſonifikation die Sonnenſtrahlen als
Elfen leibhaftig darſtellt, die durch das Gezweig flettern. Durch dieſe allegoriſierende
524 Sexeffion.
und fommentierende Beigabe beſchränkt Brandenburg das freie Spiel der Phantaſie,
dads ſich vielleicht ju nod) reicheren Sonnenmarden an dem Bild entziinden könnte, und
nun wirkt es in feiner gewollten und unterſtrichenen Poeſie alt.
* *
*
Das Wejentlice diejer Ausſtellung findet fich im Saal der Bildniffe.
Cr ijt international. Cine erlefene Vereinigung von Menſchendarſtellern bringt
er jujammen.
Von Whiftler feffelt hier eine efpritvolle Charafterijti€ de3 Schriftſtellers Duret,
ein Zeichen der Revanche fiir das feinfühlige Verjteben, das diefer Delifate den Bildern
des Künſtlers, vor allem dem der Mutter im Luremburg, gezeigt batte.
Das lebensgroße Portrait im ſchmalen Format trifft die Mifehung des Mondänen
mit dem Geiſtreich-Künſtleriſchen: der Kopf mit den verfonnenen feinen Augen und
dem geiftigen gefammelten Ausdrud und die Erſcheinung im Evening dress, den
Damen-Sortie über dem linfen Arm und den Facer Madames in der Hand, Cin
Caufeur, ein fouverdner Geijt in der Atmoſphäre der grofen Welt, wie es Whiitler ſelbſt
war und Osfar Wilde, fteht lebendiq vor uns.
Ihm gegeniiber fpritht das funkelnde Tangfeuer bes Mariettabildes vow Mar
Slevogt. Welt und Boheme vis-a-vis. C8 ijt das fascinierendjte Stück diefer Aus—
ſtellung. Slevogt, unfer leidenſchaftlichſtes Noloriftentemperament, hat in diefem Motiv
der tanjenden Rreolin in verſchleierter, umwölkter Cabaretluft ein Motiv gefunden,
das fajt nod) danfbarer fiir ihn war, als das Raketenfeuerwerk feiner Don Juan:
Andrade-Bilder, in denen es wetterleuchtet wie im Champagnerlied.
Marietta de Rigardo, die frappante Crinnerung unferer RKiinjtlerredouten,
ijt bier in Tarantellaftellung gefapt. Auf dem biegſam-geſchmeidigen Körper wiegt
fic) verwegen der dunfle Kopf mit dem briinetten, pifant gefdmittenen Geſicht. Cin
blaued Kleid rinnt flüſſig an ihr nieder und verſchwimmt mit den Farben des Teppichs,
und daritber riefelt dad leuchtende Gelb eines Crépe de Chine-Shawls. Mus dem
Hintergrund tauchen verſchwommene Geftalten, darunter der Mandolinenfpieler. Boll
Vibration ift hier die Stinunung einer phantaſtiſchen Großſtadt-Nachtilluſion gebannt.
Herbe, mit ftrenger Hand und ernſten, ſchmalen Lippen erfcheint gegen fold
tempérament lumineux die künſtleriſche Phyſiognomie des Holländers Jan Beth.
Er ijt in jeiner Menſchendarſtellung pergamentenclapidar wie cin alter Meijter.
An Holbein denkt man vor diefen unerſchütterlich gemeifelten Gefictern. Das
eigentlich Maleriſche reizt ibn weniger, als die Prägung. Nicht die Impreſſionen des
Momentes loden feinen auf das Stetige und Bebarrende gerichteten Sinn. Die
Perjonlichfeit will er bannen, vom Zufälligen losgelöſt, als gälte es cine Medaille
fiir die Nachwelt zu jifelieren. Die Geſichter alter Menſchen, die von Sdchidjals-
und Zeitrunen beſchrieben find und die ſchon in die Ewigkeit ſchauen, gelingen feiner
Wrt am beften. Er ijt ein tiefer Nachzeichner der Furchen und Runzeln, und in feiner
Wiedergabe wird diefe Handſchrift voller Rätſel beredt und deutſam.
Noch manches Abbild feljelt in diefem Saal: Krovers Jonas Lic, gebalten, mit
dem etwas fiuerlichen Theologengejicdt und dem Pajtoren-Barett fiber Büchern und
Papier; Werenſkiolds Edvard Grieg unter dem blühenden Baum, in die Luft bordend,
voll Waldweben und muſikaliſcher Empfangnis; Zorns lebendiqes Frauenbildnis; de
ſpitzbübiſche, luſtig-freche Naſe der Tint Senders, die Dev ungefiige Louis Corinth in
Sezeſſion. 525
guter Laune eingefangen und zugleich mit dem karikaturiſtiſchen Coupletgeſicht in
feſchem Strich verewigt; Dora Hitz' Kameenporträt der Frau Eleonora von Hofmann,
Stefan Georgiſch, antiliſch geſehen, als ſchaute ſie vom Söller auf die Citta morte
und rezitierte den Geſang der Antigone; v. Königs eigenartige Auffaſſung des jungen
Herrn im Aſtheten-Rock, halb ſitzend auf dem altertümlichen Clavicembal mit der
lyraförmigen, aufſteigenden Riidwand, ein Bild, das ſich natürlich gibt, ohne der
bei dieſen Requifiten nabheliegenden Gefabr des Stil-Snobismus ju verfatlen.
* +e
*
Im freien Schlendern durch die lezten Räume mag nod einiges notiert werden.
Zwei Franzoſen halten den Blick feſt: Cottet und Simons. Cottet mit dem
ländlichen Feſttag in der Bretagne: Bäuerinnen, geputzt auf dem Feld hockend vor
der ausgebreiteten Kaffee- und Obſtmahlzeit, voll Kraft der farbigen Flächen, des
Blau und Griin der Koſtüme, das in den Farben der verſtreuten Früchte wieder—
flingt, und des blendenden Weiß der gropen Gauben, das mit dem das Gras
bededenden Speiſetuch forrefponbdiert, Simons mit jeinem dem leiden lima
angeborigen Enfemble: Bretonen in der Meſſe, voll wuchtiger Cnergie der Gefichter,
fanatiſch und ebern entſchloſſen, als ginge es in einen Glaubensfrieg.
Gute Plaftifen find mit fparjam-weifer Ausleſe verteilt.
Ru Simons Bretonen ftimmt die Bronze des normiinnifden Fifeher3 von
Oppler (Paris). Voll Wucht und Beredfamfeit ijt fie geballt, Deuniers und Roding
Schule merft man ibr an.
Bernhard Hötger, der Künſtler impreffionijtifder Kleinplaftif, der fich bisher
meiſt in Parifer Straßentypen verfucdt, als Gil Blas der Sfulptur, als Charafterijtifer
der Camelvots und der Cri de Paris, erprobt jest Frou-Frou-Technik. Dem graziöſen
Desjean, de Feure und dem Fürſten Troubegfoi eifert er nad in der vehement
qeqriffenen Statuette der fibenden Dame, die von dem Schleppen- und Volantgewirbel
ihres Kleides umrauſcht wird wie von koſigen Wellen.
Mar Krufe jtellt eine Holjffulptur eines befannten Berliner Publizijten aus,
die zeigt, Dah der Kiinftler fein Schönredner ijt; er geftaltet mit ihr eine Kreuzung aus
Uzanno und Schider von unbeimlicher Lebendigfeit. Weniger gliidlid) aber wirkt
feine Gingebung fiir die Biijte des ReichShanfprafidenten Dr Kod. Es ijt Stil
vergreifen, den kurzhalſigen, bürgerlichen Bonhommefopf diefer Heinen Exzellenz auf
einem monumentalen Marmorgrundſtein aufzupflanzen.
Rum Verweilen laden die fein empfundenen, weid aus ibrer Fläche aufwachſenden
Reliefs der Dubvisfdren Plafetten, vor allem der Platte les lys, ein.
Nur fliichtig fann jun Schluß auf die Gruppe der ornamentalen Künſtler bin:
gewiefen werden, die aus den Lebenserjdeinungen der Dinge und Menfden das
Deforative herausſchmecken und es zierlich umſchreiben.
Eine kareſſante Hand für ſolche Kalligraphien und Miniaturen beweiſt Karl
Walſer. Feine Bildchen zeigen ſeine Art. Ein Medaillon „Am Fenſter“ im Somoff—
genre als preziös-altmodiſches Echo du temps passé, mit Tränenweiden tn der
ziſelierten Perljcbrift, die man aud) bei Aubray Beardsley findet; dann die Perfpektive
einer Strafe im Schnee mit Laternen, mit fubtiler Feinſchmeckerei in der Verengung
der Parallelen, die wie cine Linienvignette wirfen. Der Meijter folder Kunſt aber ijt
526 , Die Frau ale Biirgerin.
der Münchner Strathmann. Gr arbeitet mit der Qutveliertednif de Gentile da
Fabriano, er ift ein ,ftiller Goldſchmied und filberner Filiqranarbeiter”, doch das
Endziel des minutisjen Baſtelns ijt die Parodie. Gier fehen wir von ibm ein Panorama
deS heiligen Franziskus von Aſſiſi, der den Vögeln predigt. Gin gefprenfelter Farben:
teppich voll raffinierter Primitivitit, groteske Starrbheit in dem hölzernen, frommen
Mann mit dem Sperrmund unter dem Heiligenfehein, und byzantiniſch-heraldiſch das
Getier in den gelb und grünen Blumenjtricen.
Dock zwiſchen den Stämmen glaubt man dad ironiſche Geficht eines modernen
Weltfindes ju feben. Er felbjt wie fein Held — ein fonderbarer Heiliger.
Vie Brau als Birgerin.
Bon
Helene Tange.
Nachdruck verboten.
{8 in den dreifiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts — ſo berichtete
(~@ fiirslic) cinmal eine Roti; in einer Fachzeitſchrift — die Cifenbabn Nirenberg:
Coe? Fürth gebaut werden follte, wurde das Königlich Bayeriſche Medizinalfollegium
um ein Gutachten gebeten. Die Manner der Wiffenfehaft erflarten fic geqen die
Cijenbahn. Cie meinten, daß die raſende Fahrgeſchwindigkeit Gebirnfrankheiten zur
Folge haben müßte. Dedenfalls empfahlen fie, lings der Bahn auf beiden Seiten einen
zehn Fup hohen Bretterzaun aufjufiibren.
Die Anfänge der deutſchen Frauenbewegung bieten mand cine Parallele yu diejer
Geſchichte. Es war faum ein Jahrzehnt fpater, als Louife Otto zum erjtenmal in den
Rampf der Zeit um ein neues ſoziales Ideal den Gedanfen hineimvarf: „Die Teil:
nabme der Frauen an den Intereſſen des Staates ijt nicht allein ein Recht, fondern
cine Uflicht der Frauen”. Dah auch diefe Forderung einer neuen Zeit von den Mannern
der Wiſſenſchaft als eine Gefabr fiir die Volksgeſundheit betrachtet wurde, das zeigt
die Außerung eines unferer befannteften Hijtorifer, der rückblickend jene erjten Anfänge
zu betverten hatte. Heinrich von Treitſchke erflirt fie lediglich aus der „wachſenden
Zahl der unbefriedigten, der franfen und nervijen Frauen” und kennzeichnet die Frauen:
bewequng als einen Ausdruck der Entartung mit den Worten: „Ganz wie einjt in den
Seiten dev Sittenverderbnis de3 Flaffifden Wtertums jtieqen aus dem Schlamme der
Nberbildung die Lebren der Weiberemanjipation hervor.“
Nicht fo febnell wie in der Verfebrstechnif ijt man in der Frauenbewegung von
den diijteren Prophezeiungen und rein theoretiſchen Erörterungen zu rubigen praftijeben
Berfuchen iibergegangen. Heute braujen auf unfern Schienen ſchon die erften elektriſchen
Fernzüge dabin, ohne dah fic) die Bretterzäune als notwendig herausgeſtellt haben.
Auf dem Gebiete der Frauentätigkeit qibt es allerdings nod) Bretterzdune genug. Dennod
Die Frau alé Biirgerin. 527
fann man beute fagen, daß in allen ernft yu nehmenden Rreifen an die Stelle vor-
eiliger Verurteilung cine rubige, fachlide Betrachtung, eine Bereitwilligkeit yu praftifden
Verſuchen getreten ijt, dba das Thema: „Die Frau als Biirgerin” auf eine vorurteils-
loſe Erwägung rechnen darf.
Wenn ſich ein ſolcher Wandel der Überzeugungen auf geiſtigem Gebiet vollzieht,
ſo kann das nur zum Teil auf eine Propaganda des Wortes zurückzuführen ſein;
es beweiſt, daß die Wucht unumſtößlicher Tatſachen ein Verharren bei anerzogenen An—
ſchauungen unmöglich gemacht hat. Eine Kette ſolcher Tatſachen zeigt die Geſchichte
der Frauenbewegung in allen Kulturländern; ſie liegen auf geiſtigem, wirtſchaftlichem
und ſozialem Gebiet.
Wenn wir die Entwicklung unſerer Bewegung zurückverfolgen bis auf ihren
Urſprung, d. b. bis in den Gedankenkreis der einzelnen Frauen, die unſeren Forde—
rungen zuerſt Wusdrud verliehen haben, jo feben wir die Erkenntnis von der Gebunden—
eit der Frau bhervorivachjen aus der geiftigen Bewegung, die unferm modernen
Denfen den Stempel auforiidt. Sie vereinigt das ſchönſte Erbe unſerer reicen
klaſſiſchen Zeit, die Uberzeugung von dem Wert der freien, nach allen Seiten ſich
entfaltenden Perfintlichfeit, mit dem fozialen Gedanfen, dak jeder Kraft dle Mög—
lichfeit ju folder Entfaltung gegeben werden mus.
Friedrich Naumann bat in feinem Vortrag „Die Frau im Majfchinengeitalter” ')
kürzlich auch den Zuſammenhang diefer beiden Gedanken mit der Entftehung der
Frauenbewegung bervorgeboben. Freilich, wenn er die Gefchichte diefer Bewegung
befjer gefannt, wenn er fich nicht iiber die hiſtoriſche Aufgabe feines Themas mit der
etwas allzu legeren Wendung „ich fann gefdichtlich gar nicht feſtſtellen“ hinweggeholfen
bitte, fo hatte er feben miiffen, daß die Erfenntnis einer wirt{dhaftliden Frauen:
frage dicfe Perfinlichfeitsanfpriidse der Frau bet ihrem erften Auftauchen nocd) eines:
wegs begleitcte, —
Einer Krajt, der Lis dabin die Möglichkeit zu voller Entfaltung verfagt war,
werden fic) alfo die Frauen bewuft. Und mit diefem Bewuftwerden vollzieht fich
notwendig der Bruch mit der allgemeinen Anfchauung, dah ihr Weſen um fo edfer
fei, je weniger es vom Unbewuften, Juftinftartigen eingebüßt babe. Aus der bungernd
geſuchten und erfimpften eigenen geiftigen Kultur erwächſt ibnen die Uberzeugung, daß
die Seele der Frau fo gut wie die des Mannes nur durch allfeitige Bildung zu voller
Rraftentfaltung gelangen Fann, Und darum wird ausnahmslos in allen Kulturlindern
der erfte Kampf der fiibrenden Frauen um Bildungszwecke gekämpft. Er bat iiberall da,
wo nicht dufere Macht Cinbalt gebot oder die Entividelung wenigſtens hemmte, un-
erwartet ſchnell zu überzeugenden Ergebniſſen gefiibrt. Das erfolgreich durchgefiibrte
Univerfitatsftudium fo vieler Frauen, Doftorpromotionen und Profeffuren, die praktiſche
Bewährung der Frau in fo manchem wiffenfchaftlichen Beruf bewies wenigitens, dak
die Bebauptung von der abfoluten, naturgewollten geijtigen Inferiorität der Frau der
Wrundlage enthebre, dah fie bei gleichwertiger Vorbildung die geiſtige Leiftung des
Durchſchnittsmannes durchaus zu erreichen vermige. So mance litterariſche und
wiſſenſchaftliche Leiftung bewies nod) mebr.
Seiftige Kultur als Selbjtswed freilic) hatte wobl kaum ein treibendes Motiv
fiir Die qroBe Menge der Frauen werden können. Auch die Bildungsheivegung, ftebt
) Rerlag ber Freiftatt, G. m. b. H. Miinden.
a ew ger ee
528 Die Frau als Biirgerin,
da, wo fie fic) praktiſchen Zielen zuwendet, ſchon unter dem zwingenden Drud wirt-
ſchaftlicher Urſachen. Die Umwandlung aller Produftionsverhaltnijje, die Entwertung
der Frauenhausarbeit und Handarbeit, die damit gufanumenbingende Loslöſung Taufender
‘pon Frauen aus dem ſchützenden Familienfreis, das Clend der ungelernten Frauen,
deren ſich die Induſtrie bemächtigt, alle dieſe Tatfacen in ibrer harten Unabänder—
lichfeit find der Menge weit veritindlider und eindringlider als der Bildungshunger
der einzelnen. Der Kampf der Frau um Berufafreibeit und Berufsbildung, der
Kampf um den Broterwerb, den. die Verhältniſſe ihr unentrinnbar aufdrangten, bat
guerft ben Gedanfen der Frauenbewegung eine gewiffe Popularitat verſchafft — ſelbſt—
verſtändlich nur niemals bei den Angehörigen der Berufstlaffe felbjt, um die der Kampf
gerade entbrannt war.
Heute nehmen an der geiftigen und materiellen Produftionsarbeit der Gefamtheit
viele Millionen von Frauen teil. Von den 21 Millionen Erwerbstitiger im Deutſchen
Reid) Hilden die arbeitenden Frauen den vierten Teil. Qn wie weit das, vom volks—
wirtſchaftlichen und kulturellen Geſichtspunkt betrachtet, erfreulich ijt poder nicht, mit
diefer Frage haben wir es hier nicht yu tun. Für die Erdrterung des Themas ,,Die
Frau als Biirgerin” haben wir uns nur die Tatſachen zu vergegentwiirtigen, dah diefe
Millionen von Frauen den wirtſchaftlichen Kampf unter genau denfelben Bedingungen
qu führen baben, wie der Mann, dah ihre Yntereffen ebenſo unmittelbar mit der
Entwidlung des öffentlichen Lebens zuſammenhängen wie die feinen.
Die dritte Kette von Tatfacden, die dem Thema ,,Die Frau als Biirgerin”
heute eine durchaus praktiſche Bedeutung geben, liegt auf ſozialem Gebiet.
Man hat bas 19. Jahrhundert, befonders in feinen legten Jahrzehnten,
bezeichnet als die Epoche der CEntwidlung de fozialen Gedanfens. Worin
dupert ſich diefe Cntwidlung? Augenſcheinlich in einer völlig veranderten Auffaſſung
und Geftaltung der fogialen Arbeit, d. h. der Fiirforge für die, denen die wirtſchaft—
liche ober fittliche, die körperliche ober geijtige Kraft zur Selbjthilfe feblt. Während
fie früher der nad) aufen bin verantwortungslofen, nad) Neiqung und Willfiir geiibten,
nur auf dem perſönlichen Pflichtbewußtſein berubenden Wobltatigheit des einzelnen
iiberlafien war, wird fie nun mebr und mehr in den Pflichtenfreis der Gemeinſchaft
hineingezogen; fie wird damit eine auf rechtlicher Grundlage geiibte, feltgeregelte
Tätigkeit öffentlicher Körperſchaften.
Bei dieſem Umwandlungsprozeß hat man zunächſt die Frauen ausgeſchaltet.
Dieſelben Frauen, die als Angehörige der kirchlichen Gemeinden oder freier Ver—
einigungen oder auch in privater Tätigkeit einen — ja man darf wohl ſagen, den
Hauptteil der ſozialen Fürſorge geleiſtet hatten, hielt man nicht für fähig, dasſelbe
als Vertreterinnen öffentlicher Körperſchaften zu tun. Go blieb manches ungetan,
was nur durch Frauen getan werden konnte. Eine Geſchichte, die eine kürzlich ver—
ſtorbene Vertreterin der engliſchen Frauenbewegung, Frances Cobbe, von ihren
Beobachtungen in der engliſchen Armenpflege erzählt, könnte wohl als typiſch für
dieſen Stand der Dinge, fiir das vollſtändige Fehlen des mütterlich-frauenhaften Ein—
fluſſes auf dieſem Gebiete dienen. Sie ſaß in der Säuglingsabteilung eines kommunalen
Armenhauſes, zu deſſen Beſuch fie ſich als Privatperſon die Erlaubnis mühſam erkämpft
hatte. Da öffnete fic) die Titr, und eine ganze Kommiſſion von etwa zwei Dutzend
Herren marſchierte herein, um zu „inſpizieren“. „Es ijt mir niemals beſchieden gewejen,
etwas Hilfloferes und Abſurderes zu fehen”, meint Miß Cobbe, „als dicfe männlichen
Die Frau als Biirgerin, 529
Sachverſtändigen‘, wie fie ſcheue Blide auf die kleinen Wiegen warfen, denen feiner
nabe zu fommen wagte, wabrend alle die aus dem Schlaf gewedten Säuglinge ibnen
im Chor entgegenfdrieen.“
England ijt eins der erften Lander gewefen, in denen ſolche Szenen zur Un—
miglicdfeit wurden. Auch in allen fibrigen Kulturländern — aud) bei uns — ift man
wenigitens auf dem Wege, ſolche Szenen zur Unmiglichfeit gu machen. Der Dank
dafiir gebiibrt in erfter Linie den Frauen, die mit aller Energie dafür eingetreten find,
der Frau in der neu organijierten fozialen Fürſorge die alte Bedeutung wieder zu
etringen, ja mehr: die fie vom blofen Handlangerdienft 3u einer Mitarbeit führen
wollten, bet der ihre Cigenart den Geift des fozialen Lebens mitzubeftimmen vermag,
Diefer Dank gebiihrt in zweiter Linie den Männern, die Cinficht genug befafen, dem
durch nichts gu erſetzenden Einfluß der Frau Naum zu ſchaffen.
Stellen wir uns nad diefen Ausfiihrungen nochmals vor die Frage, warum hat
das Thema ,, Die Frau als Biirgerin” heute ein praktiſches Intereſſe, fo heißt die Antwort:
weil die Frau heute tatjadlid ſchon Biirgerin ift, weil fie unter dem Cinflug der
qeiftigen und der wirtſchaftlichen Entwidlung aus der Unſelbſtändigkeit ibres geiftigen
und wirtſchaftlichen Daſeins berausgetreten ift und teilnimmt an der ideellen und
Kfonomifchen Arbeit der Gefamtbeit, weil fie auf dem Gebiet der fosialen Arbeit
bereits begonnen bat, die Aufgaben mit zu übernehmen, die der Gefamtbheit als Pflicht
gegen den einzelnen offiziell zufallen. Ob diefe Tatſachen diefem oder jenem gefallen
oder nicht, ob man die Seiten zurückwünſcht, in denen die Frau mit ibrem ganjen
Lebenskreis in keinen unmittelbaren Beziehungen zur Offentlichfeit ftand, das läßt die
Sachlage ſelbſt natürlich gan; unangetajtet und wird aud) ohne Einfluß auf die weitere
Entwidling bleiben, die von inneren und äußeren Kräften, nicht von frommen
Wünſchen abhängt. Es fcheint überdies eines Volfes, das den Mut feiner Zukunft
haben follte, wenig witrdig, durch fentimentale Pflege eines nicht mehr zu verwirklichenden
NdealS fic) über die Anforderungen diefer Zukunft abjichtlich yu täuſchen, ftatt in der
Gegenwart ſchon gejunde Vorbedingungen dafiir zu febaffen. Wir jtehen — das mus
jedem rubigen und vorurteilslofen Beobadjter Ear werden — am Anfang einer
Entiwidlung, auf deren Fortſchritt alle Triebfrifte unferer Zeit mit Raturnotwendigfeit
hinwirfen. Cie wird die Frau immer mebr in da8 öffentliche Leben hineinführen.
Soll dieſe Entividlung ihr felbjt und der Gefamtheit zum Segen werden, fo muß die
Rechtsordnung des Hffentliden Lebens fie auc) als Biirgerin anerfennen. Daf das
Recht Ginter der lebendigen Entwidlung zurückbleibt, ijt eine gang triviale Wahrheit.
Gefchiebt das aber in dem Sinne des Wortes , Vernunft wird Unjinn, Wobltat Plage”
dann entiteht zwiſchen den Fordernden und den immer wieder Abweiſenden eine
Spannung, die dem Kampf ums Recht jene unerquidliche Form verleibt, von der wir
aud) in der deutſchen Frauenbewegung zu fagen wiſſen. Wenn wir Arbeiterinnen
ohne Vertretung im Geiwerbegericht haben, Geſchäftsinhaberinnen, die von der Borie
ausgeſchloſſen find, UWbiturientinnen, die nicht immatrikuliert werden können, Lebrerinnen
ohne das Recht dex an den Amtscharakter geknüpften Vertretung in der Schulverwaltung,
Armen: und Waijenpflegerinnen ohne Stimmrecht, wenn gu einer Zeit, wo die forporative
Intereſſenvertretung eine Form des Sffentlichen Lebens geworden ift, die Frauen unter
cin ſchon zur Seit der Begriindung veraltetes Vereinsrecht geswungen werden, wenn, um
es kurz zuſammenzufaſſen, die Frauen auf dem Wege gum vollen Bitrgerredt, d. h. der
ſelbſtändigen Vertretung in Gemeinde und Staat trog eines durch cin halbes Jahr:
34
530 Die Frau als Biirgerin.
bundert gefiihrten aufreibenden Rampfed erft die erjten beſcheidenen Zugeſtändniſſe
erzwungen haben, fo liegt darin eine Berfennung ihrer heutigen Lebenshedingungen,
die ihr RechtShewuftfein auf dad ſchärfſte verlegen mug. Um fo mehr als ein Blid
auf die Verhältniſſe anderer Kulturitaaten ibnen zeigt, wie viel ſchneller der Gerechtigkeits—
ſinn der Bevölkerung dort dem Wppell der Frauen Gehör gegeben hat, ohne dag es
erjt der Berufung auf Leijtungen bedurft hatte.
* *
*
Diefer Blic auf andere Lander ijt fiir jeden, der fic) mit der Frauenbewegung
und ibren Rielen beſchäftigt, intereffant und unentbehrlich. Nicht als ob man die
Wege, die dort die Entwicklung genommen, obne weiteres aud) bei uns geben könnte.
Gin jede3 Land bat feine Cigenart, und was nicht organifd aus diefer Cigenart hervor-
wächſt, fondern bon außen ber iibernommen und vielleicht gewaltſam durchgeſetzt wird,
bas wird nie gu einem wurzelkräftigen fozialen Dafein gelangen. Aber wie der, der
fremde Sprachen nicht fennt, nichts von feiner eigenen weiß, fo lernt man aud) die
Bedingungen des fozialen Werdens im eigenen Lande erſt bann und um fo tiefer
erfafjen, je flarer man fie gegen das Fremde fic) abheben fieht.
Die angelſächſiſchen Länder haben wir da in erſter Linie ins Auge gu faſſen.
Wir fehen die Bewegung hier zum Teil einen ganz anderen Ausgangspunkt nehmen.
In den Vereinigten Staaten wird der Gedanke von der Befreiung der Frau ins offent:
liche Bewußtſein geboben durch die Antijflavereibewegung, die von den dreifiger Jahren
an unter ftarfer Beteiligung der Frauen immer weitere Kreife jog. Er erfcheint als
eine Konſequenz jener Forderung von der Gleichberechtigung aller vor dem Geſetz, jenes
politiſchen Glaubensfages, der durd) den Abolitionismus feinen mächtigſten Sieg erringen
jollte. Was fag näher, als daß dieſe Frauen, die fic) felbjt mit Borliebe als „Töchter
Der Revolution” bexeicneten, den demofratijden Grundfas, der ibnen von Jugend auf
als beiligfter Hort ihrer Menſchenwürde galt, aud auf fic felbft anwendeten, den
Grundſatz, dab die Regierung iby Recht nur ableite von der Zujtimmung der Regierten?
So traten die politiſchen Forderungen von Anfang an in den Mittelpunft der Be:
wegung. Und ob auch der Bruch mit der Tradition fic) jelbjt in dem jungen Staats:
wejen nidt raj und mühelos volljog, ob der Kampf um die volle biirgerliche Gleich-
ftellung auch beute noch fern von feinem Abſchluß ijt, fo erwies fic) dod) das demo-
fratijde Prinzip auc) bei den Männern als ftarE genug, um den Forderungen der
atauen Schritt fiir Schritt Erfüllung gu fichern. Ciner befonderen Berufung auf ihre
Veijtungen bedurfte e3 in einem Staate nidt, wo das Stimmrecht felbft dem miß—
adteten, verjflavten Neger jugefprocden worden war. Nehmen wir heute die Ver:
einigten Staaten als ein Ganzes, fo gibt es wenig reprafentative Rechte mehr, die
nicht in irgend einem Staat der großen Republif von Frauen in vollem Umfange aus:
geübt wiirden.
Nod ſchneller volljieht fic) die Entwidlung in den auſtraliſchen Rolonien, wo
Die Frauen heute nicht nur in faft allen Cinjeljtaaten das paffive und aftive Wahl
recht bejiten, jondern aud vor nicht Langer Beit zum erſtenmal zur Wahlurne de3
Bundesparlaments febritten. Hier hat e3 noch weniger einer befonderen Frauen:
agitation bedurft. Die Verleibung des Biirgerrechts an die Frau erwuchs nod mebr
aus den leitenden Grundſätzen der nationalen Politif; man ſchuf cine Schugwebr gegen
Die Frau als Biirgerin. 531
den Mißbrauch des allgemeinen Stimmrechts durch die gablreich hereinſtrömenden Heimat:
{ofen Abenteurer, indem man durch die Ausdehnung dieſes Rechts auf die Frauen der
Familie als der Grundlage de3 Staated einen grigeren Einfluß ficherte.
Aud in England wird unter der Wirkung de3 Qabrhunderte alten fonjtitutionellen
Bewußtſeins von Anfang an das Pringip des Menſchenrechts der Frau mit Erfolg
fiir die Bewegung verivertet. C8 ijt der GeficstSpunkt, von dem John Stuart Mill,
der Führer der Frauenftimmredtsbewegung in England, ausgeht. Gelegentlich der
amerifanijden Slavenbefreiung bemerft er: „Sie verurteilt die Frau zu ciner Stufe
der Knechtſchaft, die erniedrigender ift als je, da fie nicht Linger von irgend welchen
Angehörigen des männlichen Geſchlechts geteilt wird und daber jede Frau zur Unter-
geordneten jedes Manned mat.” Durd die ganze engliſche Stimmredt3bewegung
zieht fic) dieſer ſtaatsrechtliche Gedanke als immer wieder in den Vordergrund ge-
ſchobenes Argument. Nehmen wir hinzu, dafh der rechtliche Zufammenhang zwiſchen
votes und taxes, Stimmredjt und Steuern, durch die englifde Verfaſſung dem Volks—
bewußtſein ſehr tief eingepragt ift, nebmen wir hinzu die lebhafte, ftets von hervor—
ragenden Parlamentariern unterſtützte agitatoriſche Arbeit der Frauen, fo erfcheint es
begreiflich, daß die Frauenftimmredtavorlage wenigitens im Unterhaus ſchon mebrjad
der Annahme nabe war. Befanntlich ijt 1897, nachdem fie in den erften beiden Lefungen
bie Majoritit aller Parteien erhalten hatte, nur durch einen Gewaltsakt ſkrupelloſer
Gegner die dritte Lefung und damit die Annabme der Vorlage verhindert
worden. *) .
Wenn nun aber diejes Gleichberechtigungsdogma auch ein ftarfer Faktor in der
Durchführung der politiſchen Frauenbewegung in England geweſen ijt, fo feben wir
doch andererfeits gerade bier die Erkenntnis wirffam werden, dah die Frau nicht nur
auf Grund ihres Menſchentums ibren vollen Wnteil an den Pflichten und Rechte der
Gefamtheit beanſpruchen diirfe, fondern daß fie auc) durch ihre ſpezifiſche Cigenart,
durd ibe Frauentum dem Staat etwas Unerjesliches zu bieten habe, dak die Cin:
ſchränkung ihrer öffentlichen Wirkfamfcit nicht nur die Frau in ibren Rechten ver:
kümmere, fondern aud) die Arbeit des Gemeinweſens cinfeitiq mache, nicht zu voller
Entfaltung tommen laffe. Bon dem Augenblid an, wo Londoner Biirger die Cinfiib-
rung der Frauen in die Schulverwaltung forderten, weil fie ja aud) Mädchen jur
Schule fchidten, Hiren wir immer wieder, und gerade durch Manner, die befonderen
Faähigkeiten der Frau als mafgebenden Grund fiir die Notwendigfeit ihrer Mitarbeit
im Sffentlichen Leben mit Erfolg geltend machen.
So feben wir aljo, wie in dieſen Landern, in denen der Ronjtitutionalismus nicht
nur eine dupere Regierungsform ift, foudern fich tief eingeſenkt bat in dad Bewußtſein
deS Volkes und von dort das politifde Empfinden und Handeln gan; beſtimmt — wir
feben, wie bier der Gedanke von dem Biirgertum der Frau von Anfang an in den
Vordergrund tritt. Cr ift ein Ausdruck ftaatsrechtlicher Grundſätze; er entwidelt fic
nicht erft mit der Ausdehnung des Wirkungskreiſes der Frau, wie ſie wirtſchaftliche
und ſoziale Verhialtniffe mit ſich bringen. Diefe Tatfacen bat Friedrid) Naumann in
dem ſchon einmal erwähnten Vortrag gleichfalls yu wenig beachtet. Cie ftellen die
Cinfeitigtcit feiner Ronftruftion der Frauenfrage ins Licht, einer Ronftruftion, nach
) Bal. das Nähere in der Broſchüre: Yntelleftucle Grenglinien zwiſchen Mann und Frau.
Frauenwahlrecht. (W. Moeſer. Berlin.) S. 37.
34*
ST... Foe en tee ee rey ee â— —
1
*
532 Die Frau als Biirgerin.
welder die Frau ihre foziale Stellung gang ausfdlieBlid) dabdurd yu heben ver-
mote, dah fie fic) in den indujtriellen Produftionsprozeh hineinſchiebt und ſich dort
in rein wirtfdaftlidhem Sinn wertvoll gu machen verſucht. Die ,theoretifde Beweis—
führung“, die idealen Triebskräfte, find wenigftens in diefen Landern nicht fo machtlos
gewefen, wie es von Naumann allgemein vorausgefest wird.
* *
*
Auch bei uns hat man im Anfang der Bewegung verſucht die politiſche Befreiung
der Frau unter Berufung auf ihre abſtrakten Menſchenrechte zu fordern. Dahin führte
ſchon die Verknüpfung der Bewegung mit den Verfaſſungskämpfen der vierziger Jahre.
Aber dieſer Gedanke von dem Staatsbürgertum der Frau, der von dem hochfliegenden
freiheitlichen Enthuſiasmus eines Robert Blum, eines Karl Fröbel, eines Johannes
Ronge emporgetragen wurde, er teilte bas Schickſal der Bewegung, aus der er hervor—
gewachſen war. Die Reaktion der fünfziger Jahre fegte ihn ſpurlos hinweg, und Louiſe
Otto ſelbſt, ſeine erſte Trägerin, zog aus dieſer Erfahrung die Lehre, daß der deutſchen
Frauenbewegung durch den beſonderen Charakter des öffentlichen Lebens in Deutſchland
ein anderer Weg gewieſen ſei, der Weg, den ſie tatſächlich gegangen iſt. Sie hat ſich
für die Anerkennung des Bürgertums der Frau erſt eine Grundlage ſchaffen müſſen
durch jenes ſchrittweiſe Vorwärtsdringen auf geiſtigem, wirtſchaftlichem und ſozialem
Gebiet, das wir uns zu Anfang vergegenwärtigt haben. Mochte das Bewußtſein ihres
Staatsbürgertums in den Frauen noch ſo lebhaft ſein, von dieſem Punkt aus war,
das hatte die achtundvierziger Bewegung gelehrt, vorläufig keine Breſche in die herr—
ſchenden Anſchauungen zu legen. Was in den angelſächſiſchen Ländern geboten war,
wäre in Deutſchland ein grober taktiſcher Fehler geweſen. Berichteten doch noch vor
kurzem die Zeitungen, daß durch behördliche Zenſur aus einem preußiſchen Schulleſe—
buch ein paar Abſchnitte der Verfaſſung geſtrichen worden ſeien, warnte doch bei den
letzten Etat-Debatten im preußiſchen Landtag ein konſervativer Abgeordneter dringend
davor, ſelbſt in den höheren Lehranſtalten zu eingehend von der Verfaſſung zu reden!
Wie hätte man vor Jahrzehnten anknüpfen können an politiſche Rechte, die man noch
heute dem Volk, wie es ſcheint, nur ungern zum Bewußtſein kommen läßt. Das
einzige, was man tun konnte, war, den Blick immer wieder auf dieſes Ziel zu richten,
und ſo iſt denn auch kaum ein Frauentag vorübergegangen, ohne daß von der Frau
als Bürgerin die Rede geweſen wäre. Erſt das letzte Jahrzehnt des vorigen Jahr—
hunderts mit dem Wandel des ſozialpolitiſchen Denkens hat auf Grund der zu Anfang
dargelegten Tatſachenreihen der Frau die erſten amtlichen Funktionen im öffentlichen
Leben übertragen; es hat den Anfang der praktiſchen Erfüllung gebracht.
Wer geſchichtlich zu denken vermag, und wer insbeſondere ſich in die Eigenart
unſeres Volkes tief hineingelebt hat, der wird ſich ſagen, daß die Entwicklung der
Frau zur Bürgerin auch für die Zukunft den bisher beſchrittenen Weg einhalten wird.
Prophezeiungen ſind zwar immer gewagt, und plötzlich eintretende Kriſen können alle
Berechnungen über den Haufen werfen; ein ruhiges politiſches Denken und Planen
kann ſich aber dennoch nur auf die Annahme eines geſetzmäßigen Verlaufs der Dinge
ſtützen. In unſerem Fall muß die Annahme dahin gehen, daß nicht etwa von heute
auf morgen den Frauen das politiſche Stimmrecht beſchieden wird, ſondern daß ſie
in langſamem Fortſchreiten eine ſtete Erweiterung des Kreiſes ihrer bürgerlichen
Pflichten und Rechte erkämpfen werden. Sie werden das Feld ihrer Tätigkeit in der
—
Die Frau als Biirgerin. 433
Gemeinde ausdehnen, fiber Armen: und Waifenpflege binaus in dad Gebiet der Schul—
verwaltung eindringen und allmablid) gu immer verantwortliceren Amtern aufiteigen.
Ihre wirtfdhaftlide Lage wird fie immer mehr mit den Fragen de3 politifden Ge-
ſchehens in Beziehung ſetzen und ein Wachfen des fonftitutionellen Bewußtſeins, des
politifden Sinns im ganjen Volfe wird auch ibnen iby Biirgertum, wie tiberall, jo
aud) bei uns, immer näher bringen. Cin folder Entwicklungsprozeß aber kann ſich
nicht volljieben, obne auch das Denfen des Volfes fiber das Staatsbiirgertum der
Frau allmählich umpugeftalten; und wird einmal der Augenblid gefommen fein, two
die Frau in ihre vollen Bilrgerrechte cintritt, fo werden unzweifelhaft die heute nod
fandlaiufigen Einwände gegen die politifche Betätigung der Frau, die die Erfabrungen
frembder Lander ſchon jetzt widerlegt haben, aud) bei uns als erledigt gelten.
* *
*
Mit dieſer Erwägung könnte ich abſchließen. Ich könnte die Aufgabe des
Hiftorifers, Geſchehenes darzulegen und daraus Folgerungen in Bezug auf die weitere
Entwicklung zu ziehen, als erfüllt anſehen. Aber die Bewegung, in der wir ſtehen,
wird noch von ſo vielen als eine ſchwere Gefahr für die Grundlage des Staates, die
Familie, angeſehen, es glauben noch ſo viele, daß ſie einfach zum Zweck habe, die Frau
fo gu ſagen zum Manne zu machen, es glauben nod) fo viele, ihr darum gewaltſam
entgegentreten zu müſſen, daß ich mich mit einer einfachen Darlegung der Tatſachen
und ihrer Konſequenzen nicht begnügen, ſondern mit einigen prinzipiellen Erörterungen
abſchließen möchte.
Die Frau will die gleichen Rechte wie der Mann. Daraus folgert eine ober—
flächliche Betrachtung die Abſicht einer völligen Verwiſchung der Geſchlechtsunterſchiede,
die Aufgabe jeder Arbeitsteilung zwiſchen den Geſchlechtern. Nun bedeuten aber doch
Rechte nichts weiter als Raum fiir Einfluß. Nber die Art dieſes Einfluſſes enthält
der Begriff nichts. Dieſer Einfluß wird ſtets, das liegt klar auf der Hand, nur geübt
werden können nach der Weſensbeſtimmtheit. Die Weſensbeſtimmtheit der Frau iſt zu
ihrem Ausdruck gelangt innerhalb der Familie. Und da die Frau dauernd aus der
Familie, aus ihrem Muttertum, dem phyſiſchen oder geiſtigen, ihre beſte Kraft holt
und in alle Zukunft holen wird, ſo iſt damit auch ihre Weſensbeſtimmtheit für alle
Zukunft geſichert. Und damit iſt ausgeſprochen, daß ſie überall da, wo ihr ein Einfluß
auf die Geſtaltung des öffentlichen Lebens eingeräumt wird, dieſen Einfluß im Sinne
ihrer Eigenart, nicht als Mann, ſondern als Frau üben wird. Noch ſind nur die
allgemeinen Linien beſtimmbar, in denen dieſer Einfluß verlaufen wird, noch läßt ſich
nicht vorausſagen, wie ſich unter ihrem Wirken der Geiſt des öffentlichen Lebens neu—
geſtalten wird. Nur das eine iſt ſicher: ihre beſtimmende Einwirkung auf das öffent—
liche Leben kann nur in der Richtung liegen, die ihr Wirken in der Familie andeutet.
Wird doch ein Zug, deſſen Bedeutung für Erziehung und Bildung, für jede Art
ſozialer Fürſorgetätigkeit heute mehr und mehr anerkannt wird: die Fähigkeit ju
individualiſieren, den Menſchen als einzelnen, als Perſönlichkeit zu beobachten und zu
werten, in ihr ſchon durch die Art ihres Wirkens in der Familie entwickelt. Was
Anlage und Verhältniſſe ſo durch die ganze Menſchheitsgeſchichte hindurch in der Frau
haben werden laſſen, was in der Enge ihres Kreiſes, über die keine tiefere geiſtige
Kultur hinaushob, oft in Kleinlichkeit und perſonlichen Klatſch ausartete, wird in der
534 Die Frau ald Biirgerin.
Freibeit und Selbjtverantwortlichfeit, wie alles Menfdbliche, nicht verfiimmern, fondern
gu ebdlerer Kultur gelangen. Wenn der Mann geneigt ift, alles Perſönliche unter eine
Formel yu bringen, wenn er fo überhaupt erſt die Gliederung, die Geſetzmäßigkeit in
das Hffentliche Leben gebracht bat, fo erſcheint es gerade jest an der Beit, feine un:
leugbare Cinfeitigtcit gu forrigieren und innerhalb der Forme! das Perſönliche wieder
sur Geltung fommen ju laſſen. Wenn diefe Korreftur von cinfichtigen Männern felbjt
verlangt und angebabnt wird, wenn fie nad) einer Qndividualifierung in Armen: und
Waifenpflege, in Erziehung und Unterricht ftreben, fo können fie diefem Streben nicht
beffer jum Erfolg verbelfen, als durch volle Freigahe dieſer WUrbeitsgebiete fiir
die Frau.
Cine Vorausfepung freilich ijt dabei unerläßlich, daß die Frau, wo fie Anſprüche
erhebt, aud ein wirkliches ernſtes Können mitbringen mus. Auf dem Gebiet der
Berufstitigheit wird das unter dem Siwange der wirtidaftliden Erfahrungen ſchon
mehr und mebr eingefeben, obwobl bier befonders die Torbheit der Eltern, die die
Töchter in Monaten vorbilden michte, wo fie den Söhnen Jahre gewährt, febr
erſchwerend wirkt. Uber fiir das ganje Gebict freiwillig übernommener bürgerlicher
Pflichten feblt es nod) tiberall an der Einſicht, daß mit den bloßen Anfpriicen und
etwaigem guten Willen nichts getan fet. C3 ware töricht, leugnen yu wollen, dah
unfere Zeit unter dem Titel , moderne Frau” manche Erſcheinung hervorgebracht bat,
bie wenig geeignet ijt, den Forderungen der Frauenbetwegung Sompathie zu gewinnen.
„Was fic) heute unter dem Titel des modernen Weibes ſpreizt“, fagt Iſolde Kurz mit
Recht, „jene ſeltſame Mifdung von Pratenfion und Unzulänglichkeit, die auf wirkliches
Können nod nicht cingerichtet ijt und das Opferbringen verlernt hat, das ijt eine
unreif gefaulte Frucht am Baum der Kultur.” Mun, die Verhaltniffe werden uns
Beit laffen, die zahlloſen Friichte, die noch, im innerften Kern gejund, in viel
verfprechender Fiille am Baum der Kultur hängen, ausreifen zu laſſen. Als die afler-
wichtigjte Aufgabe der Frauenvereine und der ganzen Frauenbewegqung fann nur das
eine angefehen twerden: die Frauen tüchtig zu machen yur Erfiillung der Pflichten und
Rechte, die fie anjtreben,
Es wird mandmal fo bingeftellt, alS ob die Erlangung der Biirgerrechte das
letzte Biel der Frauenbewegung fei, al ob es nur gelte, gleichviel wie, fo ſchnell wie
miglich dabin 3u fommen. Jn Wirklichfeit wird die Frauenbewegung damit doc ert
ibren rechten Anfang nebmen, da erſt dann fich zeigen wird, inwietweit die Frau ibre
Gigenart in der Kulturwelt geltend madjen fann. Und wehe unferer Sache, wenn der
qrofe Moment ein kleines Geſchlecht findet, wenn wir dann nod nicht binaus gefommen
fein werden über das findijde Gebabren, das mit parlamentarifden Vokabeln von
Rechts und Links fpielt und dariiber die inneren Bedingungen unferes Erfolgs aus
den Augen verliert. Wehe unferer Sache, wenn dann nod nicht die Arbeit als das
erfannt worden ijt, was allein dieſem Erfolg Dauer fichern fann.
Daß die Ausriiftung der Frauen fiir ihre fiinftige Nolle im öffentlichen Leben
zum Teil in der praftifcben fommunalen Arbeit ju fuchen ijt, ift ſchon geſagt. Aber
dazu fommen nod andre Wege. Fiir alle beruflicy tatigen Frauen 3. B. die berufliche
Organifation, in der fie fernen finnen, perfinliche Augenblicksintereſſen für größere,
gemeinſame Ziele ju opfern, in der fie lernen, die Vorgänge des öffentlichen Lebens
zu verfteben und ibre Macht wie ibre Abbangigfeit ibnen gegenüber richtig abzuſchätzen.
Für alle Frauen unferes Volkes bedarf es dazu einer nach der volkswirtſchaftlich—
Die Frau als Biirgerin. 535
politiſchen Seite vertieften Bildung durd Schule und Fortbildungsſchule, wie fie andern
Orts längſt als notiwendig erfannt ijt.
Aber, fo wird nun ſchließlich eingewendet, eine ſolche Erweiterung der Tätigkeit
der Frau ift der Ruin der Familie, der Ruin der Kindererziehng. Was zunächſt die
rau der arbeitenden Klaſſen betrifft, fo ftedt in dem Einwand ein gut Teil Phari—
faertum. Go lange die wirtfchaftliche Not fie ihrer Familie iiberhaupt in dem heute
üblichen Mah entzieht, fallt diefer Cinwand garnidt ins Gewicht. Andrerfeits braudyt
gerade die Arbeiterin notwendiger als wir alle die Rechte, die fie befähigen, ſich im
wirtidhaftlicdben Leben zu bebaupten. Was aber unfere bürgerlichen Kreife betrifft, fo
modte in dem Einwand, die Frau werde ihren häuslichen Pflichten gu febr entzogen,
dad gleiche Phariſäertum oder wenigftens eine bequeme und behagliche Selbſttäuſchung
fteden. Iſt denn tatſächlich die Mutter in diefen Kreifen jede Stunde im Dienft ibrer
Familienpflichten tatig? Iſt fie nicht längſt „Dame der Gefellfchaft”, opfert fie nicht
einen grofen Teil ihrer Zeit den Anſprüchen diefer Gefellfchaft? Wenn fie aud nur
die Hilfte der Beit, die Heute den fogenannten Reprajentationspflidten, den Toilette:
forgen gewidmet wird, ſich wirklich als Glied der Gefellfdaft in einem edleren und
gebaltvolleren Sinne fühlen wollte, fo ware der Zeitaufiwand, den ibre Biirgerpflicten
einmal fordern werden, vollauf gededt. Und ibren Rindern würde fie aus Ddiefer
Tatigfeit etwas anderes mitzubringen haben, als aus einer Gefellfchaftsfaijon. Es ijt
beseichnend, dah fic) die deutſche Phantafie immer nur die Mutter mit dem Kinde auf
dem Arm vorftellen fann. Die Mutter erwachfener Kinder tritt hinter diefem Bilde
ganz juriid. Ich braude nicht aussufiihren, wie bedeutjam gerade in unferer Zeit
ihre Uufgabe ijt. Dem Kinde von heute feblt die Fiibrung vom Mutterarm in das
Leben; in das Leben, von dem die Mutter unferer Kreiſe felbjt viel zu wenig weif,
deffen Zuſammenhänge fie viel ju wenig verfteht, um der Todjter, dem Sohn, die
der vielbefchiftigte Bater faum mehr als bei den Mahlzeiten fieht, ein wirklicher
Führer zu fein. Hier wird eine verantiwortlide Aufgabe im öffentlichen Leben
den Einfluß der Mutter auf ihre Kinder nicht beeintradtigen, fondern ftirfen und
vertiefen.
An der Schule werden wir gelebrt, ſtolz darauf ju fein, daß die Frauen der
alten Deutfchen mit den Mannern jujammen den gemeinjamen Feind von der Wagen-
burg zurückſchlugen. Auch heute drohen uns der gemeinjamen Feinde viele: fie ver-
firpern fic) in all der geiftigen, fozialen und ſittlichen Not, die in unjere äußerlich
ſcheinbar fo glänzende Entwidlung ibre tiefen Schatten wirft. Sie zu befimpfen
gilt e3 gemeinfame Arbeit. Jn ihr werden — und das ijt das Biel und zugleich das
Ende der Frauenbewegung — Mann und Weib, die fic) durch Generationen aus—
einandergelebt haben, fich wiederfinden.
536
————=>-__ Diirfen harms. —
Sfizze nad) dem Leben
Ina Rex.
Raddrud verboten.
S. war Gutsangehirige eines Herrn,
der das Wohl und Wehe feiner Hof- und
RKatenleute giitig überwachte.
Als ihr Vater, der Shafer Soden Harms,
ploplid) mitten in feiner Herde tot gefunden
tworden twar, befam die Witwe ein Stübchen,
bas fie mit fid) und ibren vier Rindern gerade
ausfiillte, im Wirtfdaftshaufe neben der Leute-
ftube und ben Poften einer Leutefidin dazu.
Satt wurden alle Fünf, denn ganj leer famen
bie grofen, irdenen Schüſſeln nie in die Riide |
guriid, aud) frieren braudjte feiner, ein paar
Stiide Abgelegtes fanden fic) immer fiir die
Waifen; aber „'t war dod nid halw nid
heil.“
Die Andern: Statthalter Kählerſch, Kutſcher
Dippertſch, Kuhhirte Krögerſch, fegten alle ihre
eigenen kleinen Stuben aus und ſchlugen im
Winter in der Ofenecke eine Bucht auf, die
Sau und Ferfel beherbergte, fie, Harmſch,
mufte um jeden Quart fragen. Na jal Dbr
feblte nichts — ih Gott biwohr — aber fein
eigens Herr fein, is dod) 'n annern Snack.
Sonntags Nadmittags, im Sommer, be-
ftellten die Ratenleute ihr bißchen Gartenland. Da
ward gegraben, gebarft, geſäet; die weißen
Hemdarmel leudteten nur fo zwiſchen dem
Griin der Büſche und Baume. Sie, Harmfd,
ſaß in ber dumpfen Stube und flidte fiir die
Göhren. Das mufte fein, gewif, fonnte aber
Abends gemadt werden. Die andern Weiber
flagten oft, bag ibnen dann die Mugen dabei
jufielen vor Müdigkeit, war bei ibr ebenfo
geweſen — früher — madte dod nichts! —
Gin Sdliiding Kaffee ab un an, und man
war wieder munter.
ene
Als Jahr um Jahr fo ins Land gefommen
war, und Harmſch wieder einmal mit einem
Seufjer ihre zehn Taler Lohn, die zwei Pfund
raube Wolle und zehn Ellen Hedenleinen auf
den Brettifd legte und fid) daneben auf den
Strobftubl fallen lief, flinfte die niedrieg
Tir, und Qafob Bernitt fdob fid in die
Stube; im Arm feinen Anteil an Keidungs-
material; ein Stück bunted Weftenjeug und
ein Biindel gefponnener Strumpfivolle. Denn
heute war Martini und Löhnungstag fiir ein
ganzes Jahr.
„Wiſt Du mi dat 'n beting upphägen,
Harmſch, ick weit nahrens dor mit hen.“
„Nich mihr as girn. Häſt Du kein
Mudder mihr?“
„Nee. Dat ſchoadt em ja nu wierer nich
un is nid) ſlimm, wenn id man 'n Fru
badd.”
Harmſch ladte. „Wat wift Du mit ’n
ru? —
„Na nu! —“ Er ſetzte ſich und zog die
kurze Pfeife aus der Hoſentaſche, das Feuerzeug
folgte, und nach manchem Pink! Pink! kam
der Tabak in Brand.
„De Lüd hebben mi vertellt, dat du all
eins eigen Hüſung badd häſt ...“
„Dat wull ick meinen”, Harmſch reckte ſich
auf, „as mien Mann noch lewt. Hier ſitten
wi ja all uppenander; äwers ſüß is allens dor:
Melkſchapp und Swienstrog un Ketel un Pött
un twat dortau hürt. Mien Brauder hätt't bi
ſick upp'n Bähn ſtahn“. Mit einem tiefen
Seufzer: „Dat verſpalt un verkümmt.“
Der Knecht rauchte weiter und ſah auf die
Lehmdiele. Als aber das Stübchen ganz unter
Diirten Harms.
Qualm gefest war und ein Wort das andere
gegeben hatte, ftand er entſchloſſen auf.
nod äwernähm dei gang Geſchicht. Fief
Göhren häſt bu? . . .”
Harmſch wehrte entriijtet: „Nee, wehn bhatt
bi dat vertellt! vier fiindt — un all, all ut:
wufjen. Biift nägen Woden upp'n Hoff un
weit von nir, De Ollſt is'n Dirn. Sei
beint bier jo bi'n Meier; äwers bliewen will
fei bor nich. So'n lütt dic frusfippig Dirn,
be möſt bu dod all feifn hebben?”
„Is dat dei Voßkopp mit de Siinnfpruten
(Sommerfprofjen) 3”
Harmſch lacht: „Jawoll, 't is ne fire Dirn.”
Qn den nächſten Woden [ag tiber dem
großen Hofe eller Gonnenfdein, der fogar
um die Ede reichte, trotz vorgefdbrittener Sabres:
qeit, und alle die vielgeteilten Fenjterdhen des
Wirtſchaftsgebäudes beftrablte. Die Bagel
jubilierten fiber bem Strohdache, und Harmſch
war eine Braut.
Mls aber ber Hochzeitstag heranrückte,
regnete es find und fadte in die ſpärlichen
Myrtenzweige, die der Witwe noch zukamen.
Das junge Paar und alle ibm Woblgefinnten
fahen befriedigt in das dunftige Fiſſeln — bas
Eheglück ſchien bombenficder.
Dürten und ihre drei Brüder hatten nun
einen Stiefvater und ſtimmten voll und ganz
ber Anſicht der Dörfler gu, daß der vierund—
zwanzigjährige Jakob Bernitt ein gang un—
verſchämtes Glück habe. „So warm ſick dorin
tau ſetten —“ ſagten ſie erboſt und verſuchten
wenigſtens, ihm ſein enges, rauchiges Stübchen,
fein Stüchchen Runkelland und ſeine drei
Hühner, die ein betagter Hahn nur mühſam
beherrſchte, durch ſpitze Reden zu verleiden.
Dann gingen ſie aus dem Ort. Hanning und
Körling verdienten ſich das Löſegeld und traten
beim Militär ein, Chriſchäning „wär tau ſwack
in 'ne Knei“ (Knieen), das Vaterland verzichtete
auf ibn; er fam als Kutſcher gu Bliemeiſter,
der ein großes Fuhrweſen in der Stadt betrieb.
Und Diirten fnotete die eigengemadte Conn:
tagsjade, den kurzen, blauen Wollrod und cin
derbed hedenes Hembd in ein rotbuntes Tud, ſchob
es auf den runden Mem und ging mit. Denn
beim Kaufmann Herfe am Markt war die
Stelle eines Kindermaddens frei. Wire fie,
ſo wie fie da war, in die große Linde geftiegen,
geſund und drall.
537
bie vielleidt nod) heute mitten auf dem Hofe
jenes Geſchäftsgrundſtücks ftebt, fie bitte auf
Gottes Erdboden nidts mehr gu fuden gebhabt.
Selbſt die Liebe ber Mutter, jener abge-
arbeiteten, gehetzten Frau, die neben dem
ftrammen, jungen Chemanne ein gebdritcted
Daſein führte, fchien ihr verloren, erſtickt in
der Gorge um ben lieben Frieden.
„Na, denn belpt dat nid.”
Diirten war einundzwanzig Jahre alt,
Go ftand fie vor dem
Polizeiſekretär und gab Auskunft:
„Vadder hew id nie nid) badd; mien
Mudder hatt’n Annern friegt. Bi Koopmann
Herfe biin if in’n Deinft bi de Gihren. Ick
frieg föfthein Dabler ohn und tau Wih-
nachten twei Dabler, wenn id mi ſchick noch'n
beting tau, un tau Pingſten einen Dahler.“
Dann hielt ſie ein Papier in der Hand;
im Ohr lagen ihr einige ernſte Ermahnungen.
Was auf erſterem ſtand, ahnte die Schreib—
unkundige nicht, die letzteren waren hochdeutſch
gegeben und offenen Mundes angehört, aber
nur unvollkommen erfaßt worden.
„Man dat deiht em nix.“ Dürten wußte
Beſcheid. „Ummer ihrlich un flietigh —“
hatte Mutter ermahnt; „lütt Kinner hätt unſ'
Herr Jeſus leiw, wenn du dei gaud deihſt,
büſt du upp Gott's Wegen!“ Frau Paſtor
verſichert. Dieſe Geleitworte hatte ſie ſich
mitgebracht aus ihrem Dorf, und kein bebrillter,
gelehrter Stadtherr konnte ſie verwirren mit
unverſtändlichen Anforderungen; wohl aber
ſehr empfindlich ihre Arbeitsgenoſſinnen. Da
war Fieken, die dicke Köchin, die Sonntags
ein Barett mit Blumenſtutz aufſetzte und uns
bändig ladte, wenn Diirten Trompeten und
Tapeten und vieles, vieles Andere beharrlich
veriwedfelte. Da tvar die fcbnippifde, nafe-
weiſe Stubendirn, die Lina! War mit ibr
wohl ausjufommen, fonnte man fic twobl
bergen bor anzüglichen Redensarten!
Diirten radte fid: ,Du Ap! — —“ fagte
fie aud tieffter Überzeugung, als fie bemerkte,
wie die Gitle der Herrin nachäffte in Kleidung
und Manieren. Städtiſche Obrfeigen und
dörfliche Maulſchellen freugten fich, und der
Hausherr fubr dazwiſchen mit einem gefunden
» Donnerivetter |” Die Hausfrau aber
jammerte: „So ein Landmädchen! nicht ein—
538
mal hochdeutſch verſteht es. Mie twerde id
mid) dazu entidliefen fonnen, feinetivegen
platt au fpreden.”
Diirten lauſchte: „Deiht od nich nödig,
Medamming, liehr ick all nod.”
Der Haushalt ging aus dem vollen,
Dürten fonnte eſſen, ſoviel fie wollte; aber es
ſchmeckte ihr nicht. „All ſo'n weilen Rram —“
meinte ſie betrübt, „ſchad üm dat leiw Etend!
nich Peper, nich Solt an. Dat ward kaakt
und braden, dat kann jo kein Fleiſch utholl'n,
un de Sauß ward dörch nägen Säwen
(Siebe) gaten — wat ſchall dor noch an—
bliewen.“
In der Kinderſtube war ſie am glücklichſten.
Ihre drei Pflegebefohlenen, Wolfgang, Bruno
und Kurt, taufte fie einfach um: Dei Ollſſt,
dei Mittelſt un dei Lüttſt; gab aber Hoffnung
auf Anderung der Sache: „So 'n dwallſchen
Nams kann ick nich biholl'n. Dat ward de
Minſch irſt mit de Tied gewendt.“
Ihre Erziehungsmethode war die einfachſte
von der Welt: „Man jo kein Schacht! (Prügel)
dat's nix vörn vörnehm Kind, dat's wat vör
Dörpjungs. Dieſ' Kinner ſeggen in einſten
weg danke un bitte — wat ſchall ſo'n Rind
wierer? — Man immer ſtiew un faft dorbie
bliewen, wat'n ſeggt batt, denn jo marten fei
fid bat.”
Wenn der lebhafte, cigenfinnige Wolfgang
burd) bebarrlides Betteln und Schmeicheln
dieſen Grundſatz zuweilen zu unterminieren
verſuchte, ſchickte Dürten ibn zur Mutter, und
kam er niedergeſchlagen zurück, tröſtete ſie ihn
gutmütig: „Sühſt Du, mien Jüngin! Dat
möt'n jung anwarden (gewöhnt werden) —
dacht häw ick mi dat woll, dien Mutting is
'n vernünftig Fru, de haut mit im in deſülwig
Karw.“ (haut in dieſelbe Rerbe.)
Diirten ging niemals fiir fic aus, nur
mit den Kindern. Aber die Wallanlagen, two
ein Kinderwagen neben dem anbern ftand, mied
fie. „Dor möt'n fid blots argern. Gin tweit
nod ümmer mibr Slichts von fien Harrſchaft
ag be anner. Un bat möten de lütten Göhren
all mit anbiiren. Un denn immer _ dit
Rertellis von be Briijams! Dat’s doch'n
Selbverjtand, dat'n Dirn den batt. Wat fdalln
bor iimmer von reden. Wan dat is nu fo
wied tau, fei hebben all näslang ’n annern.
~*~
Dilrten Harms,
Mien is'n Johr jiinger as id, un wenn bei
dörtig Jahr is un tau Verftand famen, denn
fo friegen wi.“
„Und wie Tange bauert bas nod?’ er—
fundigt ſich Frau Herje in Beforgnis, denn
Diirten ift ihr längſt lieb geworden.
„Teihn Sobr. Hei is äwer Friihjobr
twintig worden. So as dat mien Mudder
geiht, ſchall mi 't nid gabn; tau jung friegen
döcht nid.”
Frau Herſe ftidte gerade an einem Rofen=
und Lilienteppid, als ibr dieſe berubigende
Ausfunft ward. Sie gehörte gu den Müttern,
bie ſich am liebften in der Nabe ibrer Lieb-
linge aufbalten. Co war in der Rinderjtube,
bie drei fonnige Fenfter nad der Straße hatte,
ein fiir allemal das Cdienjter mit dem
Mahagoninähtiſch ausgefillt und fir Mama
referviert. Der Tif ftand auf einem ,, Tritt”,
der breit genug iar, den Robritubl und den
umfangreiden Flidforb mit aufgunebmen, und
eine fleine Gmpore bildete. Bon ibr herunter
lachte und ſcherzte Mama mit den Rindern,
wabrend die fleifigen Hande Nützliches und
Schmückendes fchafften, und die klaren, weit—
fidtigen Augen nod) nebenber den „Spion“
ſcharf beobadteten, ber alles twiedergab, twas
ſich über ben gangen Marft biniiber bis jur
Waſſerſtraße hin ereignete,
Zuweilen erzählte Mama Geſchichten.
O, war das ſchön! — Bruno kroch die zwei
Stufen hinauf und lehnte fein Lockenköpfchen
an Mamas Kleid. Wolfgang zog fein Kinder⸗
ſtühlchen ſo nahe wie möglich heran und
Dürten wiegte das Nefthathen auf ihrer
bunten Schürze. Dann hätte man eine Steck—
nadel fallen hören können.
Ein Wintertag, er fiel in die Adventszeit,
ging zur Neige. Die großen Buchenholzſcheite
knackten im Ofen; graue Schatten huſchten
über alle Gegenſtände des Kinderzimmers.
Yon der Straße ber fiel ein ſchwacher Lidt-
fein der Laterne auf Mamas Hinde, und
bie Gloden läuteten vom Petriturm ben
Sonntag ein.
„Wir wollen Lidht maden,” brad Mama
bas tiefe Schweigen, in dem die CErregung
in Grgablerin und Zuhörern ausflang, die
ber Bortrag der Weihnachtsgeſchichte hervor—
gerufen,
Dürten Sarms.
whee! —“ fagte Diirten und feufgte.
„Nein? —“
„Nee. Denn fo as't hüt is, Himmt’t nid
wedder. Dit is as in 'ner Kirch.“
„Haſt du denn alles verſtanden?“
„Jeder Wurt. Wat Medamm
verſtah ick ümmer.“
„Du kannteſt die Geſchichte doch?“
„So nich. In 'n Schaul bün ick nich
väl weſt, un wehn ſchüll mit ſowat vertellen!
De Preiſter hatt’t ſacht dahn upp'n Kanzel;
man id flep fimmer dorbi in, wieldat wi fo
wied tau lopen hadbden bet nah de Rird.
Unf’ Grotmudding wüßt od méannigbeting,
fei Hatt uns Kinner grot madt, wiel Mudder
in’n Deinft war; dimers fei vertellt bod anners.“
„Was erzählte Euch deine Grokmutter
denn?“
Dürten ſtand auf, legte das eingeſchlafene
Kurtchen behutſam auf die Wiege und zündete
die Lampe an.
„Nun? — — ich denke, wir wollen nod
im Schummern bleiben
„Nee. Wenn id vertell’n fdall, dennfo
ig 't beter bi Lidt. In mien Geſchicht
fariolt be Diiwel riimmer,”
„Hahaha! an alee
„Nich laden, Medamming! mit em is
nid) tau fpafen! Hei is in ’n Schottſtein
rinnefobrt un batt em balen toullt, man wiel
het grad be Biwel vir fid liggen badd, is
bei nod) in 't Abenlock ümdreiht. Dunn
fiinn bei nich weder in 'ne Höcht finnen un
i8 haden blewen. Rein Für wär 'n annern
Morren antaufriegen — blots Ctanf un
Rood. —“
„Wer denn, wer denn?”
„Jeſo, Medamming fann 't nid) tweiten,
in unf’ Dorp weit't jeder Rind. Ye twill von
vörn vertellen; man grafig is't.
Dat is gornic) wied aw weſt von unſ'
Dirp, dor hatt ’n Harr wabhnt, de hätt nir
döcht, Kinner Hatt bei nid) hadd, un fien Fru
ig em weglopen. De Käuh hebben 'n Ropp
umbreibt, wenn bei upp'n Sill ftabn batt un
in’n Stall 'rinnerfefen, fien Riedpierd batt
betvert, wenn bei uppſtegen i8, un fien Hund
Hatt giinft, wenn bei em ftrafen toull. Dat
ig all dorvon famen, wieldat bei fien Seel
verfpalt batt bi't Rortenfpal.”
fnadt,
539
„Dürten!“
„Medamming, dat is ſo weſt.
Rein Harr und fein Knecht un fein Vagel—⸗
bund (Herumtreiber) Hatt mibr mit em RKorten
ſpälen toullt, dunn batt bei Nacht vir Nacht
mit 'n Düwel fpalt. Denn laten finn bei't
nid) mihr. Mu wull het awers den Düwel
od bidreigen, ad bei dat mit all Lüd maft
badd, man dat litt fic fein Düwel gefall’n,
un fei bebben fid vertiirnt. Dei Diiwel wull
nu fien Geel gornich mibr bebben, bei wull
den heilen Riel. Dunn fobrt hei dörch'n
Schottſtein — un verfiert fid dägern, a3 bei
de Bitwel ſüht. Dor fiinn bei nich gegen an.
Hei is ocf nich wedder famen. Dat hadd
of nix nutzt, benn be Harr is bod blewen.
Sien Lüd hebben em funden mit’n Ropp upp'n
Biwel — filing inflapen. Gang allein.”
„Armer Mann.“
„Nee. Hei bhatt nic döcht. Cien Geel
is of nic) tan Raub famen. Dor wär'n
Wiſch, dei blanfert mannigmal von Water, fo
natt war fei, dor hüppten litt Lidter upp
herum in Ctidendiijtern — dat wär fien
Seel.”
Diirten tat einen tiefen Seufjer. Wolfgang
aber feste fic) gum Fragen zurecht: „Sag
einmal, Dürti
„Nee, Wülfling, wie will'n dor nich mihr
äwer reden; ſowat kann einen licht in'n Drom
vörlamen.“
Frau Herſe erhob ſich ſchnell: „Ihr
bekommt jetzt eure Suppe, Wolf, und ſagt
dem Papa gute Nacht.“
Mit den übrigen Dienſtboten des Hauſes
ſtand Dürten ſich meiſtens ſchlecht. Das war
ihr ein großer Kummer. Gewöhnt, alles, was
ſie bedrückte, der Herrin mitzuteilen, meinte
ſie traurig: „Solang as ick dei Lütten häw,
ſchadt em dat nich väl, man wenn ſei irſt all
nach Schaul ſünd, un ick in 'ne Mädd'nſtuw
rinmöt, denn ſo weit ick nich, wot warden ſchall.
Sei hebben all ümmer ehr Luſt an mi, un
dat paßt mi nich.
Yang’ Rie treck ick nich an, un'n Blaumen—
haut ſett ick nich upp. Wat ſchall ſo'n Upp—
töhmen heiten! dat wi sii i find, fiibt
dod) jediwerein.”
Der Roſtocker Pfingſtmarkt, das größte
weltliche Feſt eines großen Teils der länd—
.
540
liden Bevolferung von Medlenburg-Sdwerin, |
bradte ibr immer den Schatz. Dann bat
Diirten um einen freien Dag, ber ibr gern
gewahrt wurde. Aber am Nachmittage ſaß
fie meiften3 ſchon wieder in der Rinderjtube
und erflarte auf BGefragen: „Mi dauhn de
Bein weih. Wat fdall ich dor of immer
riimftabn. Hei is nu duhn, un ic bün nab
Hus gabn. Nahſten warden fei fic de Köpp
woll bläudig flabn, bor bruf id nid mit
bi fin.”
© “ *
Eines guten Tages brachte der Poſtbote
einen Brief direlt in die Kinderſtube, denn der
Abſender beorderte das ausdrücklich: „An
Dürten Harms, was is in'n Kinnerſtuw bi
Koopmann Herſ an’ Markt.”
Ganz blaß nahm Adreſſatin bas Schrift—
ſtück an ſich, wendete es hin und her und
erbrach zögernd das breitausgefloſſene Siegel.
Alle Kinder umſtanden die Verſtörte und
tröſteten und ſtreichelten. Da weinte Dürten
helle Tränen; Wolf aber lief ſchnell, die
Mama zu benachrichtigen.
„Nun, Dürten! ſchlechte Nachrichten von
qu Haus? —“
Diirten hob nur den offenen Brief in die
Hohe, cine Welt von Schmerz auf dem
runden Geficte.
„Was ift gefdeben? . Deine
Mutter? ...... .
„Weit nid.” Cie griff nad dem
Schürzenzipfel, trodnete die Augen und |
ſchluchzte:
„Will Medamming nich eins leſen . . .“
„Gern.“ Die Zeilen ſchnell überfliegend:
„Sie ſind alle geſund. Du ſollſt einmal nach
Hauſe kommen. Hör zu.
Ich ſchreib Dich einen Brief, weil daß
wir geſund ſind, un uns weiter nichs fehlt,
man daß ich ſäben Jahr nich mehr warten
will, das wird mich über. Du ſagſt, 'n Knecht
heuraten, das is nich halw nich heil — ich
fag 'n Knecht un'n Dirn gehürn tohop. In'n
Dörp is nu'n Hüſung fri, ſchall dor'n Anner
rintrecken? — Dein Harrſchaft muß dir gehn
laſſ'n, ſtandtepeh, denn friegen geht über allens,
un fann fein Pollerzei was bei machen; womit id |
nu fagen will, daß ich bereit bin, un buSiinndag |
zwiſchen Dorf und Stadt vermittelte.
abends fom fie beim, fah aufmerkſam in alle
Diitten Harm.
berfommen muft, ung ju bereden. Un grüß'
id Dir aud vielmalé un Mutter, die aud
bas Namlide feggt. Qn Freud un Leid, im
Reitlichfeit un Ewigheit dein geliebter Jebann
Satoh Nehls.“
Brau Herſe fiberreidte ben Brief: Na,
Diirten! Denn mußt Du uns wohl ver=
laſſen.“
„Nee, Medamming, noch gor tau lang
ee . weft ftill, Rinnings! .. . -
Sünndag reif id ben; man wedder fam id.
Mi hier fo’n Angft tau mafen mit’n Breif!
Wat dit woll heiten ſchall! Dat bhatt em
fein Minſch wierer in’n Ropp fett as be
Schaulmeiſter, un em dorbi bulpen. 'n beting
ſchriewen fann bei jo, man fo nid. Na, id
will em woll Biſcheid gäwen. Ihrer id mien
Sporkaſſenbauk nic bet upp föftig Dabler vull
häw, ihrer ward bor nir ut. Rabjten beit
bat: nadt un blot.”
Cie ftedte ben Brief vorne in bie Jade:
„Ick will em man in mien Lad (Roffer)
leggen, dei annern Dirnd geibt bat nig an.
Medamming mot bor äwer od nid von
reben 2 2 ww. ag
„Je.“ Diirten fiebt mit brennenden
Baden vor ſich nieder: „Ick baw aw un an
od twat vertellt von be oll dwallſch Raff. ..... —
Dann ſchaut ſie ihre Herrin treuherzig an:
„Awers Medamming is od woll beter ad id.”
Der Sonntag fam, und Diirten ging in
ihrem beften Staat mit weitausholenden
Sehritten über den Markt, ber engen Straße
qu, two der Omnibus hielt, der den Verkehr
Spat
Rinderbetten, befiihlte den Kachelofen und
beridtete an Madam: ,Hei täuwt. Wat
Mannslüd reden, möt'n nid all’mal glöwen.“
frau GHerfe ladt: „Was Hat er ge:
ſagt?“
„Hei künnt nicht utholl'n ahn mi.“
„Und du?“
„Dat giw' ſick. De Auſt (Ernte) is vör
be Döhr. Wenn bu man irſt von Klock vier
morrens bet bentau nagen abens in 'ne Cablen
(Sielen) liggen möſt, denn fo ward di be
Lang’wiel ſacht nic plagen.”
+ *
*
Diirten Harms.
Die Beit hatte ben Weg riihrig unter die
Sipe genommen. Wolf und Bruno fdiwangen
langft friibmorgens die Schulränzel auf den
Riiden, das Kurtchen ſah triibfelig hinterdrein
und langweilte fid. Dürten aber madte
Vorſchläge.
„Medamming! Dit is nix mihr. Hierbi
ward'n fuhl. 'n Kinnerdirn brukt unſ' Lütt
nu nih mihr. Wi will'n man de Stubenz
dirn lopen laten. Dé haw nu all fiew Johr
taufefen — nabgrad weit id od, wo 't möt.
Sd finn od hochdütſch fnaden, wenn id wull,
man iwotaun?— Vördwallſch kümmt dod man
rut, denn fo is't am beften, jedwerein redt ad
em be Gnabel twufjen i8. De Lütt fann iim
mi ‘ritmlopen, wenn id mien Arbeit daub,
un Nabmiddags fpal id mit em.”
Es geſchah fo, und das ganze Haus ftand
fic) gut dabei; Diirten aber am beften. „Ick
häwt gaud badd all de Tied”, fagte fie,
„äwers 'rümſcharwerken fall bod man gellen;
vir uns Ort Lüd is dat dat Belt.”
Un den Sonntagnadmittagen lagen jest
große Stitde Hedenleinen auf dem Ausziehtiſch
in der Rinderftube. Diirten febnitt gu und
nähte Ausftener, fprad aud bin und wieder
vom Heiraten, aber nie mit rechtem Ernſt.
Überraſchend war deshalb allen Gausgenofjen
bie Bitte an Madam, ob fie nicht einmal in
ibr Dorf reiſen fonne.
fort und ging, guriidgefehrt, gleid) in die
Wohnſtube und auf bie Hausfrau zu, die am
Fenfter ihre Blumen begoß.
„Medamming! nu toeit id, twat ic till.”
„Wieſo, Diirten? —“
„Ick bliew bier, Dat is nix mit de
Friegerie.“
„Habt ihr euch erzürnt?“
„Nee, vertürnt nid. Man ick haw em
ſeggt, hei ſchüll fid man 'n Anner nähmen.
Ick weit nich; äwers mi war dor all de Tied
fo fnurrig. De Raten is fo bump — mi
fillt bor allen’ a8 upp’n Ropp, un wo'n od
benfieft — all cin Dreé un Smär; nee. Un
bei fpiegt midden in be Stuw un begebrt
benn nod) upp, wenn ent dat berbaden
ward. — Hier is’t all bell un blanf und
frinbdlich, un ick häw tau mien Mudder feggt:
fien Fäut finner frömd Lüd Diſch ftefen, is
nod lang bat Slimmſt nid.”
Sie blieb fiinf Tage |
B41
„Wenn dir das nur nidt [eid wird!”
„Woans? Dat id) nid) wiht. Bd fitt
bier jo warm un drig, fein leides Wurt nid
un gaut Eten un Drinfen; un denn be
Rinner — — ic Holl dägern val von ehr.“
Go blieb es beim Alten.
Herr und Frau Herfe fpraden oft fiber
bas fonderbare Mädchen, froh und fleipig von
friih bis fpat, fein Verkehr, fein Ausgehtag,
immer fiir die Herrſchaft ba — ein Unikum.
„Ja, wer es aud fo baben finnte! —“
meinten die Befannten. Dürten vernahm
wohl davon, war fic aud) ihres Werted
burdaus bewußt, traf aber den Nagel auf
ben Kopf:
„Je fief! — — Dat foil juch paffen! —
Wenn't Siinndags Gausbraden gitvt bi judd
in 'ne Stuy, fiefen’S ut de Rak achter an.
Dor fteiht Gruben (Graupen) un Swienfleiſch
preislid) upp’n Diſch: nu fret! — 'n ſchön
tend — worüm nid — man nid, wenn'n
Gausbraden in’ne Naf batt! —”
Gin Jahr beeilte fic) dem andern nad:
gufommen, Wolf und Bruno twaren nur nod
voriibergebend im Baterbaufe, und Rurt trug
bie Primanermiige, Die Kinderſtube war
nod immer da und bebielt auc) ibren Namen;
aber Diirten ſaß Abends allein darin. Das
gefiel ibr nicht. Cie legte oft ihre Nabarbeit
bin und fab fid) rund um: Wiles da, fo wie
fonft, und fie an ibrem Tiſchplatze vor der
Sdublade, die ihr gang allein gehirte, und
bod) fo anders — fo totenftill — und leer,
leer, Icer, — Wenn fie dann nad langem
Sinnen twieder die Urbeit aufnabm, nähte fie
allerband fonderbare Gedanfen mithinein. Die
begannen fid) unter ibrem fuchfigen Rraushaar
feftgufesen, verfolgten fie tagelang und madten
fie fopfhdngerifd) und jerjtreut. Zu ihrem
Liebling, dem langaufgefdoffenen Kurt, pflegte
fie dann gelegentlid) feufjend gu fagen: ,, Wat
iS bat Läbend!? mien Liitting,” und fopf-
ſchüttelnd hinzuzuſetzen: „äwers twat malt
ſo'n Rind fic) dorut.“
Zum Philoſophieren taugte Kurt allerdings
kaum, doch ließ es ihn nicht gleichgiltig, wenn
ſeine liebe, alte Dürt — dies Wort durfte er
ſich ganz allein erlauben — trübe geſtimmt
| war. Das fiiblen und mit den Eltern be-
| fprechen war eins. Und ald im Herje- Haufe
542
einmal viel von der Sufunft die Rede twar,
gedadte man unter allerlei Plänen fiir Jung
und Alt aud der treuen Dienerin und beſchloß,
ibr gum nächſten Weibnadten eine Extrafreude
gu machen.
Sie wird bei uns alt werden, und tir |
haben die Pflicht, fiir fie bis an ihr Lebens-
ende zu forgen, bich es im Familienfreife, da
faufen wir fie am beften in ein Stift ein.
Es gab deren mebrere im Ort, die den An—
wirterinnen einen forgenfreien Lebensabend
verbiefen, man wählte ſorgſam davon aus
und traf feine Vorbereitungen.
Man dit fim anners as mit de fel’ Fru.
Diirten hatte aud eine Überraſchung fiir
ibre Herrſchaft.
Yon ,,Stadt Hamburg”, einem dem Rauf-
mannshauſe gegentiber liegenden Gafthofe fubr
jeden Mittag ein Omnibus jum Bahnhofe
und auf dem Bod ſaß ein ftrammer Rutfder
mit ſchwarzem Schnauzbart und greflen Mugen.
Mit dem war Diirten dabin handelseins —
ihr eigener Ausdruck — geworden, daß fie
und er ihre Erſparniſſe zuſammenwerfen
wollten, damit Pferd und Wagen kaufen und
ein Pungenfuhrgeſchäft einrichten. (Pungen-
fahrer waren Leute, die das Mehl in kleinen
Beuteln (Püngelchen) von den Wind- und
Waſſermühlen abholten und den Kunden zu—
führten.)
Das erzählte einmal ſo „bi Weg lang“
Dürten ihrem Medamming und fügte hinzu:
„Und wenn't Geſchäft gaud geiht, denn ſo
will'n wi uns friegen.“
Madam ganz baff: „Dürten! den? —
der iſt ja ſchon betrunken vom Wagen ge—
fallen! —“
„Dat kümmt ſacht vör. Allwo hei hen—
kümmt, ward em 'n Lütten inſchänkt, un
wecker ein Mannsminſch hätt nich ſien Undäg'.
(Unarten, Fehler). Hei ſeggt tau mi: Dirn!
ſeggt hei, du ſchaſt ſeihn, wenn wi uns irſt
tauhopgäwen hebben, denn fo lat ick dat Supen
ſin. Und mihr kann hei jo nich dauhn.“
„Der hat ſich ſicher nichts erſpart.“
„Je, hei redt doch ſo. Ick häw ock all
mit'n Preiſter doräwer redt . . .... .
„Mit dem Paftor!? — — —“
Diirten nidt. „Unnern Rathus dröp id
em. Hei bid mi de Tied un frig, moans
—— .
Diirten Harms.
mi bat ging. Se fegg: Dank de Nabjrag,
Herr Pajter! fegg id, as Sei feihn — immer
upp twei Bein un’n Kopp baben. Dunn
lacht hei fo grelling, un id freg ſo'n Tau-
vertrugen tau em, dat id em dat vertellt
häw.“
,lind er meinte? 2.2... ™
„Id ſchüll mi dat ridtig bidenfen; un
bat häw id em veriprafen. Wi hebben jo
fein Ihl nid. Ick biin verleden Harwſt irft
viertig Johr worden, un wat bei ig, bei mot
od irft tau Berftand famen.“
„Wenn das nur was wird.”
„Je, bei ward woll möten! bei weit
Biſcheid. Wenn id nu ’n Fubrmannsfru biin,
denn fo fann id nid in’n Winterdag mit’n
Umſchlagdauk gabn, a8 nu, denn biirt fid ’ne
Mantel. Nu haw ick em feggt, wenn bei mi
Wihnachten ein’ bringen deiht, denn fo fann
bei Hulterdipulter de Ring’ biftell’n. UÜnner
föfteihn Dabler is fo’n Stück nid tau hebben —
wenn bei dat taubopfport, is fien Beternis
gaud in’ne Gang.”
* 7
*
Der Weihnadtsabend fam.
Im Herfe-Haufe duftete es appetitlid) nad
felbftgebadenen Stollen und Pfefferniifjen.
Die Hausfrau hatte alle Hande voll zu tun,
und Diirten und „de Litt” pubten den
Tannenbaum. Der twar breit und hod und
ftand in der Wohnſtube an der Erde.
Kurting!“ fagte Diirten und redte die
kurze, rundlide Figur, „höger fam ic nu nid
an, dor baben möſt du ruppelangen.”
„Gib ber! — wird fdhon geben.“ Gr
unterbrad) fein Pfeifen, nahm den Weibnadts-
engel aus Pfefferfudenteig in Empfang und
befeftigte ibn mühelos an der Cpibe der
Tanne,
pour dat 'ranwaßt! —“ murmelte
Diirten vor fid) hin und ſah betwundernd den
langen Armen nad, „wolang is't ber, Dunn
frop bei mi nod upp'n Schört rim —” ba
flopjte e8 an die Tiir, und cin Laufburfde
iiberreichte einen Frauenmantel.
Diirten wurde dunfelrot. Kurt aber fab
böſe aus und verſchluckte mühſam einen „Eſel!“
Einige Stunden ſpäter ſtand Dürten mitten
im Familienkreiſe, umfloſſen vom Glanz der
Bon Frauen und über Frauen.
Weihbnadhtsterzen, angetan mit bem [angen, |
weiten Mantel, die großen, roten Hande in
einen ſchwarzen Muff gezwängt, belle Freude
auf dem runben, frifden Geſichte.
rau Herje trat herzu: „Na, was fagit
du nun, Diirten?-—“
„O Medamming! — — — dit i8 ad’n
Drom. — — —“ Gie ſtrich an dem Zeug
entlang: ,,Dei fann an twintig Dabler ‘ran:
famen — dit i8 twat bir Labenstied. —
Medamming! — — — id — — id — —
mücht nu — woll — bat bei od ’rinne-
famen dörft — ein liitting Ogenblid man —
Hei is gewiß buten un lurt.“
Bittend fab fie in die Runde. Alle
ſchwiegen. Da brad Kurt los:
„Der Mantel ift von ben Eltern! Der
Muff, den du dir ſchon im vorigen Jahre
wünſchteſt, bon und Briidern! Dein Rutjder
bat fic) um nichts gefiimmert — — — erſt
geftern ijt er wieder duhn bom Bod ges
fallen ...... —
„Kurt! — Kurt! —“
„Nun ja! ſie muß es doch wiſſen.“
Dürten war blaß geworden. Langſam
ſah ſie an ſich herunter, zog die Hände aus
dem Muff und ſteckte ſie wieder hinein.
Dann ging ſie entſchloſſen auf Herrin und
Herrn zu: „Väl Gott's lohn! — duſend,
duſendmal.“
543
Sie gab allen nad der Reihe die Hand.
„Ick häw mi val freut — fo’n Wibnadten
giwt bir mi nich wedder.“
„Du wilft dod? . ..... “ Der lebhafte
Rurt rief es empört in die Stille hinein.
„Ida, Lütting! Dat belpt nu nid.
Ick häw nu de Mantel — vör'n Deinft-
baden ift dat fein Stiid Tiig — un twenn
bei — a8 du feggft — all wedder cin’s
von'n Woagen follen is, benn fo tward Tied,
dat bei dat Gupen nablett. Em fann dorbi
mannigmal twat peffieren.“
Wieder Schiveigen in der Runde.
Der Hausherr raufpert fic. Frau Herfe
fiebt mitleidig auf das erregte Madden: „Du
beſchläfſt es dir nod, Diirten!” fagt fie gittig;
aber Diirten webrt ab.
pee. Ick weit, Medamming meint dat
gaud mit mi. Woväl Wolldaten häw ic in
deeſen Huf’ badd! nich tau tellen! As mien
Mudding upp’n Dodenbett lig... . .. :
„Laß, fab! — dad find vergangene Seiten.”
„Na, denn is't gaud. Bergeten daub id’t
ee Mien beft Tied häw id nu
hadd, dat’s ein Deil, twat gewif ig; man de
Harrſchaft ward't nod beter weiten as id,
wat in’ner Biwel ſteiht: Cs is nich gutt, dak
dar Menfdd allein fei.”
Sprach's und ging in ihrem grofen, tweiten
Mantel langfam yur Tür binaus,
— —
Von Brauen und dber Ppauen.
J. allgemeinen macht des Weibes Einzelleiſtung als Mutter nicht ihre Geſamtperſönlichkeit aus.
Jede einzelne Frau iſt von Hauſe aus mit keiner andern verwechſelbar (beim männlichen Geſchlecht iſt's
dasſelbe); jede hat ihre individuelle Pſyche.
Es ſcheint aber, man ſiellt ſich das Frauentum wie eine Form vor, in die alle weiblichen
Geſchöpfe hineinzuſchlüpfen haben, um — nach Gottes Ratſchluß — verſämtlicht gu werden, fo daß dic
eine von der anderen ſich nicht mehr weſentlich unterſcheidet.
Alle tun, fühlen, denken dasſelbe.
Kommt dieſe gewalttätige Gleichformung nicht einer Verſtümmelung gleich, die — man könnte
beinah ſagen — ſchon im Mutterleibe (durch Vererbung vieler Generationen) oder doch wenigſtens von
Kindesbeinen an geſchieht und die Kräfte und Organe, won der Natur vielleicht zu hohen Dingen aus:
erſehen, gu rudimentären werden läßt?
In der Tat kann, wenn wir unermeßlich lange Zeiträume ins Auge faſſen, aus Unbenutzheit
ſich Unbenutzbarleit ergeben.
Hedwig Dohm.
(,Die Mütter“. S. Fiſcher Verlag, Berlin.)
Loy Los he em
I A fll
Annette von Oroste in ihrem Daturempfinden.
Bon
Dr Helene Herrmann.
Raddrud verboten. — —
— tärker als irgendwo empfinden wir in Annette von Droſtes Naturpoeſie ihrer
Seele Duft und die herbe Eigenart ihrer künſtleriſchen Form. Ihr Verhältnis
zur Natur hat manchen Betrachter ihres Weſens zur Analyſe gelockt. Wo der
eine die dämoniſche Abhängigkeit der weſtfäliſchen Dichterin von der Landſchaft betont,
fpiiren andere den Zuſammenhängen nad zwiſchen ihrer Sinnesorganiſation und der
an moderne naturalijtifche Kunft gemabnenden Art, die Natur auszuſprechen. Jn
jener Mifchung der echt weſtfäliſchen ftillen Befchaulicfeit, mit der fie ſich in das
Rleinleben der Natur verfenft — realiſtiſch, wirflichfeitsfroh auc in der Sprache —,
und der ererbten PBhantajtif, dem Zug gum Dämoniſchen, Clementar-Befeelten in der
Natur ſieht Felir Poppenberg die cigentiimlide Qualität ihres Naturgefühls.
MR. M. Mever reizt es, hei voller Beachtung diefer Siige, ju zeigen, wie ihre Sinne
die Natur aufnahmen und welche Kunſterſcheinungen, welcher Grad artiſtiſcher Illuſion
fic) Daraus ergeben, daß fie die Nabe fcbarf, allju ſcharf, alles wenige Schritte Cntfernte
verſchwimmend fab, daß ibr feines Obr jedes leife Geraujd noc vernabm und vom
anderen unterſchied, daß ihre ,,fajt pflanzenhafte Cmpfindlichfeit der Witterung gegen:
iiber” ihr ermöglichte, beinabe ebenſo febr mit der Haut und mit den Geruchsnerven
das Leben der Natur nachzuleben. Auch iby jüngſter Biograph Karl Buſſe unterfucdt
ibre Naturanfdauung nach diefer Richtung und beriihrt auc) mit Cinficht die Be:
deutung ibres pathologijd geſteigerten Nervenlebens fiir ibre an Natureindriide
anfniipfende Spufphantajtif.
Bei der fpesiellen Betrachtung ibres Gefühlsverhaltens der Natur gegeniiber
fällt nun aber eine eigentümliche Begrenzung auf, durch die eben died Gefühl beftimmt
erſcheint. Man fann ja das Naturempfinden eines Dichters nicht auf cine Formel
bringen. Wher eine Beziehung zur Natur ift eS gewöhnlich, an der fein Fühlen den
ſtärkſten Anteil bat.
Bei Annette iſt ſie nicht da zu ſuchen, wo die Dichterin uns irgend ein anderes
Lebensgefühl durch das Ausſprechen einer Naturſtimmung deutlich macht. Denn ſie
hatte keine großen Lebensleidenſchaften, die in der Berührung mit der Natur ju
Hingen beginnen. Wohl fennen wir Annette auch als Liebende Frau aus den Briefen
an Schiiding, aber es ijt cin herbſtlich gedämpftes Gefühl, in dem dod) Freundfcbaft
und Miitterlichfeit eine grofe Rolle fpielen. Diefe milde Wärme fonnte wohl nod
einem Liederberbjt zur Reife helfen. Aber fo wenig wie ihre ſcheu verſchwiegene
Sugendneigung wurde diefes ſpäte Gli felbft sum Liede. Und wenn ihr reiches
Liebesbedürfnis, dem all die Menfehen, an denen fie hing, doch niemals recht Geniige
taten, cine Umſetzung erfubr in ein religidjes Verlangen von wilder Starke und
Innigkeit, cine wirkliche Formwandlung, die nichts zu tun bat mit der myſtiſchen
Verſchleierung der Crotif, die wir fo oft in der Gottesfebnjucht der jungfräulichen
Frau erfennen, fo ijt ibr auch dieſes Gefiihl, dem fie die ſtärkſten Crfchiitterungen
verdantt, mur felten mit einem Naturgefiihl zur Cinbheit verſchmolzen. Es gibt einige
ſolche Gedichte von ibr, und fie find merkwürdig und ſehr tragiſch.
Annette von Drofte in ihrem Naturempfinden. 545
Im allgemeinen wird man fagen finnen: das Naturempfinden der Annette wird
felten von ftarfen beftimmten Gefiihlen gum Tönen gebracht. Es wird uns aud
nicht überraſchen, bei diefer zarten, leidenden Frau faum jener quellenden Friſche eines
allgemeinen, unbeftimmten Dafeinsgefihls gu begeqnen, das in Dichtern wie Goethe
und Mörike durch gewiffe Naturerlebnijfe fo oft gewedt wird, Feinen ftarfen, aftiven
Lebensimpulfen. Wohl ruft fie nocd in ſpäteren Jabren aus: „Und jedes wilden
Geiers Schrei in mir die wilde Muſe weckt“. Aber ich möchte hierin eher das
Bewußtſein ihrer umgeftaltenden Phantafiefrafte feben als die Macht phyſiſchen
Yebens, das mit dem Schrei des wilden Vogels aus ihrer Brujt hervorträte. Als
Wunſch und Sehnſucht bat aud das in ihr gelebt, — den wilden Kräften in der
Natur, zu denen es fie in der Poeſie 30g, antiworteten wohl dieſe Sehnſuchtsſtimmen
in ibrem Innern. Aber nur einmal fpridt fie es aus, wie die Luft an phvfijder
Kraftäußerung in ihr emporfladert, angeweht vom Sturmesatem der Natur, Dan
pflegt dies Gedicht „am Turme“ wohl mit Recht als den Sehnſuchtsſchrei ihrer
jeelijden Gebundenbeit, den Ausdruck vergeblicden Verlangens nach freier Betätigung
der Perfinlichfeit zu betrachten. Wber auch fiir das impuljive Muflodern aftiven
Exiſtenzgefühls, das fid) an der Naturſtimmung entziindet, wird man es heranziehen
miiffen. Da ſteht fie auf dem Turme des Bodenſeeſchloſſes und löſt die langen
Flechten und läßt den Sturmwind ſich wühlen im flatternden Haar:
O wilder Geſelle, o toller Fant,
Ich möchte dic) kräftig umſchlingen
Und Sehne an Sehne zwei Schritte vom Rand
Auf Leben und Tod mit dir ringen.
Am Strande die Wellen wie fpringende Doggen, auf- und niederſchwankende
wimpelbeitere Schiffe, ſchreiende Vogel in der Luft — itberall Kraft, Leben, Aktion:
„Wär ich cin Mann!” — in diefem Schrei quillt ibre Lebensfraft empor. Und in
der Gebärde, die ihr, „dem artigen Kinde“, nur heimlich verjtattet ijt: im mänaden—
haften Löſen der Haare läßt fie ibre Kraft hinausſtrömen in den Sturmwind. —
Aber das ijt cine Musnahme. Der Grundafford ibres Naturgefiihls liegt wohl nicht
da, wo das Ichmoment jo mit bewupter Betontheit bervortritt, fondern da, wo die
Naturjtimmung, in der fie verfinft, alles Frithere aus ihrem Gemiit wegwifdht und ibr
ganzes Bewußtſein erfiillt und fattigt.
Das gefchieht, wenn ihr Naturgefiihl ganz rein und reftlos aufgeht in einer
licbevollen Naturanſchauung. Oft febreitet fie hinaus aus der Einſamkeit ibres Haufes
in die Einſamkeit ihrer Heide in der Mittagitunde, wenn die gliihende Luft bewegungslos
jteht, wenn alle Lebende den Atem anhalt. Oder nach Sonnenuntergang, wenn die
weifgrauen Nebel vom feuchten Moorgrund auffteigen und nur die Hirtenfener durch
das wogende Weif glimmen. Ihre Kinftlerfreude ſättigt fich oft villig an der ſinnen—
treuen Geftaltung diefer Erlebnifje. Große Partieen ihrer Heidebilder, der Cingang
der Sylvefternadt, die Winterlandfchaften im Hoſpiz auf dem großen St. Bernhard,
im Spiritus familiaris des Roßtäuſchers find glänzende Beifpiele dafiir. Für die
Winterlandſchaft namentlich hat fie eine Feinfiihligfeit und eine Darjtellungsgabe, die
in deutſcher Dichtung nicht allzuhäufig ijt. ;
Gerade über dieſe Seite ibrer Poeſie ijt viel geſchrieben worden; ich fann mid
mit Andeutungen begniigen. Dank ihrer befonderen SinneSorganijation entftehen
Vorausnahmen naturalijtijder, detaillierender Naturfdilderung, und andrerſeits werden
Wirkungen hervorgerufen, wie fie der malerifde Jmpreffionismus in uns erjeugt.
Von ihrer finnlicen Aufnahmefähigkeit, dem virtuofen Auflebenlajjen aller empfangenen
Cindriide wird dann alle Gefiihlstraft abforbiert.. Mever hat das glückliche Wort
liber fie: ,, Wie fie fo aber den ganjen Prozeß der Wahrnehmung von dem erjten Verjuch
des nod) entfernten Auges bis zur villigen Herrſchaft des Blides fiber den Gegenjtand
fic) wiederbolen (aft, gibt fie und ein fo täuſchendes Gefühl der Realität, wie in ibrer
Reit niemand, nach ihr nur ganz wenige ju geben vermodten.”
Ws Beifpiel ihrer impreffionijtijcen Bilder fiibrt man gern die Strophe aus
dem „Heidemann“ an:
35
546 Annette von Drofte in ihrem Naturentpfinden.
Man fieht des Girten Pfeiſe glimmen
Und vor ibm ber bie Herde ſchwimmen,
Wie Proteus feine Robbenſcharen
Heimſchwemmt im grofen Ojean.
Hierber gebirt auch die ſchöne Strophe aus dem Gedicht „Mondesaufgang“:
Hod über mir gleich trilbem Eiskryſtalle
Zerſchmolzen ſchwamm beds Firmamentes Galle.
Der See verſchimmerte mit leifem Dehnen,
Serfloff'ne Perlen oder Wolkentranen?
Es dammerte, es riefelte um mid.
Ich wartete, du mildes Licht, auf did.
und Verſe aus der „Neujahrsnacht“:
Ym grauen Schneegeſtöber blafjen
Die Formen, es zerfließt der Raum,
aternen ſchwimmen durch die Gaffen .
AM diefe „objektive“ Kunft ijt ja im Grunde nur möglich durch die Beziehung zwiſchen
ibten inneren SZuftinden und der Natur. Wber eS gibt eine Form ibrer Raturpoeiie,
und die liebe id) bejonders, in der ibr eigenes Gefühlsverhältnis heller bervortint.
Es ijt eben die ſchon berührte Fähigkeit — 5** Hingabe, volliger Auflöſung in der
Natur. Aus dieſer entſpringt ihr dann zuweilen eine Vereinheitlichung, die die ganze
Fülle eines Naturerlebniſſes ihrem geheimen Sinn nach ausſpricht. Denn trotz ihrer
vielgerühmten Sinnesſchärfe war weder Auge nods Ohr in dieſer Funktion das Organ,
mit dem Annette die Welt aufnahm. Selten wird ihr eine Form oder Farbe, ein
Licht oder Ton, in deren Umfaſſung, unter deren Schleier für einen Moment die Welt
ruht, zum Trager eines künſtleriſchen Gebildes, ſo wie etwa in Möriles „Herbſtmorgen“:
Im Nebel ruhet noch die Welt,
Noch träumen Wald und Wieſen,
Bald fiehſt Du, wenn der Schleier fällt,
Den blauen Himmel unverſtellt,
Herbittraftiq die gedämpfte Welt
Qn warmem Golbe fliefen. ;
Das ift nicht nur ſinnespſychologiſch ju erflaren daraus, daß fie, die Kurgfichtige, die
Feinhorige, alle Cinjelbeiten zu ie erlebt hatte. Denn ebenſo lodte ja ibren Blic
die fchimmernde Ferne. Biel mag an der mangelnden Formfonjentration liegen, daran,
daß fie oft adbierte, zuſammenſchob, was als Cinjelgebilde Wert und Bedeutung hatte,
aber nie 3ujammen ein geſchloſſenes Runftwerk ergab, dah fie nicht tilgte, wads die
ſtrenge Notwendigkeit gegliederten Baues verwirrte. Aber mehr nod, meine ich,
liegt es daran, daß das ſtärkſte Erlebnis in der Natur fiir fie das tft, wenn alle
Cinwirfungen der Landſchaft auf fie ſich zu cinem cigentiimlichen Gefamtgefiibl
verfdmelzen. Es ijt ihr dann, ald rinne durch ibre Adern dasjelbe Blut, das in den
Leibern der Tiere und Pflanzen flieft, das als Waſſer neben ibr quillt, als Luft fie umſtreicht.
So [Apt fie es ihren Fiſcher ausfpredyen, der im jitternden Glanz der Mittag:
ftunde im wogenden Kahn liegt: Plätſchernd in der kühlen Flut fpielet feine beige
Hand , Wafer, ſpricht er, Welle gut, bauchft fo kühlend an den Strand,
Du ber Erde köſtlich Blut,
Meinem Blute nah verwandt,
Senbdeft Deine blanken Wellen,
Die jet fofend um mic ſchwellen
Durch der Mutter weites Reich,
Börnlein, Strom und glatter Tei —
Und an meiner Hiltte gleich
Schlürf' id Dein geldutert Gut,
Unb Du wirſt mein eigen Bhat,
Liebe Welle, beil’ge Flut!
In einem anderen Gedicht ftellt fie fic uns dar, getrodnete Blumen betradtend und
fic) der Stimmungen erinnernd, in denen fie die friſchen, lebenden pflückte:
—
Annette von Drofte in ihrem Naturentpfinden. 547
Und wie Bluted Adern umfdlingen mig
Meine Waſſerfäden und Moje.
Es ijt died Einsfühlen mit der Natur aber vom Naturgefiihl pantheiſtiſch gejtimmter
Seelen verſchieden. Gott-Natur: wir werden febhen, wie wenig fie das empfinden fonnte,
wie fie vergeblid) rang, fic) Gott ebenfo nabe yu fiiblen wie der Natur. So mufte
ibr das ſchwellende All-Einsgefühl de3 myſtiſchen Pantheismus fern bleiben. Wo ibr
Gedanken an Allbefeeltheit auffteigen, da jind fie ibrer Frömmigkeit mehr qualvoll als
begliidend; man ſehe das Gedicht „Inſtinkt“. Sie fiiblte ſich unjertrennbar verbunden
mit der Natur:
Jn feinem Auge Einflang liegt
Mit bem, was iiber ibm fich wiegt,
Mit Windgeſtöhn und linden Zweigen.
Was ift ibm fremd und was fein eigen?
Das Moment der Lebenseinfamfcit bringt einen bewußten Zug in dies Empfinden.
Jn ſpäten Jabren, als jie den Menſchen gefunden hat, dem fie yum erjtenmal ibres
GemiiteS Reichtum erſchließen darf, als ibe das Menſchliche einen höheren Wert
gewinnt denn bisher, da beflagt fie fajt das Verhältnis yur Natur:
als feinen Bli ich noch erfannte
al den des Strahles durch's Gezweig
die Felfen meine Briider nannte,
Schweſter mein Spiegelbild im Teich.
Sie follte yur Natur als zu ihrem eingigen Glück juriidfebren, da der Menſch,
den fie liebte, ihr entglitt: „Verlaſſen aber einjam nidt, erſchüttert aber nicht zerdrückt,
fo lange nod das beil’ge Licht auf mic) mit LiebeSaugen blidt, folange nod) der
friſche Wald, aus jedem Blatt Geſänge rauſcht . . . .”
Aber died Gefiiblsverhaltnis zur Natur ijt ebenfo weit vom myſtiſchen Pantheismus
wie vom All-Einsgefühl des modernen Künſtlers entfernt. Fern ftebt fle dem bewußten
Entziiden, in dem Hofmannsthal ſchwelgt, den Cinflang aller Dinge, den „ver—
ſchwiegenen Gang des grofen Lebens” tiefinnettich zu verjteben, ,,weil — in unferem
Leib das Mil dumpf zuſammengedrückt“. Der Wonne dariiber, daz, wenn er der
Natur ihr Gebheimftes entreift, den Sinn und das Leben jedes Naturzuftandes jum
Rlingen bringt, er zugleich Das Innerſte feiner Seele vernimmt: „draußen find wir
zu finden, draußen.“ „Und immer bebte meine Ceele voll von allem Lebenden der
großen Landſchaft.“ Das Gliic diefer Bewuftheit, Blüte feinjter, edelfter Kultur, war
nicht in ihrem Cinsfiiblen mit der Natur. Dazu ijt fie felbft der Natur nod gu nab.
Viel primitiver, viel leidender, dumpfer ijt das alles bei ihr. Jn den dunfelften
Tiefen des Bewußtſeins, da, wo das pſychiſche Erlebnis feine Wurzeln erſt mählich aus
dem phyſiſchen Grunde lodert. Abſolutes Durchtranktfein von der Natur, elementarifcy-
dumpfes macht es ibr zuweilen möglich, die Vereinheitlichung eines Naturerlebniſſes
dadurch zu ſchaffen, daß ſie — ich möchte ſagen, das nervöſe Leben der Naturſtimmung
aus dem Miteinander der Naturgeſchöpfe herausfühlt. Wir werden das auch in zweien
ihrer religiöſen Gedichte beobachten können. Mit welchem Einheitszuge gibt ſie den
phyſiſchen Zuſtand der Natur am Seegeſtade in der Stunde des Pan:
Ratur ſchläft, ihr Odem ſteht,
Ihre griinen Locken hangen ſchwer,
Nur auf und nieder ihr Pulsſchlag geht
Ungehemmt im heil'gen Meer.
Es ſind oft nur ein paar Zeilen in einem langen, allzulangen Gedicht, in denen das
auftaucht. Der Cyklus „Der Weiher“ iſt eine Miſchung reiner Naturſchilderung und
romantiſcher Perſonifizierung. Aber da, mit einemmale wird die Naturſtimmung
gegeben, daraus: wie alle Naturgeſchöpfe die Wirkung der ſteigenden Tagesglut
empfinden. Hierdurch erſteht weit Wartere Illuſion als durch die meifterbafte Detail:
wiedergabe fichtharer Bilder. Denn eS war das Erlebnis, in dem fiir fie alle Cinjel-
erfabrungen ihrer Sinne jufammenfloffen. Wir fiblen die Durftende Mattigheit der nad
B5*
548 Annette von Drofte in ihrem Raturemp finden.
friſchem Bade verlangenden Landfcaft, wenn fie die Linde „die einfam niederlechst
vom Uferrande”, klagen läßt:
Wie grell bie Gonne blitzt — ſchwül wird der Tag.
© finnt id, fonnt ich meine Wurzeln ftreden
Rect mitten tief in bas kryſtall'ne Beden. .....
Und im Gegenſatz dazu das woblige Schlürfen der Kühle durch die Waſſerfäden, die
der Teich als feine Blutsverwandten feſt an fics preft:
und wit bobren unjre feinen Ranken
In die Bruft ihm wie ein liebend Weib,
Dringen Adern gleich in feinen Leib,
Dammern auf, wie feines Traums Gedanten.
Diefe eigentümliche Beziehung zur Natur fommt auc in ihren Vergleichen und
Pildern gum Wusdrud. Ein Herausfiiblen phyſiſcher Bujtinde aus der Natur bietet
der Phantajie den Anknüpfungspunkt:
Bur Seit der Scheide zwiſchen Nacht und Tag,
Als wie cin fieder Greis die Heide lag
Und ibr Geftdbn bes Moores Teppich regte,
Kranthafte Funten im verivirrten Saus
Elektriſch biigten .
Von dem See in grauer Regenjtunde fagt fie:
Miide, müde die Luft am Strande ſtöhnt
Wie ein Rok, bas den ſchlafenden Reiter tragt.
Im Fiſcherhauſe fein Lämpchen brennt,
Im öden Turme fein Heimeen ſchrillt,
Nur langſam rollend der aaa ſchwillt
In dem zitternden Element .
Sein gleißender Nerv erbebt, naht ihm am Strand eines Menſchen Fuß. „Der
blaſſe Ather ſiecht“ ... Der Ode Ode 30q fo ſchwer, als ob er fiecher Brujt ent-
gleite . . .“ „Der morſche Tag ijt eingefunten, fein Auge gläſern falt und leer. . .“
„Tief zieht die Nacht den feuchten Odem, des Walles Gräſer zucken matt —
Bon der glasklirrenden kalten Slveſternacht: „mit Fünkchen iſt die Luft erfüllt, bie
Sterbefeufyer zieht und quillt . .“ Beim Gewitter: „Die Lüfte wehn ſo ſeufzervoll
und lau, und Angſtgeſtöhn die Zweige tegt .
xh fagte fon: Man fann ibe r Raturgefiibl nicht mit einer Formel ausfpreden.
Und wenn auc) mir die geſchilderte Form als dic fiir fie charakteriſtiſche erſcheint, fo
ſind doch auch die Gedichte, in denen das Naturempfinden nicht ſo ausſchließlich die
Seele erfüllend alles übertönt, in denen es zum Dolmetſch oder zum Begleiter anderer
Gefühle wird, für den, der ihre ſeeliſche Dispoſition verſtehen will, unendlich auf—
ſchlußreich. Die beiden Gedichte, in denen ihr religiöſes Empfinden mit ihrem Natur—
gefühl zu einem Zweiklang zuſammenſchmilzt, offenbaren uns, wie dieſe Art des Natur—
erlebens, die ihr höchſtes Glück war, zur Tragik fiir fle werden konnte, weil fie auf
anderen Lebensgebieten nicht dieſe gleiche Fähigkeit der Hingabe hatte, in der doch
etivad von anfaugender Kraft liegt. Auch die heißeſte Sehnſucht madhte es ibt nicht
möglich, Gott ebenſo zu erleben wie die Natur. Ohne Glauben, voll der Liebe,“
das iſt der wehe Grundton ihres Geiſtlichen Jahres „Ach nimmſt Du fait des Glaubens
nicht die Liebe und des Verlangens tränenſchweren Boll!” Das fteigert fic in einem
der Gedichte bis zum inbriinitigen Dürſten nach der göttlichen Verbeifung „über ein
fleines werbdet ibr mid) ſehen.“
Sie läßt ihr Begehren nad) der Gottesnähe in den Schauern eines Gewwittertages
wor uns aufiteigen: Die Sduwiile ängſtet die Kreatur; man jiebt den Blig durch
Schwefelgafien zucken, fieht das Wetter fich löſen im feijen Weinen des Wolfentaus.
Dem phyſiſchen Crlebnis der Natur vermag ihr Naturgefiihl bis ing feinfte nachzutaſten,
in dem Angſtgeſtöhn der Sweige, dem Niederducken der Vogel, dem Keuchen der Herde
fpiirt fie es. Wher da ijt nod) ein Anderes, von dem jie meint, die Naturgeſchöpfe
—— —
Annette von Drofte in ibrem Raturempfinden. 549
empfänden es, fie aber rufe vergeblich danach — die Gottesnähe! — Und gerade in diefem
Gegenſatz von Fühlen und Nichtfiihlenfinnen wird uns die Cigenart ihres Gottesver-
langens beſſer gedeutet als aus dem bibliſchen Hinweis, mit dem fie ſchließt: auf Elias,
dem Gott nicht im Getvitter nabte, nicht in der Flamme, fondern im fanften Saufeln.
Und nocd einmal wird die Erweckung religidfer Gefiible durch eine Naturftimmung ifr
gum tragiſchen Erlebni$. Ach meine dad Gedicht: ,, Die ächzende Kreatur.“ Die Ängſt,
verworfen ju fein vor Gott, weil fie den Glauben nicht babe, liegt am ſchlimmſten
auf ifr, wenn fie in jenen eigentümlich qualvollen phyſiſchen Zuſtänden dabin dammert,
da „ein frankes Blut, was, adh, im eigenen Drud erliegt,” ihr Geift und Willen
lähmt. Dann fteigert fic) dieſe Angſt su dem grofen Gedanfen der menſchlichen Erbfiinde.
Nun aber figt fie eines Tages in ſolchen Qualen einfam im Garten:
Wn einem Tag, wo feucht der Wind
Wo grau verbangt dee Gonnenftrabl . ..
Ihr war die Bruſt jo matt und enge,
Shr war das Haupt fo bumpf und ſchwer;
Selbft um ben Geift jog dads Gedränge
Des Blutes Nebelflore her.
Gefabrte Wind uud Bogel nur
In felbftgewahlter Cinjamfeit;
Gin groper Seufjer die Natur,
Und ſchier jerflofien Raum und Heit.
Ihr war, als fiible fie die Flut
Der Cwigkeit voriiberraufden,
Und miiffe jeden Tropfen Blut
Und jeden Herzſchlag dod belaufden.
Und wie ibre arme, leidende Seele dabinbangt, ſchaurig wach bei aller Ge:
bundenbeit, da fühlt fie, daß die Qual, unter der fie ſtöhnt, an Ddiefem grauen Tage
auf aller Nreatur liegt. Und weil fie nod) diefen elementaren Sufammenbang mit der
Natur hat, dak fie allem Gefchaffenen feine Zuſtände anfiihlen muß und jugleid von
jeder Naturftimmung dämoniſch —— wird, darum ſteigert ſich ihr kleines menſch—
liches Leiden vor Gott zu dem Gedanken, mehr wohl zu dem überwältigenden Gefühl
von der Daſeinsſchuld, unter der alle Weſen in Not und Angſt dahinhaſten — vom
Leiden der Welt:
Da ward ihr lar, wie nicht allein
Der Gottesfluch im Menfdenbild,
Wie er in ſchwerer dumpfer Bein
Im bangen Wurm, im fdeuen Wild,
Im durſt'gen Halme auf der Flur,
Der mit vergilbten Blittern lechzt,
‘ In aller, aller Kreatur
Ben Himmel um Erldfung ächzt.
Und dieſe ,,Schuld des Mordes an der Erde LieblichFeit und Ould,” die Sduld am
dumpfen, qualvollen Rampf ums Dafein drängt fics iby in der Form eines ſchweren
religidfen Leides in der Stunde auf die Lippen, da die Qualen ihres Leibes ihrer Seele
nur ein Echo der Naturſtimmung gu fein febeinen, in der fie verſinkt. Das ijt der
Bufammentlang ibres religiifen und ihres Naturgefiihls.
Suweilen — namentlich in der Spätzeit — wedt die Berührung mit der Natur
andere, leifere Tine in ibrer Seele. Lebensgefiible, die Lange verſchwiegen wurden,
gewinnen in einer beftimmten Naturjtimmung Sprade. Wenn im fremden Lande die
„allbekannte Nacht” emporfteigt, dann werden alle Erlebniffe ibrer Sinne in der nächt—
lichen Landſchaft Erweder phantaſtiſcher Gebilde, nach denen ibre große Heimatſehnſucht
verlangt. Jenes Gefiihl, in dem dabeim ibre Seele rubt wie in einem nährenden
Element: die Liebe nicht nur yu dem Lande, fondern aud) gu allem darin Erlebten,
zu Den Lebenden und Toten, die diejem Boden angehiren, wird durch ibr Naturgefiihl
ſtärker angeregt, erhält eine cigentiimliche Betonung:
550 Annette von Drofte in ihrem RNaturempfinden.
Dann ift es mir, als hort ich reiten
Und flirrend mir entgegenziehn
Mein Baterland von allen Seiten,
Und feine Küſſe fühl ich glühn.
Dann wird des Windes leiſes Munteln
Mir gu verivorrnen Stimmen bald
Und jede ſchwache Form im Dunkeln
Sur tiefvertrauteften Geftalt.
Sic ruft mit voller Sehnſuchtskraft die Lebenden und die Toten herbei:
Ich möcht end alle an mich ſchließen,
Ich fühl euch alle um mich her,
Ich möchte mich in euch ergießen
Gleich ſiechem Bache in das Meer
Und wieder offenbaren uns Naturgedichte das Geheimſte einer ſeeliſchen Richtung,
die in ihren ſpäteren Jahren immer mehr hervortritt.
Dieſe innere Vertrautheit mit den Toten — denen ſie, wie Buſſe an vielen
Beiſpielen ihrer Dichtung aufgezeigt hat, oft ſelbſt in ihrer großen Einſamkeit anzu—
gehören glaubt — iſt nur ein Ausdruck für ihre Sehnſucht nach dem Erloſchenen
iiberhaupt. Dieſe ſteht in innigſter Beziehung zu ihrem Naturgefühl. Dies Verlangen
nach dem Aufſteigen alles Genoſſenen und Durchlittenen aus dunkeln Tiefen des
Bewußtſeins ins Licht lebendigen Gefühls, dies „Werben um bleiche Bilder, um
verſchwommene Töne“ entfaltet ſich in ihr, der Leidenden, Alternden, von der Heimat
Fernen, am ſchönſten dann, wenn ſie ruhend im Graſe ſich trunken wiegen läßt von
den Armen der Natur, ſich ganz der Wonne hingibt an dem Vogellied, „das mir
niederperlt aus der Höh.“ Dieſes Verſchmelzen der Gefühle findet klingenden Ausdruck:
Süße Ruh, ſüßer Taumel im Gras,
Von des Krautes Arom umhaucht
Tiefe Flut, tief tieftrunkene Flut,
Wenn die Wolk am Azure verraucht,
Wenn aufs müde ſchwimmende Haupt
Süßes Lachen gaukelt hinab,
Liebe Stimme ſäuſelt und träuft
Wie die Lindenbliit auf cin Grab;
Wenn int Bujen die Toten dann,
ede Leiche fich ftredt und regt,
Veife, leife ben Odem siebt,
Die gefcdloffene Wimper beweat.
Tote Liebe, tote Luft, tote Zeit,
All bie Schätze im Schutt verwiibit
Sid berühren mit ſchüchternem Rlang
Gleih den Glöckchen vom Winde umfpielt.
Hier madt die villige Harmonie der wehmütigen Lebensſtimmung, in der ſchon
Die nahe Auflöſung vorflingt, mit der auflojenden beraufdenden Naturftimmung fie
zur Dteifterin fiber Rhythmus und Vokalmuſik in einem Mage, wie fie es nicht oft ift.
Selten fühlt man bet Annette cin ganzes Gedidt von der Woge ciner rhythmifden
Beivegung ſchwellend emporgetragen. Ihre kräftigſten finnlich lebendigen Naturgedicte
leiden am ſtärkſten unter einzelnen ſchlimmen Verſen, unter den Harten maflofer
Ronfonantenbiufung. Hier aber wird der Rhythmus mit feinem fteigenden Schwellen
und dem Ausruhen in der vollen Kadenz dem Dehnenden und Wiegenden der Sebn-
juchtsgefiible fo gerecht! Und wie fijtlid) Lift der Rhythmenwechſel in dem Bers:
Tiefe Flut, tief, tieftruntene Flut
mit dent Kunjtmittel der vier vollbetonten Silben, die einander folgen und uns zum
fangen Ausfojten ibres Klanges loden, uns den Taumel des immer mehr im Ather—
blau verfintenden Blides abnen. Wiederholter Weehfel heller und dunkler Klänge ijt
ein Reiz mebr.
Und aud unfaßbar fliichtiqe Gefiible läßt fie uns ſinnlich naderleben in den
Bildern vom leifen Regen und Odempiehen der Toten, die fajt zarte Bewegungs—
empfindungen in uns auslöſen. Das feine Klingen der lesten Verſe macht uns die
Annette von Drofte in ihrem RNaturempfinden. 551
innere Muſik in ihrem Obr hörbar. — Begliidend aber ijt ibr diefe Sehnfucht nur in
der Natur. Denn die Naturerlebnijje, fie find das in allem Wechſel ewig gleiche,
das treue, bleibende, das cingige, was ihr die geliebte Vergangenheit mit der Gegen-
wart verbindet. Und darum meine ich, die Naturgedicte allein ſprechen das traumbafte
Glück dieſes Wiederauflebens toter Liebe, toter Luft, toter Beit künſtleriſch rein ans.
Die Menſchen — ach, unter ihnen ijt die Erinnerung fein Glück — fie tragen alle
Spuren de$ Vergehens an fich, und ihre Seelen haben nicht gebalten, was die Dichterin
von ihnen erhoffte. Sie hatte fie — das ijt cin romantiſches Clement in Annette —
mit allem Glan; ausgefchmiidt, den ihre eigene Seele beſaß, und fteht nun enttäuſcht
vor dem, twas geworden. Das Gedidt ,Die Golem” ſpricht es aus:
Web dem, der lebt in des Vergangnen Schau,
Um bleiche Bilder wirbt, verſchwommne Tone,
Nicht was gebrochen macht bas Haar ifm grau,
Was Tod gefnicdt in {einer ſüßen Schöne,
Doc fie, die Monumente ohne Toten,
Die wanbernden Gebildbe ohne Blut,
Sie, feine Tempel ohne Opferglut
Und feine Haine obne FriiblingSboten!
Aber fie braucht nicht wie Brentano auszurufen: „Poeſie die Schminferin nabm mir
Glauben, Hoffen, Lieben”, denn in der ungebrodenen Kraft ibres Naturgefiihls hat
fie die Fiabigheit, all das, was das Leben, die Menſchen getdtet haben, in ihrem
Bewußtſein wieder auferjtehen zu laſſen, und dann ift die Erinnerung Seligfeit.
Und diefe Befruchtung der Phantafie durch das Naturgefiihl, diefe Fabigkeit, dem
Traum Lebenswarme zu verleiben, macht fic nod in zwei Ror wunderbaren Gedichten
geltend, in denen fie wiederum in villiger Paffivitdt erlebte Natureindriide phantaſtiſch
wiedergibt. Auch hier ift wie in den friiher charafterijierten Poefien fein ſtärkeres
ſeeliſches Clement neben dem Naturgefiihl lebendig. Aber fie fteht der Natur nod) in
einer anderen Verfaſſung gegeniiber. Sie befindet fic) in jenen eigentiimliden Trance-
zuſtänden, die bei dem iiberjarten Nervenleben der leidenden Frau nichts Seltenes
waren. Man hat diefe ,,Nervenfpannungen”, in denen Gerdufche ibres Blutes zu
jpufbaften Klängen werden, zur Erklärung ihrer Gefpenfterpoefie mit herangezogen.
Aber nicht immer wurde ibr aus foldhen Zujtinden nur das Gefiihl de3 Grauens in
der Natur geboren, das jie Spufgeltalten ſchaffen ließ oder auch nad) dem bereits
wefenbaft bildlid) gewordenen, bereits zu Spufgeftalten geformten Phantafiegut des
weſtfäliſchen Volkes qreifen lief.
Zuweilen verdanfte fie diefen Zuſtänden cine begliidende Criveiterung ibres Natur:
gefiibls, fie vermodte Phantaſielandſchaften mit der Friſche beriibrbarer Gegenwart zu
etleben — und fie vermocte dann jo malerijd) oder mujifalijd zu vereinbeitlicen,
wie fie es fonft nicht fonnte.
Jn dem vielzitierten Gedicht „Sommermittagstraum“ fchildert fie die Lethargie,
die Lahmung des Willens, die Nberwachbeit der Sinne, die durch Krankheit, durch den
in allen Nerven zu fpiirenden Einfluß „der ſchwefelnden Gewitterluft” bervorgerufen
wird. Nur im Halbſchlaf nod) empfundene Gerdujche de3 Gewitters und jenes , Raufden
und Rlingeln im betäubten Hirn“ werden ibe zu Stimmen, die aus den Gegenjtinden
auf einem Tiſch vor ibrem Lager herausjutinen ſcheinen. Darunter ijt aud) eine
Muſchel und eine blitzende Erjftufe, deren Leuchten jutveilen im Bligftrahl aufzuckend
burch ihre Wimpern dringt. Die Dinge alle auf dem Tiſch erzählen ihr von ſich. —
Bei dem gleicmapigen Fallen der Regentropfen wird ihr das Rauſchen zur Stimme
deS Meeres. Und ein Phantafiebild ſteigt vor ihr auf, erfiillt von Meeresmelodie
und Meeresatem in einer Vorfonnenaufgangsjtunde:
Woge, Welle, ſachte, facht,
Dak der ‘Triton nicht erwadht:
In der Hand das plumpe Horn
Schlummert ex am Strubdelborn.
In der Muſchelhalle liegt er,
Seine griinen Zopfe wiegt er;
552 Annette von Drofte in ihrem Naturempfinden.
Rief'le, Woge, Sand und Kies
Qn bes Barteds zottig Blies .. .
Das Lied verhaudt wie Edo am Geftade,
Und leijer, Leifer wiegt fic) die Najade,
Beginnt ibr ftrdémend Flodenbaar yu breiten,
Läßt vom Korallenfamm die Tropfen gleiten,
Und ſachte ftrablend ſchwimmt fie, wie cin aud
Im Strahl, ber dämmert durd den Rebelraud.
Wie glänzt ihr Regenbogen{dleier! — ov,
Die Gonne fteigt, das Meer beginnt gu zittern —
Cin Silberneg von Myriaden Flittern . . .
Das Phantajfiebild alfo, gezeugt vom Frankhaft erregten Gebirn, genährt an leifen,
wie aus weiter Ferne fFommenden Gehörs- und Gefidt3ecindriiden, hat nichts Verwiſchtes,
nichts Geſpenſtiſches. Abr Naturgefiibl verleibt dem Traume Leben. Und die in Den
legten Verſen gegebene Licstvifion ijt das, wads in ihrer waden Dichtung yu feblen
ſchien, der eine, mehr als alle erregende Cindrud eines Sinnes, der fiir einen Moment
das Gebeinnis einer Landfdaft ausfpricht.
Jn einem Zuſtand ahnlicher tiberjteigerter Empfänglichkeit wurden ihr die Offen—
barungen der „Durchwachten Nacht”. Sie bat wieder mit allen Naturgeſchöpfen
die Stunde des Entſchlafens miterlebt; auch fie ijt matt, matt wie die Natur. Und
in gleichem Taft beginnt nun ihr Blut yu wogen mit dem neuen Leben, das jest
erwadt. Wie „verhaltenes Weinen” fteigt Langer Rlageton der Nadhtigall aus dent
Fliederftrauch. Auf jedem Fliederblatt entziindet das Mondlicht Funfen, Funfen
{prithen aud) in ihrem Blut:
Dest möcht ich feblafen, ſchlafen gleich,
Entſchlafen unterm Mondeshauch,
Im Blute Funken, Funk im Strauch,
Und mir im Ohre Melodei ...
So anders als im wachen Zuſtand, ſo viel feiner erlebt ſie, daß ſich ihr wie modernſter
Sinnesempfänglichkeit die Erlebniſſe eines Organs in die des anderen umſetzen:
Das Dunkel fühl ich kühl wie feinen Regen
An meine Wange gleiten....
Und aus all dem cin Phantafieton, lang aushallend, endlic) zur bildhaften Viſion
werdend:
Und immer beller wird ber fiife Klang.
Das liebe Laden, eS beginnt ju ziehen
Wie Bilder von Daguerre die Dec entlang,
Die aufwärts fteigen mit des Pfeiles lieben.
Das was Farbe und Ton ihrem wachen Naturgefiihl nidt geben fonnten, —
das wird ibrem ,wunderbaren Schlummerwachen“ hier zu Teil: die Wechſelwirkung
yon Raturgefiibl und Phantafie, die ihrem Tranceftand eigentümlich ift, erzeugt das
innere lyriſche Rlingen ,,gewoben aus der Sebnfucht und dem Schweigen“, das alle
Einzelerlebniſſe zuſammenfaßt. Und bitte fie nicht, wie fo oft, auch die Schinbeit
dieſes Gedichts durch grinunige Härten, durch eingelne geſchmackloſe Vergleiche, durch
ſchlimme Reime, durch die gequilte Angabe der einzelnen Nachtſtunden zerſtört — anc
Umarbeitungen tilgten died nicht — wir würden mit nod) reinerer Freude dieſe feltene
und feltfame Frudt geniefen.
Clisabeth Onauck-Rihne:
Vie deutsche Brau um die Jahrhundertwende.
Sen
Dr Elifabeth Gottheiner.
Radbrud verboten.
ie Reihe der Schriften, die der Beginn des neuen Jahrhunderts gezeitigt bat,
ift durch einen NachEonunling vermebrt worden: Clifabeth Gnauck-Kühnes
Deutſche Frau um die Fabrhundertwende.') Das Buch will feinen Nberblid
geben tiber dad geſamte Frauenleben unjerer Zeit, wie man nad dem Titel wobl
meinen fonnte; das überläßt es umfangreideren Werken. Seine Abſicht ijt nichts anderes,
als an Der Beſſerſtellung des weiblichen Geſchlechts mitzuarbeiten. Um aber mit der
Reform an der richtigen Stelle cinfepen zu können, will es zunächſt Cinficht gewinnen
in vorhandene Mängel. Auf der trodenen, ficeren Grundlage der Statiſtik will 3
Die Lebensverhiltniffe des weiblichen Geſchlechts in ibren Sebhiviertgfeiten und Nbel-
ſtänden darlegen, und unterfuchen, wie tweit dev Umſchwung darin bereits vorgeſchritten
ift. €8 will den Anteil der deutſchen Frauenwelt an Ehe und Berufsarbeit aus den vor:
handenen ſtatiſtiſchen Quellen herausſchälen.
Es ſcheint faſt, als habe Eliſabeth GnauckKühne ihrem Temperament durch die
Beſchränkung auf dieſes enge Gebiet Zügel anlegen wollen, als habe ſie es abſichtlich
in dieſen Rahmen gepreßt, der ihrer urſprünglichen Anlage ſo wenig angemeſſen iſt.
Sie erſcheint faſt unperſönlich in dem eigentlichen Kern des Buches, den ſtatiſtiſchen
Kapiteln, während ſich uns in den einleitenden und den Schlußkapiteln ihre ſtarke
Perſönlichkeit, mit allem, was uns an ihr anzieht und von ihr trennt, überall
aufdrängt.
Trotzdem wollen wir unſere Aufmerkſamkeit zunächſt dem ſtatiſtiſchen Teil
zuwenden und nicht verweilen bei den der Form nach ſehr anziehenden, und in ihrer
prägnanten Zuſammenfaſſung auch) den mit der Frauenfragelitteratur Vertrauten ſehr
wertvollen Darlegungen fiber die wirtſchaftlichen und ideellen Urfachen der Frauen-
bewegung.
Nach der letzten Berufszählung von 1895 betrug der Überſchuß der weiblichen
über die männliche Bevölkerung im deutſchen Reiche faſt eine Million. An dieſe Tat—
ſache anknüpfend, beginnt die Verfaſſerin ihre ſtatiſtiſchen Unterſuchungen.
Sie legt dar, daß, obgleich im Deutſchen Reich auf 100 Mädchengeburten durch—
ſchnittlich 106 Knabengeburten entfallen, die Natur das ſtärkere Geſchlecht alſo un—
verkennbar geſetzmäßig in der Mehrzahl ſehen wolle, Kultureinflüſſe dieſes natürliche
Eliſabeth Gnauck-Kühne. Die deutſche Frau um die Jahrhundertwende. Statiſtiſche
Studie zur Frauenfrage. Berlin bet Otto Liebmann 1904. 166 S. Preis 3,50 Mart.
554 Eliſabeth Gnauch Auhne: Die drutſche Foam am bie Aaehumbertwenbe.
Berhaltnis febr bald verfdieben. Nur bis gum 16. Lebensjabhre iiberwiegt das
mannliche Gefdledht, dann beginnt der weibliche ÜUerſchuß allmablid zu ſteigen, bis
er endlid) im Greijenalter den Höhepunkt erreicht. (Auf 100 Manner von 70 Jahren
fommen 123 Frauen.) Der Frauenüberſchuß entiteht aljo durch die Langere Lebensdauer
des weiblidien Geſchlechts; die Urſachen diefer gilt es daber junddjt yu finden. Die
größere Sterblicfeit der Manner (auf 100 weiblicde Gejtorbene kommen im Deutiden
Reich 110 mannliche) ijt feine ausreichende Erflarung. Es müſſen aud) pofitive Griinde
dafiir vorliegen. Diefe bat man bisher hauptſächlich in dem Haus: und Familienleben
ber Frau, dem die aufreibende Nerventatigteit des männlichen Berufslebens feblt, ferner
aber aud) in der Abwefenheit von Gefabren fiir Leib und Leben, in dent züchtigeren
Lebenswandel der Frau und ihrer größeren Anpajfungsfibigkeit finden zu müſſen
geglaubt. Ohne diefe Gründe gu leugnen, führt Clijabeth Gnauck-Kühne aber nod
ein andere3 ibr febr wichtig erſcheinendes pfychifches Moment ins Felb. Das Weib
fei in viel höherem Mage als der Mann Tragerin überlieferter ſittlich-religiöſer Joeen
geblieben. Die durd den Cinflug der Religion gewonnene Willensſtärke aber made
es fabiger, ſchwere Schickſalsſchläge zu ertragen.
Hierin ſieht die Verfaſſerin auch den Grund, weshalb die Selbſtmordſtatiſtik für
die Frau cine fo viel günſtigere ijt, als fiir den Mann. (Auf 100 000 weibliche
Deutſche entfielen im Durchfdnitt ber Sabre 1898—1900 nur 8, auf 100 000. mann:
lidye Deutſche aber 32, alfo viermal foviel, Celbftmorde.) Meiner Anſicht nad) eine
zu einfache, weil zu cinjeitige Erklärung einer Tatfache, deren fomplere Urſachen ju
erforfden es doc) noch anderer Mittel bedarf, als Frau Gnauck-Kühne angewendet bat.
Ohne daber linger bei diefem ſehr eingebend bebandelten Punft ju veriveilen, folgen
wir der Verfafferin weiter durch ,,die dürren Geltinde der Statiſtik“.
Einen breiten Raum nehmen die Unterfudungen über den Anteil des weiblichen
Gejdlehts am ,Cheberuf’ ein. Der Wusdrud „Eheberuf“, der fic ſonſt in
ſtatiſtiſchen Darlequngen nicht ju finden pflegt, ift übrigens charafteriftijd fiir die
Auffaffung der Verfafferin, auf die wir nods zurückkommen werden. Dod) das nur
nebenbei.
Frau Gnauck Kühne glaubt das Richtige getroffen gu haben, wenn fie das weib—
lice Heiratsalter von 16—50, da8 männliche von 20—60 abgrenzt. Bei dieſer an-
qenommenen Abgrenzung fteben den etwa 12'/, Millionen weiblicder Perfonen von 16 bis
5O Jahren etwa 12 Millionen männlicher von 20—60 Jahren gegeniiber. Es ergibt
ſich alfo ein weiblicer ÜUberſchuß von etwa einer balben Million. Dieſe notivendig
zur Eheloſigkeit verurteilten Frauen bilden aber nur den kleinſten Teil der wirklich
ehelos bleibenden. Wir haben in Deutfchland nicht eine halbe Million lediger Frauen,
fondern fajt 5'/, Millionen und dazu nods über cine halbe Million Witwen, Gefchiedene
und Eheverlaffene.
Im Alter von 20—30 Jahren find über die HaAlfte aller Frauen nods ledig.
Im Alter vor 30—40 bilden die Verheirateten drei Viertel, dic Chelofen cin Viertel
der Gefamtfumme, Unter den Chelofen iiberiviegen die Ledigen die Witwen. Im
Alter von 40—50 Jabren iſt die Verteilung ungefahr die gleiche, nur dah jebt die
Witwen die Ledigen überwiegen. Dim ganjen ijt die Zabl der Verbeirateten doppelt
fo groß wie die der Ledigen. Trogdem aber verbleiben in Deutſchland faft 4 Millionen
ehelos (ebender Frauen von 20—50 Jahren, eine Zabl, fo groß, daf fie der weibliden
Bevölkerung de8 ganzen Königreichs Bayern gleicfommt.
— *
Elijabeth Gnauck-Kühne: Die deutſche Frau um bie Qabrhundertivende. 555
Als lebenslänglicher Beruf, gefcbweige denn als lebenslinglide Verforqung fann
aber aud die Che niemals mit Sicherheit angefehen werden. Denn obgleich in der
Altersklaſſe 30—50 rund 77 Prozent aller Frauen verbeiratet find, ift vom 50. Lebens-
jahre ab, d. h. im reiferen und ſpäten Alter die größere Hälfte des weiblichen
Geſchlechts als Witwen wieder auf fich felbft geftellt.
Im Anſchluß an diefe Tatfade, die nach der Verfajferin Anſicht lange nicht
allgemein genug bekannt ijt, pladiert fie in warmen Worten fiir die Cinfiibrung der
Witwen- und Waifenverjiderung, dem nächſt der Mutterſchaftsverſicherung sweifellos
widtigften Zweige der ganzen Verſicherungsgeſetzgebung.
* *
oa
Es folgt nun das intereffantefte Kapitel über den Anteil der ebemiindigen Frauen
an der Erwerbstätigkeit. Im ganzen ijt ein Viertel der weiblichen Bevölkerung
Deutſchlands im Hauptberuf erwerbstätig; von dieſen ſind ledig 69 Prozent, verwitwet
oder geſchieden 15 Prozent und verheiratet 16 Prozent. Um einen Vergleich zwiſchen
Heiratshäufigkeit und Erwerbstätigkeit anzuſtellen, reduziert die Verfaſſerin die Alters—
jahre, ähnlich wie vorher, auf die drei Klaſſen von 16—30, 30—50, und über 50,
Es ergibt fich dann folgendes Bild.
Von 16—-30 Jabren, d. h. in der Jugend ift der Prozentſatz der Criverbstitigen
mit 56,10 am bidjten, von 30—50, bd. h. dem Lebensalter, das der Ehe gehirt, mit
24,61 Prozent am tiefjten, von 50 aufwärts, d. b. Dem Alter der Witwenſchaft, an:
fanglic) wieder höher, nämlich 25,20.
Stellt man nun den gewiinfdten Vergleich mit der Heiratsftatijti® an, fo
kommt man ju dem durd cin farbiges Diagramm wirkſam illuftrierten Schluß, daß
Heiratshdufigfeit und Erwerbstätigkeit beim weiblidhen Geſchlecht in
umgefebrtem Berbaltnis gu cinander ftehen. Da fie fic) nicht gänzlich aus-
ſchließen, beweiſt die Tatſache, daß 16 Prozent der erwerbstätigen weiblichen Bevölkerung
Deutſchlands, wie oben bereits erwähnt, verheiratet ſind.
Die meiſten Verheirateten finden ſich in Landwirtſchaft und Handel, die meiſten
Ledigen bei den Dienſtboten und freien Berufen, die meiſten Witwen in der Lohn—
arbeit wechſelnder Art und im Handel.
Aus der zwiſchen Ehefrequenz und Erwerbstätigkeit feſtgeſtellten Wechſelbeziehung
folgert Frau Gnauck-Kühne, daß, wenn man für die Zukunft eine Abnahme der Ehe—
häufigkeit vorausſieht, dieſe mit einer Zunahme der weiblichen Erwerbstätigkeit Hand
in Hand gehen müſſe. Die Zahl der weiblichen Erwerbstätigen hat ſich bereits von
1882—95 um über eine Million vermehrt, der Anteil der Frauen an der Erwerbs—
titigteit ijt aber auch projentuell geftiegen. Wir haben allen Grund anjunehmen, dah
er noc) weiter fteigen wird.
Das Haus hat nicht mehr Raunt genug fiir die Frau. Sie wird zu beruflicder
Tätigkeit geradezu gezwungen. Selbſt die Inanſpruchnahme durch die Che ijt nur
eine vorübergehende. Sie ſtellt das Leben des Weibes nicht unbedingt auf ſicheren
Grund und iſt nicht einmal imſtande, es einheitlich zu geſtalten. „Zwiſchen Ehe—
beruf und Erwerbstätigkeit, zwiſchen Abhängigkeit und Selbſtändigkeit wird das weib—
liche Geſchlecht hin- und hergeworfen. Sein Leben iſt dualiſtiſch geſpalten.“
556 Elijabeth Grou: RKilbne: Die deutſche Frau um die Qabrbundertivende.
In dem folgenden Kapitel, „der Wetthewerh zwiſchen Mann und Weib” geht dic
Verfafjerin auf die ihrer Anſicht nad) infolge ihres doppelten Berufes geminderte
Leijtungsfabigfeit der Frau näher ein. Die Verquidung von Che und Beruf ſcheint ibr
cin Kulturſchaden, der nad) Möglichkeit zu bekämpfen ijt. Die Forderung der unter-
fcbiedlofen Anftellung von Mann oder Weib, deS gemifehten Staated und der ge—
miſchten Rirde, an Stelle de3 méannlichen Staates und der männlichen Kirche könne
nur von Leuten ausgeben, die nicht wahre Freunde des wweiblichen Gefehlechts feien-
Wenn das Weib auch das gleiche Recht gur Arbeit babe, twice der Mann, jo habe es
doch nicht dad Recht auf gleiche Arbeit.
Diefe Anſchauung, die aus Clijabeth Gnauck-Kühnes Auffaſſung von der Che als
einem die Frau vollfommen ausfiillenden Beruf hervorgebt, ſcheint mir dod) infofern
zu berichtigen, als es zahlloſe Beifpiele von Frauen gibt, die erft in der Vereinigung
von Che und Berufstätigkeit Befriedigung gefunden haben.
Die weitere Bebauptung, dah das Weib auf allen Gebieten, anf denen wir
bereits den ſchrankenloſen Wetthewerb mit dem Manne haben (eS fommen hier vor
allem die Kunſt und die Suduftriearbeit in betracht), bisher immer und überall den
fiirjeren gezogen babe, weil es minder leiſtungsfähig fei, ift an fich freilich nicht ju
widerlegen. Wohl aber muß in betradt gegogen werden, dah eS den Frauen bisber
auf feinem Gebict möglich geweſen ijt, die gleide Leiftungsfabighcit yu erwerben und
mit denfelben Kampfesmitteln ausgeritftet wie der Mann, in den Konkurrenzkampf bin-
cinjugeben. Richt die Natur des Weibes, fondern ihre mangelbajte Vorbildung, der
dilettantifde Charafter ihrer Berufsarbeit macht e3 weniger leijtungsfibig.
Wenn Clijabeth Gnaud-Kihne nicht im Grunde derjelben Anficht ware, fonnte
fie im folgenden Kapitel wohl faum fo warm dafür eintreten, das Mädchen ebenfo
qut wie den Rnaben eine Arbeit berufsmäßig erlernen zu laſſen. Was fie bier
liber die fiir jedes Madden nötige und niigliche Vorbildung fiir eine beruflide Tätig—
feit einerſeits, fiir thre Oausfraucnpflidten andererfeits ausſpricht, kann man nur Wort
fiir Wort unterſchreiben. Dem fo oft gehörten Cinwurf: , Warum foll die Ansbildung
des Mädchens etivas koſten! Wenn eS fich verbheiratet, ijt doc) alles weggetvorfen,”
begeqnet fie mit der treffenden Crividerung: „Es ijt nidjts vergeblic), was ein Madchen
an geijtiger und moralifder Förderung cinheimft. Was die Perſönlichkeit bebt, fommt
dem Cheberuf au gute”.
Die Forderung obligatoriſcher hauswirtſchaftlicher und beruflider Vorbildung
fiir jedes Mädchen iſt aber nicht das einzige Mittel, durch das die Verfaſſerin die
Lage des weiblichen Geſchlechts heben zu können glaubt. Sie verſpricht ſich große
Erfolge nach dieſer Richtung hin ferner durch die zünftleriſche Organiſation aller
weiblichen Erwerbstätigen. Tiber dad Wie einer ſolchen Organiſation unterläßt fie es
aber ſich auszuſprechen. Klar geht aus ihren Ausführungen über dieſen Punkt nur
das eine hervor, daß fie ſich dieſe „weibliche Zunft“ als eine ſtaatliche Zwangsein—
richtung vorſtellt.
Können wir dieſer Forderung nur kopfſchüttelnd gegenüber ſtehen, ſo wird das
letzte der drei zur Verbeſſerung der Lage des weiblichen Geſchlechts vorgeſchlagene
Mittel uns vollends mit Erſtaunen erfüllen. Frau GnauckKühnes Rat an die un—
vermählten weiblichen Erwerbstätigen aller Klaſſen, die dem Familienleben entriidt
jind, ijt fein anderer, als der — ins Kloſter ju gehen. „Einſame Frauen“, ſagt
Eliſabeth Gnauchk-Kühne: Die deutſche Frau um bie Jahrhundertwende. 557
fie, brauchen nicht nur WUrbeit, fondern aud Gemeinfcdhaft . . . Das Klofter aber ift
eine Genoſſenſchaftsform, die dex weiblichen Natur entfpricht; das gebt aud) aus der
Unausrottbarkeit der Klöſter hervor. Würden fie heute alle zerſtört und die Erinnerung
daran verlifeht, die nächſte Generation würde fie neu erfinden . . . . Die größte
Schwierigkeit freiwilliger Gemeinfdaft bat das Kloſter überwunden: Geborjam obne
Bwangsmittel, und Cinheit trop Pflege der individuellen Anlagen . . . . Im Klojter
gibt es keine ,Sticffinder des Glücks‘, fondern Frauen, die ihren Ring am Finger
mit einer heimlichen Celigfeit tragen, die viele Chefrauen nie fennen lernen. Aus
diefer Seligkeit ſchöpfen fie die Nraft, die die Welt in Erftaunen fet. Sie find die
einzigen wirklich und im eigentlichen Sinne des Wortes „Emanzipierten“, d. h. der
Hand des Manned Entriidten. Sie find es auch, die jeden Dualismus ausgefchieden
und iby Leben einbeitlich geftaltet haben.”
* *
*
Fragen wir uns zum Schluß: hat die Verfaſſerin gehalten, was ſie eingangs
verſprach, — ſo müſſen wir antworten: Von der Lage des weiblichen Geſchlechts hat ſie
in der Tat ein zutreffendes Bild entworfen, das in ſeiner Gedrängtheit und Prägnanz
geeignet iſt, weiteſte Kreiſe über die tatſächlichen Verhältniſſe aufzuklären. Daß ſie
den volkswirtſchaftlich Gebildeten damit irgend etwas Neues geſagt bat, kann allerdings
nicht behauptet werden. Dies war aber auch wahrſcheinlich nicht ihre Abſicht.
Ihre Reformvorſchläge dagegen werden — mit Ausnahme des erſten — von
der deutſchen Frauenwelt wohl kaum mit Freuden begrüßt werden. Gerade diejenigen
unter uns, die den hohen Wert der Organiſation für die weiblichen Arbeiter erkannt
haben, werden ſich für die Idee der zwangsweiſen weiblichen Zunft nicht begeiſtern können.
Was wir von der Organiſation der Arbeiterinnen erhoffen, iſt ja vor allem eine Stärkung
der Selbſtbehauptung, eine Hebung des Vertrauens auf die eigene Kraft. Gerade dieſe
aber würden durch die Einrichtung ſtaatlicher Zwangsorganiſationen, die den Schwachen
Schutz gewähren, anſtatt ihnen zu helfen, die Schwäche zu überwinden, niemals groß
gezogen werden können, ſondern im Gegenteil lahmgelegt werden.
Der letzte Vorſchlag endlich, die überzähligen Frauen ins Kloſter zu ſtecken, ein
Ausflug der beſonderen Weltanſchauung der Verfaſſerin, ſcheint mir ernſtlich
überhaupt nicht diskutabel. Wenn es auch einzelne Frauen geben mag, die
im Kloſterleben „die gleiche Beglückung finden, wie andere im Eheſtande“, ſo
würden doch die meiſten unter den arbeitenden Frauen den Zwang des Kloſterlebens
als unerträglichen Druck empfinden.
Rüſten wir die Frauen aus, im Kampfe des Lebens „ihren Mann zu ſtehen“,
dann haben wir für die Hebung des weiblichen Geſchlechts mehr getan, als wenn wir
ibm den Schutz der Kloſtermauern gewähren.
Vas Programm des internationalen Prauenkongresses.
(Berlin 13.~18. Juni 1904.)
1). Zentralblatt des Bundes deutfcher Frauenvereine bat nunmebr das Programm
de3 von ibm bei Gelegenbeit der Generalverjammlung des Frauenweltbundes
einberufenen internationalen Frauenfongrefjes veröffentlicht. Bei dem grofen Intereſſe,
bas der Kongreß iiberall hervorruft, glauben wir aud) dem Leferfreis der ,, Frau“
fein Programm in vollem Umfange zugänglich machen gu follen.
Die vier großen Gruppen, in die fic) die Arbeitsgebiete des Kongreſſes gliedern,
werden in ihren allgemeinen Umriſſen durch die Leiterinnen bezw. ftellvertretenden
Leiterinnen diefer Abteilungen in folgender Weiſe charafterifiert:
Eranenbildung. (Von Gertrud Baumer in Berlin.) Die Sektion
„Frauenbildung“ hatte bet der Mufftelung ihres Programms Rückſicht darauf zu
nehmen, daß bei der augerordentlichen Verſchiedenheit der DOrganijation des Unterridts-
weſens in den einzelnen Kulturlandern eine internationale Erörterung fid) am frudyt-
barjten auf einige Hauptfragen fonjentrierte. Es ijt uns weniger darauf angekommen,
durch die eingelnen Referate fchematifche Nberjichten fiber das Bilbungswefeu in den
verſchiedenen Ländern zu geben, T[berjichten, die bei der Kürze der yur Verfiiqung
ftehenden Zeit ja dod) mehr rein ftatijtifd als lebendig und intereffant batten werden
finnen; wir baben uns vielmehr bemüht, durch unfere einjelnen Rednerinnen zeigen
zu lafjen, wie brennende Fragen der Frauenbildung, die fic) aus dem Unterridts-
wejen aller Sulturlinder gegenwärtig mebr und mebr ergeben müſſen, von den
verſchiedenen Landern angeſehen und gelöſt werden. Jn welder Weife das gefdeben
wird, migen einige erldiuternde Bemerfungen zu der Tagesordnung darlege
Die Verhandlungen de3 erften Tages werden die Frage der * cauenbilbung unter
dem Gejichtspunkt der befonderen Aufgaben der Mutter beleuchten; fie werden fich
im iweiteften Sinne mit den WAnforderungen befchaftigen, die die Gegenwart an die
erzieblice Arbeit der Frau im Hauſe und im fozialen Leben ftellt, und mit der Frage,
wie dieſe UAnforderungen bei der Bildung Der Madchen gu ihrem Recht fommen follen.
In engſter Beziehung ju diejen Fragen jteht die Fröbelſche Cryiehungslehre und die
Ynftitution, die in unferem Unterrichtsweſen die Fröbelſchen Gedanken repräſentiert:
der Kindergarten. Alle dieſe Fragen ſollen nicht ſo ſehr nach ihrer fachlich
padagogiſchen Seite, als vielmehr nach der kulturellen und ſozialen, mit der ſie zu
bem Leben und den Aufgaben der modernen Frau in Beziehung ſtehen, behandelt
werden.
Was die Vorausfepungen fiir eine internationale Befprechhung iiber die Volks—
ſchule betrijft, fo fonnen aud bier naturgemäß die Aufgaben der Volksſchule nur in
ihrer befonderen Beziehung auf die Frauenfrage zur Crirterung fommen; es wird fic
darum handeln, die Gefichtspunfte gu beleuchten, die fid) aus der Stellung der Frau
des Voltes als Mutter, als Berufsarbeiterin, als Biirgerin in der Gegenwart fiir die
Mädchen-Volksſchule ergeben. Cine Hauptfrage, zu der die Erfabrungen der anderen
Lander vielleicht das Antereffantefte zu bieten haben, ift die der gemeinfamen Erziehung.
Die Finnlanderin, die dieſes Referat übernommen hat, dürfte in ganz befonderem
Grade fompetent fein, da ja in Finnland ganz befonders reichhaltige Erfahrungen
bejiiglich der gemeinfamen Erziehung der Gefdlechter vorliegen. Und ſchließlich diirfte
eine internationale Verhandlung über die brennende Frage der Cinheitsfdule zu
wirklich fruchtbaren Reſultaten führen. Lafjen fic) dod die Möglichkeiten zur
Verwirklidung eines nationalen Unterridtsfyjtems, das die Kinder aller Stände und
Das Programm de8 internationalen Frauenfongreffes. 559
Konfeſſionen in einer Elementarſchule vereinigt und allen gleide Möglichkeit gibt, zu
den höheren Bildungsanftalten aufzufteigen, läßt fid) dod) die Möglichkeit yur Cin-
fiibrung der Einheitsſchule am allerbeften an den Landern nachweifen, bei denen, wie
in den BVereinigten Staaten, bereits’ Verjuche in diefer Richtung vorliegen.
Soweit fich die Fortbildungsſchule die rein berufliche Ausbildung der Mädchen
zum Ziel ſetzt, ijt fle aus der Seftion Frauenbildung naturgemäß ausgefchieden; es
handelt fic) bier vielmehr hauptſächlich um die allgemeine Fortbildungsſchule, wobei
natürlich die Frage: wieweit fie fic) als ſolche der Berufsftellung der Madchen, die fie
bejuchen, angupajjen bat, zur Erörterung fommen wird. Die Leiterin der Viktoria:
Fortbildungsſchule gu Berlin wird gerade nach diefer Richtung Hin ein auf reicher Cr-
fabrung berubende3 Material darbieten finnen. Aud hinfichtlic der neuen Bewegung,
die man mit dem Namen Volksbildungsbeſtrebungen, Volkshochſchulen kennzeichnet, und
die ibrem eigentliden Urſprung nad auf die ſtandinaviſchen Lander juriidweijt, werden
die ſehr mannigfaltigen und verſchiedenartigen Verſuche und Wege, die entſprechend den
verſchiedenen fozialen und Kulturverbhaltnijjen der eingelnen Lander gewablt werden
müſſen, ein ſtarkes internationales Intereſſe haben.
Sebr reichhaltig ijt die Befegung des Programms an dem Tage, der der höheren
Mädchenſchule gewidmet ijt; es zeigt das, wie fehr gerade Die Frage der ——
Madchenſchule in allen Ländern im Stadium der Diskuſſion und des Experiments ijt;
da find vor allem drei grofe pringipielle Fragen yu löſen, nämlich: wie erfiillt die
hihere Mädchenſchule ihre Aufgabe als Bildungsanjtalt fiir die künftige Frau und
- Mutter, ferner als Bildungsanſtalt fiir die Biirgerin und ſchließlich als Vorbereitungs-
anjtalt fiir höhere Berufe? Und wie find diefe drei verjdiedenen Aufgaben am zweck—
mäßigſten mit einander gu verbinden? Die Referentinnen aus den eingelnen Landern
werden ihren Gegenftand vorzüglich unter diefen Gefichtspuntten behandeln, an die fich
die Distuffion dann gut anſchließen Laffen wird. Cine befondere Frage ijt die, ob zur Er—
füllung all diefer Aufgaben getrennte Mädchenſchulen erforderlich find oder ob fie bei
gemeinfamer Erziehung der Geſchlechter ebenfo gut oder beſſer geldjt werden können.
Wie bet der Volksſchule die Frage der Hygienifden Ausbildung durch die Begriinderin
deS Mufeums fiir Sculbygiene in Stodbholm befproden werden wird, fo mug natiir-
lid) aud) bei der Frage der höheren Bildung der Madchen ihre körperliche Kräftigung
ins Auge gefaßt werden.
Auch fiir die Tagesordnung und fiir Die Art der Referate über das Frauen:
ftudium find nach Verabredung mit den Referentinnen einige Hauptgeſichtspunkte auf—
gejtellt worden. Da wir ſowohl die Leiterin des grofen Bryn Mawr College, einer
Frauen-Univerſität, als aud) eine Referentin aus Dänemark gewonnen haben, wo die
qleidyberechtigte und gan; kameradſchaftliche Stellung der Frauen gu den männlichen
Studenten fich ganz befonders erfreulich geftaltet hat, fo wird fic) die Frage, ob ge-
meinjame Univerfititen oder befondere Frauen-Hochſchulen? als eine der wichtigſten
fiir die Distuffion herausſtellen.
Der legte Tag beſchäftigt fid) mit den Fragen der Lehrerinnen; da die Stellung
der Lebrerin in wirtſchaftlicher Hinficht der Serutsiettion zufiel, fo mußte es fich fiir
ung in erfter inie um die Lebrerinnenbildung handeln. Jn einem Zweige des Unter-
richtsweſens find vielleicht dic Ynftitutionen in den einzelnen Landern fo verfdieden wie
in diefem; um fo reichhaltiger verfpricht cine internationale Erirterung dieſer Frage
an Anregungen und Fingerjzeigen zu werden. C3 wird fic) auc hier um ein paar
Hauptfragen handeln, nämlich bei der Volfsfchullebrerin um die Frage: was hat die
wiſſenſchaftliche Aushildung yu umfafjen, welche Wege hat die pädagogiſche Ausbildung
einzuſchlagen, und wie ijt diefe dDoppelte Aufgabe durd) die Lehrerinnenbildungsanjtalten
am zweckmäßigſten zu löſen? Cine im Augenblic fiir Deutſchland ganz bejonders aktuelle
Frage ift die nach der padagogifden Ausbildung der akademifch gebildeten Lebrerinnen,
und vielleicht bietet hier der internationale Kongreß fiir die zwiſchen Oberlebrerinnen:
Eramen und Eramen pro facultate docendi bine und herſchwankenden Crirterungen
in Deutſchland mancherlei wertvolle Fingerjzeige.
+ *
*
560 Das Programm des imternationalen Frauenfongrefies.
Frauenberufe. (Von Alice Salomon in Berlin.) Man bat der Frauen:
bewegung oft den Vorwurf gemadt, dak jie fic) in yu hohem Mase und in eriter
Linie mit Der Eröffnung neuer Frauenberufe, neuer Erwerbsmoglichleiten beſchaftigt
und daß ſie daneben Geſichtspunkte zu ſehr außer acht laſſe. Wer aber die
Frauenbewegung kennt, der weiß, daß ſeit langer Zeit Hand in Hand mit dem
Streben nach neuen Bildung: und Berufsmiglicfeiten fiir die Frauen des Mittel—
ftandes und der biirgerlicen Kreiſe auch Verſuche gemacht wurden, die Lage der
proletariſchen, der handarbeitenden Frauen zu verbeſſern.
Die Behandlung des Themas „Frauenberufe“ wird dementſprechend auch auf
dem internationalen Kongreß ein doppeltes Geprige zeigen. Die Seltion wird fic
einerjeits mit all den Berufszweigen beſchaftigen, die die Frauenbewegung feines-
wegs erſt neu erdffnen und erſchließen mußte, fondern in denen unfere Aufgabe dahin
geht, befjere Arbeits- und Lebenshedingungen herbeifiibren qu helfen. Das find Die
Arbeiterinnen in der Landwirtſchaft, im Gewerbe und im Dienjthotenberufe. Auf der
anderen Geite jteben die Berbandlungen iiber alle die Berufe, die Den Frauen erit
durd) unfere Bewegung erobert wurden und die ibnen in manden Landern nod
verjperrt find: die wiſſenſchaftlichen Berufe, wie die der Advofatin, Predigerin ufw.,
und jum Teil auch die fiinjtlerifden, die den Frauen zwar nidt gan; verſchloſſen
waren, aber fiir die es an Ausbildungagelegenbeiten nod) vielfad feblte. Dazwiſchen
werden fic) zwei Tage mit der Frau im Handel und Berfebr und mit der Lage Der
Kranfenpflegerinnen beſchäftigen, die eine Verbindung zwiſchen dieſen beiden extremen
Seiten der Berufsfrage beritellen. Die Mitarbeit im Handel und im Verkehrsdienſt
kann zwar fiir die Frauen im allgemeinen als erſchloſſen gelten, aber yu höheren
Leiſtungsſtuſen find Frauen darin bisher nur vereinjelt gelangt. Hier gilt es fowobl
den unqualifizierten Kraäften befjere Bedingungen ju ſchaffen, ahnlich, wie es bei den
WArbeiterinnen in der Landwirtſchaft nnd im Gewerbe der Fall ijt, als aud neues
Terrain, hihere Stellungen ju erringen und ju erobern. Ganj; eigenartig wird fic
die Behandlung des "Reandenplegetimnenbecus qejtalten. Die Kranfenpflege galt
von jeber als ureigenite Betätigung der Frau. Religiöſe Verbände haben ſchon zu
Zeiten, in denen man ſonſt von weiblicher Berufstatigleit noch nicht viel hörte, Her—
vorragendes in der Ausbildung und Organiſation von Krankenpfiegerinnen geleijtet.
Ihr Verdienft darf und foll nicht unterjdvigt werden. Aber was fie getan baben
und was fie beute tun finnen, ijt nicht imjtande, den Bedarf an gejdulten Kräften
zu deden und all die Frauen ‘herangusieben und aufzunehmen, die wobl fiir die Wus-
iibung der Krankenpflege geeignet find; denn dieſe Organijationen bieten wohl einen
Beruy, nicht aber cinen Crwerb, einen Verdienſt im privat-wirtfdaftliden Sinne.
So werden denn die Verhandlungen fiber den Rranfenpflegerinnenberuf das Streben
der Frauen aller Lander jeigen, neue Wege, neue Formen auch fiir die Betätigung
auf dieſem Gebiet yu finden.
Zuſammenfaſſend fann man alſo wobl fagen: die Berufsfeftion verfirpert die
beiden grofen Siele der Frauenbewequng, die auch die leitendDen Gedanfen der
geſamten Kultur unjeres Seitalters find: den Gedanten der Qndividualijierung und
der Sozialiſierung. Den Gedanfen der Yndividualijierung: denn der Frau der
bürgerlichen Kreiſe ſoll das Recht auf volle Entfaltung ihrer Kräfte, auf Berufs—
betätigung, auf einen ihr ganzes Leben erfüllenden Inhalt gegeben werden. Den
Gedanken der Sozialiſierung denn die Beſtrebungen zum Schutz, zur Verbeſſerung
der Lage der beſitzloſen Frauen, der Arbeiterinnen in Handel, Gewerbe und Land—
wirtſchaft, und der Dienſtboten zeugen von dem Prinzip der Vergeſellſchaftung, von
der Pflicht, von der Verantwortung der Geſamtheit gegenüber dem Loſe des Einzelnen,
Schwachen. Was hier zur Verhandlung kommen wird, wird alſo ein geſchloſſenes
Ganze bilden, trotz des ſcheinbaren Gegenfages. Denn alles, was dazu beiträgt, die
Schwächeren ſtärker und kräftiger yu machen, das führt jie aud) zur freieren und
vollkommeneren Entjaltung der Perſonlichkeit. Die wahre Sozialiſierung ift die, die
jedes einzelne Glied der Gefamtbheit ftarft und fFrajtigt und emporbebt ju ‘einer
teicheren und höheren Entwickelung.
— — — —
Das Programm des internationalen Frauenkongreſſes. 561
Wenn man nad langen Vorarbeiten und Mühen die Kongreßtage berannaben
fiebt, an die wir jo viele Doffnungen Eniipfen, fiir die wir unfere beſten Kräfte ein:
zuſetzen bemüht find, dann ift es nicht gu vermeiden, daß aud) ein webmutvoller Ge-
danfe die Wiinfche berithrt, die ſchon bei den Vorbereitungen fic) nicht verivirflichen
liefen. Teils dufere, teilS aud) innere Sehwierigfeiten haben es verbhindert, dap
gerade in ber Seftion fiir Frauenberufe jede eingelne Frage von Fachleuten behandelt
werden, fann. Das trifft namentlich fiir die erjten beiden Tage, an denen Landiwirt-
{daft und Dienjthotenfrage fowie die gewerblide Arbeiterinnenfrage behandelt werden
jollen, in gewijjem Umfange ju. Diefe drei Berufsklaſſen umfajjen die größte Zabl
aller arbeitenden Frauen, und ſchon deshalb fam ifnen eine eingebende Crirterung
auf dem Rongreh ju. Aber gerade hier war e3 befonders ſchwierig, vom Wusland
Arbeiterinnen zu gewinnen, die ihre Sache felbjt führen können, tei weil die Arbeiterinnen
nicht in der Lage find, fic) frei fiir cine ſolche Reiſe zu machen, teils auch, weil es
ihnen nod) ganz; an Organifationen feblt, die bei den Berufsangebirigen Verſtändnis
fiir ire Lage erweckt bitten. Das trifft fiir die Dienftbotenfrage, wie aud) für die
ländlichen Urbeiterinnen nod febr allgemein yu. Solche äußeren Schwierigkeiten
ftanden den geiverblichen deutſchen Arbeiterinnen nicht im Wege. Aber hier hinderten
innere Griinde politijcher Natur die ſtärkſte Organifation deutſcher Arbeiterinnen, an
unjeren Verhandlungen teiljunefinen. Das mug von denen, deren Leben und deren
Arbeit der Sache der Arbeiterinnen angebhiren, bedauert werden. Aber eS überhebt
und nicht der Aufgabe, unfere volle Aufmerkſamkeit darauf zu richten, was fir eine
Verbefferung des dunflen Loſes der unendlichen Mebhrheit aller Frauen geſchehen fann.
Magen die Verhandlungen der Berufsſektion dazu beitragen, das Verantwortlicfeits-
gefühl immer weiterer Rreife fiir die Lage aller arbeitenden Frauen zu weden, gleich
viel, welchem Stande fie auc) angehören. Mögen fie dahin wirken, das Solidaritats-
gefühl der Frauen aller Stände und aller Lander ju friftigen, auf dab die Frau in
jeder ihrer Geſchlechtsgenoſſinnen nie die Konkurrentin, fondern ftets die Mitarbeiterin,
die Mitfimpferin jeben möge.
*
*
Soziale Ginridstungen und Seftrebungen. (Von Anna Edinger in
Frankfurt a. M.) Soziale Cinrichtungen und gemeinniigige Beſtrebungen gehen darauf
aus, die Schwachen im Kampf ums Dafein ju ſtärken, ihnen ein ſchöneres, froheres
Leben gu ſchaffen, als es vielen aus eigener Kraft miglid ijt. Daber find die fozialen
Beftrebungen fo mannigfaltig wie die Unjuldnglichfeiten der menſchlichen Natur und
wie die Harten des wirt}chaftlichen Lebens, denen fie entgegen wirfen follen.
Es war deshalb in der dritten Seftion nicht tunlich, wie es fiir große Kongrefje
fo wünſchenswert erfcheint, fiir jeden Tag eine einzige große Frage in den Mittelpuntt
der Beſprechung zu ftellen. Wir fonnten nur verjucen, das ungeheure Gebiet der
fosialen Arbeit in möglichſt logiſcher Reihenfolge auf feds Tage einjuteilen. Innerhalb
dieſes Rahmens wird jene Rednerin nun fagen, wie ihr menſchliches Clend und
menſchliche Schwäche entgegengetreten ift, und wie fie und ibre DMitarbeiterinnen
verſucht haben, fie zu bekämpfen.
Der erſte Tag iſt der älteſten Hilfsarbeit der Frau gewidmet, der Fürſorge für
Arme und Kranke. Wenn auch die private Armenpflege — die öffentliche wird in
Sektion 4 behandelt — ein unbeſtrittenes Arbeitsgebiet der Frau ijt, fo kommen dod)
gerade hier, im Sinne des Programmes unſeres Kongreſſes, vor allem die Veränderungen
in den Rechten und Pflichten der modernen Frauen in Betracht. Die Armenpflege iſt
heute eine Wiſſenſchaft geworden, und das ſo notwendige Zuſammenarbeiten der
oͤffentlichen und privaten Armenpflege wird an vielen Orten vorwiegend durch die
Frau bewirkt. Die erſte Rednerin, die in ihrem Lande organiſatoriſch tätig war,
wird uns in dieſe neue Art der Armenpflege einführen, die nicht nur ein gutes Herz,
ſondern auch umfaſſende Kenntniſſe erforderte. Frauen aus verſchiedenen Ländern
werden darlegen, wie Armenpflege bei ihnen daheim geübt wird. Von der Organiſation
der Wohltätigkeit in Berlin im beſonderen berichten zu laſſen, erſchien uns eine liebe
36
562 Dads Programm des internationalen Frauenfongreffes.
Pflicht im Andenken an die Begriinderin des entralblattes, die foviel fiir dieſe Organiſation
gewirft bat. Der Bericht iiber den badiſchen Frauenverein, den vielfeitigiten unſerer
vaterlindijden Frauenvereine, wird zeigen, wie es eine fiirjtlide Frau verjtanden bat,
alle Stande ibres Volkes fiir gemeinniigige Tatigteit zu begeiſtern und in ungewöhnlichem
Mae die Erfahrungen und Errungenjchaften einer Ortsgemeinde fiir die andere
nugbar zu machen. Cine ausländiſche Vertreterin der Beſtrebungen vom roten Kreuze
wird das Bild erweitern, und Spejialberichte iiber Befimpfung der Tuberfulofe,
unfere deutſche „Hauspflege“ und die ſchwediſche „Heimatspflege“ werden fich
anſchließen.
Der zweite Tag ſoll dem Schutze der Jugend, der Behütung vor den Gefabren,
die ibre firperlice, qeiftiqe und fittliche Entwidelung bedroben, gewidmet fein. Diefer
Taq wird ein befonders vielfeitiges Zufammenwirfen von Frauen aller Lander zeigen.
Rinderpflege und Dugendfiirforge ijt ja ein Gebiet, in dem die Frauen Vorrechte
haben, und in dem auch) das Gefiibl der Verantwortlichfeit fiir die Wobhlfabrt weiterer
Kreiſe bei unferem Geſchlechte am ſtärkſten entwidelt ijt.
Am dritten Taq wird das fcbwierigfte Gebiet der Frauenbewequng, die
Sittlichfeitsfrage, befprocden werden. Diefer Taq wird cine erſchöpfende Oberficht
bringen über die Bejtrebungen, durch welche die Frauen bis jest ibre Rulturmijffion
in bezug auf die Hebung der feruellen Moral zu erfiillen gefucht baben. Der Ramps
gegen das demoralifierende Prinzip der Reglementicrung wird von zwei in praktiſcher
Arbeit bewährten Fiibrerinnen der internationalen abolitionijtifcen Bewegung bebandelt
werden. Der breitejte Raum ijt der Darjtellung der pofitiven Ziele der Sittlichkeits—
beftrebungen geginnt. Die Berichte zweier auf humanitärer Grundlage arbeitenden
Frauen werden durd die Wusfiibrungen einer vom pofitiv criftliden Ctandpunft
ausgebenden amerifanijden Sosialreformerin wirffam unteritiigt werden. Die Referate
liber die in grofjiigigem Stile gebandbabte Rettungsarbeit franzöſiſcher und
amerifanifcber Frauen wird ſicherlich viel Vorbildliches fiir Deutſchland zutage fordern
und hoffentlich der deutſchen Frauenbewegung die Wichtigkeit der Beteiliqung an
Diefer Arbeit fowie an der Bekämpfung des internationalen Mädchenhandels rect
zu Herzen führen.
Der vierte Tag ließ ſich, ſowie auch der vorhergehende und nachfolgende,
einheitlicher geſtalten als die erſten und der letzte der Sektion. In der Gefangenen—
fürſorge ſind, wie auf ſo manchen anderen Gebieten, die engliſchen Frauen
bahnbrechend vorangegangen; ſo wird eine Engländerin das erſte Wort zu dem
Gegenſtande ſprechen; ihr folgen die verdienteſten deutſchen Vertreterinnen dieſer
Tatigfeit. Auch inbezug auf die Bekampfung des Alkoholismus ſieht England, mit
ibm bier die Vereinigten Staaten von Amerifa und die nordifden Lander Curopas,
auf eine längere Tatigteit juriid als unfer Baterland — freilicd) waren eS aud wobl
nod fcblimmere Suitinde als die unferen, die zum Rampfe aufforderten. Die
berufenen Streiterinnen des Auslandes werden boffentlich viele Deutſche zum Kampf
gegen den Alkohol begeijtern, der fo viel Familiengliid, fo viel Wohlſtand zerſtört.
Zwei Rednerinnen, die energifde, humorvolle Finnlanderin Frau Trvgqq-Helenius und
die LiebenSiviirdige Velgierin Mlle. Parent, kommen yum jiweiten Mal in furzer Zeit
qu Den deutſchen Frauen herüber. Das Werk der Züricher Frauen, die verfchiedenartigen
alfobolfreien Speijewirtidaften, wird von einer Mithegriinderin gefcbildert werden.
Alle wertvolle ſoziale Tätigkeit ijt Erziehung zur Selbjtbilfe. So ift der fünfte
Tag vielleicht der erfreulichfte der Seftion, da er fic) vor allem mit der wirkſamſten
Form der Selbjthilfe, dem Zuſammenſchluß der Arbeiterinnen in Berufsorganifationen,
beſchäftigt. Hier mufte der Disfuffion ein weiter Naum gelafjen werden, da wichtige
prinzipielle Streitfragen zu erdrtern find. Dem Zuſammenſchluß der Produzenten
fommt in Umerifa, neverdings aud in Franfreich, ein Zuſammenſchluß der Konſumenten
entgegen — nicht wie andere Urbeitgeberorgqanijationen als Gegengewidt gegen die
des AUrbeitnehmers gefchaffen, fondern zur Unterftiigung dieſer. Jn den Kaufern foll
Das Gefühl der Verantwortlichfeit erwedt und ausgebildet werden für die Arbeits-
bedingungen, unter denen die Ware hergeftellt wird.
fe
Das Programm be internationalen Frauenfongreffed. 563
Am fechften Tage endlich werden deutfde und ausländiſche Redner einzelne eigen:
artige Cinrictungen jcildern, die Nachbiloung verdienen. Die Verfammlungen werden
eingeleitet werden durd die Befprechung rationeller Frauentleidung, für die ja alle
eintreten müſſen, die die Frau leijftungsfabiger machen wollen, und gefdloffen durch
einen Appell an die Qugend, aus der uns ein reicher Nachwuchs fommen foll jur
Erfüllung der ſozialen Pflichten der Frau.
Sw wird die dritte Seftion des Kongreſſes ein buntes Bild defen geben, was
die Frau zur Beſſerung der ſozialen Lage angeftrebt und geleijtet hat. Sie wird
zeigen, was ibre Mitarbeit fiir das Gemeinwohl bedeutet. Cie wird fo hoffentlich auch
den Befähigungsnachweis filbren fiir das, was in Seftion 4 begriindet, erjtrebt und
erldutert werden foll — die Mnerfennung der Frau als mitverantwortlider, dem
Manne gleicberechtigter Staatsbiirgerin.
* *
*
Die rechtliche Stellung der Frau. (Von Freiin Olga von Beſchwitz
in Dresden.) Während die erſten drei Sektionen des Kongreſſes ein Bild von dem
Streben und dem forticpreitenden Wirfen der Frauentvelt de3 20. Jabrhunderts in
ihrer praktiſchen Betätigung vorfiibren werden, ijt es die Aufgabe der vierten Seftion,
den Spuren nachjugehen, die das Erwachen und die allmablice Entwicelung dev Frau
zur ſelbſtändigen Perfintichfeit ſchon in der legten Hälfte de3 19. Jahrhunderts, vielfach
nod) leiſe und zögernd, aber dod) merfbar, den herrſchenden Rechtsſyſtemen aufgedrückt
hat, und Wusblide auf die Rufunft ju eröffnen, die eine fortfchreitende peace
von den Feſſeln itberlicferter Geſetzesbeſchränkungen der Frau der neuen Zeit und durd)
fie der gejamten Menſchheit bringen wird. Alle Rechtsnachteile, unter denen die Frauen
heute nod) leiden, wurzeln in der geſetzlich anerfannten und fejtgelegten ebemanntliden
Autorität, die auf dem Prinzip der im Lauf des vorigen Jahrhunderts tiberall auf:
gebobenen Geſchlechtsvormundſchaft fußend, zwar mit ibr die eigentliche Dafeins-
berechtigung verloren bat, dennoch aber innerhalb der Che iweiter beftehen blicb und
nod) heute die Grundlage der familienredptlichen Beftimmungen in allen Landern
bildet. Die untergeordnete Stellung der Frau in der Familie, ibe Gebundenjein an
die Zuſtimmung des Mannes hat aus dem engeren Kreiſe auf die tweiteren wirkend,
auch ihre gegenwirtige Stellung in ber Gemeinde und im Staat beeinflupt. Wie das
Geſetz fie innerbalb der Familie an der Vollentfaltung ihrer cigenen Perſönlichkett, ihrer
weibliden Cigenart als Frau und als Mutter bindert, fo ftebt e3 auch der Vollentfaltung
ibrer weibliden und mütterlichen Fähigkeiten im Dienjte der Gemeinde und des Staates
entgegen; Familie, Gemeinde und Staat, in denen männliches und weibliches Weſen
fid) ergänzen follten, leiden mit ihr durch die unausbleiblicen Wirfungen eines cinfeitig
maännlichen Einfluſſes.
Von der Stellung der Frau in der Familie ausgehend, zu ihrer Stellung in der
Gemeinde und im Staat fortſchreitend, werden die Verhandlungen der vierten Sektion
den Frauen Gelegenheit bieten ihre Anſichten über geſetzliche Einrichtungen zum Ausdruck
zu bringen, die ſie am tiefſten berühren und auf deren Entſtehung und Weiterentwicklung
ihnen noch in den meiſten Ländern keinerlei oder doch nur ein ſehr geringer Einfluß
zuſteht. Die das Zivilrecht betreffenden Sitzungen werden einen Überblick über die
hiſtoriſche Entwicklung des Eherechtes geben, eine vergleichende Darlegung der Stellung
von Mann und Frau in den verſchiedenen Kulturländern. Auch wird die Stellung der
Frau als Mutter und ihr Recht, fremden Kindern Vormünderin gu fein, eingebend:
erörtert werden. Cine Ubereinſtimmung der Ehegeſetze der Nationen dreier Weltteile
wird ſich in vielen Punkten ergeben, eine Übereinſtimmung auch in den Haupt
forderungen, die die Frauen aller Lander an die Geſetzgeber ricten, und eS wird ſich
erweiſen, dah die Abweichungen in den Gefjegen lediglich auf der bereits erfolgten oder
noch yu erivartenden Erfiillung der cinen oder Der anderen dieſer Forderungen beruhen.
Die Verhandlungen werden ferner ein Bild von der Stellung der Frau im Vereinsrecht
und in der fostalen Gefeggebung geben, eine Darlequng der Arbeiterinnenfchuggefese
verfchiedener Lander und ibrer Wirfung auf die wirtſchaftliche Lage der Frau, eine
36*
564 Das Programm des internationalen Frauenfongrefies.
Befprechung der Alters: und Gnvalidengefebgebung, foweit die Frauen dabei in Betracht
fommen, Auch werden die Forderungen jum Ausdrud fommen, die die Frauen in
bezug auf die geſetzliche Anerfennung ibrer fiirforgenden Tatigfeit in Gemeinde und
Staat erbeben, ibre Anſprüche in bezug auf ibre Rechte und Pflichten in der Ausübung
fommunaler Amter. €8 wird iiber ihre Tatigfeit in der dffentlichen Armen: und
Waifenpflege, in den Schulbehsrden, als Mitglieder der Gewerbegerichte und befonderer
Gerichtshöfe fiir Jugendliche berichtet werden.
Alle dieſe Rechte, ihre volle Anerfennung als ſelbſtändige Rechtsperſönlichkeit und
Staatsbiirgerin fann, wie die Erfahrung heute ſchon lehrt, die Frau erft dann erringen,
wenn fie in Der Lage ijt, einen direften Cinflug auf die Verwaltung und Geſetzgebung
des griferen oder Eleineren Gemeinweſens, dem fie angebirt, der Gemeinde, des
Staates ausjuitben, wenn fie das gleiche fommunale, firchliche, politiſche Wahlrecht
befitt wie der Mann. NReferate aus den Ländern, in denen die Frauen bereits dieſe
Rechte, das aftive und 3. T. aud) ſchon das paffive Stimmredt ausiiben, werden den
Beweis erbringen, daß ihr bejjernder miitterlicher Cinflug ſchon nach kürzeſter Zeit in
den Fragen der Mäßigkeit, der öffentlichen Sittlichfeit, der Erziehung, der Fürſorge
fiir Rinder und Qugendlicde, Wlte und Kranke erfictlicy ijt. Die Frauen verlangen
volle Selbjtindigfeit und Selbjtverantwortlichfeit, fie fordern neue Rechte vor allem,
um ibre neuen Pflichten beffer erfiillen zu finnen, um den reichen Scag ihres miitter-
liden Empfindens mitzuteilen an alle, die defjen bedürftig find, ihre bis jest vielfad
gebemmten, niedergebaltenen Kräfte, der weiblichen Cigenart entfprechend zum Wohle
der Familie, der Gemeinde und de Stanted zur Geltung ju bringen.
* *
*
Wir laſſen nunmehr die ausführliche Tagesordnung der einzelnen Sektionen
folgen, ſoweit ſie bis jetzt feſtſteht.
Sektion J. Frl. Anna Blum, Spandau: Wie rüſtet die
deutſche Vollsſchule die Mädchen fiir das
Frauenbildung. Leben aus?
Frau Marie Loeper Houſſelle, Rhens a, Rh.: Die
— Stellvertt. Borfig. : foziale Arbeit der deutſchen Volksſchullehrerin.
: ‘ Srl. Bice Cammeo, Atalien: Die Beteiligung der
Montag, den 13. Juni vorm. 101/, bis 2 Uhr. | —— am öffentlichen Unterrichtsweſen in
=e . Italien.
Die Bildung der Frau für ihren Mutter— see: cee: F Rh *
beruf. Häusliche Erziehung. ——— ———— — —
Vorſitz und einl. Referat: Frl. Helene Lange, Berlin. | wee eee e ot Die erziehliche und fosiale Bes
Referate: Lady Aberdeen, England: Die Frau als beutung der Einheitsſchule.
fogiale Erzieherin. : : Frau HiertaRegius, Schweden: Bur Frage der
* —— Berlin: Frauenbildung und Arbeitshygiene in der Schule.
utter t : : :
: . ; Distuffion: Frl. Dr. phil. Eugenie Schwarzwald,
Tit —— Sfterreich Fal. Fanny Schmidt, Sawen
SL eet , Fel. Helene Gadte, Berlin = Friedenau. Fri.
Frau Henriette Goldſchmidt, Leipsig: Die Bil Dr. Qelene Stoder, Berlin.
bung der Frau fiir ihren Mutterberuf im Lichte . :
der Fröbelſchen Erziehung. Mittwod, ben 15. Juni, vorm. 9 bid 1 Whr.
Fraulein Lilly Dröſcher, Berlin: Die fozialen | Die Aufgaben der Madden: Forthildungs:
Aufgaben ded Volfstindergartens, fhule. Die Bolfsbildungsbeftrebungen
Distuffion: Frau Norrie, Danemark. Frau Clara fiir Frauen.
pride Berlin. Frau Helene von Forfter, | gorfig und einl. Referat: Fr. Hedwig Hehl, Berlin.
rg. Referate: Irl. M. Henſchte, Berlin: Die Aufgaben
Dienstag, den 14. Juni, vorm. 9 bis 1 Uhr. —— Organiſation der Madden: Fortbildungs-
, ‘. . P ule.
Die Bildung der Madden durch die Volts: Frvfen Eline Hanfen, Dänemark: Die hauswirt:
ſchule. Gemeinfame Erziehung der Ge: jhaftliche Bildung der Madden in Danemart.
ſchlechter. Einheitsſchule. Frau von Rudnay-Veres, Ungarn: Die Madden:
Borfig: Frl. Eliſabeth Schneider, Berlin. fortbildungsſchule in Ungarn.
Ginleitendes Referat: Frl. Gertrud Baumer, Berlin. Fel. Sofia Goudernaf, Bien: Die Madden:
Referate: Mrs, Emmeline B. Wells, Vereinigte fortbildungsſchule in Oſterreich.
Staaten: Die Erziehung der Mädchen in den Frl. Auguſte Förſter, Kaſſel: Der hauswiriſchaft⸗
Voltsfdulen der Vereinigten Staaten. lice Unterricht in deutſchen Schulen.
Das Programm des internationalen Frauentongreffes.
Frau Helene von Forfter, Nirenberg: Die Auf:
gaben der Frauen bei den Vollsbildungs—
beftrebungen.
Frau Cecilia Baath-Holmberg, Schweden: Volls⸗
hochſchulen für Frauen in Schweden.
Distuffion: Fru Hierta Retzius, Schweden. Frau
Marie Hecht, Tilſit.
Donnerstag, den 16. Juni, vorm. 9—1 Uhr.
Höhere Mädchenbildung. (Höhere Madden:
ſchule. Gymnaſium 2.)
Vorſitz: Frl. Margarete Poehlmann, Tilſit.
Einleitendes Referat: Frl. Helene Lange, Berlin.
Referate: Mrs. May Wright Sewall, Vereinigte
Staaten: Die körperliche Erziehung der
Mädchen in den höheren Unterrichtsanſtalten
der Vereinigten Staaten.
Fel. Danielſon, Schweden: Die höhere Madden:
bildung in Schweden.
Frl. Luiſe Winteler, Dänemark: Die höhere
Mädchenſchule in Dänemark.
Mme. Alphen Salvador, Frankreich: Die lycées
und colléges de jeunes filles in Frankreich.
Hel. Ilmi Hallftéen, Finnland: Die höhere
Mädchenbildung in Finnland mit befonbderer
Berückſichtigung der gemeinfamen höheren
Sehulen.
Dr phil. Cugenie Schwargwald, Oſterreich:
Die ghmnaſiale Madchenbilbung in Ofterreic.
Distuffion: Frl. Maria von Bredow, Charlotten:
burg. Frau Marianne Hainiſch, Oſterreich.
Freitag, den 17. Suni, vorm. 9—1 Uhr.
Das Univerfitatsftudium der Frauen.
Vorſitz: Frau Adelheid Steinmann, Freiburg.
Cinleitendes Referat: mod) unbejtimmt,
Referate: Frau Marianne Weber, Heidelberg: Die
Beteiligung der Frau an der Wiſſenſchaft.
Dr phil. Anna Hude, Danemarf: Das Uni:
verſitätsſtudium der Frauen in Danemart.
Miß Frances H. Melville, Schottland: Das
Frauenftudium in Grofbritannien.
Miz Carey Thomas, Vereinigte Staaten: Die
Univerfitdtsbilbung der Frauen in den Ber:
cinigten Staaten.
Frl. Dr Kathe Windſcheid, Leipzig: Das Frauen:
ftudium in Deutſchland.
Distuffion: Fri. Dr jur. van Dorp, Holland.
Frl. Helene Lange, Berlin.
Sonnabend, den 18. Juni, vorm. 9—1 Uhr.
Die Beteiligung der Frauen am
Unterrichtsweſen.
a) als Lehrerinnen;
b) an der Schulverwaltung;
Vorſitz: Frl. Gertrud Baumer, Berlin.
Einleitendes Referat: Frl. Maria von Bredow,
Berlin.
Referate: Fri. Marie Martin, Berlin: Die Mus:
bildbung der Volksſchullehrerinnen.
Frl. Augufte Roſenberag, Ungarn: Die Stellung |
der Lebrerinnen in Ungarn.
Mag. art. Joa Falbe:Hanfen, Dänemark: Die
Lehrerinnenbildung in Dänemark.
Fri. Fredritta Mord, Norwegen: Die Wusbilbung
der Lehrerinnen fiir die höheren Mädchenſchulen.
Miß Derrid, Kanada: Frauen als Univerfitits:
lehrer.
565
Mrs. H. G. Fawcett, England: Die Stellung
ber Frauen unter dem englifden Unterrichts—
aefes von 1902,
Frau Kuczalska-Reinſchmit, Polen: Die Ber:
tretung ber Lebrerinnen im Kreisſchulrat.
Frl. Anna Marie Riftow, Dortmund: Die Frage
ber Mitarbeit von Frauen in der fommunalen
Schulverwaltung in Deutſchland.
Frau L. Rurlinden, Bern: Die Beteiligung der
Frauen an der Schulverwaltung in der Schweiz.
Distuffion: Frl. Margarete Poehlmann, Tilfit.
rl. Elifabeth Altmann, Soeſt. Frl. Olga
Stieglitz, Berlin.
Seftion II.
fraucn-Grwerk und -Serufe.
Borfisende: Frl. Alice Salomon.
Stellvertretende Vorfigende: Frl. Elſe Liiders.
Montag, den 13. Juni, vorm. 101/, bis 2 UWbr.
Landwirt{[daft und Häusliche Dienfte.
Vorfig und cinleitendes RNeferat: Frl. Elſe Lüders,
Berlin.
I. Die Frau als Landwirtin, Landarbeiterin
und Gärtnerin.
Referate: Miß Terefa F. Wilfon, England: Die
Frau als Landwwirtin.
Frl. Dr Elvira Caftner, Marienfelde: Gartenbau
alé Beruf fiir Frauen.
Counteß of Warwid, England: Die Frau in der
Landwirtſchaft.
rau Beſobecſoff, Rußland: Die Stellung der
ruſſiſchen Landarbeiterinnen.
Distuffion: Frl. Ida von Kortzfleiſch, Hannover.
Frau E. Bohm, Lamgarben. Frau Marie
Wegener, Breslau.
II. Dienftbotenfrage.
Referate: Frau Regine Deutſch, Berlin: Die Dienft:
botenfrage in Deutſchland.
Frau Caroline von Riebauer, Ofterreidh: Die
Dienftbotenfrage in Ofterreid.
Mrs. Mary Churd Terrell, Ehrenpräſidentin
ded Nationalvereins der farbigen Frauen,
Ver. Staaten: Die Lage der farbigen Frauen
als Dienftboten.
rl. Margarete
Koſchnitzli, Berlin.
Dienstag, den 14. Juni, vorm. 9 bis 1 Uhr.
Die Lage ber gewerbliden Arbeiterinnen,
Vorſitz und cinleitendes Referat: Fraulein Alice
Salomon, Berlin.
I. Fabrifarbeiterinnen.
Referate: Frl. Henriette van ber Mey, Holland:
Die Lage der Urbeiterinnen in Holland.
el. Dr Marie Baum, Karlsruhe: Die Fabril:
arbeiterin in Deutſchland.
Miß Margaret G. Bondfield, England: Induſtrielle
fyrauenarbeit.
Frl. Rofita Schwimmer, Ungarn: Die Oſterreichiſch⸗
Ungariſche Arbeiterinnenbewegung.
Mrs. Lydia Kingsmill Commander, Ver. Staaten:
Qnbuftrielle Fraucnarbeit und Mutterſchaft.
Distuffion: Miß Wadge, England.
Il. Seimarbeiterinnen.
Referate: Frl. Margarete Friedenthal, Berlin: Die
Lage der Heimarbeiterinnen in Deutſchland.
Mrs. Watfon- Lifter, Vittoria, Wuftralien: Heim:
arbeit in Auſtralien.
Distuffion......
Mittwod, den 15. uni, vorm. 9 bid 1 Uhr.
I. Die Frau in Handel und Verkehr.
Vorfigende: Frau Broil, Frankfurt a, M.
Cinleitendes Referat: Frl. Eva von Rov, Königsberg.
I. Die Frau im Handel.
Meferate: Frl. Agnes Herrmann, Berlin: Die
Lage der weibliden Handelsangeftellten in
Deutſchland.
Mrs. Conſtance Hofter, England: Die Aus—
bilbung von Bureauangeftellten.
Frau Ajtrid Paludan-Miiller, Danemarf: Die
Lage ber HandelSgebilfinnen in Danemart.
Distuffion: Frl. Erna Wönkhaus, Berlin.
IL. Bahn-, Poft:,Telegraphen-Beamtinnen
Referate: Frl. Karoline Gronemann, Oſterreich:
Die Lage der Beamtinnen in —
Frl. Dr Rate Schirmacher, Paris: Die Lage
der — Beamtinnen.
Diskuſſion: feel “Rofita Schwimmer, Ungarn.
Donnerstag, den 16. Suni, vorm. 9 bis 1 Uhr.
Krantenpflege.
Vorſitz und cinleitendes Referat: Frau Elsbeth
Krutenberg, Kreugnad.
Referate: Mrs. Bedford-Fenwid, England: Die
Krantenpflege alS Frauenberuf vom er—
zieheriſchen, wirtſchaftlichen und ſozialen
Standpunkt.
Miß L. L. Dod, Ver. Staaten: Krankenpflege in
Amerifa.
Schwefter Agnes Karl, Berlin: Die juliinftige
Ausbildung der deutſchen Krantenpflegerinnen.
Mrs. Goodrich, Ver. Staaten:
Kranfenpflegerinnen in Wmerifa,
Miß Maud Banfield, Ber. Staaten: Ausbildung,
Lage und AlterSverforgung der amerifanijden
Kranfenpflegerinnen.
Dr Ellen Sandelin, Schiweden: Die Organifation
der Kranfenpflegerinnen in Schweden.
Distuffion: Frau Emmyh Gordon, Wiirgburg.
Miß Mary ©. Thornton, Ber. Staaten. Lilli
Freifrau von Bijtram, Berlin Seblendorf.
Frau Oberin Beder, Berlin-Rebhlendorf.
Freitag, den 17. Juni, vorm. 9 bis 1 Uhr.
Kunft, Kunftgewerbe und Literatur.
Vorſitz: Frl. Sophia Goudftitfer, München.
Ginleitendeds Referat: Fri. Natalie von Milde,
Weimar.
J. Runft.
Referate: Mrs. Adelaide Johnſon, Ber. Staaten:
Die hinftlerifdje Tatigteit der Frau, ibr Einfluß
einft und jept.
Frl. Marie von Keudell, Berlin: Ausbilbungs:
moglichleiten für Malerinnen in Deutſchland.
Mrs. Dignam, Kanada: Bia Resanes und ibre
Organijationen,
~~ ™
z
Die Lage der
Das Programm des internationalen Frauenfongrefics.
Mrs. Alice Smith Merrill Horne, Ber. Staaten:
Runft.
der Biibnentiinftlerinnen.
Mrs. Loeber, Ber. Staaten: Die Lciftungen der
Frauen in ber Mufif.
Distuffion: Fran Sabine Lepfius, Berlin.
Il. Runftgewerbe.
Referate: Frau Charlotte Klein, Danemarf: Die
tunftgewerbliche Tatigteit der Frau.
Distuffion . . . .
III. Literatur und Journalismus.
Referate: Fri. von Biftram, Wiesbaden: Die
Frauen in der deutſchen Literatur.
Lady Marjorie Gordon, England: Die Frauen
in ber englifden Literatur.
Mrs. Seffie Adermann, Ber. Staaten: Wimerifa-
niſche Sournaliftinnen,
Frau Eliza Ichenhäuſer, Berlin: Qournatliftinnen
in Deutidland.
Mrs. Whiting, Ber. Staaten:
Schriftſtellerin.
Diskuſſion: Mrs. Bulſtrode, England.
Sonnabend, den 18. Juni, vorm. 9 bis 1 Uhr.
Wiffenfdaftlide Berufe.
Borfis und einleitended Referat: Frl. Dr med,
Agnes Bluhm, Berlin.
I. Der Lehrerinnenberuf.
Referate: Frl. Maria Liſchnewsla, Spandau: Die
Lage der Volksſchullehrerinnen in Deutſchland.
atl. Dr Ella Menſch, Berlin: Die Frau als
Dogentin.
Mm. Alphen Salvador, Frantreich: Die Laae
der Lebrerinnen in Frankreich.
If. Andere wiffenfdaftlide Berufe.
Referate: Reverend Anna Shaw, Ber. Staaten:
Die Frau als Predigerin.
Mrs. Carr, Ver. Staaten: Die Frau als Advofatin.
Mrs. Gordon, D. Se., Schottland: Die Frau
in der Wiſſenſchaft
Dr Ellen Sandelin, Schweden: Die Frau als
Arztin.
Die Frau als
Frl. Dr Franziska Tiburtius, Berlin: Die
Stellung der Arztinnen in Deutſchland.
Mrs. Hattie A. Schwenderer, M. D., Ver.
Staaten: Die Tatigheit der Arztinnen in
Amerifa.
Frau Dr Saroline Steen, Norwegen: Der
hygieniſche — durch weibliche Arzte.
Distujfion ..
Sektion III.
Sosiale — und Be-
ſtreb ungen.
Vorſitzende: Frau Anna Edinger. Stellvertr. Vor—
ſitzende: Frau Katharine Scheven.
Montag, den 13. Juni, vorm. 10'/, bis 2 Uhr.
Armenpflege, Rranfens und Relonvales:
aentenfiirforge.
Vorſitz und cinleitendes Referat: Frau Anna
Edinger, Franffurt a. M.
Referate: Frau Agda Montelius, Sdhweden: Grund:
fage moderner Armenpflege.
Das Programm des internationalen Frauentongreffes.
Frau Hertha v. Sprung, Ofterreich: Wrmen:
pflege iu Oſterreich.
Frau Louija Thompfon, Canada:
visiting in Canada,
Fraulein Luife Roloff, Berlin: Die Organifation
der privaten Armenpflege in Berlin.
Frau Alice Bensheimer, Mannheim: Die
Be:
District
Organijation ded badijchen Frauenvereins.
frau Dr Alvida Harbou-Hoff, Danemart:
fampfung der Tuberfulofe im Rindesalter.
aie Hella Fleſch, Franfjurt a. M.: Die Haus:
pflege.
Frau K. Bohmann, Schweden: Die Heimats:
pflege unter den Armen.
Distuffion: Fri. Vr Ellen Sandelin, Schweden.
Miß Olga Hers, England. Frau Bald,
Berlin. Frau Karoline Hérics, Ungarn.
Sgra. Elija Boſchetti, Italien.
Dienstag, den 14. Quni, vorm. 9 bis 1 Uhr.
Fürſorge fiir Kinder und Qugendlide.
Vorfig: Frau Hedwig Winkler, Hamburg.
Ginleitendes Referat: Frau Marie Hecht, Tilfit.
Referate: Fraulein Lydia von Wolffring, Ofterreich:
Rinderfilrforge.
Frau Anna Plothow, Berlin: Kinderborte.
Frau Malvi Fuchs, Ungarn: Kinderſchutz.
Frau Hanna Rieber-Bdhm, Berlin: Das Für—
jorge Erjichungsaefey.
Mrs. Emily Cummings, Canada: Custodial
care for feeble minded women of child-
bearing age.
Frau Katti Anfer- Maller, Norwegen.
Frau Vibecke Salicath, Dänemark: Heime fiir
uncheliche Miitter.
Frau Bertha Turin, Stalien: Verein der Freun-
dinnen junger Madchen,
Distulfion: Fraulein Scholl, Atalien.
Vollmar, Berlin.
Mittwodw, den 15. Suni, vorm. 9 bis 1 Uhr.
Beftrebungen zur Hebung der Sittlidfeit.
Borfis und cinleitendes Referat: Frau Katharine
Scheven, Dresden.
Heferate: Frau Prof. Michelet, Normegen: Sittlic-
keitsbewegung in Norwegen.
Frau Wyngendts-Franken-Dyſerinck, Holland:
Reglementierung und ſanitäre Aufſicht der
Proſtitution in Solland.
Mime. Avril de St. Croix, Frankreich: Abolitionis:
mus in Frankreich.
Mrs. Grannis, Wmerifa:
Purity.
Frl. ** Pappritz, Berlin: Die poſitiven Auf-
gaben der Foderation.
Grajin von Hogendorp, Holland: Die inter:
nationale Befampfung des Mädchenhandels.
Mrs. Kate Waller Barret, Vereinigte Staaten:
Rettungsarbeit.
rl. Fermfteder, Frankreich: L’Oeuvre des
liberées de St. Lazare.
Distuffion: Frl. Brondgeeft, Franfreid. Mrs.
Glarence, St Allen, Ber. Staaten. Frau
Eggers⸗Smidt, Bremen.
DonnerStag, den 16, Suni, vorm. 9 bis 1 Wor.
Gefangenen: Fiirforge und Alfobhol:
bekämpfung.
Vorſitz: Frl. Ottilie Hoffmann, Bremen.
Fraulein
Promotion of social
567
Ginleitendes Referat: Frau Hildegard Wegſcheider—
Biegler, Dr phil., Berlin.
I, Gefangenen: Filrforge.
Referate: Lady Conftance Batterfea, England.
Frl. Marie Mellien, Berlin.
Frl. Thella Friedlander, Berlin: Die Reform
ber deutſchen Frauengefangnific.
Fru Raudi Blehr, Norwegen: Polizeimatronen,
Distuffion.
Il, Alltobolbefampfung.
Referate: Miß Belle Kearney, Ver. Staaten: Die
Belimpfung des Alkoholismus, cine Pflicht
der Frauen.
Mile. Marie Parent, Belgien.
Fröken Ina Rogberg, Schweden.
Frau Alli Trygg Helenius, Finnland.
Frau Hedwig Bleuler-Wafer, Dr. phil., Schweiz:
Tiber den Einfſluß des Alkohols auf das Ber-
hältnis der beiden Geſchlechter.
Distuffion: Miß Belle Hungtington Miz, Vereinigte
Staaten. Lady Batterfea, England,
Freitag, den 17. Juni, vorm. 9 bis 1 Uhr.
Verufsorganifationen und Genoffen-
ſchaftsbewegung.
Vorſitz: Frl. Clara Elben, Hamburg.
— Referat: Frl. Gertrud Dyhrenfurth,
rlin.
Referate: Frl. Elſe Lüders, Berlin: Organiſation
der deutſchen Arbeiterinnen.
Miß Mary Macarthur, England: The Women’s
Trade-Union League.
Frau WAlbobelli: Benetti, Italien: Italieniſche
Urbeiterinnenberwegung.
Frau Marie Lang, Oſterreich: Arbeiterinnen:
Organifation in Ofterreic.
Mrs. Maud Nathan, Ver. Staaten: The Con-
sumer’s Leage.
Disfuffion: Fri. de (a Croix, Berlin. Fel. Mar:
qaretha Friedenthal, Berlin. Dr. Elijabeth
Jaffé von Richthofen, Heidelberg.
Sonnabend, den 18. Suni, vorm. 9 bid 1 Uhr.
Verſchiedene Wohlfabrtscinridtungen,
Rechtsſchutzſtellen fiir Frauen, RKlubs,
Heime uſw.
Vorfit: Frl. Anna Papprif, Berlin.
Ginleitendes Referat: Frl. Therefe Röſing, Liibed.
Referat: Frau Margarete Pochhammer, Berlin:
Reform der Frauentleidung,
Distuffion.
Referet: Frau Bennewitz, Galle: Rechtsſchutzſtellen.
Diskuſſion.
Referate: Mrs. Alfred Booth, Liverpool: Settlements.
Frl. Elſe Federn, Oſterreich: Settlements.
Distuffion.
Referat: Miß Emily Janes, England: Working
girls’ clubs.
Distuffion: Frau Elſa Strauß.
Referat: Frl. Adelheid von Bennigfen, Hannover:
Erjiebung der Jugend gu ſozialen Pflichten.
Distuffion.
Seftion IV.
Die redjtlidje Stellung der Fran,
Borfigende: Freiin Olga von Beſchwitz. Stell:
vertretende BVorfigende: Frl. Dr Gottheiner.
568
Montag, den 13. Suni, vorm. 101/, bis 2 Uhr.
Die givilredhtlide Stellung der Frau.
Vorjig und einleitendes Referat: Frau Marie
Stritt, Dresden.
I], Wirkungen der Ehe im allaemeinen.
Referate: Frau M. Weber, Heidelberg: Die
hiſtoriſche Entwidelung ded Eherechtes.
Mule. Dr Popelin, Belgien.
Miß Sheriff Bain, Neufeeland: Laws concerning
Domestic Relations.
Mrs. Blantenburg, Ber. Staaten: The evolution
of American Law concerning Women.
Mrs. Watjon: Lifter, Bictoria.
Distuffion: Frau Krieſche, Dresden. Frau Proelf,
Berlin.
IL. Eheliches Giiterredt.
Referate: Wine. Oddo Deflou, Frantreich.
Frau Dr jur. Rafdfe, Berlin.
atl. Dr jur. van Dorp, Holland.
Mrs. Alfred Booth, England: Married Women’s
Property Laws.
Disfuffion; Frau Salinger, Dresden.
Dienstag, ben 14. Juni, vorm. 9 bis 1 Uhr.
Die jivilredtlide Stellung der Frau.
Vorfig und cinleitendes Referat: Frau von Forfter,
Riirnberg.
I, Elterlide Gewalt.
Referate: Frau Boos-Jegher, Schweiz.
Frölen Cedernſtiöld, Schweden.
Fru Ragna Schou, Danemart.
Mrs. M. L. Carr, Ber. Staaten,
Distuffion: Frau €. Camp, Dresden,
Il. Stellung der unebeliden Mutter und
ihres Kindes.
Referate: Mme. d'Abbadie d'Arraſt, Frankreich.
Miß Clifford, England.
Frl. Dr jur. Duenfing, Munchen.
Diskuſſion: Frou Bennewiz, Halle. Frl. Kirch, Frank⸗
furt a. M. Miß Sheriff Bain, Neuſeeland.
IT, Vormundſchaft.
Referate: Frau Marie Spiger, Oſterreich.
Frau Eichholz, Hamburg.
Frl. R. Schwimmer, Ungarn.
Diskuſſion: Frl. Röſing, Luͤbeck.
Mittwoch, ben 15. Juni, vorm. 9 bis 1 Uhr.
Die Frau in ber fozialen Geſeßgebung
und im Vereinsrecht.
Vorſitz und einleitendes Referat: Fri. A. Salomon,
Berlin.
I, Arbeiterinnenſchutzgeſetze.
Referate: Frl. H. Simon, Berlin,
Mine. Rutgers Hvitiema, Holland.
Frau Sted, Schweiz.
Distuffion: Mrs. Montefiore,
Simfon, Breslau.
atl, Dr Gottbeimer, Berlin.
Il. Alters- und Snvalidenverfiderung.
Referate: Fri. Adele Schreiber, Berlin: Die Alters:
und Jnvaliditatsverficherung in Deutichland.
Distuifion: ,
England, Frau
"_* ee © we we
Das Programm des internationalen Frauenlongreſſes.
II. Vereinsgeſetzgebung.
Heferate: Frl. L. G. Heimann, Hamburg: Die
Frau im deutfden Vereinsrecht.
Distuffion.....
Donnerstag, den 16. Juni, vorm, 9 bis | Uhr.
Frauen in fommunalen Amtern.
Vorfigende Fri. Paula Miller, Hannover.
Ginleitendes Referat: Frl. v. Welzed, Berlin.
I. Gn der Sffentliden Armen: und Maifen:
pylege.
Heferate: Miß Olga Herg, England: Poor Law
Guardians.
Frau Profeffor Montelius, Schweden.
Frau Proelf, Berlin.
Baroneffe Gripenberg, Finnland.
Distuffion: Frau Bohn, Konigsberg.
Il. In den ftadtifdhen Shuldeputationen.
Referate: Froten Cedernſtiöld, Schweden.
Frl. Gertrud Baumer, Berlin.
Miß Sheriff Bain, Neuſeeland.
IH. Jn beſonderen Gerichtshöfen.
Referate: Mme. Vincent, Frankreich: La Prudhomie
en France.
Mi, Sadie American, Ver. Staaten: The Juvenile
Courts in The United States.
Frl. don Roy, Königsberg: Die Kaufmannsgeridte
und bie Frauen.
Distiffion . . . ,
Freitag, den 17. Juni, vorm. 9 bis 1 Uhr.
Das fommunale und firdlide Wahlrecht
der Frau,
Vorfig und cinleitendes Referat: Fel. Dr Gottheiner.
I, Das fommunale BWabhlredt.
Referate: Fru Bagger-Weif, Dänemark.
Miß Emily Sanes, England.
Frölen Gina Krog, Rorwegen.
Atl, Adele Gerber, Oſterreich.
II, Das kirchliche Wahlredt.
Referate: Frl. P. Miller, Hannover.
Frau Stocker Caviezel, Schweiz.
Fru BaggerWeiß, Danemart.
Mrs. Bewick Colby, Ver, Staaten.
Distuffion: Miß E. Janes, England.
Sonnabend, den 18. Juni, vorin. 9 bis 1 Uhr.
Das politifde Wablredt der Frau.
Vorſitz und einfeitendes Neferat: Fr. Ita Freuden:
berg, Munchen.
Referate; Rev, Anna Howard Shaw, Ber. Staaten.
Frau Dr A. Jalobs, Holland.
Dime. Chaponniére-Chair, Schweiz.
Mrs. Fenwick Miller, England: The effect of
Woman's Sutirage on Women themselves.
Aru Norrie, Dänemark.
Mrs. Hufted Harper, Ver. Staaten.
orl, De Schirmacher, Baris: Die prattifde Not:
wendigleit des Frauenſtimmrechts.
Frölen Dr Wahlſtröm, Schweden.
Mrs. Merril Horne, Ber. Staaten: The
possibilities of the Woman Legislator.
Mrs, Watfon-Liftev, Vittoria.
Distuffion: Mrs. M. L. Carr, Ber. Staaten.
Verfammlungen und Vereine.
Allgemeine Verſammlungen
im Großen Saale der Philharmonie.
Montag, ben 13. Juni, abends 8 Uhr:
Der Stand der a 7 tad in Ben
Rulturlindern.
Vorſitz: Frau Helene von Forfter.
Referentinnen; Fri. Anna Pappritz (Deutſchland),
Mrs. Wood Swift (Ber. Staaten), Mrs.
Cummings (Kanada), Baroncije Gripenberg
(Finland), Sgra. Mariani (Stalien), rl.
Hida Sulyok (Ungarn), Mrs. Watjon-Lifter
(Auſtralien).
Dienstag, den 14. Juni, abends 8 Uhr:
Frauenlöhne.
Vorſitz: Frl. Alice Salomon.
Referentinnen: Frau Marie Lang (Ofterreids):
Die unbewertete Arbeit der Hausfrau.
Leiſtung. Frl. Engel - Reimers (Berlin):
Staatlide Lobnpolitil,
Donnerstag, den 16. Juni, abends 8 Uhr:
Das Verhaltnie der Frauenbewegung
zu den politiſchen und khonfeffionellen
Varteien.
Vorſitz: Frl. Helene Lange.
Referentinnen: Mrs. May Wright Sewall (Ber.
Staaten), Frl. Sta Freudenberg (München).
Lady |
Aberdeen (England): Bleicher Lohn für gleiche
569
Freitag, den 17. Suni, abends 8 Uhr:
Franenhimmredt.
Vorſitz: Frau Marie Stritt.
Referentinnen: Wrs. Garrett Fawcett (England),
Mrs. Chapman Catt (Ber. Staaten), Mad.
Maria Martin (Franfreieh), Miß Sufjan
BH. Anthony (Ber. Staaten), Friter Gina
Krog (Norwegen), Mrs. Napier (Neufeeland),
Rev. Anna Shaw (Ver. Staaten).
Sonnabend, den 18. Suni, nachm. 4 Uhr:
Grundlagen und Biele der Franen-
bewegung.
Vorſitz: Frau Marie Stritt.
Referentinnen: Mrs. Charlotte Perlins Gilman
(Her, Staaten): Cine neue Theorie der Frauen:
frage. Frl. Helene Lange (Berlin): Das
Endziel ber Frauenbewegung.
— Schluß ded Kongreſſes. —
Berſammlung fiir junge Mädchen.
Freitag, den 17. Aunt, nachm. 5 Uhr, im Oberlicht
ſaal der Philharmonie:
Die heranwachſende Zugend und die
Frauenbewegung.
Vorſitzende: Frl. Alice Salomon.
Referate: Frl. Gertrud Baumer (Berlin): Neue
aciftiqe Entwickelungsmöglichkeiten. Frl. Lily
Dröſcher (Berlin): Beruf und Lebendsinbalt.
Fel. Bertha Pappenbeim (Frantfurt a. M.):
Soziale Hilfsarbeit.
Distuffion.
Gintritt frei.
-- Gyn
Versammlungen und Vereine.
Der Grafin Rittbergſche Hilfs-Schwejtern-Verein,
Es ift mir bic LebenSaufgqabe juteil geworden,
den von ber unvergeßlichen Grafin Hedwig Rittberg
vor 28 Qabren gum Zweck der Privat: Pflege
gegründeten Hilſs-Schweſtern-Verein zu (citen.
Ich finde nicht genug Schweſtern vor, um allen
Anforderungen an Pflegen zu geniigen, ohne meine
Schweſtern zu überanſtrengen. Da wende ich mich
an dieſer Stelle namentlich an diejenigen Frauen
unter ung, denen es im Alter von 25 bis BS Jahren
nicht befehieden war, fic) gu einem Beruf auszubilden
und die fich jest danach febnen, einen folden zu
ergreifen, der innerlich friſch und glücklich macht
und äußerlich vor Sorgen
Zulunft fidert.
Der Beruf der Krantenpflegerin niitt wie fein
anberer unfere echt weiblichen mütterlichen Anlagen
aus, im Helfer und Sebaffen,
Erjiehen, Behüten und Anpaffen.
Der Menſch in der Krankenpflegerin ift die
Hauptſache, dee gute Charafter voll ftarfer Willens-
fraft und Opferfähigkeit.
in. Gegenwart und
Berjorgen und |
Bei unferen vorgeſchrittenen medizinifden und
ſchirurgiſchen Verbaltniffen müſſen wir dabin
fommen, daß die Gehilſin bed Arztes, dic Kranten:
pflegerin, aus gebilbeten Standen beraus wächſt
und unter dieſen aus benjenigen, two Wabrbeits:
liebe und Pflichttreue bie Grundlage der fitilicd
religidjen Erziehung bilder.
Ganz unwillkürlich fällt und Krantenpflegerinnen
cin Stiid Arbeit zur Lojung ber Frauenfrage, wie
| der fogialen Frage tiberbaupt, zu, das wir mit
Freuden ergreifen. Wir können die treueften
Gehilfinnen des Staated fein und find als ſolche
ſchon äußerlich dazu organijiert im bem grofen
Werband der deutſchen Bereine vom Roten Kreuz,
bem unfer Rittbergſcher Verein feit 4 Jahren
angehört. Wir baben damit die herrliche Pflicht
übernommen, in Kriegs- und Notſtandszeiten fofort
hilfsbereit zu fein. Unſer Verein in der
v. d. Heydtſtraße beſteht aus tüchtigen, geſchulten
und bewährten Pflegekräften. Wir halten durch
| treue, freudige Pflichterfüllung anf die Ehre unfreds
| RufeS und heißen newe Mitglieder herzlich will—
570
fommen, die in gleicher Geſinnung mit und arbeiten,
mit uns ein befriedigended, audfiillendes Leben
fiibren wollen
Su viel finnen es nie twerden; haben wir
feinen Blog mebr, fo ſchaffen wir neuen. —
Das Mebalt unſerer Sehweftern nad) koſtenloſer
Ausbildung betragt bei freier Station x. monatlich
einſtweilen 25 bis 35 Mark. — Für Erbolungs:
tage, Anvalidengeiten, Altersverjorgung haben wir
unfer hübſches, im grofen Garten gelegenes febr
behagliches Heim in Neus BabelSberg, 1885 yon
Grafin Rittberg gebaut.
Möchten fich Viele, Biele und yon den Aller:
beften unferem Berufe der RKrantenpflege an:
ſchließen.
Ich kann aus vollſter Uberzeugung und Er:
fahrung davon ſprechen, wie er befriedigt und
erfreut, wenn man ihn geiſtig vertieft auffaßt.
Elsbeth von Keudell,
Oberin bes Gräfin-Rittbergſchen Hilfs-Schweſtern—
Vereins. Berlin W. 10, v. d. Heydtſtraße 8.
Sprechſtunden zwiſchen 1 und 4 Uhr.
Bur Frauenbewegung.
Frauentag in Düſſeldorf
am 23. und 24. Juni 1904,
Im Anſchluß an die Diijjelborfer Gartenbau
Ausftellung wird cin Fraucntag mit folgenderm
Programm ftattfinden:
I, Taq.
Begriifung.
Saul: und Arbeitergarten;
Frau Wegner: Breslau,
Wnfiedelungen gebildcter Frauen auf dem Lande;
Frl. Mug. Förſter-Caſſel.
Der Gartenbau in ſeiner hygieniſchen und äſthe—
tiſchen Bedeutung;
Frl. Dr Caſtner-Marienfelde.
Einfluß der Frau auf die Landſchaftsgärtnerci;
Fel. Emmy d¢ Leeuw: Bertin.
Nber Gartneret in der Erziehung;
Frau Hedwig Heol: Berlin.
Rober Allohol und Objtveriwertung;
Frau Clara Lang: Sweibritden.
Il, Tag.
Runftgewerbliche Beltrebungen der Frauen;
rau Direftor Frauberger-Diffelborf.
Die Erziehung der Frau jue Kunſt;
Freiherr pon Perfall> Coin.
Die fosiale Bedeutung der Kunſt;
Frl. Ita Freudenberg: Minden.
=r
Zur Franenbewegung.
NRachdruck mit Quellenangabe erlaubt.
* Die Raiferin hat fics iiber dads Madden:
Aymunafium in KarlSrube durch den Direltor
desſelben Bericht erftatten laſſen, und, wie berichtet
wird, nicht nur ibr reges Intereſſe fiir die Gymnaſial⸗
bilbung der Madchen geäußert, fondern auch die
Rotwendigkeit von Méabdchengymnafien _ cin:
dringlich betont.”
* Die Höhere Handelsfdjute fiir Madden in
Köln hielt unter dem Vorſitz beds als Prüfungs
; und ¢8 zeigt fic) von Jahr zu Jahr mebr,
kommiſſär der Königlichen Regierung beftellten Seren |
lande erfolgt, fo daß der Frage der Einrichtung von
Profeffor Dr Wirminghaus ant 21, und 22. März ihre
ſchriftliche und am 26. und 28. Mary ihre mündliche
dies jaährige Abſchlußprüfung ab. Bon den ab:
gebenden Schiilerinnen beftanden 9 mit dem Geſamt—
praditat febr gut, 11 mit gut und 7 mit geniigend.
Die Priifung gab wieder in erfreulicder Weiſe
Zeugnis von der umfaffenden, ernften Arbeit dicfer
in ihrer Art wie in ihren Bielen bis jest noch
immer cinjigen fanfminnijden Bildungsanſtalt fiir
Madden. Diejenigen Abfolventinnen, welche fofort
in dic Praris gu treten wünſchen, haben gum Teil
fon vor der Abſchlußprüfung bet angeſehenen
Firmen paffende cintommliche Stelungen erbalten,
ſowohl in ber ftetiq wachſenden Nachfrage nach
gründlich und ausgibig geſchulten weiblichen Bureau:
friiften, wie in ben aud immer weiteren Kreiſen
cingebenden Betwerbungen um Aufnahme in dte
Unftalt, wie febr cine derartige Schule den Be:
dürfniſſen unferer auf allen kaufmänniſchen und
induftriellen Gebieten fo machtvoll aufftrebenden
Heit entſpricht. Für bas ant 21. April beginnende
neue Scbuljabe find wieder zahlreiche Anmeldungen
aus allen Teilen des Reichs und aus dem Mus:
Parallelflaffen ernftlich naber getreten werden mußte.
Schriftliche und mündliche Unmelbungen, bei weldien
bad Abgangszeugnis einer sebnllaifigen höheren
Toöchterſchule und ber Geburtsſchein vorgulegen find,
werden auch während ber Ferien im Direltions-
bureau, Slapperbof 28, entgegengenommen. Dic
Sprechſtunden des Direktors find während der
Ferien woedentags von 11 bis 1 Uhr. Die Auf
nabinepritfung war am 19. April.
* Gegen den § 361° nabm ber rheiniſch-weſt⸗
falifebe Frauenverband auf feinem Berbandstag in
Hagen folgende Rejolution an:
Bücherſchau.
„Infolge bed Bielefelder Vorkommniſſes, nach
dem eine alleinreiſende junge Lehrerin aus Minden
im Warteſaal 1. und 2. Klaſſe von einem Seuss:
mann auf @rund bed § 361% verbajtet und in
brutaler Weife jum Polijeibureau gefehleppt wurde,
ertlärt die 3. Generalverfammilung ded rheiniſch—
weftfalifden Frauenverbandes die Wufbebung des
§ 361° fiir dringend notwendig. Nicht der zur
Dispofition geftellte Schutzmann erſcheint als der
Schuldige trotz feines brutalen Auftretens. Auch
ohne ſolche Behandlung iſt es eine ſchwere Ehren—
tränkung für jede Frau, auf Grund des genannten
Paragraphen einfach für vogelfrei erklärt und der
Willkür plöhlicher Verhaftung, der Schmach eines
peinlichen Verhörs, wohl gar einer entehrenden
Zwangsunterſuchung ausgeſetzt zu ſein. Die Ge—
neralverſammilung des rheiniſch⸗weſtfäliſchen Frauen:
verbandes erhebt Proteſt gegen den die Frauen
unter Ausnahmegeſetz ſtellenden § 361° und fordert
{eine Aufhebung.“
* Realgnumunafialturje fiir Mädchen find in
Darmftadt auf Anregung ciniger Mitglieder der
dortigen Ortsgruppe des Allgemeinen deutſchen
'
|
571
Frauenvereins gegriindet worden. Die Kurfe, die
ber Leitung des Knabenrealgumnafiums unterftellt
find, treten gu Pfingften mit ciner Untertertia ing
Leben.
* Us Redhner der evangelifcen Kirche su Möls—
beim (Grofherjogtum Heffen) ift vom Großherzog—
lichen Kreisamt Worms Frau Anna Maria Stolt
verpflictet worden. Es Ddiirfte dies der erfte der:
artige Fall im Großherzogtum jein.
* Mls Profeffor an der Univerfitat London
habilitierte fic) Mif Lilian Tomn fiir Wirt:
ſchaftsgeſchichte Sie ift eine ehemalige Schiilerin
yon Girton College in Cambridge.
* Bizgeprafidentin der belgifdjen neurologifdjen
Geſellſchaft wurde Fraulein Dr med. J. Joteyko
von der Briiffeler Univerfitét. Sie bat den
Sagungen der Geſellſchaft entſprechend im nächſten
Jahr die Präſidentſchaft su iibernehmen.
—_3 ⸗
= => Biicherschau. —
„Familie B.C. Behm’ von Ottomar Enting.
Verlag von Karl Reifiner, Dresden und Leipsig.
Es ſcheint, als ob die Buddenbrooks die Anregung
zu diejem Romane gegeben batten; bier wie dort
wird der ,,Berfall ciner Familie’ gefchildert, und
das Haus P. ©. Bebm bietet uns in einer tieferen
fozialen Schicht das Bild, das Thomas Mann fo
meifterbajt in dem jftolgen Litbeder Kaufmanns—
geſchlecht geseichnet bat. Cine Meifterband bat das
Schidjal der Familie P. C. Behm nicht geftaltet,
aber bas Wuge eines ſcharfen und feinfinnigen
Beobachters biirgerlichen Kleinlebens hat die taufend
charalteriſtiſchen Züge gefunden, im denen die |
Familie P. C. Behm uns nabe gebradt wird. Ru
viele Züge, mit der fubtilen Sorgfalt niederlanbdifder
Malerei bis ins Einzelne gezeichnet. Es feblt
Ottomar CEnfing die Fäbigkeit einer geiſtvollen
Kompoſition und einer wirklich künſtleriſchen Ver⸗
wertung des intim CEharakteriſtiſchen.
ſeine Schilderung, ſo echt ſie im Einzelnen iſt,
So wird |
doch zuweilen breit, aud bas Unbedcutende und |
Unweſentliche in den Bordergrund fdiebend. Und
dann weiß Ottomar Enfing dem Berfall feiner
Familie nicht dieſen grandiofen Zug unerbittlider |
Notwendigheit su geben, der dem Schickſal der Familie
Buddenbroof feine Größe und feine tiefe Symbolik
verleibt. Es erſcheint graufam und innerlich un:
motiviert, daß ein fo kerngeſundes und lebensfriſches
Wefen, wie Anna Bebm, gu einem fo troftlojen
Schickſal innerlich, naturnotwendig beftimmt fein
folite; und fo entlaft uns der Noman, der uns in cin
Idyll von feltener Wärme des Kolorits aufgenommen
bat, mit dem Gindrud, daß bier das Schidfal will:
tiirlich, ohne jenen Zwang von Entwidlungsgefesen,
deren ewige Giltigfeit den Menſchen erhebt, wenn fie
den Menſchen zermalmt, Leben und Glück zerſtört.
„Kunfterziehung““, Ergebniſſe und Anregungen
des zweiten Kunſterziehungstages in Weimar vom
wenig geglückten Verſuche,
9./10. Oftober 1903. — Deutſche Sprache und
Dichtung. — R. Boigtländers Verlag in Leipzig.
{ber den Kunftergiehungstag in Weimar ift bereits
in dieſer Zeitſchrift berictet worden. Die jest im
Dru vorliegenden Berhandlungen geben jedem
Melegenbeit, fic) die Anregungen gu Nutze zu
machen, die der Kunſterziehungstag vermitteln follte.
Der Cleine Band umfaft fowohl die eigentlichen
Verbandlungen, alS auch die sffentlichen Bortrage,
vor denen der des Herrn Geheimrat Waetoldt in
feiner feinen und fouveranen Bebandlung der
Wrage fiir alle, denen die Kunſterziehung durch
unfjere Yiteratur nabe liegt, gang befonders Wert:
polled bieten möchte. Qedenfalls ſpiegeln dic
Berbandlungen den Eindruck [ebendig wieder, ben
der Kunſterziehungstag allen Teilnebmern gegeben
bat, den Gindrud, daß es fic) hier um eine neue
Sentrale banbdelt fiir alle die [ebendigen und
gufunftverbeifenden Strömungen, dic an Stelle
der grauen Theorie die Rechte und Anſprüche ded
Menſchen, der Perfonlicleit, in der Schule zur
Geltung bringen möchten.
„Der klingende Berg“ von Miriam Eck,
Stuttgart, Axel Junker, Verlag. Der Name „Novelle“
iſt kaum zutreffend fiir die Folge von Stiggen, die,
loſe aneinander gereibt, fajt nur aujammengebalten
durch die Einheit des Ortes, die Berfafferin in
ibrem Heinen Buch vor uns aufrollt. Es find
feine Beobacdhtungen und oft mit grofer Sartbeit
und künſtleriſcher Anmut wiedergegebene Bilder,
deren Mangel an Whrundung aber dod) ein etwas
dilettantiſches Können nicht verleugnet. Es feblt
Miriam Ech, deren Begabung zweifellos mehr zur
Lyrik neigt, an der Fähigkeit künſtleriſcher Kom—
poſition; das zeigt dieſes kleine Buch mit ſeinem
Einzelbeobachtungen,
Einzelportraits zu einem Ganzen zuſammenzu—
ſchließen, ganz beſonders deutlich.
572
Liste neu erschienener Biicher.
(Befpredung nag Raum und Gelegenheit vorbehalten; cine Rildfendung nicht beſprochener Bidder if nidt mB glad.
Allihn, — Die Anfangsgruünde der
—— en Arankenpflege. Eine Ane
eitung flix bilfébereite Frauen und
Jungfrauen. Durdgefehen von Medi—⸗
jinalrat Dr Balto Berlag von
Martin Barned, Berl
Baner, Ludwig. Die ae Reine
Tragddien ber Heit. J. T. C. Bruns
Verlag, Dtinden L Weftf.
Bergemann, Dr Pant, Bolfsbiloung.
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Befant, Annie, Efoteri
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Biel, Anna Maria. Roman einer
Mutter. Carl Handhalter Berlags-
budbandlung, Ruͤnchen.
Bihler, Marie, Genejung. Gedicdte.
2 Mart Gebr. Knauer are
budbandlung, Frantfurt a.
Bruun, Laurids. Die ——— Roman,
3,50 Warf. Axel Sunder Werlag,
Stuttgart.
Biitow, Otto. Die Wellordnung. Bo. TT
Die Antivort auf die foziale ——
4 Mart. Verlag von C. & DO, Butow,
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Franenberufe, Heft 11. Die Pojt- und
Telegraphenbeamtin. Frorderungen,
Leiftungen, Aus ſichten in dieſem Berufe,
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Fulda, Ludwig, Sdiller und die neue
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J G. Cottaſchen Buchhand |
= eng bed og G. m. 6. H. Stuttgart.
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Chee Reform? Orania-Verlag, Oraniens
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Berlag, Dresden. Preis 1,50 Mart.
Hermann, Hans. Das Sanatorium
der freien Viebe. Plane und Hoffmungen
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Wearweifer filr alle, die ſich biefer
Wiffenidaft widbmen. Bon einem
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Lemble, Fr. raparationen filr ben
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Lembke. Band WI: Biirgers und
echtstunde des Handwerkers. Riel
und Lelpzig 1904. Lipfius & Tifcher.
8 Mart.
— Gefeyfammlung file Handwerker. Die
file Den Handwerter widtigen geſetzlichen
Vorfdriften nad dem Wortlaut der
Gefege und mit Paragrapbeneinteilung.
Riel Leipzig 1004. Lipfiud & Tiſcher.
1,60 Mart.
— “Bucfibrung und Geſehestunde flr
Handwerker. Zugleich ein Leitfaren
zur Borbereitung auf die Meiſter⸗
prilfung. Kiel und Leipzig 1904.
Lipfius & Lifer. 2 Mart.
Miilier-Miiller, R, S. Golvene Regeln
fiir ben Verkehr in ber quten Geſell⸗
fdaft, 8.—12. Taufend. Clea. geb.
1,60 Mart, Th. Schroter Verlag, Leipzig.
Nievert, H. Was der Wejtivind erlebte.
Sfigen. Brojciert 1 Mart, eleg. geb.
1,50 Mart, Verlag von Hermann
Gejenius, Halle,
Poritty, J. E. Die ba mide fend... -
Rovellenjammlung. 1,50 Mark. Beriag
Dr J. Mardlewsti & Co, Witnden
Salburg, Edith Grifin Was de
Wirtlichkeit erzaͤhlt. Drei BNcer, bre
bas Leben febreibt. >
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cifiner, Dreoden.
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Tubertulofe alé Bol€sfranf{hert und
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und Bibel. 56 Seiten in sormebener
Uusftattung. Gebauer > Sdhwet fedfe,
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geb. 180 Mart. — ag vor Otte
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¢jen? Bortrag. achalten tm Nuftrag
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ag). Preis 20
„Du bift ein gan;
retzendes, ſüßes Geſchöpf
— bis — bis auf Deine
Zähne. — Kind, Hind,
weißt Du, daß die Unter=
laffungsfiinden diejenigen
find, die fic) ami furcht-
barften rächen — es tut
mir in der Seele web,
male id) mir die Qualen
und Schmerzen aus, die
Deinen Zähnen nod) be-
vorftehen, wenn Du nicht
bet Seiten zur befferen
Einjicht fommft und
Dein Wiindchen fein und
fleifig pfleaft. Willſt
' Du Dich vor Plinftigem
Leid bewahren, willft Du Dir ſelbſt Erfriſchung, Gefundheit und Gli fchaffen und
Deinen Mitmenſchen Freude bereiten durch einen UWiund mit reinem Haud und
blendenden Zähnen, fo befehre Did) heute nod) — jum „Odol“! —
rem Vorlſchrift vom Beh Rath Profeflor Dr.
Reine Mitteilungen. — Anjeigen, 473
Liebreich, befeitigt binner ines Set ——
beſchwerden, Sodbrennen, Nahenverſchleimung bie Foigen von Unmaigkeit im Gfien
und Trinfern, und ijt gang befonders Frauen und Madden gu empfehlen, die tnfolge — * —— und oͤhnliche
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lan verlange ausdridlid BMP Echering’s Pepvfin-Cifien;.
Kleine Mitteilungen.
Cine Musftellung des Ber:
bandes filr hauswirtſchaftliche
Frauenbildung wird zur Zeit des
Internationalen Frauenkongreſſes
in Berlin vom 14.—18. Juni im
Peſtalozzi⸗ Fröbelhaus, Barbaroſſa⸗
ſtraße 740, ſtattfinden. Wir
möchten nicht unterlaſſen, auch
weitere Kreiſe auf die Ausſtellung
des Verbandes aufmerkſam zu
machen. Wir glauben, daß die
Ausſtellung für alle diejenigen,
welche im hauswirtſchaftlichen
Unterricht ſtehen oder ſich für
dieſe Frage intereſſieren, von
großem Intereſſe ſein wird. Man
wird verſuchen durch die Aus—
ſtellung zur Darſtellung zu bringen,
wie ſich der Unterricht durch
Lehrbücher, Lehrmittel, Lernmittel
geſtalten läßt, und werden die
ausgelegten Lehrpline Aufſchluß
geben über den Unterricht an
Volksſchulen, an Schulen Er:
wachſener, an Seminaren, für
Wanderkurſe und Krankenlurſe.
Die Beſichtigung der Aus—
ſtellung ijt jedermann zugänglich.
Originalrezept. — Kerbel
und Spinat: 6 Perjonen.
14, Stunden. Auf 3 PBfo.
Spinat rechnet man 80 er. Kerbel,
verlieſt beides und fodjt jedes fiir
fi in Saljwaffer ab. Dann
briidt man das Gemüſe aus und
badt es fein. In ciner Kaſſerolle
{Aft man 50 gr. Butter zergehen,
gibt Rerbel und Spinat hinein
und fiigt foviel von ciner Maggi:
Bouillonlapſel bereitete Bruhe
dazu, daß ein ebener Brei
daraus entſteht. Nachdem das
Gemuͤſe ordentlich durchgedämpft
iſt, jcbmedt man eS ab, läßt es
mit einem
Apothefen und Drogenhandlungen.
.
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-Frauentrost
darauf geftiubten |
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BDelene Canye.
Beye
Cindriicke vom IJnfernationalen Prauenkongress.
Son
Gertrud Baumer.
Raddrud verboten.
er Tag nad dem Schluß de3 Frauenfongrefjed ijt vielleicht von allen am
wenigiten geeiqnet, von den Cindriiden und der Bedeutung feiner Verbandlungen
Rechenfchaft ju geben. CS ijt einem zu Mut, wie dem Mann in dem orientaliſchen
Marden, den der Prophet in einem furjen Augenblick ein ganzes Leben durchträumen
lief, um ibm feine Macht über Raum und Beit gu jeigen, beim Erwachen zu Mute
jein mag. Auf und ab fteigen die Bilder und Erinnerungen. Der Zufall (apt died
oder jenes einmal bell aufbligen, wie die Fliigel der Möve im Sonnenlicht auf:
glänzen und verſchwinden; nod bat fic) nicht das Bedeutende aus dem im Augenblic
Cindrudsvollen herausgeboben, und all den CErinnerungen gibt das Gefühl, dag
nun pliglic alles ſtill ſteht, alleS woriiber ijt, feine cigentiimlide traumhafte
Stimmung.
Und bat nicht diefer Kongreß wie der Traum in der Parabel Zeit und Raum
befiegt, weltumfpannende Vorgänge, Qabrhunderte umfajjende Entwidlungen in cin
einziges Crlebnis jujammengedringt, jum Creignis weniger Tage gemadt? Alle
Stadien unjerer Bewegung, alle Gebicte ihrer hiſtoriſchen Wirklichfeit, alle Nuancen
ihres Wejens, alle Wünſche, die in iby ju Tendenjen und Strdmungen geworden find,
baben wir nadjerleben können. Und in diejem Erleben bat uns eins vor allem wieder
ecinmal mit befreiender Macht beriihbrt: der gemeinfame Geijt, der in der Frauen:
bewegung der Welt das Lebenspringip ijt, der aus ibr eine Kulturerfdeinung von
lebendiger, organijder Cinbeitlichfeit macht.
* *
*
37
578 Eindrücke vom Qnternationalen Frauenfongres.
Um fo (ebendiger und wirflicher berührte diefer Geift, je mannigfaltiger und
ſchärfer ausgeprägt ſich die Cigenart feiner Tragerinnen darftellte. Es wird den meiften
der Teilnehmer fo gegangen fein, daß fie weniger durch das Zuftdndlide, von Dem
berichtet wurde, — vielen ficher jum erftenmal — als durch die Perjinlicfeiten, Die
fie fennen lernen durften, gefeffelt und bereidert wurden. Und weld) gedriingte Fille
von Perfinlichfeiten fiihrten diefe Tage an uns voriiber, welche lange Reihe von
ftarfen, aufrechten und befonderen Menfdjen! Und wie ſchnell entitand jene Atmoſphäre
des gegenfeitigen Sicerfennens und Findens, die in wenigen Stunden fo fine Be—
siehungen ſchuf. Die Menfden vor allem machen fiir uns alle die Erinnerung an Den
Kongreß fo reid) und begliidend, ob wir nur iby Bild in uns aufnahmen, oder ob
ſich bleibende Freundjdhaften knüpften. Die Menſchen geben auch den grofen Bildern
und Cindriiden ibre bejondere Farbe und Prägung.
Im Mittelpunkt all diejer Bilder ftebt die Vorfigende des Weltbundes, Lady
Aberdeen; im Mittelpunkt, nicht einmal fo ſehr im äußeren Sinne, als weil ihre
gütige und große Perſönlichkeit wie der Hausgeiſt in dieſer Atmoſphäre gemeinſamer
Arbeit und freundſchaftlichen Austauſches erſchien. Sie ſchuf dieſe Atmoſphäre durch
die Macht einer hohen und zugleich weitſchauenden Auffaſſung des Großen und Be—
deutungsvollen in der Idee des Weltbundes und durch ein vornehmes Vertrauen auf
die Reinheit des Wollens bei all ihren Mitarbeiterinnen. Dieſe ſo ſeltene Wärme des
Glaubens an alles gute und reine Wollen, die durch eine klare politiſche Einſicht unbe—
einträchtigt bleibt — ſie gab eine ſchöne und ermutigende Vorahnung deſſen, was ein—
mal die Frau im öffentlichen Leben bedeuten könne.
Und wieder andere Augenblicke, die in der Erinnerung an die verfloſſenen Tage
auftauchen, zeigen die greiſe Geſtalt von Suſan B. Anthony, die in dem unbeirrten
Enthuſiasmus für eine Sache, die ihr ganzes Leben erfüllte, uns ſteptiſchere und
hiſtoriſch ſtärker gebundene Menſchen faſt beſchämt. Es iſt etwas Großes in der
Naivetät dieſes Glaubens an ein Programm, und in der durch Alter und Lebens—
erfahrung unerſchütterten Energie des Zeugniſſes dafür, eine ſo jugendfriſche Initiative,
daß ſie die Wahrheit des Goethe-Wortes: „Was fruchtbar iſt allein iſt wahr“ in
ihrem tiefſten Sinne zu verſtehen lehrt. Die greiſe Seniorin der Bewegung für das
Frauenſtimmrecht, die von Anfang bis zu Ende auf ihrem Platz war, den Ver—
handlungen mit nie ermüdender Ausdauer folgte und ſtets bereit war, in ihrer
ſchlichten und wahrhaftigen Weiſe ihre Uberzeugung, ihre — man möchte faſt ſagen —
Miſſion für das Frauenſtimmrecht zu vertreten, ſie gab ein ſtarkes und überwältigendes
Zeugnis für die Macht der Ideen in der geſchichtlichen Entwicklung. In unſere
kühlere Betrachtung politiſcher Bewegungen hinein ſtrahlte aus ihrer Perſönlichkeit etwas
von „dem Geiſt der erſten Zeugen“, und alles ſchien wärmer und ſchöner und lebens—
werter in dieſem Glanz.
So ſind noch viele Geſtalten der Erinnerung gegenwärtig, Frauen, über denen
der Schimmer einer neuen Zukunft liegt, und denen, ob alt oder jung, das Bewußtſein,
eine Zeit des Aufſteigens und Werdens mitzuſchaffen, eine wundervolle, eigenartige
Anmut und Kraft gab. Und zu den Lebenden und Gegenwärtigen geſellten ſich die
Toten, deren Bilder von den Wänden der Wandelgänge draußen grüßten, ſtille
Gefährten im Kreiſe der großen Schweſternſchaft, die jene Tage zur Arbeit ſammelten.
* *
*
Gindriide vom Qnternationalen Frauenkongreß. 579
Es fann nicht die Aufgabe einer Uberſchau fein, alle Cingelheiten de3 Programms
nadeinander durchzugehen. Nur fofern fie fic) zu Gefamtbildern von fymptomatifder
Bedeutung gruppieren, finden fie bier Platz.
Und ein folches glingendes Gefamtbild war die Philharmonic felbjt mit dem
Hine und Herivogen der Menfchenmenge, die fic in ibren Räumen drangte. Es ift
etwas um die dufere Form, um den Rahmen, der einem Ereiqnis, wie der Frauenkongreß
war, gegeben wird. Jeder wird empfunden haben, wie die wundervolle Musftattung
all der Salons, Lefezinuner, Wandelginge, Erfriſchungsräume den Cindrud des Be:
Deutenden und Inhaltreichen verſtärkte, wie ftimmungsvoll vor dem Gintritt in die
qrofen Sale das Bild eines folchen Salons twar, two in all den verfchiedenen kunſt—
voll arrangierten Plaudereden fid) die oft fo marfant ausgeprägten Vertreterinnen der
verfcbiedenften Nationalitaten zu perſönlichem Austauſch zufammenfanden. Die Aus:
ftattung des ganjen grofen Gebäudes jeigte in allen Einjelbeiten einen fo großzügigen,
fic) der Gelegenbeit fo fein anpajjenden Stil, dag fie kaum iibertroffen werden könnte.
Und dieſen großzügigen Stil zeigten auch die gefelligen Veranftaltungen. Wenn etwas
bei dem Kongreß im volliten Mage gegliidt war, fo war e3 die Arbeit de3 Lofal:
fommitees und feiner Leiterin Frau Hedwig Heyl. —
Aber es hieße den Kongreß in ein falſches Licht feven, wollte man von den
frohen Feften dabei eher fprechen als von der fauren Woche,
Cine „ſaure Woche” ijt fie wahrlich gewefen, die Kongreßwoche. Cine ganje
Fülle ernjter und gewifjenhafter geiftiger Arbeit hat fie der Offentlichfeit übergeben.
Und überall — oder fajt überall, denn Dilettanten und Fanatifer find aus einer
großen Bewegung nie reinlich auszuſcheiden — war das, was binter diefer Arbeit ftand,
nod) wertvoller und grifer: eine Reife der Auffaſſung und der Anfehauungen, die das
Beſte ijt, was fic die Frauenbewegung in ibver inneren Entwidlung errungen bat.
Wenn etwas uns des ficheren Fortſchritts unferer Sache gewif macht, fo iſt es die
Tatſache, daß auf diefem Kongreß, der dic Frauenbeweguig der Welt reprajentiert,
fein vages Theoretijieren und fanatiſches Fordern, fondern faſt ausfeblieplich die
tubige Anerkennung gegebener Verhältniſſe zu Tage trat, und der Wille, bei aller
Klarheit fiber das Endziel den Gang der Bewegung diefen Verhialtniffen gewiſſenhaft
anzupaſſen.
Das gab der Arbeit in den vier Sektionen ihren Charakter. Sie konnte natur—
gemäß den Beteiligten keine erſchöpfende Ausſprache, oder den Zuhörern keine aus—
reichende Belehrung über die Gegenſtände der Tagesordnung geben. Dazu war der
Stoff zu umfangreich, der Vorausſetzungen, die erſt zur Verſtändigung geſchaffen werden
mußten, zu viele. Aber indem überall die Hauptprobleme wenigſtens aufgezeigt und
die Möglichkeiten der Löſung wenigſtens ſtizziert wurden, hat der Kongreß doch auf
jedem Gebiet eine weite und reiche Anregung geben können. Daß der Kongreß dieſe
Aufgabe in ſo ausgezeichneter Weiſe löſen konnte, iſt vor allem das Verdienſt ſeiner
Organiſatorin, der Vorſitzenden des Bundes Frau Marie Stritt. Organiſatoriſche
Arbeit fällt um ſo weniger auf, je beſſer ſie geweſen iſt. Sie iſt deshalb ein
undankbares Geſchäft. Aber wir, die wir manchmal hinter die Kuliſſen geſehen
haben, wiſſen, was vorhergegangen, bis der Apparat ſo funktionierte, daß man ihn
nicht mehr klappern hörte. Und deshalb können wir allein die Dankesſchuld ermeſſen,
die der Vorſitzenden gebührt.
* *
37*
580 Eindriide vom Qniernationalen Frauenfongres.
Wenn die zweite und dritte Seftion fics mit den Leijtungen der Frau im Beruf
und im fozialen Leben beſchäftigten und zugleich mit der vierten fie als Urbeiterin und
Biirgerin erfapten, hatte die erſte die geiſtige Perfinlichfeit der Frau, die inneren Anjpeiiche,
die fie als ſolche ftellt, jum Mittelpuntt. Denn unter diefem Gefichtspuntt ftanden die
Berhandlungen iiber die verfchiedenen Fragen der Frauenbildung. Cie batten nicht
nur die dugeren Einrichtungen und Methoden in Schule und Familie sum Gegenftand,
jondern fie ftellten ihre Mufgabe in den grofen Rahmen de3 Ganjen, indem fie jie in
dieſem Sinn verticften. Das gilt ſchon von dem erſten Tage, an dem von der Frau
al? Mutter und Erzieberin die Rede war. Lady Aberdeen ftellte in cinem Vortrag,
dev feine Gejichtapuntte aus den Crfabrungen eines weiten fozialen Wirkungsfreifes nabs,
die Wirfung der Mutter durch das Haus auf das foziale Leben dar, und zeigte in Aus—
führungen, die unjeren Yeferinnen an diefer Stelle auch im Wortlaut gebracht werden,
wie das neve Element, das die gum Selbſtbewußtſein erwadte Perſönlichkeit der
Frau in die Kulturwelt hineintragt, im geſellſchaftlichen Organismus neue Kräfte löſen,
neue Wertformen fcbaffen wird. Bon einer anderen Seite erfafte Adele Gerhard
das Problem von Frauenbildung und Mutterſchaft. Cie griffin die brennenden
Erirterungen. binein, die wm das Problem der Mutterſchaft entfeſſelt find; fie ftellte
mit feinem ſeeliſchen Verſtändnis und flarer ſoziologiſcher Einſicht neben dicfe fo
{aut und gefpreizt fich betonende Pſeudo-Mütterlichkeit das Bild der Mutter, wie
fie aus dem Ringen der Frauenbewegung bervorgegangen iit. Ihr hat freilich das
Erwachen ihrer geiftigen Perfdnlicfeit mit ibrem grofen Fordern die Hingabe ded
Mutterdafeins ſchwerer, fonfliftreicher gemacht; aber dag, was fie aus tieferem Erleben
und an Leid und Glück reicherem Dafein gewonnen, wird fiir ihr Kind gu neuen
unſchätzbaren lebensmächtigen Werten. — Die Bergeiftiqung des miitterlicen
Wirkens, die wohl größere Konflifte, mebr Möglichkeiten zu feblen und ju irren, in dad
Verhiltnis von Mutter und Kind hineintragt, aber die dod) die beiden eben dadurch
foviel fejter aneinander bindet — das war dann aud Der Grundton bet den anderen
Rednerinnen de3 Tages Mrs. Franklin von England, Mrs. Alder, Ber. St,
Frau Henriette Goldſchmidt, Fraulein Dröſcher. Von ganz befonderem Intereſſe tit
vielleicht fiir und Deutſche der Berit von Mrs. Franflin iiber die Parent’s National
Educational Union, die den Swe bat, die Methoden und Pringipien häuslicher
Erziehung unter den Eltern zu verbreiten, die Cltern felbjt zu gemeinjamer
Beſchäftigung mit Erziehungsfragen ju fammeln. Iſt doch die Kinderjtube ein fo
unendlich reiches Feld erziehlicher CErfabrung, das — dank der Unfabigkeit oder
Ungeiibtheit der Mütter, ibre Crlebnijfe zu nugen und fiir andere zu verwerten —
nod fo wenig fiir Pſychologie und Pädagogik ausgebeutet ijt, dak von bier aus
nod) ein ganjer Frühling fiir unfere Erziehung ju erwarten ijt. Much darither wird
„Die Frau” im Anſchluß an Mrs. Franklins Bericht, den fie zur Berfiigung geftellt
hat, Näheres bringen.
Der glänzendſte Tag der erjten Seftion war jiweifellos der den Univerfitdten ge:
widmete. Es [ag an der ganz befonders vielfeitigen Befegung de3 Programms, die
fiir Ddiefen Taq möglich gewefen war. Dank diefer Beſetzung, die vielleicht die
fompetenteften Perſönlichkeiten aller Lander aufwies, fonnte die Frage der höheren
Frauenbildung ſowohl nach ibrer ſoziologiſchen Seite, in Bezug auf Organifation und
dufere Cinrichtungen, als auch nach ibrer Bedeutung für die Wiffenfchaft und fiir die
geiſtige Kultur der Menſchen, erdrtert werden. Vorzüglich die erſte Seite der Frage bebandelte
Eindrücke vom Anternationalen Frauenkongreß. 58]
Miß Carey Thomas, die Prifidentin von Bryn Mawr College, ciner der vier großen
Frauenuniverjititen der Bereinigten Staaten. Aus den reichen und in forgfaltigen
Statijtiten befeſtigten Erfabrungen der Vereinigqten Staaten fonnte fie die wertvolle
Tatſache fejtftellen, dah die Gejundbheit der ftudierenden Frauen durchſchnittlich beſſer
ijt, als die ibrer nicht ftudierenden gleichaltrigen Gefechlechtagenoffinen. Verhältnis—
mäßig groß ift die Heiratsfrequenz, und ebenſo ſorgfältige Unterſuchungen haben feft-
geſtellt, daß die verheirateten ſtudierten Frauen als Mütter die normale phyſiſche
Leiſtungsfahigkeit beſitzen. Ubrigens verdient es ganz beſondere Beachtung, daß die
Leiterin einer Frauenuniverſität mit der denkbar größeſten Entſchiedenheit für das
gemeinſame Studium eintrat, das jetzt ſchon für vier Fünftel aller amerikaniſchen
Studentinnen eingeführt iſt.
Die gemeinſame Erziehung der Geſchlechter — das war überhaupt eine Forderung,
die durch die geſamten Verhandlungen der Sektion Frauenbildung hindurchging und
an jedem Tage wieder auftauchte. Dr Maikki Friberg von Finnland behandelte
fie an dem Volksſchultage prinzipiell aus der praktiſchen Erfahrung eines gan;
,toedufativen” Schulſyſtems wie des finnländiſchen heraus, in friſcheſter und anziehendſter
Weife. Sie kehrte wieder an dem Tage, der der höheren Mädchenſchule gewidmet
war, und zwar ſowohl in dem Bericht über Stalien (Bice Cammeo), der fich lebbhaft
gegen die Errichtung von Conderfurfen an den bisher gemeinfamen Gymnafien erklärte,
alS in den Worten der öſterreichiſchen Rednerin Frau Hainifd. Bor allem aber
brachte, wie gefagt, der Tag des Frauenftudiums die einmiitigite Kundgebung zu
Gunjten des gemeinjamen Unterrichts. Befonderen Nachdrucd verlieh ihr Profeſſor
Adolf Harnad, der fic als ehemaligen Freund und jegigen Gegner getrennter
Univerfititen befannte. Er fiebt die Hauptgefabr einer folchen Trennung, die die
Frauen auf der einen, die Manner auf der anderen Seite de3 grofen Stromes
wandern Lift, darin, daß fics in Den weiblichen Univerfitdten die Einſeitigkeiten einer
gewiſſen, durch das Geſchlecht beftinunten Maſſenpſychologie ebenfo entwickeln würden,
wie das jetzt an den Univerſitäten männlicherſeits der Fall iſt. Aber die Bedingung
gemeinſamen Unterrichts auf der Mittelſchule ijt, wie das von Seiten der däniſchen,
norivegifden und finnländiſchen Rednerin hervorgeboben und von Profeffor Harnad
befonders betont wurde, dak an den Gymnaſien neben den Lebrern Lebrerinnen
unterricten. Sn Dänemark wie in Norwegen fteben deshalb die Lebrerinnen felbit
der Ausdehnung der gemeinjamen Erjiebung im Gymnaſium mit geteilten Gefithlen
qegeniiber, da fie vorliufiq nod die Madden dem weiblichen Cinflug in bobem
Mae entziebt.
Einen ganz cigenartigen Charafter erbielt die Dem Frauenftudium gewidmete
Tagung durch die Beſprechung der Frage: Was bedeutet die VBeteiligung der Frauen
fiir die Wifjenfehaft felbft? Die Antwort, die Frau Marianne Weber auf diefe
Frage gab, wird unferen Leferinnen im Wortlaut vorgelegt werden. Die Haupt:
qefichtspuntte, in denen iby fowobl Fraulein Dr jur. van Dorp (Golland) als Frau
Dr Bleuler-Wafer (Schweiz) zuſtimmten, war die Anerfennung der Tatfache, dah
die Frau auf wiſſenſchaftlichem Gebict eigentlich Schöpferiſches verſchwindend wenig
qeleijtet babe. Man wird daraus mit einigem Recht ſchließen diirfen, daß auch ibre
fiinftige Beteiliqgung an der Wiſſenſchaft weniger auf dem Gebiet des genialen Fort:
{ebrittS liegen wird. Ihre jelbitindige und unerfebliche Bedeutung fiir die Forſchung
berubt darin, dak fie neue Möglichkeiten des Verſtehens und neue Wertideen vor
582 Gindriide vom Jnternationalen Frauenkongreß.
allem in die Geiſteswiſſenſchaften hineinträgt und aud darin, daß fie unfere geiftigen
Reichtiimer mehr, alS das bisher gefchehen ijt, fiir die Kultur der Perſönlichkeit
verivertet.
Darin liegt aber auch zugleich die fubjeftive Berechtiqung der Frau, fic
ungebindert wiſſenſchaftlicher Urbeit hingugeben. Helene Lange bob in der Disfuffion
bervor und Profeffor Harnad beftatigte es, daß man auch der Frau die Möglichkeit
geben müſſe, um ibre Weltanfchauung wirklid) gu kämpfen. Sie muh die Halbbildung
und die Unwahrhaftigkeit des geiftigen Lebens, dic aus dem urteilslofen Radfprechen
entſteht, überwinden können. Und man darf ihr, wie Profeffor Harnad fic ausdrückte,
den inneren Gewinn jener intelleftucllen Wiedergeburt nicht verfebliefen, in der uns
die Welt immer wieder neu wird.
Es ift nicht miglich, im Rahmen diefer furzen Nberfchau aller Anregungen zu gedenFen,
die in Referaten und Disfuffionen die erjte Seftion brachte, der intereffanten Darſtellung
deS finnländiſchen Mittelſchulweſens durch Frau Ilmi Hallftén, des Berichts der
temperamentvollen Leiterin ded Wiener Mädchengymnaſiums Frau Dr phil. Eugenie
Schwarzwald, deren Ausführungen in jedem Wort verrieten, daß fie mit ganzer Seele
in ihrer Arbeit ftedte, der Ausfithrungen von Mrs. Fawcett iiber die Stellung der
Frauen in der engliſchen Schulverwaltung, des fer ovrientierenden Berichtes von
Mrs. Sewall über das Turnen in den Mädchenſchulen der Vereinigten Staaten
uſw. uſw. und last not least all der tüchtigen Beiträge unferer deutſchen Rednerinnen.
Yedenfalls haben diefe Verhandlungen, denen täglich Vertreter der Unterrichtsbehörde
beiwobnten, ibren Zweck nit verfehlt: die Geſichtspunkte der Frauenbewegung fiir
die Geftaltung unſeres Mädchenſchulweſens in weiteſte Kreije yu tragen und zugleich
von dem Gewicht und der Bedeutung der Frauenbewegung einen Cindrud zu geben,
der dieſen Gefichtspuntten Beachtung fichern mug. :
* *
*
Denfelben Erfolg batten die anderen Seftionen. [ber die zweite und dritte
wird gefondert berichtet werden. In der vierten Seftion, welche die rechtliche
Stellung der Frau in dev Familie, im Beruf. und als Biirgerin yu beſprechen hatte,
hanbdelte es fid) naturgemif mebr um Forderungen alS um Zuftinde. Es ijt be-
zeichnend, daß die Frauen da, wo fie ſchon cinen Einfluß auf die Geſetzgebung erlangt
haben, wie in den auſtraliſchen Rolonien, ibren Cinflug ju Gunſten des Kindes ein—
qefest haben. Die Lage des unebeliden Kindes, fein Verhaltnis zur Mutter, das in
den meiften Staaten noch ein beſchämendes Zeugnis fiir die ganz verfcbiedene Be-
wertung eines Febltrittes bei Mann und Frau darftellt, das ift der Anhalt geſetzlicher
Reformen gewejen, die bie Frauen angeftrebt haben. Befonders intereffant waren
dic Verhandlungen fiber Gebiete, auf denen man im Ausland ſchon Erfabrungen ge:
fammelt bat, während wir nods erjt im Stadium des Forderns und Wrqumentierens
find: iiber das Wabhlrecht der Frau in Gemeinde und Staat.
Leider wurden hier in die fachlicen Erörterungen parteipolitifde Debatten ge:
tragen, fiir die als ganz intern deutiche Ungelegenbeiten das Forum eines internatio-
nalen Rongreffes faum der geeignete Ort war. Daß die hundertmal widerlegte Mar,
der Bund habe bei feiner Griindung die Arbeiterinnen zurückgewieſen, bei dieſer Ge-
legenbeit wieder aufgetiſcht wurde, verrät nicht nur cinen bedauerliden Mangel an
Eindrücke vom Anternationalen Frauenkongreß. 583
Gewwiffenbaftigfeit, fondern auch cin Verjagen des Taltgefiibls, das fajt nod be-
dauerlicher ift.
In der letzten Sigung der Seftion fam es zu heftigen prinjipiellen Erörterungen
fiber das Verhältnis dev Franenbewegung zu den politifchen Parteien. Die Frage
war in einer allgemeinen Verjammlung, fiir die Diskuſſion ausgeſchloſſen war, durch
Sta Freudenberg bebhandelt worden. Sie hatte mit der ſchönen Objeftivitat,
die ebenfo febr eine Sache ded wiffenfcbaftlichen Urteils als des feinen Geredtigteits-
gefühls ijt, die Bedeutung der Parteien fiir die Frauenbewegung, ibre Stellung zur
Frauenbewegung gefennjzeichnet. Fir die Frauenbewegqung ergab fich ihr aud der politiſchen
Konjtellation die Forderung, fic prinjipiell unabbangig zu erhalten und nicht anders
als gelegentlic) fiir einzelne praftifche Zwecke Anſchluß an fie gu ſuchen. Die Debatte
liber diefe Frage wurde am nächſten Tage in der Stimmrechtsſitzung aufgenommen.
Lily Braun betonte, wie zu ertwarten war, den Standpunkt der fozialdemofratifden
Frauen, die feine allgemeine über den Parteien ftehende Frauenbewegung anerfernen,
weil fie, ihrer Geſchichtsauffaſſung und Wirtſchaftstheorie entiprechend, die Erfolge der
Frauenbewegung nur von der VBefeitiqung des RKlajfjenftaates, d. h. von dem Sieg
der Sozialdemokratie, erwarten. Dor fchiene es groper, wie die Frauen der Sozial—
demofratie, fiir die „Menſchheit“ gu arbeiten, als ausſchließlich fiir die Intereſſen
der Frauen. Ihr trat Mrs. Chapman Catt, die Vorfigende des amerikaniſchen
Frauenſtimmrechtsbundes, mit grofer Entſchiedenheit entgegen. Cie ijt der Anficht, dah
die Befreiung der Frauen nur durch die Frauen felbjt und nicht im Rahmen einer in
erfter Linie anderen Zielen zuſtrebenden Partei volljogen werden fonne. Helene Lange
wies darauf bin, dab im Augenblid die Frauen der Menſchheit nicht beſſer
dienen fonnten, alS wenn fie in voller Cinigfeit und obne Parteigesin’ daran
arbeiteten, den Frauen den notwendigen Cinfluf in der Kulturwelt yu erringen. Durch
den Grafen Hoensbroed, der feinerjeits aud Lily Braun ſcharf entgegentrat, war
die Debatte noc anf eine andere Frage zugeſpitzt worden, die in den Tagen von
allen Teilnehmern des Rongrefjes viel befprocen wurde. Es wurde von manden
Seiten und von ibm felbjt die Anficht vertreten, dah die Frauen angefichts der Stellung
der Regierung zum Wablredit der Handlungsgehilfinnen die Cinladung der Grafinnen
Biilow und Pofadowsfy ju einem Empfang demonftrativ batten ablehnen follen. Ika
Freudenberg wies als Vorfigende Den in diefer Kritif enthaltenen Vorwurf der Gee
finmingslofigfcit damit zurück, daß politiſche Gegenſätze und der Austauſch geſellſchaft—
licher Formen zwei ganz getrennte Gebiete ſeien, und daß eine Ablehnung der ge—
botenen Gaſtfreundſchaft einfach einen Mangel an Takt und richtiger Einſchätzung
dieſes freundlichen Entgegenkommens bedeutet hatte. Reine von den beim Empfange
anweſenden Frauen hätte ihre Anſchauungen irgendwie verleugnet. Helene Lange
bemerfte zu der Frage, dah es durchaus im Intereſſe der Frauen läge, jede Gelegenheit
zu einer Verſtändigung mit offiziellen Perſönlichkeiten auf dem neutralen Gebiet des
geſelligen Zuſammenkommens zu benutzen. Bei all unſeren Gegnern handle es ſich
weit weniger um direkte Feindſeligkeit gegen die Frauen als um den Einfluß alter
Vorurteile und Mangel an Kenntnis der Frauenbewegung, und ſie würde es für eine
Kleinlichkeit halten, wenn man nicht jede Gelegenheit benutzen wolle, ſolche Vorurteile
beſeitigen zu helfen.
584 Eindrücke vom Internationalen Frauenkongreß.
Sicher gehört dieſe im Palais des Reichskanzlers und des Grafen Poſadowsky
dargebotene Gaſtlichkeit ebenſo zu den Erfolgen des Kongreſſes, wie der Empfang des
Vorſtandes bei der Kaiſerin und die glänzende Feſttafel der Stadt Berlin im Rat—
hauſe. Drücken dieſe Empfänge auch ſelbſtverſtändlich keineswegs eine Zuſtimmung zu
dem ganzen Programm des Kongreſſes aus, ſo erkennen ſie doch die Frauenbewegung
als eine im Prinzip berechtigte Außerung des Volkslebens an — und damit iſt unendlich
viel gewonnen. Natürlich gilt dad ganz beſonders von dem Empfang bei der Kaiſerin,
an dem Vertreterinnen ſämtlicher Nationalverbande und einige Mitglieder des Lokal—
komitees teilnabmen. Die Raijerin ging im Gefprach mit allen Teilnebmerinnen auf
das liebenswürdigſte auf ibre Intereſſen und ibre Arbeit cin und jeigte befonder3s auch
der alten Sufjan B. Anthony das herglichjte Cntgegen~ommen. — Die Fefttafel im
Rathaus, bet der der Oberbiirgermeifter mit Woblwollen und Anerfennung, der greiſe
Stadtverordnetenvorfteber Langerhans mit ordentlich feuriger Zujtimmung die Arbeit
des Kongreſſes beglückwünſchte, gab dieſem gefelligen Teil deS Kongreſſes einen
glänzenden Abſchluß.
* *
*
Die Verhandlungen ſchloſſen am Nachmittag des 18. Juni mit der letzten allge—
meinen Verſammlung, in der die geiſtreiche Verfaſſerin des Buches Women and
Economics, Mrs. Perkins-Gilman, und Helene Lange ſprachen. Der große Saal der
Philbarmonie war von einer nach Taujenden zählenden Zuhörerſchaft bis auf den
legten Platz gefüllt; auch dev Oberlichtfaal, der noch geöffnet wurde, fiillte fic, fo dak
die Rednerinnen des Tages zweimal bhintereinander ju fpreden batten, und draufen
wogte, nachdem die Philharmonie polizeilich gefehlofien worden war, nod eine fic
Drangende Menge auf den Gangen und Strafen. Und angeſichts diefer Menge, die der
Rongref im Laufe feiner Tagung mobil gemadt, fiir unjere Sache zu begeijtern ge—
wußt batte, durfte man ſich jagen, daß die Arbeit diefer Tage nicht vergeblich geweſen
fei. Sie hat die deutſche Frauenbewegung obne Zweifel dem „Endziel“, dem der Vor:
trag von Helene Lange galt, einen weiten Schritt näher geführt. Es ift — um mit
ihren eigenen Worten zu ſprechen — eine Zufunft, in der es auf allen Gebieten
fosialen und fulturellen Lebens fein fiibrendes Geſchlecht mebr gibt, fondern nur
nod) führende Perfinlidfeiten.”
(Gin zweiter Artifel folgt.)
Ansprache von hady Aberdeen bei Ser Briedenskundgebung
des Prauenweltbundes.
Am 10, Suni veranftaltete der Frauenivelthund cine grofe Friedenskundgebung, in
der BVertreterinnen aller Nationen Anfpracen bielten. Wir geben die Rede von Lady Wberdeen
bier wieder.
ad) den beredten Anfprachen, die wir gebirt haben, febeint es überflüſſig, nod
/ weitere Erirterungen gu Gunften jenes Reichs des Friedens hinzuzufügen, deffen
(av Aufrichtung wir bitten nods erleben gu diirfen.
Baronin von Suttner, Madame Bogelot und ich, und alle die andern Frauen,
die unS heute Abend noch folgen werden, wir find uns bewußt, dah wir Nationen
vertreten, die in der Vergangenheit Kriege geführt haben, die in der Gegenwart jum
Kriege gewappnet fteben, obgleich wir, Gott fei Dank, heute nocd in Frieden mit:
einander Leben.
Uber wir fprechen heute Abend nicht im Namen diefer oder jener Nation, wir
fommen zu Shnen als Mitglieder einer großen wachſenden Schweſternſchaft, die das
hohe und beilige Geliibde verbinbdet, fiir die Sache des allgemeinen Friedens im
Namen der Menfeblicfeit zu arbeiten. Wir vergeffen nicht, wir können nicht vergefjen,
daß der Cinflug der Frauen in allen Landern Leider oft zur Veranlajfjung und Fort:
febung von Kriegen beigetragen bat. Diefe Crinnerung aber dämpft unfere VBegeifterung
nicht; fie entflammt nur um fo mebr in uns den Wunſch, unfern International Council
zum Mittel einer Propaganda zu machen, die alle Frauen anwerben foll, als Apojtel des
Friedens im Bereich ihres Cinfluffes zu wirken.
Laſſen Sie uns das nicht als eine leichte Aufgabe anſehen. Wir müſſen gegen
die Sitte und die Vorurteile von Jahrhunderten ankämpfen. Wir müſſen viele Ideale
der Kinderſtube ſtürzen, die klirrende Schwerter und aufgezäumte Roſſe als die not—
wendigen Begleiterſcheinungen des Heldentums hinſtellen.
Aber gerade in der Kinderſtube müſſen wir mit unſerer Miſſion beginnen, wenn
ſie Erfolg haben ſoll; und ich glaube, eine der wirkſamſten Methoden wäre, alle
Mütter zu veranlaſſen, daß ſie Heldengeſchichten ſammeln, die nicht mit dem Krieg zu—
ſammenhängen, und durch dieſe Geſchichten ihre Kinder daran gewöhnen, den Begriff
des Heroismus mehr mit der Erhaltung als mit der Vernichtung des Lebens zu ver—
binden, Geſchichten, die den moraliſchen Mut, der das Rechte zu tun wagt trotz
Widerſtand und Spott, über den phyſiſchen Mut ſtellen, der alles nur um des perſön—
lichen ober nationalen Ruhmes willen wagt. Solche Geſchichten kann man bei den
Menſchen aller Klaſſen des bürgerlichen Lebens finden, bei Bergleuten und Arbeitern,
Eiſenbahnleuten, Matroſen, Lehrern, Lehrerinnen und Pflegerinnen, und wir lernen be—
ſtändig in unſerem täglichen Leben Beiſpiele davon kennen.
586 Anfprace von Lady Aberdeen bei ber Friedensfunbgebung bes Fraueniveltbundes,
Ich möchte unferem Friedensfomitee vorfdlagen, in jedem Lande cine Liſte von
Biichern aufzuftellen, die folche Anſichten einprägen können, und alle Geſchichten wahren
Heldentums ju ſammeln. Dies mag als etwas fehr Geringfiigiges erſcheinen, aber
id) glaube, daß es von grifter Wichtigheit ijt. Auch Bilder folcher Taten follte man
in Kinderftuben und Schulen aufhingen, um fo auf doppelte Weife die heranwadhfende
Generation gu beeinfluffen. Wir follten auc im Unterricht viel mebr als üblich bei
den Seiten des Krieges veriveilen, die das Haus, die Frauen und Kinder berühren.
Gin Land, bas erft kürzlich Kriegszeiten durchlebt hat, meine Damen und
Herren, braucht nicht an die vielen dunfel und traurig gewordenen Heimftitten erinnert
zu twerden, die der Krieg zurückläßt, ſowohl im eigenen Lande als in dem de3 Feindes;
man braucht ibm nicht zu fagen, dah Krieg Kriegsſteuern bedeutet, daß er cine Preis-
fteigerung aller Lebensbedürfniſſe nach ſich zieht, und dah auferdem die Triumphe phyſiſcher
Kraft immer cine Erniedrigung der Lage der Frau bedeuten. Er bedeutet alles Dies
und nod viel mehr, — er bedeutet auch, daß Söhne, Briider, Gatten auf Dem
Schlachtfelde jenen Qualen ausgefest find, die uns Baronin von Suttner mur ju lebhaft
in ihren Büchern befebrieben bat.
Die meiften von uns find in dem Gedanfen aufgewadfen, daß diefer Zujtand der
Dinge niemals geändert werden fann — dah wir gebalten werden von der cifernen
Fauft eines Schidjals, dem wir nicht entrinnen finnen, und dak die Nationen
immer weiter jene Millionen zur Erhaltung der Heere und Flotten bejablen müſſen,
die fo gut zu andern Sweden verivendet werden finnten, wie alle Sozialreformer wiſſen.
Aber warum diejer Peffimismus? Wir wollen nicht vergefjen, daß Fortſchritte
gemacht werden, daß das Haager Schiedsgericht befteht, dak während de letzten Jahr—
hunderts zweihundert Streitigfeiten zwiſchen Rationen durch Sebiedsgericht beigelegt
worden find, und daß hundert von dieſen Fallen den letzten Jahrzehnten angebdren.
Erinnern Sie fic) auch jenes Vertrags gegenfeitiger Entwaffnung zwiſchen Chili und
Peru, der tatſächliche Entwaffnung bhedeutet, cin Vertrag, der jene Staaten veran-
[aft bat, ibre Kriegsſchiffe zu verfaufen, und anjtatt der Feftungen an ibrer Grenze
das Bild unferes Herrn Jeſus Chriſtus zu errichten.
Matthew Arnold erzählt in einer Fabel, dak Gott dem Menſchen, als er ibn
auf die Erde fandte, cine Handvoll Buchftaben gab und ibm befabhl, fie yu cinem
Worte zuſammenzuſetzen, das die Beftimmung der Welt bezeichnete. Der Menfch bat
fie viele Male jzufammengefest und den Namen eines Weltreichs nad dem anderen
beraushuchftabiert, aber noch keines dieſer Worte bat jene vollfommene Ordnung
bexeichnet, bon der wir träumen.
Hovffentlid wird es den Frauen wverftattet fein, den Männern zu belfen, aus
jenen Buchftaben ein Wort zuſammenzuſtellen, das fold) ein Verſtändnis zwiſchen
allen Vöolkern augdriidt, dad einen freien Bund von Nationen febafft, der endlich die
Reit deS Fricden3 und Wohlwollens unter den Menſchen berbeifiibren wird, auf die
die Welt ſchon fo Lange gewartet hat.
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587
Von Prauen und aber Ppauen.
AA See ee
Ichildert man uns die Tugenden eines Mannes, fo zeigt man ihn im Ringen, in
SY der Tat. Aber die, welde man an einem Weibe bewundert, geben immer von
8 einem unbeweglichen Vorbild aus, von einer ſchönen Marmorſtatue in einem Muſeum.
Gs ijt cin inbaltlofes Bild, ans ſchlafenden Laftern, trägen Leidenfchaften, ſchlummernden
Huhmestiteln, paffiven Bewegungen und negativen Kräften getwoben. C8 ift keuſch,
weil es feine Cinne bat, gut, weil es feinem Menſchen Schaden tut, geredt, weil es
nicht bandelt, geduldig und ergeben, weil es jeglicher Tatkraft enthebrt, duldfam, weil
feiner es beleidigt, und verſöhnlich, weil es nicht die Rraft bat, zu widerfteben, mit—
leidig, weil es fid) ausplündern [apt und tweil fein Mitleid ibm nichts nimmt, treu
und aufridtig, demütig und ergeben, weil alle dieſe Tugenden im Leeren (eben und
auf einer Leiche blühen können. Dod) was wird daraus, wenn das Bild Leben
befommt und fein Mufeum verlagt, wenn es ins Leben tritt, in dem alles, twas nicht
teilnimmt an der ringsum flutenden Bewegung, jum kläglichen oder gefährlichen
berrenlofen Gute wird? Dit es auch eine Tugend, einer ſchlechtgewählten oder moraliſch
erloſchenen Liebe die Treue zu balten, einem beſchränkten oder ungerechten Herrn
ergeben 3u bleiben? Iſt unſchädlich fein ſchon gut fein und Nichtlügen ſchon auf—
ridtig fein? — €8 gibt eine Moral fiir die Leute am Ufer dev grofen Stréme, und
eine Moral fiir die, welche ftromauf fabren. Es gibt eine Moral des Sdhlafes und
der Tat, cine Moral des Schattens und des Lichtes, und die Tugenden der erfteren,
die fosufagen Gobltugenden find, müſſen fic) erbeben, fic) ausiweiten und Volltugenden
werden, um der zweiten Moral anzugehören. Stoff und Linien bleiben vielleicht die
qleichen, aber die Werte find von duperftem Gegenfag. Geduld, Sanftmut, Ergebenbeit,
Vertrauen, Entſagung und Verjichtleiftung, Hingabe und Aufopferung, Lauter Früchte
der untatigen Tugend, find, fobald man jie in das raube Leben hinausbringt, nicdts
als Schwäche, Unterwürfigkeit, Sorgloſigkeit, Unbewußtheit, Tragheit, Selbjtvernad:
läſſigung, Dummheit oder Feigheit. Um die Quelle des Guten, der ſie entſtrömen,
auf der nötigen Höhe zu halten, müſſen ſie erſt imſtande ſein, ſich in Tatkraft,
Feſtigkeit, Beharrlichkeit, Klugheit, Widerſtandskraft, Unwillen und Empörung um—
zuſetzen. — — — So iſt die Frau, von der ich rede, um ſo hingebungs- und auf—
opferungsfähiger, weil fie die Kraft hat, dem demütigenden Zwange dieſer Handlungs—
weiſe länger als jede andere zu widerſtehen. Sie zieht nicht Leid und Trübſal im
Leeren groß als Sühn- und Läuterungsmittel, aber fie weiß Leid und Trübſal zu
tragen und mit kindlicher Leidenſchaftlichkeit zu ſuchen, ſobald es gilt, ihren Lieben
eine kleine Trübſal oder einen großen Schmerz zu erſparen, dem ſie ſich allein gewachſen
fühlt und den ſie ſtill im geheimſten Herzen beſiegt. Wie oft ſah ich ſie Tränen über
ungerechte Vorwürfe unterdrücken, während ihre Lippen, auf denen ein fieberhaftes
Lächeln ſpielte, mit faſt unſichtbarem Mut das Wort verſchwiegen, durch das ſie ſich
hätte rechtfertigen können, aber das den, der ſie ſo verkannte, gedemütigt hätte. Denn
588 Stephan Wacholdt +.
wie alle geredjten und guten Menſchen hatte fie natürlich unter den kleinen Ungerechtig-
Feiten und Bosbheiten derer zu leiden, die unficher zwiſchen Gut und Böſe ſchwanken
und nur zu leicht die oft erlangte Verzeihung und Nachſicht mißbrauchen. Und died
beweijt bejjer als alles träge und weinerliche Zuſtimmen einen gliibenden, mächtigen
Vorrat an Liebe.
(Aus Maurice Maeferlink: „Der doppelte Garten”.
Verlag von Cugen Diederids, Jena.)
Stephan Waetzoldt 7.
Bon
Helene Tange.
Nachdrud verdoten.
{8 vor wenig Jahren Profeffor Dr Stephan Waetzoldt als Dexernent fiir das
höhere Mädchenſchulweſen in das preußiſche Rultusminijterium berufen wurde, da
ging es wie ein Wufatmen durch die Reiben all derer, die cine wirkliche höhere
Frauenbilbung wünſchten. Jahrzehntelang war die Hihere Mädchenſchule das Stief—
find der Unterridtaverwaltung getvefen. Schwerer nod als die Zurückſetzung im
Etat lag die Herrjdaft eines Pringips fiber ibr, das die Frauenbilbung in die engften
Schranken fejjelte. Die Mitarbeit der Lebrerin war auf der Oberftufe nur geduldet
oder doch höchſtens als „wünſchenswert“ anerfannt, und iwenn die ſchließlich unter
dem Drud der Hffentliden Meinung durdgefeste höhere Wertung auch in den Be-
ftimmuingen von 1894 zu leſen ftand, jo feblte doch jeder kräftige Einſatz feitend der
Regierung, den Worten die Tat folgen gu laſſen. Und die nach ſchweren Kampen
endlich erjtrittene Oberlebrerinnenbildung wurde als cine bedauerlice Ronjeffion be-
trachtet, die den jungen Lebrerinnen die „ſittlichen Gefabren” der Vielwiſſerei und
des geiftigen Hochmuts zu bringen drobte. Keine von all den friſchen Lebens-
ftrimungen, die lange ſchon im Lebrerinnenftand puljierten, konnte fich frei und
glücklich entfalten. Den neuen Dezernenten grüßten alle unfere ſchönſten und fo lange
gebegten Hoffmungen und Wünſche. Wir fonnten ihn als cinen Mann, deſſen freie
und weite Lebensanfdauung, deſſen feine geijtige Kultur alle Engherzigkeit und Halb—
heit ausſchloß, und deſſen warmes Intereſſe ſchon feit Jabren der Mädchenſchule und
den Lehrerinnen gehörte.
Und in der Tat zeigte gleich die erſte Oberlehrerinnenprüfung, daß ein neuer
Geiſt wehte, daß eine neue kräftige Initiative für die Sache der Frauenbildung eingeſetzt
hatte. Er ſelbſt hat es oft geſagt: „Wir wollen nur erſt einmal unſern Lehrerinnen
die Tore weit aufmachen, damit ſie einmal wiſſen, was wiſſenſchaftliche Arbeit und
was geiſtiges Genießen iſt“ — für ihn gab es keine „weibliche Wiſſenſchaft“, weil
ſeine ſouveräne geiſtige Perſönlichkeit alle Halbbildung abwies. Und er glaubte an
die Fähigkeit der Frau, den uneingeſchränkten Anſprüchen wirklicher Wiſſenſchaft zu ge—
—
Stephan Waegoldt +. 589
niigen. Diefer Glaube hat den Lebrerinnen die Bahn frei gemacht, bat fiir fie Hinder:
nijje überwunden, die ibnen nod Lange den Weg verftellt batten. Diefer Glaube hat
aud in die ganze Mädchenſchulfrage den Geift bineingetragen, in dem allein wirkliche
Fortſchritte gemacht werden fonnten,
Von zwiefacher Seite erfafte ev die Reform der höheren Mädchenbildung, von
der Seite des Lehrkörpers und der Plane. Die Verjtirfung des weiblicden Einfluſſes
in der Schule war ein Hauptpuntt feines Programmes. Unermüdlich bat er feinen Ein—
fluß dafür eingeſetzt, und offisielle Huperungen ju Gunjten der Lebrerinnen haben
während feiner Amtsdauer unjere Sache in weiteften Kreifen gefördert. —
Stephan Whegoldt ijt es vor allem ju danfen, wenn die Frage der Mädchen—
jbulreform in Preußen in den legten Jahren in Flup gefommen ijt. Es ift die
Arbeit, an die er feine Lebensfraft im eigentlichften CSinne des Wortes gefest bat.
Seit zwei Jahren und Langer tft im Dezernat fiir das Mädchenſchulweſen die Arbeit
an den neuen Plänen fiir die höhere Madchenfdule in Angriff genommen. Welche
Hindernifje es dabei gu iiberwinden gab, fonnen wit nur abnen. Die Richtung, in
der jich die Reform bewegen follte, wurde ſchon vor zwei Jahren vom Rultusminijter
angedeutet. Wir durften danach erwarten, daß wirklich modernen Anforderungen
Rechnung getragen werden würde. Wenn da8 nit in nod weiterem Mage in
Ausſicht gejtellt wurde, jo war das nicht Waetzoldts Schuld. Wir wifjen, dah er fo
weit ging, wie eS die Verhaltniffe irgend gejtatteten.
Nod) find die Pline nicht verdffentlict, und wer will e3 den Lehrerinnen ver-
denfen, wenn fie nicht fo unbedingt auf eine Erfiillung fo ungewohnt ſchöner Ausſichten
und Hoffrungen vertrauen! Wie es aber aud fonunen mag, was Waegoldt als feine
Lebensarbeit betractete, wird nicht verloren geben. Er bat den Lebrerinnen, die jelbjt
feinen griferen Wunſch fannten, als an einem höheren Siel gemefjen yu werden, died
Riel geftedt; er hat ihnen die Krafte gelöſt, ihnen ohne jede Galanterie ihre Schwächen
gezeigt, aber als ehrlicher und vorurteilslofer Mann aud) rückhaltlos anerfannt, dah
fiir Die Reform der Mädchenſchule die wijfenfchaftlich gebildete Lebrerin ein erjter
Faltor fei. Er bat das ſchon yu einer Seit ausgejproden, wo es ibm dads ſchwer—
wiegende Mipvergniigen der Negierung eintrug; er bat dicfe Mberjeugung mit der Tat
vertreten, fobald ibm die Macht dazu geworden war. Und fo hat Stephan Waegoldt |
einen Beitrag zur deutſchen Kulturgeſchichte geleiftet, der feinem Namen Dauer ver:
leihen wird.
Was er fonjt noch geleiftet bat als feinjinniger Schulmann, wie er die Seele
des Kindes ldfen wollte vom dumpfen Drud der engen Klajjenmauern, dad deuten die
wabrhaft genialen Worte an, die er auf Dem Kunſterziehungstage ju Weimar fprad.
Und wenn man daran denft, was er, der erft auf der Höhe de3 Lebens ftand, nod
hatte leiſten finnen, wenn nicht raftlofe Arbeit feinen Körper vor der Zeit verjebrt
bitte, fo fann einen dod) nur kaum der Gedanfe berubigen, daß in diefer
Selbjftaufopferung fiir hohe Ziele das edeljte Glück geqeben ijt, und fiir uns -iibrigen
das edelite Vorbild.
eye
190
Vas Plorentiner Bildnis.
Zon
W. Fred.
Raddcud verboten.
yin feines und fluged Buch, das der Kunſthiſtoriker Gmil Schaeffer im Brad:
j) mannfden Verlag in Miinchen vor kurzer Zeit herausgegeben bat, gibt einen
Cee fcinen Anlaß, um ſich über das Weſen der VBildnisfunjt cine halbe Stunde
zu unterbalten. Qe mehr die Erwartungen, die cin Menfds einem Werke der Kunſt
entgegenbringt, fid) vergrößern und verdfteln, defto näher ſcheint die Kunſt des Portrat-
malers auch dem Herzen des Runjtfreundes yu rücken. Das klingt zuerſt febr fonderbar,
denn Bie Möglichkeit, von dem befonderen Fall ins Allgemeine Seblitije yu ziehen und
ein grofes Weltgefiibl zu gewinnen, ſcheint ja weit eber bei cinem Stoffe gegeben, der
allen zugänglich ijt und eine grofe Reibe von Affoziationen twedt, als bei einem
folcben, der nur einen bejtimmten Kreis von Perſonen urfpriinglich interefjicren fonnte,
nämlich die, die den Dargeftellten entweder von Angeſicht zu Angefiddt fennen oder aus
feinem Lebenswerk cine Vorftellung von ibm haben und diefe nun an den Zügen des
Kunſtwerkes vergleiden und priifen wollen. Colche Meinung nun, die die Bildniskunſt
in enge Grenjen weifen möchte, ijt in verfchiedenen Cpoden, je nad dem Publikums—
geſchmack, dem Runjtgefiibl, in der Tat wirkſam getwefen, und erſt unferer Beit, die
immer mebr Freude an der Erfenntnis fulturbijtorifeher Zuſammenhänge und Einzelheiten
aufbringt, ift es vorbehalten geiefen, ſowohl eine große und nenartige Bildnistunjt zu
ſchaffen wie zu erleben, als aud) den Bildnijjen vergangener Jabrhunderte eine rege
und in die Tiefen gebende WAufmerffamfeit zuzuwenden und in den Galerien alter
Porträts eine unendliche Quelle von Anregung und Belehrung, Aufſchlüſſen über
fonderbare Menſchen und fiber die Adeale verfloffener Zeiten gu finden.
In ſolchen Abſichten ift aud) das neue Buch von Schaeffer über da3 Florentiner
Bildnis yu einer reifen Darjtellung von großem kulturhiſtoriſchen Werte gediehen.
Die Stilkritik freut diefen modernen Kunjthiftorifer gar nicht, und feine ftarfe Gelebrtheit,
die ſich aufs befte mit einer grofen Fähigkeit, fic) ausjudriiden und eine Zeitſtimmung
zu geben, verbindet, bat ibren Brennpuntt nicht in Bilderbeftinumingen, fondern in dem
Intereſſe an dem Leben und dem Gefühl entfernter Zeiten. Die Kunſtgeſchichte wird
ihm ein flangreiches Inſtrument, auf dem er bald in ernjten, bald in beiteren, manchmal
auch in ſchwermütigen und ſchmerzlichen Tönen das Lied vom Wachſen ſchöner Menjden
und dem Verfall iiberbildeter Perfinlichfeiten fingen fann. Und die Bildnijje, die in
der feligen Stadt am Arno in der Epoche der Kunjtbliite gemalt worden find, find
wie alle Bildniffe Berichte dariiber, wie die Menfcben ausgefeben haben, aber aud) wie
jte ausfeben wollten und was ibnen das Teuerjte im Leben war.
Mitteilungen über die Natur eines Menfeben, durch die intuitive Kraft eines
Riinjtlers feftgeftellt und wiedergegeben — das könnte man als die tieffte Abſicht cines
Das Florentiner Bilbnis. 591
wirklichen Portrats binjtellen. Cin Künſtler driidt aus, wie fic) in feiner Natur eine
fremde Natur gefpiegelt bat. Er gibt alſo weder rein den andern, nod auch, wie in
anderen Kunſtwerken, nur fein eigenes Lebensgefiibl. Der große Bildnismaler ijt alfo
ein Pjvdologe, wenn aud manchmal unbewuft, und das ift das wichtigſte; er ift fein
Analytiker, der Cigenfcbaften einer Pſyche zerſetzt, ſondern bas vollendete Bild ded
Synthetikers, dev die weſentlichen Merfmale einer Erſcheinung und ciner Innerlichkeit
durch eine Neuſchöpfung fo jzufammenfiigt, dak man von dem Kunftwerke ein voll-
fommeneres und edleres Bild der Wirklichfeit hat als won dieſer felbjt. Mit einer
ſolchen Forderung an den Bildnismaler fann man nur allerdings nicht die Anfänge
diefer Kunſtübung betrachten. Unmittelbar aus den CErfordernijjen der Beit, aus
perfonlichen Bedingungen, aus Zufällen und Launen werden die erften italieniſchen, im
befonderen florentiniſchen Bildnijje gefdafien, und in einer unendlich langſamen und
mühſamen Entwicklung durch Jahrhunderte bildet ſich erſt jener Anſpruch, der im
Vorangegangenen ſktizziert worden iſt.
In Florenz iſt ja allerdings das Bildnis eine der Hauptgrundlagen der künſtleriſchen
Entwicklung. Das beweiſt jede Stunde, die man in florentiniſchen Photographien
blättert, jeder Blick in die Literatur, wenn es auch nur das große Buch des Vaſari
iſt. Das kann auch nicht anders ſein in dieſer Stadt, deren ganze Hiſtorie eine
Geſchichte der menſchlichen Perſönlichkeit iſt. Der Begriff des Individuums, den wir,
einzelne unter uns wenigſtens, mehr und mehr aufzugeben lernen, hilft einem noch
ſehr, wenn man die großen Zeiten der Florentiner Republik betrachtet. Die Größe
des Lebens, wie die Größe der Kunſt wurzelte in ein paar Menſchen, die ſich reich
entwickelten und vielfältig und nuanciert lebten. Der Verfall fam, als dieſe Perſön—
lichkeiten über die ſozial nützliche Grenze hinaus entwickelt waren, und kein Kapitel der
florentiniſchen Kulturgeſchichte iſt zu erdenken, das nicht die Unterſchrift verdiente: vom
ſchönen und kräftigen Egoismus. Und wer heute in Florenz ſpazieren geht, der fühlt
aus den Roſengärten und den ſteinernen Höfen, aus den heiligen und profanen Bildern
und aus allen lauten und leiſen Erinnerungen der Renaiſſance die prächtige Freude an
der Perſönlichkeit. Vielleicht aber kann man auch den Begriff anders faſſen, als das
Weſentliche dieſer Zeit nicht die Individualität nehmen, ſondern das ſcheinbare Gegen—
teil: daß nämlich damals die Menſchen den Mut hatten, ſich ihren Stimmungen und
dem Willen des Augenblids hinzugeben und ſich durch keine prinzipielle Konſequenz,
durch keinen Charakter feſſeln zu laſſen.
Von alledem geben die Bildniſſe mancherlei Kunde. Im Anfange, im Trecento
allerdings, ſieht man wenig Nuancen. Die Wiſſenſchaft kann konſtatieren, wo in einem
Fresko der Maler ein beſtimmtes Modell mit der Abſicht, es zu porträtieren, in den
Kreis religiöſer Vorſtellungen eingeführt hat. Dem Beſchauer, dem Genießer mag dies
gleichgiltig ſein, denn noch treten individuelle Merkmale einer Perſon ungemein ſtark
hinter Typiſchem zurück. Die erſten Bildniſſe werden in die Freskenkunſt durch Giotto
eingeſchmuggelt, ſogar ein Selbſtbildnis des Künſtlers kommt da zum Vorſchein, in
eben jener Zeit, in der die Kunſt nicht bloß ein Lehrmittel iſt, ſondern aus dem Erwachen
der Sinnlichkeit eine neue Freude an allem Natürlichen und Menſchlichen erſteht. Das
Mittelalter allerdings iſt noch nicht tot. Das erſte wirkliche Bildnis aber, auch dies
im Rahmen des Freskos, zeigt die Züge des Dante, und das iſt eine merkwürdige
Einleitung. Dante wird aber nicht dargeſtellt, weil er ein Dichter war, auch nicht,
weil er ein frommer und eifriger Chriſt geweſen iſt, ſondern als guter Bürger, der im
592 Das Florentiner Bildnis.
politiſchen Leben cine, wenn auch nur flüchtige Rolle einmal gefpielt bat. Und gerade
in den Werfen des Dante tritt oft das große Bedürfnis der Menſchen feiner Beit, nicht
ungefannt 3u fterben, im Rubme weiter ju leben, zu Tage, felbft im Inferno verlangen
die Siinder, Daf man von ibnen berichte. Die Florentiner wollten nicht vergeſſen
werden, Der Nachrubm ſchien ibnen das teuerfte, und in einem Volke mit dieſem
Gefühle mufte die Bildniskunſt erjtarfen.
Die Schüler de3 Giotto fiigen denn auch in reicher Zabl die Menſchen, mit
denen fie das Leben in Berührung brachte, in ihre Bilder ein. Mit ſchöner Naivität
joll Andrea Orcagna auf feinem Fresfo vom jüngſten Gericht in Santa Croce feine
licbjten Freunde ins Paradies gefandt baben, ,,. . . . feine Feinde aber fete er in
die Holle.” So beridtet Vafari, und unter den Menſchen in der Holle fiebt man
cinen Steuerbeamten der Kommune, der den Künſtler einmal gepfaindet bat. Es tut
mir leid, dah die Kunſtforſchung dieſe Tradition nicht gelten [aft und die Anuswabl
der Portrits auf diejen Fresfer auf andere ernfthafte und weniger perfontiche
Griinde zurückführt. Die Kunſt febreitet weiter, die Schatten befommen Kérper, die
Figuren relievo, man fängt an zu muancieren, durch Hervorbhebet de3 Raffentypus,
des Koſtüms ju individualifieren. Und langſam wird der Weg bereitet fiir jenen
frommen Maler, der der ſeeliſchen Grazie, die die ganze damalige Kunſt bat, nod die
befondere Freunde an weiblicher Anmut hinzufügt: Ara Filippo Lippi, der das erſie
Frauenbildnis gefchafien Hat. Er malt als Herodias ſeine Geliebte Lucretia Buti.
Wus einer verliebten Laune, wie Schaeffer fagt, entitebt die Kunſt des Franenbildnifjes.
Nun folgen dic Daritellungen fchiner und bedeutender Manner und Frauen in
reicherer Sahl, Man findet fie in den Fresfen fo gut wie in den Andachtsbildern,
und ſchon ijt aud das profane Gemälde ju ftarfer Höhe gelangt. Gbirlandajo und
Botticelli nebmen unter ihren Figuren manche bekannte Gejtalt auf, und in der Maske
der Lucretia erfcbeint jum letztenmal anf einer religidvfen Alfresko-Darſtellung cine
Frau der Wirklichfeit nadgebildet, dic Gemablin des Andrea del Carte, die ſanfte,
{chine Geliebte, die ihm immer das Vorbild feiner Frauendarjtellungen war, Denn
ſchon bat ficr der Eifer der wirklich Frommen gegen die Regerei, die fiindige Menfden
in Die GHeiligenbilder cinfiibrte, erboben. Schon predigt Cavonarola gegen die
Sinnenfreude, ſchon erhebt er fic) gegen dem Egoismus, der die Triebfeder ju allen
Stiftungen ijt, die Frömmigkeit nur noch als geringen Vorwand benützt. „Blicket
umber in einem Kloſter, iiberall werdet ibr die Wappen deſſen finden, der es bauen
lief. Ich wende mein Haupt jener Titre yu und glaube, daß ein Kruzifix dort fei —
es ijt ein Wappen.” Und wie fann Frömmigkeit die Wirkung der Heiligenbilder fein,
wenn man durch die Symbole hinweg die Modelle erfennt und das lebende Fleiſch
mit der gemalten Religioſität vergleicht. „Die jungen Leute fagen dann, dies da iit
Magdalena und jener andere der beilige Johannes . . . .. Abr laßt die Geftalten
in den Kirchen bald der einen, bald der anderen Frau aähnlich malen. Das ist übel
qetan und zeugt ven großer Verachtung göttlicher Dinge.” Mit folchem Cifer bebielt
Savonarola recht. Er befehrte feine Seit, zwang fle, und wiederum wendete ſich,
cine flüchtige Seit wenigftens, die Kunſt von der körperlichen Freude yu jener Schön—
heit, dic ,cine Qualität der Seele“ fein follte. Damit iff der Verlauf ded Portrats
innerhalb der Freskomalerei gegeben, eine CEntwidlung, die, wm Schaeffers Worte
bier wörtlich yu geben, „zuſannnenfällt mit der des Perſönlichkeitsgefühls. Zuerſt
wiirdigte man den großen Birger cines Vilbes an beiliger Stätle. Er wurde vom
Das Florentiner Bildnis. 593
zuverläſſigen Parteimann verdrangt; dann trat der Stifter in den Vordergrund, mit
anderen QWorten, der Familienftoly überwog die politifden Yntereffen. Endlich
erwachte das Selbſtbewußtſein ded Künſtlers, und die Fresfen kündigten den Ruhm
vor Maler und Mäcen. Aud dies Hirte auf und der Künſtler bebauptete allein das
weld. Seiner Gattin huldigte Andrea del Sarto. Was begonnen hatte wie ein
Epos, endete als Canjone..... a
* +
*
Wie auf den Fresken, ſo erſcheinen auf den Andachtsbildern des Quattrocento
ſchon Porträts, und zwar die frommen Menſchen, die dem Künſtler den Auftrag zu
dem Bilde gegeben hatten. Ihre Geſtalten ſind zuerſt ſehr klein, wachſen dann und
drängen ſich allmählich ſelbſt in Darſtellungen, auf denen ſie inhaltlich gar keinen Platz
beanſpruchen können, als die Begierde der Menſchen, ihre Züge der Nachwelt zu
übergeben, unaufhaltſam wurde. So ſieht man die Stifter ſogar auf den Darſtellungen
der Verkündigung und Fra Filippo Lippi hat eine Madonna della Miſericordia gemalt,
auf der mit befonderem Stolze die ganze große Sippe der Bejteller um die Jungfrau
herumgeſchart ijt. Allmählich aber begnügen fics die Menſchen nicht mebr, als Zuſchauer
auf den Heiligenbildern zu erfdheinen, -fie werden als bandelnde Perfonen dargeftellt,
wieder einige Seit fpater als die Heiligen ſelbſt. Man bekümmert ſich nicht mehr
barum, die Ahnlichkeit des ModellS auch nur zu verwifdet, und ohne jede Zurück—
baltung malt man fündige Menſchen als göttliche Figuren. Fra Filippo Lippi malt
jeine Geliebte, Lucretia Buti, eine entlaufene Nonne, als feqnende Heilige, und erft
Savonarola mußte fommen, wm ſolcher Ketzerei Cinbalt zu tun.
Trog allem entwidelte fic dad Profanbild, alfo die bewubte Darftellung der
Menfcbensiige um ihres eigentlicsen Wertes wwillen, febr fpat. Die mittelalterliche
niedrige Meinung, die Der Menſch wom Menſchen hatte, ift da Urſache. Losgelöſt
von gittliden Beziehungen bedeutet der Erdenfohn nichts. Nur der Papſt und der
Kaifer geben früh Anlaß yu Ausnabmen. Für Floreny aber bedeutet der Kaifer
wenig, den Papft aber hatte ſchon Giotto am Ende des 13, Jahrhunderts dargeftellt.
Andrea del Caftagno erſcheint dann als der erjte wirkliche Bildnismaler. Er zeigt
dic Menſchen als tapfere Krieger, ift ein Realift und fiimmert fich um ihr Phyſiſches.
Die Menſchen wollen kräftig, eigenwillig, fihn und ficher erfcbeinen. In die
Entwidlung der italieniſchen Malerei tritt nun an diefem Punfte die ungemein ſtarke
Einwirkung flandrifcher Malerei, und durch dieſe gewinnt die Bildniskunſt den Anlaß,
fic um die fleinen Details der Kirper Su bemiiben. So wie die Riederlander jede
Falte des Fleiſches, jede Rinne der Haut, jeden Fle und jede abfonderlicse
Krümmung der Linie mit fabiger Runft notierten, fo bemühten fich, nachdem fie diefe
Hilder gefeben batten, die Hlorentiner um eine genauere naturalijtifde Darjtellung
der menſchlichen Erſcheinung. Dennoch aber blieben fie nicht beim Außerlichen fteben,
ja fte bielten fic) auch nicht bet der Andividualitét an fic anf, da in der ganjen
Kunſt diefer Naffe das Bemiiben fag, ftatt der wenn aud nod fo interejjanten
Anbdividualitat den Typus yu geben. Die nene Art des Sebens half ibnen, ftatt des
Nonumentalen nun das Pittoreste zur Anſchauung ju bringen, das Vielfältige in der
menfcbliden Natur; und das war damals notwendig, da die Zeiten fich geändert
batten und fiatt des Typus des kräftigen Rriegers, den Cajtagno zeigte, jest eine
neve Männerform liebenswert erſchien. Diefe neue Form war nicht mehr der Mann,
jendern der Siingling, bel giovane, und in diefer Gejtalt erfcbeint uns der
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Eigenicheiten, wie *e im jedem einzelnen yom Loricheine fam, tetukalten, und fe
wurde tre Abnlichlkeit ein Bedinants ber Kortraättun
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EKabtent fur tre Wannermatecet diciet Jeit et Austui: Quant e bella giovinezza!
aft, tebt man ich noch cli
geraume Jeit vergeblich nad ten Tatftellungen der ſchẽnen
piauen um Wan mu
7
bie Kerzweiftlung des Roni. tigte zitieren, der gerade in
oreny auiichrieb, er batte niemals eine Ration gefeben, in der es fo wenig ſchöne Frauen
ache, und mun ſich nach Lenedig wenden, um das Bit i> dee weibliden Henaittance-
iddnbett yu Cefommen. Tie üblichen Kroñlbildet der tonanackenden Florentinetinnen
yigen andere Eigenſchaften als me térperlide Pract. Dieſe Xrauen haben eine große
Kultur, eine veiche innerliche Bildung, jtarfen Sinn fiir deforative Erſcheinung, pracht⸗
vollen Schmuck. Und je naber die Biloniafunit dem menidlicen Weſen fommt, defto
weniger faq ihr aud in Xloreny am Abiduldern einer befonderen phyſiſchen Anmut,
deito mehr erſcheint es das Biel der grofen Kunnler, das Weib an ſich gu malen.
Mian merft, dap itd die Beit des Lionardo anfiindigt, die Vorabnung der Mona Liſa.
Tiefes ratſelvolle Gemalde muh ja gerechterweiſe im Miittelpuntt jeder Auslaſſung über
bas Bildnis ſtehen. Wer Jahre bat Lionardo daran gemalt, und dann bat er es
unvollendet gelaijen, Wir aber feben in ibm das größte Kunſtwerk, können mit menſch—
lichen Worten qar nicht fagen, was es und alles bedeutet, und gar nicht daran denfen,
bie Griinde dicher Wirkung anjudeuten. Es ijt ein gebeimnisvolle3s Bild, und je mebr
man es anfiebt, defto weniger will man glauben, daß es nur ein Portrat einer
Alorentiner Bürgerin war, von deren menſchlichen Qualitäten wir ja gar nidts Großes
wiſſen. Als Yionardo fie malte, ließ er Muſikanten fommen, unt die Zeit yu kürzen.
Manchmal bat man geqlaubt, dak er fie geliebt bat. Aber da3 ftimmt gar nicdt zu
bem, was wir über das Liebesleben des Manned fonft wien. Und wenn man die
Schriften des Lionardo anfieht, dann findet man, daß mit demfelben Ernſt und der:
jelben Subtilitat des Erfaſſens wie die Mona Lifa von diefem Manne auch die
fleinften Gingelheiten der Natur beobachtet und darageftellt werden. War fie ibm alſo
nicht mehr als cin Grashalm oder cin Pferdekopf, nur ein Anlaß, feine Seele zu er—
gichen, cin Vorwand zur Walerei, ein Problem, ein Teil der grofen Natur... . .
cr war cin Pantheiſt, und vielleicht baben alfo jene recht, die died fagen. Mir aber
ſcheint es, daß er in dieſer Frau einfad das große Rätſel aller weiblichen Natur aus:
fprechen wollte, nicht es deuten, cine Lebre geben, cine Auflöſung, fondern nur das
Bild deo Gebeimnisvollen, des Bedrängenden diefer dämoniſchen Unendlichfeit, ein
Antlitz und eine Geberde, in der alles drin ijt, alle Möglichkeiten zum Leidenfcbaftlichen
und zum Ruhigen, zum Erſchütternden, Schlechter und Grogen.
Daß Liwnardo wie fein anderer die Vielfaltigkeit der weiblichen Naturen jener
Seit gefaßt bat amd durch ibn die ganze Bildnismalerei dieſen Zug mithefommen bat,
ein
5
Fy
Das Florentiner Bildnis. 595
bat auch ſchon Taine angedentet in feinen zwei Banden italieniſcher Reife, die jest
übrigens in einer ſchönen deutſchen Nberfegung von Ernſt Hardt bei Cugen Diederichs
in Sena erſchienen find. Er fagt da gelegentlich ber Nonne Lionardos: „Dieſe
Bildniſſe erſchüttern mich mehr als die ganje übrige Malerei, parce qu'ils font
saillir la particularité de la personne individuelle .... weil fie cine wirfliche
Frau, die gqelebt hat, geben, cine Miſchung von Nonne, Prinzeſſin und
Courtifane . . ..“
Andrea del Sarto, der als Frauenmaler nach Lionardo kommt, gelangt immer
mehr dazu, den Typus, die Idealgeſtalt der Frau zu geben, um ſo mehr, als er ja
immer nur ſeine eigene Frau malte und, wie Vaſari erzählt, ſelbſt wenn er andere
Modelle benützte, ſo änderte er alle Frauenköpfe, die er malte, doch, „weil er ſeine
Gattin beſtändig ſah, oft gezeichnet hatte und das Wichtigſte: ihr Bild in ſeinem
Herzen trug“. Pontormo gibt in ſeinen Frauenbildniſſen ſchon das ganze Milieu
einer femininen Atmoſphäre, malt nicht allein das Weib, ſondern auc die Künſte ihrer
Kleidung, ihres Weſens, ihrer Koketterie. Das find aber ſchon Verfallzeichen. Auch
dic Maännerbildniſſe bekommen nun den Ton von Lebensreſignation und Blaſiertheit,
Der Die Mode der Heit ft. Cin Hak der Wirklichfeit geqeniiber erbebt fics, und man
fingt an, dem Leben das Attribut „klein“ yu geben. Dadurch wird natiirlic aud
die Bildniskunſt gedriidt, unbedingte Abnlichfeit wird als erſtes Geſetz gefordert, der
Mater foll juriidtreten und die Porträtkunſt ausdrücklich von der ſozuſagen grofen
Kunjt getrennt. Die Menſchen, die man nun darftellt, zeigen fic in den Pofen ſchwer—
miitiger, gelangiweilter Menfchen, die ihre Seele verbergen, ſich vor jedem Hauch be-
wabren, find gum großen eile Literaten. Wan fieht nun nicht mehr aus wie ein
Krieger, auch nicht mebr wie cin geniefender und erwerbender Jüngling, fondern wie
ein abgefpannter, angeefelter Werther der Nenaiffance. Seon ijt aber auch die
Republik yerbrochen und cine neue Bildnisfunft ſchmiegt ſich dem ſpaniſchen Tone an,
der mit der Gattin Coſimos, Cleonora di Toledo, in Florenz cingesogen ijt. Die
Vildnijfe des Pontormo und feines Schülers Bronzino geben nun nicht mehr
Perfinlichfeiten, fondern Standesperfonen, und der Hof ijt der Hintergrund, von dem
ſich alles Hebt. Hochmütig feben die Menſchen auf den Maler herab und die Pofe,
Die fle sum Ausdruck bringen, ift ein wiirdiger, zurückhhaltender Anſtand. Die Bildniſſe
find Illuſtrationen zu dem Buche der Zeit, dem ,,Cortegiano”, dem berühmten Werfe
des Conte Caſtiglione, in dem fich die Guperliche und formale Kultur, nad der man
firebte, fpiegelt, und dieſes Brevier, das cin Bild der Zeit gibt, modelte dann dic
Heit felbft. Hier endet die Linie, die Schaeffer fiir das Florentiner Bildnis gezogen
bat. Man witrde ſich nun das Buch wiinfden, das fortfest, nicht mehr in Italien
bleibt, fondern vom ſpaniſchen Bilonis erzählt, dads Frankreich des 18. Jahrhunderts
in feinen Portrats erftehen läßt, das England vom Beginne des 19. und ſchließlich
durch die ganze Flucht der Seiten yu uns geleitet und erzählt, was die Maler unferer
Beit fiir Gebcimnifie in den Menſchen faben, die fie abmalten, und wie zu guter Letzt
pon der VBildnismalerei verlangt wird, dak fie ftatt äußerer Abnlichfeit innere
Wabrheit gibt.
596
— — Mapiann. —
Roman
von
Lonife Schulye - Briick.
Radbrud verboten. —
1.
Ss * nubt nichts, dab id mic zieh davor
und von einer Winut’ gur anderen wart! —
Geben muß ih doch!”
Mariann fagte es gang [aut vor fid bin.
Dann fubr fie erfdhroden gufammen und fab
nad) dem Rorb, in dem dad Rind fdlief. Cin
gan; junges Sind, faum drei Woden alt. Das
rote Geſichtchen veranderte ſich nicht, — der
Junge fcblief tief und feft weiter. —
Mariann feufzte leife. Dann ftrid) fie vor
bem winzigen Spiegeldhen ibr Haar zurecht.
Gin blajjes Gefidht fab ihr aus dem triiben
Glas entgegen, verhärmt und fummervoll.
Nits mehr von der „ſchönen Mariann” von
ebemal3. Qa, — ein Ungliid fommt fdnell
und Kummer und Sdanbe — —
„Herrgott, ber Paftor wartet ja!”
Sie warf nod einen letzten Blid auf das
Rind. Dann fdltipfte fie leife aus der Tür
und podte nebenan bei der alten Nachbarin.
„Wöhlerſch, wenn der Jung foreit, dann |
fudt mal nad ibm, gelt?”
„Ja, ja, Mariann, ich fud ſchon. Wber |
er wird ja nicht. Der ſchläft jest wie ein
Ratz!“
„Ich muß zum Paſtor.“
Die Alte ſah fie‘an. „Wirſt ja wiſſen,
twas er will!”
Mariann nidte. Sor blaſſes Geficht wurde rot.
„Ja freilih, — aber’ — —
„Mariann, fei nicht obſchternatſch! S'Un—
glück iſt nun mal geſchehen, aber unſer Paſtor,
der bringt alles wieder in die Reih. S'iſt ja
ganz und ganz verdreht, wie du dich anſtellſt!“
„Wöhlerſch, das iſt meine Sache! Ihr
meints gut, aber davon verſteht ihr nichts.“
—
„Aber Mariann! Das iſt nu doch mal ſo
auf der Welt! Du änderſt nichts dran! Du
kannſt auch nicht mit'm Kopf durch die Wand.“
Mariann nickte nur. Dann ging ſie zur
Tür hinaus mit müden Schritten. Sie war
bod nod ſchwach, fie ging langſam und ſchwer⸗
fallig, bie Knie jitterten ibr.
Uber fie trug dod den Kopf hod.
„Ich tu's nidt und tu's nidt,” murmelte
fie. „Und twenn er mir mit den zehn Geboten
und ben adt Celigfeiten fommt! Davon jtebt
| nichts in den zehn Geboten! Nein, gar nichts!“
Sie ging fiber ben Dorfplak unter den
blithenden Linden hin, die einen betdubenden
Duft ausſtrömten. Cinen Augenbli¢ rictete
fie den Kopf auf und fog begierig den ftarfen
Duft ein. So hatte die alte Linde in den
fauen Sommernächten des vorigen Sabres aud
geduftet, in den dunklen Radten, ba all ibr
Leid begann und ibre Schande. Cinen Augen-
bli ftocte ibr Fuh, fie madte eine Bewegung
nad rückwärts. Aber fie rif fid) wieder herum.
Was nubte es, den Gang aufjufdieben, der
doch einmal getan werden mußte. Und der
| Paftor würde glauben, ihre Scham fei ju
| grof. Und das twar fie dod nidt. — So
| viel fie aud nachgegrübelt hatte in diefer
ſchrecklichen Seit, fie fand feine Scam in fic.
| Lange war Hak, tödlicher Haf in ihr geweſen,
| auf ben, der fie in Schimpf und Sdanbe ge-
| bract hatte, vor dem fie auf den Rnien
| gelegen, daß ev fle gu feinem Weibe maden
| jolle. Einmal batte fie das getan, — ja nidt
, ibrethalben, fondern um des nod) Ungeborenen
willen. Und als er ſich verlegen gewunden,
| — nad Ausreden gefudt und dann davon—
geſchlichen war, feige wie ein Dieb, da war
Mariann. 597
faſt aud) ber Haß vorüber. Nichts war zurück—
geblieben als eine Verachtung, die tief durch
ihr ganzes Weſen ging, ſie ganz erfüllte. Und
ein Zorn auf ſich ſelbſt, die ſich hatte betören
laſſen von ſeinen funkelnden braunen Augen,
von ſeinen gleißneriſchen Verſprechungen, ja
nicht zuletzt ſeinen wilden Beteuerungen, daß
er nicht mehr leben wolle, wenn ſie nicht ſein
würde. Co dumm war ſie geweſen, fo leicht—
gläubig, ſo vertrauensſelig.
Das ſchwere eiſerne Tor gum Paſtoratshof
knirſchte in ſeinen Angeln, als fie es aufſtieß,
und weckte fie.
„Nun kommt das Schwerſte“ murmelte ſie,
„nun wird er mir zuſetzen und mir die Seele
aus dem Leibe fragen. Aber ich will nicht!
Und er ſoll nichts aus mir herauskriegen!
Nichts und gar nichts.“
Die Pfarrköchin warf einen ſtrengen Blick
auf ſie. Ja, für die war ſie eine Ausgeſtoßene,
eine Verbrecherin. Die wußte nichts von Liebe
und Sünde. Die war eine Heilige. Marianns
Blid ging von oben bis unten über die magere
Geftalt, den diirftigen Oberkörper, der in cinen
ſchwarzen geftridten Schal eingewickelt war trotz
bes warmen Commertages. Die fror immer,
bas alte Fraulein Lifettdhen. Wh, wer es
bod) aud) fo haben finnte, fo kühl und fo —
fo fromm. Gie fonnte aud nidt mebr fromm
fein, nicht mehr beten, nicht mehr in die Kirche
geben. Alles in ihr war wie verfengt. Wie
lange fie bier fland und warten mußte. — Das
Rind war fiderlid) toad) geworden daheim, hatte
Hunger, ſchrie. EF hatte immer Hunger, es war
cin fo gefunbder, ftrammer Junge mit einem
drolligen ſchwarzen Haarſchöpfchen, das ſich in
einer einzigen Tolle ringelte. Cie hatte es
aud erft gebaft, batte es nicht feben wollen,
und bie Obren zugehalten, als fie feinen erften
Edrei hörte. Wher dann war dod) die Mutter:
liebe aufgewacht und war ſchnell allmadptig in
ibr geworden. Es follte gang ibr gehören,
das Kind, um bas fie fo viel Elend und
Leiden ausgebalten hatte. Cr follte feinen
Teil daran haben. Gelb hatte er the geben
wollen — damit fie feine Not leide. Cie hatte
ibm ind Geſicht geſchlagen. Geld fiir das, twas
nicht mit allem Gelb und Gut zu bezablen
war, nur mit Blut und Leben. Gelb, damit
er tubig ſeines Weges gehen, rubig ſchlafen
fonnte. Gelb, das man einem fdledten Weibe
gibt, einer, bie ju faufen ift fiir ein paar
Grofden.
„Du follft zum Herrn fommen.” Fraulein
Lifettchen wies mit einer ftrengen Geberde auf
die Fubmatte, die vor der ſchneeweiß geſcheuerten,
fin mit Cand und gebadtem Kalmus be—
ftreuten Treppe Ing. — Wenn ſchon ,,folde”
in das Pfarrhaus famen, mochten fie wenigſtens
ibre Fiife vom Schmutz reinigen, wenn aud
ihr Herg voll Schlamm blieb. Fraulein
Lifettchen war nicht febr fiir chriftlide Milde,
fie bielt es mehr mit beilfamer chrijtlider
Strenge, befonders bei „ſolchen“. Das hatte
fie auch vorbin ibrem „Herrn“ deutlich gu ver—
fteben gegeben. Uber ibr Herr, — licber Gott,
mit bem war ja nichts gu machen, dev fab ja
in alle Menſchen wie in einen goldenen Kelch,
enn aud, Gott ſei's geflagt, viele eher redt
unreine Gefäße waren. Das fah man twieder
an ber Mariann. Häuſer bitte Fraulein
Lifettchen auf die Mariann gebaut, wenn fdon
fie recht weltlid) ausfah mit ihrem ſchwarzen
Haargewuſchel und den hellgrauen Augen unter
den angen ſchwarzen Wimpern. Wber fo cin
braves, fleipiges Madden, immer die Erſte bei
der Arbeit und die Leste avon, immer adrett
an fic) und in ibrem winzigen Stiibdben, bas
fie bei einer armen Witwe inne hatte. Und
nie hatte man twas Unredtes von ibr gehört,
trogbem fie gang allein auf der Welt war und
niemand hatte, der fie biiten und ſchützen
fonnte. Und nun war dod) bas Ungliid ge-
ſchehen, und eine brave Jungfrau, die auf Ehre
und Reputation bielt, mute die Mariann in
Grund und Boden verdammen. Das tat
Fraulein Lifettchen auch, und nebenbei flucdte
fie ben Mannern, durch die alles Leid, alle
Siinde, alles Schlimme in die Welt fam, wie
aud) bier wieder gu feben war. Und Fraulein
Lifettchen dankte ihrem Schöpfer, der fie nie in
Verſuchung und Gefahr geführt hatte.
Mariann ſtieg mit zitternden Knien die
Treppe hinan. Die Füße waren ihr ſchwer
wie Blei. Sie war doch noch ſchwach und
konnte noch nichts vertragen. Sie fürchtete
ſich auch vor den Augen des alten Pfarrers,
der ſie getauft und zur Kommunion geführt
hatte. — Zitternd öffnete ſie die Tur. — Das
Bimmer war von bläulichem Pfeifenrauch er—
593
jiillt, aber der Herr Paftor hatte die Pfeife |
weggelegt, ftand aufredt am Schreibtiſch und
fab fie ernſthaft an.
Sie blieb gagend an der Tür fteben.
„Komm nur berein, Maria Anna.”
Sie tat ein paar Schritte ins Zimmer bin-
cin, fie taumelte faft.
„Nun, nun, Maria Anna! Fürchteſt du
bid) fo febr vor deinem Seelforger? Warum |
bijt du nicht längſt gu mir gefommen, bajt mir
bein Herg ausgeſchüttet? Bijt nach Bersdorf
zur Beidte gegangen, um nicht gu mir reden
gu miiffen! Warum haft du das getan, Maria
Anna?”
Sie murmelte cin paar undeutlide Worte.
Sie fühlte, wie ihr fibel tourde, wie falter
Schweiß auf ibre Stirn trat.
Der alte Herr merfie es aud. Er nahm
aus einem Wandfdranfdhen cine Flafde und
ein Glas und nötigte ihr den feurigen Wein
auf. Das tat wobl. Neu belebt richtete fie
fic) auf.
„Und was foll nun twerden, Maria Anna?
Wilt du did) mir nidt anvertrauen! Coll |
nicht gut gemacht werden, twas nod) gut ju
maden ift? Goll dein Rind mit dem Matel |
unebelicher Geburt bebaftet aufwachſen? Willſt
du felbft als Gejeichnete, als Entebrte durchs
Leben gehen? Freilich, was geſchehen ijt, ift
geideben, da ift nichts zu ändern. Wher wenn
du heirateſt, ift bod in kurzer Beit alles
anders.“
Marianns Augen fiillten fid) mit Tranen.
Per alte Herr fah eS, und er fubr eilig
fort:
„Und dein Rind, dein Sohn! Aud gegen |
ibn haſt du Pflichten. Er mup einen Erjieber |
haben, nicht nur cinen Vater, Du bift zu |
ſchwach dazu! Haft bu ja aud) der Verſuchung
nicht widerfteben finnen, wober follteft du die
Stärke nebmen yur Erziehung des Kindes?“
Da rictete ſich Mariann haſtig auf. Sie
ftand in ibrer ganjen Gripe vor dem kleinen
alten Herrn.
„Hochwürden, Sie fagen, was fie alle
fagen! Sd) foll Ihnen anvertrauen, wer der
Vater des Kindes ift, damit fie ihm gureden,
ihn zwingen, feine Schuldigkeit an mir zu tun!
Ich weiß, Sie finnen das! Jeder weiß ja,
bei wem Sie das febon fertig gefriegt haben!
* “a
a
RMariann.
Aber Hodiwiirden, fagen Sie felbjt, haben Sic
Freude an den Ehen, die fie fo zuſammen—
gebracht baben ?“
„Freude?“ Der Pfarrer fab fie ftreng an.
„Wir find nidt auf Erden, um Freude zu
haben, WMariann! Wir find bienieden, um
unfere PBflicht gu tun. Und wenn Mann und
Frau in folder Ehe fein Glück finden, fo ift
das die Strafe Gottes! Unfer Herr ijt ein
gerechter Gott! Er ftraft furchtbar in feinem
Grimme! Nicht um der Gatten willen, dag fie
Freude haben im Leben, find fie zuſammen—
gefiigt, fondern darum, bag fie ibre Sünde
büßen und darum, dah das unfduldige Rind
nicht leide unter der Eltern Sünde.“
„Hochwürden!“ Mariann fubr auf. „Ich
fann das nicht fo fagen, was in mir iſt. Aber
mein Rind foll feinen Vater haben, der ſchlecht
gebandelt bat an feiner Mutter. Auf den
Rnien bab ic) vor ihm gerutſcht, mit blutigen
Tränen hab id ihn gebeten, daß er ehrlich an
mit bandeln foll! Cr bat fic fortgemadt, wie
ein Dieb in ber Nat, — wie ein feiger
Roter. Und der foll nun gezwungen werden,
mich gu nebmen, — mid) ehrlich zu machen!
Der foll mein Mann fein, mein ganged Leben
lang, den id anfpeien möcht, den id fo ver:
act, wie feinen Menſchen auf der Welt! Der
foll meine Schande zudecken und meine Ebre
wieder berftellen! Cine feine Ehre! Der foll
mein Mind beſſer erzichen fonnen, wie ih! So
_ Giner! Co cin Lump! Wenn er gejagt batt,
— wein nidt, Mariann, ich geb zum Paftor
und beftell’s Aufgebot und foll did feiner
ſcheel anſehen, wenn du meine Frau biſt, ſonſt
ſchlag id) ihm die Knochen entgwei, — — ja,
Hodiwiirden, da wär meine Sünde cine Ebre
geweſen, und ich wäre ſtolz geweſen, und wir
hatter ben Himmel auf der Welt gebabt! Aber
fo! So will id Lieber meine Schande tragen,
als feine Ehre!“
Der alte Herr hatte erjtaunt zugehört. Er
ſchüttelte langſam ben Kopf.
„Maria Anna, Maria Anna! Du biſt ſtolz
und hochmütig und ſollteſt doch gebeugt und
demütig ſein! Du willſt nicht büßen und das
Geſetz Gottes befolgen, ſondern du willſt dir
ein eigenes Geſetz machen. Du willſt nicht
um deines Kindes willen das Joch auf did
nehmen und
iy
"* © © @
Mariann,
ye
Hi
„Nein! Rein und nein!” Mariann war
aufer fid. „Ich tu's nicht! Qh will nicht
den gum Manne! Ich will ihn nicht sum
Vater meines Kindes! Ich will mein Kind fiir
‘nid allein baben, und feiner joll Anteil an
ibm haben. Sh will arbeiten und fdaffen,
dak mir dad Blut unter den Nageln heraus—
fprigt, und mein Rind foll gebalten werden
wie cin Pring! Und foll cin Burſch werden,
ber fein Madden wverlodt und betriigt und
unebrlid) macht! Und wenn ed ein Schandfled
fiir bie Gemeinde ijt, dag ein [ediges Rind
drin aufwächſt, ich fann’s nicht ändern. Die
Gemeinde hilft mir nicht, und ich bin der
Gemeinde nichts ſchuldig und will ihr nichts
ſchuldig werden.“
Der Paſtor ſtand ratlos.
dicht an ihn heran:
„Sie haben's gut gemeint, Hochwürden,
und ich dank Ihnen auch vielmals. Und ich
weiß ja, wie gut Sie ſind, und wie Sie in
die Herzen hineinſchauen. Aber Hochwürden,
wie's in meinem Herzen ausſieht, bas, — das
lönnen Sie doch nicht ergründen, und wenn
Sie's lönnten, würden Cie ſehen, daß es da
nichts zu ändern gibt.“
Sie war zur Tür hinaus. Der alte Herr
ſchaute wohl eine Minute tief betroffen auf die
Türe. Dann ſchüttelte er den Kopf und ſeufzte
und ſann. Aber wie er auch ſann und grübelte,
er fand nichts. Er konnte ihr nicht Unrecht
geben, der Mariann! Sie hatte einen heim—
lichen Schaden in ſeiner Gemeinde aufgedeckt.
Ja, dieſe gewaltſam erzwungenen Ehen waren
freilid) fiir die armen Frauen meiſt wahre
Kreuz⸗ und Marterwege. Wher bid jest hatte
ex immer daran feftgebalten, daß fie cine
Sühne feien fiir begangene Schuld. War die
Schuld wirklich fo grop, dah fie cin ganjes
Leben zur Siibne braudte? Cr feujgte tief und
trat an’ Fenſter. Der ſüße Lindendujt fam
in ſchweren Wolfen yu ihm hinauf, unten in
feinem Pfarrgarten blühten bie Rofen in allen
Farben auf den fauberen Rabatten, ein ganzes
Chor von Vogeln zwitſcherte feine Abendftrophe,
iiberall war Friede in der Natur, mur die
Menſchen —
Fräulein Liſettchen fam nicht ganz gliidlid
in diefe Betractungen hinein. Und darum
Mariann trat
wurde ir eine ziemlich fcharje Surectiveifung Vögel jagt.
599
guteil, als fie ibrem „Herrn“ fuggerieren
wollte, daß „ſo cine” gang unmiglid die
Gartenarbeit im Pfarrgarten weiter tun fonne.
Der alte Herr wurde ordentlich böſe. „Weißt
bu nidt, Clifabetha, da mebr Freude im
Himmel ift über einen Sünder — — —“
„Wohl, wohl, Herr Pajftor,” fiel Fräulein
Lijette ein, ,,aber die Mariann fiebt gar nidt
aus wie eine, die Bufe tut. Und twenns
wabr ijt, was fie erzählen, daß fie nidt fagen
will, twer ihres Jungen Vater ift, dann ijt
bas eine Siinde und Schande und cine ganj
verdrehte Perjon, der einer mal orbdentlid) den
Kopf zurechtſetzen miifte, bah fie fic darauf
befinne, was ibre Schuldigkeit ijt. Hat man
je fo was erlebt? Froh follte fie fein, wenn
ber Hert Paſtor ihr dazu verbalfe, daß fie
wieder die Augen auffdlagen fann vor an—
ftindigen Lenten. Und wenn id) Herrn Pajftor
raten foll, dann kommt fie nicht mebr in den
Warten und” — — —“
»Glijabetha, Eliſabetha!“ Der alte Herr
mußte dod ladeln. — „Und wen nebmen
wir denn da? — Die Rotſahn, mit der du
gleich Krakehl bekommſt ober die Müllerſche,
die die Schürze voll gemauſtes Obſt mit heim—
ſchleppt, oder die Schulzſche, die die Beete
zertrampelt, daß ſie ausſehen, wie gewalzt
oder” —
Fräulein Lifettdhen zuckte hilflos die Achſeln.
„Ich weiß ja, Herr Pajtor, daß es immer
nach Ihrem Kopf geht, und ich kann mich bloß
ärgern, wenn die Weiber aus dem Dorf ſo
dumm daher reden, Sie haben's gut, Fraulein
Liſettchen, der Herr iſt ja ſo gut, wie ein
Rind, Cie können machen, twas fie wollen!’ —
Sa, ſchön fann id das, — wenn fie nur mal
hörten, wie der feinen Kopf durchſetzt, und
wenn er fommt mit feinen Bibelfpriichen, wo
id nidt dagegen fann, wenn ſchon die Bibel
gu einer Beit geſchrieben worden ift, wo die
Leute fider nicht fo ſchlecht und raffiniert
waren, wie jest und’ — — —“
Der Herr Pajtor bob drohend den Finger.
„Ich bin ja fdon ſtill! Aber ärgern
kann's einen, daß man kein Wort ſagen darf
und — —“
Der alte Herr machte eine ſcherzhafte
Schwenkung mit den Armen, wie wenn man
woud, huſch“ ——
600
Das half. Fräulein Liſettchen flatterte
zur Tür hinaus wie ein ſehr mageres, bejahrtes
Huhn. — Aber der alte Herr lächelte nicht,
wie ſonſt wohl. Still ging er zu ſeinem
Schreibtiſch zurück und zündete feine Pfeife
an. — Aber, ob er aud mächtige Wolfen
qualmte, es fdmedte ibm dod nicht recht.
Und ſchließlich fegte er feinen Hut auf, rief
den diden weifen Spitz und madte nod
einen Abendgang.
2.
Mariann war mit eiligen Schritten beim:
gelaufen.
fie es getwagt hatte dem Paftor gu twider-
ſprechen, daß fie fo viel Morte gefunden hatte.
Das mochte wohl daber fommen, daß alles,
was fid) feit Monden an Grol und Rummer
in ihr angefammelt batte, nun mit Getwalt
gum Ausbruch gefommen war. Und es war ibr
förmlich leidjt und frei ums Herz. Nein, fie
wollte ſich nicht zwingen laſſen gu einer Heirat
mit bem Verhaßten. Sollte es ihr geben wie
ber Marlene, die alle Tage Priigel von
ibrem Manne befam, twenn er feinen Zorn
auslafien wollte, oder wie der Lies, die feine
gute Stunde hatte bei ihrem Mann und immer
in taufend Ängſten war, bak er zu einer
andern ſchlich, wie er frither gu ihr geſchlichen
war? Bue follte fie tun? Sie hatte genug
gebüßt; wenn eine Buße fein mufte, dann
wollte fie bie Schande lieber als Buße tragen.
Sie atmete auf, als fie vor dem wingigen
Häuschen ftand, in bem fie toohnte. Es war |
alled ftill, fein quarrended Rindergefdrei gu |
hören. Der Qunge feblief nod. Sie ſchlüpfle
in dad Stübchen und ftand vor bem RKorbe,
in dem er lag. Ihr Herg ging auf. Er
flict rubig, bas dice Fauftden am Maulden,
das ſchwarze Schöpfchen geftraubt. Gott fei
Dank, er glid ihr. Das blonde Haar feines
Vaters, feine braunen Mugen hatte er nidpt.
Aber fie hatte oft gebirt, bak die Haare
augfallen, welde die Rinder mit gur Welt
bringen und anbdersfarbige nachwachſen.
Modten fie bod. Bis dahin war Gras
iiber alle3 gewadfen, und bis man eine |
Ahnlichkeit merfen fonnte, fiimmerte ſich |
niemand mehr um das ,,ledige Rind“. Cie |
bielten ja mächtig auf Reputation im Dorf, ,
Es war ibr tie ein Wunder, dap |
Mariann.
aber fie toiirden fic) aud) daran gewöhnen.
3a, wenn es ein Mädchen geivefen mare,
dann hätte fie vielleiht nadgegeben. An
Madden klebt fo ein Makel fid felt an.
Aber cin Junge! Pab, er wiirde cin ftrammer,
pridtiger Burfd) werden, der auf eigenen
Füßen feft und fider im Leben ftand.
Das Rind dehnte die Heinen Glieder,
jtredte fid) und wurde tad. Die Augen
blingelten mit bem leeren Bli€ gang fleiner
Kinder, das Mäulchen machte cine faugende
Bewegung. — Mariann nabm ibn gliidfelig
aus dem Korbe.
„Hunger bat der Schelm.” Cie legte ibn
an die Brujt und fab ibm ftillfelig yu. Sie
war jest gang reid, gang jufrieden. Sie fpann
ibre Zukunftspläne weiter. — ,, Arbeiten werd’
id) fir did, Tag und Nacht. Die legte
ſchwere Beit bat freilid viel gefoftet, bas
Sparkaſſenbuch ijt gang leer. Aber dad frieg
ih alles wieder, wenn id erft wieder ftarf
und fréftig bin. Und du ſollſt ein Staatsjunge
werden. Sie fagen ja, er will Millers Lena
beiraten, bas piepjige, armfelige Ding. Wer
weiß, ob er mic nicht mal {pater beneidet um
did, um meinen Prachtjungen. Wer tweif,
ob er fic) nicht mal wünſcht, du gehörteſt ihm
nad allem Redt ju.”
Sie fühlte orbdentlich, wie fie feft und ftarf
wurde in dem Gedanlen. Der Weichmut der
letzten Beit begann von ihr abjufallen. Das
war ja aud) alles nur die Rranfheit geivefen.
, Weidmittig tar die Mariann nie, nein iwabr-
hajtig nidt. Immer ein ftoljes Madden mit
aufrechtem Ropf und ſchnippiſchem Mundiwerf,
bas die Burſchen ordentlich abfahren lief.
Das war freilich nun auch vorbei, fie mufte
den Ropf gang tief fenfen. Wd twas, fie
wollte ibn ſchon wieder hoc) beben! Es follte
ibe einer fommen mit Rebengarten oder
Sticheleien.
Wie der Menſch nur ſo weichmütig werden
kann im Unglück, fo bange und verzagt, fo
niedergedriidt und zerſchlagen. Co war fie
geweſen monatelang wie in einem ſchweren
Traum. Heute nod, — eben nod. Aber
jest war alles von ihr abgefallen, jegt wollte
fie wieder die alte Mariann fein. An Arbeit
würde es ibr nicht feblen, bas wußte fie.
Erjt wiirden die Weiber hadern und jtideln, —
Mariann. 601
bie mupte man nur einmal ordentlich abfertigen, —
dann würden fie fie dod) wiederbolen zur
Gartenarbeit und jur Hilfe bei Feftlidfeiten,
bei Hochjeiten und Taufen. Qa, nur den
Ropf hod) halten. Ganz bod!
Es flopfte leife an die Tir. Mariann
fubr gufammen. Wer fam da gu ihr? Es
waren wenige gu ibe gefommen in der [epten
Beit, und fie war ſchreckhaft geworden. Wher
gleich nahm fie fic) gufammen. Wer fonnte
ihr was anbaben. Sie rief ein lautes Serein.
Cine blaffe Frau ſchob fic) burch die Tir. —
Das war ja die Marlene, cine Rameradin
Marianns. Die hatte freilich nod zur Zeit
gebeiratet, das hatte der Herr Paftor fertig
gebracht. Sie bot baftig guten Abend. Ihre
Augen gingen auf das Rind. „Was cin
ſchöner Jung! Co ftarf und fo flanges Haar!”
Sie feufgte tief und ſchwer auf. Shr eigenes
Rind war gejtorben fur nad der Geburt, nun
wartete fie wohl ſchon zwei Sabre auf das
zweite. —
Sie ſah Mariann mit unruhigen Blicken
an. „Sie erzählen, du wollteſt nicht heiraten,
Mariann. Recht haſt du! Tu's nicht, tu's
ewig nicht! Denk' an mich, ſieh mich an.
Alle Tage ſchmeißt er mir's vor, was geweſen
iſt. Auf jedes Butterbrot ſchmiert er's mir,
was er ſich mit mir verplempert hat. Immer
hält er mir vor, daß ich ihm auf den Knien
dankbar ſein muß. Eine Höll' hab ich auf
der Welt, eine Höll' ſag ich dir! Trag lieber
die Schande und bleib für dich! — Ich hab'
einen Haß auf ibn, — einen Hah — —
Wenn er im Bett liegt und ſchläft, da möcht
ich ihn erwürgen mit meinen Händen. Wenn
fie dir zuſetzen, dann denP an mid, Mariann!“ —
Sie war zur Tir hinaus, ehe Mariann
reden lonnte, wie eine Spukgeſtalt in den
grauenden Abend.
Und Mariann ſchauderte zuſammen. Sie
hatte damals all die Liebesſeligkeit zwiſchen
den zweien geſehen, ein paar Monate lang und
dann — und dann —!
Damals hatte freilidy bas ganze Dorf um
die Liebſchaft der beiden gewuft. — Er hatte
es ſchlauer angeftellt, — ach, viel ſchlauer!
Vor ben Leuten hatte er gleidgiiltiq getan, —
gang gleidgiiltig! Wher wo fie in einem ent-
Iegenen Garten gu tun hatte ober weit draußen
auf einem Gemitjeftiid, da war er auf einmal
aud, gang zufällig gegen Abend, wenn’s ftill
geworden war, oder in der heißen Mittags-
ftunde, wenn niemand fonjt draußen war. Und
wie hatte er ihr's glaublid) gemadt, daß fie
alles gang ftille balten miifte, bis er langſam
jeinen Bater herumgebracht habe, weil ſich
fonjt bie ganze Verwandtſchaft dabinter fteden
und den Alten aufhetzen würde. — Zumal
der Müller, deſſen Lena er ja heiraten ſollte, —
damals ſchon. Und es war ja auch doppelt
ſchön, all das heimliche Sommerglück, bis der
Herbſt kam und es nichts mehr draußen zu
tun gab. Und wie er dann in dunkeln Herbſt⸗
abenden, twenn das ganze Dorf ſchon ſchlief, gu
dem abfeits gelegenen Häuschen fam, da mufte
fie ibn einlaſſen in ibr Stübchen, damit Feiner
was merfte. Dann fam er feltener und
feltener, — und dann fam bie Beit, da fie
wufte, was fommen mupte, und fie fab ibn
faum mebr, er ging ihr aus bem Wege. Wher
einmal hatte fie ibn doch erbajdt auf einem
einfamen Felbwege, und da, als er twufte,
was twar, ba war er davongefdliden. —
Mariann ſchrak gufammen. Collten fie diefe
Vorſtellungen immer verfolgen, fie fefthalten,
ſodaß fie nidt davon [08 fam? — Gie
jprang auf. Das Rind ſchlief feft. Sie nahm
ihr Stridjeug und febte fic) auf die Bank
por bem Hiusden. Es war febr ftill, der
Abend war fdon duniler, das Wafer des
Rihrenbrunnens plätſcherte leife. Bum erjtenz
mal 30g wieder etwas wie Friede in ihre auf—
gewühlte Seele. Cine Heine Geftalt im langen
Rod fam dburd die finfende Nacht, — cin
weifer Punft betwegte fic) nebenber. — Der
Herr Paftor! Cinen Augenblid lang dadjte
| Mariann an Fludt. Dann aber blieb fie
| figen. Gie fiiblte fid) gang feft und klar innerlich.
| Der alte Herr blieb einen Augenblick vor
| ibe jteben.
„Mariann, ich will dich gu nichts zwingen,
| aber ich will fiir dich beten um Erleuchtung.
Bete aud, wenn du fannjt, Mariann. — Und
id) denke, du wirſt aud) wieder zur Wrbeit
kommen ins Pfarrhaus, nicht wahr?“
In dieſer Nacht ſchlief Mariann zum erſten—
mal wieder ſeſt und tief. Und träumte von
ihrem Jungen, der ſie in einer goldenen Kutſche
abbolte aus ihrem Häuschen.
602
Bier Monate fpater ging Mariann an
einem Oftoberjonntag mit ibrem Kind langfam
den ziemlich fteilen Pfad des Burgberges
hinan, Das war ihr Sonntagsvergniigen bei
ſchönem Wetter. Cie fag gar yu gern da
oben unter den Triimmern der Burg zwiſchen
den madtigen Mauerbroden, die durcheinander
geworfen in bem einfligen Burghof lagen.
Es twar fo ftill ba oben. Höchſtens ein paar
Kinder famen einmal berauf, um Beeren ju
fuden. Da ftirte fie niemand, frinfte fie
niemand. Wenn bie Gonne ju heiß wurde,
ſaß fie im Schatten des halbjerfallenen Turmes,
ging der Wind, fand fie immer cin geſchütztes
Plagden. Cs war fdin, da ju figen, auf
das Dorf unten zu ſchauen, das ſonntäglich
ftill ba Ing, und aus bem nur mandmal bad
polternde Rollen der Kugeln von der Kegel=
babn, bas Krähen eines Habnes, dad dumpfe
Muben einer Rub hinaufdrang. Die Sonne
blinfte in den fleinen Dachfenſterſcheiben, der
Rauch kräuſelte ſich blau in der flaren Herbſt—
fujt. Der wilbe Wein, der in [angen Ranken
fiberall loſe berabbing, betwegte ſich fact, |
wenn fic cin leiſes Lüftchen aufmadte.
Gr war fdon gelb und rot und ftad
ſchön ab von den dunfelgriinen Cfeupolftern,
die ſich allenthalben iiber die Trimmer
breiteten.
Mariann ſaß und ſann. Es war fonderbar,
welche Gedanlen ihr jetzt famen in ſolchen
einſamen Ruheſtunden wie dieſe. Niemals
früher ware fie darauf gekommen. Damals
war freilich aud) feine Zeit dazu. An Wochen—
tagen hatte fie ihre Arbeit, und an Sonntagen
ging fie mit dem ganzen Schwarm ihrer
Sameradinnen, Das hatte alles aufgebirt, |
feit baS Rind da war. Mande Demiltigung
hatte fie dod) erdulden, manche ſchlimme Rede
hören miifjen. Und mande beimlide Trine
war fiber bem Lager ded Kindes gefloſſen.
Aber immer wieder hob fic den Kopf hod.
Sie fcbaffte fiir zwei, vom grauenden Tag
big in bie finfende Nacht. Cin paar der |
PBauerinnen Hatten fie freilid) zuerſt nicht
wieder in dic Arbeit genommen, — gerade
die, bei denen folcher Tugendjtol; am iiber- |
fliffigiten gewefen ware. Wher was tat das.
Mariann late. Sie hatte Wrbeit mehr als
Mariann.
| genug, fie batte fic) teilen miiffen, um alled
au beforgen. Cold) eine Schafferin gab es
fo bald nicht wieder, und bas andere war ja
eine Cade fiir ſich. Ins Pfarrhaus war fie
aud twieder gebolt worden, und bas war ibr
freilid) cine grofe Hilfe geworden. Denn ibr
Verhalten Hatten ihr die einen als Hodmut
ausgelegt, die anderen als Rarretei und alle
zuſammen al8 eine arge Unchriſtlichleit. Wher,
wenn der Herr Paftor felber die Mariann
wieder bei fic) arbeiten lief, ba fonnten die
Bauern es ja aud rubig tun, jumal wenn
es ihr Vorteil war. Nun war nod die
Müllerin die eingige, die nichts von ibr wifjen
wollte, Gerade, als ob fie twas ahnte. Und
bie Lena fah fie aud) immer mit giftigen
Augen an, Die Heirat war immer nod nidt
feft beſchloſſen. Der Vater des Chriſtian
Schlömer war ein zäher Filz, der mit dem
Miller feilfdte um die Mitgift, um jeden
Taler, um jedes Hubn, um jedes Stück Möbel.
Sie haderten und ſchacherten allſonntäglich zu—
ſammen, und derweil wurde die Lena immer
magerer und gelber und ſpinöſer. Mochte
ſie doch! Was lag der Mariann daran!
Daran nichts und an dem Chriſtian nichts.
Nein. Es ſollte und durfte ihr nichts daran
liegen. Cie hatte das Rind, das ihr allein
gehörte, Das jeden Tag dider und prächtiger
wurde, bags fie ſchon fannte, [adte und tbr
entgegenitrampelte. Cold) ein Rind gab es
ja aud gar nicht mehr, fold einen Bradt:
jungen! Und vie cin Pring war er gebalten,
bas hatte fie wahr gemadt. Die Kinderwäſche
ber Gutéfrau fam zu boben Ehren, und an
den Sonntagen nähte die Mariann bis tief in
bie Nacht Hemdden und Jäckchen. Nun follte
er ſchon bald cin Röckchen fiber bie Widel be—
fommen. Cie hatte bon ber Krämersfrau ein
Stück roten Stoff billig befommen, daraus gab
es cin prächtiges Rleidchen. Cie hatte es
{fon am vorigen Sonntag jugefdnitten, und
heute ſaß fie und nähte eifrig und geſchickt,
wenn aud) die von der ſchweren Arbeit harten
Winger nidt gerade flint waren. Dabei gingen
ihr dic Gedanfen fraus durd den Kopf. Wenn
ber Chriftian und die Lena Hochzeit madten,
bas gab wohl eine luftige Ehe. Die Lena
gönnte ja nidt ibver eigenen Mutter cin gutes
Wort. Und fo cine Vogelſcheuche. — Sie fprang
Marian.
603
auf, redte und dehnte fic). Cie war wieder ungekränkt berum. Nur auf den Madden, da
voll und blühend geworden, etwas ftarfer und
frauenbafter, aber wieder die „ſchöne Mariann!“
Sie wubte es auch wohl. Seder Blick in den
Spiegel fagte ihr's, und aud genug andere
betoundernde Blice. Freilich meinte aud) mand
ciner ber Burſchen, die Mariann fei jest
Freiwild und verſuchte fic) heranzupürſchen.
Aber das focht ſie wenig an. Sie fertigte die
Frechen kräftig ab, und es kam ihr auch auf
eine Maulſchelle nicht an. Co hatte fie ſich
ziemlich ſchnell Ruhe geſchafft. Mit dem
Chriſtian hatte fie aud ſchon ein paarmal
geredet. Das ging nicht anders in dem kleinen
Dorf. Freilich hatte der reiche Bauernſohn
nicht viel mit der armen Tagelöhnerin gemein,
aber immerhin waren ſie doch Schullameraden,
— es wäre gar zu auffällig geweſen, wenn ſie
ſich gemieden hätten. Er freilich war ihr nach
Kräften aus dem Wege gegangen, und das
war auch gut ſo. Sie wollte nichts von ihm,
er ſollte ihr nur fern bleiben. Ihre Blicke
gingen über den Burgturm. In deſſen Innern
war ein grauſiges Verließ, das ſeltſamerweiſe
ganz wohlerhalten geblieben war. Keine Tür
führte hinein, nur eine kleine Lule. Da hinein
hatte vor vielen hundert Jahren ein Ritter ſeine
untreue Frau eingeſperrt und ſie langſam ver—
hungern laſſen. Jetzt fpufte fie in ſtürmiſchen
Nächten in der Ruine umher, rang verzweifelt
die Hände und ſtöhnte geiſterhaft. Auch in dem
früheren Kloſter im Dorf war fo ein Gefäng—
nis, wo auch einmal ein Ritter ſeine Tochter
wegen einer Liebſchaft hatte einſperren und lang:
fam zu Tobe bungern laſſen. Die frommen
Monnen batten bei dieſem gottgefalligen Werk
geboljen. Conbderbar, daß es immer nur die
Frauen waren, die beftraft und eingefperrt und
totgebungert twurden. Bon einem tegen Untreue
beftraften Mann wußte niemand was, Co viel
Ruinen und Klöſter es aud in dem cinfamen
Hodlande gab, und foviel Geſchichten Mariann
aud) von ibnen wußte, feine handelte davon.
Höchſtens, wenn die Burgherren in Febde mit=
einander gericten und fid) befriegten und einer
den anderen fing, Dann fegte er den für einige
Beit in fold) cin Rerferlod. Ob eS damals
feine untreuen Manner gab? Mariann ladte
bitter. Damals war's ja wohl grade fo wie
beute, die Männer gingen ftraflos, frei und
blieb bie Schmach ſitzen.
Ein leiſes Raſcheln unterbrach ſie in ihrem
Sinnen. Das Buſchwerk bewegte ſich, eine
Männergeſtalt zwängte ſich an der Umwallung
durch — fie ſchrak heftig zuſammen — der
Chriſtian. Ihr erſter Gedanke war das Kind.
Sie riß die Schürze ab und warf ſie über es.
Dann ſah ſie an ihm vorüber. Was hatte er
hier zu ſuchen. Brachte ihn der Zufall hier
herauf, fo mochte er weiter gehen, hatte er fie
aufgefudt, um fo ſchlimmer fiir ibn.
Gr ftand einen Augenblick verlegen da.
Dann gab er fics cinen Rud.
„Tag, Mariann.”
Sie antiwortete nidhts, er trat ungeduldig
bon einem Fuß auf den andern.
„Na, die Zeit fannft mir aud wohl nod
bieten,” fagte er geärgert.
Sie bob den Kopf und fab ibn ſcharf an.
„Ich hab’ feine Urfade, dir die Beit zu bieten.”
„Hoho! Die Zeit fann man cinem Wild-
fremben bieten.”
„Du bift mir fein Wildfrembder, aber aud)
feiner, bem id bie Beit biet'.“ Sie fagte es
gang gelaffen und rubig.
Er madte eine Betvegung. Sie redte fid
in ibrer ganzen Rraft auf.
„Geh ein Haus weiter, du haſt did ge:
Da driiben ift die Mühl'.“
Er madte einen Verfucd zu ſcherzen. „Biſt
wohl eiferſüchtig, Mariann?“
Sie ſchüttelte ruhig mit dem Kopf. „Eifer—
ſüchtig? Auf die Lena! Hab Liebſchaft, mit
irrt.
wem du willſt und heirat, wen du willſt. Und
wenn du hier vor mir lägſt und wäreſt im
Sterben, und ich könnt dich lebendig machen,
wenn ich meinen kleinen Finger aufhöbe, ich
tät's nicht!“
Sie hatte leiſe geſprochen mit unbewegter
Stimme. Debt febte fie ſich, nahm ihre Näherei
und packte ſie zuſammen mit gleichmäßigen Be—
wegungen.
Er ſtand da verlegen, klein. „So einen Haß
haſt du auf mich, Mariann?“
„Auf dich? Einen Haß? Nein! Wenn ich
einen Haß hab', dann hab ich ihn auf mich
ſelber.“ Sie war aufgeſtanden und trat ganz
dicht an ibn heran. „Auf mich ſelber“ wieder—
holte fie. „Oder id) ſchäm mich vor mir
604
ſelber, daß ich ſo dumm war, ſo dumm und
ſo leichtgläubig, daß ich einem Lügner geglaubt
hab und einen Lump gern gehabt, daß mein
Kind einen Vater hat, der ſo ein Lügner iſt
und ein Lump!“
Sie hatte deutlich geſprochen, nicht über—
ſtürzt, jedes Wort gleichſam auf ihn geſchleudert
wie einen Pfeil.
Er war kreidebleich geworden und un—
willkürlich einen Schritt zurückgewichen. Nun
ſtand er an der Mauer, die ihn nicht
weiterließ.
„Mariann,“ ſtammelte er.
„Ja, das iſt's,“ ſagte ſie, „das iſt das, was
mir das Ärgſte iſt. Aber ich werd' auch das
überſtehen. Ich hab ja das andere auch über—
ſtanden. Und ich wünſch' dir nicht mal eine
Straf! Die kommt ſchon von ſelber. — Guck
ba unten.” Sie wies nad der Mühle. „Da
iſt deine Straf! Du weißt, es hätt mich nur
ein Wort gekoſtet, nur zwei Worte, nur deinen
Namen hätt ich zu ſagen brauchen, dann wär
ich längſt deine Frau. Aber ich hab's nicht
gewollt. Ich hab' keinen gewollt, der ſo einer
iſt, wie du. Ich hab' dich freilich nicht zeitig
genug kennen gelernt, daß ich meine Ehre ge—
rettet hätt, aber doch noch zeitig genug, daß
ich mich nicht hab' an dich anketten laſſen und
unglücklich machen für mein Leben lang. Und
darum hab' ich dich nicht gewollt, darum nicht!
Ich ſorg' für mich ſelber, und ich ſorg' für mein
Kind. Und mein Kind, das werd' ich auf—
ziehen, daß es fein Mädchenverführer wird und
fein Lügner und Lump!”
„Mariann,“ ev {nirfdte mit den Zähnen,
mad, dak id) mid nicht vergeß.“
Gie fab ibn falt an. ,, Berge? Was twillft
du benn? Mir was antun? Ich fürcht' mid
nicht! Go einer wie du, der ift nod viel ju
feig fiir fo was!”
Gr ballte wild die Fäuſte.
Sie bob rubig bas Kind auf und wendete
fi) gum Geben.
„Bleib' nocd hier,” fagte fie beifend. „Ver—
fted’ dich, bap feiner did) ſieht, fonft möcht's
dod) nod auffommen, und dann gibt der
Miller ſicherlich ſeinem Schwiegerſohn nidt fo
bald bie Mühl'.“
„Treib's nidt gu arg, Mariann,” ſtieß er
zwiſchen den Zähnen hervor. ,, Reig mich nicht,
- N
Mariann.
daß ich mid) an bir rid)! Ich fonnt dir genug
ſchaden im Dorf!”
„Du mir ſchaden!“ Cie lachte. „Du mir!
Ich rat’ dir, laß' bie Finger davon. Denn ſonſt
red’ id) dod) nod! Verſuch's nur, mir einen
Stein in den Weg gu legen! Ich bab’ ſtill ge-
ſchwiegen um meinetwillen, nicht um deinet—
willen. Ich kann auch reden um meinetwillen.“
„Satan du!“ knirſchte er. „Der Teufel
iſt in dich gefahren, Mädchen.“
„Wer hat die Schuld,“ fagte fie gelafjen.
„Nur du und wieder du, du, du.“
Sie wendete ſich zum Abſtieg. Aber er
vertrat ihr den Weg in einer plopliden Ein—
gebung. „Das Rind”, rief er beifer, „ich will
bas Rind feben. Ich bab’ cin Recht auf das
Rind!"
Sie rig fich blitzſchnell [os und ſtieß ibn
mit bem freien Urm zurück, daß er faft taumelte.
Jest war fie aud kreideweiß. „Rühr es nicht
an”, feuchte fie. ,,Unterfteh’ dich nicht, oder ich
fpring dir an den Hals. Sieh es nicht an,
oder id) kratze dir deine falſchen Mugen aus.
Gin Recht willft bu haben, cin Recht? Wo iſt
dein Recht? Du haſt ed verleugnet und ver-
lajjen. Ich bab die Schande um eS getragen
und die Sdmerjen. Ich nähr' es mit meiner
Hinde Urbeit. Ich will es fiir mid allein,
mir gehört's allein, mir! Wirſt ja Kinder mit
der Lena haben, um die du did fiimmern must.
Um meines kümmere did) nidt! Das geht did
nichts an!”
Sie lief faft ben Berg hinab, trotz der
Laft des Kindes auf ibrem Arm. Als fie ein
Stück abwärts war, bielt fie ftille und ſchaute
um. Gr war ibr nicht nachgekommen. Er
ftand oben an die Mauer gelehnt, keuchend
por Zorn und vielleidt aud vor Sham. Da
miipigte fie ihren Schritt und ftieg langſam
ben fteilen Bergweg hinunter. Cie atmete
tie. Ach, wie das gut tat, daß fie ibm einmal
fagen fonnte, was in ihr war. Das er wußte,
twas fie von ihm bielt. Sie driidte bas Rind
feft an fich, wie ſchützend. „Ein Recht will
er an dic) haben! Meh, er foll nur fommen
und drauf poden!” — Cie ging den Talweg,
ber an der Mühle voriiber fiibrte, die in ſonn—
tiglicder Rube dalag. Das Mühlrad war
abgeftellt, bas Waſſer ſchoß in braujendem
Strahl feitwarts. Im Mühlgarten blühten
Mariam.
bunt die Georginen, und verſpätete Refeda
buftete ſtarl. Im Mittelgang ging die Lena
unrubig auf und ab. Gie war in grofem
Staat. Auf ihrem blauen Kleide prunfte cin
weißer Spitenfragen, und fie batte große
Obrringe in den Obren. Cie twartete wohl
auf den Chriſtian. Das grelljarbige Rleid
machte fie nod) gelber ausſehend, und fie ſchien
Mariann magerer und dürftiger als je.
Mls fie Mariann erblickte, funfelten ihre
Augen böſe. Cie drebte fid) auf dem Abſatz
berum und wendete ihr den Rücken! Dabei
lachte fie laut und höhniſch. Aber das focht
Mariann nicht an. Cie redte fid) nur nod
ftoljer auf und ging voriiber, obne ju cilen.
Sn dem Augenblid drehte ſich die Lena um.
Gin boshafter Triumph trat in ihre Wugen.
„Biſt vielleicht dem Chriftian begegnet,” ricf
fie ſcharf.
Mariann ftand ftill. Es wurde ihr Mar,
daß die Lena etwas wußte und bah fie fic
jest verbibnen wollte. Sie ftand auf der Hut.
„Wirſt ja felbft am beften wiſſen, two dein
Schatz ijt,” fagte fie ſcharf.
„Hihihi,“ fiderte die Lena. „Wer weiß
denn immer, wo die Burfden find. Vielleicht
hat er unterwegs cine gefunden, bie ſchön mit
ibm tut. Es foll ja folde geben.“
Mariann fah fie rubig an. „Haſt wohl
wenig Gewalt tiber deinen Hodhgeiter,” gab fie
zurück.
„Hihihi.“ Die Lena lachte laut. „Grad
genug, um ibn feſtzuhalten! Das können
andere freilich nicht! Nachher haben ſie dann
bas Nachſehen und das ba — — —“ Sie
zeigte auf das Rind.
Mariann zuckte die Achſeln. „Sorg' ert,
daß bu ibn fejthaltft, den deinigen. Und wenn
bu ibn erjt an der Rette haſt, halt fie ftramm.
Wirjt nod genug mit deinen eigenen Caden
gu tun friegen, [af du nur andere Leute in
Rub !”
Die Lena fah aus wie eine boshafte gelbe
Kage. Mariann fühlte cinen Wugenblid lang
jaft Mitleid mit ibr.
ber Chriſtian ibr Scag gewefen, dann mufte
fie ja Hollenpein ausfteben. War's nicht aus
Liebe, dann aus beleidbigter Hoffabrt. Und
den Himmel auf der Welt befam die ficherlicd
nicht.
Wenn fie abnie, daß
605
Mariann ſeufzte. Es ging gar gu verlehrt
gu auf der Welt. Da oben fab der Chriftian
jetzt voll Grol und Born, bier unten lief die
Lena wie eine eingefperrte Wildfage herum,
und fie felber hatte aud) iby Teil an Kummer
und Not. Aber ihr diinfte, als fei dads Ihre
nod) am leichteſten zu tragen.
4
In der Mühle war Hochzeit. Der Dorjs
badofen wurbe drei Tage lang gebeizt; der
Landfdladter, her von Haus ju Haus ging
mit feinem blanfen Schlachtmeſſer im Girtel,
hatte adt Tage gu tun gebabt mit Sclachten
und Wurfteln. Das ganze Dorf war in Auf—
regung. So cine „reiche Hochzeit“ war jabre-
lang nicht dageweſen. Der Miiller hatte nicht
gegeigt bei der Hochzeit ſeiner Einzigen. Die
Lena hatte ein Kleid von wirflider blauer
Seide an, bas von felber geftanden bitte,
wenn aud ibr ſchmächtiger Körper nicht darin
ftedte, und einen Rrang von weißen Wachs—
blumen mit einem echtſilbernen Flitterſträußchen
auf ber Seite. — Dad fleine Madden, das dem
Brautpaar vorausfdritt in bie Rirde, trug
ftatt bed fonft üblichen Taſchentuches fiir den
Paftor eine fleine Schachtel mit einem blanten
Zwanzigmarkſtück darin. Es ging fo feierlid
im Bewußtſein der Wichtigkeit feiner Miffion,
daß es kaum vom Flede fam. Die künſtlich
gedrebten Löckchen auf feinem Kopfe bingen
wie Korkzieher, um fein fteif geſtärktes weißes
Kleidchen war ein fnallblaueds Band gebunden,
das in zwei egalen Scblupfen weit abjtand.
Yon des Bräutigams hohem Sylinderbut flatterte
ein ganzes Büſchel ſchmaler bunter Bander
alg Freudenwimpel. Hinter dem Brautpaar
fam die Müllerin zwiſchen den beiden Vatern.
Sie hatte ein Kleid von ſchwarzer Seide an,
bas {nitterte und raufdte. Ein gewirkter
Schal hing wiirdig darüber, eine fdwarje
Blondenhaube zwängte ihren Ropf ein. Da—
nad famen die Ween, die Manner in langen
feierlichen ſchwarzen Roden und Zylinderhüten,
die Frauen in ſchwarzen Kaſchmirkleidern, in
Umſchlagetüchern und weißen und ſchwarzen
Hauben mit roten Roſen und blauen Blumen
mit giftig grünen Blättern. Sie gingen
würdig und wortlos mit ſchweren, ftampfenden
Schritten, die die Arbeit langer Jahre müde
606 Mariann,
gemacht hatte. Dinter ibnen drängte fid das
Jungvolk, die Madden in blauen und violetten
RKleidern, das Haar glatt mit Pomade gemadt,
daß eS glänzte, die Zöpfe um den Kopf gelegt, |
ein ſchwarzes Sammtband darum gebunbden.
Sie ſteckten die Köpfe zuſammen, hielten ihre
großen Gebetbücher, auf denen das geſtärkte
Taſchentuch lag, ſteif in der Hand und
tuſchelten eifrig miteinander. Die Burſchen
hinter ihnen gingen im gleichen Schritt, wie
ſie's noch von der Militärzeit her übten, mit
ernſthaften, etwas verlegenen Geſichtern.
Die belle Januarſonne ſchien auf ben Sug,
wie er fic) durd) den tiefen Schnee von der
Mühle aus zur Kirche bewegte. — Es fab
ſchön und feierlich aus. Alle Glocken läuteten
wie am Weihnachtsfeſt. Das hatte der Müller
für ſchweres Geld beſtellt, auch ein feierliches
Hochamt mit Geſang und Orgelſpiel und
ſogar mit einem Bläſerchor des Kriegervereins.
Denn der Chriſtian war ja Soldat und ſogar
Gardiſt geweſen, und ſie konnten ſich alles
antun, fie hatten's ja dazu.
Der alte Schlömer ſchritt mit einem ſauren
Geſicht neben der aufgeblaſenen Müllerin. Es
war freilich nicht ſein Geld, das da weg—
geſchmiſſen wurde. Aber es war der Lena
ihrs und ſo von Rechts wegen auch ſchon das
des Chriſtian. Und warum man das ſo in
die Luft ſchmiß fiir Glockengeläut und Orgel
und Pofaunengeblafe, das twollte ihm nidt in
ben Kopf. Verſtohlen ftreifte feine harte Hand
mit ben langen Rrallenfingern das Reid der
Miillerin. So eine Verſchwendung. Mindejtens
einen Taler hatte das die Elle gefoftet. Über
einen Taler fiir eine Elle Kleiderſtoff ging fein |
drafter Argwohn nicht hinaus. Dann fab er
auf die Braut, die dict vor ihm ging. Das
hatten die Miillersleute nötig, die Lena, die
Vogelfdeude, fo ju behängen und aufyupugen, |
alg ob fie dadurch ſchöner geworden wäre.
Nein, fie war nur cine , Blume im Goldſack“,
cine febr diirftige, fiimmerliche. Wher fie hatte
an jedem Finger einen Burſchen haben fonnen, |
und am Goldfinger gleich nod ein balb
Dugend ertra. Die Reichſte weit und breit.
Gin Gli, dah fie fic) gerade auf den Chrijtian
faprijiert hatte. Und der hatte nidt einmal
mit beiden Handen zugegriffen. Ach, er wußte
wohl, was bem im Kopfe geſteckt hatte. Nicht
re
umfonft war aud er in jungen Qabren ver—
botene Schleichwege gepirſcht. Wher er wollte
nidts twifjen, nein. Waren die Madden fo
bumm und leichtſinnig, dah fie fic) von einem
Burden beſchwatzen ließen, dann modten fie
aud die Folgen tragen. Was ging’s ibn,
den Wlten an. Nur feinen Jungen, den bielt
er in eiſerner Sudt, bap er die Dummbeit
nit gu weit trieb. Gr hatte ibn enterbt,
feinen ſcheelen Pfennig hatte er von ibm be—
fommen, wenn er fic nicht feinem Willen
gebeugt hatte. Und nun war alles in Ordnung.
Der Alte hatte Angſt gebabt. Wei der
RKudud, was fo rabiate Weibsvilfer nicht ane
ftellen. Wber eS war alles glatt gegangen.
Gr hatte freilich fic fo lange geängſtigt, bis
bie zwei bom VBiirgermeifter, von Redts- und
Geſetzeswegen sufammengegeben waren. Irgend⸗
wo hatte immer nod die Mariann mit ibrem
Rind auf dem Arm lauern können. Nun aber
mochte fie dod) fommen, num gab es fein
Zurück mebr, fie waren gujammengefiigt fitr
Leben und Tod. Und die andern waren alle
neidiſch, bie Burſchen, die die Lena nidt ge—
friegt batten, und die Madden, die den
Chrijtian gern gebabt batten. Gr war febr
gufrieden, ber alte Schlömer, und er wäre
nod jujriedener getvefen, wenn nidt beim
Cintritt in die Kirche die Orgel gefpielt hatte.
Da mußte er an den Taler denfen, den der
Organift befam und fich wieder drgern. Und
ber rote Teppid lag auch da, auf dem fonft
nur an boben Feiertagen der Herr Paftor mit
bem Weihwedel fdritt. Der Alte tappfte
fraitig auf mit feinen befdmeiten Ctiefeln.
€3 war ja bejablt, ba fonnte er aud mal
auf dem roten Lappen geben, wie fonjt nur
ber Paftor. Und er beſchloß dod, den Über—
fluß bes heutigen Tages ju geniehen; wenn
er ſchon einmal da war, dann wollte er aud
fo viel wie möglich bavon haben. Er ledte
fih bie Lippen. Der Miler hatte ihm ftol;
erzählt, daß er fogar ein Fak Wein babe
fommen laſſen. Da wollte er fid) den Guten
antun,
Nun Eniete bas Brautpaar vor dem Altar
auf roten. Rijjen. Der Chriftian fab doppelt
ftattlid) aus neben der dürftigen Braut. Gut
fo, febr gut. Um fo mebr mute die Lena
luſchen und fid) Duden und frob fein, daß fie
Mariann.
e
fo einen Pradtferl jum Mann befommen
hatte. Die Rinder würden ja aud nad) dem
Chriftian fdlagen, gerade wie ber Chriftian
nad ihm geartet war, nidt nad feiner Mutter,
bie aud) fo ein verbubeltes Geſchöpfchen ge—
wejfen war. Das war nun mal fo in der
Familie, warum follte es beim Chriftian anders
fein. Überhaupt, auf die Weiber fam es dod)
nidt an, nur auf die Manner.
Die Orgel ſchwieg, der Paftor fprad. Bon
der Liebe, die nimmer aufhört, von dem Mit—
einanderaushalten in guten und böſen Tagen,
pon ber Demut des Weibes vor dem Manne,
pon der Herrfdaft des Manned über bas Weib.
— Dazu nidte der alte Schlömer bejabend.
So war's, fo mufte e8 fein. — — Und dann
von der Hand Gottes, die twaltet über dem
Hause des Geredhten und Ungeredten, die die
Geredten belohnt und den Ungeredhten beftrajt,
und daß alles Gut der Welt nidts ift, wenn
nidt der Herr feinen Segen dazu gibt. Der
Alte lachte in fic hinein, Da hatte der Herr:
gott viel ju tun, wenn er fitch um alles
fiimmern follte. Der Himmerte fid) nur um
bie grofen Untaten. So ums Taglicde, daju
hatte er feine Zeit. Der Alte hatte fid) einen
gang befonderen Gott zurecht gemadt in feinem
ſchlauen Kopfe. Aber jest neigte ex ihn lauſchend
bor. — est tat der Pfarrer die ſchwere
Frage an bie verjammelte Gemeinde: „Und fo
ermabnen wir eud, daß tenn einer von euch
etwas weiß, was dieſe Che rechtmäßigerweiſe
vor Gott und den Menſchen hindern könnte,
er hervortrete und es uns anzeige.“
Barmherziger Gott! Daran hatte der Alte
nicht gedacht! Mit einem Ruck fuhr ſein Kopf
nach der Seite. Da ſaß drüben im Winfel-
ftubl bie Mariann, — blab, mit hoderhobenem
Kopf. — Wenn fie aujfpringe, wenn fie an
den Wltar rannte, wenn fie ihr , nein” ſchrie!
Gr fliblte, wie feine Rnic jitterten, wie ihm
der falte Schweiß ausbrad. Cr fiiblte, wie
der Bid der Mariann ſich auf ifn hejtete, feft
und fragend. — Cie machte cine Bewegung.
— Dest — jest fam es. — — — Nein —
alles blieb ſtill. Sie fenfte den Ropf ein
wenig, fie riibrte fic) nidt. Und der Paltor,
ber nad alter Sitte ben Kopf wie lauſchend
und erivartend vorgeftredt hatte, hob mit
rubiger Stimme tvieder an:
— —— — — — — —
607
„Da nun fein Hindernis vorfommt, fo
frage ich dich, Chriſtian Schlömer, ob es deine
Meinung und freier, wohlbedachter Wille iſt,
die bier gegenwärtige Jungfrau Anna Magdalena
Scherer als dein eheliches Weib anzunehmen,
und ob du gewillt biſt, ſie zu lieben und zu
ehren und ihr in allem getreu zu verbleiben,
bis der Tod euch ſcheidet, wie es ein treuer
Ehegatte ſeiner Ehegattin nach Gottes Gebot
ſchuldig iſt?“
Der Chriſtian hob mit einem Ruck den
Kopf. „Ja,“ ſagte er. Es klang rauh und
ſpröd.
„Desgleichen frage ich dich Anna Magdalena
Scherer, ob du den hier gegenwärtigen Chriſtian
Schlömer zu deinem ehelichen Mann nehmen
willſt, ihn gleichermaßen lieben und ehren als
ſein allzeit getreues Eheweib, bis der Tod euch
ſcheidet?“
„Ja“. Die Lena ſprach es mit einer hellen
Stimme, ſcharf wie ein Meſſer.
Nun waren ſie Mann und Frau. Die
Orgel brauſte, der Paſtor ſprach den Segen,
dann kam das Brautpaar vom Altar herab
und nahm ſeinen Platz in der vorderen Bank
ein. Die Lena mit Triumph im Geſicht, der
Chriſtian fabl und grau ausſehend. Der Alte
atmete auf. Er konnte ihm das nachfühlen.
Noch während des feierlichen Hochamts war
ihm flau und ſchlecht zumute. Und beim
Umgang zur Opferung um den Altar vergaß
er faſt, ſich über die harten Taler zu ärgern,
die da auf dem Opferteller lagen, ſo angeſtrengt
ſpähte er nach der Mariann. Aber die kniete
ganz ruhig da, den Kopf auf ihr Gebetbuch
geſenkt. Und da wurde er auch allmählich
wieder ruhiger. Da hatte er ſich mal unnötige
Sorgen gemacht. Das paſſierte ihm ſonſt ſo
leicht nicht, dazu war er ein viel zu hart—
geſottener Schlauberger.
In der Mühle dampften die Braten und
Schinken, die Berge von Kraut und Reis, die
Klöße und Nudeln. In allen Stuben waren
die Tiſche aufgeſchlagen, die immer neu mit
Speiſen belaſtet wurden. In großen Gläſern
freijte der Wein. Die Gäſte, die erſt ſtumm
und anbdadtsvoll bem Geſchäft bes Rauens
obgelegen batten, wurden larmend lujtig. Cin
Klarinettift und ein Geiger fpielten unermüdlich
auf. Uber e8 war yu eng gum Tanz. Die
608
jungen Leute wurden unrubig. Mit erbigten
Gefidtern drangten fie aus den engen qualmigen
Stuben. Und die Mufif voran, zogen fie nad
bem grofen Saal beim roten Ochſenwirt. Die
Wirtin, die felbft mit bei der Hochzeit war, lief
erſchreckt voraus.
„Jeſſes, jeſſes! Nu hängt die ganze Wäſch'
gum Trocknen im Tanzſaal. Und die Groß—
magd ijt beim gu ibrer franfen Mutter. Und
mein Mann, der hat aud ſchon einen gebdrigen
Schwuppdich fiben. Und nun wollen fie Vier
trinfen und tanjen und bedient fein, Und die
Alten werden aud gleich nadhfommen. Die
balten’3 auc) nidt [ang mehr aus und wollen
felber noch mal einen Kurtrierſchen tanzen. Und
feiner ba, der mir bebienen hilft. — Die
Mariann muß berbei!”
Sie lief, fo flinf es ihre anſehnliche Be-
bibigteit und das flatternde Kleid erlaubten,
gu Mariann. Die fag an der Wiege des
Kindes und firidte bei einem winzig fleinen
Lämpchen.
nit, Mariann’, mad fir’, komm mit.”
Mariann ſchaute erſchrocken auf.
„Mit — wohin, was iſt denn?“
„Ach, die Hochzeitsleute wollen im Saal
tanzen. Die Magd iſt fort, nur das kleine
Mädchen da, mein Mann hat ſeinen Teil auch
weg. Komm ſchnell, ſo wie du biſt.“
Mariann fiel das Strickzeug aus der Hand.
Cie wor dunkelrot vom Bücken, als fie es auf—
bob.
„Ich,“ ftammelte fie.
fann ich nicht!”
Die Ochfenwirtin ware wohl aufmerkſam
geworden, wenn nicht die genofjenen guten
Dinge und die Aufregung ihren Kopf arg
unflar gemacht bitten. Co aber war fie nur
ärgerlich.
„Kannſt nicht? Warum denn nicht? Die
alte Wöhlern gibt auf das Kind acht. Ich
hab’ ihr's ſchon geſagt. Mach' nur fir, Du
wirſt mich doch nicht im Stich laſſen, Mariann,
bas wär ſchlecht von dir. Du weißt, ich hab’
dich auch nicht im Stich gelaſſen.“
Das war wahr. Die Ochſenwirtin war
die erſte geweſen, die Mariann beſucht hatte,
ihr Wein und Fleiſch aur Starfung gebracht,
fie wieder zur Arbeit geholt baite. Cie mufte
bingeben.
„Ich! — Ree, dad
nur.
Mariann.
Mit zitternden Knien lieſ ſie neben der
Frau her, die vom hundertſten ins tauſendſte
ſchwatzte. Von der prachtvollen Hochzeit, vom
blauen Seidenkleid der Lena, von ihrer ſpitzen
Naſe und von des Chriſtians Gliid.
Im Odjen dringte fic) ſchon die balbe
Hochzeitsgeſellſchaft in der engen Gaftftube,
Der Odfentwirt torfelte zwiſchen ihnen umber,
verfdiittete bas Bier und trieb allerband
Allotria. Ungeduldig verlangten die jungen
Leute, dak ber Tanjfaal in Ordnung gebradt
werde.
Mit wirrem Kopf und unſicheren Händen
arbeitete Mariann, riß die Wäſche von den
Leinen, räumte allerhand Gerümpel weg. Cin
paar ſchon reichlich angeheiterte Burſchen halfen
und verſuchten zwiſchendurch, mit der Mariann
zu ſcherzen. Die Petroleumlampen waren nicht
gefüllt, kein Petroleum im Hauſe, der Krämer
auch auf der Hochzeit, ſodaß Mariann ſich das
Ol ſelber ausfüllen mußte. Es war ein heil—
loſes Durcheinander.
Endlich war alles ſo weit. Die beiden
Muſikanten fiedelten und blieſen luſtig drauf
los, ein Fäßchen Bier wurde aufgelegt;
Mariann hantierte bei den Gläſern. Ihre
Backen waren glühend rot vor Erregung. Der
Ochſenwirt betrachtete ſie wohlgefällig.
„He,“ rief er plötzlich der Muſik zu, „ein
Solo für den Wirt.“
Alles lachte und ſchrie durcheinander, die
Tänzer ſtellten ſich zur Seite, erwartungs—
voll ſchauten ſie zu. Der Ochſenwirt war be—
kannt als der beſte Tänzer weit und breit. Er
fonnte nod alle alten Tänze, die nur ſelten
nod) getangt wurden, er tanjte einen künſt—
lichen Walser mit links herum und allerband
Einzelſchwenkungen. „Los,“ ſchrie ex fröhlich,
„los mit dem Walzer.“
Und die Muſik ſetzte ein, der Ochſenwirt
tat einen raſchen Schritt auf die Mariann zu,
und ba hatte er fie ſchon im Arme. Er hielt
fie mit Rieſenkraft feft, fein Webren und
Sträuben ball.
Grft war's durch die Mariann gegangen
wie ein Blitzſchlag. Tanzen auf des Chriftians
Hochzeit! — Rein, das war ja cine Siinde, —
cine Schmach und Schande. Uber ihr Sträuben
und Webren balf hides, der Ochſenwirt lachte
„Es hilft dir nidits, Mariann! Gegen
e
Marian. 609
mid fommt nid) mal ein ſtörriſcher Bullen
auf, viel weniger bu.”
Da gab fie fid) drein. Nun ja, modte es
denn fein. Etwas wie eine tolle Luft fam
über fie. Go war's recht! Sie tangte auf des
Chriftian Hochzeit. Ja dod! Der Chriftian
heiratete die Miillerlena und ex war ihr bod
ein rember, wie jeder andere. Und mit dem
Odfentwirt gu tanzen, war eine Ehre. Er
war bod angefeben im Dorf, ein reider
und gefdeiter Mann. — Ja, — fie tangte.
Mochte aud) gerade das Hochzeitspaar herein:
fommen.
Der Odjenwirt merkte, dak fie jest willig
mit ibm tangte. Cr bielt fie Loder, er ſchwenkte
linfs berum mit ibr, daß die Ride flogen.
Hei, wie das ging. — Cin’ — zwei — drei,
— eins, zwei drei.
Und bann lief er fie [08 und tangte um
fie in weitem Bogen herum, wabrend fie fid
jierlid) im Kreiſe drehte. Eins, zwei, drei, —
eins, zwei, drei. Und der lahme Geigentoni
geigte feine allerfdinfte Melodie La lala — —
lalalalala—lalala—la—la— —Ia—la, — — —
Die angebeiterte Gefellfdhaft fdrie und
larmte Beifall. Und der Ochſenwirt warf feine
Füße immer jierlider und höher, und dann
fate er wieder die Mariann und tvirbelte fie
im Kreis umber.
Wie durd einen feurigen Nebel ſah die
Mariann, Die Lampen drebten fic) im Kreije
um fie, bie bunte Rirmesfrone, die nod) an der
Dede bing, — die Köpfe der Menſchen. —
Und twie durch einen Nebel fah fie nur nod,
wie die Tür aufging, und twie ber Cbrijtian
berbeifam und fteben blieb, wie zu Stein ge:
worden, und die Lena gelb und ſpitzig unter
ibrem weißen Brauttrang, und die neugierigen
Geficdter der Wlten.
„Hurra! Tufd fiir das Ehepaar!” ſchrie
der Ochſenwirt. Cr wirbelte feine Tänzerin
in die Ede, wo das Bierfaß ſtand und feste
fie fadt auf einen Stuhl. „Gottsdonner,
Mariann! Du bift dod) nod) immer die befte
Tänzerin!“ — — Und dann fcdbmetterte die
Muſik einen Tuſch, und das gab cin allge-
meines Hurra und Hod, während defjen
Mariann ſich berausftabl. — Faſt taumelnd
ftand fie bei der Ochſenwirtin in der Vorrats:
faminer, wo diefe fiihen Schnaps bervorbolte. | das Gefcbirr geſpült werden.
„Aus Rand und Band iff der Mann,”
lachte fie gutmiitig.
„Heim mug id,” ſtieß Mariann bervor.
„Heim? Aber jebt gebt erft der Trubel
edt an! Und nad dem Wbendeffen fommen
fie twieder. Was foll id) denn obne did an—
fangen, Mariann. Und hab’ nicht mal recht
einen, der mir zur Hand gebt.”
Es half nichts, Mariann mufte bleiben.
Sie zapfte bas Bier und reidte es den über—
luftigen Hochzeitsgäſten. Sie fab, wie der
Sbrijtian blak und finfter neben ſeiner jungen
Brau fag, die fid) zärtlich an ihn drückte.
Jetzt gehörte er ihr ja, jest hatte fie vor
Gott und Menfdien das Recht dazu.
Als die ganze tiberluftige Geſellſchaft zum
Abendeſſen gegangen war, lief Mariann heim,
um ihr Kind zu ſtillen. Die alte Wöhlern
hatte es gut verſorgt. Es ſaß auf ihrem Schoß
und krähte luſtig ſeiner Mutter entgegen. Sie
ſpähte ängſtlich in dem weichen unentwickelten
Geſichtchen. Noch war da kein Zug von ſeinem
Vater, den ſie heute für ewig verlor.
Ein ſtechender Schmerz ging durch ihr
Herz. — Was war das denn. Das war ja
gar nicht möglich, daß ſie den Lump noch lieb
haben konnte, — ihm noch nachweinen. Nein,
ſie war nur aufgeregt, nur toll von all dem
Hin und Her, von dem Anſehenmüſſen der
Hochzeit. Längſt hatte ſie ſich die Liebe zu ihm
mit Stumpf und Stiel aus ihrem Herzen aus—
geriſſen. Kein Fäſerchen davon war zurück—
geblieben. Kein winzigſtes. Und doch!
Sie fiel auf einen Stuhl und brach in
heiße bittere Tränen aus. Cie brannten ihr
in den Augen, ſie verſengten ſie faſt. Die
ſtarke Mariann ſaß ba, ganz ſchwach, ganz
zerbrochen.
Nicht lange dauerte es freilich. Dann
raffte ſie ſich mit Gewalt zuſammen und kühlte
ſich die Augen. Wenn ſie ſchon elend war,
brauchte es wenigſtens keiner zu ſehen! Und
ſie war nicht elend, ſie hatte ja das Kind!
Sie küßte den Kleinen ſo heftig, daß er
ſchrie. Wenn ſie nur bei ihm hätte bleiben
können. Es ekelte ſie, noch einmal nach dem
Wirtshaus zu gehen.
Aber es half nichts.
ſputen.
Sie mußte ſich
Der Saal mußte wieder aufgeräumt,
Sie hatte alle
39
2 — A
* 7
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J
⸗ rf
610 Mariann.
Hände voll gu tun. Als die Hochzeitsgeſellſchaft
wieder fam, alle gliihend, iiberluftig, wein—
und larmfelig, war fie wieder auf ihrem Poften.
Sie fah mit feltjamen Bliden in dad
Gewühl hinein. Da hätte fie nun fiben
finnen, ftatt der Lena. Freilich, ein blaufeidenes
Reid hätte fie nicht angehabt, und das halbe
Dorf hatte wohl aud) nicht auf ihrer Hochzeit
getanzt. Wher fie hatte bod) anders aus:
gefeben, als die blajje Braut, die jet mit
den unnatiirlid) roten Baden eigentlid) nod
ſchmaler und fiimmerlider ausſah. Der junge
Chemann mufte das wohl auch finden. Finfter
faute er an feinem Gdynurrbart, dann tranf
er wieder hajtig fein Glad leer. Seine Augen
waren {don etwas ftarr, und feine Zunge ging:
ſchwer.
Sie ging hinaus in den Hof, um Waſſer
vom Schöpfbrunnen zu holen. Eine kleine
Ollampe brannte neben dem hölzernen Pumpen⸗
ſchwengel, er kreiſchte laut beim Auf- und Ab—
ziehen.
Plötzlich fühlte Mariann ihre Hand wie
mit eiſernen Klammern feſtgehalten. Sie fuhr
aufſchreiend herum — der Chriſtian war's.
„Laß mich los, ſonſt ſchrei ich's Haus zu—
ſammen.“
„Schweig' ſtill,“ herrſchte er. Sie ſah bei
dem rötlich trüben Licht ſeine blutunterlaufenen
Augen.
„Laß mich los, ich ſchrei.“
Er ließ ſie los, aber er drängte ſie dicht
an den Brunnen.
„Mariann, warum biſt du hergekommen!
Willſt mich verhöhnen und verſpotten, du?“
Sie ſah hocherſtaunt zu ihm auf. „Dich
verhöhnen und verſpotten? Warum? Weil du
die reichſte Frau im Dorf bekommſt? Weil du
alles haſt, was du dir gewünſcht haſt? Wie
käm' ich denn dazu?“
Finſter ſah er ſie an. „Ach, ſtell dich
nicht ſo heilig. Ich hab's wohl geſehen, wie
du ſie angeſchaut haſt. Schön iſt ſie ja nicht,
nein. Aber was hab' ich denn machen können.
Der Alte hat's ja nicht anders getan. Iſt
mir ſauer genug geworden.“
Seine unſtäten Augen gingen über ſie hin.
Er faßte ſie nach ihrem Arm. „Dir kann ſie
freilich nicht's Waſſer reichen“ murmelte er.
„Aber was ſollt ich machen! Mein Vater
hätt's nie und nimmer gelitten, Mariann! Ich
hab' nicht recht an dir gehandelt, ich weiß es
gut genug! Und das bohrt auch an mir und
frißt an mir! — — Aber Mariann, — du
haſt mich einen Lump und einen Lügner
— — geheißen. Das, — das iſt zu hart!
— Nimm das zurück, Mariann. — Ich will
ſorgen für dich, — für dich und das Kind. —
Aber den Lump und Lügner laß nicht auf mir
ſitzen, — Mariann!“
Sie ſah ihn an.
„Aha! Regt ſich's Gewiſſen? Oder iſt's dir
ein arger Gedanke, daß du vor mir als Lump und
Lügner giltſt? Möcht'ſt gern von dem Gedanken
los ſein! Möcht'ſt nicht, daß es eine gibt, die
fo von dir denft? Meinſt, mit deinem Geld
finnteft du dir Rub und Frieden faufen? Aber
ich nehm’s nicht bon dir! Geh du vor aller
Welt als der reidhe Mann der Miillerlena
berum, und id als ein Madden mit einem
vaterlofen Kinde! Du weißt's dod) befjer, dab
du nidt der Ehrenmann bift und id nidt die,
auf die man runterfeben darf! Gar nidts nebm’
id von dir! Wiles folljt du tragen! Und aud
nod das, dah ich weiß, daß du der Gar nidts
bift, der Hannebambel, der Urmfelige, der um's
liebe Geld fein Mädel figen läßt, aus Angft,
dah fein Vater ibn enterbt. — — Was war's
denn getwefen, wenn er dir die paar Grofden
vertragen batt’! Haft du nicht ein paar gejunde
Hand’, die arbeiten können? Hatt’s nicht ge-
langt fiir uns drei?”
Sie ridtete fic) hod) auf. Sie war faft
jo groß als ber Mann. Cie redte ibre
Arme aus und zeigte ibre Hände.
„Ich braud’ nicht mal jemand, der mid
ernährt. Und id fürcht' mid nidt vor der
Urbeit. Ich verdien’ genug fiir mid und
das Kind! Ich brauch' fein Geld und Gut,
id hab’ nicht nötig, auf andere zu [auern und
mid) nad ihrem Willen gu kuſchen. Ich {pei
auf dein Geld und id) veracht' did) bis in ben
Erdboden hinein.“
Sie nahm die gefüllten Eimer und ging
ins Haus. Und er ging auch.
Drinnen waren die Lampen in einen röt—
liden grauen Dunft gehüllt. Es rod nad
Tabak und Bier, nad Staub und Schweiß.
Stampfend drehten fic) die Paare im Kreis.
Der wildefte war der junge Ehemann. Er
Das Gemeindcivablredt der Frau. 611
tanjte immergu, immerzu. Langit ſaßen die
Alten ftumpf, balb fdlafend oder verivorrenes |
Die junge |
/ und bie jungen Parden ſchälernd ſich auf
Zeug ſchwatzend in den Eden.
rau fab verdroffen in ben Wirbel. Es
pate fid), bak bas Ebepaar gegen zehn Ubr
beimging. Und es war unerbirt, dak es
zwei, drei Ubr wurde, während nod) immer
der Ghriftian fid) im reife fdwang, uner—
müdlich, immer weiter. Cie lehnte balb
ſchlafend in cinem Winkel. Wher erjt, als alle
nicht mehr fonnten, als die Lichter ausgingen
den Heimweg madten, ba ging aud dads
junge Ehepaar nad Haufe. Und es twar
nod lange ein Gerede und Gemunkel dariiber
im ganzen Dorf.
Ieee
Oas Gemeindewahlirecht Ser Brau.
Dr Clifabeth Gottheiner.
— —
Nachdruck verboten.
er die Geſchichte der letzten zwei Jahrtauſende überblickt, dem offenbart ſie
ſich als eine fortdauernde Erweiterung der Rechte der Perſönlichkeit an der
Mitbeſtimmung und Mitwirkung im Gemeinſchaftsleben. Der moderne Staat insbe—
ſondere zeigt eine Entwicklung zur fortſchreitenden Ausdehnung des Wahlrechts, und
ſeitdem er über die Ständeverfaſſungen hinauskam, iſt eine Tendenz zum allgemeinen
Wahlrecht deutlich erkennbar.
Man hat verſucht, das Wahlrecht aus den verſchiedenſten Gründen abzuleiten.
Nach dem einen iſt es ein aus der menſchlichen Natur fließendes allgemeines Recht,
das jedem Menſchen zuſtehen muß, nach dem anderen nichts, als eine öffentliche
Funktion, die der Bürger im Intereſſe des Staates auszuüben hat, und die einen
Pflichtcharakter trägt.
Würde der naturrechtliche Gedanke vom Staate auf das abſtrakte Individuum
folgerichtig übertragen, ſo müßte er ſchließlich zu einer völligen Gleichſtellung der Frauen
mit den Männern, zu der Nberjeugung, von der abſoluten politiſchen Gleichwertigkeit
der Individuen gelangen. Die naturrechtlide Anſchauung vom angeborenen Menfden-
recht, mithin vom felbftverftindlidjen Rechte cines jeden Menſchen, zu wählen, fann
aber heute trog der entſchiedenen Tendenz yur Verallgemeinerung des Wabhlrechts als
ziemlich überwunden gelten. Cine ticfere Überlegung zeigt uns die Richtigfeit der
u. a. von Bluntidli vertretenen Anjidt, daf das Stimmredt nicht als Ausflug des
Naturrechts gelten, fondern erft der Staatsbiirger ein politiſches Wahlrecht be:
fisen fann, und dag diejer unter einem befonderen Staatsrecht fteben mup, auf das
Gründe der Zeit- und Zwedgemapbeit von Einfluß find. Die gleiche Auffaſſung ver-
tritt Georg Mever') wenn er fagt:
„Wie alle Rechte, fo ift auch die Befugnis zu wählen, Ausfluß der ftaatlichen
Rechtsordnung. Die Gejeggebung des States befindet ſich daher in der Lage, das
') , Das parlamentarife Wahlrecht“. Berlin 1901. S. 412.
89*
612 Das Gemeindewahlrecht ber Frau.
Wabhlrecht nach ihrem Ermeſſen zu regeln. Cie ijt nicht verpflidtet, dasſelbe allen
Staatsangehörigen 3u verleihen. Dies wiirde auch unmöglich fein, denn Kinder und
Geiftestrante müßten doch jedenfalls ausgefeblofjen werden. Bei der Ordnung des
Wahlrechts ijt vielmebr lediglich das Staatswohl als mafgebend zu erachten. Die
Gefeggebung fann daber priifen, welche Klaſſen der Bevdlferung zur Ausübung des
Stimmrechts befabigt find. Und fie wiirde pflichtwidrig handeln, wenn fie die Befugnis
ju wählen, foldien Perfonen cinraumte, von denen yu befürchten ware, dak fie won
derfelben einen dem Staat gefaibrliden oder dem allgemeinen Woble nadsteiligen Ge-
brauch machten. Die Frage, welches Wablrecht in einem Staate beftehen foll, ift daber
nicht von vorgefaften pringipiellen Gefichtapunften aus, fondern lediglich nach politi-
{hen Zweckmäßigkeitserwägungen zu entſcheiden.“
Es wird zugegeben werden müſſen, daß man dieſe Ausführungen Wort für Wort
anerkennen kann, ohne damit zu einem Ausſchluß der Frauen von allen politiſchen
Rechten zu gelangen. Nur Böswillige können ohne weiteres vorausſetzen, daß die
Frauen von ihrer Wahlbefugnis „einen dem Staat gefährlichen oder dem allgemeinen
Wohle nachteiligen Gebrauch“ machen würden. Trotzdem gehören ſie in den meiſten
Staaten noch zu den vier Klaſſen von Perſönlichkeiten, die das herrſchende Staatsrecht
von der Teilnahme am Wahlrecht ausſchließt. Dieſe ſind: 1. Perſonen, die nicht
handlungsfähig ſind; 2. Perſonen, welche die bürgerlichen Ehrenrechte nicht beſitzen;
3. Fallite und öffentlich Unterſtützte; 4. das weibliche Geſchlecht. Bei den erſten drei
Klaſſen liegen die Zweckmäßigkeitsgründe ihrer Ausſchließung klar zu Tage, die
Beſchränkung der politiſchen Rechte der Frau aber läßt ſich nicht ſo ſelbſtverſtändlich
mit Zweckmäßigkeitsurſachen begründen. Sie beruht vielmehr auf der hiſtoriſchen
Entwicklung, auf einem durch die Jahrtauſende alte männliche Kultur der Menſchheit
tief einwurzelnden Vorurteil, welches ſchließlich das „mulier taceat in eécclesia“ als
das einzig Natürliche und daher Zweckmäßige erſcheinen ließ.
Mit dem Erwachen des weiblichen Geſchlechts aus feinem langen Dornröschen—
ſchlaf kam ihm aber das Unwürdige dieſer Stellung mehr und mehr zum Bewußtſein.
Es erkannte die Sinnloſigkeit der Tatſache, daß eine Frau im Handel und Gewerbe
dem Manne gleich geſtellt iſt, daß ſie ſelbſt Monarchin werden kann, aber daß man
ihr nicht geſtattet, durch ihre Stimme ihr Intereſſe zu vertreten.
Iſt dies ſchon im Staate unberechtigt, wo das Wahlrecht in der Regel einen
rein politiſchen Charakter trägt, ſo erſcheint es noch viel weniger zu rechtfertigen, daß
der Anteil der Frau am öffentlichen Leben ihrer engeren Heimat, der Gemeinde, in der
privatwirtſchaftliche Intereſſen weit mehr in den Vordergrund treten, als im Staate,
ein fo geringer ijt. Trägt dod) das Gemeindewahlrecht in den meiſten Kulturſtaaten
einen plutokratiſchen Charakter. Grundlage der Teilnahme an der örtlichen Selbſt—
verwaltung im allgemeinen, der kommunalen Wahlberechtigung im beſonderen ijt faſt
überall urſprünglich der Grund und Boden, ſpäter häufig das Eigentum überhaupt. Bei
einer objektiven Durchführung dieſes Prinzips müßte daher die Perſon, und mithin
auch die Unterſcheidung der Geſchlechter, vollkommen zurücktreten. Nun zeigt es ſich
aber ſeltſamer Weiſe, daß nicht nur in denjenigen Gemeinden, in denen der Beſitz des
Gemeindebürgerrechts die Wahlberechtigung mit ſich bringt, die Frauen in der
Regel vom Wahlrecht ausgeſchloſſen ſind, ſondern daß auch da, wo das Eigentum
entſcheidet, das Wahlrecht der Frauen häufig verkümmert iſt.
* *
J
Das Gemeindewabhlredht der Frau. 613
Lafjen wir, um einen klareren Aberblid zu gewinnen, einmal in Kürze die ein-
ſchlagigen Verhältniſſe in den Haupthulturjtaaten an uns voriiberziehen. In der
Hoffnung, wenigitens irgendivo ciner frauenfreundlichen Geſetzgebung zu begegnen, richten
ſich unſere Augen naturgemäß zunächſt auf die angelſächſiſche Ländergruppe, und
zwar in erſter Linie auf das Mutterland, Großbritannien. Hier iſt allerdings die
lokale Verwaltung ſo komplizierter Natur, daß wir uns nicht gar zu kurz faſſen dürfen,
wenn wir darin eindringen wollen. Träger der engliſchen Selbſtverwaltung ſind:
1. die Kirchſpielverſammlung und der Kirchſpielrat (parish meeting) und
(parish council)
. dev Bezirksrat (district council)
. der Urmenrat (board of guardians)
. die Schulfommiffion (school board)
5. der Gemeinderat (borough council)
6. dev Grafſchaftsrat (county council).
Die Aufgaben des von der ländlichen Kirchſpielverſammlung gewählten
Kirchſpielsrats find febr eng begrenzte. Cie beftehen hauptfachlich in der Veriwaltung
der Hffentlichen Wegqe, des Beleudstungswefens, der Wafferzufubr ujw. Die gleicen
Pflichten mir fiir ein weiteres Gebict liegen dem über mehrere Kirchſpiele eingefesten
Bezirksrat ob, der ſowohl Lindlich als ſtädtiſch ſein fann, und deffen hauptſächliche
Aufgabe die Verwaltung des öffentlichen Gefundheitswefens ijt. Der Armenrat, der
die lokale Armenpflege auszuüben hat, fallt auf dem Lande mit dem Besirfsrat
zuſammen und beftebt in der Stadt aus cinem Ausſchuß desfelben. Der Schul—
fommiffion liegt die Verwaltung des Elementarſchulweſens ob. Die Gemeinderite,
die nur in fogenannten Munizipalftddten gebildet werden diirfen, üben die Rontrolle
über die Geſundsheits- und ſonſtige Poliset anus. Die Befugniffe der Grafſchaftsräte
endlich, in denen die gefamte Lofalveriwaltung gipfelt, find ſehr umfaffend. Es würde
yu weit führen, fie bier alle zu nennen.
Was nun die Stellung der Frau in den genannten Körperſchaften anbetrifft, fo
ift fie in den niedrigeren, d. h. in den Kirchſpiels-, Besirf3- und Armenraten, ſowohl
al in den Schulfommiffionen der des Mannes durchaus entfpredend. Die Frau ijt
ftimmberedbtigt, wenn fie dic Bedingungen erfiillt, die cinem Manne das Stimmredt
fichern, wenn fie nämlich zu den Gemeindefteuern beitragt; fie ift aber auch berechtigt
gewählt zu werden und fann fogar den Vorſitz führen. Zwiſchen verbeirateten und
unverbeirateten Fraucn wird fein Unterfdied gemacht. An den Gemeinde: und Graf—
ſchaftsräten dagegen haben nur unverbeiratete Frauen und diefe wiederum nur das
aftive nicht aber dad paffive Wablredst. ')
In den englifden Kolonien bat man die Frage des Gemeindewabhlrechts
der Frau in demfelben Cinne entfchieden, wie im WMutterlande. Im grofen und
ganzen gilt der Grundjag, dah, wer Gemeindejteuern entridjtet, aud wablberechtigt
ift, In Canada befteben allerdings in den verfchiedenen Cinjelftaaten verſchiedene
Beftimmungen. So ſchließen eingelne die verheiratete Frau aus, andere lafjen fie gu,
und das franzöſiſch fprechendDe Quebec fennt, charafterijtifder Weife, überhaupt
we oo to
) In lester Beit waltet leider vielfad bie Tendeng vor, in Stadten, welche cinen Gemeinderat be:
figen, ben Armenrat und die Schulkommiſſion diefem einzuverleiben. Dadurch haben in den letzten zwei
Jahren 181 Frauen das paſſive Wablredt, das fie bereits beſaßen, wieder verloren.
64 Das Gemeindewahlrecht der Frau.
fein Frauenltimmredt. Wuftralien, NeusSeeland und Tasmanien febliefen
fics eng an dad engliſche Vorbild an, gewabren aber gum teil der Frau weiter—
gebende Rechte.
Die Vereinigten Staaten von Nordamerifa, wo das Gemeindeftimmredt
fajt nirgends an einen Cenfus getniipft ift, fondern ganz auf derfelben Grundlage ſteht,
wie das politifdre Wablrecht, zeigen eine wahre Mufterfarte verfchiedenartiger
Einrichtungen. In den vier Staaten, in denen die Frauen das politifde Wahlrecht
erkimpft baben, (Wyoming, Utah, Colorado und Idaho) ift ibnen aud) von felbft
das Gemeindewabhlrecht zugefallen. Jn einem Staate (Kanſas) befigen fie dad aftive
und paffive Gemeindewabhlrecht, in verfdiedenen anderen dad Recht, in Stenerfragen
mitzjuftimmen und in 23 Staaten das Recht der Teilnahme an der Elementarſchul—
verwaltung. Tber die Hälfte der amerifanifchen Staaten gewährt feinen weibliden
Biirgern aljo in ciner oder der anderen Art das Stimmredt. Die fleinere Halfte
feblieBt die Frau nod gänzlich aus.
Von den flandinavifden Landern ijt Schiveden dasjenige, das den Frauen
zuerſt das Gemeindewablrecht gewabrte, und gwar bereits durch Gefeg von 1862.
Altem Brauche folgend, berubt das Stimmrecht bier auf Cigentum, und fo wurde ¢3
aud) den felbjtindigen fteuerjablenden Frauen ju teil. Dagegen befigen fie das
paſſive Wahlrecht nidt. Da fic in Schweden die Sahl der Stimmen nad dem
Reichtum richten, fo fann es, befonders in Landgemeinden, vorfommen, dah die
Halfte aller Stimmen fic) in der Hand eines einzigen befindet. Aft died zufälliger—
weife eine Frau, fo wird ihre Meinung in den meiſten Gemeindeangelegenbeiten
ausfdlaggebend fein. Die große Mehrzahl der ſchwediſchen Frauen, infonderbeit fajt alle
Verbheirateten, find allerdings nicht felbftindige Steuerzahler und daber nicht wahlbe—
rechtigt. Nur etwa der jehnte Teil aller Stimmberedhtigten find Frauen; während
dieſe aber frither von ihrem Wablrecht faft gar feinen Gebrauch machten, waren im
Jahre 1903 bereits 10 Prozent der Gemeindewabhler weiblichen Gefchlechts, d. h. die
Frauen nugten ihr Wahlrecht in der gleichen Weife aus wie die Manner.
Sn Finland, das fic) in feiner Gefeggebung nocd immer nach feinem ehemaligen
Mutterlande richtet, gelten fajt die gleichen Beftimmungen. 1865 erbielten die Frauen
das aftive fommunale Wahlrecht, 1900 aber auch dads paffive, das die Schwedinnen
nicht befipen. Seit 1869 haben fie ſchon das Stimmrecht bei der Priefter: und
Kirchenratswahl und feit 1889 bezw. 1893 das aftive und paſſive Wablrecht in der
Armenverivaltung und im Sdhulrat.
Ebenſo weit vorgefdhritten ijt heute Norwegen, wo die Frauen allerdings erſt
jeit 1901 an der Lofalverwaltung teilnebmen. Bis dabin beſaßen fie nur fiir die
Schulräte aftives und paſſives Wahlrecht. Nad) dem Geſetz von 1901 erbielten fie
aber aud) das fommunale Wabhlredt in Stadt- und Landgemeinden. Bedingungen
dafiir find: Zurücklegnng ded 25. Lebensjahres, fiinfjabriger Aufenthalt im Lande,
Leiftung eines gewiffen Steuerfages oder Vermigensgemeinfcaft mit einem Gatten,
ber cine Steuer in der Hobe dieſes Betrages zahlt. Sind die Norivegerinnen erft
40 Sabre ſpäter als die Schwedinnen hierzu gelangt, fo find ibre Rechte dafür gleich
febr viel weiterqebend. Sie befigen neben dem Stimmrecht die Wablbefabigung und
find gleich bet der erjten Wahl, an der fie beteiligt waren, in grofer Bahl in dic
Gemeindevertretungen gelangt. So ſitzen 3. B. in Kriſtianſand 7 Frauen in der
Stadtverordnetenverfammlung,
— *
Das Gemeindewahlrecht ber Frau. 615
Sn Dänemark, das im Gegenfag ju feiner Beſitzung Island, wo felbftindige
Frauen feit 1882 das kommunale Wablrecht ausiiben, feine Biirgerinnen bis heute
von der örtlichen Selbjiverwaltung gänzlich ausſchließt, liegt augenblidlic cin Entwurf
zur Reform des fommunalen Wahlrechts vor. Nach der neuen BVorlage foll das
kommunale Wahlrecht allen Steuerpflictigen und deren Chefrauen jufallen, ganz
qleidigiiltig, ob fie an dem Erwerb fiir die Familie tätig beteiligt find oder nicht.
. Sn diejer Form ift dev Gefesesentwurf am 14. Dezember 1903 vom Folkething
endgültig befcloffen worden. Nun harrt die wichtige demofratifche Reform der Ent-
ſcheidung des fonfervativen Landsthing, das den Entwurf aber nach der siveiten
Yefung am 14. Januar 1904 an eine Kommiffion überwies. Was dort fein Geſchick
jein wird, ift nicht abgufeben. In fiberalen däniſchen Kreifen fürchtet man jedenfalls,
daß er fürs erfte nicht wieder auferfteben, vermutlich wohl gar fein Ende dort
finden wird,
In unſerem Nachbarlande Ojterreich find die Frauen kaum beſſer geftellt.
Vom Gemeindewabhlreddt in den Stidten find fie gänzlich ausgeſchloſſen und auch in
den Landgemeinden, wo fie zugelaſſen find, fofern fie von Grundbeſitz oder gewerblicen
Unternehinungen Steuern zahlen oder zu den fogenannten Intelligenzwählern gehören,
dD. b. auf Grund ibres höheren Bildungsgrades die Wabhlberedtiqung haben, müſſen
ſich verbeiratete Frauen durch ibve Ehemänner, unverheirate durch VBevollmiachtigte
und minderjabrige Madchen durch ibren Vormund vertreten laſſen. Jn Nieder-
Ofterreich find den Frauen aber feit dieſem Jahre durch die neue Gemeindewabl-
ordnung aud) Ddiefe geringen Rechte faft alle wieder genommen worden und nur den
unverbeirateten Grundbefigerinnen dad Wahlrecht gelaffen. Qn Ungarn waren die
Frauen bis 1900 an der drtlichen Selbjtverwwaltung gar nicht beteiligt. An dem
genannten Sabre aber verlieh das Budapefter Gemeindegefes den felbftandigen, nicht
yon einem Chegatten abhängigen Frauen wenigſtens das aftive Wahlrecht.
Rußland iff von feinem aus uralten Zeiten ftammenden Gewohnheitsrecht allen
Mitgliedern der Dorfgemeinfchaft, des fogenannten ,,Mir', Sis und Stimme in der
Gemeindeverfammlung zu gewähren, auch heute nocd nicht abgewichen. Der einjige
Unterfdied ijt der, Dah wabrend früher alle Intereſſenten fich beteiligen durften, heute
die Mitgliedfchaft auf die biuerlichen Hausvater beſchränkt ijt, Dieſe find aber be-
rechtigt, yu ihrer Vertretung irgend cin Familienmitglied, in der Regel ibre Chefrau,
in die Verſammlung zu entfenden, was bejonders in Gegenden, wo die Männer
oft monatelang auswarts auf Arbeit find, häufig geſchieht. Trager der Selbſtver—
waltung aller nicht jum Bauernfiande gehörigen Landbewohner ijt die Kreisland—
ſchaftsverſammlung. Bu diejer haben anc qrundfteuerpflichtige Frauen das Wahl—
recht, dad fie allerdings nicht in ecigener Perfon, ſondern durd einen ſelbſtgewählten
Bevollmachtiqten aus ihrer cigenen Verwandtidaft — nicht notwendiger Weife dure)
den Gatten — ausiiben. Das qleice gilt fiir den ſtädtiſchen Gemeinderat. Adlige
Grundbeſitzerinnen können das an den Grundbefig geknüpfte Wablrecht zur Standes-
verſammlung ebenfalls einem männlichen Verwandten tibertragen.
Im Gegenſatz zu den germaniſchen und ſlaviſchen Ländern iſt die Frau in den
lateiniſchen Ländern vom Gemeindewahlrecht ausnahmslos gänzlich ausgeſchloſſen.
Als Grund hierfür iſt anzuſehen, daß das Wahlrecht bier nicht abhängig iſt von Grund—
beſitz oder Steuerleiſtung, ſondern von dem Beſitz der politiſchen Bürgerrechte, an
denen die Frauen der alten Welt ja noch nirgends eine Anteil haben.
616 Das Gemeindewablreddt oer Frau.
Sn Frankreich war es die Revolution, welche den lesten Reſt der kommunglen
Unabhängigkeit der Dorigemeinfebatten, und mit iby die Teilnabme der Frauen an der
Selbjtverwaltung zerſtörte, indem jie allen Bürgern in Stadt und Land die gleichen
politiſchen Rechte verlieh, trog alledem aber nicht auf den damalS jdeinbar fo nabe
liegenden Gedanfen verfiel, auch die Frauen der allgemeinen Bitrgerrechte teilhaftig
werden zu laſſen.
Mud in Italien fallen die Bedingungen fiir das politiſche und kommunale
Wabhleecht zuſammen, und alle Verjuche, das Gemeindewablredt wenigitens auf die
Frauen auszudehnen, find bis jest gejdeitert. Dagegen hat die Frau in Otalien,
Rumdnien, Velgien und Luremburg da8 Recht, ihre Steuerleijtung einem Manne
anzurechnen, damit er Wahlberechtigung erlange. Bei Chefrauen ift die Anrechnung
der Steuerleiftung nur zu Gunſten de3 Chemannes zuläſſig, verivitivete und unver-
verbeiratete Frauen dagegen können das ihrer Steuerleiſtung entiprechende Wabhlrecht
einem beliebigen männlichen Verwandten angedeihen laſſen.
* *
*
Wenden wir uns nach dieſem Flug in die Ferne der Betrachtung der Verhält—
nifje in unjerem eigenen Baterlande zu, fo febeint eS auf den erjten Blicd, als fei es
unmöglich, den Wriadnefaden zu finden, der ung durch das Labyrinth verfciedenartiger
und fomplizierter Beftimmungen führen farm, die im deutſchen Reich mit bezug auf
das Gemeindewahlredt der Frau getroffen find. Bei näherem Zufehen beginnen fic
aber die Schwierigfeiten bald zu lichten, und einjelne große Gefichtspuntte, unter dic
fic) die aus der Kleinſtaaterei entfpringende Mannigfaltigkeit und Vielgeftaltigkeit ein-
reiben läßt, treten mit Deutlichfeit bervor. Der Unterſchied zwiſchen Dorf und Stadt,
Der in den ffandinavifden Landern jum Beiſpiel ſehr wenig ſcharf ausgeprägt ijt, beftebt
fiir Deutſchland heute nocd tatſächlich fort und ijt in fajt allen deutſchen Staaten and
durch das pofitive Recht anerfannt. Zwiſchen ſtädtiſchen und ländlichen Gemeinden
ijt hier cine fcharfe Trennungslinie in bezug auf die Ausiibung des Wahlrechts ge—
sogen. Jn den Städten find die Frauen regelmapig davon ausgefdlofien, auf dem
Lande dagegen befigen fie eS in einer Reihe deutſcher Cinjelftaaten allerdings in febr
beſchränkter Form. Cine Betrachtung der Stidteordnungen bleibt uns alfo erfpart,
und wir werden eS in folgendem ausſchließlich mit Beſtimmungen der verfchiedenen
Landgemeindeordmingen und folder Gemeindeordnungen ju tun haben, die fich fowobl
auf die ſtädtiſchen wie auf die ländlichen Gemeinden besiehen und fic nur in einigen
fleineren Staaten finden.
Cine zweite wichtige Cinteilung ergibt fic) aus dem bereits angedeuteten Unter:
ſchied zwiſchen Bürgergemeinden cinerfeits und Grundbefiger: oder Cigentumps-
qemeinden andererfeits. Wihrend in den Bilrgergemeinden in der Regel entweder
der Befik des angeftamunten oder erivorbenen Gemeindebiirgerrechts jum Wablen
berechtiqgt und Frauen von dem Erwerb desfelben ausgeſchloſſen find, oder aber cin
Unterſchied zwiſchen ſtimmfähigen und nicht ftimmfibigen Biirgern gemadt wird —
wodurd die Frauen gleidfalls ansgefdloffen werden — genießen fie in den Grund:
befigergemeinden, felbft in den Killen, two diefe fic) in Cigentumsgemeinden im wabren
Sinne wverivandelt haben — dad heißt das Stimmrecht nicht mebr vom Grundbeſitz,
fondern vow der Leiftung einer beftimmten Steuerfumme abhängt — foweit fie Grund-
~
Das Gemeindewahlrecht der Frau. 617
hefigerinnen find, regelmäßig das ative Wablrecht. Dies dürfen fie aber mit einer
einzigen Ausnahme — niet ecinmal in Perjon ausüben. Vom paffiven Wablrecht
find fie iiberall ausgeſchloſſen. Hieraus gebt hervor, dak uns die Sadhlage in den
VRiirgergemeinden Hddftens dort zu beſchäftigen haben wird, wo fic) nicht der gan;
reine Typus findet, oder fiir Frauen Ausnahmebeftimmungen beftehen.
Gehen wir zunächſt auf die Verhaltnijfe in Preufen cin, wo der Typus der
Cigentumsgqemeinde vorivaltet. Der Staat gliedert fid) in Provinzen, Kreife und
Gemeinden, und diefe Glieder haben cine doppelte Bedeutung, einmal als Besirfe der
ſtaatlichen Verwaltung und zweitens als Berbande yur Erreichung ſelbſtändiger
wirtſchaftlicher Zwecke. In den Gemeinden tritt der wirtſchaftliche Swed ſtark in
den Vordergrund. Ihre Organe waren urfprimglics zur Erfüllung wirtſchaftlicher
Zwecke gejchafien und wurden erft ſpäter vom Ctaate feinen Verwaltungszwecken
dienftbar gemacht. Umgekehrt ift in den Provingen und Kreifen, die anfänglich
reine Verwaltungsbezirke waren, erft allmählich neben die fiaatlicbe eine fommunale
Organifation getreten, die fie zu Selbftverwaltungsfirpern höherer Art umſchuf.
Die perſönliche Grundlage der Landgemeinden, die uns in erfter Linie
intereffieren, bilden — wenigften in den fieben öſtlichen Provingen, deren Verhältniſſe
wir bier ju Grunde legen — die Gemeindeangebhsrigen und die Gemeindemitglieder.
Für die Gemeindeangebdrigkeit ijt der Wobnfig, fiir die Gemeindemitgliedſchaft die
Lange des Anfenthalts (mindeftens ein Jabr) und eine gewiffe Steuerleijtung beftimmend.
Gemeindemitglicder haben das Stimmredt in der Gemeindeverfammlung, Diefe
ift bas Organ der Landgemeinde und wird von fimtlichen Gemeindemitgliedern gebildet.
Bei mehr alS 40 Stimmberechtigten oder auf Antrag tritt an Stelle der Gemeinde:
verfammlung die von dieſer gewählte Gemeindevertretung. Aufgaben der Ge-
meindeverjammlung bezw. BVertretung find die Beſchlußfaſſung über alle dem Gemeinde:
vorfteher nicht ausſchließlich überwieſenen UAngelegenheiten, insbefondere über die
Verwaltung und Benutzung des Gemeindevermigens, die Uberwachung der Verwaltung
und die Feftitellung des Gemeindeetats.
Die felbjtindigen Gutsbezirke, die hauptſächlich auf den Often beſchränkt find,
haben in der urſprünglichen Cinbeit eines größeren Gutsbezirkes ibre Grundlage, dod)
dedt fic) der Begriff des Gutsbezirks heute keineswegs mehr immer mit dem des quts-
herrlichen Beſitzes. Die Gutsbezirke ſtehen den Gemeindebeszirfen öffentlich redytlich
gleich, doch iſt der alleinige Träger der öffentlichen Rechte und Pflichten der
Gutsherr. Von einer Kommunalverwaltung kann daher in Gutsbezirken nicht die
Rede ſein.
Die Landkreiſe, zu denen Landgemeinden und Gutsbezirke vereinigt ſind,
werden durch den Kreistag vertreten. Dieſer geht hervor zu einer Hälfte aus den in
Wahlbezirke eingeteilten Landgemeinden, zur anderen aus dem Verbande derjenigen
größeren Grundbeſitzer, Gewerbetreibenden und Bergwerksbeſitzer, die zu einem Mindeſt—
ſatze der Grund: und Gewerbeſteuer veranlagt find. Dem Kreistag liegt es ob,
fiber die Kreis- und fonftigen ibm jugewiefenen MAngelegenheiten ju beraten und zu
beſchließen.
Die Vertretung der Provinz endlich hat der Provinziallandtag, zu dem
jeder Kreis nad der Einwohnerzahl eine oder mehrere vom Kreistage gewählte Ab—
geordnete entſendet. Seine Aufgabe iſt die Beſchlußfaſſung über provinzielle An—
gelegenheiten, beſonders über den Provinzialhaushaltsetat.
618 Das Gemeindewahlrecht der Frau.
Seben wir uns nun die Rechte der Frau innerhalb der preußiſchen Selbit-
verwaltung etwas näher an. Rach den Beſtimmungen der Landgemeindeordnung fiir
Die 7 öſtlichen Provinzen der preugifdren Monarchie vom 3. Juli 1891 finnen Frauen
das Gemeindeftimmrecht nur ertverben: 1. wenn der ihnen im Gemeindebezirk gebbrige
Grundbhejig jum Stimmrecht befähigt (hierunter fällt jedes Wohnbaus und jedes
Grundftiid, fiir das mindeftens 3 Maré an Grund: und Gebdudeftenern zu entrichten
find); 2. wenn fie die fiir die männlichen Stimmberedtigten aufgeſtellten Erforderniffe
(deutſche Reichsangehörigkeit, Beſitz der bürgerlichen Chrenrechte, einjdbrigen Wohnſitz
im Gemeindebezirk und Zahlung der auf ſie entfallenden Gemeindeabgaben) ſämtlich
erfüllen (545). Während alſo bei den Männern die Stimmberechtigung — auger von
Den genannten Bedingungen — nur noch von der Leiſtung eines beſtimmten Steuer—
fages (in der Regel 4 Maré im Jabr) abhängig ijt, wird fie Frauen nur zuerkannt,
wenn fie Grundbefig haben, und felbft diefe dürfen ihr Stimmrecht nicht ſelbſtändig
ausüben, jondern müſſen fic) dure) cinen Mann vertreten laſſen. Als Bertreter der
Ehefrau gilt obne weiteres der Chemann, unverbeiratete und verivitwete Beſitzerinnen
werden durch Gemeindeglicder vertreten. (§ 46.) Faft ebenfo find die Beftimmungen
fiir die Provingen Weſtfalen (Landgemeindeordnung vom 19, März 1856), Schles—
wig-Holſtein (Landgemeindeordnung vom 22, September 1867), Hannover (Land:
gemeindegefes vom 18. April 1859) und Geffen-Naffau (Landgemeindeordnung von
1897). Nur in der Rheinproving find infolge franzöſiſcher Einflüſſe zur Ausübung
des Gemeinderechts ausſchließlich Männer befugt, obgleic auch bier das Cigentum zur
Grundlage des Stimmrechts gemacht ijt. Es ijt dies die einzige Ausnabme von der
oben aufgeſtellten Regel.
In den Gutsbezirken diirfen Frauen, die ihnen als Gutsherrinnen zuſtehenden
Rechte und Pflichten ebenfalls nicht perjdnlich ausiiben, fondern müſſen fich, falls fie
verheiratet find durch ibren Ehemann, falls fie unverbeiratet oder verwitwet find, durd
cinen Bevollmächtigten vertreten laſſen.
Das Wahlrecht der Frauen yu den Kreistagen ijt noc beſchränkter als das zu
den Gemeindevertretungen. Nur im Wablverbande der Grundbefiger und Gewerbe—
tretbenden wirken fie unmittelbar mit, müſſen aber auch bier durch ibre Gatten oder
männliche Berechtiqte vertreten werden. Im Wahlverbande der Landgemeinden dageqen
üben fie mur mittelbar infofern cinen Einfluß aus, alS fie an den Wahlen der
Gemeindevertretung beteiliqgt find, welche ibrerfeits die Wablmanner fiir den Krets-
tag wählt.
Noch feiner durchgeſiebt ift der Anteil der weiblichen Wahler an der Zuſammen—
jebung des Provingiallandtags; er beſchränkt ſich anf die durch die Tetlnabme der
Arauen an den Wablen zur Gemeindevertretung und zum Kreistag ausgeiibte
Beeinfluſſung.
Im Herzogtum Braunſchweig, wo ebenſo wie in Preußen das Syſtem der
Grundbeſitzergemeinde gilt, kommt den Frauen oder, wie die Landgemeindeordnung
vom 18. Juni 1892 ſich ausdriidt den „Frauenzimmern“ die Wahlbereddtiqung gleidfalls
zu, wenn fie Bejigerinnen von Giitern, Gehöften, Wohnhäuſern, Fabriten, Hütten,
Calinen, Gruber und anderen fiir fich beftebenden gewerblichen und landwirtſchaftlichen
Vetrieben find, und außerdem die fiir die männlichen Wablberechtigten notwendigen
Vorausfepungen erfillt find. ($16) Wählbar find fie aber, ebenſo wie die unter
Ruratel ftebenden und die unter 25 Jabre alten Perfonen, in. deren Gefellfchaft fie
Das Gemeindewahlrecht der Frau. 619
in fajt allen Landgemeindeordnungen auftreten, ſelbſtverſtändlich nicht. Auch können fie
ihr Wahlrecht nicht felbftandig ausüben. Faft gleichlautend find die Beſtimmungen fiir die
zu den Hanfeftidten Hamburg und Liibed gehörigen Landgemeinden (Landgemeinde-
ordnungen vom 12, Juli 1871 bezw. vom 16. November 1868), etwas weitergehend
die fiir das Herzogtum Sadjen- Altenburg, wo ſchon der Beitrag su den Gemeinde:
laſten der gropjdbrigen Frau die Stimmberechtigung gibt. (Dorfordnung vom
13. Suni 1876.)
Cine Ausnabmeftellung unter allen deutſchen Staaten nimmt in Bezug auf das
Gemeindewahlredt der Frau merkwürdiger Weife das fonft nicht eben als fortſchrittlich
qeltende Königreich Sachſen cin. Nad § 34 der Landgemeindeordnung vom
24. April 1873 ijt hier die unverbeivatete Grundbeſitzerin, bis auf das ibr mangelnde
paffive Wabhlrecdht, dem Manne ganz gleid) geftellt. Bon allen deutſchen Frauen ijt
fie die einzige, Die ihr Wablrecht perfonlich ausiiben darf, während fitr die verheiratete
Befigerin auch hier der Ehemann die Stimme abzugeben hat, und deren Stimmredt
gänzlich rubt, wenn der Gatte nicht ftimmberechtigt ijt.
Das Königreich Wiirttemberg, die bayrifde Pfalz, die Großherzogtümer
Baden und Heffen, die Herjogtiimer Gotha und Sachſen-Meiningen, dic
Fürſtentümer Sdhwarzburg-Sondershaufen und Reus j. &, fowie die Reichs:
fande Elſaß-Lothringen machen fimtlid das Gemeindebiirgerredt zur Grund:
lage der kommunalen Wahlberechtigung und febliehen entweder die Frauen vom Erwerb
desfelben gänzlich aus, oder verfagen ibnen doc) die Stimmberedtiqung. Als ehemalige
Rbeinbundftaaten, bezw. als frither gu Frankreid) gehörige Landesteile haben alle
dieſe Lander längere oder kürzere Zeit unter franzöſiſchem Einfluß geftanden. Wuf ibn
ift dieſe Entwidelung ebenfo wie in den Rheinlanden daber wohl zurückzuführen.
Sntereffante Ausnahmen bilden das Großherzogtum Sadfen-Weimar-Cifenad
und das Herzogtum Coburg, wo nad dev neuen Gemeindeordnung vom 24. Juni 1874
besw. dem Gemeindegefeg vom 22. Februar 1867 zwar das reine Syftem der Biirger-
gemeinde bejteht, Frauen aber nidt nur das Bürgerrecht unter denfelben Bedingungen
wie Manner erwerben können, fondern aud) das gleice vom Beſitz gänzlich losge—
lofte Stimmredt befigen. Wllerdings ijt ihnen auch bier eine perſönliche Ausübung
nod verfagt, aber unter den deutſchen Gemeindeverfajjungen find diefe beiden zweifel—
los die Den modernen Rechtsanſchauungen am meiften entfpredenden. Es fehlt nur der
{este Schritt, um die weibliche Gemeindebiirgerin dem männlichen Gemeindebiirger
volltommen gleichzuſtellen. '
Su der Staatengruppe, welche nur die Biirgergemeinde kennt, gehört ferner das
Grofberjogtum Oldenburg. C8 verdient aber einer VBejtimmung wegen, die fic) in
Feiner anderen deutſchen Landgemeindevrdnung jfindet, ebenfallZ, wenn auch nicht im
guten Sinne, bejonders hervorgehoben ju werden. Auch in Oldenburg ijt eS Frauen
qeftattet, Das Gemeindebiirgerredt zu eriverben, cine Wabhlberedtiqung bringt es fiir
jie bier aber nicht mit fich. Dazu wird die Erwerbung des Heimatsrechts auger von
den fiir Manner nötigen Erforderniffen fiir „Frauenzimmer“ auch davon abhängig ge:
macht, daß fle wabrend der legten drei Jahre nicht außerehelich niedergekommen oder
ſchwanger geworden find. (Art. 32.) Dies Hineinziehen biirgerlicher Chrbeqriffe in
Gefebesheftimmungen berithrt den modernen Menfeben fo fonderbar, dak er gan;
erleichtert aufblidt, wenn er fich vergewwijjert, daf die oldenburgifde Gemeindever:
620 Das Gemeindewabhlrecht der Frau,
fajfung bereits vom 1. Juli 1855 herrührt. Bei einer Revijion des Gemeindegefeses
wird hoffentlich auch diefer vorfindflutliche Paffus in Fortfall fommen.
Miſchtypen zwiſchen Cigentums- und Biirgergemeinden ftellen die Landgemeinden
de8 rechtsrheiniſchen Bayern und der Fiirjtentiimer Walded und Reus a. L. dar.
Während in Bavern diesfeits de3 Rhein Manner allein durch den Beſitz des Gemeinde-
bürgerrechts jum Wählen berechtigt find, finnen Frauen das Stimmredt nur erwerben,
wenn fie entiveder in der Gemeinde ein befteuertes Wohnhaus haben oder mit direften
Steuern mindeftens in demfelben Betrage wie einer der drei höchſtbeſteuerten Einwohner
angelegt find. Ferner müſſen fie fich, ebenfo wie ,minderjabrige und andere unjelb-
ſtändige Perfonen” bei der Ausübung des Stimmrechts eines Vertreters bedienen. Fait
wörtlich die gleiche Beſtimmung gilt fiir das Fürſtentum Waldeck. Im Fürſtentum
Reuß a. L. find die Rechte der Gemeindebürgerinnen noc beſchränkterer Natur. Hier
ſteht nämlich den grundbefigenden und perſönlich Steuern jahlenden Frauen nur bei
jolchen Beſchlüſſen eine Stimme Stimmrecht zu, welche ,,mittelbar oder ummittelbar die
Ausfehreibung von Gemeindeanlagen oder eine Erhöhung der bereits ausgeſchriebenen
nad fic ziehen können“. (Art. 138 der Gemeindeordnung vom 28. Januar 1871).
Als Kuriofum fei ſchließlich erwähnt, dak die Landgemeindeordnung des Fürſten—
tum Schaumburg-Lippe vom 7. April 1870 keinerlei Einſchränkungen des Frauen—
wahlrechts zeigt und damit dem Wortlaut nach, als die fortgeſchrittenſte Gemeinde—
geſetzgebung ganz Deutſchlands erſcheint.
Das Heimatrecht wird nad § 3 in Schaumburg-Lippe erworben: 1) durch
Abjtammung von Heimatherechtigten Eltern, 2) fiir Frauen durch Verbeiratung mit
einem beimatberechtigten Manne. Ws ftinunberechtigt gelten nad) § 13: 1) alle
Heimatherechtigten, welche
a) zu den Gemeindelaften beitragen,
b) im Befig der biirgerlichen Ehrenrechte find,
c) felbjtdndig find,
d) das 25. Lebensjabr vollendet haben,
e) feit einem Sabre ihren Wohnſitz in der Gemeinde haben,
2, alle diejenigen, welche in der Gemeinde mit Grundſtücken angeſeſſen find.
Das auf dem Grundbefig berubende Stimmrecht Fann in Perfon oder durch
Bevollmächtigte, das Stimmredt der nicht anfajjiqen nur in Perfon ausgeübt werden.
Guts: oder ſtättebeſitzende Witwen können (nicht müſſen) fic) durch ibre Sohne
vertreten laſſen.
Nach § 64 ift ferner jedes ftimmberechtigte Gemeindemitglicd verpflichtet,
unbefoldete Stellen in der Gemeindeverivaltung oder Vertretung anzunehmen.
Aus allem dieſem fceint hervorzugehen, daß in Schaumburg-Lippe die weiblichen
Gemeindemitglieder nicht nur wahlberechtigt, fondern auch wählbar, fury, den mann:
lichen Gemeindebitrgern in jeder Beziehung gleicgeftellt find. Das Fürſtentum ware
alſo das Jdealland, nad) dem die Verhältniſſe der übrigen deutſchen Gemeinden
umzugeſtalten wären. Merfwiirdigeriveife aber ijt in Schaumburg-Lippe felber davon
nichts befannt. Es wählen hier vielmebr, wie in Preufen, gewohnheitsrechtlich nur
die grundbefigenden Frauen, und diefe nur durch Stellvertreter. Bei der Abfaſſung der
Gemeindeordnung ijt anfcheinend niemand auf den Gedanfen verfallen, daf auf Grund
des Wortlauts die Frauen die vollen Gemeindebiirgervedhte fiir fich fordern könnten; jo
Irdiſche und himmliſche Liebe, 621
jeht war man gewihnt, fie als quantite négligeable zu betrachten. Was gefdehen
wiirde, wenn die Landgemeindebiirgerinnen von Schaumburg-Lippe, auf dieje Tatfadhe
aufmertfam gemadt, auf ihrem Recht beftdnden, bleibt dabingeftellt. Vielleicht
verfuden fie es einmal! " ‘
*
Unjere Wanderung durch Deutfehland ift beendet. Was wir in den Land:
gemeinden geſehen haben, find nichts als Anſätze, als Keime eines Frauenwablrechts, das
zu feiner villigen Ausbildung noch nach vielen Richtungen hin der Ausgeſtaltung bedarf.
Denno wird das, was bereits vorhanden ijt, vermutlic) die meijten mit ländlichen
Verhdltniffen wenig vertrauten Nicht-Juriſten in Erſtaunen fegen. Cine genaue
Kenntnis der Sachlage ijt jedenfallS die erfte Grundbedingung einer Reform. Wenn
e3 dieſer Darjtellung gelingt, die Frauenvereine in den Cinjelftaaten dazu anzuregen,
für cine Criveiterung dev Frauenrechte in der Gemeinde cinjutreten, fo iſt ihr Haupt—
zweck erfüll. Mehr und mehr mus ſich die Erfenntnis Bahn brechen, dah nur der
Bürger ein niigliches Glied feiner Gemeinde fein fann, dem es geſtattet ijt, feine
Intereſſen felbjtindig zu vertreten. Die Frauen müſſen ſich dagegen erbheben, mit
Unmiindigen und Geiſtesſchwachen in der gleichen Reihe gu fteben. Cie baben durch
Die Beijpicle aus dem Ausland geniigendD Beweife in der Hand, dah die Frau über—
all da, wo fie volled Bürgerrecht bejigt, ſich deſſen würdig gezeigt bat und hinter den
Männern in feiner Weife zurückſteht.
HY
Jrdische und himmlische hiebe.
Eine Studie fiber zwei Dichtungen
Don
Martha Striny.
—
Nachdrud verboten.
Jaeterlinck, den man recht eigentlich den Dichter des Unbewußten nennen dürfte,
3 der mit reinen Händen und Kinderworten die tiefſten Geheimniſſe unſerer
Seele offenbar macht, der ſo vielen ein Argernis iſt, die die Blumenblätter einer
Dichtung auseinanderreißen und rufen: „Sehet, es iſt nichts darunter!“ und höhnend
davongehen und die Fetzen in den Wind ſtreuen — Maeterlinck kündet auch uns
Frauen viel von unſerem Eigenleben. Uns, die wir Weſen einer alten und einer
neuen Zeit in uns ringen fühlen, uns ſchafft er aus dieſen Regungen unſerer Seele
Geſtalten, die mit inſtinktiver Sicherheit in dem Lichte wandeln, das wir ſuchen. Er
zeigt uns, daß wir uns nur befreien, wenn wir wie Ariane die ſechs Schlüſſel zu den
Juwelenſchreinen Blaubarts wegwerfen, um mit dem ſiebenten die verbotene Tür zu
öffnen und ihn durch Stärke und Liebe zu überwinden. Er ſagt uns auch, daß wir
trotz des Unglaubens der Welt und ihrer Schmähungen dem Sittlichkeitsgebot in der
eigenen Bruſt furchtlos folgen müſſen, um aus dem böſen Traum, den wir jetzt für
622 Irbiſche und himmliſche Liebe.
unfer Glück und unfer Los halten, zu der ſchöneren Wahrheit gu erwachen. Wielleicht
ijt es ungeredjt, daß wir in der kürzlich Durch die Wuffiihrungen de3 Neuen Dheaters
in Berlin einem größeren Publifum befannt gewordenen ,,Schwefter Beatrir” nad
dieſem unjeren Dichter fucben. Cr felbjt weiſt es ab, daß man darin nach philofophijden
und moralifden Problemen fuche; „es find die beiden Singfpiele”, fagt er, (, Blaubart
und Ariane” und ,,Schwejter Veatrir”) „im beften Fall die erften taftenden Schritte zu
einer Schaubiibne ded Friedens, des Glückes und der Schönheit obne Tränen.“
Aber der jenfible Dichter wird uns fo nicht abweijen. Wir wollen ergriinden,
was er uns fagt, denn inuner feben wir ibn mit uns im tiefften befchaftigt, und in
dem einen diefer Singfpicle ijt, wie vorhin angedeutet, ein Stück Frauenfrage aufgerollt.
„Schweſter Beatrir” ijt von allgemeinerem Gebalt. Es ift die dramatiſche Bearbeitung
der alten Legende von der Nonne, die voll Verlangen nad) der Liebe aus dem Kloſter
entiveicht und deren Amt bis zu ibrer reuigen Rückkehr durch die Jungfrau Maria
ausgefillt wird. Im fatholifden Belgien mit feinem entiwidelten Rlofterleben war die
Legende gewif noc) lebendig. Die Legende gibt nur Umriſſe, die Ausfüllung ijt des
Dichters.
Sm Neuen Theater wurde Maeterlinds Dichtung ftimmungsvoll ausgeprigt.
Su der Ddmmernden Vorhalle des Klofters leuchtet das köſtlich geſchmückte Bild der
beiligen Jungfrau. Zu Füßen des Gitters liegt die ſchluchzende Nonne und beidstet
in ftammelnden Worten von der Leidenfdhaft der Liebe und fürchtet fids wor der Tod-
jiinde. Das ijt Beatrix, die der Pring Bellidor heute entfiibren will, und die feit drei
Tagen fo viel geweint bat, daß fie nicht mehr weinen kann. Und nun flebt fie, daß
die Heilige ein Seichen gebe, dah fie bleiben foll, fo wird die Sünde nicht gefdeben.
Aber die Heilige gibt fein Seichen. Da finkt fie fraftlos in die Arme des Mannes,
Der fie über die Schwelle tragt.
Fiinfundswanzig Jahre vergeben. Wieder fteht das Bild der Jungfrau und die
Kerzen brennen auf dem Wltar. Da drehen fic) die ſchweren Torfliigel von felbjt in
den Angel und öffnen fich lautlos auf die ſchneebedeckte Landfehaft. Auf der Schwelle
erfcbeint, mager und fajt unfenntlich, ein Weib in Lumpen. Mit einem jitternden
Schrei ſtürzt fie zu Füßen der Jungfrau. „Ich Fann nicht mehr beten, id) fann nicht
mehr fpreden, und ich babe fo viele Tranen vergofjen, dah ich nicht mehr weinen fann.
Ich bin die arme Beatrix. Schau nur, wohin mic) Liebe und Sünde gebradt
haben und alles, was die Menfden Glück nennen.“
Liebe und Siinde eng zuſammen. Als miifte es fo fein. Schlimmes weiß Beatrir
zu fagen von der Liebe. Die Ubtiffin fagt: „Die göttliche Liebe ift eine ſchwere
Lajt.” Und Beatriz: ,, Nein, die Liebe des Mannes, das ift die grofe Biirde.” Keine
Siinde fo tief, teine Schande fo groß, durch die fie nicht bat hindurch müſſen. Nad
drei Monaten verlofd) des Prinjen Liebe. Alle Manner nacheinander entiweihten diejen
Leib. Meine Kinder ftarben, als ic) nicht mehr ſchön war. Und das legte bab id
des Nachts getitet, als der Wahn mich faßte, daß eS nicht mebr leiden ſollte. „Und
andere, Die geboren werden follten, find nicht zur Welt gefommmen. Und die Sonne febien
weiter, die Gerechtigkeit fcblicf, und nur die Schurken waren ſtolz und glücklich.“
Damit unterjtreiddt der Dichter das alte Wort der Kirche: An der Welt ift
Siinde, aber bei mir ijt Friede. Die Liebe da draufen bringt Unbeil und Tod, die
meine ijt das Ghid.
—
Irdiſche und himmliſche Liebe. 623
Nun aber war in der Legende die Jungfrau felbjt berabgejtiegen und hatte das
Amt der entflohenen Nonne in ibrer Geftalt verſehen und ibre Flucht fo liebreich
sugededt. Macterlind läßt im zweiten Wet die} Wunder fic) vor unferen Wugen voll:
ziehen. Damit verfiindete die Legende die zweite alte Kirchenlehre, daß de3 Sünders
Reue ſeine blutrote Siinde ſchneeweiß macht. Die himmliſche Jungfrau fiebt den
Gottesfunken auc) im Herzen de3 Verlorenen und Hebt ihn empor. ,,Gelobet feift Du,
Maria!”
Hier hat Maeterlind angekniipft, um fein Evangelium de3 Frieden und der
Liebe zu verfiinden. Denn die Welt fennt diefe Liebe nidt. Sie hat nur Rache und
Fluch fiir den Siinder. Und die fich dem Dienfte des Himmels geweiht haben, die
qlauben aud) in feinem Auftrage da Racheſchwert fiibren gu müſſen. Daher zeigt er
uns in einer abftofenden Szene den Fanatismus der Nonnen, der Mbtiffin, des Priefters.
Sie erfennen die Géttliche nicht, deren Lidhtglany die arme Nonnenfleidung nicht
verbergen Fann; fie drehen die Geifel, um an der Heiligtumsſchänderin die graufame
Züchtigung zu volljieben, und ein Wander mug die Heilige ſchirmen. Sie würden auch
die rückkehrende Sünderin Beatrir in den Abgrund ſtoßen, wenn nist die Himmliſche
fie getäuſcht hatte, fodaf fie eine Geilige gu feben meinen. Daher bleibt der rid:
Febrenden Beatrir der Schmerz erfpart, von ihnen verdammt zu werden. In den
ſchrecklichen Geſtändniſſen der Sterbenden feben fie die fcblimme letzte Priifung, die
die Damonen der Finfternis den Wuserforenen bereiten. Und Beatrix ſtaunt über
ihre Milde: „Verzeiht ihr mir denn? Man verzieh doch nicht, als ich nod
bier lebte.” Und fie ftirbt in dem Wahn, daß Liebe und Güte in die Welt zurück—
gekehrt feien.
Die Apoftafe de3 Siinders. Cr bat am meiften gelitten, darum ift er der
Heiligſte. Nicht ibn gu verftofen fteht uns an, fondern ihn zuzudecken mit dem Mantel
der Liebe, wenn er jitternd und blof heimkehrt aus dem furchtbaren Kampf mit der
Welt. Denn das Leben ijt Leiden.
Wiffen, Berftehen, Lieben, das ift alles. Das ijt des Dichters tajtender Schritt
zu einer Schaubiibne ded Friedens, des Gliides und der Schönheit obne Triinen.
Im Menſchenherzen foll fie aufwachen.
Wir kennen dieſe Sehnſucht des weltflüchtigen Dichters. Des Dichters, deſſen
erſte Werke die Angſt vor dem Leben mit hörbarem Herzſchlag durchpocht.
* *
*
Aber in den fünfziger Jahren war bereits ein deutſcher Dichter beim Leſen von
Koſegartens Legendenſammlung über die alte Erzählung geraten, und wer ihn kannte,
dem ſtieg neben dem dämmernden Kloſterportal, das den Rahmen abgab fiir Macterlinds
ringende und büßende Beatrix, eine lichte deutſche Frühlingslandſchaft empor, in der
die Zinnen des Kloſters vom Berge glänzen, ferne Burgen winken und Jagdruf durch
die Wälder ſchallt. Denn bei Gottfried Keller muß Waldluft rauſchen und die Welt
im Maienkleide ftehen, wenn er von der Liebe der Menſchen reden foll. Der bat mun
den dürftigen Rahmen der Legende mit feiner Fabulierfunjt evfiillt, und wie ſich feinem
tiefen Ernſt ſtets der Schal€ gefellt, fo labt er fich im ftillen daran, jenen abgebrodjen
ſchwebenden Gebilden das Antlig zugleich „nach der entgegengefegten Himmelsrichtung
zu wenden, als nach welcher fie in der überkommenen Geftalt ſchauten.“
624 Irdiſche und himmliſche Liebe.
Keller, dev das Schidjal hatte, ſich ftets in die grofen und ftarfen Madchen yu
verlieben, läßt feine Beatrir nicht vom leidenſchaftlichen Berfiihrer über die Schwelle
des Kloſters geriffen werden. Cr fympathifierte mit dem alteren Bug der ibm vor-
liegenden Legende, daß ihr eigenes Berlangen die ſchöne Nonne Hhinaustreibt in
die Welt.
„Als fie es nun nicht Linger mehr yu ertragen vermochte, trat fie eines Nachts
vor den Altar Unferer Lieben Frau und ſprach ju ibr: O, du allerliebfte Frau Maria,
id) habe Dir bisher gedient auf das bejte, als ich nur vermodte. Aber jest nimm
Du die Schlüſſel gu Dir; ich kann das Leiden in meinem Herzen nicht Langer ertragen.
Mls fie das gefprochen, legte fie den Schlüſſel auf den Altar und ging yum Kloſter
hinaus . . .“ Das Starke dieſes Schritts, mit dem fich obne viel Sammern cine
Frau zu der unwiderftebliden Raturgewalt des Liebestriebes befennt, mochte Kellers
qejunde Natur erfreuen. Aber hier ſchon mußte er mit jener Drehung de Antlipes
einfegen. Die eng in die Schranfen kirchlicher Anſchauung gebundene Legende fann
bet aller Naivetit nicht anders, als das Verlangen der Nonne al ein Werk des Böſen
bezeichnen: „ſie ward von ſündhaften Gedanten gar heftig angefochten“. Daher beift
es weiter: „Sie ging zum Nlofter binaus und ergab fic) dem gemeinen Leben volle
fünfzehn Sabre”. Unjer Dichter aber, dem es darauf anfam, der Liebe ibre menſchliche
Schönheit zurückzugeben, öffnet ein wenig die verſchloſſene Herzenstür ſeiner Beatrir
und läßt uns in einen lichten Raum ſchauen, in dem nur die große Sehnſucht nach
dem Leben ſchattend liegt. „Herrlich gewachſen von Geſtalt, tat fie edlen Ganges
ihren Dienſt, beſorgte Chor und Altar und läutete die Glocke vor dem Morgenrot
und wenn der Abendſtern aufging. Aber dazwiſchen ſchaute ſie vielmals feuchten
Blicks in das Weben der blauen Gefilde; ſie ſah Waffen funkeln, hörte das Horn der
Jäger aus den Wäldern und den hellen Ruf der Männer und ihre Bruſt war voll Sehnſucht
nach der Welt.“ Und alles iſt mit denſelben lichten Maienfarben umkleidet: wie die
ſchöne Nonne in der taufeuchten Stunde, da die Sonne aufgeht, am Waldquell den
glänzenden Ritter trifft, der die ſchöne Beute eifrigſt an ſich nimmt, und wie ſie
demütig und ſeiner Liebe voll mit ihm auf der Burg lebt „zwar recht- und namenlos,
aber fie verlangte nichts Beſſeres“.
Aber obwohl die Sache mun einem oberflächlichen Beobachter in ſchönſter
Ordnung yu fein ſcheint, hat Meijter Gottfried dod noch andere Plaine. Denn mit
dem illegitimen Liebeshund der beiden Leutchen ijt es doch nicht obne weiteres ab-
getan. Gin böſer Zwiſchenfall, den er fich ertra dazu zurecht macht, foll ihnen dads
zu Gemiite führen. Der gute Ritter Wonnebold, der als ehrenfefter Germane auch
bei froben Feſten des Wiirfelfpiels mit derjelben Leidenfdhaft pflegt, die uns Tacitus
von unferen Altvordern berichtet, fest im Ubermut feines Spielglücks die ſchöne
Beatrix und verliert fie an den fremben Baron.
Nun ijt es köſtlich zu feben, wie weiblide Schalfhaftigfeit und Lift ihr Garn
ftellt, in Dad der Mann ohne weiteres hineingebt, und wie fie fic) felbft lächelnd aus
den Schlingen zieht und dem Verdugten Zeit laft, fic) itber feine Dummbeit gründlich
zu ärgern. Denn ein Fein wenig klüger find die Frauen bei Keller immer als die
grofen und ftarfen Manner in ibrem naiven Selbjtgefiibl, die fic) jeden Rauſch an—
trinfern und nachher jedesmal denfelben moraliſchen Ragenjammer erleben.
Uber feben wir durch die beitere Oberflache des Epiſödchens auf ſeine tiefe
Quelle, die der Dichter aus dem Gemüt der Frau berleitet, wo die einfache und keuſche
~~,
2
Irdiſche und himmliſche Liebe. 625
Liebe und Treue wohnt, die nur in dem einen geliebten Mann ihr Leben beſchloſſen
fiebt. Und wie fein ijt der Sug, dag Beatrir ihrem Wonnebold nicht einmal zürnt,
dah er fie fortgegeben, fondern ohne Klage und Vorwürfe in feine weitgedffneten
Arme juritdeilt, der vor Scham und Reue „einen ſehr fcblechten Tag wverbracht hat
und num erft merft, twas fiir einen Schah er aus den Händen gelafjen.” Und
während er fiber die gelungene Kriegsliſt lacht, wird er febr nachdenklich über ibre
Treue, denn jener Baron war ein ganz ſchmucker, anſehnlicher Gefell. Und um ſich
nun gegen alle künftige Unfalle 3u wahren, machte er die ſchöne Beatrir gu feiner
rechtmäßigen Gemablin. Und fo Lift der Dichter die ſchönſte Che aufbliiben aus der
vom fiebenden Herzen gefühlten Notwendigkeit, den unjiceren Liebesbund aus aller
Zufälligkeit heraus in die von der Liebe ſelbſt geforderte Dauer zu retten.
Wir fehen hier die tiefere Abficht der fleinen Cpifode: es mute gezeigt werden,
bak die Nonne, die aus dem Klofter ging, um ibr Verlangen zu ftillen, feine gemeine
Bublerin ijt, wie in der Legende, nod eine baltlofe Betirte, wie bei Maeterlinck,
fondern eine echte Frauennatur, bei der die eingeborene Sittlichfeit den Liebestrieb
untrennbar umfdjlingt. Daher darf fie aud) getroft gur Jungfrau Maria fleben in
dem Moment, two die Wiirfel über ihr Los entfcheiden follen. Die Heiligen felbft
können nicht anderd als lächelnd und feqnend auf diefen Liebeshund herabſehen.
Und wie ſchön zeigt der Dichter, obwohl er es mit feinem Worte ausfpricht, wie dic
echte Weiblichfeit der Holdfeligen Frau auch den wilderen Trieh deS Mannes ihm
unbewußt im ihre holden Schranken jiebt.
Gin Lewtes aber blieh nocd zu löſen. Immerhin war die Nonne, die dem
Dienſt der heiligen Jungfrau fic geweibt hatte, aus diefem Dienft treulos entwichen;
follte die Himmliſche nicht zürnen, dah fie Weltluft ibrem Dienfte vorzog? Ach nein,
Beatrix ift Abrer Lieben Frau niemals untreu geworden. Sie bat fic Urlaub von
iby erbeten, und eines Tages fiiblt fie, da der Urlaub um ijt und febrt zurück. Hier
liegt der tiefere Zuſammenhang fiir die Sdlupwendung der Gefchichte, die manchen
Lefer befremden finnte:
Nach zwölf Jahren, während deren fie ibrem Gatten act Sihne geboren hatte,
„welche emporwuchſen wie junge Hirſche,“ „erhob fie fics in einer Herbſtnacht von
der Seite ihres Wonneboldes, obne daß er es merfte, legte forgfaltig all ihren welt:
lichen Staat in die nämlichen Truben, aus denen er einft genommen worden. Dann ging
fie mit blofen Füßen vor da8 Lager ibrer Söhne und küßte leife einen nach dem
andern; julegt ging fie wieder vor das Bett ibres Mannes, küßte denjelben auch, und
erft jest febnitt fie fic) das [ange Haar vom Haupt, 30g das dunfle Nonnengewand
wieder an, welded fie ſorgfältig aufbewahrt hatte, und fo verlie® fie heimlich die
Burg und wanderte durch die braufenden Winde der Herbjtnacht und durd) das fallende
Laub jenem Klojter ju, twelchem fie einft entflohen war. Unermüdlich ließ fie die
Kugeln des Roſenkranzes durch die Fingern rollen und überdachte betend dag
genofjene Leben.”
Nun verſtehen wir, warum die Heilige Jungfrau fo bereitwillig berabjtieg, um
Beatrir’ Stelle und Amt im Klofter einzunehmen, und warum fie yu der Heim:
gekehrten fagt: „Du bift ein bißchen Lange weggeblicben, meine Tochter. Ich habe die
ganze Zeit deinen Dienft als Küſterin verfeben; jest bin ich aber doch frob, daß du
wieder da bijt und die Schlüſſel wieder übernimmſt.“
40
626 Irdiſche und himmliſche Liebe.
So zart hat der Dichter die feinen Faden wieder gekniipft, die dai Motiv der
Stellvertretung in die Gefchichte verjdlangen. In der Legende vertritt die gnadenreiche
Jungfrau die entflobene Sünderin, weil fie weif, daß Reue fie einſt zuriidtreiben wird;
fo bat es aud) Maeterlind gehalten, er hat überdies nod) das mit der Stellvertretung
perbundene milde Zudecken der Schuld als verſchüttetes Gold aus dem Schadt der
Legende heraufgebolt; aber bei Reller ijt feine Reue und feine Schuld, und die
Stellvertretung durch die Jungfrau ijt im cigentlicen Sinne eine Zujtimmung der
Heiligen zu dem Sehritt der Nonne, den aber nur die Himmliſche Flarblidenden giitigen
Auges zu durchſchauen vermag und den fie deshalh felbft fchiigt vor der Mipdeutung
der ftumpferen Welt.
Hier ſcheint mun die Geſchichte zu Ende gu fein, und die Legende ſowie dic
meiſten Bearbeitungen haben auch bier in der Tat nichts mebr bingujufiigen. Gott—
fried eller aber hat noch eines ju zeigen. Wenn das Weltleben der Beatrix gebeim
bleibt, fo ijt damit jugegeben, daß ibre Tat dod) vor den Augen der Menſchen mit
einem Makel behaftet bleibt, wenn auch die tiefer blidenden Augen der Himmliſchen
fie nicht verwerfen wollen. Und wir ftaunen, ju welch einem prächtigen Finale er
ſeine Melodienfolge yu diefem Swed binanwindet.
Nach zehn Jahren feiern die Nonnen ein grofes Feſt yu Chren der Jungfrau,
und jede bereitet ihr ein ſchönes Geſchenk. Nur Beatrir hat nichts bereitet, „da fie
etwas mide war vom Leben und mit ihren Gedanfen mebr in der Vergangenbeit lebte
alS in der Gegenwart’. Da sieht ein greiſer Rittersmann mit acht bildſchönen be—
waffneten Jünglingen des Weges und ſteigt ab und fniet mit ibnen vor dem Altar.
„Beatrix aber erfannte alle ihre Kinder an ihrem Gemabl, ſchrie auf und eilte zu ibnen,
und indem fie ſich zu erfermen gab, verkiindigte fie ibr Geheimnis und erzählte das
qrofe Wunder, das fle erfabren hatte. — Da mufte nun jedermann gefteben, dak
Beatrix der Jungfrau die reichjte Gabe dargebradt hatte.”
So tilgt diefer Dichter bas Rainsseichen, das die kirchliche Anſchauung der
menſchlichen Yiebe aufgedriidt batte und fiibrt die Frömmigkeit aus den Rloftermauern
zurück in dad Weltleben.
* *
*
Der Gegenſatz beider Dichter könnte gar nidt größer fein: dort Schuld und Lafter,
bier reine in Prüfung gelduterte Liebe; dort Versweiflung und Tod, bier die tiefe
Rube eines ausgefiillten Lebens; dort die himmliſche Gnade das einzig Verſöhnende,
hier die Verklärung der Frauenliebe im Leben ſelbſt. Und wo der Belgier die Tine
weibevollen Ernjtes braucht, darf der Deutſche die Glanglicter feines verflarenden
Humors fpielen laſſen. Wo jener vingt in Siwiefpalt und Sehnſucht, ftebt diejer feſt
in erquicender Ganzheit.
Natürlich vergleichen wir nicht, um andersgeartete Dichter und andersempfundene
Werke gegeneinander abzuſchätzen. Wir dürfen Maeterlind neben Keller lichen. Aber
wo fie cinmal beide denfelben Stoff behandeln, da ijt e3 doch, als ob damit die
Wiinferelrute an den Boden febliige, um uns Deutſche zu mahnen an ungebobene
Schätze. Und die Frauen mögen uns fagen, mit welchem Dichter fie e3 diedmal
batten wollen.
& Gd
Se oe He?
Die IJmkerei als Frauentdtigkeit.
Don M. Heinz.
(Nadorud verboten.)
Es ift merkwürdig, daß unter den Erwerbs—
arten für Frauen die Imkerei laum erwähnt wird.
Mitunter wird der Gedanke wohl geſtreift: in den
Landwirtſchaftsſchulen für Frauen in England und
Norwegen wird Bienenzucht und die Herſtellung
von Bienenwohnungen gelehrt; die Teilnahme von
Frauen an deutſchen Imlkerlehrkurſen wird als
Kuriofum erwähnt; es ift auch befannt, daß fic
die miannliden Imker von ibren Frauen und
Töchtern affiftieren laſſen, diefe Aſſiſtenz hod ein:
fciiten und ihnen manche Nebenarbeiten — die
unangenebinften — gang iiberlafjen. Dieje Beihilfe
der Fraucn ijt aud) erwähnt in Dzierzons altem
Bienenlebrbuch '), weldem der Herausgeber Bruckiſch
cinige Auffage aus eigener Feder vorangeben (aft.
Sn einem derfelben, der die fiir Das Jahr 1847
merhwiirdige Uberſchrift „Emanzipation der Frauen”
tragt, ſagt Bruckiſch: , Weder die Zuſtimmung noc
bic Mithilfe des Gatten foll den lieben Frauen
ferner von Noten fein, fich einen angenehmen, ſüßen
Megenftand (einen bem cigentliden Bienenftod auf:
zuſetzenden Honigraum) anjucignen. Er begriindet
diefen — doch wobl anfecbtbaren — Rat damit, daf
die Frauen der Imler ,,fich durch die Mühe und
Plage des Ausſchmelzens cin unbeftreithares Anrecht
an den Honig erwerben.” Er gebt nod) weiter und
rat den Frauen, nach dem Dzierzonſchen Bienenbuch
mit Dzierzons Stöcken felbftindig gu imfern „und
fich damit dic größte Unabbangigkcit von der Willfiir
und dem Geldbeutel ihres Gemahls yu verfdaffen”.
Bruciſch hat alfo nicht nur viel Cifer fiir Fort
ſchritt in der Bienenzucht, fondern aud) fiir Fort:
ſchritt im allgemecinen gebabt; ſeine „Emanzipation
ber Frauen” in der Imkerei ſcheint aber eins jener
Samenfirner gewefen gu fein, die unter die Dornen
ficlen. Die Meinung, daf die Frauen bei der
Honiggewinnung , aller Manner Mitwirlung bequem
ty Nene verbefferte Blenengucht des Pfarrers Dzierzon zu
Carlémartt, berausgeqeben und erldutert bon dem Vienenbereins⸗
vorſteher Brudiih in KRoppiy 1855.
werden entbebren können“, ſcheint bisher nicht
Wurzel gefaßt gu haben, und cS ift beut, nad
mehr als fiinfgig Jahren, von dem Vorbandenfein
felbftanbdiger Imkerinnen weniger befannt als etwa
von weibliden Tijdlern oder Schuhmachern.
Und bod) ift die Imkerei nicht etwa cin Gebiet,
dad fo weit abſeits lage, daß Frauen es nit
leicht erreichen köͤnnten. Die Bienenzucht fiigt fic
fogar ſehr gut in die hauswirtſchaftliche ober
gärtneriſche Tatigfcit cin, und fie wire auch eine
Art gewinnbringender Erholung fiir Frauen, deren
Haupterwerb zu vielem Sigen zwingt. Für dic
drei oder vier Sommermonate wird die Beſitzerin
eines mittleren Bienenſtandes dieſem den größten
Teil des Tages zu widmen haben; für weitere
drei bis vier Monate wird das Nötige in einer
Stunde tiglich (im Durchſchnitt gerechnet) zu cr:
[edigen fein; im Winter hat man nur darauf ju
adten, daß keine Stdrung an den Bienenftand
fommt. Die Herftellung von VBienenivohnungen
und Kunftwaben würde fic) gang gut an die
Bienenzucht anglicdern laſſen und fiir ſolche Imke—
rinnen gut paſſen, die ſich vor Handwerlerarbeit
nicht ſcheuen und eine nutzbringende Ausfüllung
ihrer freien Zeit wünſchen.
Man wird wohl einwenden, daß die Bienenzucht
nur betreiben könne, wer einen eigenen Garten
habe. Das iſt nun nicht richtig. Einerſeits würde
cin Marten, inmitten einer größeren Stadt gelegen,
den Bienen zur Weide natürlich nicht genügen
können; andererſeits kann der Schatten der Objt:
bäume, unter dem man ſich einen Bienenftand ge-
wöhnlich denft, aud) durd anderen Schuh erfest
werden. Man möchte fagen, daß der Obftgarten
ſchwerer den cigencn Bienenftand, als diefer den
eigenen Obfigarten entbehren könne. Denn da der
Fruchtanſatz der Obftbhaume in manden Jahren
davon abhängig ijt, ob die Bienen von Bliite gu
Bliite fliegen fonnen, und da die Witterung jur Heit
der Baumbliite oft fo wechſelnd und ungiinftig ift,
bah fie ben Bienen nur furze Musfliige zu den
nächſtgelegenen Bäumen geftattet, fo tut jeder Obſt—
züchter gut, fic) nicht auf fremde Bienen gu ver:
40*
628
laffen, fondern einen eigenen Bienenjtand angulegen |
und fiir deffen Bilege au forgen.") Wer nun einen
Objtgarten bat, wird meiſt aud) den Bienenftand
dort anlegen; wer aber feinen oder feinen gecigneten
Objtaarten bat, fann ben Bienenftand auch an
anbderem Orte berricdten. Qn Dzierzons wie in
Ilgens Lehrbuch der Bienengueht ift whe von etwas
Selbftverftindlidem davon gefproden, dah die
Bicnenftdde in die Fenfterdffnungen von ruhig ges
legenen Stuben und Dachfanumern cingebaut ober
auf flade Dacher gefest werden könnten; nur
dürfte bier nicht [oharfer Luftzug herrſchen, und die
Bienen miiften freien Ausflug haben?) Sogar
auf dent Vande werden die Bienenltide bisweilen
auf bas flade Dach eines Schuppend 3. B. geftellt,
und diefe Mafregel läßt fic) auch verſtehen, wenn
der Garten Kindern als Spielplag dient, wenn
man beim Ueftellen ded Gemiifegartens von den
Bienen zu oft beläſtigt würde ober — bie Bienen
belaftigte; ferner, wenn dad flade Dach etwa im
Schutz cines dabinterliegenden höheren Gebäudes
einen windſtilleren Blak böte als ein zugiger
Marten. Daraus ergibt fic, daß Borftadt:
wohnungen und Wohnungen im kleineren Städten
ſich gang gut zur Aufnahme einiger Bienenſtöcke
eignen können, da dit Bienen von ba aus ganz
leicht Alleen, Baumpflanzungen, Garten, Wiefen,
welder und Walder erreichen werden; fie ſcheuen
weite Wege nicht, wenn fle nicht durch Kalte,
Naffe oder Wind am Fliegen gebindert find. —
So wiirden ſich nun Wohnungen in Bororten,
ntittleren und kleinen Stadten oft yur Aufnahme
ciniger Bienenftide cignen, und viele Frauen, die
durch hauswirtſchaftliche oder andere Tatigleit fiir
den grifiten Teil ded Tages an die Wobhnung ge:
bunden find, würden durch dic Bienenpfleae Er:
bolung und Anregung in dad Cinerlet ihres Lebens
bringen können.
Wenn id nun aud ber Meinung bin, bak die
Imkerei febr gut in das Frauenleben paßt, fo will
ich doch auch) erwähnen, in welchen Puntten die
Imlerin gegen den Imker im Nachteil iſt. Die
erfte Schwierighit iſt die Frauenkleidung. Der
Mann in feinem anliegenden Angug von dichtem
Stoff ift gut gegen Bienenftiche geſchützt. Die
Imlerin finnte ja aud am Bienenftand cine Tuch—
jade tragen; da fie aber an leichte Sommerkleidung
gewöhnt ift, würde fie [leicht transpirieren, und
) Der Thiſtertrag in einem belannten vomologiſchen Inſtitut
Schlefiens tt febr ſparlich geworden und trey des Blutenreich⸗
tums fait anuj Nall geſunken, ſeit man dent friiber dort befinds
lichen Btenenftand entfernt bat,
% Die ſlädtiſche Bienenpficae oder Hawss und Stuben⸗
bienen: Birtidaft, Bulfag von Bruckiſch, S. 48 oes
verbeiferten Bientubuches cee Pfarrers Dzierzon.
Meuen
Erwerbstãtigleit.
Schweißgeruch macht die Bienen leicht zornig. Tragt
| fie aber bie gewöhnliche leichte Kleidung, fo tft fe
nicht gegen bie Stiche geſchützt. Vorteilhaft und
nicht unſchön ſcheint mir cin ruſſiſcher Attel bon
geraubtem Baumwollflanell,) der über dem Haus:
Eleid getragen wird. Die Armel müſſen am unteren
Rand nit Gummizug verfeben fein, damit fre die
Handgelente felt umſchließen. Dieſer Kittel bleibt
beffer obne Steb: ober Umlegekragen, weil am
Halſe bas Heifiwerden am unangenehmiften ift. Der
Hale kann gedectt werden burd den Stoffteil der
Bienenhaube, bie ich, ebenfo wie den Rittel in
Notfällen anlege. — Die Männerkleidung gibt, im
Gegenſatz au der Frauenkleidung, Schutz gegen das
Eindringen der Bienen von unten ber; bad Bein:
fleid, in bie boben Stiefel geftedt oder über den
Zugſtiefeln gufammengebunden, ſchließt vollſtändig
ab. Loh könnte die imfernde Frau wohl eine Art
langes Reformkleid tragen, deſſen unterer mit
Gummizug verſehener Saum ſich dicht um den
oberen Teil des Schnür- ober Kndpfftiefels legt.
Außer ber swedmafigeren Kleibung bat der
mannliche Imker nod) die Erleichterung, die ihm
die Higarre ober Bfeife gewährt; er fann durch
deren Haud die Bienen guriidtreiben und bebalt
dod) bie Hände frei. Es find aber aud nicht alle
Smiter Raucher, und mander Raucher verträgt nicht
fo viele Bigarren, als zu längeren Arbeiten er:
forbderlich find. In nod einem Punlt ſcheint die
Imkerin gegen den Imler im Nachteil gu fein: fre
wird nicht auf bébere Baume klettern fonnen, unt
von ba einen Schwarm herabjubolen. Wie nun
aber der Qmfer in dicfem alle cine Aſſiſtenz
braudt, fo wird aud bie Sinferin cine folde in
Unfprud nehmen können, und wie feblichlich der
Imker auf bas Ginfangen von gat gu ungiinftig
hangenden Schwärmen vergichtet, fo wird aud) die
Imkerin auf einen Durchgänger feinen boben Wert
zu legen brauchen. Eine Anpflanzung ven
Johannisbeerſträuchern vor dem Bienenſtande zieht
gewöhnlich die Schwärme fo an, dafi fie nicht erſt
in bie Weite und Höhe ſchweifen; id babe fron
vft an dem abgeſchnittenen Zweige eines ſolchen
Strauches einen ſchweren, feftfigenden Schwarm in
ſeine neue Wohnung getragen. — Nach Dzierzons
Anleitung teilt man die ftarfen Mutterſtöcke und
fann dadurch oft — nicht immer! — dad Schwärmen
verbindern.
Die Imkerei will natiirlich, wie fede andere
Tatigtcit, erlernt und verftanden fein, wenn fre
Erfolg baben foll. Es gibt ſtaatlich cingeridtete
Imker-Lehrkurſe; twas dort geboten ift, iwird man
erft dann qut ausnützen können, wenn man ſchon
') Bielleicht gicbt es Stoffe, bic fid gu dieſem Swed nod
beffer cignen.
Erwerbstätigleit.
Ubung und eigenes Urteil hat — ſo wie man zu
einem Schneider⸗Kurſus Gewandtheit im Nähen mit:
bringen muh. Die Elementarbegriffe der Bienen:
sucht erwirbt man fich am beften unter der Anleitung
eines tüchtigen Imkers. Wohlverftanden: nicht
durch blinde Anwendung der Ratſchläge dieſes und
jenes Bienenbefigers, fondern durch Lernen bei
einem erfabrenen Bienenzüchter, bet dem der Erfolg
die Richtigkeit ber Methode verbitrgt.
Unter folder Anleitung wird fic) auch zeigen,
ob bie fiir bie Imkerei nötigen Eigenſchaften vor:
handen find. Heftiges oder furchtſames Wefen,
Ungefcidlicbteit, Triigheit, Mangel an Ausdauer
und an Gorgfalt ſchließen von bornberein von der
Bienenpflege aus. Die Qmferarbeiten find nicht
pon ber Art, daß man fie bet etwa eintretender
Unluſt einfach abbrechen lönnte; fie müſſen aud
bei ſchwierig werdenden Verhältniſſen mit Rube
wenigſtens zu einem vorläufigen Ende gebracht
werden. Es gehört ferner eine entwickelte Urteils—
fabigteit dazu, um gu wiſſen, Did gu welder Grenze
ntan ein Bienenvolf meiſtern darf.
Es gibt auch fdrperliche Cigen{daften, die von
der Bienenzucht ausſchließen fonnen: Schweißgeruch
oder ſonſtige üble Ausdünſtung, Spirituoſen-, Bier:
und Knoblauchgeruch, heftiges, puſtendes Atmen,
fahrige Bewegungen, unſaubere, muffig⸗ oder fettig:
riechende Kleidung bringt die Bienen ſo in Zorn,
daß die Beendigung der Arbeiten manchmal faſt
unmöglich wird), Ich bin aud nach mehrfachen
unliebſamen Erſahrungen dahin gelommen, daß ich
an Tagen, wo ich mich nicht wohl und friſch fühle,
größere Arbeiten am Bienenftand nicht erſt beginne.
Sonſt aber fann id) unbeläſtigt ohne Kittel und
Pienenhaube arbeiten, wenn nicht grabe Gewitterluft
herrfeht ober die Bienen durd) längere Storung
ſchon gereizt find.
Wenn ich nun von bem Erfolge ber Imkerei
fprechen will, fo möchte id den Stoßſeufzer der
Bienenzüchter voranjchiden:
„Wenn wir verftiinden bad Wetter au machen,
So fiunten wir Bienenfreunde wohl lachen!“
Man finnte wohl meinen, dak vie Gartnerci
und die Landwirtſchaft ebenfo abbangig vom Wetter
fet wie die Bienenzucht; dent ift aber nidt jo. Den
Pflanzen ſchadet anbaltender Regen oder anbhaltende
Diirre ebenfo wie ben Bienen; diefe leiden außerdem
nod) ſehr durch ben Wind, der fie am Ausfliegen |
— oder am Heimkommen binbdert. Vollkommen zu—
treffend fcbeint mir der Ertrag der Bienenwirtſchaft
durch ben ſchon mehrfach erwabnten Brucife ange:
geben gu fein, der aud wobl bier in Dzierzons
Mobl alle dieſe Nbelfitinde, dic zudem nit von ben
Bienen alcin ald laſtig empfunden werden, laſſen fich durch
beiten find febr verſchieden.
Sauberfeit, Selbſtzucht und naturgemdfe Lebensweife abſtellen.
629
Sinne fpridt, er ſagt): „Man kann obne (ber:
treibung annehmen, bag die Bienen durchſchnittlich
a) in guten Sabren . . 50—100 %,
b) in mittleren Sabren 10O— 50°, Sibres Werted
c) in ſchlechten Jahren 1— 10%
an Honig, Wadhs und Schwärmen bei swe:
mäßiger Behandlung licfern.” Ganz ſchlechte
Jahre find felten, und wads mancher fo nennt,
wire wohl eher ſchlechte Behandlung yu nennen.
Von dem Wert der Bienenſtöcke komme ich nun
auf dic Anſchaffungskoſten. Die Einkaufsgelegen—
Man fann bisweilen
bei Fortzug, Krantheit oder Tod eines Bienenwirts
gute Stide mit ſtarlem Boll, Honig und leeren
Waben fiir 15—25 Mark pro Volk faufen; cin
ſolcher Ankauf ware wobl ber vorteilhaftefte, ba
man vor ftarfen Stoden im ſelben Gommer ſchon
ernten fann. Hat man zum Antauf befester Stöcke
(quied Bolt mit gutem Borrat in gutem Stor)
feine Gelegenbeit, fo fonnte man fich die leeren
Wohnungen (3. B. die Kanitz Magazinſtöcke) faufen
und fic bet Imlern der Umgegend frithe ftarte
Schwärme ober ftarke Wbleger zu verſchaffen
ſuchen. Ungenau gearbeitete, unpraltiſche Wohnungen
und ſpäte, ſchwache Schwärme oder Boller ſollte
man nicht einmal geſchenkt nehmen; an ihnen wäre
Mühe und Futter verloren. — Da der Anfänger
ein ſicheres Urteil über gute oder ſchlechte Be—
ſchaffenheit der Bolter und Stöcke nicht haben kann,
ſollte er beim Ankauf einen erfahrenen Imker zu
Rate ziehen; es wäre auch vorteilhaft, ſich an einen
Bienenzüchter⸗ Verein anzuſchließen und die Be:
ſchaffung durch dieſen gu bewirlen; doch iſt es mir
nicht wahrſcheinlich, daß in dieſen Vereinen Bruckiſch
Ideen über die Emanzipation der Frauen in der
Imkerei leicht Eingang finden ſollten; ich fürchte
vielmehr, daß ſich Widerſtand und Ablehnung da—
gegen zeigen würde, ſelbſtändige Imkerinnen als
gleichberechtigt aufzunehmen und gu fördern.
Da nun die Einkaufsgelegenheiten fo verſchieden,
mitunter ſchwierig fein fonnen, läßt ſich die Höhe
| ded Unlagelapitals nur ungefabr angeben.
Ich veranſchlage:
1, 4 Wohnungen, viereckige Kanitz-Magazine,
& .4 5,50 = .422— 25
2. 4 ftarfe Ableger ober frithe Schwärmer
mit Bau... 2.4 5—10 = .@20- 40
B. Unterfage, Geräte, TranSport . . ..418— 40
4 1 Honigſchleuder nebſt Zubehörz) ..480-- 30
Sa. 4 90—135
lh S 1h bed von Dzierzons mehrfach erwähnten Bienenbud.
% Die Ausgabe fiir Pofition 4 fann, falls nicht beſehle
Stöcke getauft wurden, auf bad folgende abr verſcheben
werden, weil man Schwarmen und Ablegern iim erſten Herbſt
nicht viel nebmen kann.
6a0
Run könnte man wohl cinwenden, daß fiir
dieſes Geld cine ganze Menge Honig obne Riſiko
und obne Mühe gu faujen fei. Das ware aber dann
cin fic) aufgebrenbded und fein zinstragendes
Kapital. Ferner könnte man wohl viel Honig
faufen, man tut es aber doch nidjt; es fommmt ja
auch gar nicht fo viel reiner Honig in den Handel,
alg cin allgemein vermebrter Verbrauch erfordern
wiirde. Die wafferige, ſüßſäuerliche Flüſſigkeit, die
man unter dem Ramen Honig leichter befonunt,
wird nicht als Ocifls und Rabrungsmittel yu
betracdien fein. Angenommen aber, man fonnte
bei einent als zuverläſſig befannten Imker gleicd
nad der Ernte 20 Pfund Honig bekommen: aud
in Familien mit reichlichem Wirtſchaftsgelde ent:
ſchließt man fich faum gu diefer Ausgabe, obgleich
der Betrag an Spirituofen, Wurft, Fleiſch, Kuchen
und Ledereien febr bald erfpart fein fnnte.
Bielen Familien würde durch cinen eigenen
Vienenftand der fiir die Gefundbheit fo wichtige
Honiggenuß gefichert iverden; die Koften waren
fon in ben erften Jahren hereingebracht allein
durch Abſtrich an den vorber genannten ſchäblich
wirfenden Genuf- und ſogenannten Ctarfungs-
mitteln. Much wiirden bie Roften fiir Arzt und
Upotheter fier erbeblich eingeſchränkt; wenn bas
bejonders bei Kindern beftebendbe — und = wabr:
ſcheinlich berechtigte — Bediirfnis nah Süßigleiten
nur mit Honig ſtatt mit Zuckerwerk, Kuchen und
dergleichen befriedigt würde. Ich erwähne noch die
Heilkraft des Honigs bei Halstrantheiten, Heiß—
hunger, ſchwachem Magen, Blutarmut und anderen
Leiden, die wohl allbekannt iſt.
Ich kann meinen Aufſatz nicht beſſer ſchließen
als mit den Worten Dzierzons: ,, Klein iſt das
Kapital, das zur Anſchaffung eines Bienenftodes
erforderlich ift; aber gu einer bedeutenden, hundert⸗
fachen Grohe fann es in wenigen Sabren beran:
wachſen und died bet qeringer Mühe, wenn über—
Haupt die Bienenpflege cine Miihe und nicht viel
mebr die angenehmſte, erbabenfte und edelfte
Erholung zu nennen ijt.”
*
Uber die Tätigkeit einer ſtädtiſchen
Armenpflegerin.
Aus dem Verwaltungsbericht ber Stadt Bern:
burg entnehmen wir folgende interefjante Mit:
teilungen: Seit bem 1. Ottober 1900 ijt bier eine
Diakoniſſin aus bem anbaltifeen Diakoniſſenhauſe
Deffau, 3. St. Schweſter Alma Cumme, in ber
ſtädtiſchen Armenpflege tatig.
einer Schweſter in der offiziellen Armenpflege nur
in wenigen Orten vorhanden ſein wird, ſollen über
die allgemeinen Aufgaben unſerer ſtädtiſchen
wollen.
Da die Mitwirkung
oder zu ermäßigen iſt.
Erwerbstätigleit.
Schweſtern nachſtehend einige Mitteilungen gegeben
werden.
Die eigentliche Tätigkeit der Armenſchweſter,
bie ben Kernpuntt aller ihrer Arbeit bildet, beſteht
in der Unterſuchung aller Fälle, in denen ſich
bedürftige Perſonen mit ber Bitte um Unterſtützung
an dic Armenverivaltung gewendet haben. Die
Schwefter erfährt jeden Morgen im Armenburean,
welde Leute ant vorbergebenden Tage cine Unter:
ſtützung beantragt baben; falls ihr bic betreffenden
Perfonen nod nicht befannt find, notiert fie ſich
zugleich die nitigften Perfonalien. Dann ſucht fie
jede iby geimeldete Familie bezw. Perfon auf und
orientiert ſich durch eingehendes Befragen moglichſt
genau über die Arbeitsfähigkeit, den Gefundbeits-
zuſtand und die Hilfsbedürftigleit der Betreffenden.
Bu dieſem Swed hat ſich die Schweſter Kenntnis
zu verſchaffen von den wichtigſten Beſtimmungen
und Geſetzen, die für die offene Armenpflege in
Betracht kommen, z. B. fiber Alters-, Anvaliden:
und Unfallverſicherung, über den Unterſtützungs—
wohnſitz, über Fürſorge und Zwangserziehung,
fiber gewiſſe Beſtimmungen des bürgerlichen Geſetz
buches uſw. Die Schweſter begibt fic) dann zu
dem Armenpfleger bes betreffenden Bezirks und in
Gemeinſchaft mit ihm berat fie, was an Unter:
ftiigung zu gewähren, bezw. ob und unt wieviel
vie ſchon fritber bewilligte Unterftiigung gu erhöhen
Gin vidtiges Handinhand:
achen der Armenpfleger und der Schweſter fann
fiir bie Armenpflege nur forderlid) fein. Die
Tatighcit ber Armenſchweſter, die ja mehr ergänzender
Natur fein foll, bat den Armenpfleger befonders
in den Fallen gu unterſtützen, wo cine Beurteilung
der Dinge durch cine weibliche Perſönlichleit an:
gebradt erſcheint, waihrend die Schivefter andcrerfeits
in Beurtcilung geſchäftlicher Fragen ſich gerne bem
befferen Verſtändnis der Armenpfleger unterordnet.(¢)
Mus der urfpriingliden Tatigleit der Armen:
ſchweſter beraus find nun mit der Seit cine Menge
anderer Pflichten und Arbeiten erwachſen, die alle
eng incinanbdergreifen und von denen bier nur
cinige weſentliche erwähnt feien. Bor allen Dingen
foll fics die Schwefter im Antereffe ber Armentajfe
und bes cingeinen HilfSbediiritigen bemithen, den
armen Leuten Arbeitsgelegenheit zu verſchaffen.
Wenn auch im der Mehrzahl der Fälle Alter,
Siechtum oder Krankheit das Arbeiten ausſchließen,
ſo bleiben dennoch eine Menge von Leuten, die
entweder keine Arbeit finden oder keine finden
Hier mit Rat und Tat zu helfen, iſt eine
der wichtigſten Aufgaben der Armenſchweſter.
Naturgemaäß kann fie faſt ausſchließlich nur Frauen
Arbeit verfcbaffen, und aus dieſem Grunde iſt im
Herbſte 1902 der Beſchäftigungsverein entſtanden,
Eriverbstatighcit.
ber Hilfsbediirftigen Frauen mit Nah: und Strict:
arbeit verforgt. Im übrigen vermittelt die
Sehwefter den Fraucn und Madden je nach dem
Alter und ber Leiftungsfabigkeit der Arbeitſuchenden
Stellungen ald Dienftmadden, Rinderfraulein,
Wufwartung, Waſchfrau, Sebeuerfrau, Woden:
pilegerin und dergl. Gn ſolchen Fallen macht es
ſich die Schweſter gur Regel, nach Verlauf ciniger
Beit ſich bei den betreffenden Herrſchaften nad ber
bert arbeitenden weiblichen Perfon zu erkundigen.
Hernerbin hat die Schweſter mit baran zu
arbeiten, daß unter der drmeren Bevilferung mehr
Sinn fiir Ordnung und Reinlidfeit erwedt wird,
fowie daß bie Leute wenigſtens die nötigſten Be-
griffe von Hygiene und vernunftgemäßer Lebens—
weife und Wirtſchaftsführung erfaffen. Liegt bier
cine der febiwerften und ſcheinbar hoffnungsloſeſten
Aufgaben ciner Armenſchweſter, fo bat fie ſich dieſer
Arbeit grade deshalb mit doppelter Energie gu
untergichen. Sie felbft foll den Frauen zeigen,
wie cine Wobnung reinjumaden ijt, ſie foll dic
griferen Hinder, falls bie Mutter bettlagerig ift,
beimt Fegen, Scheuern, Fenſterputzen helſen laſſen,
bezw. fie dazu anlernen; fie ſoll in den Fallen,
wo fie Ungesiefer bet den Leuten merkt, energiſch
dagegen vorgeben und den Leuten zeigen, wie man
dasſelbe entfernt und fic davor ſchüßt. In Armen—
ſachen bat die ſtädtiſche Schweſter 3880 Befuche
gemacht. Die ſtaädtiſche Schweſter wohnt mit den
Schweſtern der Gemeindedialonie in einer Wohnung,
ſodaß auch hierdurch die wünſchenswerte Verbindung
der offiziellen Armenpflege mit der Privat—
wobltitigteit gefördert wird.
Die Aufwendungen der Stadt fiir die Armen:
ſchweſter betragen pro Dabr 1183 M. — Die
voritehend geſchilderte Einrichtung hat fic) bis jetzt
qut bewährt und foll daher auch fiir die Zukunft
beibebalten werden.
Das Rieblinderivefen bat im Berichtsjahre
feitend der Arinenverwaltung bejondere Beachtung
geſunden. Es wurden Grundfake aufgeltellt, nach
welchen Sichfinder feitens ber Armenverwaltung
untergebradt werden follen, und den Pflegeeltern
wurden ſchriftliche Verhaltungsmaßregeln, die
Ziehlinder betreffend, gegeben. Die Beaufſichtigung
der Ziehlinder wurde der ſtädtiſchen Armenſchweſter
übertragen, wads ſich bis jeyt gut bewährt bat.
Die Schweſter ſucht in der Regel jedes Mind alls
monatlich in der Wohnung der Pflegeeltern auf,
und zwar finden dieſe Befuche gu gang verfdicdenen
Tagesaciten ftatt, damit die Schweſter cinen
möglichſt genauen Einblick in den Hausftand und
die Wirtſchaftsführung der Pflegeeltern gewinnt.
Sie vrientiert ſich bei dieſen Beſuchen nach
Möglichkeit über den Geſundheitszuſtand des
— — —— — — — — —— — — — — — — —
631
Kindes, über ſein Betragen, ſeine Schulzeugniſſe,
ſie überzeugt ſich, daß in der Wohnung der
Pflegeeltlern die nötige Reinlichkeit und Ordnung
herrſcht, ſie erkundigt ſich auch beſonders nach der
Schlafgelegenheit des betreffenden Kindes. Falls
es ihr nötig erſcheint, fet fie fic) mit bem
zuſtändigen Armenarzte in Verbindung wegen der
Gejundheit bes Kindes und vermittelt dic Gewährung
von Heilmitteln und Bädern durch die Armen:
veriwaltung. Auch mit dem Geiſtlichen der
betreffenden Gemeinde, fowie mit dem Rektor bezw.
dem Klaffentebrer ded Kindes beſpricht fie fic,
fallS befondcre Griinde dazu vorliegen. Etwaige
Wbanderungen in der Pflege oder Behandlung des
Ziehlindes werden durch gütliche Beſprechung mit
ben Pflegeeltern zu erreichen geſucht. Liegen
ernftliche Griinde vor, die den weiteren Aufenthalt
des betreffenden Kindes in einer Familie nicht
mehr tunlich erſcheinen laſſen, ſo beſpricht ſich die
Schweſter vor allen Dingen mit dem Armenpfleger
desſelben Bezirks und holt ſich auch deſſen Rat
bei ber Wahl newer Pflegeeltern ein.
Die ſtändigen Befuce ber Armenſchweſter bei
ben Pflegeeltern haben in den meiften Fallen ein
beiderſeitiges gutes Einvernehmen hergeftellt. Die
Pflegeeltern ſehen, daß die ihnen übergebenen
Kinder unter ſteler Aufſicht ſtehen, was im ver—
ſchiedenen Fällen die erwünſchten und notwendigen
Folgen einer beſſern Pflege hatte; fie erblicken
aber zugleich in der Armenſchweſter eine Perſön—
lichtcit, an welche fie ſich in allen Fallen, wo es
ſich um dad geiſtige oder forperlice Wohl des Kindes
handelt, vertraucnévoll wenden fonnen. Diefe
Melegenbeiten werden reichlich benugt, Für die
Heinen heißt es meift, den Arzt zu tonfultieren;
fiir bie Griferen verjucht die Schweſter, Auf—
nabme int Rnaben: oder Mädchenhort zu finden;
sutvcilen feblt es an ben nötigen Kleidungsſtücken,
und dann gilt es, freundfiche Geber qu finden, welche
bie Lücken ausfiillen. Für die heranwachſenden Maden
verſucht bie Schwefter, leichte Aufwartung gu finden,
aud) erfunbdigt fie fic) dann bei den Herrſchaften
nad der Fiihrung ded Mädchens. Der regelmabige
Verkehr ber Schwefter in den Familien, wo Zieh:
finber find, fragt nicht wenig dazu bet, die
ſtädtiſche Schweſter in den Kreiſen der armeren
PBevdlferung befannt zu machen. Sie felbft ver:
größert dadurch ibre Perfonalferminis ber armen
Leute gang betradtlih, wads bei der Art ibrer
Arbeit von grofem Wert erſcheint. Aud) haben
fic) durch dic regelmäßigen Ziehkinderbeſuche ver:
ſchiedene Mißſtände herausgeſtellt, die mit Hilfe
der Armen Deputation leicht beſeitigt werden
fonnten. Die Sahl der Sichtinderbefude im Sabre
1903 betrug 600.
aoe
632
Nachdrud mit Cucllenangabe erlaubt.
* Die Frauen und die Kaufmaunsgerichte.
Die gweite Beratung des Gefegentwurfs
betreffend dic Raufmannsgeridte fand in
den Tagen bes Frauenfongreffes ftatt. Sum § 9a,
welder beftimmt, dak Perfonen weiblichen Geſchlechts
nicht alS Mitglieder ded Kaufmannsgerichts berufen
werden fonnen, [agen zwei Abanderungsantrage
vor, welche die Zulaſſung der Frauen forbderten.
Ebenfo wurde beantragt, das wabhlfabige Alter von
25 auf 21 Sabre berabyufesen und ben Fraucn
aud das paffive Wahlrecht zu geben. Graf
Pofadowsly erflarte, daß bas Geſetz
fdecitern miifte, wenn bas aftive oder
paſſive Wablredt der Frauen angenommen
wiirde. Der Abgeordnete Trimborn erflirte
daraufbin, daß das Sentrum an diefem Puntte
die Borlage nicht fcheitern faffen wolle und darum
gegen die Abanderungéantrige ftimmen werde.
Der fozialdemofratifde Abgeordnete Lipinsti be—
jcicbnete die Haltung bes Abgeordneten Trimborn
alS duferft verwunderlich. Derfelbe habe friiber
genau das Gegenteil vertreten von dem, was er
jest befiirworte. Das Zentrum ſchrecke vor dem
Macdhtwort der Regierung juriid. Den gleiden
Vorwurf erhob der Abgeordnete Dr Miiller:
Meiningen, welder lebhaft für die Gleichftellung
der Frau in den Kaufmannsgeridten cintrat. Wenn
das Geſetz an bem Widerftand der Regicrung
fcbeitere, fo werde diefe allein die Verantwortung
tragen. Heutzutage, wo die Frauen faft gu ſämtlichen
Studien gugelaffen feien, erſcheine es doppelt un:
verſtändlich, die Frauen bier einfach „auf dem Altar
des Kompromiffes gu opfern“. Abg. Bed führte aus,
daß die national:liberale Fraftion in diefer Frage von
jeher geteilter Anſicht geweſen fei; er perſoönlich
babe früher ebenfalls fiir die Ausdehnung ded
Wablrehts auf die Frauen gefproden und nur
nad ſchwerem Entſchluß feine Anſchauung ver:
anbdert. Wenn das Haus auf der Qulaffung der
Frauen bebarren würde, fo würde das cin Ver:
ſchwinden des Gefeges auf Nimmertviederfeben
bedeuten, und dod) fei in erfter Linie alles an |
— —
dem befdbleunigten Suftandefommen der Vorlage
qelegen. Wud) dic iibrigen Redner bedauerten dic
Haltung der Regierung. Es wurde ſchließlich das
attive Wablredt der Frauen angenommen.
Die Verbandlungen der dritten Lefung, die am
17, Suni ftattfand, geben wir im Auszug wieder.
G8 liegt ber in zweiter Lefung abgelebnte An:
frag vor, bas aflive Wahlrecht der Frauen und
die Feſtſetzung des aftiven und paffiven Wahlrechts
auf 21 und 25 Sabre (ftatt 25 und 30 nad der
Vorlage) wieder gu befeitigen.
Abg. Singer (fos.) ertlart, im Fall der An-
nabme dieſes Antrags werde feine Partei gegen
den Geſetzentwurf ftimmen. Die Gerabfesung des
Wablalters fei eine alte ſozialdemokratiſche
Forderung, der Ausſchluß der Frauen von der
Wählbarkeit ein Unrecht und ein Hohn auf die in
Berlin tagenden Frauenfongreffe, deren Abordnungen
von der Kaiferin und den Frauen der Minifter und
Staatsſekretäre empfangen worden ſeien.
Ubg. Trimborn (Rtr.) bittet um Annahme bes
RKompromifantrageds; feine Partei alte das Gejeg,
wie es fid) dann geftalte, fiir cinen wefentliden
Frortidritt und werde deShalb dafiir ftimmen,
Abg. Dr MiklLer-Metningen (fr. Bp.) erflart
namens feiner Partei, dah mit der Annabme des
fogenannten Rompromifantrages das Qntereffe an
dem Gelege fiir die Parte’ verloren gegangen fet.
Die freifinnige Partei werde gegen dads Geſetz
ftimmen. (Beifall [infs.)
Ubg. Henning (fonf.): Wir werden fiir das
Gefets ftimmen auch nach Annabme des Kompromif-
antrages; wir bedaucrn auf bas lebbaftefte die
Haltung ber verbiindeten Regierungen gegeniiber
der Erteilung des aftiven Wahlrechts an die Frauen.
Abg. Bed Heidelberg (math): Das Gefeg ift
aud nad Annabme des Kompromifjantrages
brauchbar. Deshalb werden wir fiir dad Gefeg
ftimmen,
Abg. Schrader (fr. Vg.): Meine Freunde
werden gegen dic Rompromiffantrage ftimmen und
mit deren Annabme aud gegen das Gefeg. Wir
Iebnen jede Verantwortung fiir dad Gefey ab, weil
wir es fiir eine Ungeredtigheit balten, die Frauen
hier zu entrechten. (Unruhe rechts.) Ich fann
nur bedauern, daß dieſes wichtige Geſetz in ſo
ſpäter Stunde beraten wird. Unterbrechen Sie
mich, ſo werden Sie doch nicht erreichen, was Sie
wollen. Das Verhalten der Regierungen iſt in
jeder Weiſe dem Parlament gegenüber ungerecht
fertigt. Die Regierung begründet ihre Haltung
— —— — —
Bur Frauenbewegung.
nicht; fie fagt einfach: | Wir wollen nicht!” Ich babe |
bie Chre, dem Berbande der weiblichen An—
aeftellten angugebdren, und ich fann nur bedaucrn,
daß die Regierungen in ſolcher Weije berechtigte
Fyorderungen der Frauen abgelehnt haben, Wenn
der Staatsfelretir auf dem Frauenkongreß die
hervorragenden Frauen aller Stände gefragt bitte,
jo würde er gehört haben, daß alle fiir die Er:
teilung des Wahlrechts an die Frauen find. Wir
fdnnen nicht filr bad Geſetz ftimmen, da es nur
fiir einen Teil der Handlungsgebilfen gemacht ift.
(Beifall links.)
Staatsſekretär Graf Pofadowsty: Der Bor:
redner bat gejagt, er ftimme gegen dad Geſetz,
weil es mur fiir cinen Teil der Handlungsachilfen
gemacht ſei. Bei den Gewerbegerichten haben dic
weibliden Arbeiter auch fein Wablredt, trogdem
ift ftetS von allen Parteien geriibmt worden, daß
die Gewerbegerichte ausgezeichnet wirlen, und das
Gewerbegeridtsacies gilt chenfo, wie das Kauf—
mannsgeridtsgefes fiir dic Ungeftellten und Urbeiter
beiderlei Geſchlechts. Man Fann alfo nicht fagen,
dieſes Geſet ift nur fiir cinen Teil der Handlungs—
achilfen geſchaffen. Die weiblichen Arbeiter find
zum Teil auch Konfurrenten der männlichen Wrbeiter.
Es ift aber nie bebauptet worden, dak deshalb dic
Gewerbegeridte, bei denen nur männliche Arbeiter
fungicren, irgendivic nur fiir einen Teil der Arbeiter
wirfe und ungerecht urteilen. Zweitens möchte ich
dringend bitten, den Antrag Itſchert angunebmen.
Soh würde es in der Tat fiir cinen weſentlichen
Mangel des Geſetzes halten, wenn den Handlungs—
aebilfen in ſchwierigen Fragen der Konkurrenzklauſel
nicht cin Rechtsanwalt zur Seite fteben fann.
Man hat ſich auf den Frauenfongref berufen. Die
Frauen find glingend und gaſtlich aufgenommen
worden. Daraus folgt nod nicht, da wir mit
jedem Teile ibres Programms cinverftanden find;
das politifde Stimmrecht der Frauen lehnen alle
Regierungen ab, (Beifall.)
Abg. Yattmann (wirtſch. Bg.): Wir ftimmen
fiir die Kompromißanträge und den Antrag JItſchert
und aud dann fiir das ganze Geſetz. Wir wiirden
uns freuen, wenn diefes mangelbafte Geſetz jum
Segen bes Handelsftandes zu ftande kommt.
(Beifall.)
Abg. v. Kardorff (Rp.): Ach glaube, dap die
RKompromifantrage die Unvollfonumenbeit ded Geſetzes
erhöhen. Uber beffer ift doch, das annehmen, was
qeboten wird, als nits befommen. Ich bedauere,
daft den Frauen das Wablrecht nicht gewabrt werden
foll. Wher aus ben Griinden, die die anderen
Herren bereits ausgeführt baben, ſtimmen auch wir
fiir das Geſetz. (Beifall.)
Abg. Simmermann (Reformpartei): Wir be: |
bauern die ablebnende Oaltung der Regicrungen
qegeniiber ber Wltersqrenge. Man bat es verftanden,
die beften nationalen Stinde vor den Kopf yu
ſtoßen. Crft tat man es mit den Handiwerfern,
dann mit den Landivirten, jest mit den Handlungs:
aebiljfen. Der Not gebordiend, nicht dem cigenen
Triebe ftimmen wir fiir dad Gefes, damit etwas
qu ftande kommt. (Beifall.)
Damit ſchließt die Hauptbeſprechung.
633
Das Gefes wird mit bem RKompromif:
antrage und nad Ablebrung des Wntrages Itſchert
qegen bie Stimmen ber Sozialdemofraten, Polen,
Freifinnigen, mit Ausnahme der Abga. Dr Mugdan
und Gidboff (fr. Bp.) und des Abg. Semler (natl.)
angenommen.
So ijt alfo der lange Rampf der weiblicen An:
geftellten vergeblich geweſen, und die deutſche Frauen:
bewegung bat während der Tagung des Kongreſſes
{elbjt cine empfindliche Niederlage auf einem ihrer
wichtigſten Gebicte erlitten. Es ift unbegreiflid,
wie die verbiindcten Regicruugen geaen die Ma:
jorität des NeichStages auf einer Anfehauung ver:
barren fonnten, die den Verhältniſſen der arbeitenden
Frauen im HandelSgewerbe und der Tüchtigleit,
die gerade fic in der Bertretung ibrer Standed:
interefjen bewieſen haben, fo abfolut nicht Rechnung
trägt. Wei die Regierung nicht, was diefe Ent:
rechtung fiir die im Konkurrenzkampf obnebin fo
ſchwer ringenden Frauen bedeutet, und bat fie
feine Ahnung, twas fiir einen moraliſchen Cindrud
es madt, wenn dic Regierung das brutale Vor:
geben der HandelSgebilfen gegen ibre weiblichen
Kollegen beim Kampf um bas Geſetz nunmehr be:
frijtiqt? Oder ift es die Furcht vor dem premier
pas qui coate? Sedenfalls lehrt uns die Er—
fabrung, in der begreiflicden Freude iiber das Ge:
lingen des Kongreſſes nicht zu überſehen, wie iweit
wir auf den nächſtliegenden Feldern unferer Urbeit
nod vom Riel find.
* Die QYmmatrifulation der weiblidjen
Studenuten ijt nunmehr auch fiir die Wiirttem:
bergijebe Landesuniverſität bejdloffen worden, Es
ift nun wohl ſicher gu crivarten, daß Preußen bald
folgen wird.
* Gin ſtädtiſches Realgymnaſinm zu griinden,
bat nunmehr die Stadt Berlin befdlofien. Es
werden von ibr die Realgymnaſiallurſe, die von
Frl. Helene Lange begriindet find und jest von
Herrn Prof. Dr Wydgram geleitet werden, iiber:
nonunen und zu cinem ſechsklaſſigen Syſtem
eriweitert werden. Für die Sache der Madden:
gymnaſien itt damit cin febr wertvoller Erfolg
ersielt, der ſicherlich auch weiterbin ſeine vorbildlide
Wirfung nicht verfeblen wird.
* Totenfdau. Bei Schluß der Redattion
erreidht uns die Nachricht von dem Tode von
Marie Mellien, der langjährigen Schriftfiibrerin
bed Berliner Fraucnvereins. Wir fommen in der
nadften Nummer auf die Tatigfeit diefer cifrigen
und vielfeitigen Witarbeiterin in der Frauen:
bewegung zurück.
Fae a
= => Biicherschau. —
„Geſtern“, Dramatifde Studie in cinem Wt
in Verfen von Hugo von Hofmannsthal. 2. Aufl.
„Der cinfame Weg. Schaujpiel von Arthur
Schnitzler. S. Fifeher, Verlag, Berlin 1904.
Hugo von Hofmannsthals Erſtlingswerl in
neucr Muflage. CS frojtelt uns cin wenig, wenn
wir denfen, das febrich cin ſiebzehnjähriger: „Alt—
Tluger Weisheit voll und frühen Zweifels“. Die
jugendliche Unreife dieſer dbramatijden Studie in
Verfen verrät ſich nur in der allgubellen Deutlicd:
feit, der allju programmatifden Entwickelung des
Problems durd) drei, vier Pbhafen, im bewuften
Sicerplijicren des Helden. Wir gedenfen der ver:
febleierten Fülle, des vollbebenden Klanges in Hof:
mannsthals reifer Kunſt, ded köſtlichen Verſchweigen⸗
könnens. Und doch: auf dieſes Jugendwerk trifft nicht
zu, was George von ſeinen erſten Verſen ſagt:
Das tft noch die Aamoene
Die blaß und zagend fic empért,
Durch viele fremde Tone,
Bang vor ſich felbit, die eignen hört.
Hier iſt ſchon ein ganz eigener Ton, nicht nur
in einzelnen Verſen und Bildern. Es lebt ſchon
eine Grundmelodie von Hofmannnsthals ſpäterer
Dichtung in dem Werk. Es offenbart uns das
Glück und das Elend deſſen, der voller, reicher,
tiefer erlebt als die gewöhnlichen Menſchen, und der
doch nicht lebt. Und ibn ergreift zuletzt die Sehn—
ſucht nad dem Leben, das er von ſich ſtieß.
Andrea, der Held, ift cin Rind der Renaiffance.
Bur Zeit der großen Maler fpielt das Stic, zur
Heit der taufendfaltigen neuen Lebensmiglichteiten,
von denen friibere Geſchlechter nichts wußten. Cin
Yeben umgibt ibn, farben: und formenfatt, ge:
fpiegelt von einer grofen Runft. Und in ibm ift
die Sebnfucht, hinabjufteigen in die ratfelbaften
Tiefen jedes Momentes. Seine Fiille will er aus:
foften. Koſtet er dod) damit nur ſich felbft aus,
den unerſchöpflichen Reichtum feiner Stimmungen.
Es gibt ja nichts außer uns. Nicht die Natur mit
ihren Wundern: „iſt nicht die ganze ewige Natur
nur ein Symbol für unſrer Seele Launen? Was
ſuchen wir in ihr als unſre Spur? Und wird nicht
alles uns zum Gleichnisbronnen, uns auszudrücken:
unſre Qual und Wonnen?“ Was find die
Freunde, die Menſchen, die wir lieben? Sie haben
nur Wert, weil wir in der Ausprägung ihres
Wefens Siige unferes Selbft klarer erfennen,
traftiger erleben. Sie find uns nichts anderes als
der Degen, in deſſen blantem Blitz unicr Born
aufflammt, die Geige, deren „rätſelhaftes Bluten“
dem unbeftimmten ſchmelzenden Berlangen der
Seele antwortet — tote Dinge im Grunde,
plebendig nur durch unfrer Laune Leben”. Diefem
Allmachtsgefühl der Perjontichteit feblt der Stachel |
Andrea fennt nidt das Gefühl ſelbſtloſer
nicht.
Hingabe an eine Begeijterung. Sein friiberer
Freund, der entflammte Aéfet, der das Evangelium
Savonarolas durch die Lande tragt, ſucht Schutz
bei ibm. Cr gewahrt ibn —, denn er verſpricht
ſich neue Lebensreije von dem Rauſch der Bue,
den jener entfeffeln wird. Hinabſteigen in die un:
ermeflichen Tiefen des Moments — und immer
dod) bleibt die Angſt, das Tictite zu verfeblen, den
Moment, ber uns das Herrlichfte unſeres cigenen
Wefens erhellen wird, yu verfiumen. Und darum
die Angft vor der Feſſel der Vergangenheit, die
- liebte.
hemmend am Fufe klirrt: Das Geltern fiigt, und
nur das Heut ift wabr. Wahrheit — Lüge —
Worte! ,, Wir fiigen alle und ich felbft wie gern!"
Dem Meniden, der fein Leben „fühlen, dichten,
machen” will, wie finnte ibm bie Lüge verhaßt fein,
bie Freundin des Dichters, des Sdhaufpiclers. Am
Moment, da Liige und Wahrheit ineinanderfließen,
ift die Cigenart ſeines LebenS am lebendigſten: er
ift Dichter, Schauſpieler, Zuſchauer in einer Perfon.
Als ein Tor ftebt Andrea am Enbe der Did
tung vor ung. Ihn betrog das Weib, das er
Und er, ber fo ſtolz bie Macht des Geftern
verf{pottete, dem vergangenen Moment feinen Cin:
fluß auf den gegenivdrtigen ginnen wollte, er muß
nun fiiblen, wie unfterblic) bad Geftern im Heute
ift: ,in meine Arme miift ich's taglich prefien.
Im Dufte faug ich's cin aus deinem Haar und
heute — geftern ijt cin feereds Wort, was einmal
war, dad lebt auch ewig fort.” Und feine Linderung
iſt's feiner Qualen, daß er aud bier verfteben
fann und daß auch diefe Tat feines Weibes ibm
nur Wünſche, Requngen der eigenen Seele deutet,
lebendig macht. Das Leben war ftarfer als cr,
der es zu meiftern meinte mit ber Nraft un:
erſättlichen Empfindens, —
Das tragifde Problem diefer Jünglingsdichtung
ift ſeitdem fo oft beriibrt worden. Überall, wo
die Tragödien des modernen Kiinftlers erlebt,
gelämpft werden. Und ewig unverſtändlich wird
eS nicht nur dem Philiſter bleiben, fondern and
grofen Naturen, die in einer Begeifterung auf:
achen, etwas wollen mit allen Kräften und allem
Vermögen — etwas, das nicht im Element des
Täuſchenden gu Gaus iit.
Konflitte Sider Seelen enthüllt uns Schnitzlers
neueftes Drama: „Der cinfame Weg". Sehnigler
und Hofmannsthal find verwandte Naturen. Frei
aus fic) beraus geftalten fie Möglichkeiten ibres
inneren Zwieſpalts zu Kunftiwerfen. Und ibre
Werke haben geſchwiſterliche Züge. Man braucht
nit nad Beeinfluffung ju fpaben. Bewußt und
flar fiber fein Wejen und fein Schickſal, fein Glüd
und feine Grengen ift der Mann, der den inneren
Sinn von Schnitzlers Werk verfrpert. Ber:
férpert — nicht mur ausfpricht: nicht alljuoft
ift aus LebenSftimmungen und Wnfehauungen des
Dichters mebr als cin Dialog geworden, Und
barum qlaube ich: in der Geftalt des Herrn von Sala
liegt ber Kern des Dramas, nicht im Schickſal des
Malers Julian Fichtner. Den Naturen, die als
qeftaltende CErleber dem eigenen Dafein gegen
iiberjteben, werden die tiefmenſchlichen Beziehungen,
die in die Bruſt anderer Menfehen unlösbare
Wurzeln gefentt haben, bedeutungslos. Sittliche
Werte, aus denen das Leben der anderen Würde und
Beſtimmung empfängt, find ihnen feine Pemmungen
im Augenblicke, da neue Lebensmöglichkeiten ſich
ankündigen. Das iſt fiir fie fein klühnes ber:
fpringen bon feffelnden Schranfen, wie fiir den
Tatmenſchen. Die Dinge entgleiter ihnen cinjad
zwiſchen den Handen, werden farb: und Lictlod,
jprechen nicht mebr. Run aber fonnen die
Stunden kommen, in denen die Seele gerade nad
dicfen Beziehungen verlangt. Qulian Fichtner iit
der müde Crleber, der Schaufpieler, dem man
jcine Holle aus der Hand gewunden bat und der
Biicerfdan.
zwiſchen leeren Ruliffen fteben bleibt. Er fann
dic Lebenseinſamleit nicht ertragen, ev ift webleidig,
und darum befinnt er ſich auf die menſchlichen
Beziehungen, die ibn von deer Leexe feines Dafeins
erldjen, ibm die erlöſchende Riinftlerfraft beleben
follen. Ginem Sobn, den er bisher der Sorge
eines anderen iiberlafjen bat, wird er feine Vater:
ſchaft offenbaren — ven verpflichten jene Be-
sichungen, auf ibn gu hören, bei ihm ausgubalten.
Und eine unbewufte Rartlichfeit sieht ja den Sohn
ſchon, der ibn fiir den Freund der Eltern halt, gu
ibm. Wor 30 Qabren hat er die Braut feined
Freundes verfiibrt und verlafjen. Den ftillen
abnungSfofen Freund, ber fie cin Leben fang in
Liebe gebalten bat, charatterifiert er mit der Wn:
mafung des Egoiften: „Leute von der Art Wegraths
find nicht dazu geſchaffen wirtlich zu beſitzen —
weder Frau nod Kinder. Sie mögen Suflucht,
Aufenthalt bedeuten — Heimat nie.” Dem Sobn
offenbart er fic) rückhaltlos, erfldrend, nicht be:
ſchönigend. Der urteilt nicht moralife, begreift —
und wendet fid) ab. Die Liige, im der er [ebt, ift
von der Liebe gebeiligt, zur Wahrheit geworden.
Jene Wabrhcit aber ift obne Kraft. „Ihr
Sohn. . . Es ijt nichts als cin Wort. Es klingt
ind Leere . . . Sie find mir frember geworbden, feit
A CB WMT aoa ida) eens ea er ae ae ae ee
Julian Fichtner begretft fein Schickſal nicht.
Stephan von Sala deutet es ihm. Der ift nicht
webleidig wie er, bat nichts von der gierigen Haft,
von ber vergebrenden Unrube und inneren Un:
ſicherheit eines Andrea. Auch ibn loden dic
unermeßlichen Ticfen des Moments. Er erzählt
von der verſunkenen Stadt Baktriens, die er aus—
graben ſehen wird. „Dreizehnhundertundzwölf
Stujen, glänzend wie Opale, die im eine un:
befannte Tiefe binabfiibren . . . Ich Fann Ihnen
gar nicht fagen, wie diefe Stufen mich intriguieren.“
Gin Symbol wie dieſes ... man fühlt Abfens
Nabe mandmal. Sala will um [einen Moment
feines Lebens betrogen fein, aud nicht um
bas Bewußtſein feiner Sterbeftunde: „Ich
finde, man bat dad Recht, fein Dafein voll aus—
juleben mit allen Wonnen und mit allen Schauern,
bie barin verborgen liegen.“ Er bat aud dic
Schmerzen ſeines Dafeins genoffen. Und = cr
fiirchtet fic) nicht vor dem Geſtern. Denn alle
tieferlebten Momente vermag er gu geniefen wie
die Gegenwart. Gegenwart, Vergangenheit find
nur Worte fiir ihn. Aber ex ift ſich bewußt, daf
er fic nie an ein Erlebnis, an cinen Menſchen
verforen bat, denn er hatte der Liebe nicht: ,, Liebe
beift, fiir jemand anders auf der Welt fein.” Er
hat, was Qulian, was Andrea nicht beſitzen —
Stil. Er haſcht nicht nach dem Glück der
Ultruiften, auf das cr Fein Hecht bat. Er be:
lächelt Julians Halbbeit. Darfft du, fagt er ibm,
der du feine Stunde deines Dafeins an cinen
Menſchen wirklich verloren baft, ohne dich dafiir
bejablt gu machen, irgend etwas juriidfordern?
Er hat fich beizeiten auf die Einſamkeit cin-
acridtet, bat den Mut und den Stolz gum Allein:
fein: „Ich bin ftets fiir gemeſſene Entfernungen
geweſen; daß es die anderen nicht merfen, ift nicht
meine Schuld.“ „Und wenn cin Sug von
Bacdhanten uns begleitet, den Weg hinab geben wir
alle allein . . . wir die felbft niemanbden gebdrt
haben.” Er verachtet nicht wie der haltloſe Julian;
ex bat Verftdndnis und Wiirdigung fiir die frembde
635
Lebensform, Ehrſurcht vor Menſchen wie Wegrath,
Freude am Sohne Julians, dem Reprajentanten
eines neuen Geſchlechts: weniger Geift und mehr
Haltung.” Um ibn und die ihm wefensverwandte
Todhter Wegraths, cine feltfam verſchleierte Geſtalt,
webt der Rauber, den der Dichter nur denen ver:
leiht, bie er Lliebt wie feine Seele. Simmer aber
war in Schnigler cin tapferer Sug zu den
Menfden, die fich gang geben können, die ju
lieben’ vermögen. Und fo wird das afthetijde
Problem, Geftern, Heut, Liige, Wahrheit ein
ethiſches. Der fiife Rauber des Spiels, der
fiinftlerifebe Reig der Liige: „wir fpielen alle, wer
es weiß, ift fig”, dad durchtönte friibere Werle
Schnitzlers. Qn dem Verfliefen von Wahrheit und
Liige lag Entzücken fiir den, der nur erleben will.
Aber als der, der Wabhrbeit und Liige nicht nad
Art ber Pflichtmenſchen zu ſcheiden wufte, nun
nad der Wahrheit ruft, da muh er erfennen, daf
dic Wahrheit, der dic Weihe ber Liebe nicht wurde,
fic in Lüge wandelte, und die Liige, in bie
Menſchen ihr Herzblut ſtrömen ließen, sur Wahr—
heit. Gegenwart und Vergangenheit wirren fid .. .
Ibſens Nähe fühlt man zuweilen: im Dialog
wie in den Geſtalten des Stiids. Irene Herms,
die Frau, in der Julian Fichtner das Glück der
Mutter tötete, trägt nicht nur den Namen von
Rubels Irene — ſie trägt gleiches Schickſal als eine
ſentimentale Wienerin . . . Seltſam ... fiir Ibſen
begann das Problem: Wahrheit — Lüge — im
Ethiſchen, er war jung in der Zeit des ethiſchen
Pathos. Es endete ihm im Problem des Künſtlers,
ber das Lebendige tötet im Menſchen, um Kunſt—
werle zu ſchaffen. Epiſode iſt ihm alles — und er
erwacht vom Tode und ſieht, daß er nie gelebt hat.
Das ethiſche Moment ſchwingt noch immer mit. Die
jungen Wiener begannen da, wo Ibſen aufhört. H. H.
„Singende Bilder“ von Anna Schapire.
E. Pierſons Verlag, Dresden. In dem kleinen
Heft offenbart eine junge und ſehnſüchtige Seele
ihr Ringen mit dem Leben. Daher haben die
meijten dicfer kleinen Dichtungen die Form von
Zwiegeſprächen; Zwiegeſprächen mit dem Leben,
bem riitfelvollen, das fie anflagen wegen feiner
Mraujamteit, und wiederum jauchzend umſchließen
wegen ſeiner Suße, und Zwiegeſpräche mit der
cigenen Seele, der der Menſch fich ſchuldet und
die ibm entflieht und wiederfebrt, ibn verflagend
und ibn fegnend. Gedante und Empfindung,
zuweilen mit dem ſchmalen farbigen Rabmen eines
duperen Erlebniſſes, verdichten fid) zu kleinen
Bildern, die jedes für ſich abgeſchloſſen und nur
aufgereiht am Faden verwandter Grundſtimmung
im rhythmiſchen Gang der Worte, in einem gewiſſen
Parailelismus der Zeilen und ihrer Glieder fic)
die Form jener poetiſierenden Proſa erwählen, der
unſere Neueren in der Sehnſucht nach freieſter
RKunjtform fo gern ſich überlaſſen. Daf manche
der Eleinen Bilder in unferem Biichlein cine {tart
maleriſche Kraft der Sprache entfalten, und, wo
fie ſchildern, ihnen ein ftarfer StimmungSgebhalt
entjtrdmt, joll nicht unerwähnt bleiben; ich nenne
bie fleine Idylle: ,, Die Sommergottin.” Die
Verdichtung ju geſchloſſenerer Kunſtform ſcheint der
Verfaſſerin nicht in gleichem Maße zu gelingen;
die wenigen mitgeteilten Stücke ſtehen meines
Erachtens hinter den andern zurück. Doch möchte
ich aus den „freien Rhythmen“ das als „Die
— —
636 Bücherſchau.
große Stille“ bezeichnete hervorheben, wegen der
Kunſt, mit der hier die Schar der unterlegenen
Freiheitslämpfer, die Koscinslos Grab tiirmen, und
bie Schar der Geknechteten, die 8 fiir die Tyrannen
befeftigen, wie Bifionen im fich ballenden Nebel
am Auge ded Horirs voriibergefiibrt werden. Die
legien Stiide der Sammlung verfteden cine humor:
voll parodiſtiſche Ader in einen anfebeinend harm—
fofen Erzählerton. Cin Fertiger wird den Heinen
Band nicht lefen, der auch in feiner ausſchließlich
jubjeftiven Färbung fic) als Rind feiner eit
prifentiert; ein Ringender wird nicht ohne acheime
Erſchütterung bier im Wobllaut feiner eigenen |
aber eben nicht feblicht genug fiir cin Marden und
Schmerzen ſchwelgen. Wir möchten dem ſchönen
Talent der jungen Dichterin ein Ausreifen wünſchen,
ein Hervorwachſen aus der lyriſch geſtimmten Enge
der Subjektivität gu weiterer Umſchau unter ent
ſprechender Entwicklung des Formtalents. M.
„Das Granatapfelhaus“. Bon Oskar Wilde.
Inſelverlag, Leipzig 1904. (Preis 7 WM.) Die mit
Wildes Kunſt vertrauten Lefer und aud) die ibm
etwa bloß aus den Salomeauffiibrungen des Neuen
Theater$ in Berlin fennen, diirfen ibren Wilde in
dieſem Buch nit ſuchen. Denn zur Abwechſelung
hat er fic) den träumeriſch frommen Märchenſtil
ausgeſucht und erzählt darin gar rührſame We:
ſchichten: vom jungen Konig, der das foftbare
Krönungsgewand nidt tragen will, weil Schweiß
und Blut feiner Untertanen es gewebt baben; vom
budligen fleinen Siverg, der die ſchöne Anfantin
liebt, bid die Erfenninis feiner Häßlichkeit ihm das
Her; bricht; vom Fiſcher, der ſeine Seele von ſich
ſchickt, aus Liebe gu dem Meermädchen, und ibret
willen auch allen Berfuchungen der in ber weiten
Welt bdfe gewordenen Seele widerftebt; endlich pom
Sternentind, das in feiner Schönbeit grauſam und
ftol; ift und feine arme Mutter veradtet, bis e—
durch HAflichleit qedemiitiqt, qut und liebevol wird
und fie und ben verjauberten Vater erldjt; alles
gar gute und lehrſame Geſchichten, vom reiden
und bifen und armen und guten Kinde, ausgeftarter
mit bem flingenden orientalifden Juwelenſchnuck
einer farbenreichen Bbantafie, mit minutiofen
Belebretbungen von wunderbaren Königspaläſten
und fremden Gogentempeln, fo daß man ſich in die
Zauerwelt von Scherezadens zurückverſetzt wähnt,
nicht wahr genug im Grundgefüge, gut fonftruiert,
aber nicht gewachſen. Wundert man ſich ſchon,
was die Seele des Fiſchers als ſelbſtändiges Weſen
S. | fiir ſeltſame Abenteuer beſteht, von denen fie ihrem
Herrn Bericht erftattet, jo tut man’s nod mebr,
wenn fie nun aud noch das Herz mit haben will und
erflart, daß fic durch das Feblen desfelben fo bofe ge:
worden fei. Und das Moralzöpfchen banat ſchief,
wenn der feelenlofe Fiſcher fich nun mit oer Liebe
zu dem toten Meermaddyen wappnet gegen die Ver—
lodungen feiner bdjen Seele. Aber wer dag Denfen
ſchlafen laſſen mag und ſich berauſchen an fhinmmern:
dem Farbenglanz und Duft von Phantaſieblumen,
der lommt auf feine Rechmung, und was cd an
Dichterifehem bei Wilde gibt, befommt er dabei
mit au ſpüren. Vogelers graziöſer Stift bat jeder
Geſchichte cin dem Weſen diejer Kunſt fein an
empfundencd Titelbild gegeben, und der Verlag der
Ausſtattung des Buches feine rühmlichſt befannte
Sorafalt angedeihen laſſen. M.
Bücherſchau. — Wngeigen. 4637
Schering’s Makertratt
tft ein — — Hausmittel zut Mrditiqung fir Mranfe und Refonpaleszenten und bewährt 5. vor ziiglich olf
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das in die Serie der Kürſchner
Unternebmungen hineingehört,
bietet neben dem üblichen Ralen-
darium x. cine bunte Sammlung
von Aufſähen iiber die ver:
ſchiedenen Gebiete ber Frauen:
frage und Frauenarbeit, die, gum
zgen tn folt ſämtlichen Ap
größeren Teil von kompetenten
Mitarbeiterinnen geſchrieben, zur
erſten Orientierung über all
dieſe Gebiete gute Dienſte leiſten
finnen. Natürlich findet ſich
neben Gutem und Zuverläſſigem
auch allerlei Lückenhaftes und
Oberflächliches; da abſichtlich alle
Richtungen aufgenommen ſind,
auch mancherlei parteiiſch Ge—
färbtes, das als objeftive Cr:
lenntnisquelle mit Vorſicht gu
benutzen iſt. Im ganzen aber
fann das Jahrbuch als cin
zwecmäßiges PBropagandamittel
aud im Sinne der Fraucnbe:
wegung begrilft werden.
„Die mündliche Sprachpflege
als Grundlage eines einheit—
lichen Unterrichts in der Mutter⸗
ſprache“ von Ernſt Lüttge.
Preis 1,40 Mark; geb. 1,80 Mark.
Leipzig. Crnft Wunderlich. Der
ſehr intereffant geſchriebenen, ſehr
lehrreichen Arbeit iſt eine weite
Verbreitung herzlich zu wünſchen,
damit die ſo berechtigte Forderung
des Verfaſſers, der Lautſprache
eine ihrem Weſen und ihrer Be—
deutung angemeſſene Stellung im
Lehrplan einzuräumen, bald ihre
Verwirklichung fände.
C. Hoffmann. „Zeichnen —
ſtunſt“. J. Kinderzeichnen Heft 4
von K. Walter. Verlag von
Otto Maier, Ravensburg.
,Minderlieder mit Klavier—
beqleitung fiir Familie und
Kindergarten.” Zuſammengeſtellt
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Hausbibliothef, Band 11.) Preis
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lberfeyung aus bem Diinifden von
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Bratenfett oder Butter läßt man
eine fein geſchnittene Zwiebel
gelb anlaufen, gibt den Spinat
dazu, dünſtet ihn einige Minuten
durch, ſtaubt cin Kochlöffelchen
Mehl darüber, gießt etwas
Waſſer daran, fügt Salz, weißen
Pfeffer und wenig Muskatnuß
dazu und kocht das Gemüſe
unter ſtandigem Umrühren dic:
lich cin, Beim Anrichten durd-
zieht man ben Spinat mit
10—12 Tropfen Maggi's Würze
und garnicrt ibn mit Segeiern
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Bf 1.200. 11 OM Pee _ fiasust 1304 af
4
DIE FRAU
wu
“ae
—
bon
Moelene Cange.
W. Meeſer Buchhaubdlung.
Berlin S&S.
Vie Beteiligung der Brau an der Wissenschaft.
Yortrag, gehalten auf dem Jnternationalen Frauenfongref zu Berlin. ')
Bon
Warianne Weber.
Radhbrud perboten. — —
eit ſich die Univerſitäten den Frauen erſchloſſen haben, mehren alljährlich
glänzend abſolvierte Examina und Promotionen die Beweiſe, daß Frauen
befabigt find, wiſſenſchaftliche Studien mit Erfolg ju betreiben und diejenige Stufe
intelleftueller Schulung und jftofflicher Beherrſchung eines beſtimmten Wiſſensgebiets ju
erreicben, die jur Ausübung der fogenannten liberalen Berufsarten erforderlich ijt.
Es mehren ſich aber auch die Zeichen, daß Frauen fic) in diejen Berufen bewahren,
und als Arztinnen, Beamtinnen, Juriſtinnen, Theologinnen, akademiſch gebildete
Lebrerinnen u. dgl. eigenartige Aufgaben erfiillen, durch die fpesiell von unferem
Geſchlecht ſchmerzlich empfundene Lücken unferes Kulturlebens ausgefiillt werden. Aber
noch mehr: die zunehmende Anglicderung von Frauen an die akademiſchen Lehrkörper
als Uififtentinnen an mediziniſchen, phyſikaliſchen, zoologiſchen, chemiſchen Anitituten und
Dieſer Vortrag, der bie Verhandlungen fiber dad Frauenſtudium in der Sektion Frauenbildung
einleitete, wurde der „Frau“ von der Verfaſſerin zur Veröſſentlichung übergeben. Sum großen Erſtaunen
der Redaktion wie der Verfaſſerin brachte die „Frauenrundſchau“ vom 23. Juni unter dem Titel „Die
Frau in der Wiſſenſchaft, Kongreßvortrag von Frau Marianne Weber“ eine Zuſammenfaſſung, die
abgeſehen von zahlreichen Druckfehlern, auch den Sinn des Vortrags ganz entſtellt wiedergibt. Der
Auszug war nur durch eine Fußnote als ſolcher gelennzeichnet. Im Inhaltsverzeichnis dagegen wird
durch die Angabe „Die Frau in der Wiſſenſchaft. Von Marianne Weber“, der Anſchein erweckt, als
handle es fic) um einen Driginalbeitrag. Dieſe in der Preſſe ſonſt wohl faum übliche Form bringt
uns in die Lage, den Leſern unſerer Zeitſchrift ausdrücklich erllären zu muſſen, daß bier der Original:
artifel vorlicgt. Die Redaktion.
4]
642 Die Beteiligung der Frau an der Wiſſenſchaft.
ihre Zulaffung aur afademifden Lehrtatigfeit in einigen Ländern, jeigt, daß
Frauen aud) diejenige höhere Stuje intelleftueller Schulung erreichen können, von
ber aus das Wiſſen fich burch Wort und Schrift lehrend an Andere übermitteln (apt.
Dieje Tatfaden beantworten uns aber nod) nicht die Frage, ob die Frau fabig
it, aud) zur Vermehrung der wijjenfdaftliden Kultur, und de3 Erkenntnis—
{cages in irgend einer Weiſe Cigenartiges und Unerfeglices beijutragen. Dürfen
wit boffen, daß ibe aud) im Reiche der intelleftuell fchaffenden Geifter befondere
Aufgaben zufallen, deren Erfüllung die Kultur eigenartig bereichert? Jn diefem Punfte
ijt, wie mir feheint, unſere Zuverficht noc) nicht fo fejt an unjweideutigen Tatjachen
verantert, wie in bezug auf den Wert der Frauenarbeit in vielen anderen Gebieten
menſchlicher Kulturtätigkeit.
Befragen wir zunächſt die Vergangenheit. Sie lehrt uns, daß der Verſuch der
Frauen zu ſelbſtändiger wiſſenſchaftlicher Arbeit keineswegs erſt ein Produkt
unſerer Zeit iſt. In allen Epochen hoher geiſtiger Kultur fühlten ſich auch Frauen
trotz aller Schranken, die ihrer ſyſtematiſchen Geiſtesbildung entgegenſtanden, zur
Wiſſenſchaft getrieben, und beſonders Begabte wußten ſich auch in jeder Epoche ein
gewiſſes Mak zeitgenöſſiſcher Bildung anzueignen. Wurde doch auch der Schatz der
Erkenntnis von jeher nicht nur in den Gelehrtenſchulen, deren Benutzung den Männern
reſerviert war, ausgeteilt, ſondern daneben auch — leichter zugänglich — in den
Schriften jeder Zeit. Und was bei dem heutigen Stande der Wiſſenſchaft und ihrer
Hilfsmittel unmöglich erſcheint: die fruchtbare Förderung der denkenden Erkenntnis
ohne ſyſtematiſche Einführung in irgend eine Fachdisziplin, war es früher nicht in
gleichem Maße.
Bur eit des klaſſiſchen Altertums und der Renaiffance waren auch manche
ſchöpferiſche männliche Geifter „Autodidakten“.
Wenn wir dieſe größere äußere Gleichheit der Chancen begabter Manner und
Frauen zunächſt bei der Bewertung der wiſſenſchaftlichen Tätigkeit antiker Frauen
in Betracht ziehen, ſo fällt notwendig auf, daß ihre produktiven Leiſtungen uner—
meßlich weit hinter denen der genialen männlichen Geiſter zurückbleiben. Dabei war
die Zahl der gelehrten Frauen, die in Griechenland als „Philoſophinnen“ bezeichnet
wurden, nicht klein. Cin modernes, ihnen gewidmetes Werk!) nennt mehr als
hundert; davon haben ſogar mehrere als Lehrerinnen der Dialektik, Rhetorik und Logik
ant den offiziellen Akademien die Anerkennung und Bewunderung ihrer Zeitgenoſſen
gefunden, aber leider hat uns keine von ihnen Schriften mit ſelbſtändigen wiſſenſchaftlichen
Gedanken hinterlaſſen; ſelbſt von Hypatia, die im 5. Sabrhundert n. Chr. in
Alexandria einen Lehrſtuhl bekleidete, wiſſen wir nicht, ob ſie eine ſelbſtändige Denkerin
war, denn von ihren mathematiſch-aſtronomiſchen Schriften ſind nichts als die Titel
erhalten.
Und doch hat man den Eindruck, daß der Beteiligung der Frauen an der Wiſſen—
ſchaft ſelbſt in damaliger Zeit eine eigenartige Kulturbedeutung beigelegt worden iſt.
Worin ſie beſtanden hat, ſuchen wir auch aus der Geſchichte zu deuten. Faſt alle
gelehrten Griechinnen werden als Anhängerinnen ſolcher philoſophiſcher Schulen be—
zeichnet, die danach trachteten, aus der denkenden Erkenntnis des Zuſammenhangs der
Erſcheinungen zugleich die Normen und Zwecke des menſchlichen Handelns abzuleiten,
) Poeſtion, Griechiſche Philoſophinnen.
Die Beteiligunug ber Frau an der Wiſſenſchaft. 643
Die fid) Den Verftand jum Fiihrer auf dem Wege zur Tugend und zur Gottheit
wablten. Namentlich die pythagoreifde Schule, der die meiften PBbhilofophinnen an—
gehörten, trug das Geprage ciner ethiſch-religiöſen Sefte, ihre Philofopbhie war Ethik,
ihre Mathematif und Aftronomie religivfe Myftit, ihre Anhanger lebten in enger
ſeeliſcher Gemeinfchaft und unterivarfen fic einer bid ind kleinſte geregelten Lebens—
ordnung,
Hier waren die Frauen eben Prophetinnen und Diingerinnen des Meijters, die
für deſſen praktiſche fittlich-reformatorifche Ideale nicht nur lehrend, fondern vor
allem aud durch die vorbildliche Entwidlung der eigenen Perfinlidfeit warben.
Aud) in den ſpäteren Epodyen der Antike finden wir die wiſſenſchaftlichen Frauen
faft ausnabmslos als Anhangerinnen folder Schulen und Lehren, die aus ihrer Cinjicht
in das Weltgefcheben unmittelbar den Sinn de3 menſchlichen Dafeins erfajfen zu
finnen glaubten und was Hvpatia den Epigonen der antifern Kultur verfiindete — die
neuplatonifde Lehre — war feine auf Grund der Erfabrung gewonnene Welterfenntuis,
fondern cin tieffinniger Verfud, den Sinn des Lebens und fein Verbaltnis zum
Ewigen zu deuten und darin Richtlinien fiir das menſchliche Gandeln zu finden.
Die griechiſchen Philoſophinnen haben offenbar den Schag der Crfenntnis nicht
ſelbſtſchöpferiſch erweitert, aber fie Lebten das als wahr Erfannte und verliehen der
Wiſſenſchaft ihrer Seit dadurd) die Blutwärme lebendigen Fühlens. —
Cine abnliche, wenn auch weniger umfajjende Bedeutung gewann das Verhaltnis
der Frau jur Wiſſenſchaft im auffteigenden chriſtlichen Mittelalter, als die chrijtliden
und kirchlichen Ideale zur Vorausfepung aller wiſſenſchaftlichen Forſchung geworden
waren. Wud) ibre Produftionen find jum größten Teil verdienter Vergeſſenheit
anbeim gefallen, dDagegen müſſen fie ihrer Zeit wertvolle praktiſche Dienfte geleijtet
haben. Denn es ſteht nicht vereinzelt da, dak aus der Stille ded Kloſters Päpſte und
Könige fic) Nat holten, oder daß cin Weib, wie Katharina von Ciena, in die Politif
des Papſttums Richtung gebend eingriff.:
Als dann der Humanismus die Wiſſenſchaft aus dem Dämmerlicht der Kirche
in die Helle der weltlichen Rultur juriidfiibrte, nabmen auch weltliche Frauen an
dem wachſenden Crfenntnisftreben teil. In Jtalien und vereingelt aud in Spanien
lafjen fürſtliche und reide Familien ihre Töchter zuſammen mit den Knaben huma—
niftijde Studien treiben; die Sabl der Frauen, die fich gelebrten Berufen widmeten,
war nicht Flein, und nicht wenige beftiegen mediziniſche, juriftifde und mathematifde
Lehrſtühle. Die Frauen der RNenaiffancejeit haben min vereingelt auch gelebrte
Arbeiten hinterlaſſen, allein ibre Gedanten bewegen ſich in den iiberfommenen Gleijen,
und unter denjenigen Geiftern, die gerade Damals gan; neue Forſchungsmethoden fanden
und durch cine ganz neue Art der Welthetrachtung die moderne Wiſſenſchaft ſchufen,
jindet fics fein weiblicher. Uber der jene Frauen umſtrahlende Ruhm kann nicht
grundlos geweſen fein. Und wiederum ſcheint 3, daß fie nicht als ſchöpferiſche Ge-
lehrte, wohl aber als intelleftuell durchqebildete Perſönlichkeiten fiir die Geſamt—
tultur ibrer Seit bedeutjam waren. Sie ſchufen jum erftenmale Besiehungen zwiſchen
den Gefchlechtern, aus denen fich die feinjte Bliite geiftiger Freundſchaft und diejenige
Fille des ſeeliſchen Daſeins entividelte, die jedes Gebiet ſchöpferiſcher Kulturtätigkeit
befruchtete. —
Als dann die beginnende Arbeitsteilung in der Wiſſenſchaft die wiſſenſchaftliche
Tätigkeit des Einzelnen auf immer kleinere Ausſchnitte des Geſamtwiſſens beſchränkte,
4i*
644 Die Beteiligung der Frau an der Wiſſenſchaft.
treten auch vereingelte weibliche Gelebrte mit quten fac wiffenfdbajtlichen Werferr an
die Offentlichkeit. Zeigten ſich dabei nun ſpezifiſche Veranlagungen der Frauen fiir be—
ftimmte Fachgebiete? — Bei diefer Frage begegnet uns zunächſt dads fo häufig be-
ftaunte Bhanomen, daß gerade in den mathematiſch-phyſikaliſchen Wiſſenſchaften, die
anfdjeinend der größten Abſtraktionsfähigleit und der fteengiten logiſchen Schulung bediirfen,
cine Anzahl von Frauen mit Erfolg arbeiten. Aber freilich auch bier, ſoweit
ſchöpferiſche Arbeit in Betracht kommt, mit begrengtem Erfolg. Unter den ziemlich
jablreichen, gum Teil mit akademiſchen Preiſen ausgezeichneten mathematifcen Frauen-
arbeiten find die Leiftungen von Sonja Kowalewska wohl die einzigen, die auch heute
nod) Bedeutung haben. Wher als Stern erfter Größe erſcheint auch fle nicht unter
dent mathematijden Geiftern.
Nächſt den mathematifden haben dann am friibejten philologijdhe Frauen
Tüchtiges geleiſtet. Wir finden da auch einige wertvolle ſelbſtändige Arbeiten, fo
etiva die von Thereje Robinjon (genannt Talvy) und = Caroline Michaelis
de Vasconcelos, aber die wichtigiten Dienfte leifteten Frauen der Sprachwiſſenſchaft da-
durch, daß fie überſetzend und erklärend literariſche Denfmaler der Bergangen-
beit oder frembder Nationen ibrem eigenen Volke zugänglich machten. Co wurde, nach
manchen anderen Frauen, im vorigen Sabre zwei ſchottiſchen Schweſtern für ibre Ent-
dedung und fcarffinnige Nberjepung und Erklärung alter bibliſcher Terte von der
theologiſchen Fakultät in Heidelberg der Chrendoftorgrad erteilt.
Gine nur den Frauen eigene, ſpezifiſche wiſſenſchaftliche Betrachtungsweife fann
auf den bisher genannten Gebicten jedenfals nicht in Anſpruch genommen werden.
Was Frauen und Manner hier leiften, ift das Nefultat gleidartiger aber nicht
ſpezifiſch verſchiedener geiſtiger Fähigkeiten.
Anders vielleicht auf dem Gebiete hiſtoriſcher Kulturwiſſenſchaften. Hier
könnte die Frau zunächſt kraft eigenartiger ſeeliſcher Fähigkeiten: ihrer beſonderen Gabe,
ſich in die Gefühlswelt Anderer zu verſetzen und deshalb die Motive ihres Handelns
nacherlebend zu verſtehen, der Wiſſenſchaft eigenartige Dienſte leiſten. In einzelnen
bedeutenden Leiſtungen auf biographiſchem, literar- und kunſtgeſchichtlichem Gebiet tritt
das ſchon jetzt hervor.
Aber weit wichtiger kann und wird die Mitwirkung der Frauen dann werden,
wenn fie gelernt haben, auf Grund einer eigenartigen Stoffauswahl nach beſonderen
„weiblichen“ Geſichtspunkten in das Gewebe der geſchichtlichen Erkenntnis einen neuen
Einſchlag einzufügen. Denn die Eigenart der Kulturwiſſenſchaften im Gegenſatz zu
den Naturwiſſenſchaften beſteht ja darin, daß ihre Analyſe der Wirklichkeit an Wert—
geſichtspunkten und an Kulturidealen verankert iſt, welche aus der Tiefe des
unmittelbaren Erlebens in ſtetem Wandel und in ſtets neuer Färbung aufſteigen.
„Objektivität“ der Geſchichte und aller Kulturbetrachtung im Sinne des Abſehens
von ſolchen letzten Wertideen iſt ein Phantom. Iſt dem aber fo, dann muß gerade
derjenige, der von der grundſätzlichen Verſchiedenheit der Geſchlechter durchdrungen iſt,
es als eine Lücke empfinden, daß die wiſſenſchaftliche Betrachtung der menſchlichen
Kulturentwicklung ſich ausſchließlich durch die Brille der einen Hälfte der Kultur—
menſchheit vollzieht.
Daß ſich bisher ſo wenige Frauen in den politiſchen und Kultur-Wiſſenſchaften
betätigt haben, iſt zweifellos weniger Folge mangelnder Begabung als mangelnden
Intereſſes. Die Geſtaltung der lebendigen Staats: und Rechtsordnung war von
Die Ueteiligung der Frau an ber Wiſſenſchaft. 645
jeher das Monopol de3 Mannes, fer Wunder, dap überall da, wo die Frauen vom
Mithandeln ausgeſchloſſen waren, fie aud Feinerlei Antrieh zum wiſſenſchaftlichen
Mitdenken fühlten. VBielleicht wird aber die Zufunft hier Wandel ſchaffen. Schon
mehren fic) die Beiden, daß diejenigen Probleme unferer Beit, welche die Frauen aus
ibrem Dämmerzuſtande im Schatten des Hauſes zur gefteigerten praftifden Teilnahme
an der allgemeinen Rulturarbeit treiben, auch ihr geiſtiges Auge fiir einen umfaſſenderen
Kreis wiſſenſchaftlicher Probleme erſchließen, als in der Vergangenheit. Geht doch überall
das Handelnin der Wirklicdfeit ihrer Ordnung durch den denfenden Verftand voran!
So verdanfen wir dem Emyportauchen der „Frauenfrage“ in unſerem Bewußtſein
ſchon unmittelbar aud eine Bermehrung unferes Erkenntnisſchatzes, fo namentlich cine
Reihe feinfinniger, wiſſenſchaftlicher Unterſuchungen fiber die Lage unferes Geſchlechts
in Vergangenheit und Gegenwart und ibre Bedingtheit durch religidje, fittliche, foziale
und ökonomiſche Faktoren. Gerade folche Arbeiten aber diirfen den Anſpruch auf
ſpezifiſche Bedeutung machen, weil eS mit der bloßen Tatfachenfeftitellung in den
Rulturwiffenfchaften nicht getan ift, fondern weil bier die geiftige Arbeit in der Auf:
findung cigenartiger Gefidtspuntte liegt, unter denen die Tatfachen jufammengefaft
und gegliedert werden, und weil es auger allem Sweifel fteht, dab bier die Frauen
je Langer je mebr ibre Arbeit an neuen Rulturwerten orientieren werden, Der neue
Standpunkt der VBetrachtungsiweife ijt es, der Bekanntes im neuen Lichte zeigt,
und bisher Unbeachtetes als fulturbedeutjam erfennen läßt.
Diefe Momente beſtimmen aud) fpeziell die beginnende Bedeutung der Frauen:
arbeiten fiir die Sozialwiſſenſchaften im engeren Sinne. Cigenartige und wertvolle
Arbeiten wie die über Genoffenfehaftswejen und Gewerfvereine von Mrs. Webb befigen
wir bier ſchon heute. Aber die Bedeutung der Frauenarbeiten muh bei der Jugend
dieſer Probleme notivendig in der Zukunft nod fteigen. Gerade bier wird die Mit-
arbeit der Frau fosiale und wirtſchaftliche Crjcheinungen und Einrichtungen in ibrer
Beziehung sum weiblichen Gefehlecht erkennen und dadurch Cinfichten vermitteln können,
die männlichen Forſchern verborgen bleiben. .
Jene Cigenart der Wiſſenſchaft von der menſchlichen Kultur: ibre VBeranferung
an dem Fühlen und Wollen lebendiger Menſchen gibt uns die Hoffnung, daß gerade
auf diejem Gebiet Frauen in Zufunft Wertwolleres für die Wiſſenſchaft leiften können
als in der Vergangenheit, felbjt wenn ibre ſchöpferiſche Denkfraft aud dann nicht
die Der führenden männlichen Geifter erreicht. Jeder Schritt, der die Frauen aus der
Enge ibres bisherigen Wirkungstreifes hinaus und in die praktiſche Rulturarbeit
hincinfiibrt, wird auc) ibren Trieb zur denkenden Bemeiſterung der Erſcheinungen
jteigern. Die praktiſche und theoretiſche Tätigkeit ftammen ja ſchließlich aus denfelben
Wurzeln: aus dem Streben de3 Menfchen, Der Wirklic Feit Herr zu werden, fie zu
formen und ju geftalten nach den Gefegen des Geijtes.
Aber der Schwerpunkt der Kulturbedeutung geiftiger Frauenarbeit liegt wabr-
ſcheinlich, ebenſo wie in der Vergangenheit, fo aud in Zukunft, nicht in der Förderung
de3 objeftiven Kosmos unferes Wiffens. Cine feelifebe Cigenart der Frau ſcheint ja
darin zu bejteben, dah ſich ihr Intereſſe und Verſtändnis allem Perſönlich-Menſchlichen
unmittelbarer als den Objekten zuwendet. Wie die Mehrzahl ihrer wiſſenſchaftlichen
Arbeiten aus unſrer Epoche zeigen, wird ihr im allgemeinen erſt das an ihr und
Anderen Erlebte Ereignis, deſſen Zuſammenhang mit anderen Ereigniſſen ſie ſcharf—
ſinnig zu erforſchen weiß.
646 Die Beteiligung der Frau an der Wiſſenſchaſt.
Ihre intenfive Teilnabme an dem Wollen [ebendiger Menfchen läßt fie nun viel-
leicht flarfer als den Mann das Bedürfnis empfinden, die aus Erfenntnijfen gewonnenen
Uberzeugungen wieder in die Wirklichkeit hineingutragen, dem Wiffen durch
Handeln l[ebendige Wirffamfeit zu verleiben. Dieſes Strebens bedarf aber gerade
die moderne Kultur in höherem Mage als die irgend einer anderen Zeit. Wir ver-
danten die ungeheuere Vermehrung unferes Erkenntnisſchatzes der gefteigerten wiſſen—
ſchaftlichen Arbeitsteilung. Diefe verſchuldet e3 aber andererfeits, dah das Wachs-
tum der geiftigen Kultur der Yndividuen weit hinter dem Wachstum des objeFtiven
Wiffensquantums jurtidgeblieben ijt, wie man ja mit Recht die Cigenart unferer
Rulturentwidlung in dem SZuriidtreten der Kultur der Menſchen Hinter derjenigen der
Sachen erblidt bat. Nur wenige profitieren heute fiir ibre geiftige Erijten; von der
ungeheueren WAuffpeicherung menfdlicer Geiftesarbeit, nur ein verſchwindend kleiner
Kreis fann fein Tun und Sein durch die wachfende Erfenntnis erleudjten laſſen. Und
vor allem: „die Wiffenfchaft” ijt heute cin ungebeurer Kosmos fiber Millionen Biicher-
ſchränke und menſchliche Köpfe verftreut. Jeder einzelne Arbeiter ijt bier nur cin
fleines Had in der gewaltigen Mafcine, jeder Einzelne hebt nur einen kleinen Zipfel
des Schleiers, der die Wahrheit verbhiillt. Nicht mehr die Wiſſenſchaft fteht im Dienfte
de8 Erfenntnisjtrebens des cingelnen Menſchen, fondern dic Erkenntniſſe des Einzelnen
find zur Schaffung eines Wiffens da, welches in feinem einzelnen menſchlichen Geifte
mehr Unterfunft findet.
Sind wir fider, dah dieſe Wiffenfdaft, die niemand mehr zu umfpannen vermag,
dauernd den Menſchen alS Kulturivert gelten wird? Wird fie in ibrer Lebensfremdbeit
und Ungreifbarteit dauernd die Macht haben, den Cinjelnen in ihren Dienjt ju
zwingen? —
Vielleicht wird es einmal die beſondere Aufgabe derjenigen Frauen ſein, welche
das Weſen wiſſenſchaftlicher Arbeit kennen gelernt haben, das von dem ſchöpferiſchen
Genius entzündete Feuer von einſamer Höhe hinab in das verſchleierte Tal des
Lebens zu tragen, um den im Halbdämmer handelnden Menſchen Erleuchtung und
Einſicht zu bringen, ſodaß ſie das Wertvolle vom Wertloſen unterſcheiden und die
Swede, für die es fic) lohnt, zu kämpfen und zu leben, erkennen lernen. Trüge fie
dadurch zur Verminderung der Kluft zwiſchen ſachlicher und perſönlicher Kultur bei,
jo könnte das, was ihrer intellektuellen Tätigkeit an Bedeutung fiir die objeftive
Kultur etwa auch in Zukunft abgeht, aufgewogen werden durch ihre Bedeutung für
die Kultur der Perſönlichkeiten.
Und wie alle Kulturgüter, ſo erhalten doch auch die Schätze der Wiſſenſchaft
ihre letzte Bedeutung erſt dadurch, daß ſie zum Material der vollkommeneren menſchlichen
Entwicklung werden. Je beſſer es deshalb der wiſſenſchaftlichen Frau gelingt, ihr
intellektuelles Leben zunächſt und vor allem in den Dienſt ihrer eigenen Geſamt—
perſönlichkeit zu ſtellen, um ſo unabhängiger wird die Kulturbedeutung ihrer Arbeit
von der Zahl und Beſchaffenheit ihrer theoretiſchen Werke ſein. Die ſeeliſche Eigenart
der Frau: ihre größere Unteilbarkeit und innere Einheit, die ſie treibt, ihr ſachliches
Schaffen immmer in irgend einer Weiſe mit ihrem Geſamtſein in Einklang zu bringen,
läßt uns hoffen, daß ihr die Verwertung ihrer Erkenntnis zum Aufbau ihres geiſtigen
und ſittlichen Selbſt leichter gelingen wird als dem Manne, der es verſteht, ſein
perſönliches Leben ganz von der Sache, die er ſchafft, zu ſondern. Auf dieſer größeren
Leichtigkeit, Berufsarbeit und perſönliches Sein ju trennen, beruht ja jum Teil feine
Ridard Magners künſtleriſche Sendung. 647
Rraft, objeftive Rulturwerte von fich loszulöſen, daraus erflirt ſich aber auch vielleicht
die Tatfache, daß fo viele fihrende männliche Geijter, die fiir die objeftive Rultur
Höchſtes feiften, als Perfinlicdfeiten fo klein und wertlos bleiben. Vielleicht
gelingt ¢3 nun der Frau beſſer, fowohl in der fie umgebenden Wirklichkeit wie aud)
vor allem an fic felbft, die Diffonanjen zwiſchen Erkennen und Handeln, zwiſchen
bober intelleftueller und geringer ſittlicher Nultur zur Einheit yu bringen.
Und jedenfalls foll es die wiſſenſchaftliche Frau als ibre befondere eigen:
artiqe Aufgabe begreifen, den Strom der Erfenntnis derart durch iby ganzes Sein ju
leiten, daß er alle kleinlichen und unedlen Beftandteile mit fic) fortreift und nicht nur
durch ibre Werke, fondern vor allem aud durch ihr Sein unmittelbar befrudtend
wieder in dic Umwelt zurückſtrömt. Indem fie fo an ibrer eigenen Perfinlichfeit und
an denen, die threm Einfluß zugänglich find, arbeitet, fcbalft fie Rulturgiiter, die zwar
irdiſch vergdnglicber find, als die objeftiven Kulturwerke, aber doch jum Höchſten und
Beſten gebdren, was das Jndividuum al folches überhaupt ſchaffen fann, und welche
geſchaffen werden müſſen, fol nicht die Geiftesfultur der Menſchheit durd den unge-
beueren Mechanismus des von feinem Einzelnen mebr zu beherrſchenden Wiſſens
ſchließlich in Erſtarrung und in bloßem Fachmenſchentum enden.
ESS
Richard Wagners Rinstlerische Sendung.
Bon
Felix Poppenberg.
Aachdruck verboten.
n Richard Wagners Briefen an Mathilde Wefendonk, die von pictitvoller Hut
jest der Offentlichfeit gegénnt werbden,') enthiillt fic) in feltener Fille das
Schauſpiel cines künſtleriſchen Lebens, cine vie intérieure in Monologen. Dieſe
Briefe eines Künſtlers an cine tiefgeliehte Frau find, trog leidenſchaftlicher Zwiſchen—
blitter, feine LiebeSbriefe, fondern Ausſtrahlungen, Manifeftationen eines Weſens, das
jo ftar€ und ſchickſalsvoll mit der künſtleriſchen Berufung gejeichnet ijt, dah jedes
Erleben, jeder Ajfeft ibm nur in der fiinjtlerifden Umivertung, als Element der
fiinftlerijcben Welt bedeutungsvoll wird, und dak der Menſch in dem CErfennen diefer
Romplerion mandymal fie) aufbäumt und die Kunſt verfludt. Reine Liebes-
briefe leſen wir, fondern eine in folder Reftlofigkeit feltene Autopſychologie des
Riinftlers, der, im Herzenszwang ciner jur Refignation bejtimmten Neigung, fein
Inneres weit Sffnet und fein Geheimſtes opfert. Das Taſſowort gilt hier: C8 führt
did) alled tiefer in dich felbjt. Diefe Frau, der Wagner fern bleiben mugs, bringt
feinem Leben zu einem an fic) ſchon überwachen Crfenntnistrieh die Stimulany, feine
Zuſtände, die wechſelnde Stimmung, die Vibrationen feftyubalten, und wie andere fich
ibre Bilder fcbenten, fo ſchenkt er diefer Frau die Spiegelungen feiner états d’Ame.
1) Herausgegeben von Prof. Wolfg. Golther. Berlag von Alerander Duncker.
648 Richard Wagners künſtleriſche Sendung.
Momentan find diefe Aufzeichnungen, aus der Zufallsjtunde, ,,berausgerifjen aus
dem ewigen Wechſeldrang des Lebens, der Cindriide, der Stimmungen“. Chaotiſch
erfcbeinen fie in ihren Widerfpriichen, in ibren verſchiedenen Rlimaten, in ihren ertrem
entgegengefesten Eraltationen. Die mannigfaden inneren Stimmen ciner vielfialtig
zuſammengemiſchten Natur ſchreien hier aus der Tiefe, fie begebren gegeneinander ibr
Recht, und der Menſch in der unbewupten Dumpfheit feines Schickſals fann zunächſt
nichts anderes tun, als fie rufen laſſen, ibnen zuhören und aufzeichnen, was fle
haſtig und jab durcheinandertinen, — klingt's aud) ihm felbft wirr und widerſpenſtig.
Für den Lefer wie fiir den Sehreibenden begibt ſich aber weiter- und fort:
febreitend das große Erlebnis, daß all diced cinjelne, im Beginn Uniiberfichtliche,
Mifwerftindliche, Natfelvolle, Problematiſche diefes Dramas, mit dem der [cidende
Held fic felbjt in versweiflungsvoller Deuterſehnſucht abmiibt, fic in Cinbeit und
Harmonie Frijtallijiert, dag vom Ausgang flare Vichter auf die Wirren des Anfangs
fallen und dah gum Schluß erfenntnisreif fic offenbart, wie das Schickſal des
künſtleriſch Starfen vingend gegen die Welt, ringend auch gegen den oft wideritrebenden,
menſchlich-irdiſchen Teil der Cigennatur fics geftaltet, wie ihm alles CErleben des
Menſchen nur Stoff feiner „höheren Zwede” wird und wie felbjt Hemmungen ſich
zu fruchbtbaren Reizungen umfegen. An Strindbergs Wort vom „bewußten Willen
in der Weltgefchichte” denft man bier mandmal. Cine ganz neue, wiſſensreichere
Diſtanz ftellt fics mim cin, und alle dieſe Griefe bekommen hinter ihren oft qual:
verzerrten Siigen de momentanen Zuftandes cin dem Schreiber zur Heit, da er fie ſchrieb,
felbjt noch unfichtbares zweites Geficht, bas mit weiten Augen in die Zukunft blidt.
Wagner fagte zwar, ein Muſiker ift fein Weiſer, nur in raſendem Wahnſinn fei
er zu Haus, er felbjt aber war eben mehr als ein Mufifer, und bei aller leidenfcbaft-
lichen Hingabe an feine Stimmungen blieh gleichzeitig fein Antelleft ftets angefpannt,
um feinen barométre spirituel feftjtellen zu können, foiweit es der menſchlichen
Augenblidsgebundenbeit miglich iſt. So ward er fich auch felbjt darüber Flar, daß
fein Leben dramatiſch als Totalitét aufzufaſſen fei und dah die ijoliert heraus—
geriſſenen Szenen irre führten, weil fie erjt durch die vorwärts und riidiwirts
geſchlagenen Verbindungsbriiden die bedeutungsvolle Beziehung bekämen:
„So ein Yebenslauf wie der meinige muf den Zuſchauer immer täuſchen; er
jieht mid) in Taten und Unternehmungen, dic er fiir die meinigen halt, während fie
init im, Grunde ganz fremd find.” Diefer Lebenslauf ijt ein „Exempel, deſſen
Zablen jeden verwirren“, „das ift alles nur zu verfteben, wenn einmal die Summe
und das Fazit vorliegen wird; dann wird man finden miiffen, daß diefes Ungewöhnliche
eben nur fo zu bewirfen war.”
Solche Erfenntnispjade öffnet nun diefer Briefband. Dod) ehe man fie gebt,
ijt es nötig, die äußere Situation, die fichtbare Szenerie, die Oberflächen diefer
ſeeliſchen Hintergrüunde und unterirdiſchen Vorgänge zu zeichnen.
* *
*
Ricard Wagner hatte Otto Weſendonk und Frau Mathilde 1852 in Dresden
Fennen gelernt. In Zürich, das Wagners Evil nach der Revolution wurde, war ibr
Verkehr immer fompathifder geworden, und ſchließlich, als Weſendonks fich ihren
patriziſchen Landjig auf dem „Grünen Hiigel” gründeten, richteten jie fiir den Freund
und deffen Frau Minna ein hübſches Häuschen daneben yu einem, wie fie alle bofften,
Richard Waaners künſtleriſche Sendung. 649
Dauernden „Aſyl“ ein. Den Nachhall glücklicher Zeiten voll Cinvernehmen und
gläubigen Verftehens empfingt man in den Briefen. Schon vordem hatte man in
einer Publifation Wagnerſcher Briefe an Otto Weſendonk!) von diejer Freundſchaft
geleſen. Später in der Erinnerung entlodte fie Wagner den enthujiaftifdhen Ausruf:
„Kinder, Dap wir Drei find, ijt doch etwas wunderbar Gropes. C8 ift unvergleichlich,
mein und eurer größter Triumph.”
Im Spiegel jener früheren Veröffentlichung erkennen wir in dem Mann Mathildens,
dem Großkaufmann, eine vornehme Natur, die dem Künſtler gegenüber, faſt ſelbſt—
verſtändlich, ohne Zaudern und Zweifel, ſeinen Reichtum als Berufung empfand, die
nie etwas halb tat, die, da ſie einmal Anteil an einem Werk und einem Schaffenden
genommen, nicht wieder abließ, und gerade dann, als die äußere Situation heikel und
kritiſch wurde, im Stützer- und Helferamt unter taktvollſter Wahrung der Empfindlichkeit
Der Leidenden und Kämpfenden doppelte Pflicht fab. Charakteriſtiſch fiir beide, für
den Gebenden und Empfangenden, ijt der Dank’ Wagners, der mit einer königlichen
Handbewegung geqgeben wurde und den nicht die gliubigerverfolgte, notleidende äußere
Menſchlichkeit ſprach, fondern das ftolje, halluzinatoriſch-ſichere, genialijde Gefühl, das
ſeiner Beſtimmung gewiſſe Dämonion des Künſtlers: „Ich danke Ihnen für Ihr
Anerbieten kaum, da ich ſicher weiß, daß das Gefühl, ein ſolches Anerbieten ſtellen zu
können, eine Wonne ſein muß, die ſich ſelbſt mehr belohnt, als jede Dankesbezeugung
dies vermöchte. Käme es dazu, daß Sie Ihre Abſicht mit mir ganz ausführen könnten,
ſo dürften Sie, wenn ich je in der Geſchichte der Kunſt eine Rolle ſpielen ſollte,
wahrlich keine geringe Stelle ebenfalls einnehmen, und dieſe Ihnen mit Energie und
aller Rückhaltloſigkeit zu wahren, ſollte mir eine wahre Herzensgenugtuung ſein. Haben
Sie Luſt, ſich mit mir ſo hoch zu ſtellen?“ Wer ſolche Worte verſtand und aufnahm,
konnte kein Kleiner ſein.
Doch ein Vorläufer im Wegebahnen des Genius war Otto Weſendonk nur, ſein
Werk vollendete cin Mächtigerer, cin König, ebenſo wie Mathilde Weſendonks Aufgabe,
dem Meiſter das ihm ſo notwendige Element weiblichen Mitſchwingens zu bieten,
anhängenden Glaubens und aufgehender Weſenshingabe, in ſeinem zweiten Leben in
einer Frau von königlicher Art ſich ſchöpferiſcher und kongenialer erfüllte.
Mathilde Weſendonk war, wie ſich ihr Bild hier aus Einzelzügen zuſammen—
ſetzt, eine Unbewußte. Eliza Wille ſchildert fie als „Jart, jung, voll idealer Anlagen,
mit Welt und Leben nicht anders bekannt, als wie mit der Oberfläche eines ruhig
fließenden Gewäſſers“. Raphaeliſch-Iphigeniſch wie ihre Bilder erſcheint ihr Weſen,
ruhevoll in edeln Maßen. Wagner ſchreibt in drangvollen Pariſer Tagen an fie, die
Betrachterin der Loggien und Stanzen in Rom, und beglückwünſcht ſie, daß ihr ein
„ruhig ſanftes Genießen gegönnt ijt’: „die Bedeutung dieſes Genuſſes wird Ihnen jest
tief aufgegangen fein, vielleicht ijt er fiir Sie, was fiir mich meine Tätigkeit, vielleicht
meine Not it”. Und ein andermal fagt er: „ich bleibe dabei, daß es mir ein Trojt
_ it, fle mit Neigungen ausgeſtattet und in einer bürgerlichen Lage befindlich zu wiſſen,
die Ihrem Leiden einen idvllifden, ſanften Charakter ermiglichen.”
Die ſchwärmeriſche, idealiſche Art diefer jungen Frau empfing mum in jenen
Jiricer Tagen aus Wagners Nabe, aus feinem Bertrauen, aus den „Gaben feines
Wefens, wie fie mir ibm verlieben find gu fpenden’, eine neue ungeabnte Nahrung.
") Charlottenburg, Verlag der Allgem. Muſitzeitung.
650 Richard Wagners künſtleriſche Sendung.
Und ihm, an der Seite der nüchternen, alle ſeine Pläne mit der Hausfrauen-Elle
ängſtlich und zugleich höhniſch-bitter meſſenden Minna, war dieſe bebende Enpfänglichkeit
nach langem Darben Genuß und Wonne. Mathilde ſchrieb ſpäter erinnerungsvoll
von der „ganzen reichen Welt, die er dem Kindergeiſt erfdloffen”. Und Wagner ſprach
in gleicher Crinnerung von der „wundervoll weichen Stimmung jener Zeit”, „die ibm
nod jest den Atem benimmt”.
Es ijt hier auf feiten der Frau nicht jenes fichere Crgreifen und Verſtehen, jenes
bewupte Erfaſſen von Kunſtwerk und Lebensaufgabe, dad fpater die wabre Gefährtin
des Meiſters ibm brachte. Es ift vielleicht nicht einmal bas Nadhfiiblen des WiderFpruchs-
vollen, Zwieſpältigen, mit fic) Gadernden der menfeblich-fiinjtlerifeen Natur. Mathilde
war einfacer organifiert, fie ſchrieb einmal mit ſchematiſcher Pfodologie ziemlich ver—
wundert: fie verftehe nicht, wie man den Beifall gleichzeitig weracdhten und doc fuchen
fann. Uber Mathilde beſaß das, was Wagner in jener Zeit des Rreifens und Werdens,
da all fein Sufunftswirfen ibm felbjt nod balb im Unbewußten fich verbarg, not—
wendiger war als intellektuelles Aufnehmen, als geiftige Gefabrtenfchaft und produftive
Anregung: Mathilde beſaß jened unfaghare ahnungsſchwebende Gefiibl fiir jedes Wort
und jeden Ton aus Wagner Schopfungsivelt. Cr fiiblte, wie fie vibrierte, und
wenn Gedanfen zu fern ftanden, fo war dads Fluidum ihrer Gefiiblgempfinguis fiir
ibn ein Genießen obne gleicen. Gr war der Gebende, aber im Geben ward er
doppelt bereichert.
Ihre Nahe bewirkte ihm Napporte, wie er fie friiher nicht gefannt, fie brackte
— ,ibm lauſchend wie Brunbhilde dem Wotan” — fein innerſtes Wefen gum Klingen,
fie lodte obne Wiffen und Wollen aus ihm das Tieffte und Befte heraus. Wabrend fie
gläubig und bingegeben ihm lauſchte, ward fie eine Erlöſerin und Enthinderin fiir ein
chaotiſches, duntel-verworrencs Snnere. Sie fand rein und unbewußt zu feinen
Quellen, und ibe gegeniiber ward ibm die Gabe rückhaltloſen, ſich ſelbſt klärenden
Mitteilens.
Darin liegt die Bedeutung Mathilde Wefendonfs fiir Wagner. Und es ift
eigentlich etwas febr Feines, dah fie nicht aus den Cigenfebatten ftammt, die ein
Menſch felbfttatiq bewußt an fich ausbildet, die cin Produft feiner Geiſtes- und Willens:
mitarbeit find, fondern daß dieſe Bedeutung in dem undefinierbaren Perſönlichkeitshauch
fag, der von Mathilde ausging und daß fie fics ciner Macht, die fie gar nicht überſehen
und umfaffen fonnte, gliubig-verehrend unterwarf, wie die unfebuldsvollen Frauen der
Mythe dem unbefannten Gotte.
Cine Liebe war es, die, wie Wagner feiner Schwefter ſchreibt: ,,anfangs und
lange jagend, zweifelnd, zögernd und ſchüchtern, dann aber immer beftimmter und
ſicherer ſich ihm näherte“. Cine Liebe, die unansgefproden blieb, bis fie ſich endlich
aud) offen enthüllte, „als ic) vorm Jahr den Triftan dichtete und ihr gab. Da jum
erftenmal wurde fie machtlos und erfldrte mir, nun fterben zu müſſen ...“
Die letzten Gebeinmiffe dieſer feingefpounenen Cinheit sweier Menſchen — „was
fie fidy Flagten und verfagten” — aufzuſpüren, darauf kommt es fiir uns nicht an,
jondern auf die menſchlichen und fiinftlerifehen Ergebniſſe diefes feltenen Erlebens.
Die Mitwelt aber hatte ihre peinlichen Gegenwartsintereffen an diefer Gemein-
ſchaft. Mit plumpen Händen wurden die jarten Faden aufgegriffen, der Klatſch zer—
jajerte fie, Wagners Aſylrecht ward untergraben, nicht Otto Weſendonk wehrte es ibm,
aber die Atmofphare ward unbeilbar zerſtört. Minna Wagner, die in wadhfender Eifer—
Ricard Wagners künſtleriſche Sendung. 651
Jucht abjeits gejtanden — (Wagner war übrigens aus feiner fiberlegenen Erfenntnis
heraus immer gerecht gegen fie, wenn ibm auch das Sujammenleben mit ihr unmiglid
wurde) — die in Den engen Bedrängniſſen ibres fleinen Weſens feinen anderen nobleren
Ausweg wußte, briisfierte Frau Weſendonk. C3 fam zu entivitrdigenden Debatten;
Dinge, die unausgejproden, etwas Sartes und Befonderes bedeutet hatten, wurden
durch nackte rückſichtsloſe Herausftellung, dadurch, dak Maßſtäbe und Gefichtspuntte
aus dem Wiltagsniveau fie vergewaltigten, fo verjerrt, daß die Menſchen, die in ibnen
etwas Heiliges zu hüten glaubten, felbjt erfdrafen, fich diefen fo ganz anders be-
leuchteten Cituationen nicht mebr gewadhfen fiiblten und in wiirdigem Einverſtändnis
Die anſtändige Trennung allem vorjogen.
poder Reſt ift Schweigen und fic neigen in Ehrfurcht“, fagt Mathilde Weſendonk
in ihren Crinnerungen,
So beginnen wieder die Wanderjahre Richard Wagners. Ihre Stationen balten
die Briefe und Tagebuchblatter feft, die er fiir Mathilde ſchrieb. Sein äußeres Leben
verfolgen wir in ibnen auf mannigfadhen Szenen. Mit befonderer Liebe ausgemalt iſt
Die erjte: Benedig und fein neues Afol in dem großen ftillen Palazzo am Canale
grande, wo der Trijtan, das „tönende Schweigen” nun fomponiert wurde, wo es um
ibn wie Verjauberung ijt, wenn er abends in breitem Mondesfdhatten heimkehrt, am
ftummen Palaſte ausſteigt: „weite Räume und Hallen, von mir allein nod bewohnt.
Die Lampe brennt; ich nehme da3 Bud) zur Hand, leſe wenig, finne viel.” Gondel—
lieder, bunte Lichter, eine Luft wie „weicher langgebaltenerGeigenton”, endlices Ber:
jtummen, und der „letzte Ton löſt fic wie in das Mondlicht auf”.
Dann folgt Luzern im Schweizerhof mit Triftan-Vollendung; die ſchlimme parifer
Zeit, die fo hoffnungsvoll und überraſchend fiir ibn im Enthuſiasmus der franzöſiſchen
Freundesgemeinde begann und mit der graufamen Niederlage des Tannhäuſer endete,
cine Beit der Hebjagd, der Unſtäte, de3 völligen Mufgeriebenfeins, ſchwerſter Geldnöte,
voll Versweiflung und Leidensiveihen, voll ſchleichender Freudfofigfeit in ,,bleichen
feelentojen Tagen”. Die Cpifoden von Biebrich und Wien, unterbrochen durd)
ruſſiſche Konzertreiſen, „um das Leben aufrecht zu erhalten”. Dazwiſchen Aufdämmern
der Meifterfinger und dann mit einemmal Minden und die Königsſonne; und die
Partitur des Rheingold und der Walküre, das heilig gebiitete Befigtum Wefendonks, wird
zurückgewünſcht fiir Ludwig den Bollender, und Frau Weſendonk wird von Frau
von Bülow um die Wagnerſchen Manuffripte ibrer Mappe gebeten. Und die lepte
Station der Briefe ift Triebfchen, wo de3 Meiſters Wähnen Frieden fand, und von wo
ex in Der Stimmung der Erfüllung an Clija Wille von feinem neuen Leben und von
Cofima der Gefabrtin, die er errungen, ſchrieb: „ganz unerbirt, feltjam begabt,
Liszts wunderbares Ebenbild, fie wußte, daß mir zu belfen fei, und fie bat mir
gebolfen. Cie hat jeder Schmach getrogt und jede Verdammung über fid) genommen.
Sie hat mir einen wunderbar ſchönen und kräftigen Gobn geboren, den ich kühn
Siegfried nennen fonnte; der gedeibt nun mit meinem Werfe und gibt mir ein neues
langes Leben, das endlich einen Sinn gefunden bat...“
* *
*
Situationen, Schauplätze und Vorgänge ſind das. Das Weſentliche dieſer
Dokumente aber ſtellt ſich nun darin dar, wie dieſer Erlebensſtoff in einem formenden
und geſtaltenden Geiſt verarbeitet und umgeprägt wird, wie er ſich zu fruchtbarer Nahrung
652 Richard Wagners künſtleriſche Sendung.
fiir die innere Vorſtellungswelt umbildet, wie aus ihm fic) Weltanſchauung kriſtalliſiert.
Transparent werden in dieſen Briefen die Gegnerſchaften in der eigenen Bruſt, die
Kämpfe zwiſchen menſchlichen Wünſchen und dem künſtleriſchen Trieb, der den von ibm
Vefejjenen unbarmberzig fteilfte Leidenspfade treibt. Rückſichtslos, den Moment aus-
ſchöpfend, zeichnet Wagner die Phafen diefer innerliden Kämpfe bis aufs Blut auf.
Was ifm, dem CErlebenden, fonvuljivifdy erfcheint, wird aber uns in dieſem Zufammen-
hang, in dieſem überſchauenden Sujeben ein überraſchendes Schaujpiel organiſch fid
vollziehender, endgiltiger Klärung zuſtrebender Prozeſſe.
Zwei ſtarke Tendenzen treiben Wagner, die eine iſt, „daß er bis in die feinſte
Verzweigung Mitwiſſer ſeines Schickſals werden will, nicht um es gegen den Lauf zu
wenden, ſondern um täuſchungslos ihm gegenüberzuſtehen“, es auf ſich zu nehmen.
Die andere iſt die Leidenſchaft, ſo viel wie möglich ſich „auf der höchſten Höhe ſeines
Weſens zu halten“; ein Drang über das Menſchliche hinaus zum Intelligiblen iſt das,
und aus dieſem Drang erklärt ſich, daß Wagner viel mehr für Schiller als für Goethe,
den „Augenmenſchen“, übrig hatte.
Jene erſte Tendenz trieb ihn yu der ſtändigen Analyſe ſeiner Suftinde, zu dem
raſtloſen Eifer, aus ſeinen Stimmungsmoſaiken immer neue Verſuchs-Abbilder ſeines
inneren Weſens ratend, kombinierend zuſammenzuſetzen, um der Wahrheit ſeines
Ichs näher zu kommen.
Cr ſtellt ſich ſcharf alle ſeine Widerſprüche vor. Wie er müde und bhoffnungs-
los die Ruhe, das Alleinſein ſucht, wie der Gedanke an Weltflucht ihn beglückt, wie
er einſieht, daß ihm doch nicht zu helfen ſei, daß die neuen Werke unausführbar ſeien
und daß ihm ein ſtiller Platz, fern und einſam, am beſten tauge. Und wie er dann
erkennen muß, daß er die Einſamkeit gar nicht verträgt, daß die Ruhe nur Unruhe
für ihn wird, daß er, der ſich für die Zurückgezogenheit geſchaffen glaubt, immer
wieder unwiderſtehlich von der Welt an ſich geriſſen wird:
„Alles ijt mir fremd und ſehnſüchtig und oft blicke ich nach dem Land Nirwana.
Doch Nirwana wird mir ſchnell wieder Triſtan. Sie kennen die buddhiſtiſche Welt—
entſtehungstheorie. Cin Hauch trübt die Himmelsklarheit, das ſchwillt an, verdichtet
ſich, und in undurchdringlicher Maſſenhaftigkeit ſteht endlich die ganze Welt wieder
yor mir. Das iſt das alte Los, fo lange ich noch unerlöſte Geiſter um mid babe.“
Som wird Far, dah der Künſtler „ſo rect der Narr feines eigenen Bewußtſeins
ijt, aber er ijt dabei febr fiinjtlicdy fo gemacht, den ewigen Widerftreit ausjubalten.
Ja immer im Widerftreit fein, nie yur vollſten Rube feines Annern zu gelangen,
immer gebept, gelodt und abgejtofen gu fein, dad ijt eigentlich der ewig brodelnde
Lebensprozeß, auf dem ſeine VBegeijterung wie eine Blume der Verzweiflung bervortreibt.”
Das Unnatiirliche dieſer Exiſtenz fühlt er: „ein natitrliches Leben führt man
nun einmal nicht; um nun halbwegs wieder natiirlics zu werden, müßte e3 viel
Fiinftlicher fein, ungefibr wie mein Kunſtwerk felbjt, dad auch ſich in der Natur und
Erfahrung nicht wieder findet, jein neued höheres Leben aber eben durch die vollendetite
Anwendung der Kunſt erhalt.”
In diefem angefpannten Belauern und Belauſchen feiner ſelbſt, diefem Erkennen,
dah er fic) trotz des Widerſtrebens, immer wieder von dem fiinjtlerifden Damon bis
jum Glücksgefühl berauſchen, ſich bis zum Vergeuden aller Kräfte hinreifen läßt, gelangt
ex zur Einſicht feiner Beftimmung. Cr merft: nicht er wirft, fondern in ibm wirkt es.
Das Wünſchen und Wollen des beſchränkten dumpfen Bewußtſeins wird nicht qefragt,
Ricard Wagners künſtleriſche Sendung. 653
ex bat nur yu geborden und feine Aufgabe auf ſich zu nehmen. Weltgeift-Sujammen-
bang, Berufung fühlt er, und als Werkzeug beugt er jich demiitig. „Dem eigentlichen
Leben gegeniiber, laſſe ic) mich getrojt von meinem Inſtinkt leiten, mit mir wird etwas
gewollt, was höher ijt, als der Wert meiner Perfinlichfeit. Dieſes Wiſſen ijt mir
fo eigen, daß ich lächelnd oft kaum nod) frage, ob ic) will oder nicht will, Da forat
der wunderliche Genius, dem ich fiir dieſen Lebensreft diene, und der will, dah ich
vollende, was nur ic) vollenden fann.” Schon in Venedig ſchrieb er: „ich will aus-
balten, denn ich mug. Ich gehöre nicht mir, und meine Leiden und Bekümmerniſſe
find die Mittel eines Siweds, der all dicjer Leiden fpottet.”
Diefe teleologiſche Auffaffung und jene andere Tendenz, ſich miglichjt auf der
höchſten Hobe feines Weſens yu halten, jie beide verarbeiten nun aud die Mathilden—
liebe und ziehen fie in jene myſtiſchen ſchickſalsvollen Rreife, in denen, wie Wagner
abnte, fein wahres innerlices Daſein fid) gebeim, ſelbſttätig, notwendig vollzog.
Gleich Schopenhauer Fam er auf den Gedanfen einer Metaphyſik der Liebe.
Nur dah bier nicht die Geſchlechtsliebe gemeint ijt, und daß nicht das Lebensverlangen
der nächſten Generation, das Rind, das Treibende ijt, fondern künſtleriſch-genetiſch
wird die Deutung. Wagners Griibeln kommt zu dem Saw, dah die „Idee Anteil an
der Geftaltung der Erfahrung bat”, und diefer Sag bedeutet fiir diefes Erlebnis nichts
andere alS dak der im Unterbewußtſein ſeines Weſens ſchlummernde Triftan yum
Leben, jur Bejahung verlangt und ibn in diefe Liebe geführt habe, wn ibm in
Erregung und Aufſchwung jene „äußerſte große Lebensftimmung” zu bereiten, die
zum Werden und Geftalten unendlicder Sebnfucht und auflöſenden Liebestodes
fruchtbar wäre.
So ringt der demiurgiſche Trieb Wagners ewig um Bedeutung und Zuſammen—
bang, im Einswiſſen mit ſolchen unterirdiſchen Beziehungen des äußeren Geſchehens
fühlt er ſich auf der „höchſten Höhe ſeines Weſens“. Peinlich herabgezogen aber wird
er, wenn das konventionelle Alltägliche ſich einmiſcht und ibm rückſichtslos auch einmal
das irdiſche offizielle Geſicht der Dinge zeigt. Das kann er, deſſen Weſen in einem
tiefwurzelnden Pathos liegt, gar nicht vertragen.
Der künſtleriſche Abſolutismus in ihm zwingt und dirigiert alles in die philoſophiſch—
äſthetiſchen Sphären, er wertet und wandelt es dahin um, daß es den Erhabenheits—
tendenzen des Werkes taugt. „Das war ja eben immer das Ausgezeichnete unſeres
Verkehrs“, ſagt er, „daß der eigentliche Inhalt des Tuns und Denkens in geläuterter
Form uns unwillkürlich einzig als beachtungswürdig erſchien und wir gewiſſermaßen
vom eigentlichen Leben uns ſofort emanzipiert fühlten, ſobald wir nur zuſammentrafen.“
Aus ſolchem Geiſt heraus will er jetzt auch die Trennung von Mathilde verſtanden
wiſſen. In Schönheit ſoll die Entſagung geſchehen, „reicher, geiſtvoller, edler“, „immer
mehr auf den Inhalt und das Weſen der Liebe gerichtet’ ſollen ſie dadurch werden.
Als Tat des Erhabenen will er das Scheiden, nicht als Folgſamkeit gegen ein Gebot
des Sittenkodex. Schwer enttäuſcht iſt er daher, als ihm Eliza Wille von Mathilde
ſchreibt, ſie ſei „gefaßt, ruhig, entſchloſſen, die Entſagung durchzuführen! Eltern,
Kinder, — Pflichten . . .“ Und ſehr charakteriſtiſch ſpricht ſich jener in ſeinem Eigen—
willen ſo beharrende und ſelbſterhaltende künſtleriſche Abſolutismus Wagners aus, wenn
er darauf ſagt: „Dachte ich an dich, nie kamen mir Eltern, Kinder und Pflichten in den
Sinn, ich wußte nur, daß du mich liebteſt, und daß alles Erhabene in der Welt
unglücklich ſein mug. Bon dieſer Höhe aus erſchreckt es mich, genau bezeichnet zu
654 Richard Wagners künſtleriſche Sendung,
feben, was uns ungliidlid macht“ . . . „Ich fann und mag das nicht feben umd
biren, wenn icy mein Erdenwerf würdig vollenden foll”, und einige Dage fpater:
„Die erhabene Schinheit meiner Stimmung war jerftirt; fie muß ſich nun mühſam
erjt wieder erbeben.”
Genugtuung empfindet er aber dann, als er aus Mathildes Bricfen, die in gläubiget
Siingerfdaft natürlich zu ibres Meifters Weife dann fic) ftimmte, Einklang bert.
Seine Natur ijt es, wie er felber fagte, ,aus dem gemeinen Zuſtand aufzuregen“,
Treiber höherer Menſchlichkeit zu fein. Hier ruben die Befriedigungen, JFreuden unt
Geniiffe feiner geijtigen Exiſtenz. Und fo febreibt er in äußerlich traurigwebvoller Seti
des Meidens: ,, Mit dir, Kind, babe ich mun auch fein Mitleiben mehr. Dein Tage:
buch, das du mir nod zuletzt gabjt, deine neueften Briefe zeigen dich mir fo boc,
fo echt, fo durch dad Leiden verflirt und geldutert, deiner und der Welt fo mächtig,
daß ic) nur nod) DMtitfreude, Verehrung, Anbetung empfinden fann. Du fiebft dae
Leid nicht mehr, fondern das Leid der Welt; du kannſt es dir fogar in feiner anderen
Form mehr vorftellen, als in der des Leidens überhaupt.“
* *
*ᷣ
Aber man kann ſich nicht immer auf der höchſten Hohe ſeines Weſens halten,
befennt fic) Wagner ſelbſt. Dieſe Philofophie, diefe Syſteme überſchreien manchesmal
nur mühſam fein Menſchliches. Es ijt die alte Klage: „Sollte ich gedeihen, ſo müßte
mir meine Kunſt und ihre Ein- und Rückwirkungen auf mich bis zur Berauſchung, bis
jum vollen Selbſtvergeſſen ſtets nahe fein. Immer aber bleibt gerade mir mur
eigentlich) das Leben vorliegen, das Leben, in dem ich cine fo unnatiirliche traurige
Rolle fpiele. Das ift eben nicht, wie es fein follte; und bleibe ich bet meinem Willen,
jo muß mir endlich faft eine Art von Gigenfinn helfen. Natürlich, und von ſelbſt
macht fic) dabei nichts, ſelbſt mein Kunſtſchaffen nicht.“ Dies Wort — übrigens cin
Beweis des Wahrhaftigheitstriebes Wagners — gejteht cin, wie er wohl oft unter
heftiqgem Widerftand feinem Irdiſch-Menſchlichen die Erhabenheitstendenzen abgewinnen
muß und wie er mit dem „Aufregen aus dem gemeinen Zuſtand“ bei ſich ſelbſt begann.
Dabei konnten natürlich die Reaktionen nicht ausbleiben. Das Menſchliche empörte
ſich, es empfand die Kunſt und die Stimmungsgebote, die aus ihrer Sphäre kamen,
als Tyrannei und Despotismus. Das Geſchöpf empörte ſich gegen den Dämon und
wollte nichts von ſeinen erhöhenden, abſtrakt- ideologiſchen Umwertungen und Ver—
wandlungen wiſſen. „Selbſttäuſchung und Selbſtbetrug“ ſchrie es auf, und es klagte um
feine verlorene Liebe; wie Plato fab es dann in der Kunſt das Lügneriſche, und
Buddha gibt eS recht, der ftreng die Kunſt ausſchloß: „Wer fühlt es deutlicher als
ich, daß dieſe unfelige Kunſt es ijt, die mic ewig Der Qual des Lebens und allen
Widerſprüchen des Daſeins zurückgibt.“
In ſolchen Perioden zertrümmert Wagner ſein ganzes Weltgebäude und gibt ſeiner
Anſchauung das entgegengeſetzte Geſicht. Jenes Metaphyſiſche ſtößt er fort, er ver—
leugnet als Trug ſeine Erkenntnis, daß die Liebe Mittel zum höheren Zweck, Mittel
zur Kunſt geweſen fei. Die Liebe und Mathilde ijt ibm dann allein das Höchſte,
Kunſt erfebeint ibm ,nur ein Spiel, mein wahrer Ernſt iſt nicht dabei, wie er eigentlich
nie gan; in ihr war, fondern dariiber binaus, in dem was ich erfebnte, und nur in
dem, was mic einzig gum Leber und Kunſtſchaffen noch fabig machte! O, glaube,
qlaube mir, daß nur du mein Ernſt bift.”
— — — —
Ridard Wagners künſtleriſche Sendung. 655
Dies Menfechliche findet auch einen gewiffen behaglich-gemiitlicheren, an Stimmungen
des Goethe- Charlotte: Brichwedsfels erinnernden Ausdruc im wweiteren Berlauf der
Korreſpondenz, wenn Wagner die Freundin als Schutzgeiſt des duperen Lebens bemüht,
ihr Befjorgungen und Betreuungen anvertraut. Ziwiebad, der richtige, „ſüße, altgewobnte,
in Milch getancht”, kommt als Nothelfer, die feidenen Betten erfcheinen und die Fojt-
baren meifterjingerliden Hausfleider, die Wagner fo notwendig waren (an Flaubert
und Baljac erinnert diejer Kultus der duferen Weihezeichen). Die feidenen Uberzüge
müſſen erfegt werden, und Mathilde foll ihm in Zürich Stoff dazu beforgen: „ſie
waren grün, könnten aber jur Not aud) rot werden, wie das Laub im Herbft es
wird”; auch die Beforgung eines Dieners, „eines guten Hausgeijtes”, legt er ihr ans Her}.
Dod aus diefem rubhevoll gleicherem Map der Freundſchaft — in diefer Zeit
(1859) wird aud da8 Wort von der „wunderbaren Dreiheit” dem Freund und der
Freundin geſchenkt — fommt nod) einmal ein qualvoller Rückfall in die alte Leidenfcbaft.
Cin Wiederfeben in Venedig rückt das ganze Erlebnis aus der Ideenſphäre in die
menſchliche Wirklichfeit, und deren Cindrucd gegeniiber ſchweigt das Künſtleriſche und
Philofophifese und der leidende Menſch muß auffdreien. Und dann fommt die Wende
pom Jahre 1861 zum Jahre 1862, an deſſem 16. Juni Weſendonks cin Sohn geboren
wird, ibr letztes Rind. Wagner ſchreibt in diefen Zeiten: „ich erwidere Ihnen mit
cinem Befenntnis. Es wird unniig fein es auszuſprechen: alle3 in und an Ihnen
jagt mir, daß Sie alles wiffen, und doch treibt es mich, Ihnen auch meinerfeits
Sicherheit yu geben. — Mun erjt bin ich ganz refigniert!” Aber wie aufgewiiblt er
damal3 war, geht dDaraus hervor, dah vom Juni 1862 bis Mai 1863 mit Ausnahme
eines kurzen Gliidwunfehes zu Mathildes Geburt8tag fein Schreiben ftodt und dah
in dieſer Lücke bedeutungsvoll cin Brief an Eliza Wille fteht, in dem ein belajtetes
Hers fich erleictert: „Ich will diefer Tage endlich) einmal wieder Weſendonk ſchreiben.
Allein — ich Fann nur ibm ſchreiben. Ich liebe die Frau zu fehr, mein Herz ift fo
fiberweid) und voll, wenn id ibrer gedenfe, daß id) unmöglich an fie in der Form
mich wenden kann, die nun zwingender als je mir gegen fie auferlegt fein müßte.
Wie mirs um das Herz ijt, kann ich ibe aber nicht febreiben, obne Berrat an ibrem
Manne zu begehen, den ich innig fdaipe und wert halte.“ Und er ſtrömt fein ganzes
Gefühl aus in der Crinnerung der ,bangen, ſchön beflommenen Jahre“, - die alle
„Suüße feines Lebens enthielten’: Sie ift und bleibt feine erjte und einzige Liebe:
„Wie kann ich mit diefer Frau fo reden, wie es jest fein foll und muh? Unmiglic!
— ja, ic fühle fogar, ich darf fie nicht wiederſehen.“ — Und es dauerte eine Zeit,
bid er fics ans feinen menſchlichen Wirren wieder in die Befeſtigungen feines künſtleriſchen
Wejens zurückretten und wieder halten fann, was er fic) vorgenommen:
„Von meinem Leben erfabren Sie immer nur das Notwendighte — Außerlichſte.
Innerliches — feien Cie das verfichert — geht gar nichts mebr vor; nichts als
Kunſtſchöpfung. Somit verlieren Sie gar nichts, fondern das einzig Wertvolle
erhalten Sie, meine Arbeiten.“
* *
*
Wahrheiten des Wagnerſchen Weſens waren beide, das Menſchliche und das
Künſtleriſche. Das Künſtleriſche aber war die höhere, ſtärkere, fruchtbringendere Wahrheit;
fie ſcimolz das Menſchliche ein und ließ es im Kunſtwerk auferſtehen. Alles Ringen, alles
widerſpruchsvolle Für- und Gegenſtreben, alle die Täuſchungen des Moments, in denen
656 Mariann,
Leben und Kunſt den Platz getauſcht zu haben febeinen, in denen das Leben bejabt
und die Runft verneint wird, das alles find nur GCinjelphinomene, Wetterzeichen
diefes gewaltigen unfidtharen Prozeſſes. Wie aus der wunden Sehnſucht der Triftan,
jo wuchs aus reifer Nefignation der Hans Sachs der Meijterfinger, in feiner mit
Nietzſches Worten „goldhellen, durchgegorenen Miſchung von Cinfalt, Tiefhlid der
Viebe, betrachtendem Cinn und Schalkhaftigkeit, wie fie Wagner allen denen als
köſtlichen Trank eingeſchenkt hat, welche tief am Leben gelitten haben und fics ibm
gleichfam mit dem Lächeln des Genejenden wieder jufebren.” Und am Biel des
Weges erfiillt ſich wirklich mit feierlider Notwendigkeit jene Cinheit, die Wagners
Banderjabre fuchten, die Cinheit von Welt, Liebe und Kunſt im Lebensounde zu
Wahnfried und auf der Feſtſpielhöhe, auf einem anderen ,,Griinen Hügel“, der jest
fein Gigenreich und gu dem alle Völker der Erde wallfabren.
SR LUE
— —Mariann. —
Roman
von
Touiſe Schulze- Brück.
Nachdruck verboten.
5.
Du alte Müller war rein närriſch ge-
worden. Die Leute im Dorf redeten nun
ſchon ſeit Woden von nidts anderem. Im
WirtShaus fagen die Wlten und lachten und
madten derbe Wige in die blauen Tabafs-
wolfen binein, und in den Cpinnftuben
ſchmälten die Weiber und fagten’s immer
wieder, daß es eine Ciind’ und Scand’ fei
und bah ber Alte in den Rarrenturm gehöre.
Seit die Müllerin gejtorben, war faum ein
abr berum, und nun wollte er ſchon wieder
beiraten. Von Rechts wegen fonnte man ibm
bas ja gar nicht fo übel nebmen. Die
Müllerin war feit der Hochzeit der Lena frank |
geweſen und batte faſt fieben Sabre fejt im
Bett gelegen und ihre Leute mit Jammern
und Klagen und Zanken faſt aud ins Toll: |
haus gebradt. Das ift fein Spaß fiir einen
riiftigen Bierziger, der ſelbſt nod) [ebensluftig
ift, acht Sabre fang eine franfe Frau yu
haben. Und nist mal ein Erbe war da fiir
| bas ſchöne Miiblengut.
(Fortlegung von Seite 6115
Die Lena hatte freilich
vier Kinder gebabt, fie batten alle eine furje
Beit lang in der alten Wiege gelegen, in der
jon des Millers Vater und Grofvater bem
Leben entgegengefdrien und als ftramme
Buben ibr erſtes Lebensjahr verfdlafen batten.
Aber diefe waren alle vier Madden geiwefen,
_ und fo kleinwinzig und verfdbrumpft batten
ſie in ber grofen Wiege mitten in einem
Dutzend Federfifjen geftedt, dak man fie faum
finden fonnte. Und die tweife Frau, die feit
zwanzig Sabren allen Rindern im Dorfe yum
| Licht des Daſeins gebolfen hatte, — ſah mit
einem beimliden Entſetzen jedesmal der Zeit
entgegen, wo fie nad der Mühle gebolt tourde.
Es war fajt yu viel fiir Menfdenfraft, was
die Lena jedesmal auszubalten hatte, und
man mufte ja nun dod feben, dak es immer
fiir nichts und wieder nidts war. Denn nad
ein paar Woden oder längſtens Monaten,
während die armfeligen Dinger nicht gunabmen,
| fondern immer armfcliger und twingiger wurden,
Marian.
waren fie auf einmal bin, — wie fleine dünne
Lichter, die eine Weile lang ängſtlich fladern
und dann auslifden.
Dann bimmelte bas fleine Glidden, dad
bie Kinderleichen anläutete, befonders ſchrill
und grell, — als wollte es in das Dorf hin—
ausſchreien „wieder eins“ — „wieder eins” —
und der Eidam des Müllers ging am zweiten
Tag danach hinter dem winzigen weißen
Sarge, der auf dem Kopfe einer Trägerin vor
ihm hinausſchwankte, nach dem Friedhof
draußen am Fuß des Burgberges, wo nun
ſchon die Grabſtätte der Müllersleute wie ein
Garten war mit kleinen Hügeln. Die beiden
erſten Male war auch die Müllerin noch mit—
geweſen. Mit dem Trauertuch, das ſtraff um
die Schultern gezogen war, ſah ſie ſelber faſt
aus wie eine, die ihren letzten Weg geht, und
ſie ſchluchzte und jammerte herzbrechend an
dem kleinen offenen Grabe und wollte nicht
wieder weggehen, und warf ſich auf die friſchen
Schollen und klammerte ſich mit ihren Armen
um den Erdhaufen, daß die Weiber ſelber alle
anfingen, in ihre Taſchentücher zu ſchluchzen
und ſelbſt ben Männern die Augen feudht
wurden. Nur der Vater der fFleinen Toten
ftand tränenlos und finfter daneben. Cr bif
fid auf die Lippen, daß fie bluteten und frallte
feine Hinde ineinander, und fein Blick fiel auf
feine jammernde Frau. Der alte Miller
führte fie dann zuletzt mit Gewalt bintweg,
das Heine Grab wurde zugeſchaufelt, und der
Totengraber mag dann fdon ab, wieviel
Raum er nod daneben laffen müßte fiir das
nächſtemal. Als aber bas dritte begraben
wurde, ba mußte die Lena gu Haufe bleiben.
Der Doktor hatte fic) ins Mitte! gelegt und
es ftrengften$ verboten. Und dann batte er
mit ben Zweien eine ernjthafte Unterredung
gehabt, und der Chriſtian batte gleichgiltig
und ſtumm zugehört und zuſtimmend genickt.
Aber die Lena hatte ſich auf den Boden ge—
worſen und ſo laut geſchrien, daß man's in
ber ganzen Mühle gehört hatte, hatte Krämpfe
belommen, und man hatte ſie ins Bett bringen
müſſen.
Dann hatte der Doktor wieder auf den
Chriſtian eingeredet, und der hatte die Achſeln
gezuckt: „Wenn aber die Frau nun meint, ſie
müßt's erzwingen?“
657
„Die Natur läßt ſich nichts abzwingen“,
hatte der alte Doktor geſagt „und ihr werdet
ſeh'n, daß ich recht behalte. Ihre Kinder
ſind nun einmal nicht lebensfähig, und ſo
wird's auch bleiben. Und ſie wird nur immer
ſchwächer und kränker dabei. Lange geht das
nicht mehr ſo.“ Nach ein paar Monaten war
die Lena dann mit dem Chriſtian zu einem
berühmten Arzt gereiſt, der verordnete, daß ſie
jeft im Bett liegen müſſe, kräftig eſſen und
guter Dinge ſein. Und der Chriſtian mußte
für den Rat einen blauen Schein auf den
Tiſch legen.
Schwerer, ſtarker Wein war in ganzen
Kiſten in die Mühle gefommen, und es ward
| gefotten und gebraten wie zur Kirchweih. Sie
taten alles, was fie fonnten, und twas fic fiir
Gelb faufen ließ, ward herbeigeſchleppt. Nur
das ,,guter Dinge fein”, das fonnte man nidt
kaufen fürs ſchwerſte Geld. Go lag die Lena
denn im Bett und fujonierte bas ganze Haus
und machte denen, die um fie fein muften,
das Leben zur Hille. Dbrem Mann freilic,
dem fonnte fie nicht viel antun. Der war
pom friiben Morgen bis in die ſpäte Dunfel-
beit binein draußen auf dem Felbe oder in
ben Stallen und Scheunen, oder er fubr fiir
den Müller über Land. Wenn er aber ju
Haufe war, dann hielt er ſich unten in den
Stuben, damit die junge Frau feine Schritte
und wenn
nidt hörte. Denn dann rief fie nad ibm,
ex nidt fam, fo begann fie
qu weinen und au jammern, bis er an ihrem
Bett fap. Viele Freude hatte fie freilich niche
davon, denn er bérte nur ftumm auf ihre
Klagen und Zanfen. Und febr bald jtand er
auf und ging wieder binaus feiner Arbeit
nad.
Die Zeit ging bin! Dann, als an einem
hellen Quniabend cin Bote aus der Mühle
nad der tweifen Frau lief und ein anderer
nad) bem Doftor, und als dann eine Nacht
poriiber war, die fo voll Schrecken und
Qualen war wie nie eine vorber, — ba war
| immer wieder mit
ein neued Leben in der Miible aufgewacht, ein
gang ſchwaches, erlöſchendes.
Stundenlang hatte ſich der Doktor um
das Kind bemüht, während die fiebernde Frau
faſt erloſchener Stimme
fragte: „Iſt es ſtark und geſund? Iſt es ſchön?“
42
658
Es war gut fiir fie, dah fie in ſchwerem
gieber lag, als endlich das häßliche, ſchwäch—
lide Geſchöpfchen in feiner Wiege fag. Und
e3 war gut, daß ihr Mann nicht feben fonnte,
wie an dieſem felben Morgen am anderen Ende
des Dorfes die Mariann ihren Qungen bez
fonders herzte. War er dod) heute jieben Sabre
alt geworden. Sie betrachtete ibn mit Mutter:
ftol;, und fie hatte alle Urjache baju. Cin
Pracdtterl war er, Hofen und Kamifol waren
ſchon wieder gu kurz und eng, obgleich fie erft
pom Frühjahr herjtammten. Die febwarjen
Haare fielen ihm wirr bis in die Augen, fie
mupte fie wahrhaftig jdon wieder ſchneiden,
— mit feinen fejten weißen Zähnen zerbiß er
heißhungrig die großen Brotidnitten. Sie fab
ibn lange an. — Gr glich ihr, — ihr ganj
allein. Nur cin einziges Merfmal hatte er
an fic), das fie mit einem jähen Schreck ge-
feben batte, als fie es juerft entredte. Cin
erbjengrofes dunkles Mal an der rechten
Schläfe, halb vom Haar verborgen.
fannte das Mal gut genug, — fie wufte
genau genug, wer an derſelben Stelle gang
genau dadsfelbe hatte. Und fie ftrid) das
Haar des Kindes an der Schläfe berunter,
ſodaß man den Fle nicht fab.
Sie nabm den Jungen auf ben Scho}
und 30g ihn befonders forgfaltig an. Immer
war er ja befjer gebalten, alg die andern
Kinder. Cie fonnte dad ja aud. Sie hatte
eine Eleine Erbſchaft von einem Bruder ibrer
Mutter gemadt, einem wunderlichen, alten
Sonbderling, der gang einſiedleriſch fett langen
Sabren ſchon fiir fic) baufte, niemand in fein
Haus ließ und mit aller Welt in Feindfcbaft
lebte. Es hieß, in feiner Jugend fei ibm
fein Schatz gejtorben, irgendiwo weit in der
Welt. Ws er ftarb, da ftellte fics heraus,
dap er fein Hab und Gut der Mariann ver-
macht hatte. Es war nicdt viel, aber es war
genug, dak fie fic) nicht mehr zu qualen
braucte. Cie hatte in dem ererbten Haufe
einen fleinen Yaden aufgetan und ganz quien
Zuſpruch gejunden. Nun fonnte fie ſich apart
halten und bei ihrem Jungen bleiben.
Die fleine Ladenſchelle bimmelte, eine Nach—
barin fam herein, um Schuhriemen yu faufen,
Nur um drei Pfennige, aber fie mute dod
bie grofe Neuigkeit los werden, dap es in der
Sie
Marian.
Mühle ſchon wieder ungliidlid gegangen fe
Sehredlih hatte die Lena ausgeſtanden. Und
bag Rind fei twieder tot.
Ginen Augenblick verftummte die Gr
zählerin. „Ein Kreuz ift’s, ein arges Kreui.
Nu wird’s wohl das lestemal fein. Wit
fünf Grabern werden fie wobl mun gqenug
haben. Für den Chriſtian iſt's ein argeé
Schickſal. Fiinf tote Kinder und eine immer
franfe Frau. Na, lang wird fie’Ss ja wobl
nicht mehr madden, die Lena. Co Frank und
elend, wie fie immer ijt, Sa, ja, 's Geld
tut's and nidt allein. Die Reichen haben
aud) iby Biindel gu tragen.”
Sie war weg. Cie mufte die Neuwiafeis
nod weiter erzählen. Mariann fag gang zer—
fdlagen ba. Nun würde der Chriftian wieder
vorbeigehen an ihrem Häuschen binter dem
fleinen Garge, in dem wieder cin Stück Hoff⸗
nung eingegraben twurde in die Erde. Sik
fiiblte feinen Triumph, daß dad Schickfal fid
fo bitter an ihm rächte. Das erftemal frei—
lich, Da hatte fie mit trodenen Mugen und zu—
fammengepreften Lippen binter bem Geranim:
topf am Fenfter geftanden und gelauſcht und
von dem blafjen Mann und der ſchluchzenden
Frau hinter dem weißen Carglein auf tbr
cigenes geſundes Rind geſchaut. Aber dann
war's wie cin eisfalter Schauder über fie ge—
gangen. Was den beiden heute das Her
zerriß, fonnte ihr's morgen zerreißen. Und
fie hatte die Hinde gejaltet und ein „Vater
unfer” gebetet und giveimal geſagt: „Führe uns
nidt in Verſuchung!“
Aber wider alles Erwarten blieb das Kind
am Leben. Ob das freilich cin Gliid war?
Cin fo ſchwaches Geſchöpf, das monates
lang zwiſchen Leben und Tod ſchwebte, bas
Gichter und Fraifen batte und engliſche Krank:
beit, bas immer war wie cin Licht, das aus—
löſchen wollte. Die Lena ſchlich im Hauſe
berum, in dice Tücher getwicelt, immer
frierend, in fic) zuſammengezogen, wie cine
gang alte Frau, immer in der Tobdesangit
um das Kind, — nun ſchon über drei Sabre.
Wis ihre Mutter ftarb, war fie nod cinmal
aufgefladert. Cie wollte aud mit ju dem
Begribnis geben. Aber auf dem halben
Wege wurde fie ohnmächtig und mußte beim:
qebradt twerden, Und feit ber Seit war fie
Marian.
gan; rubig geworden, gang teilnahmlos, aud
gan; gleidgiltig gegen ihren Mann. Nur
bas Rind, das Tag und Nacht faſt Wartung
beburfte, bielt fie nod am Leben feft. Und
am UWlerfeelentag, wenn in der frühen nebelig-
falten Dammerung des Rovembertages die
Lichter auf den Grabern angezündet wurden, —
dann iar fie draußen. In ibre Tücher ein-
gewidelt ſaß fie an den fleinen Gräbern, auf
denen die Lichtflämmchen unrubig zuckten,
wie irrende Seelchen. Cie ſaß bis in den
fpaten Ubend binein, bis ihr Mann fam und
fie mit halber Getwalt twegfiibrte. Uber fie
betete nicht, wie fie aud) nicht mebr jur Kirde
ging und nicht zur Beidte.
Der alte Miller hatte feine Frau redt-
ſchaffen betrauert, wie es fic ſchickte und
pafte. Cr batte ihr fieben Ceelendmter lefen
lajjen und jededmal beim Opfergang einen
blanfen Taler auf den Teller gelegt. Cr trug
alle Sonntage jur Rirde den ſchwarzen Rod
und den Flor um den Zylinderhut, der ſchon
fein Brauthut gewefen war. Dann hatte er
mit der Lena abgeteilt und ihr ihr ganzes
Mutterteil herausgegeben, obgleid) er das
nidt nötig gebabt hatte, da feine Frau ibm
bie Halfte zur Nutznießung vermadt batte.
Uber ber Müller hatte den Grundfak: Leben
und [eben laſſen! Und vielleicht machte es
doch der Lena noch Spaß, daß ſie nun das
Geld hatte. „Meine Tochter und ihr Mann
ſollen mich um keinen Groſchen ſcheel an—
ſehen“ hatte er zum alten Schlömer geſagt.
Dem war's recht geweſen, er hatte nicht viel
Freude an der Heirat gehabt, die er doch mit
allen Kräften erzwungen hatte. Es war nicht
ſo gegangen, wie es hatte gehen ſollen. Statt
eines halben Dutzend geſunder Rangen, die
dem Chriſtian gleichen ſollten, die vier fleinen
Grabhügel und das elende Würmchen, die
Lena immer elend, — der Chriſtian finſter
und wortkarg, — nein, viel Segen war nicht
dabei. So war's wenigſtens gut, daß die
Lena das Geld befam, denn wer weiß, fie
fonnte ibm nod) den Tort antun, ju ſterben
mit famt dem Kinde und dann bebielt der
Miller fein Gelb und dem, — dem traute
der fdlaue alte Fudd noch alle Dummbeiten
yu. Er war ja aud) faum fitnfjig, — und
cin Kerl wie cin Baum. Der fonnte nod
659
jeden Tag Heiratsgedanfen friegen und wer
weif, wo dann die gefunden Rangen auf:
wudfen, die ded Chriftian Erbteil ſchmälern
follten. Und als das alles geordnet tvar, da
war's, al8 babe ber Ute nun eingefeben, daß
er nidit mebr nötig fei auf der Welt. Cines
Tages madte er fid) fort daraus, — ganj
ſchnell und ftill, Der alte Hühnerhannes, der
am Morgen binging, um ein Hubn ju bolen,
das er ihm verfauft batte, fand ibn falt und
ftarr in feinent Bett.
, Die gelebt, — fo geftorben” erjablte er
im Dorf. „Das Hubn, das er mir verfaujt
hatte, das batte er ſchon am Abend vorbher
nidt gefiittert, bad arme Vieh, das war halb
verbungert. Und den Doftor hat er um’s
Seinige betrogen, hat's eingeridt’t, daß er
nicht mal ein einjigesmal gerujen gu werden
braucht. Coll mid wundern, ob er unferm
Herrgott nicht aud) fo einen geizigen Streich
fpielt, wenn er in’n Himmel fommt. 's Totene
bemb, twas er fid) bat maden lafjen bei Leb—
gciten, ijt eine Hand lang gu fury getwefen,
fagt die Totenbanne. Da wird unfer Herr:
gott eine Freud’ haben, wenn der Schlömer
mit bem Hemd fommt, das ibm nur bis an
bie Waden reicht!”
Es flojjen nist viel Tranen bei der Be-
erdigung ded alten Filzes. Und feltfiam! Ws
ber Sarg ing Grab gejenft werden follte, da
hatte ber Tolengräber die Grube gu fury ge—
macht, — er ging nicht binein. Unter der
Trauerverjammlung entitand cine arge Auf—
requng. Mit Schaufeln und Haden mußten
bie Leute ſchnell nod nadbelfen, um den nötigen
Raum ju ſchaffen, wabrend der Pajftor {chon
ben Weihwedel gum letzten Segen eingetaudt
hatte und warten mupte.
„Kuck, fud!" meinte der Hiibnerbannes, als
fie fid) nad dem Begribnis im Wirtshaus
ftarften. ,,Sein Leben lang bat der Schlimer
gegeigt und gefiljt und ſich nichts gegönnt!
Sein Leben lang hat er in einem ju furjzen
Beit gefdlaien, — Leut’, sift mir ordentlich
graulich getvefen, wie id ibn lest’ gefunden
hab’ — die Füß gang jteif tiber die Bettfant .
nausgeftredt, — fein Totenbemd hat er ſich
ju kurz maden laſſen, — und nu ijt gar aud
fein Grab ju fury gewefen, — grad’ als ob
unfer Herrgott wollt’ fagen, — folljt fiir dein’
42*
660
Geiz geftraft twerden, follft in meiner Crd’
nidt genug Pla finden! — Wann’s bloß
oben im Himmel Plas gibt fiir den Geij-
fragen.” — Das war ded alten Schlömers
Leichenrede.
Gs hieß, ber Chriftian habe unmenfdlid
viel Geld in lauter barten Talern gefunden
und yu unterft in dem fiebenmal verjdlofjenen
Schrank einen Kaſten mit lauter blanfen Gold:
ſtücken.
Nicht lange danach hatte der Müller dann
den Flor von ſeinem Hute abgetrennt und
angefangen, wieder lebensluſtig und munter
zu werden. Das Jahrgedächtnis der Müllerin
war noch gebührend feierlich und mit an—
ſtändiger Trauer begangen worden, wenn auch
der Müller bei der Ausſegnung der Tumba
nur den Hut vor die Augen gehalten hatte
und ſie nicht mit dem Taſchentuch abzuwiſchen
brauchte, — Gott, man konnt's ibm nidt fo |
übel nehmen, daß er der ewig franfen Frau |
Die Lena hatte |
nidt fo arg nadtrauerte.
aud wie eine lebendige Leich' im Rirdenftubl
gefniet, — lange machte die's aud) nicht mebr,
Und als die Leut’ aus bem Traucramt beim-
gingen, da batten die Weiber gemeint, es
wiirde bald zwei Witwer in der Familie geben,
wenn nidt der Miller nun bald die zweite
nebmen würde.
Tiber den war's dann mit einemmal wie
ein Fieber gefomimen,- wie eine Hererei.
Spitzen ju dreben, fein Haar zu pomadifieren,
am bellen Werftaq im beften neuen Anzug
berum ju geben. Die alte Bauerin, die ihm
die Wirtſchaft führte, fah es mit hellem Ent-
ſetzen. Unb als fie erft herausgefpiirt hatte,
wem gulicbe all dad gefdab, da ſchlug fie
hundertmal bie Hande iiber dem Kopf jue
fammen und fonnte fid) gar nidt fajjen. Sie
verfudte einen Tag lang, die Sache fiir fid
gu bebalten. Cie lief gur Nachbarin. Und
als fie der ergablte, twas fie ausfpioniert hatte,
ba ſchlug die aud) die Hände zuſammen und
wunderte fic) ebenfo, und die beiden ſchimpften
einträchtig zuſammen über die Dummbeit des
Mannsvolfes.
„Und wenn's an die Wlten fommt, dann
if'$ nu gar! Dann find fie blind und taub
und wie vom Teufel beſeſſen. — Dann ift
> “Ri
4
“
Gr
begann feinen Schnauzbart flott in zwei lange |
Mariann.
ibnen alled egal! Ob fie ihrer Familie eine
Shand’ antun und ibr das Geld vertragen, —
und was mal fpater aus fo einer verriidten
Sad’ werden foll, bas ſcheert fie all nicht.
Sie fegen ihren Kopf durch, wenn's aud durch
zwei Wande geht. Und fo wird’s der Miller
aud) maden, und bie Lena ijt bann um ibre
Sad’ !"
„Man tat fid einen Gotteslobn verdienen,
wenn man’s der Lena fteden tat!”
„Oder dem Chriſtian!“
„Nee, dem Chriſtian nicht, der iſt ein
Stolzer, der wär' imſtand und würfe einen
zum Tempel hinaus. Aber der Lena! Die
geht's ja auch zuerſt an.“
„Wer hätt' das gedacht! Der Müller in
ſeinen Jahren! Ja, wenn er ſich cine geſetzte
Witwe ausgeſucht oder des Schlöſſers Marie
genommen hätte, die paßt in den Jahren zu
ihm, — und eine, der man nichts nachſagen
kann. — Aber grad' die, die!
„Hihihihi!“ Die Nachbarin lachte
ſchmitzt.
Nu, der will aud) mal twas fürs Her;
| haben! Lang genug hat er ja aud) die kranke
Frau gebabt. Und alles was Recht ift! Die
| Mariann ijt 'ne ſtaatſche Perfon! Das muß
_ ibr der Reid laſſen. — Cind die zwei denn
| einig miteinander 2”
„Einig?“ Die alte Wirtfdafterin war
ganz; emport, „Wie follen fie benn nicht
einig fein. Die Mariann war ja dreidoppelt
berriidt, wenn fie ibn nicht mit Handen und
Füßen fefthielte. Rriegt den reicften Mann
und einen chrliden Ramen, und dad Rind
friegt einen Vater!”
„Na, wer weiß! Weißt du nod, wie
die Mariann fic damals angeftellt bat? Was
die will und tut, weiß feiner!”
„Aber er figt dod) alle Taq im Laden.
Cine gefdlagene Stunde lang, geftern. Die
wird ihn ſchon fefthalten!” ,
„Eine Scand’ ift’s, eine wahre Scand’!
Sind genug im Dorf, die ihr gang Leben
ebrbar und brav gewejen find, und nun
judt er fid) die aus! So find bie Manns-
bilder!“
Wie ein Lauffeuer ging die Neuigfeit im
| Dorf herum. Die Manner ladten, die Weiber
ſchimpften. Die Manner fanden’s gar nidt
ver⸗
we?
wh *
Mariann.
fo dumm von dem Miller. Gelb genug hatte
er, wenn er nun aud nod fein Plaiſier an
einer ſchönen Frau haben wollte, wer fonnte
ihm's denn verivebren. Es hatte ihm feiner
toads drein gu reden. Wenn er felber fid
nidts daraus madte, daß der Junge da war,
dann fonnte es den anderen ja aud) egal fein.
Das war feine Sache. Und je mehr dic
Weiber ſchimpften, defto mehr lachten die
Manner, fauten an ihren Pfeifen und ſtießen
fide) ſchmunzelnd an: Gin Hauptferl, der
Miller!
Die Ladenfdelle an Marianns Tiir fam
in den letzten Tagen gar nidt aus dem
Bimmeln heraus. Und jebde, die fam und fiir
cin paar Pfennige etwas faufte, ftarrte die
Mariann an wie ein Wundertier. Und jede
hatte fo eine fonderbare Urt, allerband wunder:
liche Fragen gu tun, bap es der Mariann
ordentlich unbeimlich tourde. Aber, wenn fie
bann felber fragte, was [og fei, gab es feine |
Antwort.
Dann ließ das nach, und der kleine Laden
blieb ſehr lerr. Die Weiber waren überein—
gcfommen, daß die Mariann eine ausgemachte
Unverſchämte ſei. Daß ſie nur darauf ge—
wartet habe, bis die Müllerin unter der Erde
läge, um dann den Müller zu heiraten. Und
wer weiß, was da noch alles heimlich ge—
ſchehen iſt. Wer weiß, ob die Mariann es
nicht ſchon vorher mit dem Müller gehalten
hat, wer weiß, — ja, wer kann wiſſen, was
geweſen iſt.
661
| wenn der Wind durchs Kornfeld geht. Und
bie Nachbarin im Kirchſtuhl riidte von der
' Mariann ab, wie von einer, die ein ſchweres
| Berbreden begangen bat. Und gang verftirt
| ging die Mariann nad der Kirche heim,
allein, — cine Gemiedene.
Nicht, dah fie fic gar zu viel daraus
machte. Cie wußte aus Erfabrung, daß Dorf:
Erft war bas alles wie ein beimliches |
Fliiftern von DMtund gu Mund. Aber es
wurde ſchnell lauter.
Tagen wußte es das ganze Dorf: Der Müller
heiratet die Mariann, weil die Mariann ihn
am Faden hält und auf ihr Recht pocht, jetzt,
wo er Witwer iſt.
Die Mariann wurde gemieden wie eine
Ausfagige,
jieben, weil es ihr Unglück war, aber ald die
Und nad ein paar
Wiles frithere hatte man ihr ver: |
Bauern glaubten, nun fee fie fid) ins Glid, |
in ben Reichtum hinein, ba wurde alles Ver—
gangene aufgetodrmt und twar wie eben Ge—
ſchehenes. Und alé die Mariann am nadften
Conntag zur Kirche ging, da neigten ſich die
Köpfe der Weiber dicht zuſammen, und cin
Flüſtern und Tufdeln ging bhindurd, wie
geſchwätz cin paar Tage bauerte und dann
wieder vergefjen wird. Wber fie hatte gu viel
durchgemacht, gu viel gegriibelt in den acht
Sabren, feit bas Kind ba war. Befonders in
der letzten Beit, feit fie nicht mebr auf Tage—
arbeit ging. Wenn fie ftundenlang mit Strid:
firumpf ober Nähzeug hinter dem fleinen
Fenſter fap, dann gingen und famen die Ge—
banfen gar kraus und bunt durdeinander.
Langfam war aller Hak in ibr ausgelifdt.
Mit jedem Sarge, der in der Grabjtatte der
Müllersleute eingeſenkt wurde, hatte fle ein
Stiid davon begraben und jedesmal cin
griferes. Cin anderes Gefiibl war geboren
und groß geworden. Mitleid mit dem Mann,
ber fie um ibr Lebensglück betrogen hatte und
felber fo ungliidlid) war, Mitleid mit der
Frau, bie fo viel ärmer und elender war, als
fie felber. Sie mit ihrem feften Sinn und
ftarfen Mut. Und dann hatte fie aud den
Sungen, ihren Augapfel und Herzenstroſt.
Das Herz ging ibr auf, wenn fie ibn anſah,
obgleich ibr im Laufe der Beit mandmal
bang der Gedanfe aujftieg, was werden würde,
wenn der Junge groß wurde und eines ſchönen
Tages vor fie hintrate und ju fragen begänne.
Aber das war ja nod lange bin! Warum fic
jest damit quilen. Freuen wollte fie fid an
ibm, fo [ange es noc Beit jum Freuen war.
Sa, und die war jest. — Das war ein
Sunge! Wie ein Pring! Um Halbfopfgrdfe
fab er fiber die anderen tweg, wenn er am
Sonntag auf den Kinderbanken fniete. Ceine
didten ſchwarzen Haare waren lodig, die
grauen Augen umfaumt von langen fdwargen
Wimpern, — die Baden fo rot, als ob bas
gefunde Blut daraus bervorfpriten wollte vor
Ubermut. Seder Vater hatte müſſen unbändig
ſtolz fein auf einen ſolchen Jungen. Wie er
ſich boc ftredte und redte, wenn er durd) die
Kirche ging, wie er den Kopf in den Naden
warf und frei und ftol; umberfab. Cte hatte
662
immer der BVerjuchung widerftanden, ihn wie |
ein Stadttind anzuziehen, obgleich die Geſchäfts—
reifenden oft genug allerband Berlodendes
vor ibr ausbreiteten. Er follte nur ein Bauern:
junge fein, twie die andern. Aber fein Kittel
war vom teuerften und beften Stoff, den ed |
gab, fein Hembe am iweifeften, und das Hals-
tud am ſchmuckſten gebunden. Und feine
Schuhe glangten und fpiegelten, und er ging
darin mit ſchnellen feſten Sdiritten, genau fo
wie — — ja wie — — Ihre Hinde fielen
mit bem Stridjeug in ben Schoß, und ihre |
Gedanfen gingen weit zurück. Und ibre Mugen
füllten fic) mit Trinen, ihr Herz flopite ftark,
und cin wunderliches Gefühl ftieg in ibr auf,
fiir bas fie einen Namen toute.
Sie hatte fo lange geſeſſen, nun {drat fie
zuſammen. Der Junge fam mit eiligen Sagen
die Gajje binunter, bas Haar fiel ihm in die Stirn, |
in feinen Mugen gligerte es erwartungsvoll.
„Mutter,“ feudte er, ,, Mutter” —
„Junge, bift du gerannt” —
„Ja, Mutter, aber — fag’ Mutter, ift das
wahr? Iſt das gewiß wahr?“
„Was denn?“
„Sie ſagen, du heirateſt den Müller!
Den alten Müller! Der Toni von der Brücke
ſagt es und ſagt, der wär' dann mein Vater.
Und der tät mich dann hauen. Und du wärſt
ſeine Frau. Und der wär' immer mein Vater
geweſen. Du hätteſt es bloß nicht geſagt,
weil der eine andere Frau gehabt hatte. —
Cag’ Mutter, — wär denn da die andere |
Ich will feine |
andere Mutter! Ich nehm' eine Rute und jag’.
Sie fol nicht fommen, der Miller |
Frau meine Mutter geweſen?
fie fort!
aud nidt. Ich will feinen Vater. Wenn
einer mid hauen foll, dann follft du mid
ganz allein bauen. Und icp twill feine andere
Mutter, Mie und nie. Ich jag’ fie fort.”
Mariann hordte erferoden auf das
kindiſche Geſchwätz. Cie hatte fein Arg ge—
habt bei den Beſuchen des Müllers, der jetzt
als Witwer vieles für ſich beſorgen mußte
Das war ja
und gern Rat bei ihr holte.
auch dummes Zeug, was der Junge da redete.
Kindiſches Geſchwätz. Aber nun fing er
wieder an:
„Des Toni Mutter hat geſagt, das war.
eine Scand’ und dürſte nidjt gelitten werden.
Mariann.
Und bes Qafob Vater hat gefagt, ber Müller
hatte ret und wir cin fdlauer Fuchs
Mutter, warum ift das cin Fuds und eme
Sdhand? Und bes Toni Bruver aus per
erften Bank bat mid geftumpit und ~ gefagt:
‚Na nu friegft du ja aud endlid einen ehr—
liden Namen.’ — Was ift das, Mutter, und
warum hab id’s nidt gebabt bis beut ? —
Sh will nidts vom Miller, er faßt mic
immer fo feft an, und bann gibt er mir einen
Secupps. Und dann fist er fo lange Da bei
bir. — Gr foll fortgeben, — er foll nicht
mein Water fein!”
Mariann fap jitternd ba. Alſo darum!
Darum died Getufchel und Geraune, darum
die Weindfdaft ber Weiber. Qa, fie formnte
fich bas gut genug denfen, fie fannte die Bartrers.
Die Frau des reichen Millers zu werden, Das
ginnte ibr feiner, Wenn fie nur alle gewußt
batten, wie unnötig fie ſich boften und giftetert.
Den Miller heiraten! Das wäre freilich
ein Streich, den fie bem Cbriftian fpielen
finnte. Seines Schwiegervaters Frau werden!
Ihm das Vermögen nehmen, wegen deſſen ex
ſich verfauft hatte! Sodaß nidts fiir ibn
iibrig blieb, alé die franfe Frau und die vier
Griber. Das wire freilich cine Strate, wie
fie fein Teufel bogbafter hatte audsdenfen
finnen. Einen Augenblick fpielten ibre Ge—
danfen mit folder Hache. Aber aud nur
cinen Mugenblid lang. — Mein, fie wollte
und braudite feine Race! Gott im Himmel!
hatte gerächt! Und nicht einmal bas wollte
fie glauben. Es twar eben gefommen, trie es
fommen mufte. Die Yena war fo ſchwach
| und fiimmerlich, wie fonnte es da anders
| fein, Nein, nein! Sie wollte nicht daran
| denfen, nicht darüber nadfinnen.
Gin anderes hatte fie mehr erfdredt! Da
war ja ſchon die erfte Frage des Jungen ge-
wefen, die fie fo febr fiirdtete.
, Was ift das Mutter, cin ebrlicder Name,
und warum ſoll ich den erjt friegen?” — —
Cie ſeufzte tief und dngftlid auf. Der Junge
hatte ſich an fie gedrangt und fab fie mit
unrubigen Augen aufmerffam und forfdend
an. Sie verbarg ihre Unrube und Angft.
„Das iſt ja alles dDummes Geſchwätz. Das
jind dDumme Qungen. Der Müller wird nicht
| dein Vater,”
Mariann.
In feinen Mugen blitzte es auf. „Das iſt
gut, Mutter! Ich hätt' ihn auch nicht ge—
wollt. Nie! Ich bau den Qafob, wenn er
das nod mal fagt. Dd bin viel ftarfer, wie
der,“
Sie feufste.
einen Unband zu ergieben.
ablenfen von dieſen Dingen.
„Komm, wir geben nad der Burg.”
„Ja, ja,” jubelte er. „Und ich nehm' mein
Schwert mit und erftedhe die Gefpenjter.”
Nod immer ging fle mit bem Dungen an
Sonntagnadmittagen nad der Ruine. Er
fpielte gar zu gern da oben berum und
kämpfte mit eingebildeten Rittern und Ge—
fpenftern.
In tiefen Gedanfen ging fie den Berg
binan, während der Junge um fie berum:
fprang. Oben twar es fill und friedlidh, ein
Herbfttag, wie jener vor acht Jahren. Wieder
bingen bie Ranken des twilden Weins rot
iiber bem Epheu, und wenn fie auf das Dorf
binabblidte, quoll ber blaue Raud aus den
Schornſteinen, wie damals. Wher in ihr und
um fie war es anders getvorden. In ibr
war Berlangen nad) Frieden. Wenn heute
der Ghrijtian gefommen tare, fie bitte Frieden
mit ihm gemadt. Cie hatte ihm verziehen
und ibm nod etwas Glück fiir fein Leben ge-
Es war bod fdwer, fold
Sie wollte ibn
wünſcht. — Sie glaubte faft, er miiffe
fommen, — fie fubr gufammen bei jedem
Geraufd.
Uber es regte ſich nichts, fein Schritt er-
flang, feine Geftalt jeigte fich zwiſchen dem
Brombeergerant.
von Brombeeren, mit rotem Mund. Und dann
driingte er jum Heimgeben.
G3 dammerte, als fie den Berg binab |
berbe Oftoberluft war voll |
gingen. Die
Mur der Qunge fam, fatt ;
Friſche, ein ftarfer Erdgeruch ftieg von den |
gepfliigten Feldern auf. Drunten auf der
Straße gingen die Madden und Burfden in
langen Reihen ſpazieren. — Sie fangen, —
flay und deutlich famen die Tone in die Hobe, |
die Worte des alten Volfslicdes:
pote gingen in dem roten Walb — —
Und fommt ber falte Winter bald,
Da muh ich von dir ſcheiden, — ja ſcheiden,
Denn cine andere, vie mag ich leiden, —
viel lieber leiden.“
663
Gine frijtige, jauchzende Burſchenſtimme
fang es nod einmal allein nad:
„Denn cine and're, die mag ich feiden, —
viel fieber leiden.“
Mariann nidte leiſe mit bem Ropfe den
Taft. Da unten fangen fie ihr Leid, — ihr's
und das fo mander bon denen felber, die
jest fo fröhlich ſangen.
Aber jest hob eine ſtarke, Helle Mädchen—
jtimme an: „Und magſt bu eine and're leiden,
ja viel lieber Leiden
„So wollen wir zwei febeiden, ja ſcheiden.
Und es gibt ja viel fpitige Meffer blank,
Ind es gibt ja viel tief, tiefe Wafer falt,
Wenn id von div muß ſcheiden, — ja fir
immer ſcheiden.“
Ein Dutzend Stimmen fielen ein, es klang
wehmütig und bod ſüß:
„Und es gibt ja viel tief, tiefe Waſſer lalt,
Wenn ich von dir muß ſcheiden,
Ja für immer, für immer ſcheiden.“
Mariann ſchauderte. Wn das tief, tiefe
Waſſer hatte ſie auch damals gedacht, eine
Zeitlang.
Die Singenden hatten einen Augenblick
geſchwiegen. Aber jetzt fingen ſie wieder an:
„Es iſt ſich fein ſchön'res Leben,
Als wenn fic) der Sommer annabt,
Da blühen die Rofen im Garten,
Solbvaten, bie ziehen ins Feld.
Und alS er nun wieder nad Haufe fam,
Feinsliebchen ftand binter der Tür,
Gott grüß dich, du Liebe, du Heine,
Du Herzallerliebſte, du meine,
Bon Herzen gefalleft du mir.
Was brauch' ich denn dir gu gefallen,
Sc) hab’ einen anderen Shag,
Ich bab’ cin lieberes Leben,
Ich weiß einen beſſeren Platz
Was zog er aus ſeinen Taſchen?
Ein Meſſer, war blank und war ſpitz,
Er ſtach es ihr in das Herze,
Das Blut wohl über ſie ſpritzt.“ — — —
Dann hob der Sänger von vorher
wieder an:
„So gebt’s, wenn zwei Knaben
Ein Mädchen lieb haben,
Das tut ſich ja ſelten ein gut —
Wir beide, wir haben erfahren, — erfahren,
Was untreue Liebe tut!"
Jawohl! Mariann wußte das aud. Nur, daß
fie die Berlafjene war, — fie hatte aud Seiten
gebabt, two fie ein Meſſer hatte nehmen finnen
und es bem Ungetreuen „wohl in das Herze“
ftofen, daß „das Blut wohl iiber ihn ſpritzt“.
Aber bas war vorbei. Lange vorbei. Cie
febte fic) pliglic auf einen Stein am Weg:
rand und brad in ſchluchzendes Weinen aus.
Warum? Sie wufte ed felbft nicht recht.
War e8 bie Herbftlujt, die Erinnerung, der
Gefang? — — —
Der Junge ftand unrubig daneben und
verfudte ibr bie Hande vom Geficht gu nebmen.
„Mutter! Gat dir einer twas getan,
Mutter!? Tut dir was web? Mutter, twein’
nidt fo, Mutter!“ — — —
Das bradte fie wieder gu fid. Sie
trodnete bie Tränen und ging ben Berg
binab, Um Rirdhof ftand bas Tor offen.
Cie ging binein.
€3 war bald Allerjeelen, ba mußte man
aud an das Sdmiiden der Graber denfen.
Cine Weile ſaß fie an den Gräbern ibrer
Gltern. Wie hatte fie ihrer Mutter nach—
getrauert! Und doch, wie gut war's, daß die
alte fromme Frau das nicht mehr erlebt
hatte, — bas — — —
Die Bitterfeit, die wor der weichen
Stimmung des Nachmittags gewiden war,
wollte mit ganzer Macht wiederfommen.,
Sie ging zwiſchen den verwahrloften Hiigel-
reiben hindurch. Langes, verdorrtes Gras
rajdelte leiſe im Abendwind, die diirren
Blumen bes Thymian ftanden braun da:
zwiſchen. Da hinter bem fleinen Tannen:
gebiifd waren bie Graber ber Miillersfamilie. |
Mariann fehrte um. Cie micd den Plas,
foviel fie fonnte. Aber ein fonderbarer Ton
lief fie ſtill ſtehen. Halb cin Stöhnen, balb
ein Schluchzen. — — Das war bie Lena,
bie da gwifden den Gräbern {niete.
Sie tat einen Schritt nach der Stelle,
aber fie zog den Fup wieder zurück. Was
follte fie ba? Die Lena trijten? Cie ware
dod) wobl die [este dazu!
| poll das Händchen.
Mariann.
Aber ba hörte fie cin Kinderwetmen. Hex
Gott, die Lena hatte das Heine Mädchen mit,
das franflide, ſchwächliche Dingelchen. Und
es wurde fdon kühl, ber herbſtliche Abend—
wind machte ſich auf. Sie ſtand ſtill und
horchte.
Nun war wieder alles ſtill. Sie würde ja
heimgehen mit bem Kinde. Wariann gina
langfam weg, jur Kirchhoftstür hinaus, cin
Stiidden die Straße entlang.
Dann blieb fie ftehen und fdaute zurück.
eine ganje Seitlang. Wber bie Lena fam
nicht. Und es war ifr, alé hörte fte Das
ängſtliche Schreien eines Kindes.
Sie lief den Weg zurück, der Junge
binter ihr. Ja, bad Rind fdrie jammervoll.
Und da, givifden ben Grabern lag die Lena
sujammengefauert, blab, ohnmächtig — Das
Kleine ſaß hilflos im verborrten Gras, mit
verfdiwollenen Augen, heifer geiweint.
Sm nächſten Augenbli€ hatte Marian
bie Lena im Arm. Herr Gott, wie dünn fie
war, wie federleicht. Wie fein und gelbblaß
das Geſicht, wie fpigig die Nafe, wie dDunfel
die Schatten unter ben Mugen. Cie war
nidt ganz betwuftlos, fie öffnete die Augen
cin wenig.
Was follte Mariann tun? — Bis der
Sunge in das Dorf gelaufen war und Hilfe
geholt hatte, das dauerte gu lange. Und die
Bauern wuften ja nidt einmal, twas not
tat. Cie lief gum Brunnen und taudte ibs
Tud ing Waffer. Mls fie der Lena die
Schläfe damit rieb, fam fie ein wenig au fic.
Am beften war's ſchon, fie trug bie Lena
einfad) ing Dorf, in ihr Haus. Das war ja
das nächſte, die Mühle viel gu weit. Der
Sunge fonnte das kleine Madden fiibren, ex
war ja groß und verſtändig.
Sie nahm einfach die Lena auf den Arm,
wie ein Kind. Die ließ ſich ruhig heben, ſie
wußte wohl nicht, was mit ihr vorging.
Das Meine gab bem Jungen vertrauens-
Es weinte nicht mebr,
fondern fab mit fonderbar altflugen Augen
ben Gefcbebniffen gu.
Eo fdnell fie fonnte, ftrebte Mariann
nad Haufe. RNiemand begegnete ihr. Die
Leute waren alle beim jum Abendbrot.
So leicht die Lena aud) war, es wurde bod
Mariann.
eine ſchwere Laſt, bis ſie an der Haustür
angelangt war.
Sie atmete tief, als ſie glücklich drinnen
war.
Gut, daß niemand ſie geſehen hatte, ſonſt
ware gleich dad halbe Dorf aufrühreriſch
geworden. Die Lena würde ſich erholen und
heimgehen, und dann wußte niemand davon
und es gab kein endloſes Geſchwätz. Sie
legte die leichte Laſt auf ihr Bett und lief
in den Laden. Da hatte ſie Meliſſengeiſt
fürs Schwachwerden. Sie rieb der Lena
die Schläfe damit, daß ſie wieder zu ſich
kam. Sie öffnete ihr die Kleider und
deckte ſie warm zu. — Herr Gott, die war
ja gang kalt und verklammt. Und bas
Rleine, das war ficherlid) gang durchfroren.
Sie lief ſchnell in die Ride, wo in ber Afde
nod) Glut war und ftedte Reiſer binein.
Das fladerte bell auf, und im Nu war etwas
Mild warm.
Sie fab nad der Lena. Die Augen hatte
fie geſchloſſen, aber fie atmete wieder fraftiger.
Nun mußte fie fiir das Rind forgen. Gie
widelte e& in ein warmes Tuch, gab ihm die
heiße Mild, redete ibm gut ju. Lieber Gott,
was fiir ein armfeliges Rind! Gin Geſichtchen
wie ein altes Mannden, zwergenhaft, grau
und flein. Diinne graublonde Harden flebten
feudt um bas Köpfchen. Und fold über—
grofe blajje Mugen, ju blaß, fo als ob alle
Farbe, alles Leben aus ibnen geiwiden wire.
Sie reichte ihm die Mild, wabrend fie
vor ihm am Boden fniete und der Junge mit
großen erftaunten Mugen zuſah. Es tranf
begicrig, und fagte zufrieden:
„Warm.“
Sie rieb ſeine falten dünnen Händchen.
„Ja, Herzchen. Tante macht Feuer im Ofen,
und dann wirſt du ganz warm.“
Gin ſchwacher Ton vom Bette her ſchreckte
fie auf.
Die Lena hatte fid) im Bett aufgerichtet.
Mit weit aufgeriffenen Augen, in denen ein
unendlider Schreden, eine graufige Angſt war,
fab fie auf Mariann! Und mit weißen
jitternden Lippen ftammelte fie! „Jeſus
Maria! Wo — was ijt das?’ —
Die Mariann war fdon bei ihr. Cie
driidte fie fanft in die Kiſſen nieder.
665
„Da leg’ dich wieder, Lena. S'ift alles
gut. Dui bijt auf dem Kirchhof ſchwach
getworden und da bab’ id did mit beim
gebolt. Es war gut, bak id grad’ vorbei
fam. Dem Rind iſt nichts palfiert, es ift
nur ein bifden verfroren.”
Die Lena richtete fich mit fajt übermenſch—
lider Anftrengung im Bett auf. Auf ibre
Baden famen rote Flede, ibre Hände flogen.
Sie ftredte fie nad dem Kinde aus.
„Das Rind,” ftammelie fie. „Gib mir
bas Kind! Tu dem Rinde nichts!”
Mariann fab fie erfdiroden an.
ſprach wohl irre, im Hieber.
„Du, — was willft du mit bem Rind?”
wiederholte bie Lena.
Das Mitleid fam fiber Mariann. Cie
nabm das Rind auf ben Arm und trug es
an das Bett.
„Da ifs ja! Es ift ibm ja gar nidts
paffiert, nur ein bißchen falt iſt es. Armes
Schäfchen du. Wilft noh was Mild?
Warme gute Mild mit Zuder drin.”
Der Junge fam ſchon mit der Milchtaſſe.
„Da trinf,” fagte er tapfig, gutherzig. —
Die Blide der Lena gingen von dem
fleinen Madden auf den Jungen. Sie zuckte
jujammen. Dann fabh fie argwöhniſch auf
Mariann,
„Es wird dir gleich wieder gut werden,
dann fannjt du beimgeben,” fagte die. ,, Dap
dein — — deine Leute fidd nicht angftigen.”
Lena fab unrubig umber. Das Blut jtieg
ibr jest heiß gu Ropfe. Cie fab argwibnifd
auf bie Mariann. Was, hatte die fie bierber-
geidleppt in ihr Haug? — Wollte fie ibr
/ was antun? Wd, die Lena wußte wohl,
bag die Mariann fie haſſen mußte. — Und
bas Rind mupte fie aud baffen — dad
Rind, das ihrem Qungen den Vater weg:
genommen atte.
Ängſtlich befühlte fie das Reine. Aber
e3 war gan; munter. Herrgott, was hatte
| geideben fonnen, wenn die Mariann fie nidt
gefunden hatte. Auf dem einfamen Kirchhofs—
weg ging jo fpat am Abend fein Menſch, fie
hätte vielleidjt ftundenlang daliegen können.
Cie
Und bis in ihr Haus hatte fie fie getragen.
Ihre argfte Feindin! — — Jn dem Herzen
der Frau regte es fic feltfam. Sie [ag da
666
auf bem Bette bes Mädchens, dem fie fo viel
Urged getan. Und das ihr wieder Arges
getan hatte. — Denn dak die Mariann an
ibrem Leid ſchuld war, bas ftand fiir fie feft.
Die Mariann hatte ihr gefludt und Bofes
gewünſcht, fiderlidh. Sie atte ihr den |
Chriftian weggenommen, — ja, den Cbriftian.
Sie war tol in den Chriftian verliebt gewefen,
die Lena! Sie hatte ibm nadfpioniert auf
Weg und Steg, wo er ging und ftand. Und
oft unb oft genug hatte fie bie Zwei belauſcht
mit einem Herjen voll giftiger Ciferfudt, voll
Wut und Groll, Was niemand wußte, fie,
bie Lena, wußte es nur gu genau. Aber fie
wollte den Chriſtian dod. Cie haßte ibn
darum, aber fie ließ night von ifm. Cie
wollte ibn der Mariann wegnehmen, wollte
ibn fiir fid baben. Und fo bobrte und
ftocberte fie an ihrem Vater, daß ber des
Chrijtians Vater aufhetzte. Der Chriftian, acd,
ber mußte ja feinem Vater folgen, was wollte
er denn machen. Und fie triumpbierte, als
es nad ibrem Willen ging. Und als dann |
bie Strafe fam, — ja, es war die Ctrafe,
bas fiiblte die Lena dDumpf in fid, da haßte
fie bie Mariann nod mehr, und fie twufte,
bak die fie aud haſſen mufte.
Und gerade heut, da war ibr wieder der
ganze Grol gefommen. Wm Nadmittag war
die Wirtſchafterin ihres Vaters mit der grofen
Neuigteit angefommen, mit der Heirat des
Vaters. Das war ibr getwefen wie ein
Schlag ing Geficdt. Wie, — die Mariann
follte ibres Vaters Frau werden, bas Rind
pielleidt gar ibres Baters Namen befommen?!
Mein, bas würde fie nicht gugeben, niemals.
Das hatte fie noc am Nadhmittag gedacht,
und als fie auf bem Kirchhof zwiſchen den
Griibern fniete, da war das Gefühl nod |
ſtärker geworden.
Und nun mußte fie der Mariann danfbar |
fein, fie batte fie und ibr Kind vielleicht vor
bem Schlimmſten bewahrt. Und wie fie fic um
bad Rind forgte! Es fing an, weinerlich gu
werden, es hatte wobl Schlaf. Cie nabm es
auf den Schoß, fie wiegte es ſanft, die Schuhe
und Strümpfe hatte fie ibm ausgezogen und
rieb unermiidlid die Füßchen. Mitleidig fab
fie es an, Lena fab e3 wohl. Ya, es war
ein armfeliges Dingelden, cin Geſchöpfchen
—
WMenſchenherz.
Mariann.
gum Umblaſen. Weld ein Prachtlerl war
der Junge dagegen. Ach, ſie ſah ihn ja oft
genug, den Jungen. Mit Neid und ver—
zehrendem Kummer. Ihre eigenen Kinder
ſtarben und ſiechten hin, und der Mariann
Rind war geſund und prächtig.
Sie verſank in unruhiges Grübeln, während
fie mit geſchloſſenen Augen auf bem Bette Lag.
Vielleiht war es beffer, ja ſicherlich war
es befjer, twenn die Mariann ibren Water
heiratete. Dann wurde ein Teil Unredis
gut gemadt, bas Rind befam einen ebrlicden
Namen, und die Mariann würde eine reicde
Frau, Vielleicht, vielleicht ſah ber Herrgott
dann ihr Unrecht milder an, vielleicht kaufte
ſie ſich damit die Geſundheit des Kindes und
den Frieden im Hauſe. Und die Mariann
müßte ihr noch dankbar ſein, wenn ſie ihr
die Wege ebnete.
Mit einem plötzlichen Entſchluß richtete ſie
ſich auf. Sie wollte der Mariann gleich
ſagen, daß ſie nichts gegen die Heirat habe.
Damit trug ſie dann auch gleich überreichlich
ihren Dank ab für das, was Mariann heute
an ihr getan hatte.
Mariann hielt noch immer das Kind. Es
| war eingeſchlafen, aber es ſchlummerte unrubig,
bie dünnen Handden judten, bie mageren
Fingerchen griffen im Schlaf, die Mugenlider
waren fo fdwer und gelblich über Den Wug-
apfeln, wie von Wachs.
Chriftians Rind! Der Lena Kind!
Ad, es ift ein, feltjam Ding um das
Mariann fiblte in dem ibrigen
feinen Groll mebr, feinen Hap, nur Mitleid,
tiefes Mitleid mit den beiden. Mit dem
Chrijtian, der feine Schwachheit und Un—
männlichkeit mit einem freudlofen Leben büßen
mupte und mit ber Frau, die fic felbft und
ibren Mann ungliidlid machte. Und zwiſchen
den beiden bas arme Kind, bas die Sünde
ber Eltern ſühnte.
Da fing die Lena an gu reden. Überſtürzt,
eilig mit rauber Ctimme. Erſtaunt hörte
Mariann ben fraufen Worten gu:
„Ich hab's nicht leiden wollen, Mariann,
id bab’ mid ftemmen twollen dagegen aud
Leibestraften. Wber du folljt fehen, dak id
nicht undanfbar bin. Ich will nichts dagegen
jagen, fein Wort. Wenn mein Vater meint,
Marian.
e3 war’ fein Gliid auf feine alten Tage, id
will’s ibm ginnen. Gine andere würd' fid
webren, aber du follft feben, dak ich nicht fo
bin. Ich gönne dir’, dak du feine Frau wirſt
und bab der Junge einen Namen friegt.”
Mariann ricdtete fic) auf. We Weich—
heit war wie weggetvifdt aus ihrem Gefidt.
, Was foll das heifen, Lena?”
Die fah ungewif auf Mariann. — „Das
mußt du ja felbft am beften wiſſen. Das
ganze Dorf erzählt's ja, dab mein Vater bid
beiraten will, Und id follt’ meinen, es finn’
bir nicht einerlei fein, ob das mir rect ift
oder nicht. Ich follt’ meinen, du könnteſt es
mir hod anrednen, daß ich nichts dagegen
ſagen will.“
Mariann ſetzte ſanft das Kind auf den
Boden. Mit zitternden Fingern ſtrich fie über
ſein Geſichtchen. Sie mußte fic) zuſammen—
nehmen.
„Dein Vater will mich heiraten? Ich
weiß nichts davon, aber möglich iſt's ja wohl
ſchon. — Und du willſt nichts dagegen ſagen —,
das fommt dir wohl bart an, Lena! Ich,
die Frau von deinem Vater. Aber du fannijt
gang rubig fein, braudft dich nicht gu fiber:
winden, — Ich beirat’ deinen Bater nicht!”
Lena fab auf Mariann. Die ftand vor
ihr mit bligenden Mugen. „Ach, das fommt
Dir wohl fonderbar vor, gelt? Das fannft du
nidt begreifen? Du meinft, ich müßte mit
allen zehn Fingern jugreifen und mit zwei
Händen halten, dab ich ihn fefthalte. Du
meinjt, fo eine Ehr' und fo einen Vorteil
fonnt? id nidt ausjdlagen? — —“
nit? — —“
Mariann lächelte ſchon wieder cin wenig.
„Du denfit, die Mariann iſt narriſch. Und
ich nehm' dir's nicht übel, weil du eben gar
nicht anders denlen kannſt. Heiraten, — einen
reichen Mann heiraten, das müßte für mich
bas Höchſte auf der Welt fein, meinſt du.
Und nod dazu einen, der mid gern baben
mug, weil er mid fonft nicht nabme.”
Lena nidte unwilltiirlid),
„Siehſt du wohl. Wher ich, ich denfe
anders. Ich fann dir das nidt fo ſagen,
und du würdeſt ¢3 auch nidt fo verjteben,
wie ich's meine. Und es ijt befjer, man
667
redet nicht dariiber. Aber wenn's dir einen
Stein vom Herzen nimmt, dann will id dir's
nodmals beteuern, id) beirate deinen Bater
nicht!“
„Einen Stein vom Herzen?” — Die Lena
öffnete die Augen tweit. Nein, einen Stein
nabm's ibr nicht vom Herzen. Gern hatte
fie ja die Mariann nicht gefeben, als Frau
in ihres Baters Haus, — aber fie hatte fid
das ja als Bue auferlegen wollen, hatte
den Herrgott damit beſchwichtigen wollen, den
Herrgott und aud) — — bas in ibrer Bruft,
was bobrte und mabnte und fie immer wieder
rief. Qa, dad rief ſchon jabrelang, — erſt
ganz leife, bann immer Lauter, — fie batte
es nur nidjt Boren wollen.
Unrubig blidte fie auf Mariann. Die
ftand da, gelaſſen, ftill. Es wurde ihr beif
und falt. Gie wollte fort — feinen Mugen:
blid wollte fie Ianger unter bem Dadhe der
Mariann bleiben. Fort, nur fort.
„Ich mug beim,” ſtieß fie bervor. ,, Meine
Leute forgen fic) ſonſt.“ — Cie fonnte ibres
Mannes Namen nidt iiber die Lippen bringen.
„Du kannſt das Rind nicht tragen,” fagte
Mariann gepreft. „Ich, — id rufe die
Nachbarin, — id fann nicht fort.” — — —
Lena nidte ftumm. Gie war gan; ftill
geworden.
Mariann ging zur Tür hinaus, Lena
blieb allein mit den Kindern. Der Junge
ſaß wieder neben dem Mädchen ganz ein—
trächtig. Lena beugte ſich tief und fab ihn
an mit forſchenden eiferſüchtigen Augen. Er
glich ſeinem Vater nicht, da war fein Zug,
„Du Mariann, — du willſt meinen Vater
den ſie kannte, er hatte die Augen und Haare
ſeiner Mutter. — Unwillkürlich ſtrich ſie ihm
das dicke dunkle Haar aus der Stirn. — Da
ſah ſie das Mal, — ſie zuckte zuſammen und
fuhr zurück.
Ein leiſer Laut kam von der Tür her.
Da ſtand die Mariann hoch aufgerichtet mit
funkelnden Augen.
Einen Augenblick lang ſahen ſich die
beiden Frauen in die Augen, — dann kam
die Mariann näher und legte wie zum Schutz
ihren Arm um den Jungen. Und dann ſagte
ſie mit leiſer Stimme:
„Was brauchſt du zu erſchrecken?
haſt's ja gewußt!“ — — — —
Du
668
Es war gang ftill in ber Stube. Der
Junge fah ängſtlich von einer gur anderen,
bann bdriidte er fic) feft an feine Mutter.
nSie foll weggeben,” fliifterte er, „das
Madden foll dableiben.”
Die Frau fab ihn an. ,,Dableiben,” fagte
fie, ,warum?” „Ich will 'ne fleine Schweſter,“
murmelte er verſchüchtert.
Die Tür wurde eilig aufgerifjen, und die
Nadhbarin fam herein, gang gliibend vor
Neugier, mit geſchwätzigem Bebauern. Nun
follte fid) bie Müllerin nur warm einpaden,
es wär' febr falt draugen.
Wortlos wwidelte Mariann mit gitternden
Handen das Kind in ein Tuc ein und gab
e3 ber Frau auf den Arm. — Wud) die Lena
ſprach nichts. Sie fagte nidt Dank nod
Adieu. Cie ging mit ſchwankenden Schritten
neben ber Frau, die eifrig ſchwatzte und nidts
merkte. — Das Rind weinte.
Die dunfle Dorfftrake hinab ging die
grofe ftarfe Frau mit dem Ripde auf dem
Arm, — neben ihr haſtete die fleine magere
Geftalt der Miillerin.
Mariann ftand auf der Türſchwelle und
fab ibnen nad, bis fie im Dunkel verſchwanden.
Sie ftand fo lange, bis fie die feudjte Herbjt-
kälte fühlte. Dann fdauberte fie zuſammen
und ging in die Stube. Cie jog den
Jungen an fid und küßte ibn beftig. Wber
der twebrte fid) mit Handen und Füßen. Gr
war gang erfiillt von dem Greignis, Warum
das Heine Madden nicht dageblieben fei? Es
hatte in feiner alten Wiege fdlafen finnen.
Mariann.
Er wollte aud eine Schweſter. Mit der
finnte er Pferdchen fpielen den ganjen Tag.
Warum es mit der franfen Frau fort-
gegangen fei? Warum die ibn immer fo an-
gegudt habe? Cr ftellte bundert Fragen. Cr
modte gar nidt einfdlafen. — Es war fdon
fpat, als er endlich rubig atmend dalag!
Aber feine Mutter fam dann nod) immer
nidt gur Rube. Sie fab, mit brennenden
Augen in die fleine Lampe ftarrend, bie halbe
Nadht. Dann ging fie unrubig bin und ber,
eine lange Beit. Zuletzt holte fie das alte
große Gebetbuc) ibrer Mutter. Cie ſuchte
eine Weile an einer Stelle, wo die Blatter
nod) jiemlid) weiß und unbenutzt waren.
Dann hatte fie gefunden, twas fie fudte:
„Gebet fiir meine Feinde“. Und mit jitternden
Lippen, mit brennenden Augen darauf hin—
ftarrend, murmelte fie leife die frommen Worte :
pind follte dod in meinem Herzen noch
Bitterfeit und Hak fein, dann, o Gott, fieh
meinen Willen gnädig an und made mein
Herg rein und beuge meinen Willen, damit
geſchehe, wie du willft, nicht wie ich will.”
Sie fah vor fid bin. „Ich bab’ feinen
böſen Willen in meinem Herzen.”
„Und fieh es fo an, dab id ibnen bon
Herzen verzeihe, o Gott, wie id hoffe, daß
aud) mir meine Sünden verziehen werden.
Amen.“
Sie ſaß nod) eine Weile rubig ba. Dann
atmete fie tief auf. — Die grofe alte Uhr
ſchlug raffelnd dreimal. Cie erfdraf. Morgen
mufte fie früh beraus. Echluß folgt.d
669
Berufliche und soziale Pragen auf dem IJnternationalen
Prauenkongress.
Bon
Rlice Salvmon.
Nachdruck verboten. meee
ie Frage der Frauenarbeit hat bei der Crbrterung der Frauenfrage ftets
den breiteften Naum eingenommen. Handelte es fich aber in fritheren Jahr—
zehnten zunächſt darum, neue Berufs: und Erwerbsmöglichkeiten fiir die Frauen de3
Mittelftandes, der biirgerlicen Kreiſe yu fcbajfen, fo wurde die Frauenbewegung im
lepten Sabrjehut mehr und mebr darauf bingelenft, fic) mit den Verhältniſſen der
arbeitenden Frauen zu beſchäftigen, denen die Berufstitigheit nicht erſchloſſen zu
werden braudt, fondern die vielmehr eine Befreiung von übermäßiger Arbeit begehren.
Ganj naturgemif mufte die Frauenbewegung ſich zuerſt der Eröffnung neuer Berufs—
gebiete, neuer Criverbsmiglichfeiten fiir die Frauen des Miitteljtandes guwenden. Dann
erft, als dieſe wirtfchaftlid) befreit waren, als fie durch die Berufstitigheit einen
weiteren Blic, ein tiefered Berftindnis fiir alle Gebiete ded öffentlichen Lebens ge—
wannen, dann erſt fonnten fie bie Not der Frauen erfennen, die ſich das Recht auf
Arbeit nicht mebr zu erkämpfen brauchen, die unter der doppelten Laft der Berufs-
und Familienpflichten nur allju oft zuſammenbrechen. Die eriveiterten Bildungs:
miglichfeiten, der Cintritt der biirgerlichen Frauen ins Crwerbsleben, der durch die
Frauenbewegqung herbeigefiihbrt wurde, haben den Frauen erft die beiden Seiten des
Problems der Frauenarbeit klargelegt.
Die Berufsfeftion des Internationalen Frauenfongrefjes mute denn and
diejen beiden Seiten des Problems Gerechtigheit widerfabren laſſen. Sie hatte fic)
mit den Frauenberufen yu befchaftigen, in denen cin befferer Shug wor Aus—
beutung fiir die Arbeiterinnen notwendig ift, im denen befjere Arbeitsbedingungen
erfiimpft werden miifjen, wie aud mit den Bernfen, die den Frauen nod
ganz verſchloſſen find, in denen die Frauen neue Arbeits: und Entwidlungs-
miglicfeiten, oder den Aufgang zu höheren Stellungen begebren. Co
gegenfaglich Ddiefe beiden Seiten de Problems der Frauenarbeit auf den erjten
Blick erſcheinen müſſen, ſo boten die Verhandlungen der Berufsfeftion dod) ein ge-
ſchloſſenes einheitliches Bild. Ob man von der Landarbeiterin fprach, die in
Deutſchland, wie in vielen anderen Liindern, durch cine Ausnahmegefeggebung ſogar
nod) de3 Rechts beraubt ijt, für fic) felbjt bejfere Arbeitsbedingungen zu erftreben, ob
man einen geſetzlichen Schutz für die Heimarbeiterin forderte, die nod immer
„jede Stunde arbeiten darf, die Gott gibt”, oder ob man den Advofatenberuf, den
Beruf der Predigerin, der in neueren Kulturftaaten von Frauen ausgeiibt wird,
aud fiir die Frauen unſeres Landes freigegeben wünſchte, überall waren die Ver-
handlungen von dem einen Gedanten befeelt: von dem Wunſch, den Franen jury
vollen Entfaltung ihrer Perfinlidfeit, sur gefunden Entwidlung ibrer
Krafte, zur Teilnahme an der Kulturarbeit gu verhelfen.
670 Berufliche und fosiale Fragen auf dem Bnternationalen Frauenfongres.
Nicht alle Verhandlungen und Referate diefer Seftion waren gleichwertig; nicht
alle wurden von den Angehdrigen der betreffenden Berufe felbft ausſchließlich geführt
Aber das Bejtreben der Kongrefleitung, die Referate in die Hinde derer gu legen, Die
am nichften beteiligt, die am bejien informiert und am meijten beredtigt ſind,
Forderungen und Wünſche auszufprechen, hatte doch im grofen und ganjen Erfolg gebabt.
Das erfreulichſte Bild in diejer Beziehung bot twobl der Tag, der einer
Erérterung des KRrankenpflegerinnenberufs gewidmet war. Aus allen Ländern
batten fic) Rranfenpflegerinnen eingefunden, um über die Wusgeftaltung diefes Berufes,
über die Schaffung von Ausbildungsmöglichkeiten, fiber die Notwendigfeit fraftiger
Crganijation 3u beraten. Am ſtärkſten waren neben den deutfden Krankenpflegerinnen
die Englands und der Vereinigten Staaten vertreten. Und wer an dem Wert inter:
nationaler Beratungen sweifelt, der hatte in dieſer Sitzung belebrt werden können, wie
einbeitlich, wie gleidartig die Bejtrebungen der Frauen in allen Landern fic geftaltet
haben, trotz aller Befonderbeiten; die die fosialen Berhaltnifje einzelner Kulturftaaten
bedingen müſſen. Erſt in den letzten Jahrzehnten — fo wurde von ſämtlichen
Rednerinnen berichtet —- hat man den Verſuch gemacht, die Rranfenpflege zu einem
freien Beruf fiir gebildete Frauen zu machen. Nberall war man vorber ausſchließlich
auf die Angehörigen religidjer Körperſchaften oder anf Wärterinnen mit völlig un:
geniigender Aushilbung angewiefen. Die großen Fortfchritte, die die medizinifche
Wiſſenſchaft gemacht hat, lichen aber die Arzte nach einer verftindnisvollen Hilfeleijtung
durch Pflegerinnen verlangen. Dem gefteigerten Bedarf nad folchen Kraften haben
die religidfen Körperſchaften, die katholiſchen Ordenshäuſer und die evangelifden
Diafonievercine nirgends begegnen können. Cicherlich mag das jum Teil auf die
freiheitlichen Ideen unferer Beit zurückzuführen fein. Die Unterordnung, die von
Diejen Körperſchaften verlangt wird, mag mance Frauen von dem Cintritt in einen
Beruf yuriidbalten, deſſen cigentlider Kern ibren Neigungen und Fabigkeiten wobl
zuſagen würde. Aber aud) die wirtſchaftlichen Verhältniſſe, die vielfach Frauen nötigen,
einen Erwerb zu ſuchen, der ihnen die Gelegenheit zur Unterſtützung ihrer Angehörigen
bietet, mußten viele Frauen hindern, in Anſtalten einzutreten, die ihnen wohl den
eigenen Unterhalt, aber keine Gelegenheit zu ſelbſtändigem Erwerb gewähren.
Dem neuen Bedürfnis haben überall zuerſt private Veranſtaltungen von
Frauen zu entſprechen verſucht. Aber in allen Ländern geht jetzt von den Rranfen-
pflegerinnen ſelbſt das Beſtreben aus, dieſen immerhin ſehr ungeregelten Verhältniſſen
ein Ende zu machen. So wurde von den Vertreterinnen aus den Vereinigten Staaten,
als auch von engliſchen und deutſchen Krankenpflegerinnen das Verlangen nach einer
ſtaatlichen Regelung laut, die Vorſchriften über die Ausbildung der Kranken—
pflegerinnen ſchaffen ſolle. Schweſter Agnes Karll, die Vorſitzende der Berufs—
organiſation der deutſchen Krankenpflegerinnen, legte einen ausführlichen Plan dar,
Der Die Forderungen ihrer Organiſation enthielt. Sie fordert nicht nur eine ftaatliche
Regelung fiir die eritmalige Mushildung der Rrankenpflegerinnen, fondern auch gefeslice
Vorſchriften, die einen obligatoriſchen Beſuch von Fortbildungskurſen fiir Kranken—
pflegerinnen vorſchreiben. Beſonders erfreulich ſiel in dieſer Verſammlung die Tatſache
auf, daß die Angehörigen der religiöſen Pflegerinnenverbände an den Verhandlungen
teilnahmen und auch ihrerſeits die Notwendigkeit des Ausbaus der Krankenpflege als
eines weltlichen Berufes anerkannten. Auch Frankreich und Italien, die Länder, in
denen nod bis vor kurzem die religiöſen Pflegerinnenverbände den Krankenpflegeberuf
Berufliche und foziale Fragen auf dem Yuternationalen Frauentongref. 671
allein beherrſchten, batten Wertreterinnen entfandt, die bericdten fonnten, dap bei
ibnen die Beftrebungen fic in gleicher Richtung wie in Deutfebland und England
bewegen. Der kleinen Scar deutſcher Rrantenpflegerinnen, die feit einigen Jabren
unter großen Opfern und mit bewunderungswerter Hingabe fiir die Verbejjerung der
Lage ibrer Berufsgenofjen eintritt, wird cine neue Kraftquelle ans dem Zufammentreffen
mit den Frauen anderer Lander erwadfen fein, mit denen fie fid) eins in thren
Beftrebungen wijjen, deren Erfolge ibnen eine wertvolle Hilfe in ibrer Agitation fein
können. *
* *
Soweit es ſich um die Beteiligung Berufsangehöriger an den Verſammlungen
handelt, müſſen die Beratungen über die Lage der Arbeiterinnen als weniger
erfreulich bezeichnet werden. Es liegt auf der Hand, daß die Landarbeiterinnen,
die noch jeglicher Berufsorganiſation entbehren, an die bisher eine Agitation noch
kaum heranreichte, die ihnen das Drückende ihrer Lage bewußt macht, keine Ver—
treterinnen ans ihren eigenen Reihen zu den Verhandlungen ſtellen fonnten. Co
mußte die Lage der Frauen in Landwirtſchaft und Gartenbau beſprochen werden,
ohne daß eine Arbeiterin dabei zu Worte kommen konnte. Neben intereſſanten Aus—
führungen über die Möglichkeiten, die ſich der Frau als Gärtnerin und als Landwirtin
eröffnen, blieben aber doch die Intereſſen der Arbeiterinnen nicht unberiidfichtiat.
Frau Wegner-Breslau und Frau Altobelli-Bologna berichteten über die Lage der
landwirtſchaftlichen Arbeiterinnen, und Frau Wegner wies ebenſo, wie Fräulein Elſe
Lüders im einleitenden Referat es getan hatte, darauf hin, welche großen Aufgaben
der Frauenbewegung noch zur Verbeſſerung der Lage dieſer Kreiſe geſtellt ſind. Frau
Altobelli, der es gelungen iſt, 30000 Landarbeiterinnen, die unter den elendeſten
Verhältniſſen ihr Leben friſten, zu organiſieren, berichtete fiber die italieniſchen Ver—
hältniſſe. Und ſo war denn auch der Vorwurf, den Frau Lili Braun in der Ver—
ſammlung vorbrachte, daß die bürgerlichen Frauen nur ihre eigene Lage bedächten,
nicht berechtigt.
Die Verhandlungen über die Dienſtbotenfrage boten ein Bild von der
wachſenden ſozialen Einſicht ſowohl der Hausfrauen, als der häuslichen Angeſtellten.
An und fiir ſich kann es ſchon als ein Erfolg in bezug auf die ÜUberbrückung ſozialer
Klaſſengegenſätze angeſehen werden, daß nach einigen Referaten, die von Frauen der
bürgerlichen Kreiſe gehalten wurden, eine Dienſtangeſtellte ſelbſt das Wort ergriff, um
ihren Standpunkt zu der Frage darzulegen. Und wenn alle Hausfrauen, die zu Worte
kamen, die Anſicht ausſprachen, daß nur die Frau gute Dienſtangeſtellte erlangen kann,
die ihnen auch mit gutem Willen, mit Können und mit Verſtändnis entgegen—
tritt, fo dürften fie volles Verſtändnis fiir dieſe Anſicht bei der Vertreterin der Dienſt—
angeſtellten gefunden haben, die ihre Ausführungen ganz übereinſtimmend mit den
Worten ſchloß: Treue könne von den Dienſtboten gefordert, müſſe aber auch von ihren
Arbeitgeberinnen gewährt werden. „Treue um Treue; aber für 20 Mark monatlich
kann man ſie nicht kaufen.“
Der Lage der Fabrikarbeiterinnen und der Heimarbeiterinnen war ein
Verhandlungstag gewidmet. Die traurigen Lebensbedingungen der Angehörigen dieſer
Berufe ſind den Leſern der „Frau“ hinlänglich bekannt. Sie wiſſen auch, daß es ſich
hierbei nicht um Mißſtände handelt, die unſerm Lande eigentümlich find, ſondern daß
ſich in allen Induſtrieſtaaten gleiche Schäden herausgebildet haben. So konnten denn
672 Beruflice und fojiale Fragen auf bem Ynternationalen Frauentongrep.
die Berhandlungen hieriiber nicht viel Erfreuliched bringen. Aber fie waren überall
von dem Gedanfen, von dem ernften Streben beherrſcht, Abbilfe gu fcbaffen, Be—
dingungen herbeizuführen, die auch diefen Frauen die Arbeit nidt mehr als Fluch
erſcheinen laſſen. Daß Anſätze zur Verbefferung der Lage der Arbeiterinnen überall
vorhanden find, und daß die ſozialpolitiſchen Beſtrebungen auf dieſem Gebiet Hand
in Hand mit der Frauenbewegung gehen, zeigte ſich darin, daß die badiſche Fabrik—
inſpektorin und eine engliſche Sanitätsinſpektorin über Mißſtände und Abhilfs—
mittel auf dieſem Gebiet berichteten. Aus ihren Worten ging hervor, wie unendlich
viel trotz aller Bemühungen der letzten Jahre, trotz der Fortſchritte der Geſetzgebung
und der Anſtellung von weiblichen Aufſichtsbeamten zu tun bleibt. Noch um eine
Schattierung dunkler war das Bild, das über die Lage der holländiſchen Arbeiterinnen
entrollt wurde, die über einen Mangel jeglicher Schutzgeſetzgebung zu klagen haben.
Es ſollte dod) den Anhängerinnen der holländiſchen Frauenbewegung, die tn der
vierten Seftion fo energiſch gegen befondere Schutzgeſetze fiir Arbeiterinnen fprachen,
qu denfen geben, ob nicht die Vorteile, die eine folche Gefesqebung fiir die Frauen
mit fic bringt, die Nachteile aufiviegen diirften, die fie darin ju erbliden glauben.
Wenn fiber die Lage der Arbeiterinnen die Berichterftatter aller Lander nur
cine Meinung Hatten, fo famen in bezug auf die Wege, die man einfdlagen foll,
um ibre Lage yu verbeffern, verfcbiedene Anfichten gum Ausdruck. Namentlid& in
bezug auf die Heimarbeit ftanden fich zwei Richtungen gegeniiber, die fiir dic Ab—
fhaffung und die fiir Canierung der Heimarbeit wirfen wollen. Da—
neben wurde dure die eingige antwefende deutfde Sozialdemofratin die Frage in die
Disfuffion gezogen, ob die Hilfe bürgerlicher Frauen fiir die Beljtrebungen der
Arbeiterinnen von Vorteil fein fann oder nicht. Die deutfehen Sozialdemofratinnen
febnen befanntlic) die Hilfe biirgerlicher Frauen in fehroffer Weife ab. Dak ibr
Standpunft aber in andern Landern nicht gebilligt oder getcilt wird, bewies dic
Distuffion, in der eine Schweizer Urbeiterin, die gleichfalls der fozialdemofratijchen
Partei angehort, die unumwundene Erklärung abgab: „Auch fie babe frither geglaubt,
die Hilfe biirgerlicher Frauen ablehnen zu müſſen; aber fie babe ibren Irrtum erfannt
und wiffe jest, daf fiir alle Teile aus gemeinfamer Wrbeit ein Gewinn erwachſen
fann. Gie fenne feine Arijtofratin und feine Broletarierin in der Wrbeit, fondern
nur Schweſtern, mit denen fie gemeinjam fiir die Verbefjerung ihrer Lage ftreben wolle.“
Auf die pringzipiell ablehnende Haltung der deutſchen fozialdemofratijden Frauen
ift es auch zurückzuführen, daß die induftriellen Arbeiterinnen auf dem Kongreß
nur in geringer Zahl vertreten waren. Wenn von Frau Braun in einer Sigung,
in der die Schreiberin diefer Zeilen leider nicht aniwefend war, der Vorwurf gegen die
Rongrepleitung erhoben wurde, fic babe den Kongreß mit einer goldenen Mauer
umgeben und babe durd den Cintrittspreis von 6 refpeftive 8 Mark fiir Dauerfarten
und 2 Mark fiir Tagesfarten den Arbeiterinnen die Teilnabme unmöglich gemadt, fo
muß diefer Voriwurf zurückgewieſen werden. Bei aller Anerkennung der Tatfache, dah
cin miedrigerer Cintrittspreis oder die Abhaltung öffentlicher Verſammlungen wünſchens—
wert gewejen wire, dürfen wir uns dod) nicht daviiber täuſchen, daß dadurd die Be-
teiligung von Urbeiterinnen keineswegs herbeigefiihbrt worden ware. Und fo ijt es
denn unter diefem Gefichtspuntt nicht zu bedauern, dah die Rongrefleitung Feine
Möglichkeit zu finden glaubte, um die Schwierigkeiten einer Crniedriqung des Cin:
trittageldeS jn iiberwinden. Die Arbeiterinnen haben an den Verhandlungen
Berufliche und ſoziale Fragen auf dem Snternationalen Frauenkongreß. 673
nidt in gréferer Zabl teilgenommen, weil die Urbeiterinnen, die über—
baupt an folden Rongreffen Intereſſe nehmen, die Wufgeflarten, die
großenteils den fojsialdemofratifden Organifationen, den von ibrem
Geiſt beeinfluften Gewerffdaften angebiren, nicht fommen durften.
Als an die Vertrauensperjon der Genoffinnen Deutſchlands die Aufforderung erging,
in das weitere Rongreffomitee einjutreten, wurde dieſe Aufforderung mit einer febr
ſchroffen Zuriidweifung beantwortet, die cine Beteiliqung der ſozialdemokratiſchen Frauen in
irgend einer Form ablebnte. Damit war fiir die Arbeiterinnen diefer Rreife eine
Beteiligung ausgefdloffen. Hatten die Genoffinnen Deutſchlands fic anders zu der
Abhaltung des Kongreſſes geftellt, Hatten fie geglaubt, dort fiir ihre Sache wirfen zu
fonnen, hätten fie die Teilnahine fiir ihre Pflicht gebhalten, fo wäre ſicherlich die Wuf-
bringung der Mittel fiir das Rongrepbillet ebenfowenig ein Hinderungsgrund geweſen,
wie die Abhaltung der Sigungen in den Vormittagsftunden. Diefe Argumente fonnten
nur auf den Teil de3 Publifums Cindrud madden und finnen aud) durch Verbreitung
in der Preffe nur bei folchen Lefern den Schein der Beredhtigung erweden, die mit
den Verhältniſſen der WUrbeiterwelt nicht vertraut find. Wer ſelbſt an Arbeiter—
fongrefjen teilgenommen hat oder ibre Verhandlungen verfolgt, der weiß, dah es den
Arbeitern niemals an Geld gefehlt bat, wo es te darum handelte, einen Kongreß
zu bejuchen, dev von fozialdemofratifecher Seite einberufen wurde oder bei dem fie cine
Förderung ihrer Ynterefjen erwarteten. Der weiß, dah die AWrbeiterorganifationen
immer die Mittel aufbringen, um ihre Delegierten zu Kongreſſen zu entfenden, dah
fie fowobl Reifefoften, al den Aufenthalt in ciner fremden Stadt fiir cine Woche
bejablen können. Weſſen Gedächtnis auch mur wenige Monate zurückreicht, der muh
fid) erinnern, daß beim allgemeinen Heimarbeiterſchutzkongreß die ärmſten und elendeften
der deutſchen Arbeiter durch Hunderte von Delegierten aus allen Teilen deS Reiches
vertreten waren, fiir die die Reifefoften und Unterhaltsimittel durch ihre Organijationen
aufgebracht wurden, Summen, die ficerlid) 6 bis 8 Marf, die fiir den Kongreß ndtig
gevejen waren, weit iiberjteigen. Daf die organifierten Arbeiterinnen, die dod) in
erjter Linie in Betracht fommen, die Koften hätten aufbringen können, gebt auch daraus
hervor, daß die Organijationen des Auslandes (Schweiz und England) Arbeiterinnen
jum Kongreß geſchickt batten, und daß die deutſchen nichtſozialdemokratiſchen
Arbeiterinnen-Organiſationen gleichfalls Vertreterinnen entſandt hatten. Es iſt das
gute Recht der ſozialdemokratiſchen Frauen, ſich ihre Stellung zur bürgerlichen
Frauenbewegung zu wählen, ein gemeinſames Arbeiten abzulehnen. Aber wenn
eine ſolche Ablehnung erfolgt iſt, dürfen nachher nicht Scheingründe für die
Agitation verwandt werden, die falſche Vorſtellungen über die Motive des Fern—
bleibens erwecken müſſen; dürfen nicht Gründe vorgebracht werden, an die ſelbſt die—
jenigen Mühe haben werden zu glauben, die fie vertreten. Was zu bedauern
bleibt, bas iſt die Tatſache, daß die ſozialdemokratiſchen Frauen geglaubt
haben, auf dem Kongreß kein Verſtändnis für ihre Angelegenheiten,
keine Förderung fiir ihre Intereſſen finden zu können. Der Ernſt, der
durch die Verhandlungen über die Arbeiterinnenfrage ging, ſollte ſie belehrt haben,
daß es an dem guten Willen und wohl auch an der nötigen Einſicht hierfür in unſeren
Kreiſen nicht gefehlt hat.
* *
43
674 Beruflide und ſoziale Fragen auf dem Ynternationalen Frauenkongreß.
Ahnliche Schwierigkeiten haben an den anderen Tagen der Berufsfeftion nicht obge—
waltet. Der Tag, der der Lage der Handelsangeftell(ten und der Poftheamtinnen
qewidmet war, ftand unter dem Beichen der Empirung fiber die Ablehnung des
Wablrehts der Frauen bei den Kaufmannsgeridten. Was fiber die Lage
der Beamtinnen vorgebradt wurde, gipfelte im allgemeinen darin, dah die Veamtinnen
fajt nirgends nad demſelben Prinzip wie ibre männlichen Rollegen bezahlt werden,
jondern da aud) vom Staat verjucht wird, durch Frauenarbeit Erſparniſſe zu erzielen.
Soweit die Verhandlungen der Berufsfeftion bisher gefchildert wurden, trugen
jie einen ausſchließlich ſozialen Charafter. Und wer ſchließlich erwartet batte,
an den lebten Tagen bei den Verhandlungen iiber die Frauen in der Kunſt andere
Gejidtspunfte zu finden, der diirfte auch Hier feine Rechnung nidt gefunden haben.
Denn auch hier zeigte fich wieder, wie alles Streben der Anhingerinnen der Bewegung
fic) in fosialer RNichtung bewegt; wie die Frauenarbeit, wo fie fid) auch freie Babn
gefcbaffen bat, nun zu höheren Stufen und Formen auffteigen muß. Wuch hier galt
e8, den Frauen beffere Dafeinshedingungen zu fecbaffen. So fcbilderte Marie von Bilow
in meifterbafter Form die ſchmachvollen Zuſtände, der die Mebrheit der weiblichen
Biibnenangeftellten sum Opfer fallt, Co jah Sabine Lepfius cine Beſſerung
der wirtfdaftlichen Lage der Malerinnen im Ankämpfen gegen den Dilettantismus,
dev die Leiftungen fo vieler Frauen auf cin tiefes Niveau herabdrückt.
Den Schluß der Seftion hildeten die Verhandlungen über wiſſenſchäftliche
Berufe. Konnte von den Wr3tinnen aller Lander berichtet werden, was fie erreicht
haben, fo fab man aud bier das Beftreben, nene Aufgaben im Dienfte dea
Gemeinwohls aufzugreifen, wie die Erteilung von hygieniſchem Unterricht an die beran:
wadhjende Jugend. Den größten Cindrud ersielten an diefem Tage die Mitteilungen, die
Fräulein Dr van Dorp, die junge holländiſche Wdvofatin und Reverend
Anna Shaw, die amerikaniſche Predigerin tiber ihre Berufstätigkeit machten. Die
Ausführungen beider können als charakterijtifd fiir die Auffaſſung der Berufstätigkeit
von Seiten der Frauen gelten. Für die Frauen ift der Beruf nicht nur „Erwerb“;
die Frau ſucht mehr darin als ihren Lebensunterbalt, fie fucht einen Lebensinhalt,
und läßt fic) vom äußeren Vorteilen nur ſchwer beeinflufjen, wenn die Tätigkeit als
ſolche ihr feine Bejriediqung gibt. Co fiibrte Fraulein Dr van Dorp aus: Die
Anſchauung, dag die Advokatur ein männlicher Beruf fei, binge vielfad damit
zuſammen, daß fie als eine gute Gelegenbeit yur Geldmacherei gelte, die die Frauen
nicht in gleichem Make wie die Manner nbtiq Hatten. Aber diefe Anficht fei falfd,
denn die Advofatur verlange viel Liebe, Gerechtigkeit; werlange, daß man die Lajten
und Sorgen anderer Menſchen auf ſich nehme. Das alles feien Eigenſchaften, die der
Frau eigentiimlich find. Dazu forme, dah in der Frage der Kriminalitdt des Kindes das
Strafpringip dem Erziehungsprinzip weichen müſſe. Hierbet fei die Frau vor allem berujen,
mitzuwirken. Auch bei den mit der Eheſchließung zuſammenhängenden Zivilprogeffen würde
die Leidende Frau ihrer Geſchlechtsgenoſſin eher Vertrauen entgeqenbringen. Und febr
ähnlich flang e3 durd) Reverend Anna Shaws Worte hindurch: die Manner verlaſſen
den Predigerberuf mehr und mehr, weil er nicht mehr lufrativ genug fei. Die Frauen
aber follen nur auf die Kanzel treten, wenn innerfter Beruf fie dazu treibt, Fir dic
Seeljorge feien fie geeiqneter als Manner. Die Welt von heute hat Logi genug, aber
jie braucht Trojt fiir die Seele, den die Frau gu foenden ihrer Natur nach geeignet iſt.
* *
*
— “wl
Beruflide und fojiale Fragen auf dem Qnternationalen Frauenkongreß. 675
Wenn in der Berufsfeftion tiberall das Streben der Frauen hindurchklang, ſich
felbjt zu beſſeren Lebensbedingungen durdjuarbeiten, wenn man bier vielfach hörte,
daß die Staatsbhilfe, die angerufen wird, nur die Grundlage febaffen foll, wm den
Frauen cine wirkfamere Selbjthilfe yu ermöglichen, fo mufte die foziale Seftion
von all den Bemühungen handeln, die denen Hilfe bringen follen, die fic nidt felbft
belfen finnen. So beſchäftigte fie fic) mit Theorie und Praris der fozialen
Hilfsarbeit im weiteften Sinn, mit der Armenpflege und Jugendfürſorge, mit
Gefangenenpflege und Rechtsſchutz u. a. m. Auch bet diefen Berhandlungen mufte
e3 auffallen, wie dieſelben Bedürfniſſe fics aller Orten heransbilden, und wie
fics gleichzeitig in den verſchiedenſten Kulturländern Beftrebungen zeigen, die in einer
und Dderjelben Richtung geben. Das fam bei den Verbandlungen über die Armen—
pflege jum Musdrud, bei der cine Sentralifation aller Veranftaltungen auf diefem
Gebiet, der Hffentliden wie der privaten, überall angeftrebt wird. So wurde aus
Schweden von ähnlichen Cinvichtungen beridtet, wie aus Deutſchland, fo wurde aus
Ojterreich, aus Atalien, aus England und Amerifa die Notwendigkeit gemeinſamer
Organifation, wie aud) das Bediirfnis ciner Ausbildung fiir die foziale
Arbeit betont.
Die Beratungen fiber die Jugendfiirforge ftanden unter dem eichen der
porbeugenden Arbeit. Hat die Wohlfabrtspflege ſchließlich das Prinzip erfannt,
dem heranwachſenden Menſchen zu belfen, ihn ju einem tüchtigen, leiftungsfabigen
Piirger gu erjiehen, um die Armut zu bekämpfen, um die Armenpflege an erwachſenen
Perfonen möglichſt einzuſchränken und überflüſſig ju machen, fo führt jest überall die
wadhfende Einſicht in große fogiale Zufammenhange dazu, daß man ſchon mit dem
Shug der werdenden Mutter beginnen muß, um dem Kind febon bei feiner Geburt
geſunde Lebensmöglichkeiten zu ſichern. Gleichfam als ob in den verſchiedenen Landern
pliglicy eine neue Idee fic) durchbrict, fo wurde von mebreren Seiten tiber die
Errichtung von Heimen file ledige Mütter berichtet, die den Hujammenbang von Mutter
und Kind pflegen, da Mutterſchaftsgefühl ween und ſtärken follen. Befondere Auf—
merffamfeit verdiente unter den Verbandlungen auf diefem Gebiet der Bericht über
amerifanifcbe Heime fiir ſchwachſinnige Madchen, die durch den Schutz, den fie gewähren,
perhiiten follen, daß diefe widerftandsunfibigen Geſchöpfe gemifbraudt werden und
als halbe Kinder unglücklichen Wefen das Leben geben.
Die Verhandlungen iiber die Sittlidfeitsfrage, tiber Gefangenenpflege, fiber
die Beftrebungen zur Bekämpfung des Alkohols zeichneten fic) gleichfalls durch cine
Fille quter Referate aus. Tberall erfernen die Frauen, dah fie fich eine tiefere Bildung,
gründliche Sachkenntnis aneignen müſſen, wenn fie auf fogialem Gebiet helfen und
beilen wollen.
Mud) in diefer Seftion ftand ein Teil der Arbeiterinnenfrage auf der Tages:
ordnung, nämlich die BerufsSorganifation der Frauen. Die Entiwidlung der
Organiſation ift eine Frage der Erziehung der Frauen, dDarum auch der Frauenbewequng.
Daritber waren fic alle Rednerinnen klar. Im allgemeinen wurde gemeinfame
Organifation von Mannern und Frauen empfohlen. Immerhin bricht fich mehr und mehr
die Erfenntnis Bahn, dah man aud auf diefem Gebiet nicht generalifieren darf, dak in
einjelnen Fallen vielleicht gefonderte Organifationen der Frauen am Plage find.
Wenn man aber das Gefamtrefultat der Erörterungen ziehen will, die yur Frage der
Berufsorganijation ftattfanden, fo fann man fich doch nicht verbeblen, daß das Ergebnis
43*
676 Berufliche und fogiale Fragen auf bem Ynternationalen Frauenfongres.
unendlicer Bemiihungen immerhin nicht groß genug ift, um der Hoffnung auf eine
Löſung der Lobhnfrage durch die BerufSorganifation Raum ju geben. Und wenn man
erfannt bat, daf für die Frauen bier eine Hilfsmöglichkeit, die fid) bet Den Männern
zu bewabren ſcheint, geringer und ausſichtsloſer iſt, ſo wird man darauf hingewieſen,
fiir fie eine Vefferung ihrer Lage durch ftaatlidhe Lohnregulierung zu erhoffen,
wie Fraulein Dhyrenfurth in ibren Schlugworten ausſprach.
* *
*
Die ſoziale Seftion hatte weniger als alle andern Verbandlungen des Kongreſſes
von Beftrebungen ju berichten, die ausſchließlich im Yntereffe der Frauen verfolgt
werden. Hier handelte es fic) mehr um die Arbeit von Frauen, die dem Dienjte ded
Gemeinwobhls, die den Fort{chritten der Kultur, die der gefamten Menſchheit qewidmet
find. Aber das, was hier angeftrebt wird, das fand man bei näherer Betrachtung
aud in den andern Sektionen des Rongrefjed wieder. Denn die Bemühungen yur
Befreiung der Frau, wie fie in der Berufafeftion, in der Bildungsfeftion und
RechtSfeftion zum Ausdrud famen, follen ja aud nur den Teil der Menſchheit,
der unter Ausnabmebedingungen lebt, yur Tetlnabme an der Rulturarbeit
fähig machen. Das mufte man aus allen Verbandlungen entnehmen. Das ijt aud
denen flar geworden, die in der Frauenbewegung bisher einen Kampf der Frauen
gegen die Manner gu feben glaubten. Nirgends hörte man einen einfeitigen Stand:
puntt vertreten, der im Intereſſe einer Frauenforderung das große Ganze aus dem
Auge verlor, Aber die Rückſicht auf das Ganze darf nie fo weit gehen, dap das
Einzelne unverhiltnismapig, mehr als billig gefchadigt wird.
Jn Deutſchland ijt dem Gedanfen der Wohlfahrt der Nation wvielleicht mebr
Frauenglück geopfert worden, als nötig gewefen mire. Man hat fic bier fchwerer
dazu durchgerungen, beredstigte Forderungen zu erfiillen; man bat einen längeren und
Heftigeren Widerſtand den Bejtrebungen der Frauen entgegengefest. Die Verhandlungen
des Kongreſſes haben gezeigt, daß die Frauen fiir eine Befreiung kämpfen, die dem
ganzen Bolfsleben zugute fommen fann, dap fie Krafte löſen wollen, die
qgebunden waren und die nugbar fiir die Rulturentwidlung gemacht werden fonnen.
Der Kongreß bat geseigt, dah die Frauen den Weg hierzu nicht in einer Gleid-
maderei von Mann und Frau, nicht in einer Verdoppelung der Kräfte und
Cigenfcaften, die Mannern eigentiimlich find, erbliden, fondern daß fie nach , equality
of opportunity“, nad gleichen Chancen im Wettbewerb ftreben, nad
gleidhen Miglisfeiten, um ihre befonderen Fähigkeiten im Dienfte des
Gemeinwohls gu verwerten. Mége dieſes Rulturideal der Frauen aller Linder
bald in Erfüllung geben.
677
Vie Anfange der SittlichKeitsbewegung in Deutschland.
Bon
Marie Hofman.
Nachdrud verboten. ———
KR Jahr ijt verfloffen, feit eine unferer Bejten im fremden Lande die letzte Rube-
ftiitte gefunden hat. Nur wenige gedenfen heute nod) der einſt VBielgenannten
und Vielgefehmiabten, die Mut genug beſaß, als erfte in Deutſchland den Kampf gegen
ein unfittliches Geſetz aufzunehmen, eine qleichhe Moral fiir Mann und Weib zu fordern
und diefe ihre Überzeugung öffentlich zu verfechten.
Gertrud, Grafin Sdad, hat cine freie Kindheit und Jugend auf dem Lande
genofien, der auch das ſchönſte Glück nicht feblte — die liebevolle Leitung eines Vaters,
der allen feinen Kindern ftets ein Vorbild edlen Menſchentums geblieben ijt. Auf
einer Reife in die Schweiz lernte fie Den jungen Künſtler fennen, dem fie als Gattin
nad Paris folgte, und von dem fie nad) der bald erfolgten Trennung felten ſprach;
fie flagte nicht fiber den, der ihr fo nabe geftanden, defjen Eltern lebenslang ibre
beften Freunde blieben.
Der Aufenthalt in Paris wurde auch in anderer als der rein perſönlichen Weife
fir ihr Leben bedeutungsvoll, denn hier wurde fie durch den protejtantijden Paſtor
Fallot mit der Arbeit des ,,Britijd- Continentalen und allgemeinen Bundes“
(Fsderation) befannt, und eine neve Welt des bitterften Clends, der entwiirdigenden
Rechtlofigkeit weiblider Wefen zeigte fic vor ihren entſetzten Augen. Der Bund
fordert die Aufhebung der fogenannten Cittenfontrolle der Polizei und vor allem der
damit verbundenen ärztlichen Zwangsunterſuchung, welche die Polizei auch über ibr
verdächtig Erſcheinende verbingen fann, während bei eingeſchriebenen Projtituierten dic
Verfaumnis derfelben mit Gefingnid und Arbeitshaus geftraft wird. Als neu an:
geworbenes Mitglied lernte Frau Guillaume: Schad auf Dem Kongreß des Bundes ju
Lüttich Frau Butler fennen, feine Griinderin und eifrigfte Vorkimpferin in England,
deffen Verhältniſſe freilich die Agitation febr erleichterten. Denn das infamierende
Geſetz war erft wenige Sabre zuvor unter dem ganz unfehuldigen Namen eines Geſetzes
gegen anftedende Rranfheiten durd das Parlament heimlicheriveife durchgedriidt worden
und erregte lebbafte Empörung, als feine Bedeutung allgemein befannt wurde, ſodaß
jeine Abſchaffung im Jahre 1886 fiir die gebrachten Opfer reichlich entſchädigte. An
den RKontinentalftanten dagegen ſchwang das Geſetz feine Geifel über der weiblicen
Bevölkerung feit Anfang des Jahrhunderts und war fomit Gewobhnbeitsredt geworbden,
ebe man fic) der Schmach dieſes Herfommens bewupt wurde. So blieb aud die
lebbafte Proteſtbewegung, welde fic) nach engliſchem Vorbild in Frankreich und
Stalien, in Golland und Belgien, fpater in ber Schweiz und in Amerifa entfaltete,
lange ohne greifbaren Erfolg.
Frau Guillaume-Sdad bejdlop, die Bewegung in Deutſchland zu entfacen,
und ihr begeijterter Mut half iby iiber die erſten Schwierigfeiten hinweg; Profeſſor
678 Die Anfänge der Sittlichkeitsbewegung in Deutſchland.
Stuart aus Cambridge half mit gutem Rat und mit genauer Kenntnis der deutſchen
Verhaltniffe, wie ſeine Briefe aus diefer Beit beweifen. Cinen Sweigverein Des
Britifdy-Continentalen Bundes ju griinden, verbot das preupifde Vereinsgeſetz, Da
der Bund fid) mit Affentliden WAngelegenbeiten befaßt. Der deutſche Verein trat
felbftindig in die Erſcheinung; als „Kulturbund“ erblidte er in Beuthen das Licht
der Welt. Hier lebte die Gründerin bei ihren Eltern; hier im fleinen Ort reichte
der Einfluß einer hodgeadteten Familie zunächſt aus, um einen Mittelpunft fiir die
Agitation im Deutſchen Reiche zu ſchaffen.
Die Fihrerinnen der Berliner Frauenbewequng, Frau Meorgenftern, Frau
Dr Tiburtius lichen ihren Beiftand und den Einfluß ibres Namens, aber ttotzdem
ging e3 langſam vorwärts. Als in ciner Verſammlung im Rathausjaal ein paar robe
Burſchen ſich ungehirige Bemerfungen geftatteten — cin unbedeutender Zwiſchenfall, —
erflarte der Magiſtrat, er gebe feinen Saal nicht mebr yu Frau Guillaumes Verſammlungen
her. Und er bielt fein Wort, fonnte fic freilid) aud) darauf berufen, dak fein
angefehbener Mann die anrüchige Cade auch nur mit einem Finger beriibren wollte.
Die wenigen, die anfänglich Sympathie zeigten, traten ſehr bald wieder zurück, und
wibrend iiberall anderwärts Profefforen und Arzte, Juriſten und Politifer, vor allem
Geiftlide, unter ibnen Biſchöfe der Landesfirchen fic) der Bewegung anſchloſſen,
deutete man bei uns beftenfalls höflich an, es ſchicke fic nicht fiir anſtändige
Menſchen, dergleichen öffentlich zu beſprechen.
Welcher billig Denkende kann von der Frau mehr ſozialpolitiſche Einſicht
als von dem Manne, mehr Mut dem Ungewöhnlichen gegenüber fordern? Nicht
ſpurlos ging die feurige Mahnung an ihrem Gewiſſen vorbei, aber ſtatt ſich an dem
Kampfe um das Recht zu beteiligen, gründeten ſie wohltätige Anſtalten. Almoſen
geben iſt anſtändig und erlaubt; gegen die Polizei anzukämpfen ſchwierig, Partei für
die Straßendirnen nehmen — das ſchickt ſich nicht.
In ganz Deutſchland wiederholten ſich dieſe Erfahrungen, bis die Polizei im
Jahre 1882 in Darmſtadt eine Verſammlung auflöſte, worauf cine Anklage
wegen groben Unfugs gegen die Rednerin und die Vorſitzende folgte. Die Klarſtellung
vor Gericht ergab die Wahrheit aller Behauptungen des Referats, ſowie einſtimmige
Anerkennung der würdigen und ernſten Redeweiſe der Referentin; es wurde feſtgeſtellt,
daß Kinder von dreizehn und vierzehn Jahren in die Liſte der Proſtituierten eingeſchrieben
werden, daß bei keiner Minderjährigen die Eltern je benachrichtigt werden, daß ihr Kind
die Proſtitution gewerbsmäßig betreiben darf, ſolange ſie den polizeilichen Vorſchriften
folgt; daß alſo dies das einzige Gewerbe iſt, welches eine Unmündige ohne Erlaubnis
der Eltern betreiben darf. Ein anderes iſt die Behauptung einer angefeindeten Frau,
ein anderes die gerichtliche Feſtſtellung einer Tatſache. In Wahrheit befand ſich die
Sittenpolizei auf der Anklagebank und wurde nicht, wie die beiden Verklagten, frei:
geſprochen. Frau Guillaume ijt nicht wieder in die Lage gekommen, die Wabrbeit
ibrer Behauptungen vor Gericht ju eriweijen.
Allmählich fant Leben in die Bewegung. Berlin erbielt 1883 einen Ziweiqverein
des Kulturbundes, man petitionterte an den Reichstag, antichambrierte bei Rultus: und
Juſtizminiſter, bielt Verfammlungen und verteilte zablreiche Flugblitter und Broſchüren.
In den zumeiſt ſehr befuchten Verſammlungen qab ſich ftets die lebhafteſte Teil:
nabme fund, und mancher Gingelfall, in dem die Gefranften fid) bei Frau Guillaume
befchwerten, fand Beriicfidtigung und Abbilfe. Daß von da an die böſeſten Aus—
Die Anfänge der Sittlichleitsbeivequng in Deutſchland. 679
wüchſe des Syſtems cinigermafen beſchnitten worden find, ift allein der tapfern Frau
au verdanfen, die mit dem Lichte unbeftecblider Wahrheitsliebe guerft in die dunfelften
Tiefen Leuchtete.
Bei den orthodoren Kreijen, deren Bekämpfung der Unfittlichfeit fie mebrmals
rühmend bervorbob, ſuchte Frau Guillaume Anſchluß und Unterjtiigung. Ihrer ein:
fachen Aufrichtigkeit galt es als felbjtverftandlich, da der ‘herbe Tadel gegen die Un-
ſittlichkeit, das hohe Lob fiir Frau Butlers Tatigheit die Bereitſchaft in fich febliefe,
aud in Deutſchland Frau Butlers Werk yu fördern. Aber als in Diiffeldorf ein
Brweigverein des Kulturbunds gegründet werden follte, vereitelten die einflupreicen
fonfeffionellen Rreife fein Zuftandefommen und traten jeder Agitation dafiir in feind-
feligfter Weife gegeniiber. Sie gründeten in den Rheinlanden einen chriftlichen
„Verein zur Hebung der Cittlichfeit”, und ibr Organ, der ſchon vorher beftehende
„Korreſpondent“, fuchte die Bewegung gang it das orthodore Fahrivafjer yu leiten —
e3 lobte Frau Guillaume mit leiſen Vorbehalten. Die innere Miffion verdffentlicte
eine Broſchüre, die fic) mit voller Scharfe gegen den Rulturbund und die Fideration
richtete. Das Organ diefer legtern, Bulletin Continental, war jtarr über diefen An-
griff eines vermeintlichen Freundes. Die englifchen Geiſtlichen verftanden
nicht, warum ibre deutſchen Amtsbriider eine CittlichFeitsbewequng bekämpften,
fobald fie fich gegen polijeiliche Schäden richtete. Ihnen ift die unbedingte Partei—
nabme fiir die Polizei ebenfo fremd, wie die engherzige Unduldfamfeit, die einem
fittlich oder geiſtig notwendigen Kampf den Riiden kehrt, wenn fic Auden oder Freiz
denfer daran beteiligen. Die verſchiedene Haltung der berufenen Schützer der Moral
bat denn aud) in England und Deutſchland febr verfchiedene Friichte gezeitigt.
Wer ſich mit Ernſt und Cifer einem fozialen Problem widmet, der fann fic) dem
Andrängen weiterer Fragen nicht entsiehen. Das heiß umiftrittene Gebiet der Frauen:
arbeit, Deven Freigebung von den Viirgerlichen gefordert wurde, während die Wrbeiterinnen
Einſchraänkung verlangten, offenbarte den Klaſſengegenſatz in ſchroffſter Weije. Die
bürgerlichen Frauen forderten Einlaß in die vornehmen und einträglichen Berufe, und
die Arbeiterin hat dagegen durchaus nichts einjuwenden; daß aber auch abfolute Frei:
beit der Arbeit im allgemeinen gefordert wurde, fand ihre lebhafte Gegnerſchaft, denn
jie wußte wohl, dak damit in Wahrheit nur Freiheit der Ausbeutung erreicht wird.
Heute liegt der Beweis hierfür flar ju Tage in der geſchützten Fabrif:, der un-
geſchützten Heimarbeit. Damals galt es zu fernen, und Frau Guillaume, die ibre
Agitation allmählich mehr ing Volk trug, wo fie beffer verjtanden wurde — die Petition
fand in Urbeiterkreifen mehr Unterfchriften als bei den Gebildeten —, lernte den hohen
Wert der Arbeiterinnenbewequng ſchätzen. Nach eingehenden Beratungen mit Sach—
verftiindigen grimbdete fie mit ihrer energiſchen Anitiative einen , Verein zur Vertretung
der Intereſſen der Urbeiterinnen”, der fic) ſehr raſch entwidelte, beteiligte fic) an dem
erfolgreiden Kampf gegen den Nähgarnzoll und wurde durch diefe Tatigfeit
cijrige und itberzeugte Sozialdemofratin. Daw die Förderung des materiellen Wobhles
der Proletarier die beſte Befimpfung dev Proftitution bilde, hatte fie einfeben gelernt;
aid, dah der Kampf mit der Allmacht der Polizei in der Beit des Sozialiſten—
qefebes ausſichtslos ſei. Trogdem war fie weit entfernt, die Bekimpfung der
Sittenfontrolle aufzugeben, oder ibre bisberigen Erfolge zu unterſchätzen; freilich wurde
iby die Arbeit immer ſchwerer gemacht, da Vorurteil und Rückſtändigkeit jest die
Sosialdemofratin denungierten, um die verhahte Sittlichkeitsbewegung ju distreditieren,
680 Die Anfänge der Sittlichteitsbewegung in Deutſchland.
Die Kataftrophe erfolgte 1886. Der Arbeiterinnenverein wurde gefdlofjen, die
Wochenſchrift „Die Staatsbhiirgerin”, welche Frau Guillaume feit Anfang des Jahres
redigierte, verboten, fie felbft aus Geffen, wo fie gulegt wobhnte, als „läſtige Fremde“
ausgeiviefen; ibr Geimatsredjt hatte fie durch die Heirat mit einem Schweizer verloren.
Yon England, ihrer zweiten Heimat, fam fie nur nod nad) Deutfdland, wm die
geliebten Eltern gn beſuchen; jede öffentliche Tätigkeit war ihr verfagt.
Bei Deutfchen, welche Lange in England leben, wedt die große perſönliche Freibeit
zuerſt frobe Begeifterung und reinen Enthufiasmus, der allmablic vor der Cinficht ver:
blagt, daß diefe Freiheit dod nur perſönlichem Egoismus dient, der freilich eines groß—
artigen Zuges nicht entbebrt. Nur ein Genius erjten Ranged entzieht ſich ganz der
{abmenden Cinwirfung diefer praktiſchen Selbſtſucht, die nur nächſte Biele fennt; die
meiſten paſſen fid) an; andere refignieren [till und ſchließen fic) mehr oder weniger ab
So aud) Gertrud Guillaume, die ibre deutſchen Ydeale nie ganz abjtreifte, aber fortan
nur nods in engliſcher Weife fiir das Volkswohl weiter arbeitete. Die Führer der Gewerk—
vereine fannten und ebrten die deutſche Rednerin. Waifenfinder fanden in ihrem
Haufe Suflucht und liebevolle Pflege, bis ein fchweres Leiden, das fie lange jdweigend
getragen, fic) verſchlimmerte. Die theofophifde Weltanfdauung, die fle fic) in England
angeeignet, gab ibr, nach den Worten der Abrigen, ungetrithte Heiterfeit und reinen
Seelenfrieden.
Cine Norwegerin, Fraulein Clara Tſchudi, fobreibt in ihrem Werk über die Frauen:
bewegung: „Aber feine deutſche Frau hat den moralifden Mut und die eiferne Mua:
bauer gejeigt, wie Gertrud Guillaume, geborene Gräfin von Schad. Berfolgt und
verhöhnt, ift fie jabrelang von Stadt zu Stadt gereijt, um die Unfittlichfeit zu be:
fimpfen. — — — Frau Guillaume-Schad wirkt auferdem mit Borliebe fiir” die
Frauen der Arbeiterklaſſe und fie bat kürzlich, veranlaft durch Vorfehlage der Re:
gierung, zu mebreren fiir die Arbeiterin ungiinftigen Gejepen, die Forderung auf
Stimmredt der Frauen erhoben.”
Selten wird in dent furjen Zeitraum von fieben Jabren (1879 bis 1886) fo viel
energiſche Arbeit geleiftet, fo viel Anregung gegeben, fo febr ins Weite gewirkt worden
fein — nod feltener wohl eine ſolche Wirkſamkeit fo febnell vergeffen. Gertrud
Guillaume felbjt bat nie Ehrungen oder Anerfennung gefucht. Ihr galt die Cache
alled, die Perſönlichkeit nichts. Cie ftreute den Samen mit vollen Handen über das
Vand und freute ſich der Goffming, dah die Erntezeit fomme, wenn aud) fiir andere.
Gibt aber diefe ſchöne Selbftlofigkeit andern das Recht, fie totzuſchweigen, wie
es fo bald, jo energiſch geſchah? Nur ein Cinjelbeijpiel fei bier angefiibrt, weil 3
febr geeignet ift, bie Art gu kennzeichnen, wie man fie, unmittelbar nad ibrer Aus—
weifung, bei Seite ſchob. Im Jahre 1888 gab Dr Victor Böhmert eine Broſchüre
heraus: ,, Der Kampf gegen die Unfittlicfeit.” Sehr wortreid) preift er Dr Pelmann,
der ſich „vor einigen Jahren“ iiber den Gegenftand gedupert; er rühmt Frau Butler,
deren Titigfeit der Regulierung des LajterS in England ein Ende bereitete und
fabrt fort:
„In Deutfchland ift die Bewegung gegen die Projftitution nod ziemlich jung. Die
Rheiniſch-weſtfäliſche Gefaingnisgejellidaft bat fich durch) ibre im Oftober 1884 ftatt-
gefundenen Verhandlungen tiber die Proftitution das Verdienft erivorben, den feit
langerer Beit rubenden Kampf wieder von neuem öffentlich aufgenommen yu
baben, Hierauf ijt im Herbſt 1885 ein befonderer ,Chrijtlicher Verein zur Hebung
Die Anfänge ber Sittlichtcitsbewegung in Deutfdland. 681
der Sittlichfeit fiir Deutfdland' gegriindet worden. Derfelbe gibt eine befondere
Monatsfhrift: Der RKorrefpondent' in Mülheim a. d. Rubr heraus.”
Der Kampf, der 1884 feit längerer Seit geruht haben foll, wurde feit 1879,
alfo in den fünf vorausgebenden Jahren, mit Cifer und Hingebung von Frau Guillaume
Gerirud Guillaume - Sajak. '
gefiibrt. Ihr Name war in jeder Zeitung genannt; der „Korreſpondent“, der vordem
jelbftindig in Gernsbach (Großherzogtum Baden) erfchienen war, fann nicht umbin,
fie beſtändig zu jitieren. Das Jahr 1884 war eins ihrer arbeitsreichjten; in tiberfiillten
Salen fprad) die raſtloſe Rampferin in vielen Stadten Norddeutſchlands; in Hannover
und Elbing bildeten fich Zweigvereine des Kulturbundes, in Danzig und Königsberg
bereitete man den Anſchluß vor; in Berlin fanden fiinf Verſammlungen ftatt, alle
682 Die Anfange dex Sittlichteitsbewegung in Deutſchland.
ſtark befucht, alle viel befprochen. Uberall wurde eine Refolution gegen die Sitten-
fontrolle angenommen; iiberall die Petition an den Reichstag vorgelejen und deren
Weiterverbreitung dringend ans Herz gelegt. Cie erbielt aud) aus allen Teilen
Deutſchlands Unterfdriften. Hat Dr Böhmert den Namen der Frau, die 1879 als
erjte den Offentlichen Kampf aufnahm, nie gebdrt? Wie Hat das jemand juftande
bringen finnen, der fic) fiir die Frage intereffierte? Seine Broſchüre datiert zwei
Sabre nad der Ausweifung von Frau Guillaume, zwei Jahre nad) dem Ende des
Kulturbunds, deſſen Leste Mitglieder dem von Dr Böhmert allein gefannten
auf einfeitig fonfeffioneller Grundlage arbeitenden Verein beitraten.
Gertrud Guillaume hat fieben Jabre lang in Deutſchland geivirtt, fie ijt verfannt
und verfegert, verlacht und verfpottet, auch bewundert und geliebt worden —, unbefannt
ift fie nicht geblieben. Aber fie war Sozialdemokratin, Wusgewiejene, und als ſolche
eine unliebfame Perſönlichkeit.
Wer die beiden Brofciiren von Frau Guillaume — Vorträge, die in Berlin
und Darmftadt gebalten find — lieft, findet darin die bejte Darjtelung der „Sitt—
lichfeitsbewegung”. Die rubige Sachlichfeit, die fic) nie in wortreiche Phrajen verliert,
in der die feblichte Herzenswarme neben dem klaren Verftand ſich fo ſicher bebauptet,
kennzeichnet das eigenſte Weſen der Autorin. Von anmutiger Heiterfeit im Umgang,
fröhliche Gefpielin der Kinder, deren erwablter Liebling fie war, Fannte fie dod) bei
der Arbeit nur beiligen Ernft und unermiidlichen Fleif. In der Offentlichfeit bewirkte
die liebenswürdige Beſcheidenheit ihres Auftretens, der Wohlklang ihrer Stimme, der
hobe Adel der Geſinnung, der aus ibren Worten fprach, ein allmabliches Hinſchwinden
dev urſprünglichen Borurteile.
Che e3 Arzte unternabmen, die Offentlichfeit aufzuklären, hat jene Frau die
ſchweren gefundbeitlichen Schäden beleuchtet, welche die ſtaatliche Regelung des Lafters
nicht beffert, fondern verfdslimmert. Den engen Sufammenbhang der wirtſchaftlichen
Not mit dem Verkauf des eigenen LeibeS überſchauend, fühlte fie nicht Entrüſtung,
fondern Teilnahme auch jenen gegeniiber, denen der Antrieh feblt, fich aus dem Sumpf
zu retten, in den fo viele von friihefter Jugend an durch erbarmungslofe Hinde
geftopen worden find. Ehrgefühl und moraliſche Kraft werden ja durd das Syſtem
der Rontrolle ebenfo wirkſam untergraben wie die Gefundbeit.
Tiber dic Rettung der Opfer des ,,notiwendigen Übels“ fagt fie: „Es ift un-
erläßlich, daß das Rettungswerk die Hreiheit der Frauen nicht beſchränkt. An das
freiejte und zügelloſeſte Leben gewdbhnt, werden fie immer, ſelbſt vor dem bejten an—
ſtändigen Lofe, das man ihnen bieten fann, zurückſchrecken, wenn es mit Swang
verbunden ift. Es ftebt an uns, ibnen den Cintritt in die Sufluchtitdtten zu erleidtern —,
freiwwillig darin bleiben werden jie nur dann, wenn ibnen der Austritt offen ftebt.
Gebe man ihnen Menfehenrechte, und fie werden wieder Menſchen werden. Frau
Butler, dic Begriinderin unferes Bundes, fagte mir, in dem von ihr begriindeten
Heime Hatten die Madden Tag und Nacht Zutritt, und fonnten geben, wann e3 ihnen
beliebte, aber obwohl fie darin arbeiten muften, gingen fie nicht, denn fie waren fo
glücklich. Wenn ihre Reit, drei Monate, glaube ich, um war, und fie anderiveitig
untergebradt werden follten, fcbieden fie mit Traner von diefem Haufe, in dem fie
vielleicht jum erjtenmal ein geordnetes Leben Fennen gelernt batten.”
Wiiren unfere Rettungshdufer nach diejem Syſtem cingerictet, dann wiirden fie
wobl weniger Ungebefferte und weniger Heudlerinnen entlafjen. Daf der freie Wille,
Weibliche Kunft und die Frau ale Mäcen. 683
nicht der übermächtige Zwang das befte Erziehungsmittel bildet, follte nie vergefjen
werden. Für Gertrud Guillaume iſt die oben angefiibrte Stelle aus einer ihrer
Ayitationsreden befonders fennjeichnend; ihr Kampf gegen das gefegliche Unrecht, ihre
politiſche Überzeugungstreue, alle ihre reiche Tatigfeit zeugen in gleicher Weiſe von dem
Grundton ibres Weſens — der Verbindung von Sittlichkeit und Freibeit.
“GE
Weibliche Ranst und die Brau als Macen.
Bon
Anna I. Plehn.
Nachdrud verboter.
Benn es wabr wire, daß weibliche Künſtler im beften Falle nur bildeten, was
“© die mannliden Sdaffenden auc ans Licht bringen, und wenn weibliche
Kunſtmäcene — fofern e3 folche gibt, was nod die Frage ijt — nur fammelten,
firderten, nachfiihlen fdnnten, was die Manner eben fo gut zu ſchätzen wiſſen —
dann könnte man fagen, dah fie beide von Feiner befonderen Bedeutung fiir die
Menſchheit feien. Immerhin diirfte ibnen iby Tun trotzdem nicht verleidet oder erſchwert
werden, da fie Darin jedenfallS fich ſelbſt cine Quelle der Bereicherung erſchloſſen bitten.
Da nun aber die Natur der Frau anders ijt als die des Mannes, fo muß fie
auc, wenn fie nur ibrer Perfinlichfeit vertraut, andere Dinge ſchaffen als er. Und
wenn die Fran in der Würdigung von Runftwerten andere Maßſtäbe anlegt als der
Mann — und da fie anders ijt ald er, wird fie nicht umbin finnen, fo yu verfabren —
jo wird fie eine andere Art von Kunſt zu fordern ſuchen. Ich fiige gleich hier bingu,
daß es nicht notivendig weibliche Kunſt fein mus, dem died beſonders gerichtete Ver:
ſtändnis zugute kommt. Wllerdings ift gu vermuten, dak die bis jest nod fo
vereinzelten Laute, zu denen die weibliche Seele das Anftrument der Kunſt in Bewegung
fest, leichter yu den Frauen dringen werden als ju der Mebrjabl der Manner. Darum
ſchien es mir erfprieflich, mein Thema fo zu fajien, wie ich es getan babe und von
den produftiven Leiftungen der Frau in Verbindung mit dem hegenden Beſchützertrieb
ju fprechen, der unferem Geſchlecht fo wohl anjteht und bei ibm fo haufig gefunden wird. °
Sch bin durchaus darauf gefapt, dah ſchon die vorftehenden Sage bier und da
auf Widerſpruch ſtoßen. Man wird vielleicht bebaupten, daß die Kunſt nur eine fei
und bleiben folle. Man wird auf die bisheriqen Verhältniſſe verweijen, auf die der
Menge nach geringe Beijteuer, welche die cine Menſchheitshälfte bisher zu dem geiſtigen
Eriverb der Gefamtbeit geleiftet bat und auf die große Zahl von weiblichen Kiinjtlern,
deren Empfindung und Ausdrucksweiſe nichts war als cin ſchwaches Bächlein, das fic
eilig dem breiten Ctrombett der Kunft des Mannes anzuſchließen ſtrebte.
Es wäre auch ganz ausſichtslos, leugnen zu wollen, daß weibliches Kunſtſchaffen bisher
nur in vereinzelten Fällen einen eigenen Stil hatte und daß es nur in dieſen Ausnahme—
fällen fähig war, einen Strahl aus der Wirklichkeitswelt, umgeſtaltet durch das Medium
der beſonderen femininen Empfindung, als ein eigenes Bild den Augen darzubieten.
Dann aber war das ein neues Geſchenk, weil bisher das Gefühl des Mannes faſt
684 Weibliche Runft und die Frau als Mäcen.
lediglich die Vermittlerrolle fpielte. Nur wer die vom Manne abweidende Art der Frau
allein in feblenden Geiſteseigenſchaften fucht, fann abftreiten, daß wir von einer
felbftandigen Betätigung der Frau auf künſtleriſchem Gebiet — wovon wir nur bisher
nicht genug faben — Überraſchungen zu erwarten haben.
Aus dem optifden Gebiet mag ein Beifpiel zu maberer Crflarung dienen:
Obgleich die bunte Welt, die uns umgibt, fiir unfere Auffaffung keine Liiden
hat, wiffen wir dod, daß es nur ein Teil der möglichen Erſcheinungsformen ijt, die
uns jum Bewußtſein fommen. Die Phyſik fpricht von Farben, welche uns unſichtbar
bleiben, weil die Neghaut des menſchlichen Anges fiir fie fein Cmpfindungsvermigen
bat. Wire fie anders organijiert, fo müßte fie aud) das Ultraviolett auffaffen können,
dem auf der entgegengefesten Seite des Spektrums ein Ultrarot entſprechen könnte.
Wir beſäßen dann Märchenſcheine, diefe neuen Farben, die man als Kind eines Tages
zu entdeden boffte, bis Dann wachſende Erfenntnis die Gefängnisgitter offenbarte, zwiſchen
denen uns unfere Sinne jeitlebens einſchließen. Vielleicht braucht dem geiſtigen Schauen
der Menfchbeit nicht immer vorenthalten zu bleiben, twovon dads körperliche Seben aus:
geſchloſſen iſt. Ich meine, man diirfte das weibliche Empfindungsvermögen einer Neg:
haut vergleiden, welche einen Teil der unſichtbar bleibenden Farben auffangen könnte,
waährend ihr dafür fretlich manches entginge, was die Sebnerven der anders organifierten
Wejens trifft. Wenn fic) das fo verhalt, dann muß e3 eine Bereicherung der Runft
fein, wenn der männliche und der weibliche Künſtler jeder nach feiner Gonderart jfeine
Erfenntnijje aus der gleichen Wirflichfeit ableitet. Denn die Nerven, mit denen fie
auffajjen, liegen nicht bet beiden auf demfelben Felde. Cie haben nicht abſolut
getrennte Gebiete, aber die Grenzen find anders gefiibrt. Manches wird von beiden
ungefaibr in der gleichen Weife aufgenommen, aber wie es Empfindungen gibt, die
dem Manne fremd find, fo muß es künſtleriſche Erfenntniffe geben, zu denen er nicht
yordringen fann. Um in meinem Bilde zu bleiben: es wire möglich, daß der Mann
wobl die ultravioletten, aber nicht die ultraroten Gefiiblswerte au faſſen wüßte, mabrend
bie Frau zwar jenfeits des rdtlich werdenden Blau nichts mebr wahrnehmen fonnte,
Dagegen zur Vertiinderin des Lebens würde, das fics fo lange verborgen diesſeits
des Hot abfpielte. Beiden gemeinjam wäre die Zone, welche fich zwiſchen den Grenzen
des Speftrums ausbreitet.
Was irgend cin eingelner Künſtler fieht, das macht er gum Gemeingut der
Menfchbeit. Co finnte denn die Welt durch die zukünftige Kiinjtlertitiqkeit der Frau
um eine ganze Anfchauungsregion ertweitert werden. Und dariiber binaus muß aud) das
Gefamtbhild ein anderes Ausfeben gewinnen. Striche man einige Farben aus dem
Regenbogen und könnte man dafür einige neue hinzuſetzen, ſo würden auch die, welche
befieben blieben, ihre Wirfung auf das Auge verändern. Denn eine Farbe ijt nidt
durch fich felbft da, fondern fie ijt weſentlich beeinflugt durd) ihre Genojfen. Und jo
wird aud) der Regenbogen einer künſtleriſchen Weltfpieqelung einen anderen Wusdrud
annebmen, je nachdem ihm die ſpezifiſch männlich oder die ſpezifiſch weiblich überlegene
Feinfühligkeit die Ausdehnung nach diefer oder jener Richtung gab. Und jo bebaupte
id) denn, es wird nidt nur eine perſönlich geftempelte Auffaſſung derfelben Kunft fein,
wie die Welt fie bisher von den Schaffenden fab, fondern wenn einmal Frauenfraft
recht ſchöpferiſch tatig fein wird, dann wird es eine andere Art von Kunſt gu fein ſcheinen.
G3 wire yu viel verlangt, wenn die Art, wie diefe neue Erſcheinung beſchaffen
fein wird, jest ſchon genau bezeichnet werden follte. Und dod) werden viele mir
Weibliche Kunft und die Frau als Mäcen. 685
zuſtimmen, daß jest bin und wieder Dinge fommen, die Manner nidt fo hingeſtellt
Haben würden. Unfere Ausdrudsmittel diefen Dingen gegeniiber find mur gar zu
Hilflos. Sonſt müßte man fagen können, worin die ſpezifiſch weibliche Art gu feben
in der Schilderung der Lagerlof liegt. Oder man miifte die Behauptung gan;
unangreijbar machen finnen, dah Rate Kollwig cine befonders ſtark frauenbaft
empfindende Natur ijt. Und zwar wiirde es nicht etwa allein oder auch nur vorzugs—
weife in der Stoffwahl liegen, durch die wir die Welt unter einer anderen Beleuchtung
feben, fondern es muh die Urt fein, wie das Geiftige hörbar und dad Körperliche
ſichtbar gemacht wurde, worin fic) die weibliden Cinpfindungsnerven der Künſtlerin
verraten. Wortwahl und Sagfonjtruftion dort, Linienfprade und Körpermaße bier
wiirden darither MAustunft zu geben haben. Denn bisher ijt man mit Unrecht
mit unkritiſcher Beharrlichkeit von der Anſicht ausgegangen, dah die weichere,
webmiitigere oder heiterere, aber jedenfalls flacher bewegte Außerung von der
Brau zu ertwarten fei. Hatte eine Tat Kraft und Tiefe, dann mufte fie von einem
Manne fommen, oder fie wurde als eine Ausnabme, als eine „männliche“ Leiftung
der Frau bezeichnet. Wir werden etwas vorfichtiger mit ſolchen Feftitelungen umgeben
und erjt abwarten miifjen, wie die Künſtlerin der Zukunft fic) ausfprechen wird, und
wir werden dann, wenn wir einmal ausreichendes Material zur Gegeniiberftellung
haben, zugleich genauer erfabren, was dag eigentlich mannliche Künſtlertum ijt. Einſt—
weilen, um dod) zu beweifen, daß ich nicht in die Leere Luft bineinfpreche, cin Vergleich:
Wie haben die modernen Maler, die vorzugsweiſe das Seeliſche darſtellten,
Weibtum und Mutterſchaft geſchildert? Ich laſſe die Namen fiir fic) fprechen.
Millet — CSegantini — Carriére (wenn man ibn mit jenen jufammen nennen foll).
Die Hobeit deS ganz Cinfacen, die wehmütige Ergebenheit in cin ſchweres Los und
cine myſtiſche Weidbeit, die fic) vom Sichtbaren aus auf die Empfindung iibertrigt.
Das ijt die Auffafjung des Manned. Co fieht er die Mutterjdaft. Und ich ftelle
dem gegeniiber Kite Kollwik mit ibrer Rückſichtsloſigkeit des Elementaren. Und id
erinnere zugleich an die Auffaſſung von Mutterliebe und ihrer Betdtigung, die
Ricarda Hud) in der ,, Triumphgafie” fo ohne Weidhlicfeit dar tut. Wird man noch fo
fidver fein, dah die Frau als Künſtlerin zu der empfindjameren Schilderung neigen muß?
Sh habe abjidtlich das Thema herangezogen, in dem fich der Unterſchied der
Auffaffungen notwendig am deutlichften find tun muf, aber es wird feinen eingigen
Stoff geben, der nicht in andere Beleuchtung fommen müßte durch eine von wefentlich
anderen Eigenſchaften gefarbte Darftellung. Wie die Mutter und überhaupt ihr
eigenes Gejcledt wird die Frau aud) den Mann und das Kind anders feben, als fie
bisher gefdildert wurden. Das Gefchehen der Welt trifft fie unter einem anderen
Gejichtswinkel, ihr leuchten die Geftirne nicht gleid) Dem Manne, und die Blumen
haben fiir fie neue Diifte und Liebfofungen. Wie fie das Rind als befonderes
Cigentum der Mutter auffagt, fo wird fie aud mit einem gefteigerten Berftindnis
bemerfen, wie der Blick des Vaters auf feinem Sohne rubt. Das alles verjpricht
Cntdedungen im Bereiche des Menfehlichen, die den uns bisher zugänglichen Ceelen-
erfabrungen nichts von ibrem Werte nehmen, die fie nur vermebren und verftindlicher
machen werden.
Wie foll nun die neue Kunjt, die wie wir hoffen, fommen fol und deren erſte
Vorboten wir jest begrüßen, ibren Einzug in die Welt balten? Wird man ibr wie
einer Erwünſchten mit frober Begrüßung willig entgegentommen? Das diirfen wir wobl
686 Weibliche Munft und die Frau ale Mäcen.
nidt erwarten. Wie alles Neue wird fie unerfannt und unjdeinbar ibren Cinjug
halten, durch Nichtbeachtung getrantt, durch Verfermung und Befehdung bedroht. Sie
wird viel Beit verlieren, indem fie im Schatten kümmert wie Frühlingspflanzen, die
fic) durch das tote Laub des vergangenen Winters mühſam ans Licht kämpfen müſſen,
wenn ibnen nicht eine achtfame Gand die Hinderniffe fortrdumt und dadurd den jungen
Sprofien den Weg zu Sonne und Luft öffnet. Mir ſcheint, es ware nicht unnatür—
lich, wenn fic) Frauen dieje Beſchützeraufgabe ftellten. Denn es ift nicht zu verlangen, daß
Manner fie ibnen abnehmen follen, befonders da fie der Frau fo viel leichter werden miifte.
Denn hier handelt es fich in erjter Linie um die Feinheit des Unterjcheidens;
wo ijt denn die Betatigung der Frauenfecle und wo ijt nur eine gewandte Anpaſſung
an die beiliqgefprodenen Werte der männlichen Kunſt? Man miifte vom weiblicen
Inſtinkt fordern, dah er unbejtecdblid) die Stimme fiir das erbeben wiirde, twas feines
eigenen Wefens ijt, und daraus die Pflicht folgerte, fic) diefes Ringenden anjunehmen.
Man follte nicht umſonſt bei diefer Gelegenheit auf die Fürſorge derjenigen rechnen,
ju deren ſchönſten Ruhmestiteln von jeber der Trieb gezählt wurde, fic) des Hilfe:
bediirftigen anzunehmen.
Es gibt gewiß Frauen, welche die Muße und die Mittel haben, Macene zu fein.
Wenn fie ſich bisher in diefer Richtung betitigten, war häufig ein perſönliches Motiv
ber treibende Faftor. Man fagt es den Frauen nach, daß fie cine Sache nicht häufig
um ibrer felbjt willen firbderten, wenn nicht ibre Teilnabme erivorben hatte, wer die
Sache verfirpert. An fich ware folche menfchliche Crivarmung etwas nur Natürliches,
aber wir haben leider zuweilen gefeben, daß aud die Sache fallen gelafien wurde,
wenn in den perſönlichen Beziehungen WAnderungen eintraten. Andererfeits wurden
oft die menſchlichen Verdienſte des Künſtlers oder auch jufallige gefellfchaftliche oder
vertrauliche Beziehungen zu ibm über die Qualitdten feiner Leiftungen gejtellt, und man
ſchraubte ſeine Kunſtanſchauungen auf das Niveau deffen, was der zufällig befreundete
Menſch leijtete. Will die Frau als Forderer der Kunſt ernft genommen werden, fo
wird fie dem Guten die Unterjtiigung nicht verjagen ditrfen, aber fie wird mit derfelben
vorſichtig umgehen müſſen, und fie follte Hilfe unbedingt da veriveigern, wo fein Kunſt—
interejje in Frage fommt. Denn der Ruf der Frauenfunjt verlangt entichieden eine
qewiffe Harte gegen das, was fic) dieſe Bezeichnung nur anmaßt. Der Dilettantismus
fol bingewiejen werden, wohin er gehört, in das Brivatleben, aber man foll ibn nict
dadurch zur Äberhebung ermutigen, daß man ibn mit Kunſt gleichſtellt.
Wenn die Frau als Mäcen in ihrer Bilderſammlung, in der Ausſchmückung
ihres Hauſes der weiblichen Kunſt einen bevorzugten Platz einzuräumen bereit iſt, ſo
wird ſie ſich gewiß fragen, wie ſie ſich denn dabei ſteht. Wer will es ihr verdenken,
wenn ſie auch Rechenſchaft darüber wünſcht, ob die Gemälde, die ſie erwirbt, in ihrer
anderen Art doch gleich hochſtehend ſeien, wie die Werke männlicher Künſtler? Dieſe
entwickelten ſich, geſchützt von der langen Tradition, kraftvoll, während die weibliche
Künſtlerin überlieferungslos, da ſie ihr eigenes Innere erſt zu entdecken im Begriff
ſteht, der Sicherheit oft entbehren wird, die jene auszeichnet. Es gilt da auch jenen
minder entſchiedenen Naturen zu helfen, welche nicht in dem Neuland gleich die rechte
Spur finden, wenn ſie nur überhaupt einen Entdeckungszug antreten. Mir ſcheint aber,
daß zu einem beſonders wertvollen Beſitz gelangt, wer dieſe erſten Taten einer neuen
Menſchheitsäußerung ſammelt. Cie werden einmal geſuchte Dokumente ſein. Wie
man, von den Primitiven jeder Kunſt ausgehend, die künftige Entwicklung umſo beſſer
Weibliche Kunſt und bie Frau alS Mäcen. 687
verftebt, und umgefebrt aus den reifen Cpoden heraus die erſten taftenden Schritte
künſtleriſchen Bildens ſchätzen lernt, ſo wird man einmal jeden Verfuch yu felbitandigem
Schajfen, den die Frau heute unternimmt, mit bejonderer Aufmerffamfeit anfeben.
Das Weib befindet fich gegenwartig in einem Zeitpunkt ibrer Entiwidlung, der etwa
bem eines jungen Bolles leicht, wenn es ſeine hiſtoriſche Laufbabn beginnt. Bon
dem erften Aufſchwung der Menſchheit über das bloße Vegetieren Hinaus wwiffen wir
nichts. Wo wir durch die Gefebichte Völkerneulinge fennen fernten, oder wo wir yu
ben tieferen Stufen der heute lebenden Stämme berantreten, iberall finden wir fie
bereits umgeben von der Mutoritdt einer tiberlegenen Kultur. Wie fie gegen die Nbermacht
ihre Cigenart zu bebaupten wiffen, danach mefjen wir ibnen unfere Schagung gu. Je
urfpriinglider die Zeugen folder Selbithebauptung gegeniiber dem Fremden find, dejto
höher bewerten wir fie. Die Gelebrten bedauern, dak die febnelle Musbreitung der
höher fultivierten Rajfen die primitiven Außerungsformen des Menſchlichen bald von
der Erde vertrieben haben wird, fo dah wir von ibnen fein Beobactungsmaterial
mehr werden fammeln können. Jn gleicer Weife wie dic unentiwidelten Völker findet
fics das weibliche Geſchlecht von der feitftebenden Kultur de3 männlichen umgeben.
Die Frau ijt in einer größeren Gefabr, von Ddiefer Autoritdt dauernd überwältigt yu
bleiben, als irgend ein RNegerftamm von den Weifen gu fitrehten hat. Obgleich der
Unterfdied jwifcen Mann und Frau — ic) meine natürlich nicht an Intelligenz und
Fähigkeit, fondern an Charaktereigenſchaften und Perſönlichkeitsinhalt — id) fage,
obgleich dieſer Unterfcbied zwiſchen den beiden Gefchlechtern der weifen Raſſe größer
ift als der zwiſchen Weißen und Wilden, fo ijt gerade der Entwicklungsgrad der
weibliden Intelligenz ein Umftand, der fie fabiger macht zur Vefolqung feines Vor—
bildes. Um fo intereffanter wird man einmal die erſten Verſuche finden, der Menfchbeit
jene zweite Form der Kultur zu erobern, welche die Frau der Welt fduldig ijt.
Mit ihren Geſchlechtsgenoſſinnen, die fich anſchicken, dieſe Pflicht in Angriff yu
nehbmen, würden Ddiejenigqen fic) cin Verdienſt erwerben, welche veritiinden, was in der
von Frauen geleijteten Kunft in diefem Cinne das Verheifungsvolle und das Not-
wendige ijt, Denn man joll nicht glauben, diefes werde fic ja obnebin durcharbeiten,
wenn ibm dazu die Kraft innewobne. Wiſſen wir etwa, wieviel Leiden von
Möglichkeiten auf dem Wege der Menſchheit fliegen? Das Vorurteil, dah das Gute
uniiberwindlich fei, bat fcbon vielem Guten das Leben gefoftet. Sicherlich wird feine
Proteftion jemals die Genics aus der Erde loden, aber fie fann die Kraft, welche
jich felbjt beraufrang, vor dem Schidfal ded Crliegens bewahren. Verſtändnis
ermutigt; der Erfolg bat eine befliigelnde Kraft. Wie oft bat Mutloſigkeit zerſtört,
was fein Eco fand, weil die Wand im richtigen Abſtande feblte. Vielleicht hatte
der Schall fonft von Höhe zu Hobe bis in die Ferne getragen werden können.
Künſtler find felten unfeblbare Beurteiler der eigenen Were. Glauben fie fich
unverftanden, fo fommt ibnen in einer Stunde des Zweifels leicht ein Zorn gegen
das Werk felbjt. Da wird ohne Nberlegung vernichtet oder im Beftreben zu beſſern —
verdorben. Gegen ſolchen Vandalismus follten Frauenwerfe fo viel als möglich
gefchiigt werden, indem fie in fremdem Beſitz der Laune der Urbeberin entritdt würden.
Und nod einmal: Manner werden died Amt nur ausnabmsiveife fibernehbmen,
und darum brauden wir die Frau als Kunſtmäcen.
1g WR Se
688
Cin Crzichungsverein von Clfern in @ngland.
(The Parents’ National Educational Union.)
Beridit, erftattet auf dem Jnternationalen Frauenkongrek zu Berlin
Mrs. E. I. Franklin.
Nachdrud verboten. - eee
An England ſtößt man, wobin man fic) auch wenden mag, auf da8 Wort ,, Erziehung’.
Fy Nan ftann feine Zeitung in die Hand nehmen, fein Gaus betreten, wo nidt
Erjiehungsfragen in irgend welder Form beſprochen würden. So erfreulich diefes
Intereſſe ift, fo mug man dod jugefteben, daß in der Hitze der politifden und
polemiſchen Distuffionen die wahren Aufgaben der Erziehung leider oft aus dem Auge
verloren werden. In dem Vereine, den ic) heute yu vertreten die Chre babe und dem
ich alS Mutter fo viel verdanke, lenfen wir hauptſächlich die Aufmerkſamkeit auf dic
Erziehung, fofern fie fics mit der Charafterbilbung befchaftigt, und auf den Cinflug
der Eltern, und gwar beider CEltern auf das heranwachſende Kind. Wir beſchäftigen
uns mebr mit der Erziehung als mit dem Unterricht, mehr mit dem Elternbaufe (dem
Lebensfreife, den man bei uns ,home“ nennt, und der durch ein deutſches Wort nidt
ganz umfecbrieben werden fann), mehr mit dem Clternbaufe als mit der Schule. Damit
will id) nicht gefagt baben, dak wir den Cinflug der Schule im geringften unter:
ſchätzen. Im Gegenteil, wir nehmen Lehrer und Lehrerinnen nur ju gern als Mit:
qlieder unſeres Vereins auf und hoffen dadurcd ein Sufanunenwirfen von Eltern und
Lehrern ju erjielen, das beiden niiglich fein mug. Wir verſuchen aud) die Aufmerkſam⸗
feit der Eltern auf Unterridtsfragen zu lenken, damit fie Die Methoden verſtehen und
wirklich verfolgen finnen, nad denen man ibre Kinder unterrichtet. Aber die Grund:
lage unjerer Arbeit bildet die Aberzeugung, dah es hauptſächlich die häusliche Erziehung
ijt, Die den Charafter des Kindes und durd) ibn den Charafter der Nation bejtimmt.
Was verftehen wir unter dem Worte Charatter? Gemiit, Geijt und Phantaſie
find Naturanlagen; ehe der Charafter aber errungen werden fann, müſſen dieſe Natur:
anlagen von den durch alle Sinne und von allen Seiten berbeijtrémenden Einflüſſen
durchdrungen werden. Welcher Art mun diefe Einflüſſe fein follen, liegt größtenteils
in der Eltern Macht zu entjdeiden. Zuerſt müſſen wir uns flar madden, dah die
Kinder in gewiffem Sinn das fein werden, was wir felber find; dah unſer Charafter
auf der Grundlage vererbter Anlagen und Cigentiimlichfeiten auf fie einwirft. Was
wir find, ift obne Zweifel weit widhtiger als was wir ſagen und tun. Die erſte
erziehliche Aufgabe der Cltern ijt die Arbeit an fich felbjt, um ſich gang mit dem
Bewußtſein ibres heiligen Amtes und ibrer Verantivortlicteit zu durchdringen. Wir
haben gewiſſe Inſtinkte, wie unfere Kinder bebandelt werden jollen; wir baben die
große Liebe, die jedes Kind als fein Geburtsredt beanſprucht; das geniigt aber nidt.
Man weiß heutzutage viel von dem Zujammenwirfen des Körpers und des Geiſtes,
pon den Gefegen der Charafterbildung, won der CSeelenlebre und Phyſiologie, der
Heranbildung unſerer Lebensgewohnheiten. Yn der ,,Parents’ Union* beftreben wir
uns, fo viel wie miglich daraus ju lernen, um unferen Pflichten voll geniigen ju können.
Die Reit der Inſtinkte ijt vorüber, Dilettanten duldet man auf feinem — ernſter
Arbeit mehr. Wir meinen, daß der Elternberuf nicht der einzige ſein darf, für den
man keiner Bildung bedarf. Wir wollen unſere Erfahrung nicht erſt durch Experimente
an unſerem Alteſten erkaufen, und womöglich dabei der uns von Gott anvertrauten
—
Gin Erziehungsverein von Eltern in England. 689
Seele unfereds Kindes Schaden jufiigen. Wir verjuchen, uns die Tragweite ded
Gedankens flar 3u machen, daß durch unrichtige Behandlung alles verdorben werden
fann, wo riditige Behandlung Vollkommenheit ergielt hatte. Das Leben wird von
Taq yu Taq febwieriger; man eriwartet mehr von uns, und wird von den Kindern
nocd mehr erwarten, wenn fie fpater ibre Stellung als Weltbürger würdig ausfiillen follen.
Diefer Überzeugung verdanft die P. N. E. U. ihr Entiteben. Die Erziehungs—
philofopbie, die Charlotte Mafon, ibre Gründerin, in verfchiedenen Biichern Home
Education® ,Parents and Children“ uſw. entwidelt bat, dient ibrer Urbeit als
Grundlage. Der Verein hat fich, wenn auch im jtillen, raſch und ſtetig vergrößert.
Wir zählen jest über 2000 Mitglieder in 35 Zweigvereinen in Grofbritannien und
den Kolonien. Ich fenne die Verbaltnijje in Deutſchland nicht geniigend, um beurteilen
yu finnen, of ein folder Verein hier Anklang finden würde, aber bei und ift er eine
einflußreiche Macht geworden.
Ich komme foeben von unferem achten Jahreskongreß, der in Edinburg gebalten
und von unferen Prafidenten, Lord und Lady Wberdeen, eröffnet wurde. Er vereinigte
viele der bedeutendjten Denfer unferes Landes: berühmte Arzte, Geiſtliche, Schulleiter uſw.
kamen aus nab und fern, wm vor zirka 300—400 Zuhörern — meijtens Eltern —
zu reden.') Bon der Aberzeugung durchdrungen, daß aud) fie viel lernen fonnten,
zeigten ſich Diefe Fachleute gerne bereit, denen gu helfen, die ihred Beijtandes bedurften
und ibn wünſchten. Cie batten vollfommen eingefeben, daß heutzutage die Pflichten
der Eltern mit dem Sablen des Schulgeldes nicht zu Ende fein dürfen. Unſere
verſtändnisvolle Mitarbeit, unfere Kritif wird verlangt; unfere beftimmende und aus:
ſchlaggebende Macht fiber des Kindes Charakter wird von der pädagogiſchen Wiſſen—
ſchaft gewertet. Wir ditrfen nicht faumen, daraus erwachſenden Anforderungen yu
geniigen.
In unſeren Sweigvereinen veranftalten wir monatlide Borlefungen und
Distufjionen fiber die fdrperliche, geijtige, moraliſche und religidfe Erziehung der
Kinder. Wir haben eine niigliche Monateſchrift ,The Parents’ Review", eine Leib:
bibliothe® von padagogijden Werken; wir veranitalten Ausfliige, um den RKleinen
Liebe und Verſtändnis fiir die Natur einjuflopen. Ferner halten wir einfache Vor—
lefungen fiir Rinderfrauen (denn in England werden die Kinder zu viel den Kinder:
frauen itberlafjen), ſodaß diefe cinen Begriff von der Heiligfeit und Verantwortlicfeit
ihres Berufs befommen können. Auch eine Erjichungsanjtalt fiir Lebrerinnen haben
wir begründet. Wer fic fiir die Tätigkeit unfered Verbandes intereffiert, fann in
unjerem Bureau, 26 Victoria Street, London, jede nähere Austunft erlangen.
) Es ijt fiir unfere deutſchen Lefer gewiß interciiant, durch das Programm dieſes Kongreſſes
einen Eindruck von dem Arbeitsfrets ded Verbandes zu erhalten. Wir laſſen es deshalb hier folgen:
Friday, 27th May— Evening, 8.80. Opening Meeting. The Earl of Aberdeen in the
Chair. — ,The Education of Character. Dr A.T. Schofield, London, — ,Nature and Nurture.*
Professor J. Arthur Thomson, M. A., Aberdeen University. — Saturday, 28th May— Forenoon,
10. 30. The Countess of Aberdeen in the Chair. — ,Normal Growth in School Age.“ Dr Leslie
Mackenzie — ,Nervous Diseases and Symptoms of the School Age.“ Dr Clouston, President,
Royal College of Physicians. — Developmental Exercise at School.“ George Smith, M. A.
Oxon., Headmaster of Merchiston Castle School. — Monday, 30th May— Forenoon, 10. 30.
Mrs Franklin in the Chair. — ,Relation of Home and School.“ Paper contributed by Dr Burge,
Headmaster of Wiochester College. — ,Parents and Lessons.“ Mrs Clement Parsons, London. —
„Ou the Teaching of Mathematics and its Place in General Education.* T. J. Garstang, M. A.,
Science Master at Bedales School. — Afternoon, 2.30, Mrs Howard Glover in the Chair. —
»Some Hints for Reading with our Children. Dr Alexander Whyte. — Field Excursions in
Relation to Nature Study.“ Dr R. Stewart Macdougall, M. A., Heriot- Watt College. — ,The
Educational Value of the Habits of Observing Nature.“ Rev. ‘Canon Rawnsley. — „The Place
of Music in Education.“ Professor Niecks, Mus. D., Edinburgh University. — An Ambleside
Kvening. A Paper on ,Scottish Ballads* (with Ulustrations). By a Former Student at the
House of Education, Ambleside. — Tuesday, 31th May— Forenoon, 10.30. ,Training in the
Service of Man.“ J, Lewis Paton, M. A., Highmaster of Manchester Grammar School. — +The
Modern Girl’s Demand for Work.“ Miss Bannatyne, Glasgow. — ,Children and National Ideals.“
Arthur Sherwell. — Afternoon, 2.30. Meeting in co-operation with the Scottish Mothers’
Union. — ,A Vital Edacation.* Mrs Clement Parsons, London. — ,Some Good Gifts for
Children.“ Rev. Dr Hunter, London. — ¢
44
690 Gin Erziehungsverein von Eltern in England.
Unſere ganze Tätigkeit aber fteht, wie ſchon erwabnt, auf dem Boden beſtimme
pädagogiſcher Anſchauungen, deren Leitgedanfen ich gern flüchtig andeuten mode
Wir glauben, daß Kinder als Heine Perſönlichkeiten geboren werden; weder als fdor
Blumen, nod als Engelchen oder Teufelchen, ſondern als menſchliche Weſen; abgeſebe
von ihrem Mangel an Welterfahrung, kaum von uns verſchieden. Cie werden wede
vollfommen gut, nod) durdaus böſe geboren, find aber des Guten fowie Des Bojer
fähig, und die Entiwidlung diefer Fabigkeiten ijt jum großen Teile von uns abbangia
Wir fordern die Cltern auf, an fic felbjt gu glauben und ibre Mutoritat met
abzutreten. Wir ſchärfen unferen Mitgliedern ein, daf man dem Nervertfettem der
Kinder die Erregung des beftindigen Disfutierens und Fragens nicht erlauben Dart
Sie miijjen von den Kindern den frohlich-bereiten Geborjam verlangen, den man cine
geachteten und gelichten Autorität gerne leiftet, der einer Stiige gleicht, an Die fd
eine jarte Pflanze fejtflammert, und der von dem erjwungenen Weborjam, Den Der
Autofrat erheiſcht, himmelweit entfernt ijt, Wenn wir als Autoritat den Kindern
mit der rubigen, vollfommen felbjtficheren Erwartung ibres Geborjams gegenüber—
treten, werden wir von ihnen erreichen, was wir verlangen. Wir achten die
Perjonlichfeit des Kindes und ſuchen es weder durd) Furcht nocd durch Liebe zu
beeinflufjen. Unfere Achtung verbietet uns, von feinen Feblern gu denfen, daß „e—
ja nichts ſchadet“, dak „es fic ſchon von felbjt geben wird” und ,dah es feine
fleinen Unarten mit der Zeit auswachſen wird’, Wir machen es uns zur Regel,
nie im Beijein der Kinder etwas yu fagen, was fie nicht hören oder bebaltert follen.
Wir unterlajjen alle Bemerfungen über ibre dicen Beinchen oder hübſchen Vocken—
köpfe; wir lachen nicht iiber ihre Sprechverfuche, fur3 und gut, wir bemühen uns,
fie eben jo wenig durch Mangel an Lebensart und unhöfliche Manieren zu verlesen,
wie wir die} von ihnen Ddulden würden. Dies wird keineswegs die natitrliden
Beziehungen zwiſchen Cltern und Kindern ſtören. Wir feben in unferen Kindern
weder ,, Studienobjefte”, noch Spielzeug, mit dem man ſich amiifiert, vielmebr We fen,
die unferes Beiftandes und unjerer Erziehung bediirfen. Unjer Dichter Matthew
Arnold fagt: ,Education is an Atmosphere, a Discipline, a Life* (Crjiehung ijt cine
Atmoſphäre, eine Disziplin, ein Leben), und dieſe Worte haben wir zum Motto gemablt.
Wenn wir fagen, dah „Erziehung eine Atmoſphäre ijt”, meinen wir nicht, dap
das Rind in eine feinem Alter bejonders angepafte, vom häuslichen Leben getrennte,
fiinjtliche ,,Rinder-Umgebung” verfegt werden foll, fondern dak wir den Erziehungs—
wert feiner häuslichen Atmofphare in Betracht ziehen, ſowohl hinſichtlich der Perfonen,
wie der Gegenftinde, und dak wir es frei unter natürlichen Umſtänden leben Laffer.
Es verdummt ein Kind, wenn man fich fortiwabrend ju ibm berablaft und fic ibm anpage.
Der Sag , Erziehung ift eine Dissiplin” bezeichnet uns die Schulung der Ge:
wobnbeiten, die, migen es körperliche oder geijtige fein, mit Beftimmtbeit und Sorg—
falt ausgebildet werden ſollen. Phyfiologen belebren uns über die Anpafjung der
Gehirnſubſtanz an die oft wiederbolten Gedanfenginge, d. h. an unjere Gewobnbeiten.
Se mehr wir einfeben, wie wir in unferen Rindern Güte, Selbſtloſigkeit, Freundlichkeit
in Wort und Tat, ebenfo wie Reinlichfeit, Ordnung, Pünktlichkeit ufw. zu ſelbſt—
verftdindlichen Gewobnheiten machen können, deſto mebr erfparen wir uns die nuglofe
und ermiidende Arbeit des beftdndigen Ermahnens, Scheltens und Befeblens. Es liegt
cine tiefe phyſiologiſche Wahrheit in dem deutſchen Sprichwort, das, wenn ich mid
nicht irre, fo lautet: ,,im Sommer lernt man Seblittichublaufen, im Winter ſchwimmen“.
Das Gebirngewebe wächſt und verändert fich, uns felber unbewupt, um fic den neuen
Anforderungen anzupaſſen.
Von befonderer Wichtigkeit — wenn es mir geftattet ijt, bier etwas eingebender ju
werden — ijt Dabei das Verſtändnis dafiir, wie der Wille arbeitet.
Wir miijjen unfere Kinder Selbſtbeherrſchung und Selbſtdreſſur lehren, damit
fie freie Menſchen werden, die ihren Willen in ibrer Gewalt haben; eigenwillige
Menſchen find Sflaven ibrer Leidenfechaften und Begierden. Um dies zu erzielen,
follten wir uns bewußt fein, daß, wenn man ein Rind lebrt, das Rechte yu tun, man
es zu gleicher Beit Iebrt, das Boje yu unterlafjen; man darf keinen Febler wadsjen
Gin Erziehungsverein von Eltern in England. 691
fafjen und dann fpater verſuchen, ifn durch Strafen auszurotten, man mug ibn von
Anfang an im Keime erftiden. Wir wiffen aus eigner Erfabrung, dap wir die böſe
Lat nur durch Vermeidung böſer Gedanfen verhindern können. Das gan; Eleine Kind
fann jfeine eigenen Gedanfen nocd nicht leiten, und wenn es in Verſuchung fommt,
etwas Unrechtes zu tun, müſſen wir ihm hilfreich beijteben und ibm friſche Intereſſen
verfdajfen. Go wird ¢3 die Gewohnheit der Selbſtbeherrſchung erwerben, und den
Unterſchied swifehen dem Wunſche „das möchte ich wohl’ und dem Entſchluß „das
will ich aber nicht“ erlernen. — Ein Teller Obſt iſt auf dem Tiſche, das Kindchen auf
unſerem Arm. Es will das Obſt haben. Es nützt nichts, nur „nein“, „nein“ yu
ſagen und es, wenn es fortfährt, danach zu weinen, vielleicht zu ſchlagen, oder es
heulend davonzutragen; wir müſſen klar und nachdrücklich „nein“ ſagen, ſodaß es
weiß, daß damit „nein“ gemeint ijt, und dann müſſen wir ſeine Aufmerkſamkeit auf
etwas anderes lenken, die Blumen auf dem Tiſche, das Schlüſſelbund, oder ſonſt etwas
ebenſo Bezauberndes. Das Kind merkt nicht, in welcher Weiſe es geleitet wird; wenn
es das merkt, ſo iſt unſer Verſuch durch unſere eigene Ungeſchicklichkeit mißlungen;
jedoch in fein Bewußtſein gedrungen ijt der Begriff: „nein“ heißt „nein“, und fein
Verlangen nach dem Verbotenen ijt nicht durch ein Widerjtreiten der beiderjeitigen
Willen gereiszt worden. Späterhin, wenn der heranwadjende Knabe an dem ver:
lockenden Schaufenfter der Nonditoreien ſtehen bleibt, wird er fein Verlangen, binein-
augeben, beherrſchen können. Cr wird wijjen, daß gegen die Verſuchung, etwas Un—
rected zu tun, die bejte Hilfe darin bejtebt, jeine Gedanfen auf etwas Intereſſantes
und Grlaubted ju lenfen. Außerdem wird fic der Cindrud einer bekämpften Ver—
fuchung mit den Fajern feines Charafters verwadjen und mit feiner Gehirnſubſtanz
verwebt haben. Es liegt auf der Hand, wie dies den Trieh zur Trunfjucht und
anderen leidenſchaftlichen Begierden beeinflujjen wird. —
In den Worten ,, Erziehung ijt ein Leben” liegt fiir uns die Wahrheit, daz
der Geijt fic von Jdeen, wie der Kirper von phyſiſchen Lebensmitteln nabrt. Wir
dürfen ibn nicht verhungern laſſen, fondern müſſen ihm ein umfajjendes Ideenmaterial
als Nahrung darbieten. In England ſind wir uns bewußt, daß unſere Schulpenſen
zu einſeitig ſind; ich glaube, daß in Deutſchland der Schulunterricht einen aus—
gedehnteren Gedanken- und Intereſſenkreis umfaßt. Um mun dieſem Spezialiſieren in
den Schulen entgegenzuwirken, muß das Elternhaus während der erſten Kinderzeit,
wenn die Kinder uns ſo ganz angehören, und ſpäter neben der Schule, ſie mit dem,
was die Schule ihnen nicht gibt, dem Beſten in Kunſt, Muſik und Literatur bekannt
machen. Wir wirken auf die Eltern ein, daß ſie ihren Kindern die beſten Bilder
zeigen, ſie die beſte Muſik hören laſſen, und ihnen die beſte Proſa und die ſchönſten
Dichtungen laut vorleſen. Wir ſehen ein, daß zur wahren Erziehung viel mehr gehört,
als das Einpfropfen von totem Leitfadenwiſſen über allerlei Gegenſtände. „Erziehung“
öffnet die Pforten, durch welche man in die Welt eintritt, ſie ſtillt den angeborenen
Hunger nach dem Großen und Guten.
Natürlich bleibt es trotz aller Prinzipien keine leichte Aufgabe, jedem neuen Fall
gewachſen zu ſein — das Kind iſt, wie ich ſchon geſagt habe, eine kleine Perſönlichkeit —
wir haben mit einer menſchlichen Seele zu tun, die ehrfurchtsvoller und zurückhaltender
Behandlung bedarf. Unſer Verein kann deshalb nicht darauf Anſpruch machen, fertige
Rezepte zu verteilen, wie man einen Menſchen bildet; es wäre traurig, wenn er das
tun wollte. Wir können unſeren Mitgliedern nur unſere Grundſätze darbieten, die ſie
in ihrem eigenen Leben und in ihrem eigenen Heim ausarbeiten mögen. Selbſt mit
aller erworbenen Erkenntnis ijt unſer Amt das allerſchwierigſte, das es gibt. Wenn
wir bei dem Werke, unſere Kinder für den Kampf des Lebens ausrüſten zu wollen, getroſt
und guten Mutes bleiben ſollen, haben wir beſtändiges Gebet, beſtändige Liebe und
beſtändige Geduld nötig. Dann dürfen wir vielleicht hoffen, daß die Welt durch unſere
Arbeit und durch unſer Streben ein wenig beſſer und glücklicher werden wird.
—
44*
692
Marie Mellien 7.
Nachdruck verboten. — —
ls die Sektion fiir ſoziale Fürſorgetätigkeit und Wohlfahrtseinrichtungen auf dem
y internationalen Frauenkongreß über Gefangenen-Fürſorge verhandeln wollte,
erreichte ſie die Nachricht, daß die eine der beiden deutſchen Vertreterinnen
dieſes Gebietes, Fräulein Marie Mellien, durch den Tod an der Teilnahme, die ſie
zugeſagt hatte, verhindert ſei. Wie der Kongreß ein Geſamtbild der Frauenbewegung
und der ſozialen Frauenarbeit geben ſollte, ſo bedeutet die Lücke, die der Tod in ſein
Programm geriſſen hat, zugleich eine Lücke in dem großen Arbeitsgebiet, das die
deutſche Frauenbewegung umfaßt, und wir dürfen ſagen, eine Lücke, die nicht obne
weiteres wieder auszufüllen ſein wird. Iſt doch angeſichts der immer noch ſo geringen
Hilfskräfte, über die wir verfügen, jede Frau, die mit wirklicher Sachkunde und auf—
richtiger Hingabe auf einem Cinjelqebiet arbeitet und dod jugleid das Ganze der Be—
wegung geiſtig iiberfieht, von unſchätzbarem Wert.
Cine ſolche Mitarbeiterin in unjerer Cache war Marie Mellien. Bon Haus aus
Lebrerin, beſaß fie ein auferordentlich vieljeitiges Wiſſen und eine Menge ebenjo
lebhafter als ernſter geiſtiger Intereſſen. Sie bat dadurch der Frauenbewequng in
Berlin, wo ſie als Schriftführerin des Berliner Frauenvereins lange Jahre tätig war,
als auch dem weiteren Kreiſe der deutſchen Frauenbewegung manchen Dienſt geleiſtet.
Durch Aufſätze und Broſchüren, mit denen ſie hier und da kräftig und klar in den
Kampf für unſere Sache eingriff, iſt ſie von Anfang an für die Frauenbewegung in
jenem hiſtoriſch klarſichtigen, ruhig aufbauenden Sinne eingetreten, dem allein der
wirkliche Fortſchritt und der endliche Sieg unſerer Sache ſicher ſein wird. Für
Einzelgebiete der weiblichen Erwerbstätigkeit, den Apothekerberuf, die Stenographie,
hat ſie beſonders gearbeitet. Der Vergangenheit der Frauenbewegung gehörte ihr
lebhaftes Intereſſe, und ſie hat in manchem kleinen Aufſatz beſonders die Frauen—
bildungskämpfe des 18. Jahrhunderts beleuchtet.
Die Gefangenen-Fürſorge war nur eines, aber das hauptſächlichſte der vielen
Cinjelqebiete, auf denen Marie Mellien tatiqg war. Und man fann wobl fagen, daß
fie bier Das Verdienjt ciner Pionierin nnd Babnbrecerin beanfpruchen darf. Cie bat
es erreicht, daß in Berlin einer Kommifjion von Frauen des Berliner Frauenvereins
jeiten3 des Juſtizminiſteriums die Erlaubnis gegeben wurde, die weiblichen Gefangenen
zu beſuchen und ſich wabrend der Beit ibrer Gefangenſchaft ibrer angunebmen, um
dadurch Die Vorbedingungen einer wirkſamen Fiirjorge nach der Entlaſſung zu ſchaffen.
Unermüdlich hat ſie als Mitglied und Leiterin dieſer Kommiſſion die einmal über—
nommenen Pflichten ausgefüllt und immer noch erweitert. Sie hat dann auch in all
den Zweigen der ſozialen Fürſorge gearbeitet, die mit dem Schickſal der Gefangenen,
vor allem des jugendlichen Verbrechers, in irgend einer Weiſe in Beziehung ſteben.
Die Vereine gegen die Mißhandlung von Kindern, der freiwillige Erziebungsbeirat,
alle die Vereine und Einzelperſonen, deren reger Tätigkeit wir die Einführung der
Zwangserziehung verdanfen, baben aus ibren Erfabrungen guten Rat und aus ibrer
warmen Begeifterung fiir ibre Sade Mut und Zuverſicht ſchöpfen können. Cin weites
Gebiet menieblicher Hilfstatigkeit, echter Fraucnarbeit, das ihre Intereſſen umfpannten,
mug nun ihrer ftets bereiten Tatfraft, ibrer fiir jeden Schritt vorwärts leicht ju
gewinnenden Initiative entbebren.
Ihre Arbeit auf diefem, wie auf allen anderen Gebieten wird aber unvergeſſen
fein. Sie wird ſich der Erinnerung aller Dever, die bier wirkliches Intereſſe einſetzen,
immer wieder aufdrangen aus den Erfolgen, Die file qebabt bat, aus dem Vergleich
ao
Criverbstitigheit. 693
zwiſchen dem, twas cinft war und was jest ift, aus der lebendigeren Aufmerkſamkeit,
Der ſachverſtändigeren Hilfe, die jebt da eingefest wird, wo Marie Mellien die erften
Unrequngen gegeben, Die erſten Kräfte geworben bat. Und auch der weitere Rreis
Der deutſchen Frauenbewegung wird ibren Namen in der großen Reihe derer auf—
— die durch gewiſſenhafte Arbeit unſerer Bewegung die feſten inneren Grund—
lagen ſchaffen halfen. Hy;
PIC
Erwerbstatigkeit.
Konigl. Handels« und Gewerbeichule bietet bie Schule die mannigfadfter Ausbildungs—
fir Madden 2 zu Potsdam. | gelegenbeiten in den verichiedenften praktiſchen
Radhbrud verboten. Berufen.
Die feit linger als 10 Jabren in Potsdam So befteben in der Gewerbefdule befondere
beftebende Hausbaltungs:, Kod: und Induſtrieſchule Kurfe fiir 1. cinface Handarbeit, 2. Maſchinenähen
ber Fraulein Juſt iſt anfangs April vom Staate | UN Wafdeanfertigung, 3. Schneidern, 4. Putzmachen,
iibernommen und zu einer Königlichen Gandels. | 5. Kunfthandarbeiten und Zeichnen, 6. Waſchen
und Gewerbeſchule fiir Madchen erieitert worden, | und Platten, 7, Roden und Vaden, 8. Zeichnen
Die Schule tft dic dritte ihrer Urt in Preugen und Ralen, iiber deren Unterridtédauer und bas
und in erfter Linie dazu beftimmt, dad Gewerbe- hierfür im einzelnen feſtgeſe dte Schulgeld das
ſchulweſen für Mädchen in den mittleren Programm naheren Aufſchluß gibt.
Provinzen unſeres Staates zu fördern und ſeine gir Mädchen, welche fic) dem Handelsfache
Weiterentwidlung dure Ausbilden geeigneter Lehr: | widmen wollen, ijt cine Handelsſchule mit zwei
frifte vorjuberciten, wodurd fie den Rang einer Abteilungen beftimmt, in welchen die Schülerinnen,
Zentralanſtalt gewinnt. Sie umfaßt Abteifungen | it nach ihrer Vorbiloung, entipredende fadhliche
fiir die Erlernung des Haushalts, fiir dic Aus: | Unterweifungen erhalten, Zum Bejuch ber einen
bilbung in gewerblicen Berufszweigen und ju Abteilung, der Handelsſchule, wird nur ein Alter
faufmannifden Betrieben, fowie fiir die Aus: | von fünfzehn Jahren und Volksſchulbildung verlangt ;
bifbung von Lebrerinnen an gewerblicen | zum Beſuch der anderen Abteilung, der höheren
Mädchenſchulen und verbindct alſo eine Reige wich. | Handelsfdule, muß das 17, Lebensjabr guriid:
tiger Aufgaben, die der Frauenwelt teils neue | gelegt fein und der erfolgreiche Befuch ciner höheren
Gebiete crdffnen, teils alte erhalten follen. Tochterſchule bezw. Mittelſchule nachgewieſen werden.
Als vornehmſten und wichtigſten Unterricht ſtellt Das Schulgeld für die erſtere betragt 50 Mark,
die Schule in ihrem Programm die Aneignung der für die letztere 70 Mark halbjährlich, die Kurſusdauer
zur Führung eines guten Hausweſens er- ſelbſt je ein Jahr.
forderlichen Fertigkeiten und Kenntniſſe an die Spige. | Ebenſo erjreulich ift es, daß mit der Schule cin
Dic Ausbildungsdauer in der Haushaltungs: | Seminar zur Ausbildung von Handarbeits:, Koch-,
ſchule betriigt ein Jahr; in diefer Beit werden | Hauswirtidafts- und Gewerbefdullehrerinnen
junge Wadden gegen ein Schulgeld von 150 Mart | verbunden ift und damit nod) cine andere Gelegenbeit
fiir den ganzen Kurſus im Rochen, Walden, Platten | für Madchen, fic) gu einer ſicheren Lebensftellung
fowie in der Führung de3 Hausweſens unterrichtet | die Kenntniſſe aneignen gu können, geboten wird.
und in den cinfaden Handarbeiten, int Nabhen, Für auswärtige Schülerinnen beftebt ein
Stopfen, Maſchinenähen rc. angeleitet. Außerdem Penſionat, in welchem fie nicht nur cin an—
wird nod cin ergänzender Unterricht im Deutſchen, genehmes und geſundes Heim, ſondern aud cine
Rechnen, Zeichnen, Gejang und Turnen nebft liebevolle und doch ſtreng geregelte Erziehung finden.
Belebrungen in der Gefundheitslebre, Kinder und | Der Penfionspreis betriigt 1000 Mark jährlich.
Sranfenpflege erteilt. Anmelbungen werden im provijorifden Schul—
fiir jene Madden und Frauen, welchen die | gebäude, Moltteftrake 4, entaegengenommen, ded:
Griindung eines cigenen Hausftandes verfagt bleibt, | gleiden wird dort jede Austunft erteilt,
oh
(4
Der Diiffeldorfer Franentag
wurde am 23. Sunt von Frau Profeffor Krulen—
berq-Kreugnad, der Leiterin der Tagung, mit
folgenden Worten eröffnet:
arbeitéreichen Tagen, dem grofen internationalen
Berliner Frauenfongreh; aber auch diejenigen blicken
auf arbeitéreiche Tage zurück, welche die Diiffel:
dorfer Verſammlung vorbereiteten. Jedoch nicht
alg Mühe und Laft wollen wir unjer gemeinfameds
Tagen empfinden. Es ijt das alte Vorrecht der
Frau, aud die Arbeit durch Anmut und Schönheit
gu aden, es ift das Privileg des Rheinländers,
aud am Alltag Feiertagsgewand angulegen, in
Feiertagsſtimmung froh ſeine Pflicht zu erfiillen.
Trigt dod auc) die Natur in unferen rheiniſchen
Landen leuchtend ein ſchönes Gewand, obwohl fie
Werte bervorbringt, obwobl darin gearbeitet twird
ebenfoviel oder mebr noch wie in anderen Teilen
unferes deutſchen BVaterlandes. Freude und Schonbeit
nicht iiber Mühe und Arbeit zu vergeffen, tft bei
unjerer Tagung befonders am Plage. Handelt es
ſich doch darum, fiir die Frau zwei Arbeitsgebiete
umzugeſtalten, dic fie in engſte Fühlung bringen
mit dem, was uns alljeit die befte Crquidung be—
deutet, alS Gartnerin, als Landiwirtin mit der
Natur, als tunjtgewerblid ober Hinftlerifd tatige
Frau mit der Kunft. Gartenbau und Kunſt haben
ſich in Diiffeldorf zu einem Ganjen vereinigt,
Wartenbau und Kunſt fuchen aud das Intereſſe
der Frauen zu erweden, fucken fie angujpornen,
fic) in ibre Dienfte gu ftellen. Männer erbaten
diefe Verſammlung. Laffen Sie uns zeigen, dag
wir Frauen immer und ganz jur Stelle find,
wenn der Mann unferer zur gemeinfamen Arbeit
fiir die Wobhlfabrt und fiir die Beredelung unfered
Bolkes bedarf.
Mad einer Reihe von tweiteren Begriipungen
bielt Frau Marie Wegner: Breslau einen febr ein:
achenden Gortrag über: „Schul- und Arbeitergarten”.
Pret GefichtSpuntte feien eS, welche Veranlaſſung
acben, die Ugitation fiir die Schulgärlen aufyunehmen
und die Errichtung von Arbeitergdrten und Yauben-
folonien in Stadt und Land gu befiirworten: 1. Die
enorme, viele Millionen umfaffende Einfuhr von
Obſt und Gemiife nad Deutſchland, 2. die mangel-
bafte BollSernabrung und die Volfsgefundheit in
den Stadten und 3. das Zuſtrömen der ländlichen
Urbeiter, befonders der Frauen in bie Stabte und
ibr Erſatz durch minderwertige Arbeitskräfte aus dem
Auslande. Die Referentin forderte die Cinfiibrung
yon Schulgärten an jeder Schule, ihrer natur-
wilfenicbaftlichen, fittlid-ergicberijden, hygieniſchen
Wir fommen von |
und volkswirtſchaftlichen Bedeutung wegen, damit
gum Heile Deutſchlands fic) Roſeggers Worte er:
fiillen: „Aus der Scholle ſprießt die Kraft fiir den,
der fie beriibrt und fiir bie ganze Welt.“
Die Vortragende erntete fiir ihre feffelnden
Ausführungen [ebbaften Beifall.
Frau Lang: Aweibriiden ſprach hiernach iiber
das Thema Alfobol und Objtverwertung. Sie
wandte fic hauptſächlich an die Frauen; in thren
Händen liegt unfere gange Sufunft, in ibrer Cigen:
{daft als Mütter baben fie ben gréften, weit
tragendfien Cinfluf auf die fommende Generation.
Um bem Alloholgenuß zu fteuern, tritt bie Bor:
tragende fiir alfobolfreie Getränke ein. Auch die
Ernabrungsiweife miiffe beffer geregelt werden.
Fleiſchſpeiſen reigen den Durft, an ibre Stelle
miiften vornebmlich Gemiife und Obft treten. Hat
fic erft überall die Erfenntnis Bahn gebrocben,
daß gerade in ber verfdicbenartigen Verwertung
ded Obſtes cin cintraglider Beruf der erwerbstätigen
Frauen gefunden ijt, jo werden fich die aegenfeitiqen
Intereſſen begegnen, und die beute aufgeftellten
Forderungen werden yu ibrem Rechte fommen.
Gin [ciftungsfabiges, geſund empfindendes Geſchlecht
wird heranwachſen, dad den Miittern danfen wird,
daß fie dic Errungenfebaften modernen Forſchens
allen alten Uberlieferungen jum Tro mutig in ibr
Haus und in des Haufes Heiligftatt, die Kinder:
ftube, getragen haben,
Fraulein Erdmann: Godesberg referierte über
bie neu gu errichtende Gartenbaufdule fiir Frauen
in Godesberg, deren Leitung fie fibernebmen wird.
Tarnad ead) Fraulein Auguſte For fter-Cajiel
über die Anfiedlung der gebildeten Frau auf
dem Gand. Es banbelt fic) um eine Ubertragung
ber Idee der Social Settlements auf das Land,
gu ber fie in der Nabe von. Caffel cinen Verſuch
gemacht bat.
Daran ſchloſſen fic nod Vortrage von Fraulein
de Leeuw- Holland über den Einfluß der Frau auj
die Landſchaftsgärtnerei und Fraulein Dr Castner
iiber den Gartenbau in hygieniſcher und vollswirt
ſchaftlicher Bedeutung.
Der gweite Tag der Verbandlungen gebirte der
Stellung der Frau yur Kunſt. Nach einer Rede
in engliſcher Sprache ber Mrs. Pauls, die die
Spympathien des Frauen-Aderbau: und Gartenbau:
vereins darlegte und in deſſen Namen den Frau:
tag begriifte, nabm Frau Direltor Frauberger das
Wort ju ibrem Vortrag über die funftgewerbliden
Veftrebungen der Frauen. Die Bortragende ver
weift zunächſt darauf, daß fie bie Bedeutung ded
Wortes ,Runftgewerbe” nicht allzu eng bearenjt
Verſammlungen und Vereine.
auffaffen finne, wie es im allgemeinen gefchebe.
Dic Forderungen an Städte und Staat, den Frauen
die Wfademien und Kunſtgewerbeſchulen zu Hffnen,
müßten weiter ausgebaut werden. Schon beute
ſtänden allerdings mehrere Schulen den Frauen
offen; fo in unferer Gegend die Kunſtgewerbeſchule
im Elberfeld, die Tertilfdulen in Barmen, Krefeld
und Rhevdt und die von der Bortragenden geleitete
Stidereifdule in Düſſeldorf. Es wäre aber febr
au wiinfden, wenn aud an Eleineren Orten zwed⸗
entſprechende Schulen vorhanden wären. Wenn
man den ſtatiſtiſchen Auskünften nachgehe, ſo finde
man, daß die Frau, wenn ſie gründlich in irgend
einem kunſtgewerblichen Fache ausgebildet ſein
wolle, auch Gelegenheit hierzu habe. An dieſem
Willen fehle es aber noch vielfach. Während es
bei dem Sohne ſelbſtverſtändlich ſei, daß er einen
Beruf erwähle, würden bei dem Mädchen die beſten
Jahre durch Unterhaltung und Dilettantismus
verſchwendet. Es heiße aber auch bei der Tochter
daran zu denken, für ſich zu ſorgen, und daß ſie
das, was ſie lernt, ſo gründlich erlernt, daß es
ihr ſpäter nützlich ſein kann. Wenn es ſich darum
handele, ein junges Mädchen von Talent und
wirklichem Ernſt in das kunſtgewerbliche Fach ein—
zuführen, ſo ſei vor allem der Beſuch einer guten
Zeichenſchule, möglichſt eines ſtaatlichen Inſtituts,
empfehlenswert. Da jedoch das Kunſtgewerbe,
mehr als die Kunſt, in der Praxis eine große
Handfertigleit erheiſcht, ſo habe fic die junge
Dame wohl yu prüfen, ob ibe Körper dieſe Arbeit
aud aushalt. Träfen dieſe Borbedingungen gu,
dann fet nur zuzuraten.
Qu der Distujfion erklärte fid) Herr Profeffor
Behrens fiir Sulaffung der Madden gu allen
ftaatliden Musbilbungsanftalten.
Hierauf wurde Herrn Redalteur Freiberrn Karl
von Perfall-Ciin das Wort erteilt yu cinem Bortrag
iiber ,, Die Erziehung dev Frau zur Kunſt“. Der
Redner betonte cinleitend, daß er bei Behandlung
dieſes Themas von einem anderen Standpuntt
ausgebe, ald feine Borrednerinnen. Gr gehe aus
nidt von ber Frauenfrage, von dem Intereſſe
der Frau, fondern von dem Intereſſe der Kunſt;
ba ergebe fich cin anderer Geſichtspunkt, als wenn
man bie Frage von feiten der Frauenbewegung
aufwerfe. Er fpreche auch nicht iiber die
Grjiehung yur Kiinftlerin, fondern über die
Erjiebung yur Kunftpfleqe, jum Kunſtverſtändnis.
Selbſtverſtandlich müſſe die Frau an der Kunft:
fultur mitarbeiten, Dafür muß fie aber anders
erjogen werden. In der Bildung der jungen Madden
herrſche zu biel Dreffur, dabei hätten fie feine
Beit, ſich rechts und link die Welt angufeben.
Die Erjiehung, namentlich der Geſchichtsunterricht,
ber mebr die Kulturgeſchichte umfaffen foll, miiften
anders gebandhabt werden. Der Umgang mit der
Runft folle jedoch nicht allein Modeſache fein. Er
folle etwas fein, was die Seele formt und glücklich
madt, was ingbefondere die Frau auf ibrem
Lebendiwege febr notivendig brauden fann. So
tonne auch eine ebdlere Form der Gefelligheit und
bobere Anfordcrung an geiftiqe Bildung erreicht
werden,
GS wurde cine Rejolution angenommen, nach
ber die gum Frauentag in Diiffeldorf ver—
ſammelten Frauen die —9 der ſtaatlichen
Kunſtanſtalten fiir notwendig halten, da die Brivat-
anftalten das Studium verteucrten und erfebiverten.
695
Ulsdann fprad Frl. Ika Freudenberg-Miindes.
fiber „Die fogiale Bedeutung der Kunſt“. Die
Rednerin ging aus von der Griindung des Goethe:
bundes vor einigen Jahren anlaflich der lex Heinse-
Bewegung. Damals habe man in Miinden, wo
bie Wogen am höchſten gingen, der Frau nicht
erlaubt, dem Gunde beizutreten, weil ex cin politifder
Verein fei, wahrend man in Preufen den Frauen
den Beitritt geftattet babe. Dem Geifte einer
tunjtfeindlidjen Engherzigleit fei viel beffer von der
menſchlichen alS von der politifden Seite bei-
jufommen. Wenn man daran gehen wolle, Ber-
ftandnis fiir echte Kunſt und fiir Kunſtweſen im
Bolte eingubiirgern, dann finne man fic nicht
auf die Mitwirfung der offiziellen Inſtanzen verlaffen,
fondern dann miiffe man fuden babin zu wirken,
daß man im Bolle der Runft ſchon von Haufe aus
Gefühl und rechten Sinn entgegenbringe. Um cin
folded Empfinden zu ween, könne man aber nichts
befferes tun, alS fic) der Mitwirkung der Frau ju
verfichern, bie ben Geift ded Hauſes diftiere. Wher
gerade weil es lange gebcifien, daf die Runft Sache
ded Mannes fei, habe fie bid jest in Frauenkreiſen
nidt die volle Reſonanz gefunden. Generationen
hindurch bat die deutſche Frau fich felbit nicht genug
tun können in der Unterdriidung ibres eigenen
perfinlichen Wefens So hat aud die deutſche
rau fiir Kunſt und Kunſtweſen wenig tun fonnen.
Und bod) fei eine Starfung der fogialen Macht
der Kunſt im Augenblick cine Kulturaufgabe erften
Ranges. Die Ynduftrie, die auf der einen Seite
durd) gang neue Mufgaben die Kunft fördert und
auf fie cinwirft, droht ibr auf der anderen Seite
mit dem Untergang dburd dic Tendeng, immer mehr
die menſchliche Urbeitstraft durch die mechaniſche
zu erfegen. Die Maffenfabrifation in der Kunſt
febe nur eine neue Lüge an die Stelle der alten.
Die künſtleriſche Maſſenware habe raſch ihren Weg
in bas Deutſche Biirgerbaus gefunden. Jn Menge
würden bier die Nippesfachen angehäuft, ftatt durch
Cinfacbeit und Cehtheit gu glänzen. Im weiteren
bedaucrte die Bortragende das immer mehr ju:
nebmende Verſchwinden der Volkstrachten und das
Verdrangen der einfachen Volksmuſik durch die
feelenlofe Volllommenheit der Mufitautomaten, die
in feinent Dorfe mehr feblten. Das Abnehmen
der volfStiimlidjen Kunſt fet nicht dad unwichtigſte
Kapitel von der ſozialen Not der Gegenwart. Wenn
bie Politifer und Nationalökonomen rect bebalten,
fo geben wir in Deutſchland ciner ungebeuren Ver—
mebrung der Volkszahl entgegen und zählen in etwa
20 Sabren 80 Millionen Cinwohner. Dieſe werden
fid) in der Hauptſache auf die grofen Stadte und
Qnbuftrie-Sentren zuſammendrängen und ber grofte
Teil wird heimatlos und von jeder Tradition los—
geviffen fein. Der Staat fommt diefer Entwidlung
entgegen, indem er durch feine Schulen cine Gleich—
artigfeit erjtclt. Uber Stadte und Staat fangen
bereits an eingufeben, daß fie nod) mebr tun
müſſen, um qu verbiiten, daß es nicht nur unter:
ſchiedsloſe Haufen von Menſchen gibt, die nur
verdienen follen. Man muf ihnen Erſatz ſchaffen
für die Freude an der Heimat; ſie ſollen nicht
nur eine Nummer im Vollsleben fein. Welche
Macht wäre aber zu einer ſolchen Wirkung mehr
berujen, als bie Kunſt? Daf man in der Kunſt
eine —— Möglichkeit beſihe, die Un—
zufriedenheit gu bekämpfen, fet auger allem Zweifel.
Die Familie des Arbeiters könne fic) freilich feine
696
teueren Kunftwerle taufen und ſchlechte folle fie ſich
nicht faufen. Wber fie könne fic) an ihnen erfreuen
dburd den Anblid in den Sammlungen, ficd an
ibnen ergötzen im Theater. Hierzu müſſen Stadt
und Staat auSreichende Gelegenbeit bieten. So
ferne auc) ber Urbeiter fein eigenes Dafein be:
deutſamer einſchätzen. Die CErinnerung an dads
Gejdaute und Genoffene fei bas Beſte, was die
Runjt den größeren Kreifen ins Haus mitgeben
finne. Man finne boffen, daß fo auf die Dauer
aud das eigene Gefiihl ded ArbeiterS wieder
produjiere. Bei all diefen Mufgaben gebiihre der
Frau cin Sauptanteil.
Sãuglingsheim.
Schöneberg bei Berlin, Alazienſtraße 7.
Einer der Hauptgedanken bei der Errichtung
unſeres Säuglingsheims war der, vie Trennung
des Kindes von der Mutter für die Dauer der
erſten Monate, wenn tunlich der erſten Jahre, zu
verhindern. Rad) laum dreimonatlichem Beſtehen
unſerer Anſtalt ſehen wir zu unſerer großen Freude,
daß ein größerer Teil der ſcheidenden Frauen
gewillt iſt, die größten Opfer gu bringen, um nur
mit ihren Kleinen vereint zu bleiben. Jede von
ihnen fürchtet die Gefahren der heißen Sommer—
monate, miifte fie jest ihr Kind entwöhnen und
dasſelbe bet künſtlicher Ernährung einer frembden
Pilege anvertrauen. Den dringenden Fragen und
Bitten diejer Mütter Folge gebend, haben wir
beſchloſſen, ein Mütterheim gu organifieren, dad
in einer unmittelbar an unfer Säuglingsheim
anſchließenden Wohnung cingerictet wird. Dasſelbe
ſteht in ſittlicher Hinſicht unter der ſtrengen Aufſicht
unſerer Frau Oberin v. d. Oſten, in ärztlicher
unter der Kontrolle unſeres Arztes, des Herrn
!
;
|
|
erbeten.
Zur Frauenbewegung.
Dr Liſſauer, doc fei gleich hier ausdrüdlich betont,
daß dieſes neue Heim keine Wobltitigteits-, ſondern
lediglich eine Wohlfahrtseinrichtung iſt, die ſich durch
die monatlichen Zahlungen ihrer Bewohnerinnen
völlig ſelbſt erhalten ſoll. Nur die erſte Einrichtung
müſſen wir zu beſchaffen verſuchen. Für 6 Mütter
und Kinder ift fie dem Mutterheim bereits geſchenlt
worden. Dieſe 6 Betten find aber ſchon vergeben,
und es find nod) mehr Meldungen von ausſcheidenden
Frauen vorhanden, die wir gern berückſichtigen
würden, zumal der Blok fiir 12 Betten reicht.
Unſere ſehr dringende Bitte geht nun keineswegs
um Geld, ſondern dahin, die ausſcheidenden Mütter
ber Säuglinge mit Arbeit zu verſorgen, bie es
ihnen ermöglichen ſoll, das Koſtgeld ſtatutengemäß
monatlich pränumerando zu bezahlen. Es ſind
Wäſcherinnen, Plätterinnen, einfache Köchinnen,
Näherinnen und Bluſenſchneiderinnen unter unſeren
Schützlingen, und wir wollen durch geeigneten
Unterricht jede in ihrer ſpeziellen Branche weiter
ausbilden laſſen. Meldungen und Beſtellungen
dieſer gewiß in manchem Haushalt willkommenen
Arbeitslräfte werden an das Säuglingsheim, Schöne⸗
berg, Akazienſtraße 7 (Telephon: Amt IX Re 5490)
Ebenſo dantbar waren wir fiir jede Gabe
an Einrichtungsſtücken, wie alte Kinderwäſche und
Rinderwagen, Betten, alte Bettwäſche, ausrangierte
Schränke und Kommoden, Stiible und Tifedbe, kurz
alles was fiir cine einfache Wirtſchaſt nötig ijt.
Auf cine Poftfarte bin werden die betreffenden
Gegenſtände fofort abgebolt.
Die moralijche Tragweite dicler neuen Cinridtung
liegt auf ber Hand, und wir boffen, dak fic) wieder
viele Ginnerinnen finden werden, die unferen
Schützlingen den Kampf um das Dafein erleicbtern
| und ibnen ibe Muttergliid erhalten belien wollen.
Der Arbeitsausſchuß des Säuglingheims.
Zur Frauenbevegung.
Raddrud mit Quellenangabe erlaubt.
* Den allgemeinen Wünſchen ſowohl der in:
ländiſchen wie der ausländiſchen Teilnehmer ded
Quternationalen Frauenkongreſſes in Berlin
Rechnung tragend, bat der Vorſtand des Bundes
deutider Fraucnvereine als Organifationsfomitec,
entgegen feinem diesbezüglichen früheren Beſchluß,
nun doch die Herausgabe eines Kongreßwerkes in
Ausſicht genommen. Es ſollen darin jedoch nicht
die vollſtändigen Verhandlungen, ſondern nur aus—
gewählte Referate der vier Sektionen und der
allgemeinen Verſammlungen gum Abdruck kommen.
Das Werk wird im Verlag von Carl Habel Berlin
erſcheinen und cinen ftarfen Band umfaſſen, deſſen
Preis fid vorausſichtlich auf 5 Mark ftellen dürfte,
fiir Rongreftei{nebmer und Mitglieder von Bundes—
vereinen bei Subſtription entſprechend billiger.
Mit der Auswahl ded Materials wurden die
—
ae
”~
Secftionsvorfisenden, mit der Redaftion die Bundes—
vorfitende, Frau Marie Stritt, betraut. Das
Werf wird vorausfidtlicy fdon Anfang Herbjt
erſcheinen.
* StaatSfinder oder Mutterrecht? Unter
dem Titel verdffentlicht die , Gegenwart” cinen
Urtifel von Ruth Bre, im dem fie die Theorien
ihrer Broſchüre „Das Recht auf die Mutterſchaft“
propagicrt. Man wei nicht, worüber man fid
mebr twundern foll, iiber die naive Unbildung, mit
ber die Berfafferin ibre kulturhiſtoriſchen Phantaſien
unentivegt iweiter fpinnt, oder fiber den Geſchmack
ber Zeitſchrift, die foldem Dilettantismus an die
Offentlichkeit hilft.
*Lehrplan einer Reformſchule für Madden.
Wir machen darauf aufmerkſam, daß der von der
Sur Frauenbewegung.
Seltion fiir höhere Schulen ded Alfgemeinen deutſchen
Mebrecinnenvereing veriffentlidte Lebrplan nunmebr |
in endgiltiger Faſſung erſchienen ijt. Cr ijt von
der Rorfigenden der Seltion Frl. Poeh{ mann,
Tilfit, Fabrifenftr. 41, zu beziehen.
Lords verbandelt. Die von Earl Beauchamp ein:
gebradte Bill, die den Frauen diefes Recht, Mit—
qlieder ded Grafichaftérates zu werden, ſichern
follte, wurde mit 57 geaen 38 Stimmen abgelebnt.
* Aber die Tatighcit der ſtädtiſchen Sanitäts—
infpeftorinnen in Dundee, die auf Betreiben der
Frauen von Dundee angeftellt worden find, enthält
bas Scottish Liberal Women’s Magazine
(Mat 1904) folgende intereffante Mitteilungen: Die
Sanitatsinipeltorinnen find feit dem Sanuar 1903
in Tätigkeit und baben in dem erften abr
12 828 Wohnungen befucht, d. h. fie haben in den
Wrmenvierteln der Stadt Haus bei Haus infpisiert.
Ihre Uufgabe befteht hauptſächlich barin, die Frauen
an Reinlicfeit, gute Luft und Schamgefühl yu
gewöhnen. Sie fanden zuerſt bie beklagenswerteſten
Zuſtände, ſchmutzige Wände, ſchmutzige Lagerſtätten,
die manchmal nur aus einer eiſernen Bettſtelle
mit einer ſchmutzigen Matrahe und mit Lumpen
zur Bedeckung beſtanden; die Fenſter konnten oft
gar nicht geöffnet werden, weil man ſie zugenagelt
hatte. Sie ſetzten in ſolchen Häuſern durch, dah
die Wände ſo geſtrichen wurden, daß man ſie ab—
waſchen konnte; ſie verlangten, daß die Wohnungen
gereinigt wurden, ehe neue Mieter einzogen. Sie
verſuchten zunächſt, alle ihre Verbeſſerungen durch
Aberredung und guten Hat durchzuſetzen und erſt,
wenn das verfagte, berichteten fie an die Sanitits:
fommiffion, die dann durch ibre Beamten mit Zwang
vorging. Cine befondere Cinrictung,
Sanitätsinſpeltorinnen yu verdanten ift, tft die
SauglingSfirjorge; in iiber 200 Häuſern fanden
fie gang fleine Kinder obne Aufſicht; dad aAltefte,
das dazu bejtimmt war, fpielte auf der Strafe,
wabrend bas Kleine auf dee falter Treppe fag.
Manchmal waren auch alte Frauen, die nicht im
ftande waren, fiir fic) felbft ordentlich gu forgen, |
mit der Aufſicht über drei ober vier Kinder be:
auftragt.
Fußboden oder in einer ſchmutzigen Wiege; ibre
Flaſchen waren oft mit faurer Wile und faltem Tee
ober Haferſchleim gefüllt. Manchmal beftand auch die
Nahrung ber Säuglinge in cingeweidtem Brot, bad
bic Mutter am Worgen vorbereitete, ehe fie zur
Urbeit ging. In vielen Fallen hatten die Sanitäts—
injpeftorinnen die Flaſchen felbft yu reinigen. Much
als eine Unterftiigung der Schule haben dieſe
Die Hinder lagen auf dem ſchmutzigen
697
Refuche der Sanitätsinſpektorinnen fic bewährt;
eS war ein febr häufiges Erlebnis, daß man feds
oder ſieben ſchulpflichtige Rinder unter dem Bett
fand, die bic Sanitatsin|pettorinnen fitr Beamten der
Schulbehörde gehalten batten. Meift verfuchten
die Sanitätsinſpeltorinnen überall, wo fie vernach—
* Das Wahlrecht dex Frauen fiir den Graf— Ip : ——
laäſſigte Kinder fanden, die Familien nod einmal
fdjaftsrat wurde am 29, Juni im House of | ie | . —*
Abends aufzuſuchen, wenn die Eltern zu Haus
waren. Sie verteilten Flugblätter des Geſund—
heitsamtes über die Vorkehrungen bei Maſern,
Diphtheritis und Tuberkuloſe und verſuchten vor
allen Dingen, dic Mütter über die Erforderniſſe
der Säuglingsernährung aufzuklären.
So haben ſich die Sanitätsinſpektorinnen als
ein ſehr wertvolles und nützliches Organ der
öffentlichen Fürſorgetätigkeit erwieſen und die
Vermittlung zwiſchen Behörde und Publitum iſt
gerade in ihren Händen ganz ausgezeichnet auf:
gehoben.
* Die Zulaſſung der Frauen ju Sffentliden
Amtern in Ungarn ift bid jest durch keinerlei
acfewliche Beſtimmungen beſchränkt; es fommt nur
darauf an, daß die Frauen im eingelnen Fall mit
ibren Unfpriichen und Bewerbungen bherbortreten,
So beſchloß das Komitat Bibar, unter das Ber:
waltungéperfonal Frauen als Subalternbeamte
aufzunehmen. Das Minijterium genehmigte diejen
Beſchluß mit dem Hinweis darauf, daß cine gefes:
fiche Beſtimmung wohl deshalb nicht getroffen fei,
weil damals nod niemand baran dachte, die
Frauen iiberbaupt in Betradt zu ziehen; nichts:
deftoweniger fonne ein ſolches Hindernis jest nicht
tonftatiert werden, umd die Frage fei nur nad
Zweckmäßigkeitsgründen gu entieheiben. Im Acker—
bau⸗Miniſterium find Frauen ſchon ſeit längerer
Zeit in ähnlichen Stellungen tätig. Das Gehalt,
| bas ihnen im niederen Verwaltungsdienſt in Aus—
die den
ſicht ſteht, beträgt 1400 bis 3200 Kronen mit
Wohnungsgeld und Penſionsberechtigung. Da auch
die Zulaſſung von Frauen zu höheren Staats—
ämtern durch keine geſetzlichen Beſtimmungen aus—
geſchlojſen iſt, fo wird auch bier, wenn erſt einmal
cine geniigende Unjabl qualifizierter Frauen vor:
handen ift, ibre Witarbeit ſich vielleicht obne
Schwierigkeiten erreichen laſſen.
* Totenſchau. In Paris ſtarb Marie Laurent,
bie ehemals berithmte Parifer Schauſpielerin und
zugleich cine der Vorkämpferinnen fiir Wohltätigleits—
beftrebungen in der Schaufpielerwelt. Marie Laurent
ift jebr alt gemworben: fait 80 Sabre. So gibt es
verhältnismäßig nur wenige, die ſich nod) ihrer
Glanzzeit erinnern, und doch bat fie lange Sabre
bindurd das Pariſer Publifum hingeriffen. Sie
fpielte vom Gretchen im „Fauſt“ und der Agrippina,
698 Bücherſchau.
in dem „Britannieus“ des Racine bis gu Zolas
Thereſe Raquin“ alles, was die Bühne ihrer Zeit
an großen Aufgaben bot — und ſie konnte es ſpielen.
Marie Laurent war mit dem Kreuz der Ehrenlegion
deloriert und trug die atademifden Palmen.
Berichtigung.
Yn dem Artikel
„Die Ymferei als Franenerwerb<’
(Julinummer der Frau) lies S. 628, Spalte 2,
19. Zeile von oben Reformbeintleid ftatt Reformrfleid.
~efur
= => Biicherschau. —
„Das ſchlafeude Heer’. Roman von Clara
Viebig. Egon Fleiſchel & Co. Berlin 1904.
Gin neuer Roman von Clara Biebig hat ein ſtarles,
wie foll man fagen, biographiſches oder pſychologiſches
Intereſſe fiir jeden, der die merfiwilrdig rafde und
glückliche Entwidlung ihrer Runft verfolgt hat. Dieje
Entwidlung berubt vor allem in ciner Cinfdulung
ihres Auges auf ausdrucksfähige, caratfterifierende
Einzelheiten, auf die Mittel packender Darſtellung.
Auf dieſem Wege, von außen, durch die wachſende
Treue und Schärfe des Sehens, iſt es Clara Viebig
gelungen, ihren Geſtalten ein immer ſtärkeres Relief
zu geben, ein Relief, das auch ſeeliſche Eigenart
kräftiger wiedergibt. Immerhin bat dieſe mehr auf
ſcharfer äußerer Beobachtung, als auf tiefſtem
inneren Miterleben beruhende Seelenkunde ihre
Grenzen. Glänzend erfaßt fie ben Typus, einfach
fonftruierte Raturen, primitive Menſchen. Die
Verfenfung in labyrinthifche Seelenticfen ift ibr ver:
fagt. Clara Biebig hat cin ſicheres künſtleriſches
Selbſtbewußtſein: fie baut das Feld an, auf dem
ibr die ſchönſten Früchte reifen fonnen. Wieder ift
eS cin Sulturbild, das fie gibt. Wuf grofem
hiſtoriſchen Ointergrund fpielt das politiſche Drama
ber Gegenwart: der Kampf um die Oftmarten.
Aus diejem Kampf — und nur aus ibm — fommen
ihren Helden ibre Schickſale: der rheiniſchen Bauern:
familie, bie von der Anfiedlungsfommiffion in die
unendliche Ebene gelodt ift, dem deutſchen Edelmann,
ber auf dem Boden, unter dem nach polnifder
Sage das jcblafende Heer auf den Tag der Rache
wartet, cinen ſchwer gu bebauptenden Loften vertetdigt
und die Hand an der Fabne fallt. Wie in der
„Wacht am Rhein“, fo ift auch bier das Elementare,
dad den Raffencharatter ausmacht, meijterbaft auf:
gefaßt und wiedergegeben. Und meifterbaft ift es,
wie die Gigenart ber Landſchaft mit dem Vollsleben,
bas ſich in ibr abſpielt, gu einem einheitlichen Bilde
verſchmilzt. — Sn dem diden Bande ijt nicht alled
gleichmäßig durchgeſführt. Es finden ſich Szenen,
die cin wenig auf den Effelt herausgearbeitet find
— eine Erſcheinung, ju der ein fo ftarfes, plaſtiſches
Talent leicht verleitet. Cinen Forticdritt gegen den
lulturgeſchichtlichen Roman, der fich faft unwillfiirlid
gum Vergleich darbictet, gegen ,,die Wacht am Rhein”
bat Clara Viebig in der Kompoſitionstechnik erreicht.
Die innere Gefehloffenheit ded ſehr umfangreicden
Ganzen ift vollfommen. Und fo reiht ſich der Noman,
beim das ftoffliche Antereffe vermutlich grope Gufere
Erfolge ſchafſen wird, feinem aAjthetijden Werte
nad in die Entwidlung der Kiinjtlerin aud als
cin innerer Erfolq cin. — Den Wunſch freilich,
dah Clara Viebig ibr großes Talent cinmal durd
rubigere Arbeit in einer nod tieferen und echteren
Leiftung zur Geltung bringen möchte, fann man
nicht gang jum Schweigen bringen, wenn man die
Reihe ibrer fo ſchnell aufeinanderfolgenden Werte
von 1896 bis heute überſchaut.
ptidard Feverel“. Cine Geſchichte von Sater
und Gobn, von George Meredith. Autorifierte
Uberiegung von Julie Sotted. Berlin 1904.
S. Fijder Verlag. Eins der interefjanteften Biber
ber mobdernen englifden Literatur ift durch dieſe
Uberfesung einem größeren deutſchen Publikum
zugänglich gemacht. Richard Feverel iſt cine Satire
in jenem eigentümlichen, bedeutenden Stil, der die
Satire nicht nur als geiſtreiches Spiel oder als
Stimmung, ſondern als cin Stück Weltanſchauung,
eine Philoſophie wiedergibt. So iſt fie cin befonderes
Element des englifden Geiftes von Shakefpeare bis
Swift, Sterne, Beacod, Thackerah. Meredith zeigt
diefes Element in der Verſchmelzung mit modernem
piodologijden und äſthetiſchen Empfinden. Seine
Menſchen find weniger einfach, als die Helden von
Dickens und Thaceray: fie find menſchlicher in dem
Jneinandergreifen von Leidenſchaften und Gebdanfen,
Berechnung und gebeimer Willfiir, Sinnlichfeit und
Kultur. Der ſchon 1859 erſchienene Roman ijt ein
Seelendofument, das ben Menſchen der Jahrhundert⸗
wende nod gan; verwandt ift. Es dem deutſchen
Leſer nabe gu bringen, wird ficber ber ausgezeichneten
Uberſetzung gelingen, die das Kapriziöſe, Schillernde,
Leichte mit feinem Verftandnis wiedergegeben bat.
Ubrigens ift es febr intereffant yu beobachten, wie
dem Noman ber Stil einer um ein balbeds Qabr:
bunbdert fortgelcbrittenen literariſchen Entwicklung
zugute kommt. Die deutſche Sprache der fünfziget
Sabre hatte ſich faum den beſonderen Nuancen des
Meredith gewachſen gezeigt, die ber Jabrbundert:
wende ift es vollfommen.
, Gottfried Steller’ von Ricarda Hud.
Verlag von Scufter und Loffler, Berlin und Leipzig.
In einer Sammlung von kleinen Monograpbhien,
die ſämtlich von Dichtern iiber Dichter geſchrieben
find, ſpricht Ricarda Oud von ibrem Meifter
Gottfried Meller, Sie ift alS feine Siingerin
felbftandigq getworden, fie bat feine Cigenart in
vollftem Maße durch ibre überwunden, fo dag fie
nun ganz beſonders vorbereitet ift, das Wefen des
Hilricder Meiſters refleftierend gu erſaſſen und dar
zuſtellen. Das kleine Buch ift weniger cine Biograpbic,
alS ein Eſſah über Gottfried Keller als Künſtler.
Gibt boc aud fein Leben, dad nad ciner an
Verfuchen und Unternehmungen reichen Jugend in
2*
Bücherſchau.
ein ſtilles, gleichſörmiges Geleiſe cinmiinbdete, weniger
Stoff zur literarhiſtoriſchen Analyſe, als ſeine
dichteriſche Perſönlichkeit, die mehr als bei vielen
anderen Künſtlern ſich von dem, was er im Leben
war, löſt. Was Ricarda Huch, die als Künſtlerin
ſo viel weicher und ſenſitiver, man möchte ſagen
romantiſcher iſt, an Gottfried Keller ganz beſonders
anzieht, iſt ſeine lernige Kraft und die ſichere
Geſundheit ſeiner Lebensauffaſſung, die ihm für
die Betrachtung aller menſchlichen Dinge eine ſo
unerſchütterliche kunſtleriſche Baſis gibt. Dieſer
Rug in Kellers Perſoönlichkeit beherrſcht die ganze
kleine Studie, die auch in der ſchönen, von aller
Effeltſucht ſo merlwürdig befreiten Sprache der
Ricarda Hud) ſich dem Meiſter gewachſen zeigt.
„Bauernſtolz“. Dorfgeſchichten aus dem Weſer—
lande von Lulu von Strauß-Torney. Verlag
von Sermann Seemann Nachf., Leipzig. Es ift ein
Stück Heimatsfhinft, das die Berfafferin in dem
fleinen Novellenbande bietet. Bon den Bauern des
Weſerlandes erzählt fie, die mit ibrer VollStracht
eine urwüchſige Eigenſchaft Langer bewahrten, als mand
anberer deutſcher Stamm, die mit ſchweren Schritten
ſelbſtbewußt und cigenfinnia über die ſchwere Scholle
ſchreiten, — von onfliften, die fic) aus den
primitiven, elementaren Charafterjiigen jener
Menſchen und aus den ftarren und unumſtößlichen
Formen ibres Lebens ergeben. Man merft ¢3, dah
die Verfajjerin im dem Lande gu Haufe ift, über
das fie ſchreibt. Nicht nur die Echtheit ded nieder:
deutſchen Dialeftes, fondern auch jenes ſchwer
definierbare je ne sais quoi, das der Darſtellung
von Menſchen und Landſchaften ihre ganz beſondere
Echtheit gibt, macht den Novellenband zur Heimats—
funft im beſten Sinne bes Wortes. Nehmen wir
hinzu, daß dic Dichterin, die in der Ballade ſchon
Gules acleiftet hat, die Knappheit und Plaſtik befist,
die dic Novelle im bejonderen Mae erfordert, fo
ijt dic Heine Sammlung cin in jeder Hinſicht
erfreuliches Heiden der werdenden Fraucnfunft.
Die PBiydologie der Fran’. Bortrag, ae:
halten auf der Generalverfammlung des Deutſch—
evangelifcben Frauenbundes gu Bonn von Marie
Martin, Verlag von B. G. Teubner, Leipzig 1904. —
Ein fo fchwieriges Gebiet, wie der feelifche Ge:
ſchlechtscharalter bei Mann und Weib, cin Gebiet,
auf dem alle Urteile nocd keineswegs den Wert
wiffenicbaftlicher Ergebniſſe beanſpruchen diirfen,
cignet ſich ſicherlich in mancher Hinficht wenig
baju, im einer furjen Abhandlung und vielleicht
noch weniger, in einem Vortrage behandelt zu
werden. Erlennt man dieſe Schwierigleit an und
nimmt man zugleich an, daß auf dieſem Gebiete
die feinfinnige Intuition vorlaufiq nod eine ge:
wiſſe Berechtigung hat, fo muß man gugeben, dah
Marie Martin ibre Aufgabe gut gelöſt bat. Cine
bejondere Gefchiclichfeit des popularen Ausdrucks
hat ibe gebolfen, ibre Wufgabe gu bewiltigen. So
wird der Vortrag auch als gedructes Wort mande |
Anrequng geben, auf die unverriidbaren pſycho—
logiſchen Richtlinien alleS Frauencinflufjes bine
weifen und mande Verſchwommenheit zu laren
imjtande fein. Nur die Thefen, die dem Vortrag
nacdhgeftellt find, möchte man befeitigt wiffen. Cin:
mal treten folcbe Leitjabe mit dem Anfprud
wiffenfdaftliden Wertes auf, cin Anfpruch, der
auf dieſem Gebiet chen noc nicht geftellt werden
699
barf — und anbdererfeits befommen dic ſelbſt—
verſtändlich fubjeftiv und aus individueller Lebens:
erfabrung und Lebensanſchauung gewonnenen Ge—
banfen des Vortrages durch ſolche Zuſammen—
faſſung in Theſen etwas Starres, Dogmatiſches,
das zu den feinen ſeeliſchen Werten, die hier in
Frage gezogen werden müſſen, zu den vieldeutigen
pſychiſchen Erſcheinungen, die hier in Betracht
fommen, wenig paſſen will.
„Das Seidene Buch“. Cine lyriſche Damen:
ſpende von Otto Julius Bierbaum. Mit 12 Voll:
bilbern von Hans Thoma und Ornamenten von
Peter Behrens. Qn Seide gebunden 6 WM. Stutt:
gart, Deutſche Berlagsanftalt. Die ſehr apart
ausgeftattete Sammlung ift cine Art lyriſches
Tagebuch. Die leichtfliigeliqen Verſe Bierbaums
tragen uns durch den Sabreslauf. Sie jubeln
dem neuen Sabre entgegen, fie beten in der Chrift:
nacht, fie lachen und weinen mit und über allerlei
menſchliches Erleben und kämpfen mit uns die
froblichen RKampfe der Zufunftfideren. Die Mus:
wabl zeigt Bierbaum von der liebenswürdigſten
Seite. Allerlei Bilder nach Thoma gejellen fid
ben Liedern aufs befte, und der äußere und innere
Schmuck des Buches nad Entwiirfen von Peter
Behrens vervollſtändigt den einheitlich originellen
und friſchen Eindruck des Ganzen.
adn Stellung“. Bon Marie Trommers—
hauſen. Verlag von C. A. Schwetſchke & Sohn.
Das, worauf es der Verfaſſerin ankommt, verrät
ſich im Titel; künſtleriſch ziemlich wertlos, bietet
der Roman dod) ein lebensvolles und wirklichkeits—
treueds Bild von dem Dajein der fogenannten
„Stütze“, bie alS Tochter einer gebildeten Familie
nichts gelernt bat und nun plötzlich auf fic felbft
angetwiejen, den befannten dornenvollen Weg einer
Fräuleinexiſtenz yu fucden bat. So hat das Buch
ein nicht geringes ſoziales Intereſſe, das ibm viel
leicht im rein ſozialen Sinn cine gewifje Wirkung
ficbert, wo lehrhafte Abbandlungen und Mabnungen
nichts gu fruchten pflegen.
„Deutſche Vollsabende“. Cin Handbuch fiir
Volksunterhaltungsabende von Dr Paul Luther.
Verlag von Alerander Dunder, Berlin W. (Preis
geh. 3 Mark, geb. 4 Mark. Das Buch wird
jedem, der fich mit den VolfSbifoungsbejtrebungen
beſchäftigt, wertvolle Dienfte leiſten können. Es
enthält zuerſt cine kurze Darſtellung der Grund:
ſätze, die den Verfaſſer bei der Einrichtung von
Vollsunterhaltungsabenden geleitet haben, Grund:
ſätze, von durchaus liberalem und geſundem Geiſte
durchweht. Die Volksunterhaltungsabende ſollen
nicht in den Dienſt irgend welcher beſonderen, ſei
es kirchlichen, ſei es im engeren Sinne moraliſchen
Veſtrebungen geſtellt werden. Das Künſtleriſche,
der Genuß ſoll durchaus im Vordergrunde ſtehen.
Das zeigen dann deutlich die Programme von
Vollsunterhaltungsabenden, die der Verfaſſer ded
‘Buches im zweiten Teil versffentlict. Unter einem
gemeinjamen Geſichtspunkt werden fowobl dichteriſche
alS mufifalifde Darbictungen ausgewählt; bevorzugt
ift dabei die moderne Dichtung. 3. B. beift die
UAberſchrift eines Wbends „Auf wogender See”.
Das Programm umfaft folgendes: König Haralds
Roſſe: Wildenbruch. — Aus Sturm und Not:
Julius Wolff. — Bo: Liliencron. — John Mayard:
700 .
Fontane. — Jan Bart: Fontane. — Bei Nacht
auf frembem Meere: Wildenbruch. — Lebende
Bilder aus dem Seemannseben. — Arie aus
Hans Heiling. — Am Meer: Schubert (Solo). —
Die Himmel rithmen: Beethoven. Sechs altnieder:
ländiſche BoltSlieder (Chor). Auf, Matrofen, die
Anler gelichtet (qemeinjames Lied). Das fleine
Beifpiel mag geniigen, um die Bielfeitigteit dieſer
Programme ju eigen. Der Hauptteil des Buches
gibt dann cine Musivahl von Material fiir Unter:
baltunggabende: Profaftiide und Gedichte von
Gerhard Hauptmann, Hugo von HofmannStbal,
Gottfried Keller bis gu Marie von Ebner-Efden:
bad, Annette von Drofte, Anna’ Ritter, Marie
Croifjant:Ruft. Wir fSnnen dad Buch nur allen,
die in diefer Sache arbeiten, aufs wärmſte empfehlen.
„Das letzte Kind’, Bon Hermann Stebr.
S. Fiſcher Verlag, Berlin 1903. Die lite Schönheit
der Seele und die grobe und graufam Ddiirftige
Alltagswirklichkeit, in der Angft und Tod herrſcht —
das ift der Gegenfag, der den Künſtler ergriffen
hat. Macterlind und der Dichter des „Hannele“
fteben der Dichtung gleich nabe. Das letzte Kind
ded armen Schneiders ftirbt. Das Hier und das
Dort, die Welt der darbenden Sorge und die Welt
bed himmliſchen Fricdens ringen um die fleine
Seele. Der Todesengel legt ſchon feine Hand auf
bie gequalte eine Geftalt; die Mutterliebe aber
reifit ibr letztes Kleinod immer wieder yu fic in
ibr eigenes armed Leben, bis den himmliſchen
Boten das Mitleid iiberwindet und er beide erlöſt.
Diefe unfafbaren feelifden Vorgänge an der
Schwelle von Zeit und Ewigkeit bat Hermann Stebr
mit cigenartiger künſtleriſcher Kraft geftaltet. Qn
(0? 2 Boe ee ——
Bücherſchau. — Anzeigen.
ber mit kräftigem Naturalismus gezeichneten
armen ——S — mit dem dürftigen Schneider
und der platten Frau Nachbarin gewinnest Die Hald
viſionären Scelenerlebniffe der Mutter Geftals umd
Wefenheit. Cine zweite, lidte und reine Welt
mitten in der alltaglicben, mit cigenem flaren Leben,
tut fic) auf — nicht wie im ,,Oannele’ mur dae
Traumland bes fterbenden Mindes. Wr Olive
Schreiner fühlt man fid) crinnert, und etwas
Allegoriſches lommt in die Dichtung binetrr, Wag
das in künſtleriſchen Sinne eine gewtyfe Un—
cinbeitlichteit in ſich ſchliehßen — die lleine Brofa
erzaͤhlung ift dod) Seugnis einer ftarfem und
eigenwüchſigen dichteriſchen Begabung.
„Vaul Heyſe, Novellen“. Wohlfeile Auſsgabe.
60 Lieferungen A 40 Pfg. Alle 14 Tage cine Liefe run
Verlag der J. G. Cotta'ſchen Buchhandlung Nachf.
G. m. b. H. in Stuttgart und Berlin, Im Anſchluß
an dic foeben vollftiindig gewordene woblfeile
Ausgabe von Paul Heyſes Romanen beginnt die
Cottaſche Buchbandlung nun aud mit der Heraus:
gabe einer Novellenferic, welche ctiva fiebsig NoveLen
Paul Heyſes in ciner wohlfeilen coe ie ee
ben weitejten Areifen zuganglich maden foll. Die
Sammlung ift auf zehn, von dem Dichter felbfe
zuſammengeſtellte Bande berechnet und wird uw. a.
aud feine „Troubadournovellen“, das ,,Buch Der
Freundidaft’, fowie swei Binde Italieniſche
Novellen” enthalten, alfo gerade die Schdpfungen,
durd) welche Hebje feinen Ruhm als Weifter der
Novelle begriindet bat. Dak Hevfe auc m der
Gattung, in ber er als Klaffiter gelten darf, der
Haushibliothel zugänglich gemacht wird, ift warn
zu begrüßen.
Bücherſchau. — Anzeigen.
Man
—A
red Gorldrift vom GehNath Vrofeſſer Dr. O. Liebreich, beſeitlgt binnen kurzer Jett Verdauungs—
beſchwerden, Sodbrennen, Magenverſchleimung, de Folger von Unmosigteit tor Gfjen
und Trinfen, umd tt gang heforbers Frauen und Madden gu empfehlen, die rnjolge Bleichſucht, Hviterie und ahnlichen
Suitinden on nervofer Magenſchwäche teiven. Qreis Fl. 3 WM., %, Rl. 1.50 M.
A ’ fe act? Bertin N.,
Scheringa's Griine Apotheke, chawiee-Seeaie r0.
Niederlagen tn faft famtliden Apotheken und Drogenbhandlungen.
verlonge austridlid
Tas neucrrictete Lehre:
rinnenheim in Darmftadt, cin
mit allen Beaquemlichferten aus:
aeftaiteter Bau mit
Garten, nimmt als Paſſanten
ouf: Lehrerinnen, je nad Wabl
der Summer filr 3—3,50 Mart
den Tag, andere Damen fiir
4—4,50 Markt. Darimitadt bietet
als Kunſtſtadt und durch feine
her⸗ liche Waldumgebung in Winter
wie im Sommer angenehmen
Aufenthall.
„Cottaſche Handbibliothel“.
Hauptwerle der deutſchen und
auslandiſchen Literatur in billigen
Einzelausgaben. Nummer 83—97.
Stuttgart und Berlin, Verlag der
J. G. Cottaſchen Buchhandlung
Nachfolger, G. m. b. H. Von der
Cottaſchen Handbibliothet“ iſt
ſoeben eine Anzahl weiterer
Nummiern erſchienen, deren Aus—
wahl als eine ſehr glückliche
bezeichnet werden kann. Wieder
hat eine Reihe von Werken, deren
Verlagsrecht dem Cottaſchen Ver:
lage ausſchließlich zuſteht, Auf—
nahme gefunden und iſt nun zu
außerordentlich billigen Preiſen
bet guter Ausſtaitung gu haben.
So wird Berthold Auerbachs
„Edelweiß“ in einer neuen wohl—
ſeilen Ausgabe geboten, eine Aus—
wahl aus verſchiedenen Werfen
Rudolf Baumbachs, eine ſehr
gute Ubertragung von Molieres
Luſtſpiel „Die gelebrten Frauen”
burd) Ludwig Fulba, Mottfried
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Tal Ytoman in drei Bader. Ber
lag von Alfred Janſſen. Hamburg
1903.
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einer Majfjerolle [aft man Butter
zergehen, gibt die Lebermajfe
nebit ciner fetngebadten Swiebel,
etwas Fleiſchbruhe, Salz und
Pfefſer dazu und (aft fie gut
durchdünſten. Unterdefien bat
man einen Suppenteller voll
Kartoffeln in der Schale gelocht,
abgezogen und abgerieben, ver:
miſcht fie mit 4 jerquirlten Eiern
und 10—12 Tropfen Maggi's
Würze mit der Leberfarce, fiillt
bie Malice in cine mit Butter
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Semmel ausgeftreute Form und
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Verantwortlich fur die Nedattion: Helene Lange, Verlin. — Verlag: W. Woefer VPudhandlang, Merlin 8. — Dud: W. Moecfer Budoruderet, W.'
ap 11. — eft 12 an fe ay. day September 1904 ab
CITT) ate
th arw2e * Verlag:
Vs Ze W. Mocler Buhhandlung.
von
Melene Cange. Berlin S.
Vas Cndziel Jer Prauenbewequng.
Rede, gehalten auf dem Jnternationalen Frauenkongref zu Berlin
bon
Helene Lanne.
Nachdruck verboten.
an bat in den Rreifen der Frauenbewegung felbjt in den letzten Jahren öfter
die Anficht ausgefprochen, dak in der allgemeinen theoretifecben Crirterung
der Frauenfrage nun genug gefdeben fei, und dah es jest nur darauf anfommen
müſſe, ibre Spezialgebiete mit Cachfunde und Energie ju bearbeiten, im einjelnen ju
verivirflichen, was man im grofen erreicjen will. In diefer Anſicht liegt sweifellos
cin Stück Wahrheit. Aber fie hat auch ihr Bedenkliches. Je mehr die Arbeit der
Frauenbewegung ſich fpesialijiert, je mehr ihre Trägerinnen fich auf Einzelgebiete ver-
teilen, um fo grifer ijt die Gefabr, dah fie die Fühlung unter einander verlieren,
und dah das, was ſchließlich im einjelnen geleiftet wird, dod dem Ganjen nicht mebr
dient. Darum, meine ich, iſt es immer wieder notivendig, die breite Fille unferer
Cinjelarbeit durch die Ideen zuſammenzufaſſen, die in der Frauenbewegung einen ein-
heitlichen geſchichtlichen Werdeprozeß erfennen laſſen. Und ein Augenblick, wie der
heutige, Da das impojante Bild diefer Leiftungen in buntem Wechſel an uns voriiber-
gezogen ijt, leqt es uns befonders nabe, ebe wir uns trennen, noc einmal jtill yu
jteben und zu fragen: Wohin fiibrt all die? Schajfen und Ringen, was ijt das End-
ziel Der Frauenbewegung ?
Die befonderen wirtſchaftlichen und ſozialen Verhältniſſe, unter denen fich die
Frauenbewegung bei uns und in manchen anderen Landern entividelt hat, verleiten
heute dazu, fie lediglich auf wirtſchaftliche Urſachen zurückzuführen und fie nur im
Sujanunenhang mit diefen Urſachen zu erfafjen. Im Hinblick auf das Endziel der
45
706 Das Endziel der Fraucnbewegung.
Franenbewegung würde fic) aus diejer rein materialijtifden Betrachtung der Schluß
ergeben — cin Schluß, der in der Tat vielfach gejogen wird —, dak mit Der swirt-
ſchaftlichen Frauennot, gleichviel, wie fie befeitigt wird, aud Frauenbewequng und
Frauenfrage aus der Welt gefchafit waren, cine Muffaffung, aus der heraus man fogar
das draſtiſche Mittel der Zwangsheiraten plaujibel gu machen gefucht bat.
Diefe Auffajjung ſchaltet die geiftigen Urfachen der Bewegung einfach aus Wie
febr aber Ddiefe Urſachen mitgeſprochen haben, weiß jeder, der die Entwidlumg der
Frauenbewegung aus dem Gedanfenfreis ihrer erjten Vertreter und Bertreterinnert bis
in die Gegenwart binein verfolgt bat. Läßt fid) dod) überdies geſchichtlich leicht nach—
weijen, daß ohne dieſe Urfachen aus der blofen wirtſchaftlichen Frauennot feine Frauen:
bewegung wird.
In feiner Studie fiber die Frauenfrage im Mittelalter weift einer unferer
bedeutendſten Nationalbfonomen, Karl Bücher, nach, dag das deutſche Mittelalter
unter einer wirtſchaftlicheu Frauennot litt, die viel weitgreifender und troftlofer
geweſen zu fein ſcheint, als die des 19. Jahrhunderts. Qn den Stadten, von denen
fiatijtifde Wngaben erhalten find, zählte man durchfdnittlid 1200 Frauen auf
1000 Manner. Die vielen Unverjorgten, Nberfliiffigen aber fanden ſchon damals
nur zum fleinen Teil in der Hauswirtſchaft ein Unterkommen. Die Getwerbe ftraubten
fic) gegen die weibliche Arbeit. Das Kloſter wurde doch nur von verhältnismäßig
wenigen Frauen aufgeſucht, und dasſelbe gilt von den Beghinenhäuſern, einer Art
weiblicher Hausgenoſſenſchaft, zu der fic) die notleidenden und beimatlofen Frauen
damals zuſammenſchloſſen. So finden wir denn Taufende von Frauen als „Fahrende“
auf den Landjtrafen oder als die ungliidliden Inſaſſen der ſtädtiſchen Frauenhaufer.
Was fie da Hineintrieh, dafiir haben wir cin ergreifendes Zeugnis in der Gefchidte
jened Predigers Rudolf, der im 13, Jahrhundert fein Leben der Rettungsarbeit unter
Diejen Unglitdlichen widmete. Es wird uns berichtet, daß fie ibm antworteten: ,, Herr,
wir find arm und ſchwach, wir können uns auf keine andere Weije erndbren; gebt
un3 Wafer und Brot, dann wollen wir euch gern folgen”.
Alſo cine Frauennot mit all jenen furdtharen Folgen für Familie und
öffentliche Sittlichkeit — und dod feine Frauenbewegung. C3 geniigt yur Erklärung
diejer Tatſache nit, auf die Atomiſierung der Frauen unter den alten Formen des
wirtfdaftlidien und fosialen Leben hinzuweiſen, auf die Schwierigkeit, mit cinander
Fühlung yu gewinnen, das Einzelſchickſal als cin Maſſenſchickſal fennen zu lernen, die
allgemeinen Urjachen dafür ju ſuchen und ibnen gemeinjam entgegenjuarbeiten. Wo
eS fich um die wirtſchaftliche Notwebr handelt, haben wir ja ſolche Gemeinſchafts—
bildungen; aber niemals gebt da8, wads dieſe bezwecken, wofiir fie unter Umſtänden
kämpfen, über die wirtſchaftliche Notwehr binaus, niemals erfafjen die Frauen ibre
Lage unter dem Gefichtspuntt einer prinzipiellen Kritik an der Verteilung von Erijten;:
möglichkeiten und Rechten unter die Geſchlechter, einer Kritif, die notwendig fiber das
wirtſchaftliche Gebiet binaus auf andere Lebensverhaltnijfe hiniibergegriffen bitte. Es
feblt das geiftige Moment, das dieje rein wirtſchaftlichen Kämpfe erjt zur Frauen—
bewegung im modernen Sinn gemacht bitte.
Und aud das andert an diejer Tatfache nichts, daß auch in friiberen abr:
hunderten bier und da einmal cine ſtarke weibliche \ndividualitat den für ihr Geſchlecht
gültigen Normen ihr inftinftives Selbſtbewußtſein entgegenfest. Ich evinnere nur an
die hübſche Hoddseitsjjene in dem alten Spielmanngsroman von Ruodlieb, Der Brautigam
Das Endjiel ber Frauenbewegung. : 707
reicht der Braut auf der Schwertſpitze den Ming und ſpricht dazu: „Wie der Ring
den Finger von allen Seiten umfaßt, fo verpflichte ich dich gu fefter und unwandelbarer
Treue, die Du mir bewabren muft oder das Leben laffen.” Die Braut aber antwortete:
», Was Hem einen recht ift, ift bem andern billig. Warum foll ich div bejjere Treue
bewabren als du mir? Wdam hatte nur eine Eva, fo foll ber Mann mur ein Weib
haben. Du läßt dich mit Bublerinnen ein und willſt dod nicht, daß ich eine fei.
Ich werde mid) bitten, auf diefe Bedingung eingugehen. Geb’, leb’ wohl und fei jo
Liederlidh, wie du willft, aber obne mid.” Da mufte er denn wohl nachgeben und
fagte: „Wenn ich eS jemal3 wieder tue, fo will ic) die Giiter verlieren, die ich dir
geben werde, und du ſollſt Macht baben, mid) zu enthaupten.” — „Unter diefer
Bedingung”, antivortete fie, „wollen wir uns offen und ehrlich verbinden.”
Sit es nicht, als horten wir Svava in Bjirnfons „Handſchuh“? Und doc ift
bier eine weite Kluft. Denn aus der Frau der Spielmannsdichtung fpridjt nicht das
Gefchlecht, fondern die einzelne Qndividualitat, die im Bewußtſein ihres befonderen
Wertes ihre eigenen Bedingungen jtellt. Es ware ungeſchichtlich gedacht, wenn man
in ihrem feden und fligen Vorbeugen gegen ihr wohlbekannte Gefabren eine bewußte
Kritif an den Cinrictungen fehen wollte, die die Lage ihres Geſchlechtes beftimmten.
Bu einer jolden Kritik feblen, wie ſchon gefagt, dem Mittelalter die getitigen Vor—
bedingungen.
*
Worin beſtehen dieſe geiſtigen Vorbedingungen, und wie kam es dazu, daß ſie
auf die Auffaſſung der Frauenfrage einwirkten?
Das kann uns erſt klar werden, wenn wir die Frauenbewegung im Zuſammenhang
der menſchlichen Geiſtesgeſchichte betrachten, wenn wir feſtzuſtellen ſuchen, wie die
Frauenfrage ſich hineinſchob in die Reihe der großen Probleme, die das menſchliche
Denken im Lauf ſeiner notwendigen Entwicklung nacheinander aufgeworfen und zu
bewältigen geſucht hat.
Bei dem erſten Schritt von dem naiven, dumpfen Hinnehmen der gegebenen
Verhältniſſe und Lebensumſtände zu einem kritiſchen Erfaſſen der Wirklichkeit wandte
ſich die Reflexion zunächſt den weiteſten, allgemeinſten Fragen zu: den letzten Urſachen
der Erſcheinungswelt, dem Zuſammenhang der kosmiſchen Vorgänge.
Der zweite Schritt führte dann dazu, die hiſtoriſch gewordenen Formen des
Gemeinſchaftslebens, die ihrer Natur nach ſo viel komplizierter, regelloſer und willkür—
licher zu ſein ſchienen, durch das Denken ordnenden Prinzipien zu unterwerfen.
Vor dieſem Schritt, den Plato fiir die Antike getan hat, bleibt der Menſch des Mittel—
alters ſtehen. Cr vermag nod) nidt den Gegenſatz von Qndividuum und Gefelljdajt
yu _erfaffen, er gelangt noch nicht gu einem Standpunft, von dem aus die Frage nad
der Vernunftgemäßheit der geſellſchaftlichen Cinrichtungen geftellt werden fann, die Frage:
leiftet die Gefellfdhaft in ihrer augenblidliden Verfaſſung dem einselnen, was er
beanſpruchen darf, und wie miifte fie befchbaffen fein, damit dies geleiftet wird? Erſt
die Nenaiffance Hat diefe Frage von neuem — fiir die germaniſchen Völker zum erſten—
mal — geftellt, und die franzöſiſche Revolution ift der große Proteft des zur Kritif
erwachten bitrgerlichen Bewußtſeins gegen ftaatlide Cinridtungen, die ihren Wert vor
diefer Kritik nicht zu erweifen vermochten.
46°
708 Das Endjiel der Frauenberwequng.
Und mim erft fonnte cin dritter Scbritt geſchehen. Das denfende Bewußtſein,
bas erft das Verhältnis des Menſchen gum Kosmos, dann ju dem engeren Kreis der
ibn umgebenden ſtaatlichen Ordnung betrachtet hatte, wandte ſich min den innerſten
Beziehungen zu, im denen der Menſch ſich fand: dem Verhältnis der Geſchlechter inner:
halb der ſozialen Ordnung.
Es iſt natürlich, daß dieſes erſt auf einer ſpäten Entwicklungsſtufe des menſchlichen
Denkens zum Problem werden konnte. Hier ſchien durch die Natur ſelbſt alles ſo
durchaus beſtimmt. Das Inſtinktleben, das perſönliche Empfinden hatte an dieſen
urſprünglichſten ſozialen Beziehungen einen ſo entſcheidenden Anteil, daß ſie ſich als
Problem des Denkens zunächſt gar nicht darboten. Und vor allem, das praktiſche
Intereſſe, das der ſtärkſte Antrieb zur Kritik der ſtaatlichen Ordnung geweſen war, das
Gefühl der Unbefriedigung, ſprach bei dem, der bis dahin allein den Träger des
denkenden Bewußtſeins darftellte, beim Mann nicht mit. Er empfand fein Verbaltnis
zur Frau als jo durchaus befriedigend, daß ihm nicht im entfernteften der Gedante
auffteigen fonnte, auch bier fei cin Problem, aud) bier etwas, was einer Kritik nad
Den neu gewonnenen ſozial-ethiſchen Mahitiben nicht ftand hielt. Und fo ftellt denn
auch Rouffeau, als er feinen Staatsbau nach BVernunftpringipien auffiibrt, das Ver—
hältnis der Gefdblechter einfach unter die Formel: La femme est faite spécialement
pour plaire 4 Vhomme. Dah diefe Forme! mit den Grundlagen feiner Geſellſchaäfts—
theorie in Flaffendem Widerfpruch ftebt, iiberfieht er. Mit dem JInſtinkt de3 Beſitzenden
Halt er feine Prinjipien von diefem Gebiet fern. Nur die Frauen ſelbſt fonnten
jie auf ibre eigene Stellung in der Geſellſchaft anwenden. Denn mur fiir fie bedeutete
das berrjdende Syſtem, wie fiir den tiers état im Staat, Druck und Cinengung.
Von ihrer Seite mufte die Nritif einfegen. Mary Wolftonecraft tat dieſen Schritt
mit den Waffen des Jean Jacques felbjt. Aus feinen Vorausfegungen zog fie dic
Schlüſſe fiir ihr eigenes Geſchlecht.
Fajen wir nun zuſammen, twas dieſe Betrachtungen flar gemacht haben: Im
Mittelalter Haben wie Frauenfrage und Frauennot, aber feine Frauenbewegung, weil
der geiſtige Unterbau dafiir nod nicht vorbanden ijt, weil dem menſchlichen Denfen
auf feinem Wege von außen nach innen die geſellſchaftliche Stellung der Gefchledter
sucinander nod nicht jum Problem geworden war. Wir baben cine Frauenbewegung
im 19. Sabrbundert, weil dieſe Vorbedingungen jest erfüllt find, weil aus der voran—
gegangenen Kritik der Gefellfcaft die Maßſtäbe fiir die moderne Gejtaltung der Frauen—
Trage getwonnen find. In der Fornuilierung des 19. Qabrhunderts beift nun die
Arauenfrage nicht: wie find dieſe oder jene Gruppen vow Frauen, die unfere wirt:
ſchaftlichen Verhältniſſe um ihre Exiſtenzmöglichkeiten gebracht haben, zu verforgen?
ſondern: wie iſt die Lage der Frau in ihren wirtſchaftlichen und ſozialen Beziehungen
in Einklang zu bringen mit dem Selbſtbewußtſein der vollgiltigen ſittlichen Perſönlichkeit,
das den eigentlichen Inhalt der Menſchenwürde ausmacht?
* *
*
Die Frauen der Revolution, wie Olympe de Gouges und Mary Wolſtonecraft,
die in der Sprache der Zeit die „Menſchenrechte“ fiir die Frau forderten, dachten ſich
die Erfiilling ihrer Forderung leicht. Brauchte doch der Mann nur die Rechte, de
er felbjt errang, aud der Frau zu gewähren. Was diefer begrifflich fo leicht aut:
Das Endziel der Frauenbewegung. 709
zuſtellenden Löſung tatſächlich im Wege ſtand, war jenen Jdealijtinnen nicht klar. Es
lag in dem, was Burke damals der auf die Menſchenrechte gerichteten Geiſtesbewegung
entgegenhielt: daß die geſellſchaftliche Ordnung nicht allein auf die Vernunft gegründet
werden müſſe, ſondern auf die menſchliche Natur, von der die Vernunft nur ein
ſehr kleiner Teil ſei. Und wenn irgend eine ſoziale Reform mit der Natur des
Menſchen zu rechnen hatte, ſo war es dieſe, die in die perſönlichſten, mit dem Inſtinkt—
leben am engſten verbundenen menſchlichen Beziehungen eingreifen mußte. Und eben hier
lagen die ſtärkſten widerſtrebenden Mächte. Gewiß war der Gedanke ſehr plauſibel,
daß der Mann die Frau zur gleichberechtigten Bürgerin machen könne, wenn er nur
wolle. Aber es gehörte mehr geſchichtlicher Sinn dazu, als jene Zeit beſaß, um zu
begreifen, daß er es noch gar nicht wollen konnte.
Jahrhunderte hindurch hatte die geiſtige Perſönlichkeit der Frau — immer von
einzelnen feinen und hochſtehenden Naturen abgeſehen — für den Mann keine ent—
ſcheidende Rolle geſpielt. Sein perſönliches Verhältnis zu ihr erhielt ſeine Färbung
durchaus durch die Vorherrſchaft des Inſtinktlebens. Dem geiſtlich gerichteten Asketen
erſchien das Weib als das fiindige Gefäß; dem, der ſich unbefangen zu ſeiner
Menſchlichkeit bekannte, immer doch vor allem als Geſchlechtsweſen, deſſen Beſtimmung
in ihm ihren Mittelpunkt hatte. Auf der einen Seite fragte man, ob ſie eine Seele
haben könne, auf der andern Seite brachte der Sprichwörterſchatz der Völker in
unendlichen Wendungen lange Haare und kurzen Verſtand zuſammen. Wie ſollte man
dazu kommen, der Frau plötzlich eine ſoziale Stellung zu geben, als ſei ihre geiſtige
Perſönlichkeit dem⸗Manne in jeder Hinſicht ebenbürtig? Co mächtig ſich der voraus—
ſetzungsloſe Rationalismus gezeigt hatte, als er die Jahrhunderte alten feudalen
Herrſchafts- und Dienſtverhältniſſe in Trümmer ſchlug — hier konnte ihm kein raſcher
Sieg zufallen. Er konnte nicht mehr als einen Umbildungsprozeß einleiten, der dieſes
letzte Stück Inſtinktleben allmählich vergeiſtigte.
Und ſo beginnt der Kampf, vielleicht der tiefgreifendſte, den die Menſchheit
gekannt hat. Es gibt kaum ein Lebensgebiet, das er in ſeinem Verlauf nicht berührt hätte.
* *
*
Zunächſt waren es die wirtſchaftlichen Umwälzungen, die dieſem Kampf einen
breiten Schauplatz gaben. Sie ſchufen wieder eine Frauennot, die wirtſchaftliche
Frauenfrage des 19. Jahrhunderts. Und damit wurde der Kampf der Geiſter in den
Lüften übertäubt durch den raſch entbrennenden Konkurrenzkampf auf heiß umſtrittener
Erde, in dem alle jene ideellen Anſprüche ſich zu ſehr realen Forderungen verdichten
mußten.
Es war ſelbſtverſtändlich, daß ſich hier, wo es um das nackte Daſein ging, die
Gegenfätze ungeheuer verſchärften. Maſſen von Frauen waren plötzlich, auch ohne
ihren Willen, in das öffentliche Leben hinausgedrängt, fie hatten den wirtſchaftlichen
Mächten iby tägliches Brot absuringen wie der Mann. Das Leben legte ihnen feine
Yaften und Pflichten auf, ohne Rückſicht auf ihr Gefeblecht; wollten jie nicht unter:
liegen, Jo mußten fie die gleichen Mittel haben, diefe Laften zu bewaltigen: Bildungs-
und Berufsfreibeit, und ſchließlich die öffentlichen Rechte, die im modernen Staats:
leben mehr und mebr auch das Mittel wirtſchaftlicher Selbjtbebauptung wurden. Co
prigte das moderne wirtſchaftliche Leben die allgemeinen Pringipien, die feit Olymype
710 Das Endziel der Frauenbewegung,
de Gouges und Mary Wolftonccraft aufgeftellt waren, in eingelne praftifdhe Forderungen
um, und teilte ibnen etwas von der mechaniſchen Wucht realer wirtſchaftlicher Not—
wendigkeiten mit.
Es war gewiß nicht zu verwundern, dak der Mann gewöhnlichen Schlages, Der
dieſen Anſprüchen der Frauen auf feinem eigenen, durch die Vorgänge im Wirtfdafts-
leben felbft arg bedrängten und erſchütterten Berufsgebiet begeqnete, nur an Die
Wabhrung feines Beſitzſtandes dachte und fic) gu allen Mitteln wirtſchaftlicher Notwebr
berechtigt glaubte. Aber eS mufte aufs tiefite erbittern, wenn die Frauen aud) da
nur auf Geringſchätzung und ironiſche Abwehr ftieBen, two cin objeftived, über
perjontichen Intereſſen ſtehendes Verjtindnis fiir ihre Lage gu erwarten gewefen ware.
Auch die Wiſſenſchaft ſprach von der , Weiberemanjipation”, die aus dem ,,Sdlamm
der fberbildung” aufgeſtiegen fei, und ſchlug mit dem Hinweis auf den befannten
Feblbeftand von 8 Lot Hirngewidht vor den Frauen die Tür zu.
Dieſe zuerſt untiberivindlicde Oppojition im Zufammenbhang mit den fo ſchwierigen
und vieldeutigen wirtſchaftlichen Verhaltnijjen ließ aud) das eigentlide Wefen der
Frauenbewegqung nicht immer rein bervortreten. Überſehen wir fie in ibren erjten
Anfingen, fo erſcheint fie uns felbft nod) vielfach ihres Weges nicht ſicher. Ihr
Programm entwidelt fic) im Kampf, und es leidet an den Cinfeitigfeiten eines Kampf—
programms. Wan erfafte wirtſchaftlich mechaniſche Vorgänge, wie fie 3. B. die
Regelung der Frauenlöhne beftimmten, als perſönliche Ungeredtigtciten, man täuſchte
fidy dilettantiſch über das Gewicht männlicher Rulturleijtungen; man überſah, von
einzelnen ftarfen Andividualititen auf die Wlgemeinbeit ſchließend, wie weit der Frau
in ibrer Beſtimmtheit durd) die Mutterſchaft für die Erfüllung voller mannlider
Berufsſphären Schranken gefest waren, und hielt an dem Dogma der vollen Berufs-
freibeit aud gegenitber den Ddringendften’ Forderungen de3 Arbeiterinnenſchutzes felt.
Man fegte überhaupt die Mannerleijtung als abſoluten Maßſtab und überſah, dak das
jtirfite Argument fiir die Anfpritche der Frauen die Cigenart ibrer Leiftungen iſt.
Nicht minder ſcharfe Formen nahm der Kampf an, al¥ er aus dem engeren
Kreis der einjelnen Berufsgebiete auf den weiteren de3 Staatslebens binaustrat. Die
Arauen faben und ſehen alle Tage, wie eingiq der feine Anſprüche durchſetzt, der dic
Hand auf die Klinke der Gefeggebung zu legen vermag, und fo wird aud von der
wirtſchaftlichen Seite her eine Forderung bekräftigt, die in Landern mit ausgeprägt
demokratiſchem Bewußtſein ſchon im Anfang der Bewegung praktiſch verfolgt wurde.
Der wirtſchaftliche und der ſozialpolitſche Anhalt ihres Programms machte die
Frauenbewegung zur Maffenbewegung, nétigte fie, ſich Schlagworte zu prägen,
Organiſationen zu ſchaffen, und ſammelte eine Gefolgſchaft von Tauſenden um ihre
Fahnen. ES liegt etwas Impoſantes in der unbeirrten UÜberzeugtheit, die ſich in
eindrucksvollen Maſſenkundgebungen gegen Jahrtauſende alte rechtliche und ſittliche
Begriffe wendet und mit der Zuverſicht jenes alten „Gott will es!“ der Kreuzfahrer
das Land der Zukunft ſucht. Daß dabei zugleich eine gewiſſe Senkung des Niveaus
eintreten muß, daß das Gold in kleine gangbare Münzen umgeprägt wurde und nicht
eben die feinſten Naturen zuweilen im Vordergrund ſtanden, das iſt eine Erſcheinung,
welche die Frauenbewegung mit jeder anderen Maſſenbewegung teilt.
An dieſem Punkt aber bat ſich cine Reaktion entwickelt, die i dem letzten Jahr—
zehnt das vielgeſtaltige Gewirr des Kampfes mit neuen Tendenzen durchkreuzt hat. Es
iſt jener aſthetiſche Individualismus, wie ibn Ellen Kev in die Frauenbewegung eingeführt
Das Endziel der Frauenbewegung. 711
hat. So lange dieſe Individualiſtinnen dem großen ſozialen Kampf gewiſſermaßen
vom Bagagewagen aus zuſehen nnd über die Häßlichkeiten darin etwas preziös die
Naſe rümpfen, haben ſie für die Frauenbewegung wenig zu bedeuten. Sie ſollten ihr
unbefriedigtes äſthetiſches Empfinden, das ſich von der „Frauenſache“ verletzt abwendet,
mit dem Wort Hölderlins zum Schweigen bringen: Wie kann man die Schönheit
ſeiner Haltung wahren, wenn man im Gedränge ſteht?
Aber dieſe Richtung, die aud) der Frauenbewegung mit den Forderungen der
„Lebenskunſt“, de3 ſchönen Egoismus, gegeniibertritt, droht dod, den Mittelpuntt ibres
ganzen Programs ju verfdieben, indem fie da individualiftifche Pringiy da an die
Stelle deS fozialen fest, wo es am verhingnisvollften werden mup, auf dem Gebiet
ber ſexuellen CSittlichfeit. Denn geht die Frauenbewegung ibrem Urfprung und ibrem
ganzen Wejen nad) darauf hinaus, das Verhaltnis der Gefchlechter durch die Betonung
der geiftiqen Perſönlichkeit der Frau neuen fittlichen Anfehauungen zu unteriwerfen,
fo muß fie auf dieſes Gebiet ſchließlich ihren ſchärfſten Nachdruck legen, wie fie bier
Dem ſchärfſten Widerftand begeqnen muß. C3 ift cine Lebensfrage fiir fie, ob bier
an Stelle der Rückſicht auf die Gefamtheit cin individuelles Sichausleben cingefest
wird, ob man bier tiber dem gum modernen Schlagwort gewordenen „Schrei nach
dem Kinde” das Rind felbjt und feine Entwidlungsmiglidfeiten vergift. Und eben
darum muß die Frauenbewegung auc) innerhalb ibrer eigenen Reiben den Kampf
aufnebuten gegen alle, die das Vorrecht des Inſtinkts, dad fie beim Manne bekämpft,
bet der Frau wieder proflamicren wollen.
So wogt der Kampf bin und her, auf den verjcbiedeniten Gebieten, fo drängt
die Bewegung vorwärts, nicht immer den inneren Gejegen ihres Fortidrittes folgend,
nicht immer die Sterne im Auge, die ihr die Richtung geben miifjen, auch darin feine
Ausnahme von den allgemeinen menfchlichen Gefegen. Auch von diefem Kampf gilt
das Wort des Didhters:
Wer in der Sonne fimpft, cin Sohn ber Erde,
Und feurig geifelt das Gefpann ber Pferde,
Wer briinftig ringt nach eines Zieles Herne,
Bon Staub umwöllt — wie glaubte ber die Sterne?
Doch, jo heift es weiter:
Dod bas Gefpann erlahmt, die Pfade dunkeln,
Die ew'gen Lichter fangen an ju funteln,
Die heiligen Gefeke werden ſichtbar,
Das Kampfgeſchrei verftummt — der Tag ift ridtbar.
Die eit ift nicht fern, da auch unfer Tag ridthar fein wird. Shon feben
aud) wir durd) dad Staubgewölk die ewigen Lichter funteln. Und ſchon ijt es uns
möglich, die Formel zu finden, in der das in der Frauenfrage geftellte Problem fich
löſen wird.
* *
Man hat wohl gemeint, diefe Löſung fei mit dent Tage gegqeben, der die volle
Rechtsgleichheit der Gefcblechter bringt. Ich fann in diefer Rechtsgleicbeit nichts
weiter erbliden alg eine — und nicht cinmal die einzige — notwendige Voraus—
ſezung fiir das Biel, keineswegs das Ziel felbjt. Sie ijt die Schale, nicht der
712 Das Endziel der Frauenbewegung.
Kern; fie febafft der Frau nur cinen Raum, und es font darauf an, wie fte thn
ausfüllt. Und diefed „Wie“ kann nur aus der Verpfliditung abgeleitet werden, Die
allein dem Menſchenleben Sinn und Wiirde gibt: die fittliden Gefewe Der eigenen
Perſönlichkeit in Lebensformen gum Ausdrud ju bringen.
Auf die Frauen angewandt bedeutet das nichts anderes, als die volle Wirfung
ihres Frauentums, ihrer Cigenart, anf alle Lebensiuferungen der Geſamtheit. Nicht
darauf fommt es an, dak ibnen bier und da cin Teilgebiet der Manneswelt frei:
gegeben wird, nicht daranf, ob fie dieſen oder jenen Beruf ausüben oder nidt, ſondern
auf etwas viel Größeres und zugleich Innerlicheres: darauf, daß die Frau aus Der
Welt de3 Manned eine Welt ſchafft, die das Gepräge beider Gefehlecdter trigt. Die
Frau will nidt nur äußerlich die qleichen Möglichkeiten haben, ju wirfen, am Leben
teilzunehmen, fondern fie will in died Leben ihre eigenen Werte tragen, fie will dadurch
eine neue foziale und ſittliche Geſamtanſchauung ſchaffen, in der ibre Maßſtäbe diefelbe
Geltung haben wie die des Mannes.
In der Empfindung dafür, daß dies, die Verwertung der cigenartigen Frauen-
fraft fiir bie Rultur, die letzte Mufgabe der Frauenbewegung fei, liegt das Berechtigte
und Fruchtbare jener vorbin gefennjeidneten individualijtijden Richtung. Nur mugs
fie fic) bitten, ihre Forderungen utopijtijd auf Gebiete anzuwenden, die unter Der
Herrſchaft volkswirtſchaftlicher Notwendigkeit ftehen. Cie fann weder mechaniſch
beftimmte Gebiete der Criverbstitigfeit fiir die Fran. vorbehalten oder fperren, noch
barf fie vergeſſen, daß unfere beutigen Verhaltniije mur febr wenigen Menſchen das
(lid gewabren, in ihrem Beruf ibre Perſönlichkeit sum Ausdrud ju bringen, fo
ſehr das natürlich eine Forderung feinjter menſchlicher Kultur wire. Angeficte
unjerer modernen Arbeitszerlequng it es cine unberechtigte Einſeitigkeit, über „miß—
brauchte Frauenfraft” iiberall da ju flagen, wo die Frau im Beruf nicht ibre
befondere Kraft werwerten fann, Mit dem gleicen Recht fann man von „miß—
brauchter Männerkraft“ reden. Aus einer großen amerikaniſchen Schweineſchlächterei
wird berichtet, daß ein Mann dort ſeit 38 Jahren nichts tut, als täglich mit dem—
ſelben Handgriff zahlloſe Male die an ihm auf einem Triebrad vorbeigeführten Tiere
zu töten. Das iſt ein beſonders kraſſes, aber für das Weſen der induſtriellen Arbeit
doch typiſches Beiſpiel. Wenn ſo das Leben von Millionen von Arbeitern ſich um
einen und denſelben Handgriff dreht, ſo kann die Frau nicht erwarten, davon eine
Ausnahme zu machen. Ob und wie dieſe Zuſtände zu ändern ſind, ob der größte
Teil der Menſchheit dauernd darauf verzichten muß, in der Berufsarbeit zugleich die
volle innere Befriedigung zu finden, kann niemand vorausſagen. Einſtweilen aber
darf man nicht für die arbeitende Frau Ideale aufſtellen, die auch für den Mann
unter den heutigen wirtſchaftlichen Verhältniſſen gar nicht verwirklicht werden können.
Deshalb bleibt es natürlich doch mit die wichtigſte ſozialpolitiſche Aufgabe, durch einen
den Verhältniſſen vorſichtig angepaßten Arbeiterinnenſchutz die Frau aus der ungeheuren
Tretmühle der Induſtrie für ihren Mutterberuf zurückzugewinnen. Sonſt würde hier
allmählich ein Stück weiblichen Einfluſſes verloren gehen, das an keiner andern Stelle
zu erſetzen, auf keine andere Weiſe wieder einzubringen wäre.
Da aber, wo die Arbeit noch Perſönlichkeitsausdruck ſein kann, wo wirklich
geiſtige und ſeeliſche Werte in ihr Leben gewinnen können, wo es ſich um den Aufbau
der Kultur im eigentlichen Sinne handelt, ſoll das weibliche Prinzip überall neben
das männliche treten. Wäre die Welt des Mannes die beſte der Welten, erfüllte fie
Das Endziel ber Frauenbewegung. 713
tatficlich, wenigſtens in ihren grofen Nichtlinien, ein fittliches Ideal, fo finnte man
dieſen Anſpruch der Frauen bheftreiten. Wher wenn die gewaltige wiſſenſchaftliche und
technifde Kultur unferer Zeit als ſpezifiſche Leiſtung des Mannes anerfannt werden
muß, fo tragen doch aud) die großen fosialen Mißſtände, die mit diefer Kultur empor-
gewachſen find, ebenjo fein Gepräge. Und vieles von dem, was diefen fozialen Miß—
fttinden zugrunde fiegt, bat feinen natiirlichen Gegner in der Frau. Nicht ihr ent}pricht
e3, dak immer nod) das Fauftrecht zwiſchen den Volfern herrſcht, wenn aud) unter
rechtlichen Formen; nicht fie ijt verantwortlic, wenn Verwahrloſung und Alkohol die
Gefängniſſe fiillen und der Staat das fittliche Bewußtſein der mannlichen Jugend
vergiftet durch das von ihm geduldete und unterftiigte Lafter. Mit dent Männerſtaat
find diefe Zuſtände gu furchtbaren Schäden erwadjen, die jest als dunkle Probleme
Der Kulturmenſchheit febier unlösbare Aufgaben ftellen.
Nicht als ob von dem Tage an, wo dem öffentlichen Einfluß der Frauen Fein
äußeres Hindernis mehr entgegenfteht, dieſe Aufgaben fofort gelbjt fein witrden. Die
Frau hat unter Drud und Verwabrlofung fo mance Eigenſchaft in fich groß werden
lafjen, die erſt unter der Verantiwortlichfeit des Sffentlichen Lebens allmählich verſchwinden
muß. Auch find die Rrafte, die hier ing Spiel fommen, zu fein, zu innerlich, um
diupere Cinrichtungen ſchnell umgubilden, die ibnen mit der ganzen Wucht Jabrtaujende
alter Nberlieferungen gegeniiberitehen. Und dennoch ift in diefen Kraften ein Korrektiv
von höchſter Bedeutung gegeben. Und fo ficher, wie im organifeben Leben neue Kräfte
neue Lebensformen fcbaffen, wird der Einfluß der jum Selbſtbewußtſein, gum Glauben
an fic) erwachten Frau andere, iby gemäßere foziale Verhältniſſe yu ſchaffen vermigen.
Vielleicht ſehr langſam — nicht durch wenige dufere Siege der organijierten Frauen:
bewegung, fondern durch die von innen heraus jtill und allmählich wachſende Macht
eines neuen Willens. Qe ſtärker er wird, um fo weniger wird er de3 äußeren Kampfes
beditrfen, um ſich durchzuſetzen. Den Menſchen felbft unbewußt, in jenem heimlichen
Spiel geiftiger Kräfte, das hinter jedem Werturteil, hinter jeder Willensäußerung und
jedem Glaubensſatz der Menſchheit fteht, wird diefer neue Frauenwille wirkſam werden.
Wie weit e3 ihm gelingen wird, fic in den ſozialen Lebensformen der Sufunft yur
Beltung zu bringen, und wie diefe Lebensformen beſchaffen fein werden, das können
wit jetzt nicht vorausfagen. Aus einer ernfthaften Betrachtung folcher Probleme müſſen
alle billigen Sufunfts-Utopien ausſcheiden, um fo mehr, als unter dem langſamen
Einfluß diefer Kräfte ſelbſt ſich allmählich die Maßſtäbe ändern werden, die die jebige
Generation allzu eilfertig mit der Gehirnwage in der Hand beſtimmt hat. Aber der
Richtung, in der ſich der Einfluß der Frau auf das Kulturleben äußern wird, iſt
ſich die Frauengeneration der Gegenwart ſchon bewußt. Er wird in die große
Geſellſchaftsordnung nod einmal alle die Kräfte einführen, die den geiſtig-ſittlichen
Untergrund der Familie gebildet haben: die feine menſchliche Rückſicht auf den andern,
gleichviel ob er ſtark oder ſchwach, ob er geiſtig reich oder arm iſt, die liebevolle Achtung
vor dem Einzelleben überhaupt, die geiſtigere Auffaſſung des ſexuellen Lebens und
das immer gegenwärtige Bewußtſein, daß wir hier im Dienſt der Zukunft ſtehen und
der kommenden Generation verantwortlich find.
Dieje Kräfte werden denen des Manned zur Seite treten, nicht an ibre Stelle.
Nur ein ganz unpſychologiſches und ungesligeltes Denfen fonnte darauf verfallen, die
Mapitibe des Mannes durch die der Frau verdrängen und in der Frau ein neucs
„führendes Geſchlecht“ an den Platz des alten ſetzen zu wollen. Nicht wm eine neue
714 Detlev von Liliencrons Kriegslyril.
Majorifierung der einen durch die andern handelt es fic, fondern um die Verſchnielzung
der mit den beiden Geſchlechtern gegebenen geijtigen Welten. Vielleicht wird dieſe
Verſchmelzung den geijtigen Faktor in der Menfchheitsentwidlung fo ftarf maden belfen,
bah er den wirtſchaftlich- mechaniſchen Triebfriften die Wage zu balten vermag. Wiel
leicht finnte fo die gewaltige Cinbufe an allgemeiner perfinlider Kultur, mit der
unſere mächtige dupere Entwidlung erfauft worden ijt, wenigitens yum Teil wieder
eingebracht und der den materiellen Fortſchritt beberrfdenden Maſchine der Menſch
wieder entrijjen werden.
Diefe BVereinigung der beiden geiftigen Welten gu einer ſozialen Gejamtanidauung,
in der feine etwas von ibrer Kraft einbiift, das ift Das Endziel der Frauenbewequng.
Wenn es erreicht ift, fo wird es fein führendes Geſchlecht mehr geben, fonder nur
nod führende Perſönlichkeiten.
setae
Vetley von hiliencrons Kriegslyrik.
Dr phil. Helene Herrmann.
Nadbrud verboten.
(Los find nicht nur die Biele ded Kampfes, nicht die patriotiſchen Ideale, die in
yy j Niliencron das Feuer der Kriegspoefie entziinden. Das erfennt man am bejten,
OGe® wenn man feine Kriegsdichtung mit anderer patriotiſcher Poeſie vergleicht.
Sparjamen Gebraucd macht er von den Worten Vaterland, Chre, Rubm, Heldentum,
von denen fonft ſolche Dichtung überfließt. All das lebt fo ftarf in feiner Seele
wie in der irgend eines Geſinnungsdichters. Cr aber ijt nie Poet der Gefinnung,
immer Poet des Lebens. Das bat fich den Betrachtern feines lyriſchen Schaffens
aufgedringt: wieviel mehr das gefamte Lebensqefiihl des Kampfes Gegenitand feiner
Didtung ijt. Das Zerjtreuende, Verzettelnde des Alltags ijt bier aufgeboben, die
Cinjtellung des Menſchen in eine einbeitliche Reibe von Willensanftrengungen und
Handlungen vereinfacht das Leben nicht nur, es macht es fo intenfiv, fo primitiv
nachdrücklich, daß es in jeder Sefunde als gegenwärtig und wirfend empfunden werden
faun. Selbſt die äußerſte Erſchöpfung erfebeint in diefem ſtürmiſchen Rhythmus nicht
als eine tote Strecke; es iſt der notwendige Abſtieg, dem bald ein ſteiler Anſtieg folgen
wird. In allen Dingen reißt den Dichter das am meiſten fort: die Stärke, mit der
ſie das Leben offenbaren.
Aber man darf nicht nur dieſe Erhöhung der eigenen Lebensenergie, die ihm
der Krieg ſchenkt, als das treibende Gefühl betrachten. Liliencron, ſo ſehr er eigen—
williger Einſamkeitsſucher iſt — er hat doch auch wieder und nicht nur in den Stunden
leidenſchaftlichen Genießenwollens das heiße Intereſſe an den Erlebniſſen der anderen,
⸗—
Detlev von Lifiencrons RKriegdlorit. 715
den Drang, fic in eine Bewegungswelle gemeinfamen Seins aufnebmen zu laſſen.
Gr, der es vermag, fo oft er will, nur den Stimmen in feinem Innern ju laufden,
ift doch auch ein bungriger Beobadter der anderen, aber einer, der nicht auf dem
Bufdhauerpoften bleiben mag. Neben den ſozialethiſchen Tendenjen, die bei ibm, dem
adelafroben Junkerblut, fo liebenswert find, befigt er wohl aud ftarle, ich möchte
fagen, ſozialäſthetiſche Inſtinkte. Und die befriedigt der Krieg. Er fühlt nicht nur
in fic) felbft dieje Vereinfacung und Verſtärkung des Lebens wie ein pofitives. Gliid,
das nad Ausdrud verlangt, er fiebt um fics, ſieht die anderen, Die Rameraden, die
Vorgejesten und Untergebenen in dem jelben unanjbaltjamen Gang des Lebens, fiebt
jein Eigenes vielfach gefpiegelt, von taufendfacer Refonan; verſtärkt. Dies fdeint mir
cin wichtiges Moment, das ibm, alles Vielfache und Wirre der Geſchehniſſe mit grofen
Linien umfpannend, den Krieg in die Sphäre künſtleriſcher Criften; riidt. Man bat
recht gebabt, feinen Schlachtenraufd mit dem Sturm feiner Erotik, mit der feurigen
Spannung der Jagdftunden yu vergleiden — das aber ſchenkt ibm der Srieg über all
jene Erlebniſſe hinaus. —
Daß ibm das Waffenhandwerk ritterlich Erbe iſt, die Waffenfreude Urinſtinkt
des Blutes, ſpürt man in ſeinen Liedern: schildes ambet ist min art. Und noch eins
fommt dazu, was ibm die Lebensgefiible des Krieges fo wohl vertraut macht: er, der
Giitige, Herjwarme fennt auch die entgegengelesten Regungen nicht nur vom Hören—
fagen; er ift ber Gerferferwut fähig, der erſt villige Vernichtung des Gegners genugtut.
Gedichte wie „Die gelbe Blume Ciferfucht’, Cpifoden wie die Meſſerſtechſzene in
wit bav di lev”, Ausdrücke perfinliden Haſſes wie „Unüberwindlicher Widerwille”
verraten das jähe Emporzucken folcher Berferferinftinfte in feiner Volnatur. Solche
Urgefiible mochten wohl im Moment de3 „An den Feind fommens” in ibm mebr als
in anderen practvoll auflodern, und feine blofe Gefte find und darum Verſe wie die
folgenden aus Poggfred:
„Und nun Trompeten, Trommel(n, Schwerterſtunden,
Bringt mir den Helin, die Sharpe: Sorn und Sant,
Die Weiber ins Verließ, bis fie die Wunden
Uns wafden. Dank, ibr Himmliſchen, babt Dank.
An meineds Hengſtes Schweif den Feind gebunden!
Heraus bie Plempe! An die Fleifcherbant!
Die Dörfer brennen, beulend ftirbt die Wut,
Der Abend flirbt getaudt in rote Glut!“
Ebenſo wie diefe blutdiirjtige Schlachtenfreude bat ihm fein tiefes Mitfühlenkönnen,
fein inniges Erbarmenmiifjen das Caitenjpiel geftimmt. Go wenig er die lebenfcbaffende
Kraft des Schlachtgetümmels, feine ftarfen Errequngen und feine wilde Poefie enthehren
möchte, fo wenig bat er je das Entſetzliche, Erbarmungslofe des Krieges vergefjen
können. Schauerviſionen, wie fie der apokalyptiſche Reiter auf ſeinem Wege ausſtreut,
fieigen ibm nod nach Jahrzehnten empor. Nicht immer ijt in feinen Verfen Melodie
des Schlachtentodes erflungen, die das fterbebheitere Vollslied anſchlägt, das er fo ſehr
licbt: „Kein ſchöner Tod ijt auf der Welt, als wer auf griiner Heide fällt!“ Nicht
immer nur ijt fie vom letzten Friedensfchimmer erbellte Elegic, wie im köſtlichen
„Tod in Abren”, nicht immer erhaben wehmütiger Tobdesfriede wie in der Kriegs—
novelle „Verloren“ oder Todesichinbeit, wie im Bild des blutjungen Coldaten, der
im Todesſturz den vollen Roſenſtrauch ergriffen und auf feine Bruft berabgezogen bat,
716 Detlev von Liliencrons Kriegslyrik.
iiber ifm „die unendlich feine, blaugelbe Sichel ded erften junehmenden Mondes“.
Die Troſtloſigkeit cines ſolchen Jugendgeſchickes, dads junge Lied eines frifden Lebens,
das echolos im Schlachtgewühl verhallt, erqreift ibn oft im tiefſten. „Kolin. Mein
Sohn verſcharrt im Sand, wer weif wo?” Dann wieder gibt er mit furchtbarſtem
Realismus den Tod des von der Granate Zerfetzten, des Schwerverwundeten: „Sabt
ibr den Sterbenden? fein Auge jtiert: Wafer, Wafer, die Sonne will ibn braten”.
Das Grauenbild des fterbenden Kameraden, der verduritend, furchtbar verſtümmelt,
pom Freunde den lepten Liebesdienft, die erldfende Kugel erfleht, das Huge des
Verfciedenen „anklagend und leer“, das Cinfrallen dex Hände ing feuchte Erdreich,
„die nadten Arme in bechtgrauer Farbe mit ineinandergeframpften Fingern”, der Todes-
ſchrei des angefetteten, halbverfoblten Pferdes in der brennenden Scheune — all das
hat unauslöſchliche Male in jeine Seele gegraben, und auch diefe Partien feiner Kriegs—
dichtung haben Gewalt über uns. Wie er fic) bei aller wilden Lebensluft nicht mit
feichtem Optimismus den Scbhrednijien und Gemeinbeiten des Dafeins verſchließt, mite
fie ibm notwendiges Gegenbild der höchſten Lebensſchönheit find, die er zu finden
wei, fo fann feine Seblachtentuit ibn auch nicht blenden, wo die Greucl des Rrieqes
ibn angrinfen. Dah feine Seele nicht fo geartet ijt, daß er mit der Wucht Govafcher
Geſinnung die letzten unbarmberzigen Tiefen de3 Grauens auszuſchöpfen vermöchte,
fann nicht überraſchen. Seinem blitzenden Leichtſinn blibt nods am Hande des Ab—
grundes wildeſter Kriegsgefahr eine ſchnell erhaſchte Blume.
peichtfinnig bab ic) bas Leben genoſſen,
Deffen bin ich froh; unter allen Poſſen
War mir immer am meiſten guwiber der Narr,
Der ben Kopf hangen liek im furchtbaren Wirrwarr,
Der nicht bas wenige Begehrenswerte fich fijehte,
Das unter Greueln der Tag ihm tifehte!”
So wie es beinahe ſcheint, daß ihm dev lebte feinjte Ausdrud jeder voll durchlebten
Naturfituation, jedes Runfterlebniffes irgend cine LiebeSftunde ijt, die Damit in feinem
Erinnern fich verfnitpft, fo ware aud) feine Kriegsdichtung nicht zu denken obne folche
Stunde, wie er fie in dem frifdden Widmungsgedidt an Klaus Groth bejdreibt.
Sie wirft ibren Glanz über die Crinnerung an raubes Winterquartier im Feindes—
and. Gr im verfallenen Hüttchen, drin die Ziqeunerin mit dem hübſchen ſechzehnjährigen
Enkelkind hauſt, am ſchnell entfachten Feuer dic erftarrten Glieder warmend, bingeftredt,
den Kopf in beĩde Hände geſtützt, aus dem mitgefiibrten Quidborn „die gold'ne Fiille
jeiner Ocimatlicder” fcbliirfend. Und ibm gegeniiber das Mädchen „zaghaft erft, dann
dreijter,
poaupt gegen Haupt, diefelbe Stellung findend,
Das Kinn auf die geballten Fäuſtchen laſtend ...
Und ich [a8 ihr von ,,Unrub Hans", nod feb ich ihre Augen
Die dunfelbraunen, ftaunend mid) betrachten,
Seb auf der bronzefarbenen Stirn cin Liddjen,
So ſchwarz, als war' es aud der Nacht gefprungen . . .”
Und echt Liliencronifch: in died febnell erblühte Idyll feblagt der Donner ciner
in der Nähe plagenden Granate cin und wirft das erfebrodene Madden dem Dichter
in die Arme und zugleich als ein ſtets beivahrtes Erinnerungszeichen ein Stückchen
Ralf von der Dede in das Bud, ein Stückchen, dads vielfagend ſchalkhaft gerade auf
der Stelle liegt: „Ik fprung nods in de Kinnerbür, da weir if all en Daugenix“. —
J
Detley von Liliencrons Kriegslyrik. 717
Dies herzhafte Erfaſſen vieler Seiten, vieler Möglichkeiten der Crlebniffe —
De Tragiſchen, Grofen, wie des Heiteren und Genrehaften — dieſes Charafterijtifum
Liliencronſcher Dichtung, offenbart auch die Kriegslyrik. Und dieje jubelnde Lebensluft
in aller Todesnähe, die uns aus ſolchem Idyll entgegenflingt, aud) fle iſt Grundton
von Lilienerons Kriegslyrik: „Tod ift des Lebens höchſtes Unterpfand”.
So wie dem Menſchen Lilieneron der Krieg ein Erlebnis von unvergeßlicher
Fülle war, ſo war er's auch dem Künſtler, der in dem jungen Soldaten ſchlummerte.
Seine ſtärkſten und feinſten artiſtiſchen Inſtinkte hat der Krieg befriedigt. Wir haben
darüber intereſſante Bekenntniſſe von ihm ſelbſt. Ich nenne den Begleitbrief, mit dem
er vor vierzehn Jahren ſein ſchönes Gedicht „Ich ſtand an eines Gartens Rand“
an ein Organ der jungdeutſchen Dichter einſandte: „Es iſt mir“, ſo ſchreibt er, „das
kleine Schlachtenzwiſchenſtück faſt wörtlich begegnet. Ich entſinne mich genau. Ich
ſtand, als die Oſterreicher in leuchtendſter Juniſonne anrückten mit dem Radetzkymarſch
Den ganzen Tag mit Sack und Pac, auf meinen Säbel gebeugt, mit weiten Mugen
und offenen Lippen und ftarrte die Schönheit dieſes Bildes: den in wundervoller
Haltung beranfommenden Feind an. Erſt mein bald darauf durch die Brut gefchoffener
practiger Hauptmann rif mic) aus meiner, ich möchte fagen Lähmung . . . beraus
mit den Worten: jum Satan, Liliencron, wir figen bier nicht im Theater’.
Mund wie er hier in Kitnjtlerfreude aufgebt, in Freude an der bligenden Schönheit,
an der Kraft und an der bellen Mufif, ſodaß ihm fiber dem äſthetiſchen Gebalt dieſes
Moments alles andere ſchwindet, fogar das tiberwiltigende Gefiibl, daß nun das große
Spiel beginne, fo hat er auch mitten in den Pflichten und Errequngen des Dtenjtes
Den Hunger des Beobachters geftillt, des Künſtlers, den es nad) neuen Offenbarungen
menſchlicher Erſcheinung und menſchlichen Wefens verlangt Der Krieg zeigt die
Menſchen, auch die undifferengierten Naturen, deren inneres Leben im Alltag gebunden
ijt, die nur cin geringes Negifter von Ausdrucksbewegungen befigen, im ganz neuen,
unerhörten Situationen, die dad äußere wie das innere Leben entfefjelu, Funfen aus
dem Stein ſchlagen. Wie fic der Charafter und das Temperament der verfdsicdenen
Individuen im Kampf entfaltet, das bat uns Liliencron in feinen Kriegsnovellen mit
raſchen, ficheren Strichen ſkizziert und gescigt, wie fich dad gleiche Erlebnis in der
Seele des Generals, des jungen Offiziers, des gemeinen Coldaten fpiegelt. Er hat
aber auch mit dem Blick des Bildners Bewegungen, Mienen erhaſcht, wie fie nur die
äußerſten phyſiſchen Spannungen und Erſchöpfungen des Kriegslebens bervorrufen
können. Dinge, die uns anmuten wie die der Erſcheinung nachjagenden Studien eines
Zeichners, obwohl der Lilieneron der Kriegsjahre ſein Künſtlertum noch nicht entdeckt
hatte. Ein äſthetiſches Verlangen befriedigt ihm der Krieg mit ſeinen ewigbewegten
Wogen des äußeren wie des inneren Lebens beſonders: das Verlangen nach Bewegung.
Welch ein ſtarker Reiz für Lilieneron nicht nur von der fühlbaren, ſondern
auch von der ſichtbaren Bewegung ausgeht, das zeigt ein Blick auf ſeine Naturpoeſie.
Man fühlt, daß er ein Kind der holſteinſchen Knicklandſchaft iſt, und daß ſein Auge mit
den Wellen und Wolken der Nordſee zu wandern gelernt hat. Jene Landſchaft, deren
lineare Gliederung kaum ſpricht, die eintönig in der feſten Form iſt, die tauſendmal
mehr lebt von den Akzenten, die ein ziehender Vogelſchwarm, wandernde Luftgebilde,
windbewegte Baumgruppen hineinbringen, die Wechſel des Lichtes, die wir ſo gern
alg Bewegung deuten, und der ewige Gang des Waſſers. Jam bat zwar Liliencron
auch rubende Landſchaftsbilder von Formenreiz und groper farbiger Schönheit wie diefes:
718 Detlev von Liliencrons Kriegslyrik.
pund im Lilaſchimmer ftand die ganze Fläche,
Blüt an Blüte, und bem Lilaſchimmer ſchenkte
Stumpfen Glanz die Sonne, dic gum müden Abſchied
Sich verſteckte hinter weißen Riefeniwolten,
Deren Spitzen gleich wie höchſte Bergesſpitzen
Sich umrandeten mit Gold und roten Tinten.
Eben noch im dunkelklaren Dämmer hob ſich
In der Schweigſamkeit der leeren Heidelandſchaft
Eine einz'ge Fichte ...“
Aber mehr noch ſcheint er mir der Meiſter der bewegten Landſchaft, ſo wie etwa
Conrad Ferd. Meyer, dem auch Wind und Welle nicht ſtumm blieben, die ruhende,
formenſtrenge Landſchaft am vollendetſten ausdrückte. „So ein einſames, von Knicken
eingerahmtes Feld: Sie glauben nicht, welche Poeſie su jeder Jahreszeit eS in ſich faßt
Die Wolfen wechſeln driiber hin, der Wanderfalfe, das Rebhubn, die Wilbente, dic
Krähe, die kleine bewegliche Kornmaus, der Fuchs, der Maulwurf, der eilende Kater
machen es lebendig.” — Und ebenfo bezeichnend fiir die Freude an der Bewegung,
namentlich wo fie im Gegenfag zur grofen Stille und Rube in ihren feinften Anfagen
nod empfunden werden Fann, febeint mir folgended: Cr notiert ſich einmal ein
trivial reimendes Gedicht von ſchwächlicher Bildfraft, das ibm jufagt, offenbar nur um
de Motives willen. „Dieſe brennende Stille, fein Hauch! Und plötzlich hebt cine
Schlange das Haupt aus dem Grafe, wie erſchreckt durch cin Geräuſch. Cie fiebt id
um, jie züngelt — und fallt in den Schlaf zuriid. Die Bewegung in der ungeheuern
Rube, die plötzlich entitebende und wieder erjterbende Bewegung ift es, die das fleine
Gedidt fo warm macht”. Man würde fein Ende finden, wollte man all die Natur:
eingdnge feiner Liebesgedichte, all die ſchnell hingetuſchten Landfdaftsffigzen nennen,
deren gebeimfter Reiz die Bewegung ijt. Cr liebt die große, braujende Bewegung von
Sturm und Meeresaufrubr, aber er hat den Blid offen fiir alle Ruancen bis jur
letfeften, Wind und VBogelflug fpielen cine grofe Rolle bei ihm:
„Die Wafferlifie glüht im Graben,
Die Sonne zögert aus der Welt,
Dicht über mir zieht cin Bolf Raben,
So dict, daß mir ing Muge fallt,
Wie lester Abend ihre Fliigel,
Bon unten febillernd überglänzt . . .”
„Drei, vier Riefern, fo weit auseinander,
Daf fie g'rad den Arm fich reichen fonnen,
Mit den Fingerfpisen ſich beriibren.
[ber ibnen ſteht die milde Venus.
Zwiſchen Stern und Baumen gieben oſtwärts
Fligelfdbwere, müde Kranichſchwärme.“
© os Ideres:
„Die Flut erreichte den höchſten Stand.
Der Regen tropft leife auf See und Gand
Mus Friiblingswolken, dic ſchwammig und ſchwer
Trige wandeln iiber das leere Meer,
Uber des Deiches cijerne Bander,
Uber ben Reichtum der Marſchenländer.“
*
Detley von Liliencrons Kriegslyril. 719
Sch brauche nur an die ,Geidebilder” gu erinnern: wie er da dem Wolfenjug
mit dem Auge folgt, die brütende Rube des Mittags erldfend breden läßt vom
Gewitterfturm, an den ,Reiberflug” und die ſchwankende fable Birke im Heidewind.
Endlich an folche Lieder wie , April”, wo die Wonne an der Bewegung fic) auslebt
Lis in die feinften Veraftelungen de3 Rhythmus, weil Bewegung, Unrube, Beleudtungs-
wedjel Sinn folder Upriltage ift:
„Wie der Südwind pfeift, in ben Dornbuſch greift,
Der vor unferm Fenfter ſprießt . . .
Schießt ein Gonnenbli¢ über Feld und Knick,
Wie der Blitz vom Goldhelm huſcht
Und auf Baum und Gras
Schnell im Tropfennaf
Tauſend Silbertiipfel tuſcht.“
Im eigenſten Schöpfergebiet des Dichters, in Rhythmus und Wortausdruck aber
beherrſcht Lilieneron die Bewegung als ein ſehr individuelles Stilmittel. Er iſt als
Rhythmenſchöpfer ſehr ungleich; mir ſcheint er da nicht Meiſter, wo er ſich fremder
Maße bedient. So ſchön ſeine Sizilianen zuweilen ſind — in den Stanzen und
Terzinen ſpürt man auch rhythmiſche Lahmheit. Aber unwiderſtehlich iſt er zuweilen,
wenn eine innere oder dufere Bewegung in der ganz individuellen Belebung heimiſcher
Mage Erſcheinung gewinnt. Gedichte wie „Zwei Meilen Trab“, , April” und das
entzückende „Beppi“, in dem alle Unrube des verliebten Blutes pulft, find vollfommene
Bewegungsſuggeſtionen.
Als vor zehn Jahren die „Blätter für die Kunſt“ zuerſt den Uneingeweihten
bekannt wurden, da ſtiegen vor unſeren ſtaunenden Augen die Eigenſchaftsworte
unſerer Sprache in unerhörter Jugendſchönheit empor. Liliencron hat ein ähnliches
Verjüngungswerk mit den Zeitworten vorgenommen und hat ihre Ausdruckskraft,
namentlich ihre Fähigkeit, Bewegung zu ſuggerieren, geſteigert. Das ſtarke Bevorzugen
des verbalen Ausdrucks vor dem gleichbedeutenden, ja ähnlich klingenden Eigenſchafts—
wort iſt cin Charakteriſtikum Liliencronfder Formenſprache, in dem ſich dieſe Tendenz
sur Bewegung offenbart. Cr ſchafft neue, kühne Bildungen oder ſchnellt mit einem
Fingerdruck eine abgegriffene, lähmende Vorſilbe fort. Durch dieſes Stilmittel wirken
auf mich ſeine bewegten Naturſchilderungen, verglichen mit denen des in manchem
Zuge ihm verwandten Storm, wie überzeugende Verkürzungen eines jüngeren neben
dem gedehnteren, archaiſchen Ausdruck eines älteren Meiſters, der dieſelbe Bewegung
anders gibt.
Aus der Fülle der Beiſpiele nur wenige: „Der Tag geht ſturmbewegt und
regenſchwer, auf allen Gräbern fror das Wort Geweſen!“ — „Ein Dezembertag verkroch
ſich totſtil in den Sad der Nacht, den großen dunkeln.“ — „Langſam graut der
Abend nieder.“ Wie iſt hier durch Verſchmelzung zweier veralteter Bilder: „Der
Abend ſinkt nieder“ und „Der Abend graut“ ein neues, zugleich bewegtes und getöntes
Vild gefdhajfen! — „Die Sommernacht ſtummt überall.“ — „Nun ängſtet in den
Waldern eine Leere.“ — „Ein Frühlingsmorgen friedet keuſch und ſtill“, und das unglaublich
kühne und anſchauliche: „Empor durch milde Abendröte ſchrägen ſich ſeine Schwingen.“
„Von überall Her flattert, flügelt, ſpringt cin Heer mit farbigen Fittichen groß und
klein, das munter durcheinander ſchmetterlingt.“
720 Detley von Liliencrons Krieg dlprit
Diefe Bewegtheit alfo, die das Auge deS Dichters reijt, die er als cin phyſiſch
Begliicendes fühlt, und die er felbjt als eigentümlichſte Ausdrudsform befigt, gibt er
uns in feiner Kriegspoeſie in allen Formen. Er hat den Sturm der grofen Schladt,
des Reiterangriffs, der Verfolgung, aber auch das fachte, gedudte Schleichen, den
trigen, ermatteten Marſch. Und twenn er cine ftiirmende Reiterfolonne durch ein Feld
jagen Lift, vergift er nicht die Bewegung der Halme, die ihre Schabraden vorbei-
fegend gejtreift haben, nicht das Schwappen des bufgefdlagenen Bodens. Auch im
Rhythmus vieler feiner Kriegsgedichte ijt jenes verhaltene Leben, von dem wir fprachen:
ich denfe an die Schilderung des Rittes nach dem Tempelbaus im „Heidegänger“, an
„Attacke“, „Zapfenſtreich“, vor allem an , Mit Trommeln und Pfeifer”.
Nod) andere rein äſthetiſche Reize Hat das Kriegsleben fiir thn, die man aus
feiner Geſamtart begreift. Man bat Liliencron den Dichter des Moments genannt,
feinen Wortimpreffionismus bervorgeboben. Bemerfenswert ſcheint e3 mir, daß er
den Moment bejonders liebt, in den ſich eine Fille von Cindritden ſo zuſammen—
driingt, dah es, fie feſtzuhalten, aller abfiirjyenden Prägnanz bedarf, deren fein Stil
fähig iſt. Solche Momente voll hunter Fiille, in denen durch die ungewöhnliche
Situation des Schauenden die Dinge als bizarre Jmpreffionen ſichtbar, hörbar, fühlbar
werden, bietet die Schlacht. Den Moment feiner Verwundung Hat Liliencron als
einen folchen öfters Ddargejtellt:
„Zu Boden ſtürz' ich, einer ſticht
Und zerrt mich, ich erraff' mich nicht,
Und um mid, vor mir, unter mir,
Gin furdthar Ringen, Gall und Gier,
Und iiber unferm wüſten Knaul
Baumt ſich cin ſcheu geword'ner Gaul,
Ich ſeh' der Vorderhufe Blig,
Blutfeſtgetrochneten Sporenritz,
Den Gurt, den angeſpritzten Kot,
Der aufgeblähten Nüſtern Rot,
Und zwiſchen uns mit Klang und Kling
Platzt der Granate Eiſenring.“
Das jähe Wechſeln, das verblüffend ſchnelle Sichablöſen der Bilder iſt ein Zug,
den ſeine Kriegsſchilderung mit der ſonſt anders gearteten Frenſſens teilt.
Neben dem Realiſten Lilieneron ſteht uns der Phantaſt. Derſelbe, der eine
Landſchaft in die ruhigen, rein geſtimmten Organe des Schauenden aufnahm, konnte
fie umdeuten zu Bildern ſeiner Phantaſielaune, hat „wunderbare Geſichte“, in denen
er etwas fühlt vom „Spökenkieken“ ſeiner Heimatbrüder. Derſelbe, der die Wirklichkeit
eines Liebeserlebniſſes in allen Nuancen durchkoſtet, und gerade in der beſcheiden
treuen Wiedergabe wirklichkeitsechter Züge Meiſter iſt, dem kommt wohl auch die Laune,
das liebe Ding, das er im Arm hat, mit buntem Flitterkram der Phantaſie zu behängen.
So ergeht's auch dem Kriegsdichter Lilieneron. Das iſt hier nichts Zufälliges.
Denn gerade dies impreſſioniſtiſche Sehen beflügelt die Phantaſie, bietet ihrer Um—
deutungsluſt mehr Anhalt als ein rationales Sehen, das ſich über das Weſen der
Erſcheinung Rechenſchaft gibt. Unmittelbar neben den eigentümlichen Wirklichkeits—
impreſſionen ſtehen grandioſe Phantaſiebilder, ſteht ſymboliſches Ausrecken geſchauter
Dinge. So gewinnt die große Viſion im Poggfred: der Leichenhügel, aus deſſen
Spite der erſtarrte Arm des toten Zuaven drohend gen Himmel gereckt ijt, phantaſtiſch—
Teuer erfauft. 721
fombolifden Wert. Von der plagenden Granate heißt es: „Ein Drache briillt, die
Erbe birft — Einſtürzt der Weltenhimmelfirſt!“ — — „Ein einjelner feindlicher
Küraſſier raft auf uns ein. Sein Geſchrei iſt Gebriil . . . Es ijt der Antichriſt ...
fünfzig, dreißig, zehn Schritt . . . bei uns ... Kein Gewehr gegen ibn von uns
hebt ſich. Wir ſind im Bann... . Jetzt ... jetzt . . . die Nüſtern ſeines Rappens
ſprühen Feuer. . . . Jetzt . . . und er haut mit einem Hieb, als holte er aus den
Sternen aus zur Erde —.“
Endlich jenes wundervolle Cingeben aus dem Wirklicfeitsjeben in frembdartightes
Phantaſieſehen, die ſchönſte Stelle im „Heidegänger“. Er beſchreibt den Ritt nach dem
Tempelbaus durd die abendlide Heide: „immer weiter, immer rubig yu, ſchon feit
Stunden”,
„Spaniſch tingelnd, fprigt mein Hengft ben Schaum
fiber Saum und Siigel, auf Sattel und Saum.
Nber feinen Gals halt id) den Degen quer,
Reite wie der Dei von Tunis baber.
Tragt eines Feindes abgehauenen Kopf
Meine Linke, den wolligen Haarjdopf .
Langsſeits ber Dede? Tripfelt neben meinem Pferde
Mus bem verzerrten Haupte das Blut auf die Erbe?”
5
= Geer erkauft. ——
Bon
Cyvriel Buylle.
Autorifierte Uberfegung aus dem follandifchen von Rhea Sternberg.
Naddrud verdoten. —
Qn Kreuzpunkt von vier tweihen Cand: | fie mit ihrem reifen Reichtum an leife brandende
wegen ftand mitten auf den weit fid) debnenden Wogen. Wie eine ferne, fteile Küſte begrengten
Kornfeldern Cleves einfamed Häuschen. Cine — rings dunfle Baume ben Horizont.
Gruppe bober Pappeln umgab die miedrige, Sn all ibrer golbenen, roten, blauen und
fleine, gelblich-weiß getünchte Hiitte, bon der | violetten Farbenpradt reifte die Saat dem
ſich das rote Siegeldad und die griinen Fenfter- | Tode entgegen. In luftigen Höhen jubelten
laden fraftig abboben. die Lerchen ihre letzten ſüßen Weifen. Und
Das Hiusden [ag da wie eine fleine Jnfel | Manner und Frauen famen in Scharen, be—
im offenen Meer. Die weiten Flächen rings | waffnet mit Sicheln und Senfen, und ächzend
umber waren im Frühling ebenmäßig glatt, | fiel bas goldene Korn nieder auf dad helle
von zartem Griin, twie cin unbetwegter Meeres- Erdreich.
fpiegel; im Quni glicen fie mit ben vom Wind Nun glid das Feld einem ricjenbaft großen
bewegten hohen Halmen der wallenden, Kirchhof. Wo monatelang unjiblige Halme
tojenden Eee, und unter der Gonnenglut ded | gelebt und gejittert batten, erboben fich jest
tiefblauen Juli: und Auguſthimmels gemabnten | iiberall unbeweglice, lebloſe Buppen. Cie
46
722
ftanden da wie graugelbe Grabjteine auf
einem weiten Schlachtfeld, auf dem viel
Schmerz und Trauer gelitten: worden war.
Und etivas von dieſer Trauer fcbien zurück—
geblieben gu fein in all den totenjtillen Häufchen.
Auf dem öden Stoppelfeld hörte man nun
fein anderes Geräuſch als den ſtill melancho—
liſchen Geſang der Grille, ſah man keine andere
Bewegung als ab und zu einen taumelnd hin—
und herflatternden, ſtumpfbraunen, einſamen
Schmetterling.
So ſtanden die Haufen etliche Tage
trauernd da. Dann kam wieder ein fremdes
Leben und neue Bewegung hinein. Die einen
fanfen hintenüber, wie mannhafte Kämpfer in
ſtolzem Zorn, andere fielen kreuz und quer
durch einander, wie Schlachtopfer in qualvoller
Stellung. Manche von ihnen ſchienen zu
lämpfen, wieder andere einen wilden Rundtanz
aufzuführen, wie eng geſchnürte Frauengeſtalten
mit weiten, wallenden Röcken. Hier und da
lag einer platt auf dem Boden, wie ein elend
gedemütigtes Weſen, das mit gefalteten Händen,
die Stirn zur Erde geneigt, um Gnade bittet.
Und über all dies fremd phantaſtiſche Leben
zitterte die Dämmerung in ihrer ſchweren, be—
engenden Stimmung, als ob dort hinten am
fernen Horizont eine große, ſtille Hand all die
im ſtolzen Bewußtſein ſeiner Stärke.
ſchimmernden Farben: rot, blau, grün, purpur
und orange zu einem trüben, ſtumpfen Grau
in einander gemiſcht hätte.
Dann wurden die Leichen auf Wagen ge—
laden und nad fernen Scheunen gefabren.
Andere blieben auf dem Platz, wurden zu großen
Haufen geſtapelt und ſtanden da wie ganze
Dörfer aus grauen, kleinen Hütten mit ſpitzen
Strohdächern. Rings umber lag in Toten:
tube der braune, fette, umgetviiblte Boden,
bis die Herbjtiaat ihn aufs neue jartgriin
farbte und endlich der Schnee feine grofe
weiße Dede dariiber breitete.
* *
—
Und Cleves einſames, niedriges Häuschen
lebte dieſes ganze ſtille Leben mit.
Es ſchien die weite Ebene mit ſeinen viel=
teiligen kleinen Fenſtern wie mit menſchlichen
Augen zu überſchauen. Altmodiſche Blumen,
braune und gelbe Levfojen, rote Kreſſen und
ein. üppiger Straud) leuchtend roter Roſen
Tener erfauft.
prangten und dufteten längs bes Bitters der
tleinen BVorderfront. Um die bogige niedere
Tiir rankten fid cin paar Weinftraucher empor,
die mit ibren Trauben und Blaitern den
ganzen oberen Rand des Häuschens zierlich
ſchmückten, bid gu bem roten Ziegeldach hinauf
flommen und den fleinen Schornſtein in eine
Vaſe mit herabbangenden Siveigen verwandelten.
Hinter bem Haufe ftand ein fleiner Stall aus
roten Badfieinen neben cinem baufalligen
Sdhubbad fiir den Handwagen und die Zieh—
bunde, und cin wenig tveiter vorn, unter den
boben, raujdenden Bappeln, befand ſich neben
einem Holzſtoß in einem gang fleinen Verſchlag
der Badofen, in welchem einmal wöchentlich
bas Roggenbrot gebaden wurde.
Das Häuschen lebte ftill wie feine Um—
gebung. Es lachte nnd firablte im Glanz der
milden Friiblingsfonne, und abends ſchloß es
getrojt feine grünen Fenfterladen wie treue,
miide Augenlider, um im bellen Mondenſchein
zu ſchlafen und zu träumen. Seine gelbweifen
Mauern leuchteten mit faſt durchſcheinender
Helligkeit, als ſtrahle der Mond ſelbſt aus
dieſen ſtillen Wänden.
So erhob ſich's eine ganze Weile hoch über
den ganzen Umkreis, ihn gleichſam beherrſchend
Aber
allmählich wuchſen die Halme rings umher
höher und höher, und dann ſchien das
Häuschen immer niedriger und kleiner zu
werden, bis es ſchließlich nur noch die Spitze
des Daches zeigte, die wie ein Feuerfunke
zwiſchen dem wallenden Grün der Kornfelder
und dem zitternden Himmelsblau leuchtete. Die
mehr und mehr anſchwellenden Kornwogen
wollten das ſchwache, kleine Ding ſcheinbar
völlig vernichten, und ſelbſt die hohen
Pappeln, die es ſonſt bejdiigten und beſchirmten,
ſchienen es nun unter den ſchweren Maſſen
ihrer dunkeln Kronen zu erdrücken. Aber
wenn die Halme fielen, erhob ſich's plötzlich
wieder hell und triumphierend von der Erde,
als alleinige Siegerin auf den öden Feldern
zurückbleibend, und der einſt ſo ſtolze Schmuck
der hochaufragenden Baumgipfel umgab nun
rings ſeine Mauern wie ein prächtig goldenes
Kleid.
*
Tener
Zu fiinfen wohnten fie da: Cleve, feine
Frau und drei Kinder. ,, Drei und ein halb,“
fagte Cleve feit einiger Beit, wenn er in guter
Yaune war,
erwartet. Cleve lebte bom Handel mit
Ranindenfelen. Jeden Morgen madte er
fich mit feinem Gundewagen auf, um Kaninchen
cingufaufen, Gr fubr oft ſtundenweit nad
unjaibligen Bauernbifen und fernen Häuſern
und fam erjt mit bem finfenden Tage beim,
den Wagen vollgeladen mit Weidenfirben, in
denen die Iebenden Kaninchen ſaßen. An
demfelben Abend nod) twurden fie in dem
Heinen Stall getitet und abgeyogen. Das
wleif ging an einen grogen Kaufmann im
naben Dorf; die Felle wurden, auf Stiden
ausgefpannt, in die Sonne jum Trodnen
geftellt und fpater, wenn viele, febr viele,
Hunderte, Taujende zuſammen waren, in der
Stadt an eine Pelzfabrik verfauft.
Inzwiſchen forgte bie Frau fiir das Haus
und die Kinder, Irma, das zwölfjährige
Madchen, war eine Zeitlang yur Schule
gegangen, blieb nun aber gu Hauſe, um der
Mutter ju helfen. Sie mußte auf Pierken,
den kleinen Bruder, und auf Seelevie, das
Secwefterden, aufpafien. Und bet ſchönem
Wetter fagen fie ganze Tage zu dreien im
Gras unter den hohen Baumen oder mitten
auf dem Kreuzweg vor dem Häuschen im
Sande und fpiclten.
Mud fie febten in ibrem ganyen Tun
und Spiel bas ftille Leben ihrer Umgebung
mit. Bald waren fie grau und feudt wie
Schmutz, bald gelb wie Sand; bald waren jie
mit weißen Kränzen, bald mit folchen aus roten,
blauen, gelben oder violetten Blumen geſchmückt,
je nachdem fie auf den Feldern rings in Bliite
ftanden. Es fam cine Beit, da waren ibre
Hände und Gefidter tiber und über beſchmutzt
von bem fdiwarjroten Caft der reifen Wein:
firfden, und dann fam eine andere, da faben
fie gang grün aus von dem übermäßigen
Genug unreifer Apfel und Birnen. Es gab
aud) Tage, da fie ciner Art abſcheulicher
befiederter ober bebaarter Tiere glichen,
weil fie ihre Gejicter und Hände mit den
aus den hohen Pappelfronen maſſenhaft nieder⸗
ſchwebenden weißen Wattefloden beflebten.
Bald banden fie Maikäfer mit den Beinen
benn bas bierte wurde balb |
erfauft,
723
an bdiinnen Drabt, bald ſpießten fie Sdymetter-
linge auf oder fingen junge Vögel, die nod
faum fltigge waren. Wenn das Korn gemäht
war, liefen fie mit ibren geſchwänzten Papier:
| draden fiber die fablen Felder, und im Herbft
gogen fie junge Rartoffeln aus der Erbe,
brieten fie in beifer Wide und verjzebrten fie
mit Bergniigen. Es waren Rader, alle drei.
* *
*
Cleve war ein Mann von fünfundvierzig
Jahren, klein von Geſtalt, mit einem gelb—
lichen, durch Pockennarben entſtellten Geſicht,
dem die großen, klaren, graublauen Augen
einen einnehmenden Ausdruck von Milde gaben.
Er liebte ſeine Beſchäftigung, die er von dem
Vater übernommen hatte, durchaus nicht.
Seiner ſanften Natur widerſtrebte das
beſtändige Hinſchlachten bilflofer Tiere. Seine
große Illuſion war, einmal genug zu beſitzen,
um einen ganz kleinen Bauernhof zu beziehen,
auf dem er eine — und wär's auch nur
eine einzige — Kuh halten könnte.
Eine halbe Stunde von ſeinem einſamen
Häuschen entiernt lagen in den fruchtbaren
Niederungen all die ſchönen, großen, reichen
Bauerngüter mit ihren Baumgärten und hellen
Wegen. Alle Tage faſt kam er vorbei an
den weißen, roten, blauen Häuſern, den hohen
Scheunen und Ställen, den alten, knorrigen,
unter der ſchweren Laſt ſich krümmenden
Obſtbäumen, den ſaftigen, ſonnenbeſchienenen
Wieſen, an ſoviel Fruchtbarkeit und Schönheit.
Und im ſtillen verglich er das alles voll Weh—
mut mit ſeiner eigenen kleinen Hütte und
ſeinem ganzen ärmlichen Dafein.
„O, wie ſchön iſt hier doch alles, und
wie glücklich ſind die reichen Bauern, die hier
leben können,“ ſprach es in ihm.
Doch nicht Neid und Mißgunſt regte ſich
in ſeinem Herzen, nur ein unbewußtes Gefühl
der Freude über ſoviel Schönes lag in ſeinen
bewundernden Blicken, wenn er zu den reichen,
dicken, fröhlichen Bauern ſagte: „Ach, bier iſt's
aber ſchön! Ihr wohnt hier aber ſchön!“
Und die Bauern pflegten dann wohl—⸗
gefällig zu lachen und ſpottend mit ihm zu
ſcherzen:
„Warum kaufſt dir nicht aud 'n Hof,
Cleve, fiir all bas Gelb, das du an unſern
Raninden verdienſt?“
46°
Ri
Aber Cleve fonnte nit mitladen, Cr
antiwortete ernſthaft mit einem hellen Blid
feiner guten, ebrliden Yugen, bab er nur
gerade genug verdiene jum täglichen Brot fiir
feine Frau und Kinder, und dah feine einzige
Hoffnung fei, vielleicht einmal in einem gang
befonders guten Jahr ein kleines Siimmaden
iibrig gu bebalten, um eine junge Rub daſür
zu kaufen.
„Na alſo“, rief da mal Bauer Trooſter,
der reichſten und luſtigſten einer, „willſt Du
vielleicht die Färſe bier kaufen?“
Und er wies auf eine junge milchweiße
Kuh, die in luſtigen Sprüngen mit wedelndem
Schwanz durch den ſonnigen Baumgarten lief.
„Wenn ich nur das Geld hätte! Wenn
id nur die Gent dazu hätte“, ſeußzte Cleve.
„Mußt borgeh”, lachte Troofter, der fid
gerade in befonders guter Stimmung befand.
Aber Cleve fditttelte den Kopf und feufgte
wieder. Der Winter war zwar nicht ſchlecht
geweſen, und er hatte aud ſchon ein Sümmchen
beijeite gelegt, aber doch nod nicht genug, und
dann . . . dad Kleine, das nun bald fommen
mute. Wd nein, es ging nicht, er wollte
lieber gar nicht daran denken, es war ſchlecht
von Trooſter, ihn ſo zu verſuchen. Und mit
Bedauern und Verlangen betrachtete er noch—
mals die graſende junge Kuh. Wie ſchön weiß
ſie war, mit ſo apart orangefarbenen Linien
um die Augen und an den Schenkeln, und
wie frifd) und geſund. Der durchdringende
Milch- und Mofdusgerucd, den fie ausftrimte,
ließ Cleve dads Wafer im Munde gufammen:
laufen, Cr jtreicelte ihr fanft den Rücken
und befiiblte alg Renner Schultern und Lenden.
„Na“, ladte Troofter, „gefällt fie Dir?”
„Ich will’s wohl meinen”, antwortete Cleve
mit einer Urt fromimer Scheu.
„Kauf fie, fag’ ics Dir, wirft Deinen Nutzen
davon haben, zwanzig Liter Mild per Tag”.
„Wieviel foll fie foften?” Mebr aus Neus
gier als um des Kaufes willen fragte er danach.
„Fünfhundert Fran, sieferon '), weil Du's
bift, und feds Monat Beit gu bezahlen“, fprad
der Bauer offenbergig.
Cleve tiberlegte einen Augenblick.
frangofifde Wort, das der Bauer da hinzu—
) Chiffre rend.
——
Das |
— —— —— — Eee — — —— — — —
Teuer erfauft.
gefiigt hatte, verſtand er zwar nicht, aber er
nabm an, dah es bedeuten follte: ohne Handel.
Es war aud nidt gu viel fiir fold) ſchönes
Tier, nur fiir ibn war's gu viel.
„Ich fann nidt, ich fann nicht, id dari
nicht”, ſeufzte er, fic) mit Selbſtüberwindung
pon der Berfuderin abwenbdend.
Und aus einer gewiſſen Sham, um den
Bauern nicht merfen ju laſſen, wie febr er es
bedauerte, fpielte er's beim Abſchied auf einen
Scherz binaus:
„Ich bab’ ja gu Haufe aud ’ne Rub, die
bald wieder Mild geben wird”.
Und fdnell entjernte er ſich, während der
reihe Bauer fic) fiber ben guten Wi vor
Laden ſchüttelte.
* *
*
Die ſchöne weige Färſe des Bauern Troofter
ließ Cleve feine Rube mehr. In jeder weißen
Rub am Wege fah er fie wieder, nachts
träumte er von ibr.
Gr ſprach mit feiner Frau dariiber. Un—
beweglich hörte fie ibm gu, ihr Berlangen
war ebenfo groß wie das feine, Cie hatte
cin Inodiges, mageres Geſicht voll Sommer:
{proffen, fiber bas fic) die glänzende Haut fo
ftraff fpannte, bag die grofen Mugen und ber
breite Mund wie Riffe und Löcher erſchienen.
Das gab ibrem Geficht beſtändig einen Aus—
druck von Verwirrung und Angſt, als fabe fie
fortwährend entſetzliche Bilder. Ihre Bruſt
war eingefallen, und unter den furjen Roden
jab man bie dürren Knöchel; nur ihr Leib
war iibermagig rund und ſchwer, als ob fid
die ganze Kraft ihres Körpers darin gejammelt
babe.
nad, ja, batten wir nur’s Geld! Hatten
wir nur 's Geld!” twiederbolte fie fort:
während als Antwort auf feine verlodende
Beſchreibung.
Doch im Gegenſatz zu den meiſten Menſchen,
die unangenehme Hinderniſſe wegphiloſophieren,
um einen ſehnlichen Wunſch erſüllt zu ſehen,
blieben ſie ruhig und klug genug, ihr Begehren
dem Zwang der Wirllichkeit zu opfern.
„Laß uns nicht mehr davon ſprechen und
unſere Zeit abwarten,“ ſchloß er weiſe mit
einem Kopfſchütteln der Entſagung.
*
-
Teuer erfauft.
Inzwiſchen ging ber Sommer zu ende,
und die Kirmeszeit brad an. Die herrliche
Septemberfonne lacdhte und ftrablte fiber den
reichen Bauerngiitern, die friſch Toilette gemacht
au haben ſchienen, um felbjt teilgunebmen an
ben Freuden und Späßen der Kirmes-Fröh—
lidfeit. Die Bauern gingen ſchon vom friiben
Morgen an in weifen Hemdsärmeln umber,
und die Bauerinnen ließen die leuchtend bunten |
Binder ihrer Hauben im Winde tweben.
Auf der Ehene zwiſchen dem nachften Dorf |
und den Bauernbifen follte in diefem abr
ein Pferde-Rennen ftattfinden. Das war
etwas Neues, cin Plan bes Bauern Troofter,
der eben gum Biirgermeifter ernannt worden
war. Gr wollte nun aud mal die Dorf:
bewohner nad feinem Hof loden, und
fon am jriiben Morgen waren bie fonjt fo
ftillen, einfamen Sandwege didt mit Spajier:
gangern und Sufchauern befest.
Cleve war in bellem Entzücken. Die
Pferde mupten an feinem Häuschen vorbei,
und er hatte ſchnell die gute Gelegenbeit
benubt, um unter dem dichten Schatten feiner
Pappeln Tiſche, Stühle und Bänke aufzuſtellen
und eine Art Laubenherberge zu improviſieren,
in der er Bier und Jenever verkaufte. Er
durfte es eigentlich nicht, denn er hatte feinen
Konſens, aber wer würde denn darauf achten!
Es gab in der Nachbarſchaft fein fonfurrierendes
Wirtshaus, und Troofter würde gewiß nichts
bagegen haben. Nur der Feldwadter hatte
ein bißchen ſchief geguckt, aber Cleve batte
ibn ſchnell mit einem guten Seblud traftiert,
und nun ftand ber Beſchützer der dffentliden |
Rube mit leudtender Nafe am Cingang des
Ausſchanks und hielt Wade, auf daß alles
in Drdnung vor fid gebe.
Das fonnte ein guter Tag fiir Cleve
werden. Vielleicht verdiente er gar fo viel,
daß er dod) noch bie ſchöne Rub faufen fonnte.
Er ftand binter dem erjten Tiſch, ſprach
lebhaft und ſcherzte Laut mit ben Gajten,
wabrend er einfcanfte und bebdiente. Seine
Frau bediente mit Armas Hilfe den gweiten
Tifh. Heute mußte Pierfen auf Seelevie
adtgeben und vor allem aufpaffen, daß fie
beide nicht unter die Pferdehufe gerieten.
Gin erjtes Wettrennen war ſchon vorbei-
geftiirmt: feuerrote, ächzende, ſchreiende,
725
ſchwitzende und peitſchende Bauern auf dicken,
ſchäumenden Pferden in Wolfen von Staub.
Aufgeregt vor Entzücken fiber fein wohl—
gelungenes Feſt erſchien Troojter mit einer
gangen Schar reider Bauern und Bauerinnen
am Schanktiſche, um zu trinfen und zu traf:
tieren. Er beobachtete, wie gut der Berfauf
bei Cleve ging und rief ibm lachend mit
jdhallender Stimme ju:
what... Sollt’s nod nidt bald geben?
Kommft morgen twegen ber Farfe? Sie haben
mir geftern fecbShundert Franf dafiir geboten,
aber Du ſollſt fie nod immer fiir fünfhundert
haben, sieferon. Gin Mann, ein Wort.“
Gleve jitterte . . . 8 ging gut, 's ging
gut... nod ein paar Stunden fo tweiter. . .
dann vielleiddt morgen . . . wer wei...
„Ich bab’ ja fein Frefjen fiir fie”, rief er
dem Bauern ſcherzend au, fic) mit den Hembd<
ärmeln den Schweiß vom Geſicht wiſchend.
„Daran ſoll's nicht fehlen. Kannſt ſie auf
meinem Wieſenrand weiden laſſen“, rief Trooſter,
ſich vor den Anweſenden mit ſeinem Reichtum
und ſeiner Freigebigleit blähend.
Cleve war in ſeinem Glückstaumel im Be—
griff, den ſo beſonders mild geſtimmten reichen
Bauern ſofort beim Wort zu nehmen. Er
ließ ſeine Käufer ſtehen und ſchritt auf ihn
zu, als draußen plötzlich ein Geſchrei entſtand.
„Sie find ba! Sie kommen! Sie fommen!”
Und alles fprang auf und ſtürzte binaus.
Mud Cleve lief mit, um wenigftens von
biefem Wettlauy, dem ſchönſten und widtigiten,
aud etwas ju feben.
In zwei didten, fangen, bunten Reiben
ſtanden gu beiden Seiten des Weges die Sue
ſchauer wie lebende Menfdcbenbeden und fpabten
| mit verrenftem Hals in die Herne.
Hier und
| da lagen Kinder platt auf ber Erde, die Köpfe
zwiſchen den Beinen der Grofen. Und gang
fern fam etwas an, eine dide gelbe Staub:
wolfe, aus der bin und wieder ſchwenlende
Arme mit fligenden Peitſchen hoch empor-
ſchoſſen, während ber Boden unter dem Ge—
trappel von Hunderten von Hufen dröhnte.
In groper Cile näherte fid) ber Bua, immer
deutlicher wurden Reiter und Pferde ſichtbar,
und die Menſchen ſtürmten hinterdrein. Zwei
Pferde ſtoben voraus, rechts und links vom
Wege. Einer von den Reitern hatte ſeine
726
Miike verloren, und die wallenden Haare
ftanden ibm gu Berge. Dann fam plötzlich
cin drittes Pferd nachgeraſt, ein grofer, ſchwerer
Schimmel, der die beiden anderen nod) mehr |
zur Seite drängte. Es drohte Gefabr,
und ſchreiend flüchtete die Menge ins offene
Feld hinein. Da ſtieß eines der Pferde wuchtig
mit der Flanke gegen das Gitter von Cleves
Häuschen, man hörte die Hufe gegen einander
ſchlagen und gleich darauf einen kurzen Schrei.
Nun fam man herbeigelaufen und gewahrte
in dem Cand einen blutigen Rnabenfdrper.
Zwanzig Mann zugleich ftiirgten fic) darüber
und hoben ihn auf, aber er gab kein Lebens—
zeichen mehr von ſich. Der kleine Kopf war
vom Hufſchlag zerſchmettert.
„Wem gehört er? Wem gehört er?” rief
man ängſtlich von allen Seiten.
Bleich und ſtöhnend, mit einer fürchter—
lichen Vorahnung ſtürzte Cleve auf die dicht—
gedrängte Menſchenmaſſe gu...
Und mit einem ſchmerzvollen Schrei der
Verzweiflung erfannte er in dem toten Rind
jein Pierfen! . .
* ‘ *
In diejer Nacht ftand das einfame Hausden
unter ben Pappeln in ticfem Leid. Die Fenſter—
laden waren nicht geſchloſſen, und Lichte
Teuer erfauft.
fie fanden Cleve bleich und miide, mit ftumpfen
Augen, leiſe redend oder ab und ju angftvoll
aufſtehend und auf Striimpfen ſchnell durd die
Hiitte ſchleichend. Er ſchien finnlos vor
Schmerz und erzählte eintinig und heimlich,
wie im Traum all den ihn mitleidig um—
ringenden Menfden, dak Pierfen nun tot
fei, von Pferdehufen getötet, und dah ihnen
nadts ein anbdered Rind, aud cin Jungchen
geboren worden fei. Dann begann er plötzlich
laut zu ſchluchzen und klagte, daß ibm gu Mut fei,
alg ob er Pierfen nie gefannt babe, und dap
er ibn jetzt erft fo recht fenne in feiner ganjen
Lieblichkeit, jest, ba er tot fei.
„O Pierfen, mein Pierfen, mein liebes,
braves Sungden, und nun bift du fiir ewig
tot!”
Immer und immer twiederbolte er diefelbe
jammernde Rlage, unter Handeringen auf und
nieder laufend, und im nächſten MWugenblid
ſank er dann wieder ftumpf auf einem Stuhl
zuſammen, twie vernidtet.
Der Doktor fam ju dem toten Kinde,
„Das arme Geſchöpfchen ift tot, nicht wabr,
lieber Herr Doktor?” fragte Cleve ſchluchzend,
alg ob nocd ein Zweifel möglich fei. Und
, neben der Eleinen Leiche befam er pliglid
' wieder eine wilde Krifis, ſodaß die Anweſenden
fladerten binter ben Scheiben und irrten Hin .
und wieder. Und die febnell aufjudenden und
ebenfo fcbnell wieder verſchwindenden ellen
Punfte waren wie feurige Tranen, die dad |
arme Häuschen weinte, in dem gefolterte Seclen
in rubelofer Berjweiflung umherzuſchwärmen
ſchienen und vergeblich gu entfommen ſuchten.
Das ganze Kirmesgewiihl hatte fich ſchnell
fortgefliicdtet von bem Haufe des Unbeils, und
wer nod) etiva in der Nabe vorbeifam, hirte |
mitten in bem Todesſchweigen hin und wieder
plötzlich fremde, bedngftigende Laute. Die
Menſchen fürchteten ſich vor dem Häuschen und
vor dem entſetzlichen Unglück, das ſo ſchnell die
blühende Freude zerſtört hatte; und fie ſtanden
pon ferne in der Racht und beobachteten es in
banger Erivartung, als barrten fie in aber:
glaubifdem Grauen auf ein nod) größeres,
gänzlich vernichtendes Unbeil.
klaren Tageslicht wagten ſie hinzugehen.
angeſteckt wurden von ſeinem jämmerlichen
Heulen und Schreien und mit ihm weinten.
Der Arzt fuchte ihn mit praftifden Er—
wägungen zu tröſten.
„Wiſſen Sie, Cleve, daß Sie dem Geſetz
zufolge ein Recht auf Schadenerſatz für dieſes
Unglück haben?“
„Schadenerſatz! An wen ſoll ich mich da
wenden? Wir wiſſen ja nicht, weſſen Pferd
ihn umgerannt hat!“ ſchluchzte Cleve, deſſen
laufmänniſcher Sinn dod) ſofort einigermaßen
zur Verteidigung ſeiner Rechte angeregt wurde.
„Das iſt gleich, die Unternehmer des
Rennens und vor allem der Bürgermeiſter
ſind verantwortlich. Sie müſſen einen Rechts—
anwalt nehmen und werden viel Geld be—
kommen,“ verſicherte der Arzt.
Unbeweglich ſtand Cleve da und dachte
nach. Trooſter war alſo verantwortlich. Er
mußte ifn nad dem Geſetz ſchadlos halten.
Erſt am frühen Morgen, beim nüchternen,
Und
Der Gedanke, daß er vielleicht Geld genug
befommen würde, um die Rub zu kaufen,
Teuer erfauft.
ſchoß ihm wie ein Blip durch den armen,
gequalten Kopf. Aber wenn er cinen Rechts.
anwalt nabme, würde Troofter böſe werden
und ibm bie Rub nicht verfaujen. Und er
fiiblte aud einen gebcimen Widerivillen, den
Bauern fo au zwingen. Gr fonnte ibm dod
nidt die Schuld daſür aufbiirden, daß PBierfen
unvorfictigeriveife unter die Pferdehufe gera-
ten war. Enttäuſcht und traurig ſchüttelte er
ben Ropf. Er wupte nicht, was er tun
follte.
Raum war ber Argt fort, fo fam der
Feldwächter. Cr fame in Troofters Namen
fagte er, und wünſchte Cleve allein gu fpreden.
Der Bauer bedaure das Ungliid tief und
wolle es Cleve vergtiten. Cr wolle ibm als
Entihadigung eine pradtvolle junge Farfe
geben, die wohl fiebenbundert Frank wert fei,
damit Cleve Abftand nebme von allen tweiteren
eventuell gefesliden Forderungen.
Gleve jitterte. Trooſter mupte fid dod
aljo voll und gan; verantivortlid fiiblen, ba
er ibm von felbft einen folden Vorſchlag
machte.
„Die Färſe iſt fünfhundert Frank wert,
aber keine ſiebenhundert“ ſprach er endlich.
„Trooſter hat fie mir fiir fünfhundert verkaufen
wollen.”
„Ich weiß es,“ antivortete der Feldwächter,
„aber ſie iſt mindeſtens ſiebenhundert wert.
Heute morgen erſt hat ihm ein Viehhändler
aus dem Dorf ſiebenhundert dajiir geboten.“
Gleve zögerte. Auf dem Redtswege würde
er vielleiht nod mebr befommen, aber dann
jider auf die ſchöne weife Rub verzichten
miiffen. Er fab fie im Geifte vor fid in
ibrer Kraft und Sebinbeit nnd fonnte die
Wedanfen nidt davon abwenden. Celbft
Pierken vergaß er dariiber.
„Und id fol Euch nod befonders bejftellen,
dag fie big Oftern auf Troofters Weide getrieben
werden kann,“ beeilte fic der Feldwächter bin:
zuzufügen.
Die Verſuchung wurde immer verlockender.
„Ich will mal die Frau fragen,“ ſagte Cleve.
Gr ließ den Feldwächter allein und lam
nach einigen Minuten wieder.
„Die Frau fagt, dab wir uns nod nicht
727
„Das ift unrecht,“ meinte der Feldwächter
mißbilligend. „Ihr miiftet Euch fonft mit viel
weniger bejablt halten, und Shr ſäet Zwiſt
und Feindſchaft.“
„Er foll bis iibermorgen warten,” befdlof
Eleve niedergeſchlagen, plighd wieder an
Pierfen denfend. „Übermorgen, nad dem
Begriibnis, werden wir fo oder fo beftimmen.”
> *
*
Zwei Tage fpater, zur fejigefesten Beit,
fam der Feldwächter wieder. Gedriidt und
nadpenflid fa Cleve am Riichenfenjter und
jtarrte hinaus. Pierlen lag nun in der Erde,
in der fleinen Grube, fiir ewig. Es war
etwas von feinem eigenen Leib und Leben,
bas nun da unten fag, und unfeblbar würden
nad und nad) aud alle andern folgen: er,
feine Frau, feine andern Kinder.
„Na, babt Ihr nod dariiber nadgedadt 2”
fragte der eintretende Felbwadter,
D ja, bas hatte er getan, frank gedadt
hatte er fidh. Der Arzt hatte ihm nod einmal
lebbaft geraten, Troofters Vorſchlag abzuweiſen
und die Cade einem Rechtsanwalt ju über—
geben, Auch andere batten ibm diefen Nat
erteilt, Aber e& ging thm wider das beſſere
Gefitbl, und er mar aud qu unglücklich und
mutlog, um fic jest nod in Ctreitigfeiten gu
verwickeln. Die ſchöne Rub, nad der er fic
fo lange ſchon febnie, war feine eingige DHoff-
nung, fein eingiger Troft, nur fie, nichts
tweiter.
Der Feldwächter merfte etwas von feinen
widerſtreitenden Gefiiblen und fam nun mit
einem allerlegten, unwiderſtehlichen Vorſchlag.
„Hört, Cleve, Troofter hat gefagt, dak er
fogar die zweihundert Franf, welche die Rub
mebr twert ijt als fiinfbunbert, in bar geben
will, Das ift fein letztes Wort. Sind wir
nun einig?
„Jawohl,“ anttwortete Cleve plötzlich,
gewiſſermaßen inftinftiv, um ſich von feinen
Sweijeln zu befreien,
Der Feldwächter reichte ihm die Hand.
„Recht fol” rief er. „Nun fommt nad
bem Hof, mit Troofter den Bertrag unter:
zeichnen, er wird Euch das Geld geben, und
ip —
entſcheiden können, daß wir noch ein paar Tage She fort die Farfe mitnehmen.
warten wollen,” beridtete er.
‘ #
*
728
Die Conntagsgloden läuteten über bas
ftille, fonnige Land. Auf allen Wegen und
Pjaden gingen die Leute zur Kirche.
Auf dem ftillen Feld war Cleve ganz allein
mit feiner Rub . . . Gejtern war der Vertrag
geſchloſſen worden, und heute hat er fie gum
erftenmal auf Troofters Weide geftibrt.
„Ach, was fiir eine Freude hatte Pierfen
an unferer Rub gebabt,” feufgte er vor fic
bin. Ceine Lippen begannen gu jittern, und
Trinen rollten ibm über die Wangen.
„Ach Pierfen, mein armer, Lieber, fleiner
Junge, meinen letzten Cent und mein letztes
Stic Brot micht’ id hergeben, wenn ih Did
wieder am Leben feben könnte!“
Die Verwirflidung feined heißeſten Wun—
ſches, der herrlich reine, ſchöne Tag, das
feierlide Glodenlauten, ein ſpäter Commer:
pogel, ber bier und da nod fein einfames
Lied fang — alles ftimmte ihn tief webmiitig
burd) ben Kontraſt mit feiner innigen Trauer
um Pierfens Tod.
Dod) gleidhgiltig grafend lief die ſchöne
Rub neben ihrem neuen Befiger her, und das
einténige Geräuſch ihres rubigen Kauens
wiegte Cleve ſchließlich in ein dumpfes Gefühl
melancholiſcher Rube. Er dachte an fein neu-
geborenes Kind, dad aud Pierfen hieß, und
bas ibm vielleiht gum Troft und zur Ent—
ſchädigung fiir bas verlorene gefdenft war.
Gr badie an feine Frau und feine andern
Rinder und an feinen pligliden Woblftand.
Die leife Hoffnung erwachte in ibm, bah er
vielleicht bod) nod mal fein einfames Hausden
verlafjen und wie die reiden Bauern bier
auf den fetten, frudtbaren Griinden, mitten in
all diefer Pradt und Scinbeit einen Heinen
Hof fein eigen nennen wird.
Da ftand unertvartet Bauer Troofter vor
ihm. Das gewohnte offene Laden war von
dem roten Geſicht verſchwunden, und feine fleinen
Augen, die ex fonft im Übermut zuſammen—
zukneifen pflegte, ftanden nun mit einem Aus—
brud bon Furcht und Argwohn weit auf.
„Na, Cleve, ift Bellele brav?” begann er
mit etwas unfiderer Stimme, während er mit
einem Seitenblick in das bleiche Geficht des
ſchwer beimgefudten Vaters defjen Gemüts—
ſtimmung zu erforſchen ſuchte. Doch Cleves
ſtille und freundliche Antwort beruhigte ihn
Teuer erlauft.
ſchnell, und gleich zogen ſich ſeine Augen
wieder zum Lachen zuſammen.
„Ich hab' heute Hauswache,“ ſcherzte er,
„unſere Leute ſind alle zur Meſſe, und ich
hab’ für und zwei 'n guten Tropfen mit—
gebracht.“
Damit holte er eine Flaſche Jenever und
ein Glas aus der Taſche hervor.
ld, dad war’ nicht nötig, Bürgermeiſter,“
antwortete Cleve liebenswürdig, mit mattem
Lächeln.
„Doch, doch, auf Deine Geſundheit, und Du
mußt Courage haben,“ ſprach der Bauer und
reichte ihm ein volles Glas.
„Danke, Bürgermeiſter,“ ſagte Cleve dumpf.
Doch als er das Glas zum Munde führte,
zitterte ſeine Hand fo, daß er nicht zu trinken
vermochte.
„Na, na, trinP man, 's wird Dir gut tun,“
berubigte Troofter. „So, nod) einen?“
„Nein, nein, dank ſchön, das fteigt mir ju
Ropj.”
„Ach was, einer gebt fdon nod, id nebm
aud immer givei.”
Dann rief er plötzlich ohne jeden Übergang
mit bebender Stimme und feierlich, als ſchwöre
er einen Gib:
Kein Pferderennen mehr im Dorf, folange
id Biirgermeifter bin! Nie mehr, nie!”
Cin Schluchzen ftieg ihm im Halfe auf,
und wie gefoltert rang er die Hinde, und
Tränen traten ihm in die Augen.
» 8 ift Eure Schuld nicht, 's ift niemands
Schuld,“ murmelte Cleve faft unhörbar.
„Nie mebr, nie mehr!” wiederbolte Troofter
nadbdriidlid. Und von feiner Bewegung iiber-
waltigt, floh er ins Haus, die Hinde vor das
Geſicht gedrückt.
* ‘ *
Es tat Cleve twobl, den reichen Bauern
weinen gu feben, um fein liebes Pierfen; cine
weide Warme fam ibm ins Herz. Rube und
Frieden in der Seele kehrte er heim, wo feine
rau und die Madden ungeduldig feiner
harrten, denn fie batten die neue Rub nod
nicht gejeben.
Die Kinder famen ihm entgegen gelaufen,
als er fo ftoly wie cin Cigentiimer neben bem
ſchönen Lier über die Felder ſchritt, mit einem
Die Frau ald fojiale Erzieherin.
Gefiihl, als fei er nun in der Achtung all diefer
reichen Bauern geftiegen, als gehöre er nun
au ibnen, an deren Gebdften er vorüber fam.
„Ach Herr Gott, was fiir 'n ſchönes Tier,”
rief feine Frau und ſchlug vor Bewunderung
die Hände zuſammen.
Ihre Lippen zitterten vor Ruhrung, und
eine ganze Weile ſtand ſie ſprachlos und
unbeweglich neben den andern vor der weißen
Kuh im Schatten der hohen Bäume. Dann
begann ſie plötzlich bitter zu weinen und
ſtotterte ſchluchzend:
„Ach Herr Gott, unſer Pierlen!
Pierken! Unſer Pierken!“
Und Cleve, der ſo viel von der Kuh erzählen
wollte, und die Kinder, die mit Ausrufen der
Bewunderung um ſie herum liefen, weinten
mit ihr in Schmerz und Verzweiflung um das
tote Pierken.
Unſer
729
Das war ihre letzte grofe Trauer um dads
Rind. Sie bradten Bellefe in den Stall, two
fie ein weides, friſches Strohlager beforgt
batten, betradjteten es nodmals mit bewun—⸗
dernden Bliden und fehrten dann zu ibren
gewohnten Beſchäftigungen zurück.
Sm Jahr darauf batten fie ein ſchönes
weif und rot gefledtes Salb von ihrem
Belleke.
Im nächſten Jahr wieder eins.
Und im folgenden Mai verließen ſie ihr
einſames Häuschen auf ber weiten Ebene
unter den ſtolzen Pappeln und bezogen ein
kleines Bauernhaus, hellgrün geſtrichen, mit
weiß und blauen Fenſterläden und rotem
Ziegeldach, mitten in den fetten Gründen, auf
welchen die reichen Gehöfte ftanden.
In der Zwifdenjeit war ihnen nod ein
Sungden geboren worden . .
ie Brau als soziale @rzicherin.
Aniprachie auf dem Jnternationalen FrauenkongreB zu Berlin.
fo a Raddrud verboten.
Leben im weiteſten Sinne bedeutet.
Lady Aberdeen.
Jenn die Frau die Crzieherin fiir dad foziale Leben fein foll, und die Vildnerin
PY derer, die es zu geftalten haben, fo muf fie felbft verjtehen, was foziales
Sie muß einen Begriff davon haben, daß es nicht allein die Familie umfaßt,
die Nachbarn, cine Gruppe von Freunden, den gefellfchaftlichen Kreis oder die Klaſſe,
zu Der fie felbjt gebdrt, fondern daß e3 das vielfach verſchlungene Leben der ganzen
Gemeinſchaft bedeutet, von den Geringſten bis zu den Höchſten, die bitrgerliden und
die politifcben Angelegenbheiten, die öffentlichen und nicht öffentlichen, Männer und
Frauen, mit allen Sitten, Inſtitutionen, Jdealen und Borurteilen.
Um fich für ihre Aufgabe auszurüſten, mug fie deshalb vor allem ihren cigenen
Geift bereichern und erweitern, muß fie fic) über die Tatfachen ded fozialen Lebens
unterrichten, die menſchliche Geſchichte und das menſchliche Leben in feinen mannig—
jaden Verhältniſſen ftudieren. Sie muß aufhören, ſich in enge Cliquen abzuſchließen
und muß, wo ſie Gelegenheit dazu findet, Beziehungen zum menſchlichen Leben in
730 Die Frau al fojiale Erzicherin.
feinen verfdicdenen Rundgebungen pflegen. Sie muß, foviel fie irgend fann, vont
fosialen Leben Lernen, in all feinen Wbftufungen nach oben und unten, wenn ¢3 ihr
gelingen foll, es zu dem au madden, was e3 fein follte.
Und wenn fie fid) tiberjeugt bat, wie groß die Aufgabe ijt und wie febr es
augerhalb ihrer Macht liegt, fie auszufiibren, jo darf fie jid) nicht im Bewußtſein
ihrer Unjuliinglichfeit abwenden, fondern fie muß den Mut haben, ihren Anteil an
Diefer Aufgabe fo gut und erfolgreich wie möglich zu erfiillen.
Wir find ja alle nur wie eine kleine Biene in einem großen Stod; aber wenn
wir alle friedlich zuſammenarbeiten in freundſchaftlichem Zuſammenwirken, bei dem einer
des anderen Ziele verfteht, fo wird die Zeit uns elfen, und iwir werden allmählich
Großes vollbringen können.
Vor allem müſſen wir dafür ſorgen, daß unſere Arbeit wirklich aufbauend und
nicht zerſtörend iſt. Wir wünſchen, daß ſich eine neue ſoziale Ordnung durch eine
wirkliche, geſunde Entwicklung herſtellt, aus dem Innern der alten Verhältniſſe heraus.
Alte Ideale zu zerſtören, ehe die neuen feſtgewurzelt und imſtande find, ihre Stelle
einzunehmen, heißt nur die Geſellſchaft mit ſtörenden und unruhigen Elementen füllen,
Saaten der Zwietracht, die geſundere Pflanzungen erſticken werden.
a *
*
Wir ſtimmen alle darin überein, daß die wahre Aufgabe der Frau nicht die iſt,
eine Sklavin, eine bloße Arbeitskraft im Haushalt, ein Spielzeug, eine hübſch angezogene
Puppe zu ſein oder etwas ähnliches. Nicht einmal nur die Mutter der Kinder oder
die Leiterin des Hauſes. Wir geben zu, daß ſie dem Wohl der Allgemeinheit einen
wirklichen Beitrag an ſittlicher und intellektueller Kraft leiſten kann und leiſten ſoll
und daß ſie an der Seite des Mannes ihren Teil bei der Löſung der ſozialen Probleme
der Gegenwart zu erfüllen hat.
Aber wir müſſen dabei zweierlei im Auge behalten. Einmal, daß die alte Rolle
der Mutter, der Hausfrau nicht aufgegeben oder gering geſchätzt, ſondern nur auf ein
höheres und weiteres Niveau erhoben werden ſoll. Die Mütterlichkeit iſt immer noch
der eigentliche Mittelpunkt des Einfluſſes der Frau im ſozialen Leben. Und dann,
daß wir Frauen doch nur die eine Hälfte der Menſchheit ſind. Wenn wir die
Geſellſchaft geſtalten wollen, ſo können wir die andere Hälfte, unſeren Gefährten,
den Mann, nicht übergehen. Entweder müſſen er und wir Seite an Seite arbeiten,
mit im großen und ganzen gleichen Zielen, indem wir unſere Methoden unſeren beider—
ſeitigen Erfahrungen und Anſprüchen anpaſſen, oder es iſt — da die Männer noch
immer wenig bereit ſind, die Notwendigkeit unſerer Mitarbeit im geiſtigen Leben
anzuerkennen — nur zu wahrſcheinlich, daß wir in einen bitteren Antagonismus hinein—
geraten, deſſen Wirkung nur die ſein kann, die Verwirklichung unſerer Ziele aufzuhalten,
und — ſchlimmer noch — gerade den Charakter, den wir all unſerer Arbeit aufprägen
wollen, zu zerſtören, den Charakter weiſer, geduldiger, weitreichender Verſöhnung und
Einigung.
Denn ehrlich wollende Frauen kommen nicht, um für alte Tyrannei und Nicht—
achtung flammende Rache zu nehmen. Wir kommen vielmehr in dem Glauben, daß
die Wohlfahrt des Ganzen unſere Dienſte verlangt und daß es unſere Pflicht iſt, ſie
zu leiſten. Wenn wir die Männer dafür gewinnen wollen, unſer Verlangen nach
Möglichkeiten, unſere Pflicht zu tun, zu unterſtützen, — und wir können ohne ſie nicht
Die Frau alS ſoziale Erzieherin. 731
viel weiter fommen — wenn wir fie fiber die felbjtfiichtigen Inſtinkte und Borurteile
des Geſchlechts, der Klaſſe, des Berufs erbeben wollen, fo müſſen wir uns an das
Geredhtigkeitsqefibl in ihnen wenden. Und das können wir nicht, tenn wir nicht
ſelbſt in Beziehung auf fie volle Geredhtigheit üben. Alle Bitterfeit, alle Feindfeligheit
ijt einfach cin Schaden, den wir unferer eigenen Cache zufügen.
of ve
*
Wenn wir nun fragen, durch welche Lebenskreiſe im einzelnen der Einfluß der
Frau auf das ſoziale Leben wirkſam wird, ſo können wir im großen und ganzen die
Familie, die geſellſchaftliche Sphäre, in die eine offizielle Stellung verſetzt, das Vereins—
leben als die wichtigſten unterſcheiden. Ich glaube, daß dieſe Wirkenskreiſe unauflöslich
miteinander verkettet, daß dieſelben Prinzipien für alle giltig ſind und daß Mängel
und Mißerfolge in einem von ihnen alle anderen in Mitleidenſchaft ziehen.
Was zunächſt die Erziehung der Kinder betrifft, ſo ſagt man oft, daß der Einfluß
der Mutter während jener früheſten Jahre der herrſchende bleibt und unverwiſchbar
iſt; daß ſie mit dem Kinde tun kann, was ſie will, wenn ſie nur die Gelegenheit zu
benutzen verſteht. Später, wenn der Knabe zur Schule und zur Univerſität vor—
geſchritten iſt, zum Heer oder zu einem bürgerlichen Beruf, darf fie nicht erwarten,
noch viel Einfluß auf ihn zu haben, während auf der anderen Seite die Mädchen
ganz unter ihrem Einfluß bleiben, bis ſie heiraten. Mir ſcheint in dieſer Betrachtung
der Dinge viel Unrichtiges zu liegen. Der frühe Einfluß der Mutter auf ihre Söhne
mag unverwiſchbar ſein in dem Sinne, in dem die urſprüngliche Schrift eines Palim—
pſeſtes unverwiſchbar iſt; irgend eine chemiſche Verbindung mag ſogar eines Tages
ihre Lesbarkeit wieder herſtellen; aber wenn unterdeſſen die männlichen Einflüſſe von
Schule und Univerſität, von Kaſerne oder Bureau die Meinungen und Handlungen
des Knaben und des Mannes während der ganzen Zeit ſeines tätigen Lebens
beſtimmen, ſo kann die Mutter ſich kaum zu dem ſozialen Einfluß Glück wünſchen,
den fie durch ihre Söohne ausübt. Und andererſeits kann der Verſuch, ihren Einfluß
durch Ubertreibung und zu große Eindringlichkeit unverwiſchbar zu machen, oder dadurch,
daß Stufen ſeiner geiſtigen Entwicklung und Intereſſen vorweg genommen werden, die
nicht fo früh einſetzen können, nur cine Reaktion hervorrufen.
Was kann dann aber die Mutter ohne Furcht, ihren eigenen Zweck zu vereiteln,
verſuchen, um ihre Kinder für das ſoziale Leben zu erziehen?
Das Wichtigſte ſcheint mir zu ſein, die Gewohnheit der Selbſtverleugnung und
des Selbſtvergeſſens zu erziehen, die Rückſicht auf andere als eine Sache einfacher
Gerechtigkeit, tatkräftige Güte und Hilfsbereitſchaft, Heiterkeit als eine Pflicht gegen
andere, die Gewohnheit, niemanden, ſei er arm und gering, oder ſogar ſchlecht, mit
Verachtung zu betrachten; Höflichkeit und Achtung vor des anderen Rechten und
Neigungen, beſonders zwiſchen Brüdern und Schweſtern: das alles iſt eine gute
Grundlage und eine, die früh gelegt werden kann — ich möchte noch hinzufügen
Beſcheidenheit und Zurückhaltung und den Ehrgeiz, alles um ſeiner ſelbſt willen gut zu
machen, nicht um andere zu übertreffen. Das alles ſind keine geringfügigen Dinge,
ſie liegen an der Wurzel jener Fähigkeit, ſich ſelbſt in die Lage anderer zu verſetzen,
die das Geheimnis der ſozialen Gerechtigkeit iſt, und ſie ſind, in vielen Arten ſozialer
Arbeit, das Geheimnis des Erfolges.
732 Die Frau alS foziale Ergieherin.
Die gemeinfame Erziehung von Knaben und Madchen Fann cine gute Schule der
Gerechtigkeit und des gegenfeitigen Verftindniffed fein. Jedes follte angebalten werden,
die befonderen Vorzüge des anderen zu achten; jedes follte lernen, die befonderen
Pflichten bes Bruders ober der Schweſter zu erfiillen, „durch Liebe einander yu dienen”.
Cine wirkliche Kameradſchaft ywifeben Bruder und Schweſter bereitet wie nichts
anderes beibe vor, andere Männer und Frauen ju verftehen, und der Unteil der
Schweſter an der Geftaltung des weiblicen Ideals ibres Bruders ift eine Ver—
antwortung, die nicht ftarf genug betont werden kann. Den Knaben befonders follte
Achtung vor aAlteren Frauen gelehrt werden, wie iiberhaupt Rückſicht auf Wlter und
Schade. Man follte die Kinder ermutigen, fo viel als möglich, die Freunde ibrer
Eltern, Manner wie Frauen, als die ibrigen ju betracdten, fo gut fie junge Freunde
fiir fic) haben, damit fo ibr Ausblick ing Leben friih geiweitet und vertieft werbde.
Der Cinflug, den diefe Gewohnheit freimiitigen Verkehrs mit alteren Leute auf die
Empfinglicbfeit und auf die Intereſſenwelt junger Menſchen hat, auf ihr Verſtändnis
fiir da fojiale Leben, bem fie angebdren werden, und die Fähigkeit, fic ihm
anzupaſſen, iſt unſchätzbar.
Unſere Kinder ſollten auch früh in freundſchaftliche Beziehungen mit Menſchen
gebracht werden, die ihren Lebensunterhalt ſelbſt verdienen, und mit Arbeitern aller
Berufszweige. Sie ſollten Fabriken und Werkſtätten beſuchen, um die Stellen zu
ſehen, wo die Arbeit der Geſellſchaft getan wird, und die Menſchen, die ſie leiſten,
um etwas davon zu wiſſen, was der Daſeinskampf für dieſe Arbeiter bedeutet.
Alles das hilft dazu, unbewußt den ſozialen Sinn zu erweitern, ihm Tiefe und
Wirklichkeit zu geben. Es gibt dem Kinde einen Begriff von der weiten Mannig—
faltigkeit menſchlichen Weſens, menſchlicher Bedürfniſſe und menſchlicher Gemeinſchaften,
unter denen es zu leben hat, und es gibt Gelegenheit, die Idee einer weitreichenden
ſozialen Verpflichtung einzuflößen.
WViel kann aud dadurch getan werden, dah große Tagesereigniſſe im Familien—
kreiſe beſprochen werden. Für aktuelle Ereigniſſe, die ſich von Taq zu Tag in des
Kindes Umgebung entwickeln, wird faſt immer ſein Intereſſe erweckt werden können.
Richtige Ideale von der ſozialen Ethik, der inneren Vornehmheit, die wir von
Männern und Frauen im öffentlichen Leben verlangen, können ſo am ſicherſten und
natürlichſten eingepflanzt werden, zugleich mit dem Sinn für das, was recht und
billig iſt zwiſchen den verſchiedenen Klaſſen, zwiſchen Unternehmer und Arbeiter u. ſ. w.
Und dann ſollte von Zeit zu Zeit, ſowohl mit Knaben als mit Mädchen, in
ganz ruhiger Weiſe die Frage der Beziehungen zwiſchen Mann und Frau beſprochen
werden, das gegenſeitige Nehmen und Geben, die Gründe von Erfolg und Mißerfolg
in dem Beſtreben, ein reines und volles Glück durch gegenſeitige Hilfe und Kameradſchaft
zu finden, und, wenn ſie älter werden, ſollten wir ſehr ernſt und früher als die
meiſten Eltern von dieſen Dingen mit ihren Söhnen ſprechen — von der Ver—
antwortlichkeit der Manner reden fiir die Exiſtenz jener ſozialen Probleme, die fiir
junge Männer und Frauen jedes Alters ſolche furchtbaren Schwierigkeiten und
Verſuchungen in ſich ſchließen.
Viel hängt ſicherlich von der Art und Weiſe ab, in der dieſe Fragen berührt
werden. Es ſollte immer jartfiiblend geſchehen, immer mit dem Appell an das
Gerechtigkeitsgefuhl des Knaben. Die fittliche Reinheit, fiir den Mann fowobl als
fiir die Frau, follte friih in ihrer Wiirde der Jugend nabe gebracht werden, und
Die Frau ald fosiale Erzieherin. 733
glücklich iſt die Mutter, die ſagen fann: „ich verlange nur von dir, dab du bijt, tas
dein Vater gewefen ijt,” „ich möchte, daß deine Frau fo gliiclic) wird wie ic es
bin.” Sie darf ihrem Sohn auch nicht verbeblen — was er felbjt bald erjabren
wird —, dak das nicht das Gewöhnliche unter Männern ijt; aber fie fann ibm fagen,
dak einige der größten Manner dies Ideal aufgeftellt und erfiillt haben und dah jede
Generation gebildeter Diinner ihm näher kommen könnte — und vielleicht auch wirklich
näher kommt.
Iſt dies eine zu milde Form, dieſe Dinge zu behandeln? Würde nicht eine
leidenſchaftliche Anklage des Unrechts, eine begeiſterte Verteidigung des höchſten
Rechtes eindrucksvoller ſein? Es mag in manchen Fällen ſo ſein. Aber im allgemeinen
iſt es gut, daran zu denken, daß man in der ſittlichen Erziehung am weiteſten kommt,
wenn man wenig redet und viel dem eignen Nachdenken des Zöglings überläßt, und
daß es ſich weniger darum handelt, einen ſchnell verfliegenden Enthuſiasmus zu erregen,
ehe das wirkliche Leben mit ſeinen Verſuchungen überhaupt beginnt, als darum, die
Gewohnheit gerechter, ehrlicher und mutiger ſittlicher Cntfebliifie gu ſchaffen, die ſich
den Lebensproblemen, wie und wann fie fic) auch darbieten, gewachſen zeigt.
Vor allem fceint es mir widtig, die Kinder ju unſeren cigenen geiftigen
Gefährten zu machen — foweit das irgend möglich ift —, fie Schritt fiir Schritt ins
Vertrauen zu ziehen bei den Dingen, die uns felbjt innerlich beſchäftigen, das Ver—
baltnis zu ihnen zu einem höchſt natiirlichen und offenen ju machen, und wenn fie
alter werden, ihnen eber Fragen nahe ju legen, als fertige Anſichten über alles zu
bieten. Chen dadurch, daß allmählich das Verhaltnis der Eltern gu ibren Kindern
den Charafter geiſtiger Gemeinfdajt und guter Kameradſchaft anninunt, in dem die
Eltern fo gut von ibnen nebmen als ihnen geben, in dem jie verfuchen, die Gefichts-
puntte der jungen Generation ju finden und die Dinge fo anjufeben, wie fie ihr
erſcheinen müſſen, — nur auf diefem Wege dürfen die Cltern boffen, einen wirflichen
Cinfluj auf ibre Kinder zu bebalten, wenn fie in dad Leben Hinausgejogen find.
Glücklich ift die Mutter, deren bejte Freundin ibre eigene Todster ijt und die weiß,
daß ibre Söhne zu allen Lebenszeiten zu ihr fonumen werden, wenn fie in irgend einer
Schwierigkeit find.
* *
*
Es bleibt mir nicht viel Zeit, um über den Einfluß der Frau in der Geſellſchaft
zu ſprechen. Er iſt in unverantwortlicher Weiſe mißbraucht worden, und doch ſollte
jedes heranwachſende junge Mädchen darauf hingewieſen werden, dieſes ihr Königreich
yu verwirklichen. Denn die Geſellſchaft wird immer das fein, was ihre Frauen daraus
madden — cine Wabrheit, dic nur yu oft zugleich ein ernfter Vorwurf iſt. Es ijt in
der Tat etwas Schönes, in unferem eigenen geſellſchaftlichen reife cine Atmoſphäre
zu ſchaffen, die jeden, der fie atmet, beffer macht, und die in allen jungen Menſchen die
Hoffnung erwedt, einmal felbjt ein ſolches Heim yu befigen.
Und ſchließlich haben wir den Einfluß zu beriidfidtigen, den die Frau auf die
ausübt, mit denen fie in ihrer dffentlichen Tatigfeit in Beriibrung fommt. Aud bier
wird die Frau, die mit der einzigen Wbficht kommt, Cinfluk yu gewinnen und ibren
Einfluß durchzuſetzen, weniger erreiden, als die rubiqe und befonnene Frau, die nicht
durch ibre Nberjeugungen gezwungen it, fied felbjt immer im Recht und die andern
immer im Unrecht zu feben. Sie mag eine ftille Führerſchaft des Herjens und
734 Die Frau ald fogiale Erzieherin.
Gewijjens unter den Männern ibres Arbeitskreiſes ausiiben, von deren Macht vielleicht
weder fie felbjt nod die anderen cine volle Vorftellung haben. Cine „fortſchrittliche“
Frau yu fein — d. b. die Dinge in weitblickendem und fortſchrittlichem Geijte zu
erfajjen und ju beſprechen — und dod) dabei keinen aggreffiven Ton, ſondern aud
hier nur den Reig und Talt, die Verbindlichfeit und Unbefangenbeit der anmutigen
und liebenswürdigen Frau ju haben, das tit, fo weit unfer Wirken in unjerem alltiglichen
LebenStreife in Betracht fommt, die wahre Kunſt der Propaganda, und bei weitem die
befte Urt, die Frauen ju gewinnen, die oft ſchwerer zu befebren find als die Manner.
G8 ftellt ihnen cin Beifpiel vor Augen, deſſen Reiz fie empfinden und das fie willig
macht zu glauben, daß fo vertretene Anfichten gerecht und richtig find.
Die Beziehung, in die wir, bei unjerer Arbeit in der Wobhlfabrtspflege, mit den
öffentlichen Körperſchaften der verſchiedenſten Art gebracht werden, ift wieder eine
wichtige Gelegenbeit, unjere Grundſätze ju verbreiten und ihre Berechtigung zu jeigen.
Aber auch hier ijt unendlicher Talt notwendig. Wir müſſen offiszielle Grenzen
anerfennen, indem wir jugleid) Wohlwollen, Achtung und die Hilfe und Mitarbeit zu
gewinnen fuchen, die die Behirden unjerer eigenen Arbeit im Dienft des Ganjen
gewähren finnen. Wir müſſen ibnen begreiflich machen, dak wir gwar Enthuſiaſten
und Optimijten find, mit einem grenzenloſen Glauben an die Möglichkeiten der menſch—
lidhen Natur — und ftol; darauf find, uns fo yu nennen —, aber feine unwiffenden
Fanatifer. Wir können jeigen, dah wir unfere eigenen Grengen fo gut kennen wie
die ihren, dah wir gefonnen find, geduldig yu arbeiten an Reformen, die, wie wir
wiffen, nur febr allmählich fommen fonnen, und dah wir nicht erwarten, unfere
„Ewige Stadt” an einem Tage gu bauen,
Die Schwierigkeit dabei ijt, dah die idealiftifde Frau — und wir brauchen
idealiftifde Frauen —, geneigt ift, das taufendjabrige Reich fofort zu begebren, und
wenn fie es nicht baben Fann, fo erklärt fie dem ganzen gegenwärtigen Zuftande den
Krieg. Die Jdealijtin, die wir brauchen, ijt anderer Art. Ihr Haupt muh allerdings
unter den Sternen fein, aber ibre Füße auf feftem Boden, Sie wird nicht ibr altes
Haus niederreifen, ehe fie das neue gebaut bat. Cie Darf das Kleine, das heute
qetan werden kann, nicht verſäumen, indem fie verſucht, große Dinge gu tim, die erft
morgen geſchehen finnen. Cie weif, dah fie durch Weisheit und Liebe fiegen muß;
daß Weisheit befjer ift als Waffen, und daß Liebe immer das Größte in der Welt bleibt.
735
Pariser Wohlfahrtseinrichtungen.
Bon
Anna Plothoviv.
Nachdrud verboten. —
ie meiſten Fremden, die nach Paris kommen, kennen es nur als die Stadt
des Vergnügens, allenfalls als die Stadt der Kunſt und der Kunſtſammlungen,
der literariſchen Zirkel und Theater, der geiſtigen Anregung und der gelehrten
Gefjellfchajten, vor allem aber als die Stadt des Lurus und des geſellſchaftlichen
Glanzes. Wenige nur feben fic) die Fiille von ernjter Arbeit an, die in diefer Stadt
geleijtet wird, und nocd weniger lernen den barten Kampf ums Dafein fennen, den in
Der Riefenjtadt täglich Millionen von Exiſtenzen kämpfen.
Es ijt nicht immer dad bejte Nenommee, das die nur oberflächlich Zuſchauenden
von Paris und den Parifern, vor allem von der Pariferin dann überall in der
Welt verbreiten. Und docs hätten fie bei näherem Zuſehen aud) gerade bier recht viel
ernjt arbeitenden Frauen und bei dieſen wahrem Wobltatigteitsjinn und erwadendem
Solidaritatsgefiihl begeqnen können. Tatſächlich ift die Wobltatigkeit ſchon eine uralte
Parifer Cigenfcaft, die Angehörigen vieler religiöſen Orden wie die Mitglieder weltlider
Vereine haben fich ftetS die Fiirforge fiir die Armen jur Aufgabe gemacht. WAber vieles
daran war veraltet und unzulänglich.
Die Wohltätigkeit im modernen Sinne, die vor allem Wohlfahrtspflege fein,
deren Hilfe mebr vorbeugen als unbeilbare Schaden lindern will, dieſe nabm, wie mir
jceint, in Paris ihren Ausgang erjt von dem Jabre 1870/71. Diefe Zeit des Elendes
und Krieges, der Schreden der Kommune und des Kummers der nationalen Niederlage
wurde, wie öfters folche Seiten der Not fiir die Völker, auch fiir Paris cine eit der
jozialen Wiedergeburt und Erjtarfung. Wenn wir die Berichte der heute am
bedeutſamſten wirfenden Vereine nachleſen, fo finden wir es beftatigt, daß fie um jene
Seit oder bald darnach entftanden find oder wenigitens von damals an einen neuen
Aufſchwung nabmen. Da auch diefe Zeit zugleich die der Geburt der republifanifdsen
Verfaſſung war, mit der in Frankreich) die Trennung von Staat und Kirche begann,
fo ging jest auch die Woblfabrtsfiirforge mebr und mebr in weltliche Hände über
und wurde konfeſſionslos; wenigſtens macht die freie Armenpflege der firchlichen ftarfe
Konkurrenz.
Die ſtädtiſche Armenpflege (Assistance publique) gibt jährlich 56 Millionen Francs
aus, wovon die Stadt faſt die Hälfte zuſchießt. Sie erhebt den Zehnten von den
Einnahmen der Theater, Konzerte, Schauſtellungen.
Ihr unterſtehen 20 Krankenhäuſer, mehrere Altersverſorgungshäuſer, 5 Irrenhäuſer
und cin Findelhaus. Es werden jährlich 275 000 Perſonen unterſtützt, 165 000 Kranke
verpflegt, 43000 Kinder meiſt auf dem Lande unterhalten. In jedem der
20 Arrondiſſements beſtehen ein Bureau de bienfaisance und mehrere Hilfshäuſer.
Dennoch bleibt der Privatwohltätigkeit noch unendlich viel zu tun, denn wir
dürfen nicht vergeſſen, daß die ſoziale Geſetzgebung in Frankreich noch ſehr im
Rückſtande iſt.
Es beſtehen mehrere hundert teils kirchliche, teils weltliche Wohltätigkeitsvereine,
über 200 kirchliche Anſtalten für Waiſen, Kranke, Greiſe, Krüppel und Verlaſſene.
Auch haben die Fremdenkolonien Unterſtützungsvereine für ihre Nation. Die kirchlichen
Unterſchiede ſind in Paris, das in ſeiner Bevölkerung einen ſtarken Prozentſatz von
736 Parifer Wohlfahrtseinrichtungen.
Katholifen aujweift, größer als bet uns. Die ftreng firchlich gerichteten Katholifinnen
ſchließen fich gegen die von Proteftantinnen und Jiidinnen unternommenen BVeftrebungen
polljtindig ab. Cie nahmen deswegen auch nicht am Anternationalen Frauenfongref
pon 1900 teil.
Nicht fo groß ijt die Spaltung zwiſchen den politiſchen Parteien. Die Frauen
der verſchiedenen Richtungen arbeiten mit den Sozialdemofratinnen zuſammen; bejonders
fuchen die legteren bet Geldnot Anſchluß an die biirgerlichen Frauen. Die auf dem
Wobhlfhartsgebiet herrſchende Zerſplitterung fcheint mir durch die fonfeffionellen
Unterſchiede und die gleichlaufenden Bejtrebungen noc weit größer als bei ung zu fein.
Aus der Fiille der Pariſer Wohlfabrtsbejtrebungen fann ich natürlich nur einiges
herausgreifen, wie es denn auch nur ein fleines Teilgebiet war, in da8 ich bei meinem
Hujentbalt einen tieferen Cinblid gewinnen fonnte. Da find zuerſt die Cinridtungen
für die jungen Madchen, Es ijt allbefannt, dag das junge Madchen in Paris eine
wejentlich andere Stellung einnimmt als bei uns, daß diefe weit entfernt ijt von der
ſchönen Freiheit und Ungeswungenbeit des Verkehrs, welche moderne Anfchauung und
Erziehung in edlem Vertrauen der Jugend gewahren. Das junge Madden der hiheren
Gefelljchaftstreife wird in fajt klöſterlicher Abjperrung gebalten, es darf niemals allein
ausgeben, niemals allein Beſorgungen machen oder in Unterrichtsftunden geben.
Dadurch feheidet die junge Dame natiirlich von jeder Selbftbetitiqgung in der
Wobhlfabrtspflege aus. Solche fegensreichen Cinridtungen wie die ,, Madden: und
Frauengruppen fiir foziale Hilfsarbeit” mit ihrer fiir die Beteiligten fo febr erzieheriſch
wirfenden Arbeit auf den verſchiedenen Woblfabhrtsgebieten wire auf Parijer Boden
vorliufig nocd ganz undenkbar.
Wir begegnen aljo nur wobltitigen Frauen. Cin gitnftiger Zufall lies mic bei
einem Beſuch der Prajidentin eines der größten Wohlfabrtsvereine grade in eine Komitee-
jigung bineingeraten. Die Form war dabei weniger parlamentarifd) ſtraff und arbeitfam
niichtern als bei uns. Es war mehr ein swanglofes Kommen und Geben, eine Art
Empfang der Präſidentin, bei dem die Interna des Vereins verhandelt wurden und der
Dem und jenem Gelegenbeit zu einer fleinen, ſchwungvollen Rede bot. Tro’ der
eleganten, ein wenig oberflächlich erfcheinenden Form fonnte ich mich aber fpater über—
zeugen, daß in diefem Verein tüchtig gearbeitet wurde. Das meifte allerdings von der
hervorragenden Vorfigenden und ihren beiden Sefretirinnen. Neben den *o überaus
ängſtlich behüteten jungen Mädchen gibt es nun die große Zahl der jugendlichen
Arbeiterinnen, worunter ich in dieſem Sinne jedes einen Beruf ausübende Mädchen
begreife, gleichviel, ob es Lehrerin, Studentin, Künſtlerin, Buchhalterin, Verkäuferin oder
Arbeiterin in einem Atelier, einer Fabrik iſt.
Dieſe jungen Mädchen haben meiſt niemand, der ſie behütet; allein müſſen ſie
ihres Weges gehen, allein ihr Lebensſchifflein durch die brandenden Wogen ſteuern und
wollen fie anſtaändig bleiben und ihr Renommee wahren, fo zwingen die Verhältniſſe fie
erſt recht au einem abgeſchloſſenen Leben, zu äußerſter Zurückhaltung. In ſchrankenloſer
Ungebundenheit oder wie eine Nonne leben, dieſe beiden Wege gibt es nur für das
junge Mädchen in Paris, die geſunde, glückliche Zwiſchenſtufe Nott
Cinfichtige Frauen bemühen fic) neuerdings, diefe foziale Harte aussugleiden, und
die Einrichtungen zum Schutze und zur Fiirforge fiir die jungen Madchen nehmen einen
jebr breiten Naum in der Wohlfahrtspflege ein.
Klubs fiir Fabrifarbeiterinnen wie in London und Berlin erijtieren nods nicht.
Die ganze Jdee der Heime ijt nod) febr jung fiir Paris; friiher waren wobl die Klöſter
die einzigen fiir alle Swede dienenden Zufluchtsftitten.
Beſondere Heimſtätten fiir junge alleinftebende Madchen wurden Anfang der fiebsiger
Sabre von geiſtlichen Frauenorden in Paris cingerichtet. Das erjte Geim diejer Art
war das fiir junge Arbeiterinnen errichtete ,Maison de famille* im Klofter der
Religieuses de Marie-Auxiliatrice, in der Rue de Maubeuge 25. Es befteht nod
beute und fann bis 140 Penſionärinnen aufnehmen. Der Penfionspreis betragt
monatlid) 50—65 Francs. Ahnliche Anjtalten wurden auc) in anderen Teilen von
Paris errichtet.
Parifer Wohlfahrtseinrichtungen. 737
Für die berufliche Aushildung der jungen Madchen find von katholiſch-kirchlicher
Seite 18 Gewerbefchulen eingerichtet; 6 weltlicse dienen dem gleichen Bwed.
Von evangelifcher Seite ridtete die zur Zeit der Kommune im Vorort Boulogne
entftandene ,Mission Evangelique aux femmes de la classe ouvriére“
neben anderen Woblfabrtseinrictungen wie Arbeitsnachweis, Sparkaſſe, Volksbibliothek
und Miitterverfammlungen auc an den freien Donnerstagnacmittagen eine fogenannte
„Puppenſchule“ fiir die fcbulpflichtigen Madchen und Sonntagszuſammenkünfte für
jugendlice Arbeiterinnen, befonders Wafderinnen, ein. Es wird dabei wie in unferen
Marienbeimen vor allem das kirchlich-religiöſe Moment betont.
Religidfen Charafter tragt aud das gleidfalls fiir die Opfer der Rommune
geariindete ,Oeuvre de Belleville*, das Werf der treffliden, warmherzigen
Englinderin Miß J. de Bro€n. Es nimmt ſich in materieller und ſittlicher Hinſicht
aller Armen, gleichviel welchen Alters, Geſchlechtes, Standes und Glaubens an. Außer
einer Klinik, in der mehr als 24000 Perſonen jährlich freie ärztliche Hilfe finden,
einer Arbeitsſtube für beſchäftigungsloſe Frauen und einer Armenſpeiſung unterhält es
ein Waiſenhaus für 20 Mädchen, eine Fortbildungsſchule und eine gut beſuchte
Sonntagsſchule.
All dieſe Einrichtungen ſtellten aber doch nur vereinzelte und deshalb wenig
wirkſame Verſuche dar. Der erſte Verein, der ſich umfaſſend und ſyſtematiſch der
jungen Mädchen annahm, war der bekannte „Internationale Verein der Freundinnen
junger Mädchen“, deſſen Pariſer Sektion zuerſt eine Art Klub für die Verkäuferinnen
gründete. Bald wurde cine Bahnhofsabholung, ein Sonntagsheim für Alleinſtehende,
eine koſtenfreie Stellenvermittlung, eine Arbeitsſtube, ein Frauenreſtaurant und endlich
ein Heim hinzugefügt. Anſchließend daran wurde ein Klub gegründet, der ,Cercle
amicitia‘, der das gleiche Haus bewohnt. All diefe Stiftungen find jest in dem
neu erbauten Haus, Rue du Pare Roval 12, in der Nabe des Place de la Bajtille
vereinigt. Cs enthalt im Erdgeſchoß das nett eingerichtete Frauenrejtaurant und nad
dem ſchönen grofen Garten — defen Benugung ebenfalls den Bewobnerinnen fret:
jtebt — ju gelegen cin Unterbaltungszimmer, ein Leſezimmer mit reichbaltiger Bibliothek
und Zeitungen, ein Schreibzimmer, wo Studentinnen ungeſtört arbeiten fonnen. Die
Zimmer der Penjiondrinnen find gwar febr flein, aber gemiitlic& und bei aller Cin:
facbeit mit Geſchmack ecingerictet. Cin Zimmer koſtet mit erſtem Frühſtück monatlid
35 bis 45 Francs. Das Haus hat elektrijche Beleuchtung und Dampfheizung. Natiirlid
find bei dem fiir Paris außerordentlich niedrigen Preis die Zimmer ſchon immer lange
im voraus vergeben. Auch im Frauenreftaurant, das jeder anjtindigen Dame offen
jtebt, find die Preiſe mäßig; cin Frühſtück, unſerem Mittageſſen entſprechend, koſtet
komplett 1 Franc, mit Wein, Milch oder Kaffee 10 Centimes mehr.
Nur für Wohnungszwecke lehrender, lernender oder arbeitender Frauen iſt das
„Hotel meublé* auf dem äußerſten Montmartre, Rue des Grandes-Carriéres 37,
eingerichtet. Es bietet Raum fiir 120 Inſaſſen. Das ganze Haus ift bequem, bebagqlich,
mit einer bellen Farbenfreudigkeit eingerichtet und ſtrahlt förmlich von Sauberfeit. Cs
enthalt ebenfalls Speiſeſaal und Leſezimmer. Cin fleines Simmer in der 1. oder
2. Etage koſtet bier 30 Francs, cin Kämmerchen in der 3. oder 4. 18 Francs
monatlich. Ebenſo billig find alle Mahlzeiten. Es ift daber fein Wunder, dag trog
der etwas abgelegenen Lage auf der Hobe des Montmartre bier alle Zimmer ftets auf
Monate im voraus vergeben find. Cin zweites ,Hotel meublé“ ijt jest im Stadtteil
Ya Roguette im Bau begriffen, und die ,Société Philantropique“, der diefe Griindung
ibre Entftebung verdantt, will nad und nad in allen Stadtteilen von Paris gleiche
Häuſer fiir die arbeitende Frauenwelt errichten. Um untiebjame Clemente fern ju
balten, bat man eine etwas ftraffe Hausordnung eingericbtet, fiir deren Aufrechterbaltung
die Bewobnerinnen felber forgen müſſen. Conjt aber fragt man weder nad dem
@lauben, nocd nad) Stand oder Herkommen. Die Bewohnerinnen refrutieren fic aus
allen Standen. MNeben der beſſeren Arbeiterin, der Schneiderin, der Verfauferin findet man
aud oft Privatlebrerinnen, denn diefe find in Paris in ibrem Cinfommen oft weit ſchlechter
geftellt als cine einfache UArbeiterin. Dies Haus nimmt aud) Frauen mit Rindern auf.
47
738 Parifer Wobhlfabrtseinridtungen.
Ganz den Anterefjen der arbeitenden Frauen, beſonders der kaufmänniſch An—
qeftellten widmet fic) der ,Cercle du travail féminin“. Er bat fein Domijil
mitten im Herzen de eleganten Paris auf dem Boulevard des Capucines 35. Hier
finnen die Angeftellten der Gefchafte die Mittagspanfe, die freien Abendſtunden und
Sonntage aufs angenebmfte verbringen. Chine, elegant cingerichtete Raume mit der
Ausſicht in den Garten des Jockeyklubs fteben ihnen hier yur Verfiiqung. Neben dem
qrofen Salon befindet fic) cin Schreibzimmer und cine Bibliothek. Die Mablyeiten
fonnen die jungen Madchen in dem Tür an Tür grenzenden Frauenreftaurant des
»Yoyer de lOuvriére“ cinnebmen. Auger den gefelligen Sufammenfiinften an den
Donnerstagabenden und Sonntagen gibt es unentgeltlicde Fortbiloungs: und Unter:
rictsturfe fiir Deutſch, Engliſch, Franzöſiſch, Gefang, funftgewerblides Zeichnen,
Zuſchneiden, Mufit, Stenographie und Buchführung. Ferner erhalten die Mitglieder
in Rranfheitsfallen freien Arzt und Arznei, aud ijt fiir Ferienerholungsheime geſorgt.
Zwei angefebene Advokaten erteilen Rat in Rechtsangelegenbeiten. Cine CStellen-
vermittlung ijt im Entſtehen beqriffen. Wir ſehen alſo cin Pendant zu unferem „Kauf—
männiſchen Verein für weibliche Angeftellte” fic) entwickeln, das dank feiner energifden
Leitung den erfreulichjten Aufſchwung nimmt.
Der ,,Cercle” ijt von 10 Ubr Morgens bis 10 Ubr Abends geöffnet. Das regſte
Leben herrſcht natürlich zwiſchen 12 bis 2 Ubr. Hier ift das Pringip der Gegen-
jeitigfeit bereits am ſtärkſten entwidelt, und die Verwaltung de3 Klubs rubt in den
Handen von Frauen, die felber WUngejtellte find. Der Dabresbeitrag betragt 6 France,
die in Monatsraten gezahlt werden Foren.
Allen jungen Damen, die irgendwie als Angeftellte nach Paris geben, ijt der
Cintritt in diejen Klub dringend zu raten. Er ninunt fic auch der Intereſſen der
Atemden warmberzig an. An den Unterbhaltungsabenden am Donnerstag und an den
Sonntagnachmittagen finden fie hier geiftige Forderung und den in Paris fo ſchwierigen
freundſchaftlichen Anſchluß. „Wenn wir den Cercle nicht Hatten,” fagten mir ver-
fchiedene junge Damen, „würden wir uns nod viel vereinfamter bier fühlen. Gaſt—
freundjchaft fiir Fremde fennt der Parijer nicht. Wir leben hier ſchon vier, fünf
Sabre, ohne jemals Familienanſchluß gefunden ju haben. Die Parifer Familien Lichen
eS, Fetertage und Mufeftunden im Neftaurant zu verbringen; auch find die Wohnungen
jebr beſchränkt, das alles ſchränkt die Gaftfreibeit ein. Dann verfebren fie intim nur
mit Der eigenen Familie.”
/» Man veranftaltet uns aud) Tanzfeſte im Winter,” ſagte mir eine andere, „aber
natürlich find wir dabei ganz unter uns, Nie haben wir Gelegenbeit, Herrenbefannt-
ſchaften zu machen!“
Das iſt auch eine Kehrſeite des luſtigen Paris. Die unſchuldigen Jugendfreuden
ſind da ſehr ſparfam zugemeſſen!
Der Cerele iſt ae der erfte Verein, der mit anderen Woblfabrtseinrictungen
Fühlung ſucht und ju einer ganzen Anjabl ähnlich gericteter Beziehungen unterbalt.
Von dieſem ebenſo interfonfeffionellen wie internationalen Verein aus dürften fic) nod
einmal baltbare Faden zu unferen ſozialen Beftrebungen knüpfen laſſen. Zu feinen
Donatoren gebiren ebenjo die in der Woblfabrtspfleqe von Paris befannteften Manner
und Frauen wie die Cigentiimer der grofen Warenbhaufer.
Freundnachbarlich mit dem Cercle du travail féminin“ haujt das ,Foyer
de POuvriére*. Diefe Frauenreftaurants find fo nett und zierlich cingerichtet, dag
fie auch höheren Anſprüchen geniigen. Auf den tadellos gededten Tiſchen fteben Blumen,
die Wufiwirterinnen tragen cine febr Eleidfame Uniform. An der Kaffe fist cine Dame,
die dieſen Poften ebrenamtlich verwaltet und die Speijemarfen verkauft. Jedes Gericbt,
wie Brot, Suppe, Fleiſch, Gemüſe, Kompott wird einzeln berechnet. Die Küche ijt
qut, aber die Portionen find fleiner als bei ung, ſodaß fic) der Preis fiir ein Früh—
jtiid auf 60 bid 80 Pfennig ftellt. Bei legterem Preis find cin Glas Wein und cine
Taſſe Kaffee cingerechnet, die fic hier eben auch jede beſſere Arbeiterin leiſtet.
; Noch muß icy bier der jreundlichen Schoͤpfung Charpentiers, des Komponiſten
des Muſikdramas „Louiſe“, gedenken, des ,Oeuvre de Mimi Pinson“. Es vermittelt
Parifer Wohlfabrtseinridtungen. 739
Den jungen Arbeiterinnen den Befuch quter Theater. Täglich werden auf die ver:
ſchiedenen Parijer Ateliers cine Anzahl Billetts. verteilt und unter den UArbeiterinnen
verloft. Jede in die Liften Cingeseichnete kommt ein oder mebreremale im Jahre an
die Reihe und erhält dann 2 Billetts für fich und cin Familienglied, da die gute Sitte
verlangt, daß das junge Mädchen in Begleitung ins Theater gebe.
Ferner werden von diefem Oeuvre auch Liebbabertheaterauffiibrungen und ebrbare
Kränzchen veranjtaltct, wobet die jungen Madchen dann Gelegenbeit jum Tanzen haben.
Die, von denen ich bisher gefprochen habe, find die Glücklichen, es fd die, die
jung und gefund find und Arbeit haben.
Aber es gibt viel Elend in Paris, vom Unglück angefangen bis herab zur tiefiten
moraliſchen Verkommenheit. Nirgends habe ich das traurige: „J'ai faim“ ſo oft und
ſo herzzerreißend von blaſſen Frauenlippen hauchen hören, wie in den eleganten
Straßen von Paris.
Da ſind die unglücklichen Geſchöpfe, die aus St. Lazare und den anderen Frauen—
gefängniſſen entlaſſen werden, da ſind die ledigen Miitter, die Rerfiibrten und
Betrogenen und die ärmſten der Armen, die Obdadlofen.
Paris bat mebhrere ſtädtiſche Frauenajyle, doch dieje gewähren nur drei Nächte
Unterjtand. Da mußte denn PBrivathilfe eingreifen. Das ,OQeuvre des libérées
de St. Lazare“ nimmt fic) vornehmlich dieſer Frauen und Madden an. Es
unterftiigt die Frauen während der Schwangerſchaft, nimmt fich ibrer bei der Geburt
des Kindes an, unterftiigt die ledigen Miitter, bezahlt oft Miete fiir die Ungliidlichen,
{ijt ibre verpfandeten Sachen ein u. ſ. w. Bon dem fleinen, unſcheinbaren Bureau,
Place Dauphine 14, ſtrömt eine Fille von tätiger Nachjtenliebe, von Ermutigung und
Kräftigung aus, die ſich als cin rettender Damm ins Meer des ſozialen Elends
hineinſchiebt.
Die Seele des Unternehmens ijt die Präſidentin, die ehrwürdige Mme. Iſabelle
Bogelot, die dem vor dreißig Jahren gegründeten Verein ſeit langem vorſteht und
durch ihre raſtloſe Arbeit und unermüdliche Hingebung zur hohen Blüte verholfen hat.
In ihrer Perſon wurzelt zum großen Teil das Vertrauen, das die Regierung dem
Vereine bezeigt, und das ihm bereits amtliche Rechte erwirkt hat, wie die Auerkennung
der Pariſer Geſellſchaft, aus der heraus große Summen für ſeine Zwecke bereit
geſtellt werden.
„Ich habe dreißig Jahre lang über alle wichtigen Fälle, die durch meine Hand
gingen, Buch geführt,“ ſagte mir Madame Bogelot in einer Unterredung, „und an
der Schwelle des Greiſenalters ſtehend, benutzte ich die Muße des letzten Sommers,
um zu überleſen, was ich geſchrieben. Ich brauche nichts auszulöſchen; müßte ich
meinen Lebensweg noch einmal gehen, ich würde ihn ebenſo gehen.“ In dieſem ſtolzen
Selbſtbekenntnis liegt der Charakter der hervorragenden Frau, deren Weſen zu gleichen
Teilen Klugheit und Güte ausſtrömt. Unermüdlich hat ſie mit ihren beiden
Sekretärinnen und einigen Helferinnen die Gefängniſſe von St. Lazare und Fresnes
ſowie das Depot im Palais de Juſtice beſucht, unermüdlich ihren unglücklichen Mit—
ſchweſtern in den Gefängniſſen Troſt geſpendet. Den großen erzieheriſchen Einfluß
dieſer Frauen erweiterte die Regierung durch Gewährung von allerlei Rechten. So
vermitteln dieſe Frauen den Verkehr zwiſchen den Gefangenen und ihren Familien, ſie
erwirken ihnen die Erlaubnis des Briefwechſels mit Angehörigen und bahnen Ver—
ſöhnungen an. Cie unterſtützen die unglücklichen Geſchöpfe in der inneren Umkehr,
indem ſie ihre Verzweiflung löſen helfen. Sie nehmen ſich der hilfloſen Kinder und
Angehörigen dieſer Frauen an. Aber auc auf die Gefängnisſtrafe ſelbſt find fie von
Cinflug. Mit ibrer Hilfe breitet fich das in Franfreich cingefiibrte Syftem des Straf-
auffebubs und der bedingten Begnadigung immer mebr aus. Beide Kategorien Ver—
urteilter find ibrer Fürſorge unterftellt. Bei den erſteren tritt eine Beſtrafung nur
dann cit, wenn fie fic wabrend einer feftgefesten Frift einer neuen Verfeblung ſchuldig
maden; die Llegteren werden bei guter Führung vor Ablauf der Strafzeit aus der
Haft entlajjen, unter der Bedingung, daß der Verein Aufſicht und Berantwortung fiir
fie itberninunt. Unter der gleichen Borausfegung wird neuerdings vielen Angeflagten
47*
740 Pariſer Wohlfahrtseinridtungen.
die Unterſuchungshaft erfpart. Für alle diefe Frauen befigt der Verein cin cigenes
Ajol. Es ijt cin im Vorort Billancourt hübſch geleqenes Haus, in dem die aus dem
Gefängnis entlaffenen Frauen — haufiq mit ibren Kindern — nicht allein vorläufige
Unterfunft, fondern ein wirfliches Heim finden, bis fie imftande find, fic wieder
durch cigene Arbeit yu erhalten. Der Hauptteil der Arbeit des Vereins beginnt
natiirlicy mit der Rückkehr der Verurteilten in die Freibeit. Hier Hilft ein größerer
Kreis von Frauen, den Ungliidlichen Stellung und Arbeit zu vermitteln, die Kranken
in Hofpitdlern untersubringen, die Minderjabrigen Erziehungsanſtalten zu übergeben,
den ledigen Müttern die Sorge um ihre Kinder zu erleichtern, fiir die Erziehung der
unverjorgten Kinder einzutreten. Dank dieſes von perjinticer Fürſorge durchdrungenen
Schutzſyſtems ijt es miglich, cine große Anzahl entaleijter Frauen yu rebabilitieren,
betrogene, verzweifelte, in der Verzweiflung yu Verbrecherinnen gewordene Frauen in
geordnete Verhältniſſe zurückzuführen. Co ijt es mebr als einmal gelungen, aus Kindes—
morderinnen treue Dienjthoten und aufopfernde Pflegerinnen fremder Kinder zu machen.
Aber nicht alleim an der Vermittelung dauernder Stellungen, fondern auch an Che:
ſchließungen, bei denen fie als Tranjeugen figurieren, haben die Schugdamen Anteil.
Ihre wichtigite Arbeit ijt aber jedenfalls die bewabrende, durch die fie wanfende
Individuen, die nod einen Strafaufjdub erlangt baben, vor dem vollftdindigen Hinab-
gleiten ſchützen.
Cin Haus, von dem viel Segen ausgeht, ijt das „ODeuvre de Fhospitalité
du travail“, 52 Avenue de Berfailles. Es gewährt unterfdiedslos allen Frauen,
die obdachlos jind und ihr Brot durch Arbeit verdienen wollen, längeren oder kürzeren
Aufenthalt, Arbeit und vermittelt ibnen Stellungen.
Die Manner, die in einem gejonderten Haufe jenfeits der Straße wobnen, er-
halten 20 Tage, die Frauen 40 Tage freien Unterftand. Einzelne, befonders moraliſch
oder phyſiſch ſchwache Frauen bleiben monatelang, ja fogar abr und Tag dort.
Die Frauen erhalten die Schlafftitte in großen Salen und die Wäſche frei. Die
Mahlzeiten Finnen fie zu ſehr mäßigen Preijen aus der Kiiche entnehmen. Sie bezablen
fie von dem Gelb, das fie verdienen, dad gibt ibnen fofort einen moralijden Halt.
Ihr Tagesverdienft betrigt durchſchnittlich 1 Franc 50 Centimes (der der Manner
2—3 Francs). Mit guten Empfehlungen verſehen, hatte id das Vergniigen, von der
Oberin felbft empfangen und umbergefiihrt yu werden. Diefe mére St. Antoine ijt
ein weiblider Napoleon. Cine Matrone zwiſchen 50 und 60, in der Ordenstracht der
soeurs de Notre Dame de Calvaire mit einem Bärtchen auf der Oberlippe und
ftarfen, energijden Siigen, aber einem Augenpaar, aus dem lautere mütterliche Giite
ftrablt. „Mein Wablipruch ijt: Liebe und Gerechtigkeit, damit fomme ich gum Ziel”,
jagte fie mir, Die Faltchen in den Augenwinkeln bewiejen mir, dag fie die Klugheit
al drittes verſchwieg. Sie beſchäftigt die Manner mit Tiſchlerei und der Anfertiqung
von Poljterarbeiten, die Frauen mit Waſchen. Große Werkſtätten und gerdumige
Mobbelfpeicher geben Zeugnis von der Ausdehnung des Gefchafts. Ju der Tat ijt fe
Die Lieferantin der grofen Warenhäuſer.
Revolten unter den Arbeitern fommen nie vor, obwobhl die Werkmeifter friihere
Afvliften find. Manchen davon hat fie dem Leben juriidgewonnen. ,,Seben Sie,“
fagte fie, heimlich auf einen hübſchen Burſchen zeigend, der eifrig an einem Salontiſch
polierte, „das war ein arger Trunfenbold, als er yu uns fam. Aber feit Jahr und
Zag Halt er ficd gut. Und nun wird er eins unferer Madchen bheiraten, glaube ic,
id) babe gejeben, dak er cin Auge auf fie geworfen, und fie ijt ibm aud gut Ich
forge dann fiir die erjte Cinrichtung.” Und fie lachte ſchelmiſch über ihr breited,
rotes Geſicht.
Die Waſchanſtalt verſorgt einen großen Teil von Pariſer Haushaltungen mit
ſauberer Wäſche. An den verſchiedenen Abteilungen der Wäſcherei finden alle weiblichen
Arbeitskräfte Verwendung. Nonnen leiten die verſchiedenen Reſſorts des Waſchens,
Trocknens, Legens, Rollens, der einfachen und der Glanzbügelei, der Kunſt- und
Spitzenwäſche, des Ausbeſſerns und Stopfens. Jede Arbeit iſt in einem beſonderen
Pavillon untergebracht; die in Gärten gelegenen Räume ſind hell, hoch, luftig. Jeder
Parijer Woblfabrtscinridtungen. 741
Urbeitsraum ijt mit den beften und modernfien maſchinellen Einrichtungen zur Er—
leichterung der Arbeit ausgeftattet.
Ich erinnere mic) beſonders des Bügelraums — welche Phyſiognomien fah ich
da! Gefichter, in die bundert Erlebniffe ibre Spuren eingedriidt, bis das Elend fein
graues Tuch dariiber breitete, weiße Hände, die nie wirklich gearbeitet Hatten und fic
nun mitbten, es dennod gu lernen!
Im Jahre 1902 waren in diefem Aſyl 3754 Frauen und 1315 Manner; erftere
leiſteten 48 802 Arbeitstage, letztere 18059. Ahnlichen Sweden, wenn auch in febr
befcbeidenem Mae, dient dad , Asyle temporaire protestant pour femmes“,
48 Rue de la Villette. ES nimmt nur Frauen auf, fiir die ein Wobhltater einen
Teil der Unterhaltungsfoften dect. Das iibrige müſſen die Afyliftinnen durch ibre
Arbeit hingu verdienen.
Von den zahlreichen Maternités® ift die befteingerichtete die Der Assistance
publique in der Rue port royal.
Das neve Haus, in dem fic) auch eine Hebammenfebule befindet, ijt mit allen
neuften hygieniſchen Erfindungen ausgeltattet. Die Operationszimmer, die Gebärſäle
und die Kranken- und Schlafſäle find bod, luftiq mit einem gewiſſen Romfort, zu dem
id) auch die lichte Farbenfreundlichfeit rechne, eingerichtet. Tberall in den Korridoren,
in den Wobhngimmern find Stander mit lebenden Pflanzen und bliibenden Blumen
aufgeitellt. Das ſchien mir ein ſehr pafjender Schmuc und eine ſeeliſche Medizin fiir
die arnten Frauen, denen die Mutterfchaft nur Not und Sorge bedeutet.
Die meijten find natürlich ledige Miitter, aber wie mance fagte mir: „Wir find
fo gut wie verbeiratet, aber die Schwierigkeit, in Paris eine Exiſtenz yu erringen, bat
uns bisher gebindert, unjern Bund legalifieren ju laſſen.“ Sebr interefjant ijt der
Saal der Couveufen. Yn diefer Brutanjtalt fanden ſich Dubende Fleiner Kinder. In
Frankreidy, wo die Kinder feltener find alS bei uns, bemüht man fic anſcheinend
cifriger, die fleinen voreiligen Gefchopfe, die gu friih ans Licht drangten, am Leben zu
erhalten.
Für unfere Auffaſſung fonderbar ift es, dah in der Hebammenfdule junge
Madchen von 19 Qabren fiir diefen fehwierigen Beruf ausgebildet werden.
Cine Mujteranjtalt ijt die evangeliſche Diafoniffenanjtalt in der Rue de
Reuilly, der die ausgezeichnete Mille. Monod als Chrenpriijidentin vorſteht. Sie umfaßt
cine Diafonijfen-Lehranftalt, eine mufterbaft eingeridtete Frauen: und Kinderflinif, eine
»Hcole correctionelle* und eine ,, Ecole pénitentiaire’, etwa unjerer Zwangserziehung
und dem Magdalenenbaus entfprechend.
Für die Zöglinge diefer beiden WAbteilungen ift auch eine Elementarfeule im
Hauſe. Die Ecole correctionelle ijt eine Erziehungsanſtalt mit ftrenger Hausordnung.
In den Freiftunden fpielen die Zöglinge im Anjtaltsgarten und machen auch mit den
Diafoniffen weite Spagiergdnge ins Bois de Bincenne. Die Inſaſſen der Ecole
pénitentiaire Diirfen während der vom Richter vorgeſchriebenen Zwangserziehung das
Haus nicht verlajen. Sie ſchlafen auch nicht gemeinfam in Salen, fondern in ver-
ſchloſſenen Einzelzellen. WLS ich mir eine folche Belle aufſchließen ließ, war ich aber
angenebm überraſcht. So einfacd die Cinridtung war, hatte fie doch nichts Gefängnis—
haftes. Außer Bett, Stubl und Kleiderviege! gab es da einen jierlichen Waſchtiſch und
daritber cin Wandbrett mit Nippes, Photographien, Bildern, ja einigen friſchen Blumen
in einer Vaſe. Man lies alfo den jungen Biigerinnen etwas Freude an hübſchen
Dingen. Und mit echt franzöſiſchem Geſchmack nutzten ſie dieſe Erlaubnis aus und
brachten den Schleifenſchmuck, der ihnen ſelber unterſagt war, an ihren Nippes, ja ſogar
am Henkel des Waſſerkrugs an.
Nach beendeter Strafzeit bringt man die Zöglinge fern von Paris in ländlichen
Dienſten unter und macht recht gute Erfahrungen damit.
Ein „Beſſerungshaus fiir verwabhrlofte israelitiſche Madden” befindet
ſich in Neuilly, ein „ Homeé israelite francais* 38 Rue de fa Tour d'Auvergne.
Die ,Ecole Bischoffsheim*, 13 Boulevard Bourdon, nimmt 12—15-
jabrige Mädchen fiir 3-5 Fabre auf, gibt ibnen eine gewerbliche, fommersielle oder
742 Parifer Wohlfahrtseinrichtungen.
Lehrerinnen-Aushildung. Sie hat viele ausländiſche Schülerinnen aus Konſtantinopel,
Adrianopel, Tanger, Tunis, Veyruth, Damaskus u. fj. w. Nach ibrer Ausbildung
Febren dieſe Madden in ihre Heimat zurück und wirken dort als Lehrerinnen und
Rulturtrdgerinnen.
Damit waren wir beim Studium angelangt und id) michte vor allem das Heim
der deutſchen Lehrerinnen in Paris, 8 Rue Villejult, erwähnen, das der Anhalts-
puntt aller deutſchen Lehrerinnen ijt, die fic) ftudierendhalber in Paris aufbalten.
In dem behaglich eingerichteten Heim finnen Mitglieder des Bereins Deutſcher
Lehrerinnen in Frankreich (jede Lebrerin fann Vereinsmitglied werden) voriibergehend
volle Penfion finden, deren Preis wichentlih nach Lage des Zimmers 23 Francs bis 25 Francs
50 Centimes betrigt. An dem Mittagstiſch können fich aud) Auswärtswohnende beteiligen.
Der Verein unterhalt Sprechftunden fiir Raterteilung, eine Stellenvermittlung und Ferien:
furje im Franzöſiſchen; ebenſo hat er Vorbercitungsturje fiir das Sprachlebrerin-Cramen,
die Ddreiviertel Sabre dauern und mit einer Priifung ſchließen. Auch Penfionen fiir
Externe vermittelt der Verein.
Ahnlichen Studiensweden dient die ,Guilde internationale“, Rue de la
Sorbonne 6. Witten im Quartier latin, dict bei der Sorbonne und dem College
de France gelegen, will fie den nach Paris fommenden Studentinnen, fei e3 welder
Nationalitdt immer, einen Mittelpunkt und Rückhalt gewähren. Cie veranftaltet in
ibren Räumen felber Jahreskurſe fiir franzöſiſche Sprache, Gefchichte, Literatur und
Sozialwiſſenſchaft, die mit einem Eramen abſchließen, das bereits von der engliſchen
Regierung anerfannt wird, und Ferienfurje von Juli bis Oftober fiir Auslinderinnen,
die nur ibre Kenntnis des Franzöſiſchen ertveitern wollen. Sämtliche Rurje werden
von Univerfititsprofefforen geleitet. Außerdem fteht es den Teilnehmern frei, die
öffentlichen Vorleſungen der Sorbonne yu befuchen.
In der ,,Guilde” finden die Mitglieder einen den ganzen Tag gedffneten Arbeits-
faal, einen Speiſeſaal, in dem fie Friibjtiid oder Tee erhalten finnen, einen
Ronverjationsfaal und endlich Räume fiir die Unterridtsftunden und Vortrage. Das
Wichtigite fiir die Studentinnen aber ijt das Austunftshureau, in dem fie über alle
ibr Studium, ihr geijtiges und materielles Wohl betreffenden Fragen die weitgehendjte
Auskunft erhalten fonnen. Penfionen werden von hier aus verimittelt, auch ijt ein
fleine3, von der Sekretärin der Guilde geleitetes Penjionat im Hauſe felbjt, in dem
etwa zwölf Damen Aufnabme finden fonnen. (Penfionspreis 150 bis 200 Francs
pro Monat.) Weitere Studiengelegenbeiten bicten die von den Pariſer Hochſchul—
profefjoren veranjftalteten Unterrichtskurſe der „Alliance française“, die ebenfalls Fremden
zugänglich ſind und nach zweimonatlicher Dauer mit einem Examen abſchließen.
Auch eine „Volkshochſchule“ iſt in Paris neuerdings eröffnet worden. Es
iſt die „Dniversité populairé“ in Belleville, über deren Wirkſamkeit id von
Anton Nyſtröm, dem Gründer der Volkshochſchulen in Schweden, viel Rühm—
liches hörte.
Dieſe Überſicht über Wohlfahrtseinrichtungen in Paris macht durchaus keinen
Anſpruch auf Vollſtändigkeit, ſie iſt nur ein kleiner Ausſchnitt aus dem reichen
Betätigungsgebiet der Nächſtenliebe. Und wenn die Verhältniſſe dort zum Teil anders
liegen als bei uns, wenn eine faſt zweitauſendjährige Kultur manche Roheit und
Gemeinheit, unter der wir leiden, abgeſchliffen hat, wenn dafür häßlichere Laſter,
tiefere Entartung, größerer Leichtſinn und wildere Leidenſchaft an der Tagesordnung
ſind, fo iſt der Wille yu helfen und die warmherzige Nächſtenliebe an der Seine dieſelbe
wie an der Spree. Die ſtete Sunahme der Veranjtaltungen fiir die Jugend beweiſt,
dak man aud dort einſieht, daß ſtark machen beſſer ijt als Wunden beilen.
743
Vom Sfudium dep Persdnlichkeif.
Bon
Elfe —
Radbrud verboten. — —
achdem jahrzehntelang das Studium der unperſönlichen Gewalten, der Natur—
geſetze und phyſikaliſch-—chemiſchen Kräfte im Vordergrund der Betrachtung ge⸗
ſtanden hat, nachdem ſelbſt die Geſchichtsforſchung ſowohl die Ereigniſſe als die
handelnden Perſonlichkeiten aus dem Zuſammenwirken ethnologiſcher, ſoziologiſcher,
geographiſcher und räumlicher Faktoren reſtlos zu erklären ſuchte, hat man gegenwärtig
mit einer entſchiedenen Schwenkung ſein Hauptintereſſe wieder der Perſönlichkeit zu—
gewandt. Die Pſychologie iſt, wenn nicht ſchon die führende, ſo doch die grundlegende
Wiſſenſchaft; die Seelenkenntnis das Haupterfordernis für den Menſchen, der ſich im
Leben zurechtfinden will; die wahren Werte des Lebens wie auch ſeine dunkelſten Ratſel
ſind nur in der Innenwen zu ſuchen und zu finden.
Wie das gekommen iſt, daß wir die letzten Ziele unſeres Beobachtens und
Forſchens nicht mehr in das blaue Dämmer des Alls hinausverlegen und ſie auch
nicht mehr im Lebensprozeß des Protoplasmakügelchens aufſuchen? Es ſind ver—
ſchiedene Strömungen im Geiſtesleben, die darauf hingearbeitet haben.
Mit den Rätſelbeſtänden der Welt aufzuräumen, das war weder Karl Marr
noc Ernft Häckel famt ibren bedeutenden Vorarbeitern und Nachfolgern verginnt, tro
all ihres Gejege aufſpurenden Scharfſinns. Aber was ſie nicht wollten, das wirkten
ſie; denn gerade die Entwicklung des Denkens, die darauf hinführte, in der Welt ein
Ganzes mit unterſchiedlichen Kräften zu ſehen, hat dazu geholfen, auch den Menſchen
als ein Ganzes zu erfaſſen und all ſeine hinausprojizierten Gaben, Kräfte, An—
ſchauungsformen wieder in ihn hineinzuverlegen. In ſeinen Sinnen liegt die Schönheit
der Welt, in ſeinem Denken ihre Rätſel; auf den Widerſprüchen ſeines Seelenlebens
beruhen die Gegenſätze der Außenwelt; die allergrößte Menge der beſtimmenden Ur—
ſachen und zugleich die Fahigkeit zur Veherrſchung und UÜberwindung der Natur liegen
in un — der Kosmos fonunt erjt in zweiter Linie, in erfter Limte gehen uns die
ſeeliſchen Nrafte etwas an. Was ſich in Nonen entwidelt bat, was in Taufenden
von Jahren vielleicht auf unſerem Planeten erfolgt, das bat feine nahe Besiehung zu
und. Die Leiden des Lebens werden uns immer auf uns ſelbſt zurückwerfen, an unfer
Innerſtes verweijfen und dort fangen die Rätſel wieder an; da Hilft uns feine Welt-
anſchauung — wir müſſen mit dem Ich fertig werden. Die rechte Weltanſchauung
beginnt erft mit der Selbjterfenntnis.
Für eine tiefere Anſchauung der Innenwelt bat auc) die neuere Literatur gewirkt,
nicht sulegt die Franendichtungen, weil der Frau das Intereſſe am Perjontlichen
befonders nabeliegt. Sa felbft der Franfhaft nervöſe Zug an unferer Lyrif, Dramati€
und Romanſchriftſtellerei, der ſich in der ſubtilſten Analyſe aller Nervenſchauer und
Blutwallungen, in der feinſten Unterſcheidung mattſchillernder Empfindungen kundgibt,
alle die modernen Selbſtzerfaſerungen haben mitgeholfen, daß das weite Ausmaß, die
Tiefen und Untiefen der Menſchennatur neu entdeckt wurden. Nun ſtehen auch die
Helden der Vergangenheit, die Gottmenſchen, die genialen Naturen, die Kunſtler in
anderm Lichte vor uns. Heldenverehrung hat einen neuen Sinn erhalten. Vielleicht
dürſtete man noch nie ſo ſehr nach dem Anblick großer Menſchen wie heute, wo nicht
mur das bürgerliche Leben, wo auch die hochmütigen Gleichmachereien dev Kleinen,
744 Vom Studium der Perfinlichfeit.
Engherzigen, Chrfurdhtslofen die ganze Menfchbbeit herdenmäßig nivellieren möchten.
Wohl ftehen Helden und RKiinftler nicht mehr in gitterhafter Pofe vor uns, aber es
find Menjchenbriider, die fic) durch Weite, Größe, Tiefe ihres Erlebens durdaus vom
Durchſchnittsmenſchen unterjdheiden. Das Genie, das höchſte Naturerzeugnis, wird
gum Beherrſcher und Verklirer der Natur, und der Held ift fein blokes Ergebnis
geſchichtlicher Komponenten, fondern er macht Gefdichte. Religion, Kunſt, Rultur,
Politit erſcheinen uns als Gewebe von Lauter Perjinlicfeit.
Es ift richtig, daß „der Menſch nur durch menfchlidhe Gemeinſchaft gum Menſchen
wird”, doch wird er es vor allem durch die Gemeinſchaft mit den Groen und Über—
ragenden. Lernen wir uns felbft und unfere Rleinbeit erfennen und wir werden ihre
Größe begreifen. Lernen wir unfere Hilflofigkeit fihlen und wir werden ibre Kraft
verebren. Lernen wir e3, unfere Blindbheit zu beflagen und wir werden ihren Klarblic
bewunbdern. Letnt es, dak ibr Kinder feid und ihr werdet die Reifjten und Reinften
zu euern Lehrern und Fithrern madjen!
In folder Stimmung pilgern fo manche wieder zu den erbabenen Geftalten der
Religion, Kunft und weltlichen Geſchichte. Der Biichermarft ijt heute überſchwemmt
mit saat eth bedeutender Perfinlichfeiten. Aber wenig Biicher diirfte es geben,
die in fo knapper, durchſichtiger Darftelung, mit den Mitteln eindringlicher Menſchen—
fenntnis einen wabren Feſtzug groper Perſönlichkeiten an uns vorbeiziehen laſſen wie
das neuerfchienene Buch von Dr. Robert Saitfdhid: „Menſchen und Runft der
italienifden Nenaifjance.“') Burfhardts „Kultur der Renaiſſance“ ftellt ein
individualiſtiſches Zeitalter unter den folleftivijtijden Gefichtspunft und wird fic mit
diejer fein durchgeführten Geſchichtsauffaſſung immer als ein klaſſiſches Werf einer
beftimmten Zeit, eines beftimmten Anſchauungskreiſes ausweiſen. Saitſchicks Buch ijt
ein Prodult unjerer Zeit, unferer Betrachtungsweife. Es enthalt in der Hauptſache
-Seelenfchilderungen.
Der Verfaſſer Halt e3 fiir die erfte Bedingung der Menfchenfenntnis, obne fein
Yeh, d. h. ohne die Belaftung mit perjonlicher Voreingenommenbheit oder mit Theorien
und Idealen an einen Andern bheranjutreten. Dadurd wird es ihm möglich, zu
urteilen ohne jemal3 abzuurteilen, obne an fremde Art den Maßſtab der eigenen Art
oder eines Schemas ju legen. Cr bemüht fich, wie er felbjt im Borwort fagt, die
Abftufungen in der Wertſchätzung der Menſchen, die das moderne Empfinden leider
faum ate fennt, aud) durch ein richtiges Nuancieren der Worte, durch den bezeichnend—
ften Ausdruck deutlich zu machen. So bleibt er ,der falſchen Begeifterung, der
fliichtigen Smpreffion” fern. Cin Wiffen wie das feine erfliigelt und erlernt man
nicht, man erlebt es. Dah der Verfaffer fähig ijt, uns die weiteften Nberblide über
die Welt des Annern yu vermitteln, das danfen wir der Spanniweite feiner eigenen
Natur. Der Lefer hat das Gefiihl, dak die verfchiedenen Pole des Erlebens mit ihren
iiberfpringenden Funken, dak zwei Seelen in ibm wohnen und durch ewigen Kampf
und Austauſch feine Selbjterfabrung fortlaufend erweitern.
Vor allem befigt der Verfaffer die Fähigkeit, fic) in den gebeimnisvollen Mittel-
punkt einer fremden Perfinlichfeit bineinzuverfegen und von dort aus, wo das Lebens-
feuer lodert, das ganze Wefen zu durchleuchten. Er gibt uns feine Zufammenftellung
eingelner Wefensfeiten, keine vorbedachte Verteilung von Licht und Schatten, fondern
ein fchauendes Crfaffen der runden und bewegliden, bunten und widerfprudsvollen
frembden Welt, deren Leben und Schaffen aus dem ewig verborgenen Heiligtum der
Seelentiefe bervorquillt. Mit wenig feften Stricken zeichnet er den angeborenen
Charafter, an welchem das Schidfal nur die Belebungsarbeit vollbringt, die Pygmalion
an @alathea vollbracdte. Der Verfaffer enthiillt das Ewigkeitsgeſicht und auch die
Alltagsmaske des Menfchen, und trogdem er am Liebjten die tiefften Regungen erforſcht,
hat er dod einen fo bellen Blid fiir die Oberfläche des Lebens, dah ſich feine
Schilderungen ausnehmen wie Beridte eines eitgenoffen, der mit allen intimen
Einzelheiten der Schidjale, Beziehungen und Yntereffen feiner Helden befannt ijt. Es
1) Berlin. Ernſt Hofmann & Co.
Vom Studium der Perſönlichkeit. 745
ift, als hatte er felbjt mitgefponnen an dem Ranfenwerk von Anefdoten, womit der
Plaudergeift eines lebhaften Volkes bedeutende Perſönlichkeiten erfinderiſch umflicht;
obwohl aber ſeine Phantaſie all' die vorüberfliegenden Zeitſtimmungen und Seelen—
ſtimmungen wieder heraufbeſchwört und ſie uns miterleben läßt, wird das künſtleriſche
Naturell des Verfaſſers doch von ſtrengem Forſchergeiſt gezügelt.
Vermittelſt umfaſſender und gewiſſenhafter Quellenſtudien iſt der Verfaſſer im—
ſtande geweſen, jede Einzelheit, jedes Requiſit der im I. Bande entworfenen
Bilder, all die Schilderungen und Charakteriſierungen auf verbürgte und wohl—
verbriefte Außerungen zu ſtützen. In den Regiſtern des Ergänzungsbandes tritt uns
eine Fülle von Gelehrſamkeit entgegen: die Belegſtellen und Beglaubigungszeugniſſe
dort ſind ebenſowohl aus dem Briefwechſel, der Memoirenliteratur und den Original—
werken zeitgenöſſiſcher Perſönlichkeiten hervorgeholt worden, als auch aus literariſchen
Dokumenten ſpäterer Zeit und aus kunſt- und perſonalhiſtoriſchen Werken derjenigen
europäiſchen Gelehrten, die ſich mit der Kunſt und den Menſchen der Renaiſſance
befaßt haben. Auch befindet ſich in dieſem Bande neben der ausführlichen Bibliographie
ein Verzeichnis der Werke aus dem Renaiſſancezeitalter nebſt Angabe ihrer Entſtehungs—
zeit und ihres jetzigen Aufbewahrungsortes.
Wenn der Ergänzungsband ein ſchätzbarer Führer für diejenigen iſt, die gelehrte
Studien treiben wollen oder ſich für die ſeltenen und wertvollen Zitate (zumeiſt in
italieniſcher Sprache) intereſſieren, fo ijt der J. Band mehr fiir ſolche beſtimmt, die, mit
vpſychologiſchem Verſtändnis begabt, fid) an künſtleriſch entworfenen Seelenbildnifjen
erfreuen und ihre LebenSfenntnis dadurch bereichern wollen. Den Frauen find
befonders die Lichtvollen Charafterfdilderungen der Künſtler zu empfehlen. Dem mit:
fiiblenden Auffaffen des weiblichen Geiftes erſchließen ſich Seelengeheimniſſe ja leichter
und vollftindiger als der verſtandesmäßigen Forfdung — iſt doch die Frauenfeele
pon jeber raſch in Fühlung getreten mit allem, was groß und erhaben werden wollte.
Um das Grofe frühzeitig in feinem Wert gu erfermen, dazu gehört ein gang feiner
Kulturinftinft, der mütterlich veranlagten Frauen eigen ijt und den fie in fich
pflegen müſſen.
Was fiir ewig in die Kultur der Volker iibergeht, das ijt nach Goethes Wort
nur das Beifpiel der großen Perfinlichfeit; lebendiq wird eine Kultur erft dann, wenn
fie fic) um grofe Seelen berumgruppiert, Seelen, die wie die Welteſche der germaniſchen
Mothologie aus dem Erdmittelpunkt aufwachfen und ibre ewighliibende Krone über
alle Natur erheben und ausbreiten. Dieſe Seelen haben uns die einzige Wabr-
heit gegeben, welche wir feft in Handen halten: die Lebenswabhrheit, die Crfenntnis
defjen, was Wert und Unwert im Leben hat, und fie haben uns Ziele gefest, an denen
fein Menſch und fein Kulturzeitalter nichtachtend voriibergeben darf. Jn Zeiten, wo
der Fraueneinfluß fic ſtärker fühlbar gemacht bat, find dieſe Ziele immer deutlicher
ſichtbar geweſen als dann und dort, wo Herrſchſucht und Gewalt, Berechnung und
Krämergeiſt, Chrfurchtslofigteit und Nivellierungsfudst die Oberhand gewannen. Um
die verwirrten Begriffe über das ju klären, was wir im Leben erſtreben follen, ijt es
gerade heute wieder notwendig, daß Frauen fic dem Studium grofer Menſchen, der
Betrachtung wabrer Seclengréfe und getwaltiger innerer Erlebniffe hingeben. Denn
notivendiger als die Erzeugung wirtſchaftlicher Werte ijt heutsutage die Erzeugung und
Pflege eines neuen Idealismus.
Solchen Cuchenden, die das Führen erlernen möchten, bietet das Buch von
R. Saitſchick febr viel. Und fie werden nicht ohne beife Anteilnahme leſen können,
wie der Verfaſſer beifpielsweife die Koloſſalnatur Michelangelos fehildert, mit ihrem
ungebeuren inneren Reichtum und dem grofen Wollen, das wie auf Sturmivolfen
fernen, höchſten Zielen nachjagte, wie er fich in die Seelenreinheit des Fra Angelic
vertieft oder die gebeimniasvolle Seelenwelt de3 Botticelli und Leonardo da Vinci nach
allen Richtungen durchſtreift.
et
746
— — Mariann. —
Roman
von
Touiſe Schulze-Brück.
Raddrud verboten. ———
6,
D. Ullerfeelentag war falt und triibe.
Gin fdneidender Nordiwind wehte und einzelne
Schneeflocken jagten den Frommen ins Gefidt,
die aus der dunftigen Kirche in die friibe
Diimmerung des Novembertages binaustraten.
Drinnen fangen fie die letzten Pſalmen der
Totenvesper, Dann ftimmte der Chor auf der
Orgel bas ,,Dies irae an. Der Lehrer war
ftolg auf dieſe Leiſtung ded Gefangvereins.
Madtvoll dröhnte 3 ben erfichiitterten Seelen:
,,Dies irae, dies illa, solvet saeclum in favilla,
Teste David cum Sybilla.“ — —
Um den am Hodaltar aufgeridteten
Ratafalt brannten hohe Wachskerzen mit röt—
lichem Licht. Der Paftor in dem ſchwarzen
Trauermante! ftand mit dem Weihwedel bereit,
Prozeffion nad dem Kirchhofe.
Langfam bewegte fic der Sug durch die
Dorjftrake. Die Angebsrigen der frommen
Briiderjdhaften trugen brennende Wachslkerzen
in ſchwarzen Hiilfen, die gelb im grauen
Novembernebel fchimmerten. Die Manner
waren in Langen, ſchwarzen Roden und
fuchſigen, altmodifden Zylinderhüten, die
Frauen in Trauertüchern und jahrealten Trauer-
hüten. Eintönig beteten ſie, — immer wieder
bas Ave Maria, nur unterbrochen durch die Bah:
jtimmen der Manner, die dann wieder von den
bellen Frauenftimmen abgeloft wurden.
Giner der letzten in der Männerreihe der
Briiderfhaft war Chriftian, Cr ging mit
gefenttem Ropf, das Flambeau, die Lichthiilfe,
ſchien in feiner Hanb. gu zittern.
=H,
|
(Schluß bon Seite Ges.)
Faſt unmittelbar binter ibm fam Mariann!
Sie mute ibn immerju anfeben. Wenn er
ben Kopf cin wenig wendete, fab fie, wie alt
ct geworden war, wie vergrämt er ausſah.
Gar nicht wie ein junger Mann, der er doch
noch war, kaum vierunddreißig. Er hatte in
den letzten Wochen Schweres durchgemacht.
Die Lena hatte fic dod ſchwer erkältet damals
auf bem Rirchbofe und das Kind aud. Den
zweiten Tag darnach mubte nod in der Nacht
ber Doktor gebolt werden, weil das kleine
Madden in Exftidungsnot war und die Mutter
im Fieber lag. Zwei Tage lang war er faft nidt
aus ber Mühle fortgefommen. Dann war
bas Argſte vorbei, aber die Lena fonnte fid
nicht erbolen, und bad Kleine twurde von Tag
bie umflorten Fahnen bewegten fid) dem Aus-
gange yu, — die Gemeinde ordnete fic zur
qu Tag weniger, fo crjablten fie im Dor.
Vor swei Tagen hatte der Chriftian eine Kranken⸗
ſchweſter aus dem Rlofter holen miiffen, und
es hieß, bie Lena fei auf der Lunge fo ſchwach,
daß fie es wohl nidt mebr lange maden könne.
Das Kind, — nun, das hatte man ja immer
ertwartet, Dab es fterben würde, eine kurze Beit
früher ober {pater war ba ja ſchließlich gleich.
Die Kirchhofspforte war breit aufgetan;
die Prozeffion, an deren Spite die Kinder
gingen, wand fid wie eine Schlange binein.
Die Kinder gingen ben Hauptiveg hindurch, —
dann in einen Seitentweg binein und wieder
dict an den letzten Teil ber Prozeſſion heran,
jolange, bi ber Paftor vor dem hohen Kruzifix
inmitten ded Rirchhofes ſtand, zur Totenpredigt
bereit, Gerabde war die Mariann fo weit vor:
geriidt, baf fie an den Grabern der Millers:
leute ftand, — dicht vor ibr ber Cbrijtian.
—
Mariann,
Sie roc den ftarfen, harzigen Duft der Tannen-
guirlanden, die rings um die Gräberreihe gegogen
war, — den Gerud ber auf jedem Grabe
brennenden Wachslerzen. Die Reihe der
Kinder war auf bem Wege, der auf der anderen
Seite der Graber entlang führte, berangefonumen.
Sie fangen mit bellen Rinderjtimmen das
WNerjeelenlied: „Ihr Trauernden jtillet die
Trainen — Und hemmet das Jammern und
Sebnen, — Wer wollte verzagend erbeben, —
Das Grab ift das Tor gu dem Leben.“
Mariann fab auf den Chriftian. Und da
ſah fie, wie fic) plötzlich fein Kopf langſam
ſeitwärts wendete, — wie cine brennende Rote |
fiber fein Geſicht lief, bis in ben Hals hinein,
wie er auf einen Punkt ftarrte. Mariann
folate dem Blick. Da, dicht neben dem Chriſtian,
viel groper ald feine Altersgenoſſen, da ftand
ibr Junge, — fein Junge. Seine Mütze bielt
er in der Hand, der Wind hatte fein ſchwarzes
Haar zurückgeweht, dah fie bad Mal an feiner
Schläfe deutlich ſehen fonnte. Seine Baden
waren rot vom Winde, ſeine Augen glänzten,
ſeine helle Stimme klang vor allen anderen
heraus. — Und nun ſtimmte der alte Küſter
mit dröhnender Baßſtimme die zweite Strophe
an, und die hellen Kinderſtimmen fielen mit ein:
„Mag irdiſche Hülle zerfallen, — mag
irdiſche Freude verhallen, — Mag Staub ſich
geſellen zu Staube, — hoch über ihm wohnet
der Glaube.“ — — —
Mariann zitterte für den Mann, der da
drüben ſtand. Ein unendliches Erbarmen kam
über ſie, ein Mitleid, ſie hätte ihr Leben
dafür hingegeben, wenn ibm hätte geholfen
werden können, der da am Grabe ſeiner Kinder
ſtand, feſtgehalten wie von einer höheren Macht.
Seine Augen hingen wie bezaubert an dem
Jungen, der da ſo kräftig ſtand, ſo ſchmetternd
bell fang.
Mariana hörte nichts mehr von der lesten
Liederftrophe, nidts mehr von der Rede des
Paftors. Cie fab nur immer auf den Chriftian.
Acht Sabre hatte fie ihn nun faum gefeben, |
imnter nur mit einem fliidtigen Blid. Cie
hatte alle Gelegenbeiten gemieden, wo fie ihn
hätte treffen fonnen, und das war ganz leicht,
denn er fam ja aud) faum irgendivobin. Run
|
jah fie gum erftenmale, was diefe adt Sabre |
aus ibm gemadt batten.
Das war nicht mehr |
TAT
ber fede Burſch, den fie guerft gefannt und
geliebt hatte, — war aud nicht mebr der,
der ſchweres Unrecht an ihr getan, den fie
gehaßt hatte. Das war nur ein fummerbeladener
Menſch, der an den Gribern feines Lebens—
glückes ftand, der ein ſchweres Geſchick trug
und gan; gefnidt war von ber Laft, die auf
ibm lag.
Wie betäubt ging fie nad Haufe, als die
Prozeffion gu Ende war. Viele blieben nod
auf dem Friedbofe, an den Gribern. Cie
mufte fiir fic) allen fein, ganz allein. —
Es wurde duntel, vor ibren Fenſtern gingen
viele Füße vorbei, leiſes Murmeln drang herein.
Die letzten Beter famen vom Rirchhof, mit
gedämpfter Stimme ſich unterbaltend. Cie
ſaß noch immer in der dunklen Stube mit
ihren ſchweren Gedanfen.
Und doch, es war ihr leichter ums Herz,
als ſeit langer Zeit.
Gin ſchwerer Schritt trappſte an der Haus-
tir, WMariann ging eilig hinaus. Gin balb-
wiidhfiges Madchen fam herein, nad Atem
ringend, mit einem Gefidt, in dem fid Schreck
und Neugier wunderlich miſchten. Cie wiſchte
ſich bas Geficht.
„Ihr follt gleid) nad der Miible
fommen” — — feudte fie, — „ach, — —
bin id) gelaujen, — gleich, — ſo ſchnell ibr
könnt.“
Mariann fuhr zuſammen. „Ich, — nach
nach der Mühle? — Was ſoll ich denn, —
was iſt denn?“ —
Das Mädchen atmete hoch auf.
„Die Frau hat's geſagt. Gleich ſoll ich
euch mitbringen. Sie iſt ſchlecht, — arg ſchlecht.
Der Paſtor iſt auch ſchon da, — ſie hat ſchon
gebeichtet, — ſie will bie Sterbeſalramente.
Die Nacht macht ſie nicht mehr mit, — nee
ſicher nicht.“
Mariann ſah das Kind, das wichtig und
befriedigt erzählte, verſtändnislos an.
„Was ſoll ich denn da tun?“
Das Mädchen gudte fie mit den glitzernden
Augen neugierig an. „Ja, das weiß feiner.
Die Frau ift auf cinmal fo ſchlecht geworden, —
wabrend der Projeffion, wo wir alle fort
waren. Die Schweſter bat feinen gebabt jum
Sdchicen, fonft hatte fie ben Mann holen laſſen
vom Kirchhof und den Paſtor aud. So ſchlecht
*
748
war ihr's. Denlt nur, ben Paftor vom Kird-
bof! — — Und immer hat fie nad euch gerufen,
und bie Schivefter bat dod gar nidjt gewußt,
twas fie madden foll. Dann find wir beim:
gefommen, und einer bat ben Pajtor gebolt,
und dann haben fie mid) hergeſchickt.“
Das Rind war augenfdeinlid ganz hin—
genommen von dem wwidtigen CEreignis.
Was Mariann aud fragte, es wußte weiter
nichts als: „Ihr follt fommen, aber gleid, twill
die Frau.”
Mariann warf eilig ein Tuch um und lief
mit jitternden Knien neben dem Madden ber,
bas aufgeregt ſchwatzte:
„Und das Rind ift aud fo ſchwach, —
fo gum Wusblafen. Der Doftor fagt, es muh
eins ganz allein zur Aufwartung baben.
Gezankt bat er heute morgen gu und ju arg.
Das Kind tit’ verkommen, hat er gefagt. a,
wer fol denn da auch immer aufpafjen? Wo
fo viel gu tun ift im Haus und bei der franfen
rau, Und ded Nachts will unfereins doc
aud feblafen, Nee, das macht's aud nidt
mebr lang.”
Da war die Mühle. Aus den Fenjtern
fcien belles Licht, das Madden begann ju
jammern.
„O Gott, — Gott, jest haben fie die
Sterbeferjen ſchon angeftedt, — ich feh cine
brennen. Ich fürcht' mic, ic) fann feinen toten
Menſchen feben. Ich lauf heim zu meiner
Mutter.“
Sie machte Miene umzukehren. Aber
Mariann hielt ſie mit kräftiger Hand feſt.
„Schäm did was! So'n ftarkes, großes
Mädchen und will ſich fürchten vorm Tod.
Sterben müſſen wir all', und du auch. Komm
mit herein, wirſt Arbeit genug haben, daß du
garnicht ans Fürchten denken kannſt.“
Nun lief Mariann am Gartenzaun vorbei,
wo damals die Lena geſtanden hatte. Das
ungewiſſe Licht fiel auf die bunten Georginen,
die ganz geſpenſtiſch ausſahen. Da auf dem
Wege war die Lena damals mit ihrem Herzen
voll Unruhe und Bosheit umhergelaufen.
Im Hausflur traf fie auf den Doltor.
Gr nidte ibr ju.
„Das ift gut, bab du kommſt, Mariann,
bie Frau will fics garnicht berubigen laſſen,
fie ſtöhnt und jammert nad dir.” — —
~*~
1
Mariann.
„Muß fie fterben, Here Doktor?” flüſterte
Mariann.
„Sterben?“ Der Doktor gudte die Achſeln.
„Krank genug ijt fle. Aber gum Sterben
' nod) nicht.”
„Aber fie haben dod die Kerzen ſchon
angeslindet ?”
„Ja, fie hat's fo gewollt. Hat ſich den
Paftor holen laſſen. Und wenn bas fie
rubiger macht!” — — — Gr gudte wieder
bie Achſeln.
„Geh nur herein, damit fie Rube befommt !”
Bagend betrat Mariann die große Stube.
Zwei Kerzen brannten neben der Lampe, am
Bett ſaß der Paftor. Die Kranke wart fid
unrubig und ftébnend umber. Wm Fupende des
Bettes ftand der Mann, blak und finſter. Beim
Gintritt Marianns richtete fich die Lena haſtig auf.
„Da ift fie’, fliijterte fie beifer. „Gott
fei Dank. Ich hatt nicht rubig fterben fonnen.”
Sie war fajt bis zur Unfennilidfeit ver:
ändert. Die Mugen lagen eingefunfen in ihren
Höhlen, der Mund war gang cingejallen. Sie
winkte der Mariann!
„Alle follen fie herausgehen, — alle. Ich
muh mit dir allein reden.”
Der Paftor ftand auf und ging leifen
Schrittes hinaus, Chriftian folgte. Mariann
war allen mit der Kranken, die auf die
brennenden Kerzen jeigte.
„Das find meine Sterbefergen, Mariann“,
keuchte ſie. „Wenn die runter gebrannt find,
dann iſt's aus mit mir, Mus und vorbei,
Lang Zeit bab id) nicht mehr. Und id will
rubig fterben, ruhig ſchlafen. Ich hab's nicht
mehr gekonnt, ſeit ich in deinem Haus war, —
ſeit dem Tag nicht mehr.“ Sie atmete ſchwer
und raſſelnd und griff nad der Brujt. „Da
fist’3, da. Auf meinem Herzen liegt’s wie cin
Zentnerſtein und wird alle Tage ſchwerer.
Das mush weg, — runter.” Gie rip an der
Sade, an dem Tuc, das fie um batte.
Mariann ftedte ibr ein Kifjen unter den Riiden.
„Ach, fo iſt's beſſer. Du bift gut. Du
bift aud) gut gegen das Rind getwefen, neulich.
Du wirſt tun, was id) will, Willſt du's tun,
Mariann? — Ich feb fie immer vor mir, die
zwei Rinder zuſammen, — deins und meins.
Und meing mug nun aud fterben, wenn du
did) nicht erbarmſt, Mariann!“
Mariann,
woth 2"
„Ja, dul Du fannft das ganz allein.
Doh weiß einen, der das tun könnte, — feinen.
Sie haben all mit ihren eigenen Rindern gu
tun, keine würde ficd um meins lümmern. Nur
bu, Mariann! Du wirſt's tun, ic weif es.
Aus Barmherzigkeit, Mariann, damit unfer
Herrgott mir's viclleicht leben laft, weil du es
gepflegt haſt! Weil du fein Rind pflegſt!“
Mariann zuckte zuſammen.
„Hör mich, Mariann, hör mich an, eh du
nein ſagſt. Ich hab hier gelegen Tag um
Tag, ſeit du mich vom Kirchhof geholt haſt.
Hab gegrübelt die Nächte lang, bis mein
armer Kopf mir faſt zerſprungen iſt. Ich hab
viel verlehrt gemacht in meinem Leben, mun
will ich's wenigitend gut maden, wenn's ju
Ende geht.“
Sie bob den Kopf und laufdte. Durch
die Türe hirte man bas Weinen des Kindes.
„Da weint's wieder. Elendig verfommt’s.
Wenn id nod adt Tage lieg’, dann können
fie mir’3 gleid) mitgeben ing Grab.“
Sie fant ſchwer in die Riffen zurück.
Zwei dide Trinen liefen langſam fiber dad
magere Gefidt. Mariann fchauderte zufammen.
Die Kranke griff nad ihrer Hand.
„Mariann“, fliifterte fie leiſe und durch—
dringend, die großen Augen feft auf fie heftend,
„wenn man auf dem Totenbett liegt, dann
ift’S ernſt, bitterernjt. Und twas ic dir jett
jag, das wird mir arg ſchwer. Wenn du's
aud) ſchon felber weigt. Wher es (apt mir
feine Rube, feine. Und ich muh es aud
fagen, teil bu den Chriftian follft mit andern
Augen anfeben als bis jegt. Er bat viel an
dir verfdulbdet, ja, — id) aud. Aber ich, ih
bin dod) am meiften ſchuld geweſen. Ich bab
ibn gern gebabt, fo jum Verriidtwerden gern.
Nadhgefchliden bin id ihm auf Sehritt und
Tritt. Ich bab ibn ausfpioniert, ibn und
did. Ich bab euch oft genug zuſammen
qeieben, am Wald oben auf der Burg. Ich
bab alles gewußt, alles. Ich bab den Chriftian
gehaßt darum, und did, did) nod mebr.
Aber id) bab ibn doch haben miiffen. Ich bab
ibn fiir mid baben wollen und dir wegnehmen.
Soh bab meinen Vater drangfaliert, und der
bat des Chriſtian Vater miiffen aufritbrerifd
du haſt bas Unrecht auf mir gelajjen.
749
maden finnen. Der Alte hat gefagt, er ver:
fludt ibn in die unterfte Hille, wenn er ibm
nidt folgt. Sa und id, id) bab gehetzt und
geftodert an dem Chriſtian. Und der bat fid
hetzen laſſen. Das Geld hat ibn wobl aud
verblend’t, Und da bab id) ihn gefriegt, —
bab ibn dir weggeftoblen.”
Cie atmete tief auf. Das Geficht war
gang fabl geworden, faſt bleijarbig. Mariann
' lief eilig nach dem Doftor.
„Sie redet zuviel, fie ftirbt ja darunter.“
„Laß fie reden”, fagte ber Doktor fur;.
„Dann ijt dod die Unrube vorbei. Gib ibr
einen Schluck Wein aus der Flaſche aufdem Tif.”
Die Frau trank gierig. Dann fing fie
wieder an.
„Schnell muß ich's ſagen, ſchnell. Wiles
iſt mir gegangen, wie ich gewollt hab, von
Kind an. Und da hab ich gemeint, auch das
müßt gehen. Wenn ich nur erſt den Chriſtian
hätt! Aber es iſt nicht gegangen. Er iſt
mir ein guter Mann geweſen, er hat nicht
ſchlecht an mir gehandelt. Aber ganz hab
ich ihn nie gehabt. Nie. Ein Teil von ihm
ijt immer fort geweſen, — anderswo. Und
alg die Kinder famen und ftarben, ja, da
iſt's immer ſchlimmer geworden. Ich hab mit
unſerem Herrgott gehadert und hab mich ver—
härtet, und er iſt ein ſtiller Menſch geworden,
in dem was genagt hat an ſeinem Leben,
ganz inwendig. Ich hab dir geflucht, weil
ich gewußt hab, du ſtehſt mir noch immer im
Weg, und er hat alles in ſich verſchloſſen und
bat — und bat” — — —
Ihre Stimme war jetzt nur noch ein
Hauch. Mariann ſaß zitternd an dem Bette.
Nach einer Weile hob die Kranke wieder an:
„Unſer Herrgott hat Gericht gehalten zwiſchen
mir und dir. Und hat dir Recht gegeben
und mir Unrecht. Ich hab's nicht ſehen
wollen, die Jahre lang. Aber nun ſeh ich's,
nun weiß ich's. Und darum, Mariann, darum
muß das Unrecht gut gemacht werden. Ich
hab's unſerm Herrgott abfaufen wollen, —
bab gemeint, wenn mein Vater did beiratet,
dann ijt alles gut. Du baft’s nicht gewollt, —
Und
nun fit es bier, — bier’ fie rip an dem
Tuc iiber ihrer Bruſt „und prept mid, und
maden. Und da, — da, was bat der Chrijtian | id fann nicht leben und nicht fterben.”
750
Mariann beugte fid) über fie.
„Lena, qual did) nidt. Ich hab alles
gewußt, Lena, alles. Und id bab den
Ghrijtian veradtet barum und gehaßt, — und
dich, did) auch vielleicht. Aber das ift all
vorbei, fang fdjon! Und twenn unfer Herrgott
auf mid) birt, dann bat er dir alles vergiehen,
bir und bem — Chriſtian.“
Die Kranke feste fic) mit cinem Rud im
Bette hod. Cie griff nad) Marianns Hand:
„Du haſt mir's verziehen? Uns Sweien?
Alles verziehen?“ —
Mariann nickte bejahend.
„Von ganzem Herzen. Und wenn's dir
leichter wird, daß du weißt, ich nehme das
Rind, dann twill ich's tun.”
Mit plötzlich erwachter Kraft hielt Lena
bie Hand Marianns fejt.
„Du willſt das, Mariann! willft das Kind
nebmen, fo lang bis, — fo lang als bier
Reiner fiir eS forgt? Dads willft bu tun?”
Mariann nidte faft fröhlich.
Na, fie wollte ¢3 gern. Sie hatte etwas
wie cin Muttergefiihl fiir bas blaſſe Wiirmeden.
„Aber dann bin id in deiner Schuld,
Mariann, immer nod in deiner Schuld. Dab
muß erft driiber nachdenken, wie id) das gute
made. Vielleicht find ich's, wenn unfer Herr—
gott mir nod Zeit läßt. Und du läßt mic
nod Zeit, Mariann, gelt?”
Mit einem feltfam forſchenden Wusdrud
blidte bie Kranfe Mariann an. Das rötliche
Licht der Wachskerzen warf einen Hauc von
Farbe in iby Geſicht. Sie fab zufrieden aus.
Sie legte fic in die Kiſſen und atmete tiefer
und leidter.
„Oh, jest ift mir beffer.
ſchlafen.“
Mariann ging durch die ſtille Dorfſtraße
heim. Es war etwas klarer geworden, der
Mond ſah manchmal blaß durch die langſam
ziehenden Wolfen. Wm rauſchenden Dorf—
brunnen hielt ſie ſtill und ſchöpfte Waſſer.
Jetzt will ich
trockenen Zunge wohl. Unklar und verwirrt
gingen ihre Gedanken, — fie wagten ſich
kaum an das heran, was geſchehen war. Nein,
Mariann wollte nicht nachdenken. — Morgen
brachte man ihr das Kind, da gab es
Arbeit.
Mariann.
⸗
i.
Es wurde Sommer. Auf dem Grabe der
Lena wurde ein großes Grabkreuz aus ſchnee—
weißem Marmor geſetzt mit dem Spruche:
„Die mit Tränen ſäen, werden mit Freuden
ernten.“ Das hatte fie ſich ſelber ausgeſucht,
als es wieder ſchlimmer mit ihr wurde, nach—
dem ſie damals noch einmal viel beſſer ge—
worden war und alle meinten, ſie könne noch
einmal geſund werden.
Sie ſelbſt hatte es wohl nicht mehr gemeint.
Sie war ganz verändert geweſen die letzte
Zeit. Ganz ruhig und ergeben. Nicht einmal
bas Kind hatte fie öfter ſehen wollen. Manch—
mal, bei gutem Wetter ließ ſie ſich's holen,
freute ſich an ihm, wie es, ganz langſam zwar,
aber doch ſchon ſichtbar weniger ſchwach,
weniger armſelig ausſah. Lange konnte ſie es
freilich nicht um ſich haben, und ſie wollte auch
gar nicht. Nur den Paſtor ließ ſie ſich öfters
kommen und redete lange mit ihm. Alle
mußten ſich dann entfernen, auch ihr Mann.
Auch die Mariann hatte fie nicht mehr wieder—
geſehen. Sie hatte ſie nur manchmal grüßen
laſſen durch den Paſtor und ſie bitten laſſen,
das Kind zu behalten, wenn ſie tot ſei. Nur
eine Zeit lang noch, noch etwa ein halb Jahr.
Und der Paſtor hatte ſie ſelber darum gebeten
und ihr geſagt, daß ſie ein ſehr gutes, chriſtliches
Werf tue,
Damals, als das Rind gu ihr gebracht
wurde, war der alte Müller aud) gefommen.
Er war nicht lange gefranft geweſen fiber den
Korb, den Mariann ihm gegeben hatte. Er
hatte fid) ſchnell getrijtet und ſich einſtweilen
nod) nicht wieder gum Heiraten entſchloſſen.
Nun fam er und bedanfte fic) bei der Mariann
aud) im Namen des Chrijtian, Wenn das
Kind leben bliebe, dann babe er das allein
ber Mariann ju danken. Wber er befah das
Kleine, das in der Stube umber frabbelte,
febr mißfällig. — Me, das würde dod nic
was mit dem kränklichen Ding.
Gs war fo kühl und friſch, es tat ihrer |
Der Doktor war gefommen und hatte der
Mariann eine ganz genaue Anweiſung gegeben,
wie das Kind gu pflegen fei. Bader mit Cal;
follte e8 haben und immer im Freien fein,
wenn das Wetter nidt gar yu ſchlecht war,
/ und twas der Vorfdriften nod eine ganje
| Menge waren,
Mariann. 751
„Du wirft das fdon madden, Mariann,
bijt ja flitger als bie Bauernweiber. Das
Kind war’ elendiglich gugrunde gegangen in
ber grofen Wirtſchaft, wo feiner Beit fiir fo
ein Würmchen hat und aud feiner weiß, twas
ibm nötig ift und was ſchädlich. Eigentlich
krank iſt's ja nicht, nur febr zart und ſchwach.
Du haſt ja den ganzen Tag Beit, auf ed
aufzupaſſen. Und die in der Mühle finnen’s
ja bejablen.”
„Bezahlen?“ Die Mariann ſah ihn er-
ftaunt an. „Was bezahlen?“
„Nun die Pflege und die Urbeit, die du
haſt, und natiirlid) aud die Unfoften.”
„Die Unfojten, ja. Was es braucht und
twas id) ertra dafiir foujfen mug. Wber meine
Pflege nidt, und bie Wrbeit, die id) bab.
Wenn ich'S nicht gern tite, dann tat ich's dod
gar nidt, und bejablt nebm ic nichts dafür.“
Dabei blieb fie. Und aud der alte Miller
fonnte nichts bei ibr ausrichten. Den Chriftian
fab fie nicht. Alle paar Tage fam eine Magd
aus der Mithle und holte das Kind fiir eine
Stunde heim. Dann wurde es ihr wieder:
gebradt. Es hatte dann einen diden Straus
Blumen in den Heinen Händen und rief ihr
fhon von weitem entgegen: „Ta—di,
Ta—bdi, — Blumen.”
Wie fie bas Kind liebte. Erſt, weil ed
fo franflic) war, ſolch cin auslöſchendes Lebend-
flämmchen. Dann, weil es mutterlos war,
aus Mitleidn. Zuletzt aus Mutterliebe. Cs
war ibr ivie ein eigenes.
Und der Junge hatte aud cine merf-
wiirdige Zuneigung gu dem Kinde. Ex febleppte
fid) den ganzen Tag mit ihm berum, fpielte
ſtundenlang mit ibm, fubr es in dem fleinen
hölzernen Gitterwagelden, Wenn er aus der
Schule fam, ftrebte das fleine Ding ibm ſchon
entgegen. Es fing an, mebr yu fpreden, aud
verſtändlicher. Bier Sabre war es nun bei:
nabe, aber dod) nod) weit zurück binter feinem
Alter, Aber eS würde ſchon werden. Reine
Mutter fonnte das inbriinftiger boffen, als
Mariann! Es war gut, daß fie das Rind
hatte.
bem einen Punkt abgezogen, gu dem fie immer
wieder gingen und doch nicht geben follten,
— feit der Nacht in der Miible, — von dem
Nadfinnen über die Lebensfcbidjale der zwei
Sobre Gedanfen wurden daburd von |
Menſchen in ber Mühle und iiber ibr eigenes,
— über die Schwere der Schuld und itber
bie Vergeltung.
Sie lag oft ded Nachts mit ſchlagendem
Herzen und wog Schuld und Sirafe und was
wohl nod von der Sculd übrig geblieben
fei. Und immer wieder fab fie den Chrijtian
an jenem Wllerfeelentag auf dem Kirchhofe
und in der Nacht darauf am Bett feiner Frau.
Und es geſchah immer mebr, dak fie den
Ghriftian von frither ganz vergaß, — und
nur den von heute vor fich fab.
Als die Lena ftarb, war fie ſchwer erſchüttert.
Und es war ihr immer, als müßte fie eine
Botſchaft fiir fie binterlajjen haben. Wber der
Paftor brachte ihr nur bie letzten Grüße, weiter
nichts. Sie hatte ihr ein ehrliches, letztes
Vaterunfer nadgebetet, alg man fie an einem
falten Dexembertag begraben hatte und ihr
bie ewige Rube gewiinfdt aus ganjer Seele
und darum fiir fie gebetet. Aber etwas in
ibe fam nicht gur Rube. Etwas in ibr wühlte
und grub und podte. Und immer mufte fie
es in ſich niederswingen und juriidbalten.
Der Chriftian hatte feinen Verſuch gemadt,
ſich ihr zu nähern. Es war, als ob er nidt
im Dorf fei. Sie fab ihn nur einen Mugen:
blid, Conntags nach der Kirche, wenn die
Manner in Gruppen ftanden und ſich beſprachen.
Uber fie ging dann ſchnell voritber. Die
Leute im Dorf batten wohl gu Anfang mandes
geredet, — aber nun war wieder alles ftill, —
weil das Gerede feine Nabrung befam.
Sm Winter hatte fie viel Arbeit mit dem
Rind gebabt. Es mußte fo ängſtlich gebiitet
werden. Als es Friibjabr wurde, ging es
beffer. Es fpielte den ganjen Tag in dem
fleinen Garten herum, der vor dem Hausden
lag. Der Doktor hatte angeordnet, dak fo
recht in ber Sonne ein ordentlider Sandhaufen
aufgefchiittet wurde. Da kroch es den ganjen
Tag bherum, wie ein Tierden, das ſich fonnt.
Ordentlid braun war es gebrannt, ſeine
Mild) tranf es mit Behagen und ohne Wider-
jtveben wie in der erjten Zeit. Und der
Doktor freute fich, wenn er fam. Er fap
dant auf der Bank im Gartdhen und ver—
plauderte gern cin Viertelſtündchen mit Mariann.
Ihr war es nicht ganz bebaglid) dabei. Mit
jeinen Eugen Augen, um die bundert fleine
752
Fältchen zwinkerten, fah er fie oft forfdend
an. Gr fannte fie bon flein auf, nod) von
ba, als ihre Mutter im Doftorhaus gearbeitet
hatte und fie mitgelaujen war und ſchon ein
bifden mitgebolfen hatte aus Spaß. Aud
heut war er wieder da gewefen. Gr batte
bas Kind unterſucht und war febr jufrieden
geweſen. Und als er ging, klopfte er der
Mariann auf die Sdhulter.
„Eine tichtige Perſon bift bu, Mariann”,
fagte ex anerfennend, ,,deine Mutter würd
fich freuen, wenn fie did) feben könnte!“
Mariann wurde rot. Untwillfiirlich flog
ihr Blick gu dem Jungen bin, der fic mit
der fleinen Zina im Sande fugelte. Und
ein ſchwerer Kampf ging über ihr Gefidht.
Gr fab es.
„Na, na Mariann! Kopf hod und dad
perantivortet, was man gefeblt bat! Das ijt
ein guter Grundſatz. Bift cine brave Perfon,
Mariann! Und wer weif, twas das Leben
nod fiir bid) aufgeboben bat! Wer weif,
was nod) fommt! Iſt nod nicht aller Tage
Abend. Mach's gut, Mariann, mac's gut!”
Er klopfte fie auf die Sdpulter und ging
bie Strafe binunter, rechts und links nidend
und mandmal fteben bleibend und mit den
Voriibergebenden cin paar Worte wechſelnd.
Mariann jah ibm lange nad. Dann
ging fie gurii€ in das Gartdhen und nabm
bie fleine Chriftine auf den Schooß. Aber
fie bielt den Kopf nidt bod, fie beugte ihn
tief über bas Köpfchen bes Kindes. Und fie
ſaß fo lange, bis ber Junge fie ungeduldig
riittelte:
» Diutter, [af Tina runter, — Mutter,
ſchläfſt bu?”
waft ein Jahr war die Lena nun fon
tot. Und bie Leute im Dorje faaten, es fei
bie höchſte Zeit, daß der Chrijtian ſich wieder
nad einer Frau umfebe. Dads grofe Anweſen
fonnte er nidt allein verforgen. Cine alte
Baje, die ibm den Haushalt führte, feifte und
ſchmälte den ganjen Taq mit den Dienjt-
feuten, ſodaß alle paar Woden einige auf-
fiindigten, Mägde und RKnedte. Mit dem
Rinde ging das aud nidt linger fo, — — es
gedieh ja prachtia bei der Mariann, aber 8
war dod) nidt in ber Ordnung, dak fo ein
Mariann.
Wiirmden bei fremden Menfden war. Und
der Chriſtian mußte aud feine Ordnung haben.
Gin Mann von vierunddreifig Jahren, fold
ein junger Menſch, der fonnte nicht einſchichtig
alg Wittmann dahin leben. Für den fing
dod eigentlid) bas Leben jest erjt an, mit
ber Lena hatte er dod nur Elend gebabt und
Kreuz. Nun mufte er fich eine junge, gefunde
Frau nebmen und aud einmal feines Lebens
froh werden. :
Das wurde jest tiberall verhandelt. Bm
Wirtshauje, beim Kaffee, two die Frauen jid
Sonntags jujammenfanden, im Ladden der
Mariann, Da am meiften, denn wenn man
bas Rind fab, fam man natiirlid) gleich
barauf. Und wenn ſich gar zwei Frauen bet
der Mariann trafen, dann war bes Redens
fein Ende. Und die Mariann hörte ed
jeden Tag ein paarmal mit an, wie die
beiratsfabigen Madden durchgenommen tourden
und bejproden, iwelde am beften zu dem
Chrijtian paſſen würde.
Ihr war das Herz ſchwer dabei, — warum
nur! Freilich, das Kind mußte ſie dann her—
geben, das ihr fo feſt ans Herz gewachſen
war. Und wer weiß, wie die zweite Frau
zu dem Kinde ſein würde, wenn erſt die
eigenen Kinder kamen und das franfe nur
ein Hindernis war, tiberall fiberfliifjig und
im Wege. .
Sie nabm bas Cbrijtinden auf den Arm.
Wie es fich erholt hatte! Es fing fdon fajt
an, rote Badden ju friegen. Die gelbliden
Harden lodten fic ein twenig, fogar die Mugen
batten etwas mebr Farbe, däuchte ihr. Und
das follte nun vielleicht alles wieder anders
werden, wenn ¢8 nicht mehr fo gepflegt und
betraut twiirde. Sa, fo ein mutterlofed Rind
war ein armed, unglitdlides Wiirmden, —
beſonders fo cing, wie dieſes. Ihre Gedanfen
gingen zu dem Chriſtian. Sie gingen jegt oft
dabin und mit einer Art Wehmut. Er war
bart geftraft worden, wabrbajtig, fir bas, twas
er in Übermut und Sdwadbeit geſündigt
hatte. Recht batten die Weiber, er durfte jest
wieder feines Leben froh weroen. — Wan
fannte ibn gar nicht wieder, fo blak und bager
war er getvorden, fo alt und verbittert fab er
aus. Was war er dod fiir cin Burſch
damals, vor neun, — nun bald zehn Qabren.
Marian.
Sold einen gab ¢8 gar nidt mehr im Dorf,
hatte bie ganze Beit Leinen gegeben. So cin
ftrammer Menſch, fo ein forfder. Aber bas
fonnte alles wieder fommen, — er war ja
nod jung. Wenn er erft wieder einmal ver-
beiratet war mit einer, die ibn gern mochte
und an der er Gefallen hatte, dann würde
dad fdnell ander’. Er war ja nod fo jung.
Mariann verfanf in feltfame Gedanfen.
Sn folde, die famen und gingen, daß man
fie nicht balten fonnte und nidt Herr dariiber
war, Er follte glücklich werden, fie ginnte
e3 ibm. Gr follte — er follte — — —
Gie jubr in bie Hohe. Die Tür war
fangfam aufgegangen, in der dämmrigen
Stube ftand jemand.
Marianns Herz ftand ftill, fie fühlte, wie
ed auf einmal ftill ftand. „Chriſtian!“
Sie mupte fid am Tiſch halten, fonjt
ware fle getaumelt.
„Chriſtian, — was — — twas ift?”
Und dann iiberfiel fie cin jaber Schreck.
Das Kind, — es war heute abgebolt worden
und nod) nicht zurückgebracht. War ibm twas
paffiert, — wollte er's jest bebalten? — — —
„Das Kind’ — — — Cie würgte es
faum beraus, der falte Schweiß brad ibr aus.
Er fab es wobl. Er ftand an der Tir,
bie er binter fich gugedriidt hatte, er fam
feinen Gebritt naber.
„Das Kind ift munter”, fagte er febr
leife, ,aber ich, — ich batt’ mit dir gu reden,
Mariann.”
Sie nahm fic) zuſammen. Aber fie gitterte
fo ftarf, dag fie fic) ſetzen mußte.
„Du, — mit mir?”
„Ja.“
Gr ſtand unſchlüſſig, felber gewaltig durch—
ſchüttelt. Er ſuchte nach dem richtigen Wort.
„Ja, th mug, Mariann! Die Lena hat mir's
aufgetragen.“ — — —
„Die Lena?”
„Ja, auf ihrem Totenbett. Wm lesten
Tag nod. Sie hat viel ausgeftanden, und
bat viel mit fic) felber durchgemacht die letzte
Zeit. So, — ih meine, — viel nadhgegriibelt
und finniert, und bedacht auf dem angen Lager.”
Mariann nicte.
„Und da, — knapp eb bas Lette angefangen
bat, — da bat fie mir was aufgetragen fiir
753
bid, Mariann, und bat mir gefagt, fie finnt’
feine Rub im Grabe haben, wenn id’s nicht
ausricht!“
Mariann rückte auf. Keine Ruh im Grab
finden. Und da wariſt du bald ein Jahr, bis
du mir das ſagſt?“
Er lächelte trübſelig.
„Heut ſoll ich zu dir gehen, hat die Lena
geſagt. Heut iſt der Tag, wo du ſie im
vorigen Jahr vom Kirchhof geholt haſt. Das
hat ſie ſich ſo ausgedacht.“
Er fam näher und jog ein kleines Päckchen
aus der Taſche.
„Und dad follt id) dir geben von ihr, —
und follt dir fagen, — dir fagen — — —“
Es judte um feinen Mund.
Mariann fab ibn faft angftlid an.
„Sie hätt's jest gefunden, foll id dir
fagen. Du wiird'ft ſchon wiſſen, was fie meint.”
Mariann nidte. Bn ibrem Obr flang die
leife, beifere Stimme der Lena in jener Nacht.
„Ich werd's finden, Mariann, — id hab's
nod nicht gang gefunden, aber ich werd's
fon.” — — —
Sie ſah jest auf und in Chrijtians Gefidt.
Er war blak. Sum erjtenmal nad fait
zehn Jahren fab fie feine Augen wieder auf
fics gebeftet, — fejt, — fejt. Das Blut ſchoß
iby jum Herzen. Mit jgitternden Handen
fingerte fie an bem kleinen Packet berum.
„Ich — — die Lena — — —“, ftammelte
| fie verwirrt.
„Ja“, fagte ex mit Leifer Stimme. „Die
Lena bat gemeint, fie müßt' did) um Verzeihung
bitten fiir dad, — das, was geweſen iſt
Und fie bat gemeint, e3 war gut, twenn du
| bas nähmſt, — das”. .
Gr jeigte auf das Pidden. Seine Stimme
jitterte, die Schnurrbartſpitzen fogar.
Mit einem feltfamen Gefiihl von Scheu
und Haft öffnete Mariann die Heine Schachtel.
Und mit einem faſſungsloſen Aufſchrei fant fie
auf den nächſten Ctubl.
„Was, — o Gott, — das ift ja . . .”
Der Chrijtian nidte. Es war eine Weile
febr ftil in der Stube. Dann fing er an ju
fprechen mit jitternder Stimme. „Ja, 's ift
ibr Trauring! Sie hat ibn lange nicht mebr
am Finger tragen können, da hat fie ibn an
einer Sdnur um den Hals gehabt. Und wie
48
754
ſie immer kränker und kränker geworden iſt,
und ſchwächer, da hat ſie mich eines Abends
ans Bett geruſen. Und ba, ba hat fie mir
gejagt, dab fie nicht fterben und felig werden
finnt’, wenn nicht —“
„Wenn nicht?” wiederholte Mariann
gang leiſe.
„Wenn es nicht mit uns Zweien würde,
wie es hätte — — hätte fein ſollen ...“
Es war ganz ſtill in der dämmerigen
Stube. Die Mariann ſaß da mit im Schoß
gefalteten Händen. Sie hatte ihren Kopf
tief gebückt, — der Chriſtian konnte nur auf
ihr Haar ſehen, das in zwei feſten Zöpfen
um den Kopf lag.
Und er ſtand und ſah auf ſie nieder.
„Mariann“, ſagte er endlich ganz leiſe.
Da hob ſie den Kopf und ſah ihn an.
Und er wollte ihre Hand greifen.
Aber ſie zog ſie zurück. Und als er ſie
erſchrocken anſah, fing fie an gu ſprechen.
„Alſo, das hat die Lena gemeint! Unſer
Herrgott wird fie in Rube ſchlafen laſſen,
aud wenn's nidt fo wird, wie fie gebofft
hat, — denn wer fic fo felbjt überwinden
und bezwingen fann, der fommt fiderlid) in
den Himmel, und fie braucht nicht zu warten,
bi3 wir bier unten nod fiir fie wad tun. Die
bat ſchon fo alles Irdiſche von fich abgetan,
daß man fic feine Ungft mehr um ibr
Seelenbeil gu machen brauchte.“
Der Mann fah jie an. Cie fab ganj
jtill aus, — ganz rubig.
„Mariann“, fing er an.
„Nein, red’ nicht. Deh nehm das Opfer
nit an, das mir die Lena bat bringen
| gegangen.
wollen. — Verziehen bab ich ihr damals |
fon, — und dir aud. Und darum brauchte
fie das Opfer nicht yu bringen, und es liegt
nidts mehr auf ibr und auf dir, Aber
beiraten fann id) bid) nicht.”
»Dtariann ... .”
» Rein! Ich kann nicht und ic will nidt.
Sh jag dir's nodmal, dap alles von euch
Zweien weggenommen ift. Mebr fann ic nicht.“
Gr ftand betroffen und ratlos ſtill.
„Mariann“, fing er nad ciner Weile
wieder an. „Denk dod an die Kinder, An
tun ſich felber ſtraft.
Mariann.
fügt hätte? Wie ich hierhergekommen bin, iſt
mir grad die Magd mit dem Kind begegnet.
Sie iſt nebenan getrollt. Aber der Junge
hat das Tinchen geführt, — ganz ſorgſam
und ängſtlich, wie ein Bruder ſein Schweſterchen.
Und was ſie von Gotts und Rechts wegen
ſind, das ſollen ſie nun auch vor den Leuten
werden. Denf daran, Mariann.“
Sie war während ſeiner Rede zum Tiſch
Aber als er zu Ende war,
ſchüttelte ſie ruhig den Kopf.
„Auch darum nicht?“ —
„Ich hätt geglaubt, du hättſt das Tin—
then lieb.“
Ihre Augen wurden feucht. „Ja, das
hab ich. Wenn's mein Eigenes wär, ich
finnt’s nicht lieber haben.“
„Ja, dann weiß ich nicht mehr, was ich
dir ſagen ſoll.“
Da hob ſie den Kopf mit einem Ruck auf
und ſah ihn an. In ihren Augen glimmte
etwas auf, was lange geſchlafen hatte. Sie
ſah den Mann vor ſich feſt an.
„Eben darum! Eben weil du nichts
Anderes weißt! Iſt das denn nicht gerade
das, was uns ſchon vor zehn Jahren aus—
einander gebracht hat? Hätt ich dich nicht
damals haben und halten können, wenn das
nicht geweſen wäre! Weil ich keinen gewollt
hab, den ich mit Gewalt hätt' zu mir zwingen
müſſen. Damals bab id) die Schande auf
mich genommen und die Not, weil ich das nicht
gewollt hab. Und iſt's nicht heut grade ſo?“
Er ſah ſie erſtaunt, ganz verſtändnislos an.
„Ja“, rief fie. „Du biſt freilich cin
Anderer geworden in der Zeit. Du haſt's
bitter an dir erfahren müſſen, daß alles Übel—
Du brauchſt keine
Strafe vor unſerm Herrgott, — die Strafe
iſt in uns ſelbſt. Und die Lena hat's mit
ihrem Leben bezahlen müſſen. Ich hab's aud
nicht leicht gehabt, die zehn Jahre ber, wahr—
haftig nicht. Aber gerade deshalb will ich
nicht umſonſt all das erlebt haben. Soll
denn nun grad das geſchehen, was ich nicht
hab wollen geſchehen laſſen.“
„Mariann“, ſagte der Mann ſtockend, „ich
verſteh nicht was du meinſt.“
— an den Jungen und auch an das Tinchen.
Iſt's nicht, als ob unſer Herrgott es fo ge- |
™,
„Du verſtehſt mid nicht“, rief fie. Nore Baden
waren rot geworbden, Tränen rannen dariiber,
Mariann,
„Iſt's denn heute um ein Haar bejfer, |
als damals? Damals bat did bein Vater
und die Lena von mir weggezwungen! —
Und heut — — heut willſt du felbft did) gu
mir jivingen! Um der Lena willen, um des
Unrechts willen, um der Kinder willen, —
willft du mich nebmen! Nein! Ich will’s
nidi! Ich will mid nicht nehmen laſſen,
um der andern willen! Nie und nimmer!“
Sie ſtand vor ihm, zornig, groß aufgereckt.
Und zornig fab fie ibn an.
„Meinſt bu, ich bin eine, die fo mit fid
handeln läßt? Was id) getan bab, bab id
getan, — twas ic) verſchuldet bab, bab id
gebiift. Ach weiß bon feiner Schuld mebr,
id fclepp’ nicht das Biindel ewig mit mir
‘rum, — Aber grad darum fann’s nidt fein, —
grad darum nicht.“
In den Augen des Mannes ging langſam
eine Erlenntnis auf. — Die Mariann ſtand
nicht mehr aufrecht. Sie war auf den Stuhl
geſunken amd hatte die Hände vors Geſicht
geſchlagen. Und ſie weinte. Dicke, ſchwere
Tropfen rannen zwiſchen ihren Fingern durd.
Shr ganzer Körper jitterte. Und das dauerte
cine ganze Weile. Dann nabm ihr jemand
bie Hinde vom Geſicht. Leife, aber
gang feft.
„Und wenn's nicht wm der Lena willen
wire, Mariann, — nicht um der Kinder willen!
Wenn einer ju dir fagte: Mariann, id bin
ein Schuft gewefen und ein Lump und die
Bufe, die id) getan bab, ijt eine ſchlechte Buße
gewefen, weil id) mid) aufgelebnt habe dagegen.
Aber ich hab das nidt totmachen finnen, was
in mir [ebendig geweſen ift, fo viel id auch da-
gegen gekämpft bab! Ich hab's nur immer
niedergeFalten in mir. — Immer die Jahre
ber — mit aller Getwalt. — Das batt id dir
aud gleich gejagt. Aber ich hab gedacht,
fiir mid, — vielleicht aud das Tinchen.
Und darum — — — weil dod die armen
Siinder immer einen Fürſprecher haben müſſen,
Mariann !”
Sie fiebt ibn lange und feft an.
„Nicht um der anderen twillen, — nicht
um — was gut — ju machen?“ — — —
Da brad alles aus ihm hervor, was jabre=
lang begraben war.
755
„Weißt nod) ben Gonntag oben auf der
Burg? Da hab ih nod fo recht den Trog
gebabt, fo den ridtigen Tro vom böſen
Gewifjen. Ich hab's gewußt, dah id) ſchlecht
bin, aber ich hab's nicht wiſſen wollen. Ich
hab mich verſteift auf das, was mir mein
Vater alle Tag' eingeredet hat und was die
Lena mir ſo ganz heimlich eingegeben hat, —
alle Tag' ein Wörtchen, immer und immer
wieder. — Und ich hab gedacht, — mußt mit
der Mariann zu End kommen, wie andere
Burſchen auch mit ihren Mädchen zu End
kommen. Willſt ihr ſagen, daß du ſorgen
willſt für das Kind, damit alles in Ordnung
ſein ſoll. Die Lena zu heiraten, — daran
hat mir ja auch nichts gelegen! Aber mein
Vater hat mir ja keine Ruh gelaſſen und die
Lena ſelber auch nicht. Und damit haben
ſie's ſoweit gebracht, weil ich ſelber ſo ein
Schwacher geweſen bin, fo ein ſchwächlicher.
Und ich hab mir eingeredet, das wär in der
Ordnung ſo und wär der Welt Lauf.
„Und dann! Mariann, wie du vor mir
geſtanden biſt und haſt mir all das ins
Geſicht geſchmiſſen, — und haſt das Rind
genommen und biſt fort und haſt mich ſtehen
laſſen, — ja, da hab ich dich gehaßt und hab
nun grad vorwärts gemacht mit der Lena!
Aber dann, an mein'm Hochzeitstag,
da, — da hat's angefangen! Da iſt dad,
was ich bis dahin immer in mir zugedeckt hab,
zuerſt lebendig geworden. Und dann, dann
hat die Vergeltung angefangen. Mit jedem
| Tag, den ich mit der Lena zuſammengelebt
bab’, bat fie mid) mebr gepadt. Dann find
dic Kinder gefommen und geftorben! Die
Lena bat fic) gegramt und gepeinigt, id) bab
immer nur bie Vergeltung gefeben. Denn, —
ad) Mariann, was foll id dir alles fagen!
| Un dem Tag, an dem Wllerfeelentag, wo der
vielleidt ijt die Lena ein befjerer Fürſprecher
Sunge bor mir geftanden bat, — ja, ba ift
alles in mir aufgewiiblt worden, und wie id
beim gefommen bin und bab meine Frau im
Sterben gefunden, und fie hat immerzu nad
dir gefdricen, da bab id gewußt, — jebt,
jebt fommt deine Strafe, erft recht. Was ich
bab ausgeftanden dic Zeit, Mariann, wie die
Yena jo langſam ift weich geworden und bat
all ibren Stolz und Zorn abgelegt, tweil du
jie bezwungen baft, — und du haſt das Kind
48*
756
gebabt, — mein Rind und baft’s gepflegt und
betraut — und wie id) dann der Lena bab
verfpreden müſſen, daß id) dir den Ring
bringe — und daß id) gut maden will, —
und ich bab dod) gewußt, du verachteſt mid
und id) bin ein Lump in deinen Wugen, und
wie bie Lena tot war, und der Tag ijt immer
naber gefommen, two id bab mit dir reden
miijjen, und id) bab gewußt, wenn du's nicht
tuft, Mariann — dann — bann ijt fir mid
alles vorbei! — Dann bin id cin geſchlagener
Menſch mein Leben lang, — weil ich dich gern
bab, Mariann, — weil ich nicht mebr [eben
mag, ohne did.”
€3 war gang jtill in der fleinen Ctube.
Mariann fah unbetweglid. — Zehn Jahre
gingen nod einmal an ihr vorbei, — zehn
Sabre nur, — aber dod cin ganged Leben!
Sie fab auf ben Mann, der da vor ihr ftand, — |
es war nidjt mebr ber Chriſtian bon damals,
es war ein anbderer, cin veriwanbdelter Menſch.
Und fie? — Sie war auch eine andere. Hatte
fie nicht aud) das letzte Jahr bindurd gekämpft,
gerungen? — Wo war ihr Hap, wo ibre
Veradhtung? — Langfam vergangen, dann
verflogen, wie Spreu im Winde. Wie hatte
ber Chrijtian gejagt, ‚weil ich dich gern bab,
Mariann, weil id nicht leben mag, obne
did — —
Wenn fie in ihr Herz fchaute, in die innerſte,
gebeimjte Herjensfammer, was fand fie da?
Was regte fid) da gang leis, ganz heimlich? —
Sie fand nicht fo fdnell die rechte Wnt-
wort.
Da tappten kleine Füße, — cin kräftiger
Rindertritt und cin unfiderer, leiſerer.
Die Tür flinfte, die Kinder famen.
Der Junge führte das Kleine, das, fo
ſchnell es fonnte, auf Mariann zuwackelte:
„Datti — — Dati”.
Cie umidlang das Kind heftiq und bob
Marian.
Vater. — Wie fchiigend ftellte er fid) vor feine
Mutter.
„Das Linden bleibt bei uns“, fagte er
altilug. „Der Doktor fagt aud, bet uns ijt’s
am beſten“.
Der Müller ftrid) ihm über die Stirn.
€r fab auf das braune Mal, — er fab auf
den ftammigen, gefunden Dungen, auf das
fleine Madchen. Dann nabm er den Qungen
bei ber Hand.
„Wenn ich's nun aber dod) mitnebme. Sob
bin dod fein Vater. Oder — oder wenn ich
die Mutter auc mitnebme. Und did! In
bie Mühle! — Und ihr bleibt ba immer
zuſammen?“ — — —
Der Junge ſah ungewiß von Einem zum
Andern.
„Wenn Mutter will” ſagte er langſam.
„Ja, und dann werd ich dein Vater”.
„Mein Vater?“ — — —
Man ſah, wie ſich in dem Kinderkopf die
Gebdanten kreuzten.
„Mein Vater? — Mein ganz wirklicher
Vater?“
Der Müller nickte und ſah zu Mariann
hinüber. Sie ſchaute den Jungen an mit
geſpannten Augen.
„Grad ſo mein Vater wie dem Tinchen
ſeiner? Und das Tinchen bleibt dann immer
bei uns?“
es hoch. Es drückte ſich feſt an ſie, ſie fühlte
ſein warmes Körperchen, ſeine kalten Händchen.
Der Junge ſah erſtaunt auf den Müller, —
dann erſchrak er, — dads war ja Tinchens
„Immer“.
Er drängte ſich an ſeine Mutter.
„Mutter, willſt du? Du weißt ja, das
Tinchen muß bei uns bleiben, ſonſt wird's
wieder krank. Der Doktor hat's doch geſagt
neulich — Dann, — ja, — dann will id
ibn gum Vater, — wegen dem Linden“. — —
Chriftian faßte Mariann fanft um den
Leib, Sie hatte das Kind nod auf dem Arm.
„Mariann“, fagte er leife, — „ich — ſieh,
| id) will did) nur deinetbalben, deinethalben
gang allen. Uber id) bin ſchon gufrieden,
wenn du mid nimmft, aud) um bes Kindes
willen, — um der zwei Kinder willen.“ — —
Und ba gab fie ihm ibre Hand.
Die keitung eines Kunstsalons als
Frauenerwerb.
Don M. Bekmertny.
Machdrud verboten,) —
Der Kunſtſalon iſt heute eine Sammelſtelle
nicht nur von Gemalden ‘und Statuen, ſondern
aud von all denjenigen Erzeugniſſen ded Kunſt—
gewerbes, die in das Milieu des Haufes gehören.
Der Gedanfe ijt daber febr nabeliegend, dafh Frauen
auf dicfem GHandelsgebiete, wie auf jedem anderen
fich betitigen könnten. Selbftandige Leiterinnen
von Kunſtſalons gibt es jedod noch äußerſt wenige,
obgleich hierbei die Gelegenbeit fiir die weibliche
Selbftindigkcit im GandelSfache ſehr giinftiq ijt.
Bei Anfanf oder Anſchaffung von Bronjen, Bild:
werfen, Gandarbeiten, Schmuckſachen, Deforations:
und Nutzgegenſtänden aller Art läßt fich cine Fiille
künſtleriſchen Verſtändniſſes und — deforativer
Pbhantafie entfalten. Außerdem ift der Betrieb
eines Kunſtſalons nod mannigfader Ausdehnung
|
fabig, indem er Wuftrage auf ganze Simmer und |
Wohnungseinridtungen und aud auf die Reno-
vicrung alter Musftattungen übernehmen fann.
Es gehören feine grofen Mittel gu cinem der:
artigen Unternehmen, da die Runftgegenftinde
meiftend in Kommiffion gegeben werden. Gebildete
Frauen der Geſellſchaft fonnen bei diefer Betätigung
gualeich die allgemeine Gefdmadsridtung beben
und die Kunftpfleae fördern. Cine intelligente und
geſchäftlich gewandte junge Dame hat in Hamburg
vor wenigen Sabren fo erfolgreich cinen fleinen
Kunſtſalon erdfinet, dap fie ibm nad Dabresfrift
ſchon cine größere Oeimftitte beforgen mupte. Sie
veranftaltet von Seit gu Beit Kolleftivausftelungen
von den Bildiwerfen bedeutender Meijter, wie 4. B.
von Peter Behrens - Darmftadt u. dergl. m., und
ficfert nach dieſen Muſtern Möbel, Tafelfervice,
Tiſchwäſche, Ornamente oder auch die Nopie der
fompletten, ausgeſtellten Zimmereinrichtung. Ahnlich
wie ein Kunſtſalon iſt auch das Unternehmen per—
manenter kunſtgewerblicher Ausſtellungen, wie es
etwa die „Innenkunſt“ in Altona iſt. Dort finden
ſich in beſtändigem Wechſel alle neuen Erzeugniſſe
auf dem Gebiet der Fraucntoilette, der Wohnungs-
einrichtung 2. Sollte dafür gerade nicht eine
Frau cine geeignete Unterncbmerin fein? Nod
feblt den Frauen im ganjen, und aud) den ver:
mogenden, die fid) einen Wirkungskreis wünſchen,
Mut und Unternehmungstuft. Wher folche, die nad)
Zuriidlegung ciner regelrechten Lehrzeit fic) endlich
aud) auf cigenen Fuß ftellen möchten, die mit
Björnſon denfen: „oh, dieſes Gefühl, nur Daube
zu ſein, ſich nicht ſelbſt zuſammenfügen zu
fonnen . . .! die werden jeden Wink zu einer
ſelbſtändigen Betatigung gern aufnehmen.
+
Die Obits und Gartenbauichule fir
gebildete Frauen
von Frl. Dr Elvira Cajtner in Marienfelde bei
Berlin hat durd) ibre in ciner Reihe von Jahren
erzielten guten Refultate fiir die Gärtnerei als
Frauenberuf babnbredend geivirft. Die von ihr
ausgebildeten Schiilerinnen haben als Leiterinnen
der Gartenwirtſchaft auf Giitern, als Muffeberinnen
von Parks uſw. gute Stellen gefunden. Much fiir
weibliche Angehörige von GutSbefitern oder iiber-
haupt Frauen, die alS Hausfrauen oder Haus:
tichter Gartenwirtidaft in größerem Maßſtab gu
betreiben haben, ift cin Kurſus in Marienfelde febr
gu empfeblen. Um aud) den Sweden des Schul—
gartenS zu dienen, werden im Frühjahr und im
Herbjt Lehrerinnenturfe veranjftaltet, die ſich reger
Beteiligung und des Intereſſes der Regierung
erfreuen.
—
Verein ,, Weiblide Fürſorge“ in Frankfurt a. M.
Im Januar diefes Jahres fonftituierte ſich in
Frankfurt a. M. der Verein ,, Weibliche Fürſorge“.
Derjelbe ift hervorgegangen aus der gleichnamigen
Abteilung des Qsraclitijden Hilfsvereins (E. V.),
die ſchon feit 8 Qabren praktiſche Armenpflege auf
ben verſchiedenſten Gebieten übt. Die erfte Wn:
regung jur Griindung diefer iweiblichen Abteilung
ging von einem Bortrag aus, den Fraulein Berta
Pappenheim im Februar 1901 in einer von den
Herren des HilfSvereins cinberufenen Verſammlung
bielt. Qn diefem Vortrag wurde auf die fittliche
Gefährdung hingewiejen, der die im Beruf ftehenden
jüdiſchen Madchen ausgeſetzt find, eine Erſcheinung,
die parallel geht mit den gleiden Schaden bei der
unter ähnlichen Verbaltnijjen lebenden chriftlichen
Bevölkerung. Das Referat gipfelte in dem Hinweis
auf die Aufgaben, die fich bieraus fiir die jüdiſche
Armenpflege ergeben, zunächſt in der Forderung
einer möglichſt individualifierten Fürſorgetätigleit
gum Schutze der Frauen und Madden. Anfolge
dieſes Vortrags bildete fich ein Damenfomitee, dad
fi als Abteilung des YSraclitijden Hilfsvereins
diefem zur Mitarbeit sur Berfiigung ftellte. Der
Hilfsverein wies geeignete Fille an die ,, Weibliche
Fürſorge“. Hier wurde nun in den regelmäßigen,
etwa alle 14 Tage ftattfindenden Situngen jeder
Fall durchgeſprochen und beraten, zwei Damen mit
Einziehung näherer Snformationen und der weiteren
Bebandlung betraut, tiber die in der nächſten Sitzung
berichtet wurde. So geftaltete fic) der Fall gum
Lehrmittel für alle Damen, wobei aber über der
RKeinarbeit im eingelnen die grofen Gefichtspuntte
nicht verloren geben. Nach eingebender Priifung
geht jeder Fall an den Hilfsverein zurück zur
eventucllen Gewährung der notivendigen Geldmittel,
wibrend die Verwendung derjelben wieder von der
Fürſorge beforgt wird. Diefe ganze Art der Ge:
ſchaftsführung bat ſich nach jeder Richtung bewabrt,
fo daß fie auch, nachbem die Fiirforge felbjtindiger
Verein geworden ift, beibebalien twurde. Qn
finangieller Beziehung ijt und bleibt die ,, Weibliche
Fürſorge“ mit den übrigen fonfeffionellen umd
allgemeinen Wohlfahrtszentren der Stadt Frank:
furt a. M. verknüpft. Die Falle, mit denen fic
bie „Weibliche Fiirforge’ feit den mun 3 Qabren
ibred Beftehens zu beſchäſtigen hatte, find äußerſt
mannigfaltig. Schon im erften Sabre ibred Be—
ftebenS wurde fie bet 35 Fallen in Anſpruch ge.
nomimen, ein Beweis dafiir, welche große Lücke fie |
ausfüllt.
beſteht, wie ſchon geſagt, darin, daß jeder Fall
Die Eigenart der „Weiblichen Fürſorge“
Lehrmittel iſt, daß man in der einzelnen Erſcheinung
das allgemeine Prinzip gu entdechen ſucht und wo—
möglich durch weitergehende Maßregeln Abbilfe
fiir das allgemeine Übel zu ſchaffen ſucht. An dec
Praxis ergab ſich dic Notwendigfeit, innerbalb Des
Komitees cine Reihe von Kommiſſionen zu bilden,
die ſich mit der Bearbeitung beſtimmter Gebiete
befajjen. Es zeigte fic) bald, daß eine wirkſanmte
Fürſorge nur dann durchzuführen ift, wenn fle fied
nicht nur auf die Erivachfenen befchbrantt, ſondern
wenn fie mit allen mdglichen Mitten an der forper-
lichen, geiftigen und fittlichen Erziehung der Jugend
arbeitet. Für die gang Kleinen wurde durch Bildung
einer Säuglingskommiſſion geforgt. Dre e
Rommniffion iiberwadt die Pflege der Säuglinge
unter Leitung der Oberin des Gemeindebholpitals,
ein Argt nimmt von Seit gu eit (vierwodentlicd)
Beſichtigung der Sauglinge vor und forgt ims
RKrankheitsfalle fiir entſprechende Hilfe, im Fallen,
wo bic Mutter nit in der Lage ift, fiir bas Kind
zu forgen, wird es in der Krippe untergebracht. —
Bei größeren Kindern, teils Waiſen, teils unebelichen
Kindern, ſorgt cine Roftfinderfommiffion
dafür, daß ſie in geeigneten Familien, möglichſt
auf dem Lande in religiöſen Familien untergebradt
werden. Die Damen dieſer Kommiſſion befuden
die Koſtlinder von Seit gu Zeit, fontrollieren fowobl
fie als die Pylegeeltern und forgen im Falle un:
qeniigender Verpflegung fiir anderweitige Unterfunft.
Die Hauptjorge des Vereins aber gilt ber ſchul—
entlajfenen weiblichen Jugend. Auf Anregung der
„Weiblichen Fürſorge“ entitand cin ſelbſtändiger
Verein, Mädchenklub, der ſchulentlaſſenen jüdiſchen
Mädchen Abends und an geſchäftsfreien Nachmittagen
ein Heim bietet, wo ſie ſich von der Berufsarbeit
erholen können und die Moͤglichkeit zur Weiterbildung
und gegenſeitigen Anregung finden. Näheres über
den Mädchenklub enthält deſſen erſter Jahresbericht,
der vom Vorſtand des Mädchenklubs, Franffurt a. M.
Fahrgaſſe 146, bezogen werden lann. Aus den
Kreiſen ded Klubs ging nun in jiingfter Beit die
Anregung zur Griindung ciner unentgeltlichen
Stellenvermittlung an die Fiirforge, und dicie
ijt jest in der Organificrung begriffen. Gerade
diefer Kommiſſion werden widtige Aufgaben in bezug
auf die dfonomifde und fittliche Forberung der
weiblichen Sugend jufallen. Es wird die erite
Pflicht der Kommiffion fein, nur nach forgfaltiger
Priifung auf beiben Seiten yur Vermittlung einer
Stelle die Hand gu bieten. Man erivartet auch,
daß es der Fiirforge mit Hilfe dieſer Kommiſſion
in größerem Umfang als bisher ſchon gelingen
wird, dic Mädchen bei der Berufewahl zu becin:
Verfammiungen und Vercine.
fluffen, fie fpegiell vom Hauſierhandel absubringen
und dafur minder gefährlichen Berufen zuzuführen.
In mehreren Fällen konnte die Fürſorge ſchon
cine derartige Beeinfluſſung bewirlen; die be—
treffenden Madden nahmen dann Dienſtſtellen an
und blieben weiterhin in Berbindung mit den Damen
der Fürſorge. Mädchen, die ein Jahr auf einer
von der Fürſorge vermittelten Dienſtſtelle verblieben
find, erhalten cine kleine Prämie vom Hilfsverein.
Geplant iſt auch eine Kommiſſion, der die Fürſorge
fiir Durchreiſende obliegen ſoll. Dieſe Kommiſſion
wird für geeignete Unterfunft von Frauen und
Madchen zu forgen haben und Ausfunft und Rat:
ſchläge fiir die Weiterreife erteilen. Die Kontrolle
liber diefe Abteilung und iby pekuniärer Teil bleiben
nach wie vor in den Handen bes Hilfsvereins. —
Reben all dicfen Fragen, die trotz ibrer allgemeinen |
Bedeutung nur durd) (ofale Kleinarbeit Erledigung
finden fonnen, bat fic) die ,,Weibliche Fiirforge”
noch weitere Siele geftedt, denen nadguftreben tbr
als ſittliche und ſoziale Pflicht erſcheint.
„Weibliche Fürſorge“ hat iby Höchſtes nicht getan,
wenn ſie im einzelnen Fall, wo die Not an ſie
herantritt, Hilfe leiſtet, ſie hat ihre Aufgabe als
jüdiſcher Frauenverein ſelbſt dann noch nicht voll
erfüllt, wenn ſie ſich der hier anſäſſigen Jugend
vorbeugend annimmt, ihr die Begrifſe von Ordnung
und Sittlichleit immer naber zu bringen ſucht.
Bei den befannten traurigen Verhältniſſen, unter
denen die oſteuropäiſchen Suden gu leiden haben,
macht fie eS fic) gur Pflicht gu verfuchen, ſoweit
die Landesgeſetze und die politiſchen Verhältniſſe
es geftatten, auch in diefe Gegenden etwas von
den Segnungen weſtlicher Kultur und Fürſorge—
cinridtungen zu tragen. Darum unternabmen im
Sommer vorigen Jabres Fraulein Berta Pappenbeim
und Fraulein Dr Sara Rabinowiti im Auftrage
des Israelitiſchen Hilfsvercind cine ſechswöchige
Studienreiſe nach Galizien. Sie ſammelten dort
reichliches Material, um die Verhältniſſe beurteilen
und einer eventuell von Weſteuropa aus eingeleiteten
Hilfsaltion Richtung und Ziel geben zu können.
(Naheres über dieſe Reiſe enthält der Bericht darüber:
Sur Lage der jüdiſchen Bevöllerung in Galizien,
Reiſeeindrücke und Vorſchläge zur Beſſerung der Ver:
hältniſſe, von Berta
Rabinowitſch, Frankfurt a. M. 1904, Neuer Frank—
furter Verlag.)
Der erſte praktiſche Verſuch zur Beeinfluſſung
jener jüdiſchen Völkermaſſen wird die Verſendung
eines hygieniſch-ſittlichen Flugblatts nad Galizien
fein, In direftem Zuſammenhang mit dieſen Auf—
gaben ſteht die Tätigleit, die die Belämpfung des
Mädchenhandels ſeitens aller jüdiſchen Vereinigungen
fordert. In dieſer Erkenntnis beſtellte der Hilfs—
verein zwei Delegierte aus dem Kreiſe der „Weiblichen
Fürſorge“ zu dem im vergangenen Herbſt hier
ſtattgehabten Kongreß zur Beklämpfung des Madden:
handels. — Je mehr man ſich mit der jüdiſchen
ſozialen Hilfsarbeit beſchäftigt, um ſo deutlicher
erkennt man, wie es fiir bie einzelnen jüdiſchen
Die |
ppenbetm und Dr Sara
759
Vereine, wenn fie auf ſich allein geſtellt find, un:
möglich ift, fiir die Allgemeinheit Bedeutendes gu
leiſten. Der Gedante de Zuſammenſchluſſes der
jüdiſchen Frauenvereine gum Swed des Ausbaues und
Vertiefung ihrer Uufgaben innerhalb des jüdiſchen
Gemeindelebens wurde befonders der Leitung der
„Weiblichen Fürſorge“ in Frantfurt a. M. immer
flarer, Der Verein hat deShalb, gemeinfam mit dem
„Israelitiſchen Humanitären Frauenverein’ in
Hamburg eine feſte Organiſation der jüdiſchen
Frauenvereine Deutſchlands angeregt und verſpricht
ſich von deren Zuſammenſchluß die größte Förderung
auf allen Gebieten der jüdiſchen Armen⸗ und Wohl—
fahrtspflege. Ein ſolcher Bund wird, abgeſehen
von ſeiner praktiſchen Wirlung, ein geiſtiges Band
zwiſchen den die gleichen Ziele verfolgenden judiſchen
Frauen ganz Deutſchlands bilden. Ebenſo wie die
„Weibliche Fürſorge“ cine Quelle gegenſeitiger
Anregung für ihre Mitglieder iſt, ebenſo wird der
Bund jüdiſcher Frauenvereine, wie ihn die „Weibliche
Fürſorge“ ſich denkt, cin Mittelpunkt fiir alle jüdiſchen
Intereſſen, eine Quelle gegenſeitiger Bereicherung
fiir einen großen Kreis von ſtrebenden Frauen
werden. Sie alle werden bei der gemeinfamen
Tätigkeit immer beſſer erfennen fernen, welche
Wege und Riele fie su verfolgen haben und welche
Aufgaben der Frau unferer Seit, cinerlei, welcher
Konfeſſion fie angebirt, neben Dem Manne in der
Geſellſchaft gejtellt find. R.
Die V. Generalverfammlung des Deutſch—
Evangelijden Franenbundes
ift fiir die Tage ded 14.—17. September nad
Hameln a. d. Weler cinberufen.
Bu den meift öffentlichen Berfammlungen find
alle, die cin Intereſſe an ben dort verbandelten
Fragen nebmen, berglich cingeladen.
Tagegordnung und Wusfunft iibermittelt: Frau
Dr Theillubl, Hameln, Miiblenftrafe, Vorſitzende der
Ortsgruppe Hameln des Deutſch-Evangeliſchen
Frauenbundes.
Am Donnerstag, den 15, September, werden
aufier den üblichen geſchäftlichen Berichten folgende
Themen verhbandelt werden:
„Ausbildung per Jugend fiir foziale Berufe”.
Wraulein A. von Bennigfen-Bennigien, Fraulein
A. von Reeden- Hannover: Walohaujen. — ,,Brauchen
wir cine Frauenbewegung?“ Fraulein M. von Hine
derfim Hannover, — „Ein neuer Frauenberuf —
Paftoralgebilfinnen”. Here Profeffor Zimmer:
Seblendorf.
Mn Freitag, den 16. September, fteben auger
Antragen bes Vorftanded und der Bereine folgende
Gegenftinde auf der Tagesordnung:
„Die Mitwirkung der Frau in der Waiſen—
pilege”. Fraulein Rramers-Bielefeld, Fraulein
M. Dittmer-Hannover. — „Arbeiterinnenorgani—
fation.” Fraulein KL Kihbl- Dresden. — „Die
Mitwirtung der Frau im Kampfe gegen den
Alkohol.“ Frau J. Steinbaujen-Oannover,
SE
Raddrud mit Quellenangabe erlaubt.
* Den Forthildungsfdulswang fiir gewerb-
lide Arbeiterinnen bis gum 18. Lebensjabr durch
Ortsftatut gu ermdglicen, verlangt der Geſetz—
entwurf iiber den faufmannifden und getverbliden
Fortbilbunasunterrict, ben die badifde Regierung
dem Landtag zugehen ließ. Bisher galt dieſe
Beftimmung — fofern ¢3 fic) um gewerb—
liden Unterricht handelte — nur fiir bie Arbeiter.
* Das miediziniſche StaatSeramen beftand
Frl. Joa Margareta Wadhsmuth an der Univerfitat
Leipzig mit der erften Zenſur. In Gießen promo-
bierte als erfte Frau eine Ruffin, Fraulein
Krilitſchewsty, in Chemie.
* Die weibliden Bertranensperjonen der
ſächſiſchen Gewerbe⸗Inſpeltion follen nunmehr in
eigentliche Gewerbe-Inſpektorinnen verwandelt,
bezw. durch ſolche erſetzt werden. Für jede
Kreishauptmannſchaft iſt eine Gewerbe⸗Inſpektorin
mit der Beaufſichtigung der Betriebe, die weibliche
Arbeiter beſchäftigen, ſowie der Ausführung ded
Kinderarbeitsgeſetzes beauftragt. Man hofft, daß
ſich bei dieſem Ausbau der weiblichen Gewerbe—
aufſicht allmaählich bas Vertrauensverhältnis zwiſchen
Inſpektorinnen und Arbeiterinnen herſtellen wird,
das bisher faſt noch nirgends zu erzielen war.
*Für die Zuziehung vow Frauen zur
ſtädtiſchen Armenpflege ſprach fic Stadtrat
Frankenberg in einem längeren Vortrag auf dem
braunſchweigiſchen Städtetag aus, allerdings
mit dem Vorbehalt, daß es ſich nicht „um ſelb—
ſtändige Befugniſſe, ſondern um helfende Beteiligung“
handeln ſolle. In Braunſchweig ſelbſt iſt ſeit
einem Jahr der Verſuch einer Zuziehung der Frauen
in dieſer Form gemacht worden.
* Die badifde Inſpektionsaſſiſtentin Frl.
Dr Baum ijt nunmebr als Fabrifin{peftorin
angeftellt worden.
* Sum ,,Officier d’Académic® iſt die Bor:
figende des Bereins deutſcher Lebrerinnen in
Franlkreich, Frl. Schliemann, von der franzöſiſchen
Regierung ernannt worden.
* Zur voltshygicnifden Bedeutung des Haus:
haltungs: und Fortbildungsſchulunterrichts fiir
Madden. Cine Regierungsfommiffion fiir Groß—
britannien hat fich mit einer Unterjudung iiber
die hygieniſchen Verhaltniffe der niederen Bevdlferung
zu beſchäftigen gebabt, um feftguftellen, ob, wie
vielfad) bebauptet wurde, tatſächlich die Webr:
fähigkeit des Volkes infolge eines allgemeinen
gefundbeitliden Rückganges abnehme. Die Kom:
miffion fab die ſchwerwiegendſte Urſache ber Schäden,
die fie feftftellte, in ber Unwiſſenheit der
Frauen hinſichtlich der Ernährung, Wobhnunge-
hygiene und Kinderpflege. Sie empfahl vor allem
die Einführung von Fortbildungsſchulen, in denen
die Mädchen auf all dieſen Gebieten gründlich
unterrichtet würden.
*Das miediziniſche Inſtitut für Frauen in
Petersburg hat durch ein ſoeben publiziertes Geſetz
eine endgiltige Regelung ſeines Studienganges
und ſeiner Berechtigungen erfahren. Das Geſetz
gewährt den Arztinnen volle Gleichberechtigung
mit männlichen Arzten. Es erfennt ihnen bad
Recht gu, nicht nur das Diplom für bie Wusiibung
der ärztlichen Praxis, fondern auch) den Doltor—
qrad zu erwerben. Diejenigen Madden und
Frauen, die im Auslande ftudiert unb dort den
Doftortitel erworben haben, diirfen obne weiteres
zur ruffifden Staatsprüfung jugelaffen werden.
Der Rulaffung der Studentinnen an bas
mediziniſche Inſtitut fteben nach dent neuen Geſetz
feine bejonderen Schwierigleiten entgegen: dad
Reifegeugnis eines Mädchenghmnaſiums und die
Ablegung ciner nicht allju ſchweren Zuſatzprüfung
geniigen zur Wufnabme in das Inſtitut, voraus:
geſetzt, daß die Aufnahmsbewerberin nicht unter 19
und nicht über 28 Sabre alt und daß fie
feine Jüdin iſt. Iſt fie aber Siidin, fo darf
fie mur dann immatrifuliert werden, wenn
die Sabl der GStubierenden jiidijden Glaubens
an dem Inſtitut 3 v. H. der Geſamtzahl nicht
überſteigt.
— —
„Der doppelte
Maeterlind.
Deutſche iibertragen von Friedrid von Oppeln—
Garten’ von Maurice
Autorifierte Ausgabe in das
PBronifowsti. Berlegt bei Cugen Diedrichs,
Jena und Leipzig 1904. Nicht alles in der
Ueinen Sammlung ijt gleich wertvoll. Sie enthilt
Plaudercien oder ftille Monologe, die ſich an
allerfet alltägliche Dinge und kleine einfache
Erlebniffe tniipfen. Aber es find die Worte eined
Beobachters, dem das bunte Augenblidsleben nur
der bewegliche Vorbang ciner gebeimen Bühne ift,
iiber die das Schickſal febreitet, die glitzernde
Oberfläche eines Waffers von leuchtenden, lebendigen
Tiefen. Ob er fic) finnend und lächelnd in die
LebenSaufgaben und Konflikte des Oundes vertieft, |
der blingeInd, den Kopf zwiſchen den Vorderpfoten,
neben feinem Schreibtiſch liegt, ob er im Automobil
den Rauſch eines unerhörten Sieges über den
Raum feiert, oder in Monte Carlo im Tempel des
Zufalls opfert, immer öffnet er die Perſpeltive
auf den „geheimnisvollen Meg nach innen“. Die
Gedanfen iiber „das moderne Drama", die ethiſche
Betradtung ,der Olzweig“ filbren ant weiteſten
auf diejen Weg. Sie find cin Beifpiel fiir das,
was Macterlind felbft im der erften von ihnen
ſagt: daß fic) die Dinge des Lebens in einem
gelduterten Bewußtſein unendlic) vereinfacden. In
dieſer Einfachheit, die nicht einen Mangel, fondern
vielmehr eine Bertiefung des Bielfiiltigen, der
Nuancen ift, liegt ber Hauptreig auch der Sprache.
Qn ſchlichten Worten klingt doch die Fiille ſeeliſchen
Lebens mit, und ibre Berbindung verrat alle
Feinheit menſchlicher Beobachtung und künſtleriſchen
Sehens.
„Arbeite und bete“ —* Waters). Roman
von George Moore. erfest von Annie
Neumann: Hofer. Egon Fleiſchel und Co.,
Berlin 1904. Der Roman, der bei feinem Erſcheinen
in England vor gerade zehn Jabren einen Sturm
jittlicber Entrüſtung erregte, tritt jest in deutſcher
berſetzung jum erftenmal vor cinen gréferen
Kreis des deutiden Publitums. Es fet voriveg
gefagt, daß dieſe UÜberſetzung ihrer Wufgabe im
pa gerecht wird, wenn aud) gutveilen bei der
Ubertragung der vollstümlichen Sprache durch ein
gu wörtliches Verfabren Anglizismen fteben geblieben
find. ,,Urbeite und bete“ — fo bat der Heraus-
geber Mar Meverfeld den Titel des Romans um:
geändert, da „Eſther Waters” ibm fiir cine deutide
Ausgabe gu ausdrudslos fdien — ijt cin Dienſt—
botenroman. Den deutſchen Lefer wird er ftart
an Klara Viebig ,, Das kägliche Brot” erinnern.
Hier wie dort ift die Helbin das fahlichte, welt:
frembde Dienſtmädchen, das mit der einfachen Welt:
anſchauung, die ber neue Titel von Eſther Waters
ausfpridt, den Rampf mit dem Leben fiir ſich und
ibe Hind durchführt, ſiegreich, wenn auch nit im
Sinne äußeren Boriwartsfommens, fo dod im
Sinne innerer Selbjtbebauptung. Eſther Waters,
der im eingelnen vielleicht noch etwas mehr Romanftil
anbaftet alS Klara Viebigs Naturalismus zuläßt,
hat dod) andererfeits den weiteren ſozialen Horizont
und nach ber Seite der Weltanfchauung eine grofere
Ticfe. Die Entriiftung de3 engliſchen Publifums
von vor zehn Jahren wird man bei uns nicht mebr
beqreifen, wie fie auc in England fic) vor der
Wahrhaftigkeit und dem heiligen Ernft des Buches
hat beugen miiffen. Die fogialen Probleme, die es
beriihrt, fteben jest auf der Tagesordnung — ein
um fo beſſeres Verſtändnis wird der Überſetzung
entgegengebradt werden, die nicht nur cinen
Tendengroman, fondern zugleich eine bedeutende
Erfdheinung der englifden Literatur der Gegenwart
dem deutſchen Publikum darbietet.
„Götz Kraft’. Roman von Edward Stil-
gebauer. Berlag von Ricard Bong, Berlin.
Der vielgelefene Roman einer „Jugend“ verdantt
feine Verbreitung sweifellos nicht feinem künſtleriſchen
Wert. Bm Gegenteil, cine gewiſſe künſtleriſche
Flachheit, cine dilettantifde Breite und Deutlichkeit
hat die Wirhing des Inhalts auf weite Kreife
gewiß unterftiipt. Das eigentlich Pacende darin
ift die Rectheit, mit der das Leben der Gegenwart,
die Ideen, dic bejonders die Sugend beivegen, an:
gefaßt find und cin febr realiſtiſch abgegrenzter Aus—
idnitt unferer Kultur gegeben wird. Als Kultur:
bild, wenn auch vielleicht nicht von fo weitreidender
typiſcher Giltigteit, mie dem Lefer durch die Art
der Darjtellung fuggeriert wird, bat das Buch
Antereffe. Es faßt die großen Faltoren, aus denen
fi) das Schickſal der jungen Generation des fin
de siétcle geftaltete, in einem inbdividucllen Leben
anſchaulich und wirklichkeitstreu zuſammen und
bietet ſo eine „Beichte eines Kindes ſeiner Zeit“,
die als ſolche trotz aller künſtleriſchen Mängel ein
vielfaches Echo finden mußte.
„Oberleutnant Grote’, Roman von Liesbet
Dill, Deutſche Verlagsanftalt. Stuttgart und
Leipzig 1904. Das letzte Jahr bat uns mit
Militarromanen derartig überſchwemmt, daß man
jede3 Buch, dad fic) durch den Titel als folder
fennjeichnet, mit einem gewiſſen Miftrauen auf:
nimmt: wieder cin Kind jener Mode, unter deren
762
Schutz bas Unbedeutendfte um feiner Tendenz
willen feinen Weg ins Publitum findet. ,, Ober:
feutnant Grote” gebdrt nun feinesivegs au dieſer
Klaſſe von Militärromanen. Berubt auc) die Dar:
ftellung bes Milieus auf intimfter Beobacdtung,
fo ift doch died Milieu hier nicht die Hauptſache;
die Hauptſache ijt vielmebr cine Geſchichte von
Triftan und Iſolde, die fo fein in der künſtleriſchen
Darftellung und fo nobel in der menſchlichen Auf—
faffung iſt, daß man den Roman bem Beften ju:
zählt, was in der Frauentiteratur des Jahres
geleiftet ijt. Die Ubermadt der Leidenſchaft in
cinem Paar vornehbmer und gerwifienhafter Menſchen,
dieſes balb unbewußte und in feinen Außerungen
oft rätſelhafte Handeln unter dem Swang einer
ſolchen Macht, die eigentümliche Bangigteit und
Sechwiile ber Stimmung über diefen Menſchen,
all das ift mit ebenfoviel fiinftlerifdem Tat als
feclifcher Feinheit wiedergegeben. Daneben feblt
es der Berfafferin nidt an realiſtiſcher Kraft und
friſchem Qntereffe aud) fiir bas Außerliche und fiir
dic Nebenfiguren, und cine ungewöhnlich qewandte
Technik des Mufbaus bringt dieſe Vorzüge aufs
bejte zur Geltung.
„Wegwende“. Roman von Leonore Fret. —
„Und fie bewegt fid) doch“. Erzählung von
Leonore Frei. Verlag der Frauenrundſchau,
Leipzig 1903. Die beiden Biicher find aus dem
Ringen heraus geſchaffen, das als typiſch fiir die
moderne Frau angefeben werden fann, Das erftere
größere bebanbdelt den Konflikt ciner zur geiftigen
Perjonlichkeit erwachten Frau, die bet einem
anderen das Verſtändnis ju finden glaubt, bas
ibe der Gatte nicht gewähren fann. inter dem
ftiirmifeben Fordern nach freier Entfaltung, binter
ber leidenſchaftlichen UAblebnung eines Zwanges,
den Fein geiſtiges Band mebr- beiligt, ftebt bet der
Verfaſſerin dod cin deutliches Bewußtſein der fitt-
lichen Grenzen, die auch foldem jFordern und
Verwerfen gezogen find. Mag fie fic im einzelnen
in der Art der Seelenfchilderung noc nicht von
dem VBorbild größerer Vorgängerinnen gelöſt haben,
fo pulfiert doch in dem Romane das Leben und
die unmittelbare eigene Crfabrung fo ſtark und
echt, daß man darin cine Gewähr fiir ibre Ent—
widlung ju größerer Selbftindigfcit feben modte. —
Die Heine Erzählung wirkt cin wenig gu programm:
mäßig. Die Tendenz tritt etwas zu ftart bervor;
fie ift Durch die imbdividuelle Charafteriftif der
Heldin und des Helden doch nicht ganz aufgeboben
und überwunden; immerhin wagt es dod) aud
bier die Berfafferin, in das lebendige Leben binein:
gugreifen und friſch zu geftalten, was ibr nab und
wirllich ift.
„Eduard Möriles Briefe’. Herausgegeben
pon Profeffor Dr Karl Fiſcher und Dr Hudolf
Krauß. weiter Band: I841—1s874. Bearbeitet
yon Brofeljor Dr Karl Fifer. Preis broſch.
4M, geb.5 M. Verlag von Otto Elsner, Berlin.
Cine der wertvolljten Gaben des Subilaumsjabres,
bas die Gemeinde Eduard Möriles feiert, iſt die
Ausgabe feiner Briefe, Mus einem im eigentlichſten
Sinne beſchaulichen Yeben, defien Creiqniffe die
Empfindungen, das Leid und das Glück einer ftill
nad innen lauſchenden Seele find, geben Briefe
befonders viel. Sie ſpiegeln den Menſchen und
ben Künſtler in reinen, bellen, harmloſen Auße—
a —
Bücherſchau.
rungen. Man taucht in einen friſchen, würzigem
Erdreich entquellenden Brunnen. Auch der zweite
Band — der erſte iſt in der „Frau“ ſchon ein—
gehend beſprochen — gibt dieſen Eindruck. Denn
die Seele des alternden Dichters bleibt kindlich
friſch und empfänglich. Den größten Teil des
Bandes füllen die Briefe an Gartlaub, die den
Menfden und den Kiinftler in gleicer Annig-
feit und Wärme enthiillen. Auch in die intereffanten
Beziehungen gu Schwind, Theodor Storm leuchten
bie Briefe der Sammlung. Das cigenartig reiche
und ſtille Buch wird auch denen, die feine literariſchen
Intereſſen zu Mörike fiibren, goldene Schätze
erſchließen.
Sozialer Fortſchritt“. Hefte und Flug—
blätter für Vollswirtſchaft und Sozialpolitik.
Leipzig, Felix Dietrich 1904. (Preis pro Heft
0,15 Markt.) WS Heft 12/13 und 15 16 dieſer
Sammlung erfcbeinen zwei Aufſätze, die fic mit
der Frauenfrage beſchäftigen, nämlich einer
pon Anna Pappritz: Die Errichtung von
Wöchnerinnenheimen und Sänglingsaſylen
und einer von William Pember Reeves
über dad politiſche Wabhlredjt der Frauen
in Auſtralien. Der Aufſatz von Anna Pappritz
berubt auf eingehender Kenntnis der beftebenden
Fürſorgeeinrichtungen fiir Wöchnerinnen und
Siuglinge, deren Organifation in ben verfebiedenen
Städten fie in knapper und iiberfichtlicber Form
darlegt. Abr Standpunft yu der ganzen Frage
ijt derfelbe, den fie bereits in cinem Aufſatz der
„Frau“ über dasſelbe Thema gelennzeichnet bat.
Das Bedürfnis zur Errichtung derartiger Anſtalten
eniſpringt vollswirtſchaftlich ſanitaren Griinden und
zugleich den Intereſſen der Sittlichkeitsbewegung.
Sie haben dafiir su ſorgen, daß die Kinderſterblichleit
vermindert werde und nicdt gleich in der Wiege
die Bedingungen einer gefunden körperlichen Ent:
widelung der jungen Generation entjogen werden,
und fie baben der Mutter, vor allem auch der un:
chelichen Mutter, den Halt yu getwabren, der fie
befähigt, ibre Pflicbten in vollem Sinne erfiillen
gu finnen, Der Heinen Schrift iſt die weiteſte
Verbreitung gu wünſchen. — Dasſelbe gilt von
dem Auffats über das politiſche Wablredt der
Frauen; die Brofebiire, deren Sdhreibiveife die
Friſche und Popularitdt engliſcher Flugſchriften
zeigt, behandelt die Geſchichte des Frauenwahlrechts
in den auſtraliſchen Kolonien und, ſoweit bei der
lurzen Zeit, ſeit es beſteht, ſchon von Erfolgen die
Rede fein kann, die Wirkung des Frauenwahlrechts
auf die Titigtcit bes Parlaments Da die Frage
der politiſchen Rechte der Frauen auch bei uns
auf dem Kontinent, wenigſtens in der theoretiſchen
Erörterung, immer baufiger auftaucht, fo diirfte
die aus eigener Beobadtung ſchöpfende Darjtellung
aud fiir uns cinen prattifden Nugen haben.
„Allgemeines Wahlredht und bayriſche Wahl-
reform’, Bon A. Showalter. Kaiſerslautern,
Verlag von Eugen Crufius 1904. Die Broſchüre,
dic im übrigen vorzugsweiſe fiir Bayern ein
fonfretes Qntereffe bat, möchten wir deSbalb an
dieler Stelle erwabnen, weil fie dafiir cintritt,
daß auch die felbftanbdige Frau an der Vollsvertretung
im Landtage beteiligt fein miiffe. Der Berfaffer
beſchränkt ſeinen Standpuntt freilich ausſchließlich
auf den Landtag, mit der oft angeführten und von
Bücherſchau.
und nicht als ſtichhaltig anerfannten Begründung,
daß die Gewährung des Reichstagswahlrechtes die
Konſequenz haben müſſe, daß die Frauen aud
perſönlich fiir die Beſchlüſſe ded Reichstages über
Krieg und Frieden eintreten, eine Auffaſſung des
ſtaatsrechtlichen Zuſammenhangs zwiſchen Wahlrecht
und Wehrpflicht, der wir nicht zuſtimmen. „Die
Beſchlüſſe des Landtages dagegen“, ſagt der Ver—
faſſer, „haben nur materielle oder moraliſche
Konſequenzen und für dieſe beiden iſt auch die
ſelbſtändige Frau Manns genug’’. Angeſichts
der Tatface, daf man bei der Entſcheidung über
die Kaufmannsgericte die Frau nicht einmal fiir
„Manns genug” bielt, thre Beruf dintereffen
offentlich gu vertreten, tft cine folce, wenn auch
eingeſchraänkte Suftimmung zum Frauenftimmredt
fiir ben Landtag ficher beſonders erfreulich.
Ruth’, Erzählung von Lou Andreas:
Salomé. J. G. Cottaſche Buchbandlung, Nachf.
Von der feinften Erzählung von Lou Andreas
ericheint foeben die vierte Auflage. Die gerade
ihr eigentümliche Kunft, das „Zwiſchenland“ feelifd
zu ergriinden, die Pſyche des heranwachſenden
Mädchens an der Grenze des Kindesalters mit all
ihrer heimlichen Sehnſucht, mit ihrem friſchen
Wollen und ihrem bangen Zagen, mit ihrer eigen—
artigen Sprödigkeit und Verſchwiegenheit und ihrem
großen Anlehnungsbedürfnis darzuſtellen — dieſe
Kunſt bat in der Ruth thren ſchönſten und dichteriſch
reinften Musdrud gefunden, Es ijt cin quted
Reichen fiir bad Publifum, daß einem fo feinen
Buch auc der Gubere Erfolg nicht feblt.
„Die Sphing in Trauer“. Roman von
Mar Kreger. Berlin W., F. Fontane & Co.,
1903. Mar Kreger ijt ein guter Erzähler. Qn
mebr fpannender als pſychologiſch vertiefter Dar:
ftellung bat er cin Problem bebandelt, das an ſich
ſchon etwas in gewiſſem Sinne Senfationelles hat.
Gin Mann belaufedt im cinem ſcheintoten Suftande,
der ibn unfabigq macht, irgend cine Lebensauferung
von fic) gu geben, bie Vorgänge, die fich an feinem,
des vermeintlich Toten, Lager abſpielen; er belauſcht
feine Gattin im Geſpräch mit ihrem Meliebten.
Den Anbalt des Romanes bildet min das Ber:
hältnis gwifden den beiden, nachdem er aus feinem
Suftande erwacht ijt. Trogbem er fich ber Bors
gänge an feinem Lager deutlich erinnert, vermag
er doch nicht ibre Gewißheit und die Schuld feiner
Gattin unbedingt yu beweiſen. Sie felbjt iſt die
Spbhinr, die allen Verfuchen, binter ibe Geheimnis
zu kommen, mit tibermenfcblider nervijer Kraft
und Gefebidlichteit ausweicht, bid ihn ſchließlich
ibe freiwilliger Tod über ibre Schuld aufflirt.
Die Geſchichte ft, wie gefagt, feffelnd und in der
Darjtellung dieſes unerträglich gefpannten Ber-
baliniffes geſchict, wenn auch ibre Helden als
Menſchen weder befonders fein, nod beſonders
tief ſind.
„Tiziau“, des Meiſters Gemälde in 230 Ab—
bildungen. Mit einer biographiſchen Einleitung
von Dr Ostar Fiſchel. Stuttgart und Leipzig,
Deutſche Berlagsanftalt. Das Buch erſcheint als
dritter Band der verdienftvollen Ausgabe von
Klaſſikern der Kunft, welche die Deutſche Verlags—
anjtalt untecnommen bat. Sie ift babet von dem
Gedanfen ausgegangen, fiir das Studium ded
763
Künſtlers das vollſtändige Material in quten und
zugleich billigen Reproduftionen darjubieten. Das
Wort, die Beſchreibung gibt nur das unbedingt
Notwendige und itberlaft den Lefer im iibrigen
feinem Auge, ohne feine Unbefangenbeit durch
Urteile und mebr oder weniger fubjeftive Analyſen
und Befdhreibungen des Kunſtwerkes zu beirren.
So gewöhnen dieſe Musgaben daran, nicht iiber
den Riinftler zu lefen, fondern ihn unmittelbar
kennen ju lernen, ibn gang allein durd das Organ
aufjunchmen, an dad feine Ausdrucksmittel fic
wenden: durch das Auge. Wenn bas Unternehmen
in verdientem Mafe die Unterſtützung des Publikums
findet, fo wird es dazu beitragen, in unferen ge:
bildeten Kreiſen cin echteres und ebrlicheres Kunſt—
verſtändnis gu erziehen. Der billige Preis ermöglicht
fiir die ausgezeichnete Sammlung auch weitefte Ber:
breitung. \
„Das Kleid der Frau’, Bon Alfred Mohr:
butter. Cin Beitrag gur fiinftlerifden Geftaltung
des Frauenkleides mit jirfa 70 Abbiloungen aus:
geführter Kleider, 20 Entwiirfen, darunter 8 farbige,
32 farbige Stoffmuſterzuſammenſtellungen und
Buchſchmuck. Verlagsanftalt Alerander Koch, Darm:
ftadt und Leipzig. Das febr gut ausgeftattete
Buch enthalt Entwürfe von van de Velde, Peter
Behrens, Elſe Oppler und einer gangen Reihe in
der künſtleriſchen Kleiderreform woblbetannter Mit:
arbeiter. Es iſt ſelbſtverſtändlich, daß dabei nicht
alles gleichmäßig Beifall verdient; aber im ganzen
bietet das Heft eine gute und vor allen Dingen
vielſeitige Zuſammenſtellung der verſchiedenen
fiinftlerifeben Ideen und Verſuche, die bis jetzt auf
dem Gebiete vorliegen und wird damit alle, die fich
der Reformbewegung anzuſchließen wünſchen, an
ihrer wohl nod) taftenden, aber, im Prinzip ziel—
ſicheren Arbeit aufs befte teilnehmen laſſen.
„Lebeunde Worte und Werke“. Cine Sammlung
von Auswahlbaänden. 4. Band: John Rustin,
„Menſchen untercinander’’, — 5. Band: „Von
rojen cin krentzelein“, Auswahl deuticer Volts:
lieder. Berlag von Karl Robert Langewieſche,
Düſſeldorf. (Preis brofeh. 1,80 Mark, geb. 3 Mark).
Der Verlag hat fich die Wufgabe geftellt, in einer
Sammlung von ganz befonders geſchmackvoll und
fein ausgeftatteten Banden cinem größeren Kreife des
deutſchen Volfes cine Muswahl des Beften gu geben,
was jeine cigene Kultur und die uns verivandte
ber fremben Bolter erzeugt bat. Wn Luther, Ernſt
Morig Wendt und Carlyle ſchließen ſich diefe beiden
Bande, wahrlich eine kräftige und geſunde geiftige
Koſt. Wie in den erften Banden, fo ift auch bier
die Auswahl mit Verftandnis und Geſchick getrofien.
Das trengelcin von den iippigen, bunten Fluren ded
deutſchen Volksliedes ift eines der friſcheſten und
fcbonften, die noch von fleifigen Sammlern oder
begeiſterten Aunſterziehern geflodten find. Der
Rustin-Band bietet tatjadlich aus den zu aphoriſtiſchen
Aussiigen gut geeigneten Werfen des grofen
Popular: Philofophen cine Auswahl, die in feine
edle Lebensanſchauung und {eine feine Lebensanalyſe
cinen lockenden Ginblid gibt. Go werden aud
diefe beiden Bande ibren Rive gut erfitllen; fie
Werden dem, der als wegmüder Wanderer auf den
oft wenig unterbaltfamen Strafen ſeines alltäglichen
Berufes dabinjiebt, bier und da einen friſchen Trunt
lebendigen Wafers reichen.
764 Bücherſchau.
„Berſuche in der Betrachtung farbiger | Lieferungen 3S bis 43 enthalten die Novellen
Wandbilder mit Kindern“ von Kathe Kautzſch—
Leipgig, Verlag von B. G. Teubner. Zu den
befannten Steinzeichnungen, die im Berlag von
Teubner erſchienen find, gibt das Buc cine An—
leitung, wie dad {dine und reiche Anſchauungs—
material fiir Kinder im Sinne der Kunſterziehung
veriwertet iwerden fann. Die Verfaſſerin bringt
fiir ihre Aufgabe eine tüchtige Hinitlerifde Schulung,
cin feines pädagogiſches Taktgefühl und zugleich
jene friſche Begeifterung mit, die gerade auf diefem
Gebiet erft den rechten Lehrer macht. Die Be:
fprechungen werden mander Mutter und mandem
Padagogen gute Dienfte leiften.
Künuſtlerſteinzeichnungen“. Ym Verlag von
BY. G. Teubner erfehienen swei grofe Märchenbilder,
Hänſel und Gretel und Rübezahl, Original: Litho:
qraphicen des unter den grapbhifden Künſtlern
befannten Pragers Emil Orlif; (Preis je 5 Maré).
Beide acigen die befannte fraftige, fernige Manier
der Wandbilder und eine echt künſtleriſch em:
pfundene Ubertragung der Märchenſtimmung
auf das Bild.
Die Mitarbeit der Hausfrau an den
Anfgaben der Vollsgeſundheitspflege“; von
Amalie Eſchle. Verlag der Arztlichen Rundſchau,
Minden. Yn febr popularer Form gibt die Bers
fafferin verftindige Anweiſungen tiber die ſanitären
Aufgaben der Hausfrau und praktiſche Ratſchläge,
wie fie ant beſten gu loſen find. Die {eine Broſchüre
diirfte fic) ale Aufflarungs: und Propagandamittel
im Dienfte vollshygieniſcher Beftrebungen ſehr gut
bewahren.
„Friedrich Spielhagen, Romane“ — Neue
Folge. — Wohlfelle Lieferungsausgabe in 50 Heften
i 35 Pf. Alle vierzehn Tage cine Lieferung
(Verlag von L. Staadmann in Leipzigh. Die |
„Selbſtgerecht“ und „Mesmerismus“, in denen
mehr der Pſychologe als der Politiker und Kultur—
hiſtoriler Spielhagen zu Worte kommt; auch ſie
foe Dichtungen, die der Gegenwart noc etwas ju
agen baben,
„Handbuch des Mädchenſchutzes“ von Dr Wilh.
Lieſe, Freiburg, Charitasverband fiir das fatho-
lifche Deutſchland 1904 (Preis geb. 3 Mark). Das
Handbuch ijt, wie der Verlag ſchon vermuten (apt,
in ausſchließlich katholiſchem Sinne zuſammen—
geſtellt und auf katholiſche Leſer berechnet. Immerhin
gibt es einen Eindruck von der großen charitativen
Tätigkeit, welche gerade von katholiſcher Seite unter
dem Ginfluf der Frauenbewegung und mit an:
erfennendwertem Verſtändnis fiir die wirtſchaftliche
Frauenfrage entfaltet worden ift. Das Buch be:
hanbdelt die verfcbiedenen Berufszweige, beſonders
die Den mittleren und unteren Schichten der Bee
volferung offen ftebenden und gibt Hinweiſe auf
die beftchenden Bereine, Heime, Stellenvermitt:
fungen und anbderiveitigen Fürſorgeeinrichtungen.
Mud die Hauptangaben fiber die BerufSausfichten,
liber Berdienft, Arbeitszeit, gefundheitlide Schädi—
gungen und Gefabren 2c., fowie iiber Ausbildungs—
anjtalten find aufgenommen. Wenn auch felbft-
veritandlid) dag, wads von evangeliſcher oder inter:
fonfeffioneller Seite geſchehen ijt, geaen die fatbo-
liſchen Beftrebungen febr ftarf zurücktritt, fo find
dod in beſchränktem Wage auch aufertatholifde
Quellen fowohl fiir die Darftellung der Berufs—
zweige herangezogen, als auc) interfonfeffionelle
Woblfahrtseinridtungen bier und da erwabnt.
Für latholiſche Lefer dürfte fomit bas Handbuch
durchaus gu empfeblen fein, und auch allen, die in
der ſozialen Fiirjorgetatigteit ſtehen und mit Be:
dürftigen und Ratfudenden aller Konfeffionen in
Berührung fommen, wird es manches Wiſſens—
werte ju bieten haben.
Ddol-Ode!
Jd) will cin Lied gu deinem Preife fingen,
Und ténend foll es in die Weite Flingen,
Mbdol!
Dem edlen Sanger friſchen Mund verlethjt du,
In Glanz und Reinheit Sahn und Gaumen
weihſt du,
Odol!
Aud) Lipp’ und ZFunge ſpüren deinen Segen,
Yon deinem Naß geftarft ju freier'm Regen,
Mdol!
Dem Atem gibft du Peufchen Duft der Blume...
Was foll id) fagen nod) ju deinem Rubme,
Odol!
O mögſt du jedem Menſchenmund auf Erden
Ein Quell der Friſche und Geſundheit werden,
Odol!
—
Bücherſchau. — Anzeigen. 765
Schering’s Makertratt
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vorbebalten; cine Rildfendung nicht bee
ſprochener Biicher ift nit moglich)
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tftery, Wahrung. Berlin 1895, Berlag
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Deut von Helene Dogt. Verlag
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Frauen, Noman aus dem Franzöſiſchen
von A. ride. Preis broſch. 4 Mart,
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Menjh, Ella. Mul Borpofien. Roman
aus meiner Silricher Studentenzeit.
Qoderne Fraucnbiblicthef Nr AIX,
Preis bro. 2 Wart. Verlag der
Frauen⸗ Aund ſchau. Leipgig.
Muſcmer · Niedenführ. Caſar Flaiſchlen.
Beitrag zu einer Gelcdichte der neucren
Literatur. Verlag Egon Fleiſchel & Co,
Qierlin 1903.
Originalrezept. Pitanter
Rippejpeer. — 6 Perjonen,
8—4 Stunden. Man jebneidet
die dide Schwarte und etwa
iiberfliiffiges Fett ab, aber fo,
daß nod cine dünne Fetticdicht
auf dent Fleiſche bleibt, reibt
dieſes mit einer Miſchung von
Salz und weißem Pfeffer leicht
ein, legt es in die Pfanne, gießt
eine Schöpflelle Waſſer, ein Glas
leichten Weißwein und 2 Eßlöffel
guten feinen Eſſig daran, fügt
einige Zitronenſcheiben und ein
Lorbeerblatt dazu und brät das
Fleiſch im Ofen unter häufigem
Begießen gar. Die Sauce muß
ſehr ſorgfältig entfettet werden,
wird dann mit etwas hochbraun
gedünſtetem Mehl und einem
tnappen Glas Madeira verkocht,
mit 8 bid 10 Tropfen Maggi's
Würze vollendet und neben dem
Braten gereicht. v. Bq.
Ausig aue dem
Stellenverm ——— —
deo Aligemeinen deutſchen
£ehrerinuenvereins.
Sentralleiturg:
Seriin W. 57, Culmitrage 5 pt.
1, Für eine böhere Urivatſchule in
Dberfidlefien wird yum 1. Oftober 1904
eine evanacliiche Oberlehrerin oer ala⸗
demiſch gebiloete Lehrerin geſucht file die
Obderftufe. Gebalt 1800 Mart,
2. Ailv eine ſtädtiſche Schule in ber
Proving Poſen wird yum 1. Oftober 1904
cine wiſſenſchaſtlich gepriifte Lebreria
aciudt. Su unterrichten find 20 Rinber.
Webalt 12—15300 Wart.
3, File cin Venfienat tm Sachſen
wird zum 16. Ceprember 1904 cine wijiens
ſchaftlich gepriifte Lehrerin geſucht gum
Unterricht fiir zirka 25 junge Radchen
pon 15 bis 18 Jahren. Sehr angenehme
Stellung. Lehrerin wird Gielegenbeit
geboten, ſich in fremden Sprachen, beſon⸗
ders im Engliſchen auszubilden. F. A. E. 8.
Gehalt nach Ubereinkunft.
4. File cine Familienſchule in Sachſen
wird aun 1. Oktober 1906 cine erfabrene,
wiſſenſchaftlich gepriltte Lebrerin geiucht.
Zu unterrichten find 12 Didoden von
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ierteljabrss, Halbjabrse und Qabresturje. * Wujterfontor.
Stlb, Medaille, + Reue Kurfe: Anf. Jon, April, Juli, Ott. « Penhon im Haufe,
Kassel, evans. Frobvel-Seminar
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guicten, Horten und anderen Arbeitsſeldern ber Diafonie. Näberes durch bie Lciterin
Hanna Mecke ober den Vorfigenden des Ruratoriums: Generaliup, Pleitfer in Kassel.
Dr. Ritschers Wasserheilanstalt, fauterberg (Harz).
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hediirftige, erweitert und neo eingerichtet. S.-R. Dr. Otto Dettmar.
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und cinen Rnaben von 9 Qabren, legteren
nur bid Oftern. Muſik und Latein ere
wunſcht. Gebalt 400 Mare
y &. File cine adlige Familie in Meck⸗
fendurg wird jum 1. Dttober 1904 cine
wiffenfebaftlid) gepriifte Lehrerin aud
guter Familie geſucht gum Unterride filr
cin Madden von 12 Qabren. Muſik ers
wilnfdt. Gehalt 800 Barf, |
9. Filr cine höhere Privatidule in
SHhleswineHolftein wird gum 1. Oftober
1904 eine erfabrene, wiſſenſchaftlich
geprilfte ebrerin geſucht. Engliſch iim
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wochentlich. Gebalt 1300 Mark und
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10. Eine ablige Familie in Pommern
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