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Full text of "Die Frau : Monatsschrift für das gesamte Frauenleben unserer Zeit"

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Inhalt des efffen Jahrganges. 


—Abhandlungen und Schilderungen. 


Aberdeen, Lady. Anſprache bei der Friedensfundgebung des Frauentweltbundes . 
a o Die Frau als fogiale Erjieherin. Anfprace auf dem Anternationalen 


Frauenlongreß gu Berlin 
Baumer, Gertend. Kunfterziehungsfragen 
s * Konfeſſionalismus und aE RO 
” ” „Wie belfe ich meinem Schulklinde?“ 
* * „Von den Königen und ber Krone” . 
‘“ — Der internationale Horizont der ——— (Mit en Bilbdern 


von Frau Marie Stritt und Frau Hedwig Hevl) . 
Gindriide vom Jnternationalen Frauenfongreh 
Fieqhtuer, Dr Frib. Warenhaus- Pathologie . 
Forſter, Helene von. Wie erjieht das Haus fiir das ** Leben? 
Frauklin, E. L. Cin Erziehungsverein von Eltern in England 
ered, W. Jn neuer Spiegelung . 
» o Das Florentiner Bildnis . : 
Freudeuberg, Qfa. Moderne Sittlidhteitaprobleme 2.4% 
Geelmuyden, Raja. Norwegifde Frauen als Wahler und Etndtverorbnete. Uberſetzt 
pon Ida Anders. (Mit Bild) . 
Glasgow, Aun. Sur Statiftif des weibliden Unterridits in a —— — 
Goldmann, Dr jur. Ernſt. Darf der Ehemann die Briefe ſeiner Frau offnen? . 
Sy. - Das Hiichtigungsredt des EChemannes . 
Gottheiner, Dr Glijabeth. Clijabeth Gnaud-Riibne: Die deutſche — um die Jahr 
hundertwende Bice ee es fate, ere 
— Das Gemeindewahlrecht — — 
Haſſe, Elſe. Streifzüge durch die dramatiſche Saifonliteratur . 
— „Vom Studium der Perjinlicfeit . 
Herrmann, Dr Helene. Der junge Herder und die Spradtuntt . —— 
Rafe: Ridthofen, Dr Eliſabeth. Dic Arbeitszeit der Fabrifarbeiterinnen über 16 Sabre 
Kloſtermann, Helene L. Der ſchwediſche Handjertigheitsunterridt und feine — 
Bedeutung 
Krukenberg, Elsbeth. Die Bedeutung ulin “Befteebungen far bie Frauen 
und für die Familie wr Sy Oo Ga cei iu BF vee de, he ok 


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Kurz, Sfolde. Bom Weibe. Aphorismen . 
Lange, Helene. Der Cölner Frauentag . 


= . Die Frauenbetwegung und bas Zecht ae bie Muuerſchaft⸗ 

— Behördliche Inkonſequenzen 

* „Die Hand von der Politik!“. ic is tans, Brg hee? Sa SE ng ee 25 

J Die Beſoldungsverhältniſſe der Lehrerinnen an den königlich 
preußiſchen Seminaren 

Es * Die Frau als Bürgerin ee ee ee ee ee ee ee ee 

" " Das Endziel der Frauenbetwegung. Rede, gebalten auf bem Inter— 


nationalen Frauenkongreß ju Berlin . 
Ludwig, H. Geburtsurfunden vorebelider Kinder . 
Mayreder, Roja. Das fubjeftive Gefdledtsidol . 


Midels, Dr Robert. Die italienifdhe Frau in den Camere del Severe 366. 


Miſch, Dr Georg. Die Suche nad dem freien Weib. Cine Epiſode aus der Saint: 
Cimoniftiiden Bewegung ; 
Miller, Paula. Das Stimmrecht der —— in lirchlichen —— 
Plehn, Anna L. Die Ausſtellung der Malerinnen im Berliner Künſtlerhauſe 
— vn on Weibliche Kunſt und die Frau als Mäcen 
Plothow, Anna. Parifer Woblfabriseinridhtungen 
Poppenberg, Feliz. Deforative Frauenfunft 
eo ~ Seyeffion . ; 
Programm, Das, des iuternationalen Sranentongref es 
Salomon, Alice. Die Nachtarbeit der Frauen 
— * Frauenlöhne 
4 * Berufliche und ſoziale — auf oe —— — 
Schettler, Panl. Des Kohlenzeitalters Anfang und Ende . 
Schmidt, A. L. Cine landiwirtfdaftlide Schule fiir Frauen in England F 
String, Martha. Sum gegenivirtigen Ctand der Coebucation in den Bereinla ies 
Staaten po an Sa we hc tet TS, 
* J Irdiſche und himmliſche Liebe. Eine Studie über zwei Dichtungen 
Weber, Marianne. Die Beteiligung der Frau an der Wiſſenſchaft. Vortrag, gebalten 
auf dem Qnternationalen Frauenfongreh gu Berlin 
Wengraf, Alice. Gelehrte Frauen der Stadt Bologna . 
Wilbrandt, Dr Robert. Der WU gemeine SelmarkeltertduseStongreG ae 
J Thüringer Weberei. Zugleich ein Wort an die —— 


ingrauphien und Charakteriftiken. 


Bänmer, Gertrud. Thomas Mann, der Didter der Buddenbrools 

Bredow, Maria von. Luije von Cachfen-Weimar. (Mit Bild) . 

red, W. Denlwürdigkeiten eines Wrbeiters ; 

Gerhard, Adele. George Eliots und George Cands — unter — Geſichts. 
punkt moderner Probleme 

Hainiſch, Mariaune. Marie von Najmajers Feſtiage 


299 
669 
293 
114 


238 
621 


641 
489 
303 
453 


354 


Herrmann, Dr phil. Helene, Annette von Drofte in ihrem Naturempfinden 


" non " Detlev von Liliencrons Kriegslorif 


Hofmann, Marie. Die Anfänge der Sittlichleitsbewegung in Deutfdland. 


Bilde von Gertrud Guillaume-Sdhad) . . 

Lange, Helene. Profeffor Carla Wenkebach. (Mit Bild) 

— J Lady Aberdeen. (Mit Bild) 

F = May Wright Sewall. (Mit Bild) . 

* > Stephan Waeholdt + 

* F Mellien, Marie + . 
Plehu, Muna L. Die neuen Rablecangen pon ‘Riithe Rollwit . 
Poppenberg, Feliz. Die Berwandlungen der Dufe. (Mit Bildbern) . 


— nw Richard Wagners künſtleriſche Sendung. 
Regener, Dr Edgar Alfred. Fidus 
» = a Eduard Miérifes Briefe 


(Mit dem 


Strinz, Martha. Cufan B. Anthony, die Seniorin der — — 


(Mit Bild) 


Rumane, Hauuellen und Skizzen. 


Beaulien, H. vou. Die Sehriftitellerin . 


Buyffe, Cyriel. Die Gartnerdfrau. UÜberſetzt aus Sei Hollandiſchen v von be Sternberg 


” „Teuer erlauft. J —— 
Hildrich, Elſe. Die Arche Noah . 

„Neuntes Gebot 
Ludwig, H. 1. Moſes 3. 


‘r tid 


Midaelis, Garin, Die Raftorstodhter, Aberſeht aus dem Däniſchen von M. Back 
Nordensvan, Georg. Aja. UÜberſetzt aus dem Schwediſchen von E. Stine 


Ploch, M. Die Geſchichte einer Stiftung 
Rex, Ina. Vadder Büto 

»  Diirten Hanns . 
Sdulze- Bri, Lonife. Mariann . 
Siewert, Clijabeth. Ramps Kinder . 


@Bedirhte rr. 


Frei, Leonore. Unverjährbar 
Von Frauen und über Frauen 


Ermerbhatiitigkeit. 


Armenpflegerin, Uber dic Tätigleit einer ſtädtiſchen 


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596. 656. 


. 269. 495. 


Bibliothefarinnenbernf, Cin biograpbhifder Beitrag. Bon Alice Bouſſet 


Bibliotheken, Frauen an wiſſenſchaftlichen, in der Schweize. 


45. 87. 


543. 


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Seite 
544 
714 


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270 
721 
147 
463 
341 
214 
169 
483 
351 
536 
746 
403 


116 
587 


630 
176 
499 


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Sur Frauecnbemegung. 
246, 308, 374, 435. 500. 570. 632, 696. 760 





DWerfumnilungen und Wereine. 


BSüũcher Ichanu· 


Seite 56. 122. 181. 250. 312. 377. 441. 505. 571. 634. 698. 76). 





Wleine Mitteilungen. 


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Anzeigen. 





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B. Roceſer Buddruderei, Berlin 8. 


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Verlag: 
W. Morler Sudhandlung. 


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Vom Weibe.’ 


Aphorismen 
von 


Jfolde Kury. 


Nachdruck verboten. 


S Mann bat durch Zuchtwahl jabrhundertelang die Cigenfdbaften, die feinem 
: Herrſcher- und Befigerinjtingte bequem waren, an der Frau groß gezogen, er 
bat fie jo fange an ibr qepricjen und befungen, bis die Frau in fein Ideal 
bineinwuchs. Er bat moraliſche Hypertrophien gezüchtet und ſich dabei verrechnet, 
denn Prüderie z. B. und Tugend ſind zwei grundverſchiedene Dinge. 

Man hatte fie jo daran gewöhnt, fic Dem vom Manne gepragten Typus anzu— 
bafien, daß fie gar nicht mebr wagte, ibrem Jnitinfte yu folgen, oder ihr Inſtinkt lag 
jelber im Banne der Suggeſtion! Da ijt es denn fo weit gefommen, dah die meiften 
Frauen heutzutage nicht nur nicht wiſſen, wie ſie über eine Sache zu denken haben, 
ſondern nicht einmal, wie ſie fühlen ſollen, bevor ihre Männer ihnen die Richtung 
xben. Man zeige ihnen die Erwartung, daß fie ſich choquiert fühlen, und ſofort 
leßen fie vor Entrüſtung über, wo jie eben noch bereit waren, Beifall zu klatſchen. 


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So lange die Frau wie ein Mond den Mann umkreiſt, daß nur die eine ihm 
igewendete Seite beleuchtet iſt, während nach der anderen unbekannten niemand fragt, 
0 lange ijt es unmiglich, ſich über die Fähigkeiten der weiblichen Natur überhaupt 





‘) Wir machen ſchon jest auf den demnächſt erſcheinenden Aphorismenband „Im Zeichen des 
=tinbods” von Jfolbe Kurz aufmertiam, dem dieſe Mphorismen angehiren werden. 
1 


2 Bom Weibe. 


cin Urteif yu bilden. Man bat bisher dad künſtliche Durchſchnittsprodukt der Töchter— 
ſchule als natürlichen Normaltypus, alle höher gearteten Frauen aber als Ausnahmen, 
gewiſſermaßen als geijtige Mifgeburten, hingeſtellt und ift fo yu einem gang falſchen 
Bilde des Weibes gekommen. Gerade wie wenn man aus dem Mittel der durch Schuh— 
werk verfriippelten Europäerfüße die Norm des menſchlichen Fupes ableiten wollte. 
Was die Frau im Durchſchnitt als Gefellfchaftswejen wert ijt, dariiber fann 
man erft reden, wenn fie fich einmal ungebindert mebrere Generationen bindurd nach 
ihren inneren Gefegen entwidelt bat, — wenn fie endlidy als ein Geftirn erſcheint, 
das fic) um feine eigene Achſe dreht und fein Licht von der gemeinfamen Gonne 
empfängt. 


* * 


Gleichflang gibt feine Harmonic. Es fann in der großen Symphonie der Sufunft 
nicht Aufgabe des Weibes fein, diefelbe Stimme yu fingen wie der Mann. Nur dann 
kann fie die Kultur fordern belfen, wenn fie es wagt, einmal bell und klingend ibre 
cigene Stimme hören ju laffen, von der man erſt vereinjelte Tine vernommen fat. 
Ja, wären nicht die grofen Dichter, die immer cin Doppeltes Geſchlecht haben, fo 
hatte faum je ein Laut die dichte Atmoſphäre, in der die Seele des Weibes lebt, 
burchdrungen. Denn wie die Frau vom öffentlichen Leben ausgeſchloſſen war, fo 
durfte fie auch am häuslichen Herde nicht fie felber ſein: ſie mußte ſich vor dem 
Manne ſcheuen, der ibre Seele ein fiir allemale in bejtimmte, von ibm gefchaffene 
Formen gegoſſen jehen wollte, und nod zehnmal mehr vor ibrem eigenen Geſchlecht, 
das fid) in feiner Maſſe fo gern yum Poliseidiener der Konvention bergibt. Dene 
Grofen haben es der Welt verraten wie der Seber Tirefias, was in den Stunden, da 
jie Weib waren, mit ihnen vorgegangen ijt. WAber auch fie fonnten nur unfer Fühlen 
abnend verdolmetſchen, unfer geijtiges Ich, wer hat es je vertreten? Und wir jelber, 
vertrauen wir ibm zur Stunde ſchon genug, wm damit, nicht beffere, aber andre 
Dinge aus der Natur berauszubolen als der Mann? 


* * 
* 


Was iſt es, wodurch wir uns, im Durchſchnitt, vom Manne zu unſern Gunſten 
unterſcheiden? „Der Inſtinkt“, fo pflegte er bisher mit mißverſtandener Herablaſſung 
gu ſagen, wie man etwa dem Tiere dic Überlegenheit des Inſtinktes zugeſteht. Aber 
wir Diirfen uns das Rompliment gefallen laſſen. Es ijt eine hohe Cache um den 
menſchlichen Inſtinkt. Was fic) dabhinter birgt, ift eine ſtarke pſychologiſche Anlage, 
bie, wo fie ihrer felbft nicht bewupt wird, triebartig wirkt. Dice Gabe, bisher nur 
auf perfinliche Dinge angewandt, bat freilich unfer Gefeblecht in den verdienten Ruf 
der Eleinlichen Berechnung und Ränkeſpinnerei gebradt, in höherem Sinne und in 
weiterer Sphäre wirkend würde fie yur Wohltat fiir die Menfebbeit werden. Denn 
Pſychologie ijt e8, was dem verorrenen Weltgetriebe vor allem not tut, fie müßte 
die Begleiterin des abſtrakten Rechtfinns werden, fie müßte mit ibrer Fadel in alles 
Erziehungsweſen leuchten, fie müßte überall, wo Menſchen jujammenwirfen, der 
firengen Cachlichfeit die Aufſicht führen belfen. 

Niet als ob alle Frauen cine pſychologiſche Anlage hätten und als ob 
allen Mannern dieſe Cigenfebaft mangelte. Es gibt Wanner, die fie im allerhöchſten 
Grade befigen — fonjt gäbe es ja feine Dichter. Allein die Dichter find auch niemals 
die Reprafentanten einer ausgeprigten cinfeitiqen Männlichkeit. Es gibt bervorragende 


Rom Weibe. 3 


Frauen, denen fie gänzlich feblt, aber eben an ibnen Fann man die Probe auf den 
Sak machen, denn es pilegen gerade diejenigen Frauen zu fein, die überhaupt in ibrer 
Handlungs:, ibrer Denk: und Sprechiveife etwas Abjtraftes, Pringipielles haben und 
dadurch ſich dem Wefen des Mannes annähern. Den Sinn fiir die beimlichjten Ur— 
jpriinge des menſchlichen Handelns wird man jedenfalls ald ein typiſches Merfmal der 
weiblicen Natur gelten laſſen müſſen. 


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* 


Dann wird die Frau fret und geachtet fein, wenn man von der bedeutenden 
Leiftung cines Weihes nicht mehr fagen wird, daß es cine männliche Leijtung fei. 
Wie, jum Lohn dafiir, dap fie cud) entzückt und gehoben oder gefördert hat, wollt ibr 
jie ibres Geſchlechts berauben und erklärt fie fiir cin Berfeben der Natur? Es Fann 
nichts Gedanfenloferes geben. Die wabhrbhaft originale Leiftung eines Weibes wird aud 
allemal eine weibliche Leiſtung fein. 

Wenn das taftlofe Kompliment aus Mannermunde fommt, fo ift ¢3 nur als 
woblgemeinte Unſchicklichkeit anzuſehen. Dag aber der Chor der Frauen es nachbetet, 
ftatt dic Perſönlichkeit, an die es gerichtet ijt, nach ibven innerſten Merkmalen fiir fic 
yu reflamicren, ijt cine Selbjtentwiirdigung, es beift mit andern Worten: Was fann 
aus unjerm Armenviertel Gutes tommen! 


— * 
* 


Wenn die ungeheuren Anforderungen der modernen Ziviliſation den Mann 
immer mehr zum Fachmenſchen platt drücken und ihm die Zeit zur humaniſtiſchen Aus— 
rundung beſchränken, ſo muß es Sache der Frau werden, der Menſchheit ihre höchſten 
Erbgüter zu bewahren. Nach dieſem Ziele hat die unaufhaltſam gewordene Frauen— 
bewegung, die zunächſt nur praktiſche Swede verfolgen fonnte, allmählich umzulenken. 
Denn wenn es ſich bei all dem Kraftaufwand immer nur um die Förderung und 
ökonomiſche Sicherung alleinſtehender weiblicher Weſen, alſo um den Ausnahmefall, 
handeln ſollte, ſo wäre der Preis zu klein für ſo viel Mühe. Ein viel höheres Ziel 
muß geſetzt, ein allgemeinerer und viel zwingenderer Notſtand muß gehoben werden: 
wir brauchen eine ſtärkere, adligere, eine kultiviertere Mutter für die künftigen Geſchlechter 
als die Durchſchnittsfrau von heute. 

Bis vor kurzem hießen die höchſten Tugenden der deutſchen Frau Unterwerfung 
und Entſagung. Die deutſche Nation in ihrer langen wirtſchaftlichen Miſoͤre brauchte 
jenen Typus des weiblichen Laſttiers (der nun ſchon der Vergangenheit anzugehören 
beginnt) und deshalb züchtete fie ihn, indem fie ibn mit unbewußter Abſicht zum Ideal 
erhob. Kein andres modernes Kulturvolk hat ein ſo niedriges, nur auf Unterdrückung 
der Perſönlichkeit beruhendes Frauenideal geſchaffen wie das deutſche. Man denke nur 
an Shakeſpeares Frauencharaktere oder an die weiblichen Lieblingsgeſtalten der 
italienifcben Nenaiffance. Aber auch der Deutſche fannte diefes Ddeal der negativen 
Frauentugenden erjt, ſeitdem er e3 brauchte. Die deutfche Cdeldame des Mittelalters 
war fogar gqebildeter als ber Edelmann, und man fand dics nicht unweiblich, fondern 
ganz natürlich: fie batte ja mebr Seit zum Lefen und jum Verkehr mit den wandernden 
Sängern als ibr beſtändig in Raufhändel verivicelter Cheberr. Crit die tiefe, Dauernde 
Verarmung der Nation mit dem Niedergang alles defjen, was das Leben ſchmückt, 
erzeugte jenen Frauentypus, deſſen höchſtes Streben auf Selbjtentiuferung gerichtet 

1* 


4 Rom Weibe. 


war. Sonft pflegen in Zeiten vaterlindifder Not die Frauen iby Geſchmeide darzu— 
bringen. Die deutſche Frau hat viel, viel mehr geopfert: die Grazie, die Eleganz, 
Die Bildung, die geſellſchaftlichen Reize und Talente, und nod andres mebr, das fonft 
allerwärts der Frauen Erbteil ijt. So wurde fie die ungraziöſe, pedantifdre, fleinlice, 
aber niipliche deutſche Hausfrau, deren Mangel an Form ſich beim Sohn aufs Geiftige 
iibertrug, fo daß Formlofigkeit vom deutſchen Geifte unzertrennlich geworden ſchien. 
Nod mebr, fie opferte fogar ibr Gefdlecht: in den Familien, wo die Mittel nur zur 
Ausftattung der Söhne reichten, da wurde fie, obne zu rebellieren, die cinjame, 
lächerlich gemachte, von aller Welt herumgeſtoßene ,,alte Jungfer“. Wan finnte 
ſagen: mit dem gemeinfjamen Sparpfenniq der ,,quten Oausfrau” und der „alten 
Sungfer” ift der große deutſche Gelebrtentypus erzogen worden. Freilich hat diefes 
Opfer der Frauen Deutſchland in feiner ſchlimmſten Zeit über Wafer gebalten und 
ihm feinen boben geijtigen Rang unter den Nationen bewabhrt. Die Tränen aber und 
die Schweißtropfen, die darum vergoffen wurden, bat niemand gezählt. Niemand 
fragt, wieviel blithende, geſunde Geftalten verkümmert und yur Unfruchtbarkeit verdammt, 
in Den Winkel geiworfen wurden, um Stubenhoder groß ju ziehen, aus denen dann in 
taujend Fallen einmal eine Leuchte der Wiſſenſchaft hervorging. 

Heute fteht eS anders. Die negativen Frauentugenden find aud in Deutſchland 
iiberfliifjig geworden, ſeitdem die Nation fid) regen fann. Die deutſche Frau möge 
nun den abgelegten Schmud wieder bervorjuden, um würdig unter ibren Schweſtern 
zu erſcheinen. Uber fie hat noch mehr gu tun als das. Wenn der mäunnliche Geiſt, 
dank der Spezialifierung aller Wiſſenſchaft einmal der Doppelaufgabe nicht mehr ge: 
wachſen fein wird, die neuen wiſſenſchaftlichen Ernten einzuheimſen und die vollen 
Scheunen des Altertums yu bewabren, dann muff} die gebildete Frau an feine Seite 
treten und die Liide filllen. Früher ſchuf er die geijtige Atmoſphäre, und die Frau 
hatte int giinftiqiten Fall als Geniefende daran Teil. Es diirfte eine Zeit fommen, 
wo er ibe gerade auf dieſem Punt als Empfangender gegeniiberiteben wird. Cr 
nehme ihr nur den Kampf ums Dafein, der ihr auf die Linge doch yu bart fein dürfte, 
wieder ab, dafür wird fie ihm Hiiterin dev geiſtigen Schätze werden, wie fie es bisher 
nur Dev materiellen gewefen iſt. Zweifelt nicht, daß fie fich trefflich zu dieſem Amte 
eignen wird. Ihr Geijt ijt nocd jugendlich, unverbraucht, nicht durch tauſendjährigen 
Drill verdorben, ja und ich wage mir cingubilden, dag er überhaupt bei feiner größeren 
Beweglichkeit nicht fo leicht yu verderben ijt. JedenfallS wird er auf lange Beit im 
ftande fein, ſich felbft gegen ein verfebrtes Schulſyſtem ju balten, bis dann endlich 
unter feiner Mitwirkung auch dieſes verkehrte Syſtem gebroden wird, 

Rein Sweifel, die Herfulesarbeiten der Sufunft werden wie die Der Vergangenheit 
vom männlichen Geſchlecht verrictet werden. Der Frau liegt es ob, den würdigen 
Rulturbintergrund fiir die Taten der künftigen Heroen ju febaffen, damit die Menſchheit 
nicht trotz ibrer Gottibnlichfeit in die Barbarei yuriidfalle. Ctwas ähnliches fühlen 
ſchon die Amerikaner von heute, die es richtig finden, daß thre Frauen fich cine feinere 
Bildung aneignen, als ihnen ſelbſt die Geſchäfte gejtatten. Nur dah diefe Bildung, 
weil fie zumeiſt aus literariſchen Modeerzeugniſſen beftebt, der Nation aud bloß 
äußerlich zu gute fommt. Die tief fprudeluden Quellen einer klaſſiſchen Bildung allein 
haben die innere lebenwirkende Kraft. Diefe Bildung muß vont häuslichen Herde 
ausgeben, denn bei Bilderbuch, Lied und Märchen liegt der Anfang aller Kultur, 
Hitter und Herven jind zu Spielfameraden der Kindheit eben gut genug. Dann mag 


Bom Weibe 5 


man immerhin dent Yingling die Seit fiir die klaſſiſchen Studien befebranfen, die 
Mutter bat ibm den Wey nad Rom und Hellas abgefiirzt, und follte ibm je im 
ftrengen Dienſte erafter Wiſſenſchaften cin Teil der ererbten Schätze verloren geben, 
fo muß er fic fpater an feinem eigenen Herde wiederfinden. 

Vielleteht wird Männerſtolz und -Voreingenvmmenbeit ungern cine fo große Macht 
in Die Hande der Frauen übergehen feben. Die einen werden fürchten, daß die Fran 
Herrſchaftsgelüſte bekomme, dic andern, dah die häusliche Bequemlichfeit darunter 
leide. Unbejorgt, ibr Kleingläubigen. Der Geift ijt überall cin gar brauchbares Ding, 
und felbjt fiir die Eleinite häusliche Verrichtung gut. Und was das andre betrifft: 
fo lange es Wanner gibt, war es iby Yos, von Frauen unterjocbt yu fein. Schon 
die Sprade plaudert Diefes Geheimnis aus. Die niedrigite Maitreſſe ijt cine „Ge— 
bieterin”. Iſt es nicht beffer, cine kluge Freundin als eine ſtumpfſinnige Gebieterin 
haben? 

Areilid es bat nocd gute Wege, bevor die Frau dieſe Hobe erjteigt. Was fic 
heute unter dem Titel ded ,, Modernen Weibes” ſpreizt, jene ſeltſame Miſchung von 
Prätenſion und Unzulänglichkeit, die auf wirflides Können nod nicht cingerichtet 
ijt und das Cpferbringen verlernt hat, das ijt cine unreif gefaulte Frucht am Baum 


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der Sivilifation. A — 


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Nietzſche ruft Webe fiber das Weib, das fich vor dem Manne nicht mebr fürchtet. 
Aber wo find denn die Männer, vor denen das Weib ſich heutzutage fürchten kann? 
Tas männliche Jdeal ift dem Weibe zerſtört, jeitdem das Seitalter nur Spezialiſten 
auf jedem Gebicte berangicht und Reuraithenifer die gropen Wortfiibrer find. Sein 
Dämoniſches it vom Manne gewichen, und damit bat alles „Fürchten“ cin Ende. 
Keine Unabbangigfeit des Weibes fann dem Manne den Sauber nefinen, den er auf 
fie ausitht, wenn er ſich nicht felber fein beqibt. Laßt nur einmal cin neues jtarfes 
Geſchlecht von männlichen Mannern kommen, und alle Wusartungen der Frauenbewegung 
werden in ſich zuſammenſinken wie cin Luftkiſſen, dem fein Inhalt entitrdmt. 

Das Fürchten aber wird ein gegenſeitiges fein, wenn die beiden fic) in Zukunft 
finden und jedes vor Dem ihm unbefannten Dimon des andern erjdridt. Denn was 
fann dem Weibe überraſchenderes und größeres begequen, als cin Mann, der diejen 
Namen verdient, was fann dem Manne fremdartiger und bejaubernder kommen als 
das ftarfe, jeiner eigenen Natur bewufte Weib? Wo die zwei ſich begeqnen, da werden 
jie ſich ſo übermächtig anziehen und doc aud) durch ibre innere Verſchiedenheit weit 
genug abſtoßen, dah fle gezwungen find, in Ewigkeit als cit Doppelgeſtirn cing ums 
andre zu ſchwingen. Oder fle werden mit ſolchem Prall zuſammenſtoßen, daß beide 
Teile unter einem Feuerregen in Stücke geben. 

Aber am meijten dabei gewinnen ivird die Poefie, die wieder cinmal große 
Leidenſchaften zu befingen haben wird wie in jenen Tagen der Vergangenbeit, wo 
Mann und Weib cinander die Wage bielten. 


* * 
* 


Die italieniſche Renaiſſance, die mit ihrer gewaltigen Bejahung der Perſönlichkeit 
auch dem Weibe die pofitiven Eigenſchaften abforderte, ſtellte neben ihre grandioſen 
Männergeſtalten fort und fort ebenbürtige herrliche Frauen, die teils ſichtbar, teils 
unſichtbar in das Ringen der Zeit eingriffen. Riemand nannte dieſe Frauen unweiblich, 


6 Die Arbeitszeit der Fabrifarbeiterinnen iiber 16 Jahre. 


denn es war ja gerade die Entfaltung ihrer weiblichen Natur, die jie beredtigte, neben 
die Männer gu treten, wie fieqverleibende Göttinnen neben ibre Heroen, Alle Leiden: 
fcaften wurden aufs höchſte gefpannt und entluden fic) in großen Werfen, in grofen 
Taten und eben folchen Verbrechen. Mus der Anndberung der beiden Gefdbledter in 
diefer gefpannten Atmoſphäre erwuchs cine Menfehenfaat, in der die grofen Genien 
wie Halme aufſchoſſen. Kein Wunder, dah ibre Bahl unendlich wurde, als follte ein 
neues Titanengefdlecht fich iiber die Erde verbreiten, bis die anflutendDe Barbarei dem 
Treiben und Sprojjen ein Ende machte. Sobald min das ftiller werdende Leben das 
Weib auf feine negativen Cigenfdaften zurück verwies und darum aud) fie aufhirte, 
dem Manne fein Außerſtes im Guten und Böſen abjuloden, wurde neben dem 
allgemeinen Rückgang der Nation auch der Genius wieder cin feltener Gajt auf Erden. 
Und von nun an fant mit dem finfenden Rulturniveanu des Landes auch das italieniſche 
Frauenideal und ſank immer tiefer bis auf cin faft orientaliſches Niveau berab, das 
fic) erſt in unfern Tagen, jest aber mit reifender Schnelligheit, wieder ju heben beginnt. 
* * 
* 

Jede begabte Frau ſollte ihrem Geſchlecht cine Wohltat hinterlaſſen wie Fiiriten 

an armen Orten, wo ſie verweilt haben. 


Vie Apbeitszeit der Pabrikarbeiferinnen aber 16 Jahre. 


Mon 
Dr. Elifabeth Jaffe-Richthofen. 


Nadbrud verboten. —— ee 





nter allen Beſtrebungen, die Lage Der Arbeiter zu heben, ſtehen die, welche auf 
J eine Verkürzung der Arbeitszeit hinzielen, an vorderſter Stelle. Vorbedingung 
—2— für die Entfaltung geiſtiger und ſittlicher Kräfte iſt, daß der Menſch nicht bis 
zur Erſchöpfung tagaus, tagein in den Dienſt einer Arbeit geſtellt werde, die noch dazu 
immer nur beſtimmte Funktionen, nie ſein ganzes Weſen in Anſpruch nimmt. Die 
unausgeſetzte Anſpannung des Nervenſyſtems nach einer Richtung hin bringt oft, wenn 
endlich für ein paar Stunden die Freiheit gekommen iſt, das Bedürfnis nach ſtarken 
Reizmitteln mit ſich, um der drohenden Erſchlaffung abzuhelfen; manchmal tritt auch 
ſtatt deſſen cin völliges Sichgehenlaſſen ein, das je nad) dem vorhandenen Kraft— 
quantum ſich in ſtumpfer Mattigkeit oder einem Mbermut äußert, der in Roheit über— 
gehen kann. Die Ruhezeiten können alſo nur dann ihren vollen Wert behalten, wenn 
die vorhergehenden Arbeitsſtunden nicht zu lang waren. Es iſt eine bezeichnende 
Tatſache, dak in den Schichten der Arbeiterſchaft, die am ſchwerſten unter übermäßigen 
Arbeitszeiten leiden, erfolgreiche Verſuche, ein höheres Kulturniveau ju erreichen, am 
wenigſten zu beobachten find. (Ocimarbeiter!) Aber gerade fiir unſere Beit, die mit 
der Erteilung des allgemeinen Wahlrechtes jedem erwachſenen Mann wenigitens die 
Mitentſcheidung über das Wohl der Gefamtheit anbeimftellt, folgert daraus die Not: 


— *2* 


Die Arbeitszeit der Fabrifarbeiterinnen über 16 Yabre. 7 


wendigkeit, alle Klaſſen des Volkes in cine Lage yu feven, die es ermöglicht, über dic 
zunächſt liegende dringende Sorge für die Bedtirfniffe des engiten täglichen Lebens 
den Bic binaus zu richten, um fo auch die Reife fiir die Obliegenheiten als Staata- 
bitrger zu erbalten. 

Wenn ſchon aus dieſen Erwägungen heraus die Berechtigung ftaatlicher Cingriffe 
bet überlanger Urbeitsscit der Männer abjuleiten iſt und ſolche auch ftattgefunden 
baben, wo die Selbjthilfe zu ſchwach war, — 3. B. tm Müller- und Bäckergewerbe, bei 
den Angejftellten der offenen Berfaufsftellen, — fo fommen noch ganz andere Fragen 
in Betracht, wo es etch am die Arbeiterinnen handelt. Bon den Frauen, den 
Miittern und Erzieherinnen des fommenden Geſchlechtes, hängt in erfter Linie die 
geiſtige und körperliche Gefundbeit des ganzen Volkes ab. Das Intereſſe der Gefell- 
ſchaft fordert alfo in ganz beſonderem Maße, daß ibre Lebensbedingungen ndtigenfalls 
durch den Staat geregelt werden. Und zwar wird die Notwendigkeit eines ſtarken 
ſtaatlichen Schutzes um ſo einleuchtender, je mehr es ſich herausſtellt, daß die Maſſe 
der Frauen vorerſt unfähig iſt, ſich ſelbſt zu helfen. Die Organiſationen der Arbeiter 
bedeuten heute eine Macht; — die Mehrzahl der Arbeiterinnen wird wohl auf 
abſehbare Zeit durch die Doppellaſt ihrer Pflichten im Beruf und in der Familie in 
jenen „fünften Stand“ hinabgedrückt, der aus ſich heraus den Weg zu beſſeren 
Zuſtänden nicht finden kann. 

So haben denn ſchon ſeit längerer Zeit die ſtaatlichen Vorſchriften ſpeziell zum 
Schutz der weiblichen Arbeiterſchaft eingeſetzt, zuerſt bekanntlich in England, wo ſchon 
1847 der Zehnſtundentag in der Textilinduſtrie eingeführt wurde. In Deutſchland 
war man noch 1869 bei der Beratung der Gewerbeordnung für den norddeutſchen 
Bund völlig befangen in den Doktrinen eines extremen Liberalismus. Man hätte es 
für gefährlich gehalten, die privatrechtliche Natur des Arbeitsvertrages irgendwie 
anzutaſten; ſelbſt ein Antrag auf Wöchnerinnenſchutz mußte damit entſchuldigt werden, 
daß er ja nur dem hilfloſen Kinde zu gute kommen ſolle. 

Seitdem haben ſich freilich die Anſchauungen weſentlich geändert: der Arbeits— 
vertrag rückt immer mehr in die Sphäre des öffentlichen Rechtes; d. h. die prinzipiell 
freie Übereinkunft zwiſchen Arbeitnehmer und Arbeitgeber iſt durch zwingende geſetz— 
liche Beſtimmungen fo eingeſchränkt, daß die dem einen Kontrahenten vertragsmäßig 
zuſtehende Verfügung über die Arbeitskraft des andern durchaus nicht mehr unbegrenzt 
iit und daß UÜbertretungen dieſer Vorſchriften ohne Privatklage anf behördlichem Wege 
dem Gericht zur Kenntnis gebracht werden. Beſonders der jugendlichen und weib— 
lichen Arbeiter hat ſich das Geſetz angenommen und für fle einen Maximalarbeitstag 
eingeführt. Seit 1891 dürfen Arbeiterinnen täglich nicht über 11, an Sonnabenden 
und Vorfeiertagen nicht über 10 Stunden beſchäftigt werden. Es muß ihnen ferner 
cine einſtündige und den verheirateten auf Wunſch eine anderthalbſtündige Mittags— 
pauſe gewährt werden. Allerdings werden dieſe Beſtimmungen durchbrochen durch die 
Möglichkeit, in beſtimmten Fällen Überarbeit zu machen und zwar bis zu 2 Stunden 
an 40 Tagen im Jahr. Stellt fic) bei Saiſoninduſtrien das Bedürfnis nach mehr 
Uberarbeit beraus, fo muß die Arbeitsscit im ganzen Jahr jo geregelt werden, dap 
der Durchſchnitt pro Arbeitstag 11 Stunden nicht überſteigt. Im Intereſſe unferer 
Induſtrie ijt cine gewiſſe Elaſtizität dev geſetzlichen Vorjebrijten nötig; cine 13ſtündige 
Arbeitszeit iſt — auch wenn fie durch eine 85—9ſtündige zu andern Zeiten „aus— 
geglichen“ wird — anerkanntermaßen ju viel. Aber auch den regulären Elfſtundentag 


8 Die Arbeitszeit der Fabrifarbeiterinnen fiber 16 Sabre. 


haben cinfichtige Sozialpolitiker, wie der frühere badiſche Fabrifinjpeftor Woerishoffer, 
ſchon bei feiner Cinfiibrung nur als Stufe ju weiteren Einſchränkungen betrachtet. 

Der 11ſtündige Arbeitstag ſcheint, verglicen mit der Jnanfpruchnabme der 
Dienftboten, Bauerinnen und ungezablter Hausfrauen bis in den gebildeten Mittelſtand 
hinauf, an und für fic) nicht cinmal übermäßig fang. Dabei ijt aber yu bedenfen, 
dah einmal tro der wachſenden Bahl von „Muſterfabriken“, trog aller hygieniſchen 
und techniſchen Fortſchritte, tro® der ftrengen Uberwachung durch die ftaatliche Gewerbe- 
aufſicht die Arbeiterin fait in jeder qroferen Induſtrie gewiſſen geſundheitlichen Gefabren 
ausgeſetzt iit; Staub, ungünſtige Liiftungs- und Temperaturverhältniſſe, Crichiitterungen 
und Maſchinenlärm find oft genug durch den Arbeitsprozeß unvermeidlich bedingt und 
wirfen um fo leichter, als fie Taq fiir Tag unmerklich ihre Wirfung fortſeßen; und 
wo died nicht der Fall it, bleibt doch als zweites die größte Schattenſeite der Fabrik— 
arbeit bejteben: die Einſeitigkeit, die fortgeſetzte Anſpannung nad derjelben Richtung, die 
ftundenlang unverinderte Rirperbaltung. Dadurd werden natiirlich drtliche Reaftionen 
der iibeanjtrengten oder in ihren Funktionen gehemmten Organe bervorgerufen 3. B. 
die jablreichen, durch das beſtändige Cigen bervorgerufenen Beſchwerden — oder es 
treten allgemeine nervöſe Stirungen auf. 

Mit diefen fSrperlichen Schädigungen gehen die geijtigen Hand in Hand: Feder 
Verantwortung und Selbjtindigfeit enthoben, zur Maſchine herabgeſunken — wie 
fann da die Arbeiterin nod viel vom fittlichen Wert der Arbeit fiiblen? Man ftetle 
fic) nur cinmal ihr Dajein vor: Tag fiir Tag an derfelben Stelle figend, dasſelbe 
graue Stiid Wand vor fich, wiederbolt fie mechaniſch und dod) zur angefpannten Auf— 
merkſamkeit genötigt, unermiidlich viele taujend Mal denfelben Handgriff! Das ijt 
iby Tagewerk! Cie bedarf wabrlich, mebr als alle andern arbeitenden Frauen, ciniger 
Stunden, in denen fie fic) ibres Menſchentums bewuft werden fann. 





* * 
* 


Bisher haben wir von der Arbeiterin im allgemeinen geſprochen, ohne die 
Situation der verheirateten beſonders zu beachten. Für ſie fällt der Umſtand doppelt 
ins. Gewicht, dah de Zeit, die fie nicht yu Hauſe zubringen kann, durch Wege und 
eventuelle PBaufen auf 12—13 Stunden verlangert wird; der Geiverbeauffichtsbeamte 
von Potsdant fithrt 3. B. an, daf in feinem Bezirk jablreiche Frauen täglich 14 Stunden 
vor zu Hauje abiwefend find! — Diefe Tatjacsen fprechen fiir fich; ihre Folgen fiir 
das Hausweſen und die Kindererziehung find oft genug erortert worden; an Bedeutung 
gewinnen fie mit Der Zunahme der verheirateten Fabrifarbeiterinnen, die in den meiften 
Induſtriebezirken jegt etwa '/, der Sabl der erwachſenen UArbeiterinnen überhaupt aus— 
maden. — Man hat daber ſchon feit Jabren dev ebeweiblichen Fabrifarbeit in fosial- 
politiſchen Rreifen erhöhte Aufmerkſamkeit gewidmet und fie durch das Geſetz zu 
beſchränken, zum Teil ſogar zu verbieten gewünſcht. Hier mögen neben rein humanitären 
aud andere Motive mitgeſprochen haben: traditionelle Vorſtellungen von dent ans 
Haus gebundenen, natürlichen Wirkungstreis der Frau u. a.m. Jedenfalls waren 
die Cinfliifje, die im Zentrum ibre wirkſamſte politiſche Vertretung fanden, ſtark genug, 
um das ReichSamt des Innern yu veranlafjen, die Geiverbeaufjichtsbeamten für 1899 
mit einer Bericterftattung über die Fabrifarbeit der verbeivateten Arbeiterinnen yu 
beauftragen. Das Refultat war vorherzuſehen geweſen: 1. die großen Nachteile der 
auferbiusticben Beſchäftigung der EChefrauen, Witwen, Verlaffenen und Geſchiedenen 


Die Arbeitszeit der Fabrifarbeiterinnen über 16 Jahre. 9 


liegen hauptſächlich auf wirtſchaftlichem und ſittlichem Gebiet. 2. Die Fabrifarbeit dev 
verbeivateten Frauen ijt meijtens verurſacht durch die Notwendigkeit, die Einnahmen 
der Familie zu vergrifern, fei es, weil der Mann fiir die Erbaltung einer normalen 
Familie nicht genug verdient, fei es, weil der Ernährer überhaupt feblt. Daraus folgt 
weiter, Daf „an einen allgemeinen Ausſchluß der verbeirateteten Frauen von der Fabrik: 
titiqfcit nicht gedacht werden fain. Wo cine ſolche Beſchäftigung wirtſchaftlich nicht 
nötig ijt, wird fle jetzt ſchon gemieden. Wo fie aber durch die wirtſchaftliche Lage der 
Arbeiterfamilie gqeboten ijt, könnte fie nicht ohne tiefgehende Erfchiitterung diefer Lage 
unterjagt werden!) Auch cine Beſchränkung der Arbeitszeit nur fiir verbeiratete 
Arauen war nicht zu empfeblen, ware fie einem völligen Arbeitsverbot in ibver 
Wirkung doch fajt qleichgefommen. Dagegen wiejen damals febon viele Berichterjtatter 
darauf bin, daß cine ſolche Beſchränkung fiir alle, alſo auch die ledigen Arbeiterinnen 
zweckdienlich ſei. Cin groper Teil der letzteren ftebe ja noc im Entiwidelungsalter, 
— die Gewerbeordnung betrachtet allerdings 16 jabrige Mädchen als „Erwachſene“ — 
fiir das cine 11ſtündige tägliche Arbeitszeit ohne weiteres zu viel fei; auch werde 
allein cine Herabſetzung der Arbeitszeit den Mädchen ermöglichen, ſich mehr als bisher 
im Hauſe zu beſchäftigen. 

So hat ſich das Thema geändert, und jetzt iſt die Verkürzung des Normal— 
arbeitstages für alle Arbeiterinnen in den Vordergrund des Intereſſes gerückt. In 
der letztjährigen Generalverſammlung der Geſellſchaft fiir ſoziale Reform zu Cöln 
bildete die Frage den Hauptpunkt der Tagesordnung. Freilich, das Ideal des 
Achtſtundentages ſtand und ſteht noc nicht zur Diskuſſion —, zwangsweiſe Herab- 
ſetzungen der Arbeitszeit können ohne ſchwere Schädigung der Induſtrie immer nur 
vorſichtig, ſchrittweiſe geſchehen und auch dann nur, wenn die freie Entwickelung ſchon 
der Geſetzgebung teilweiſe vorausgeeilt iſt. Zunächſt war demnach der 10ſtündige 
Arbeitstag ins Auge zu faſſen; ſeine Einführung wurde in Cöln von Theoretikern 
und Praktikern lebhaft befürwortet. 

Nachdem die Regierung durch die Erhebungen von 1899 ihrerſeits die Not— 
wendigkeit einer anderweitigen Regelung der Frauenarbeit zugegeben und deren Reſultat 
dieſe Notwendigkeit beſtätigt hatte, mußte auch ſie einen weiteren Vorſtoß unternehmen. 
Cine erneute Enquète wurde im Jahre 1902 angeordnet. Es mag dahingeſtellt 
bleiben, ob ſie nach dem reichen, bereits vorliegenden Material in dem Umfang nötig 
war. Feſtgeſtellt ſollte durch dieſelbe werden: 1. die tatſächliche tägliche Arbeitszeit 
mit beſonderer Berückſichtigung der Sonnabende und der Vorfeiertage, außerdem die 
vänge der Mittagspauſen; 2. ſollte die Zweckmäßigkeit und Durchführbarkeit einer 
Verkürzung der Arbeitszeit durch Herabſetzung auf 10 Stunden täglich, durch Ein— 
führung einer obligatoriſchen anderthalbſtündigen Mittagspauſe und durch die Früher— 
legung des Schluſſes an den Samstagen erörtert werden. Die Antwort auf dieſe 
Fragen liegt nun vor; die kleineren Bundesſtaaten haben ſie den Jahresberichten der 
Gewerbeaufſichtsbeamten als Anhang beigefügt, fiir Preußen find fie in einem ge— 
fonderten Band erſchienen.?) 

* * 


* 


) Siehe Jahresbericht der badiſchen Fabrikinſpeltion für 1899, Karlsruhe. Seite 93. 

Arbeitszeit ber Arbeiterinnen über 16 Jahre in Fabriken und dieſen gleichgeſtellten Anlagen 
nad ben Erhebungen der Königlich preufifden Gewerbeaufſichtsbeamten und Bergbehörden im Jahre 1902, 
Berlin 1903, 


10 Die Arbeitsseit der Fabrifarbciterinnen iiber 16 Jahre. 


Von befonderer Wichtigkeit find in diefen Verdffentlichungen die Angaben über 
die tatſächliche Dauer der Arbeitszcit, aus dem oben genannten Grunde. Seit Jahren 
jind zahlreiche Betriche unter die geſetzlich geſtattete Stundenzahl berabgegangen, weil 
ſich erwieſen hat, daß bei verkürzter Arbeitszeit durch vergrößerte WArbeitsintenfitat 
cin etwaiger Ausfall an Leiſtungen eingeholt, außerdem an Betriebskoſten (Kraft, 
Licht, Heizung) geſpart wird. Qn Preußen haben ſchon jest von zirka 395 000 
Arbeiterinnen 250 000 eine Arbeitszeit von 10 Stunden und weniger. Nur 38 Prozent 
arbeiteten länger als 10 Stunden, in Berlin-Charlottenburg nur zirka 5 Prozent der 
630 264 Beſchäftigten; die durchſchnittliche Arbeitszeit beträgt dort 9'/. Stunden. 
Der badiſche Bericht gibt an, daß fiir mindeſtens 55 Prozent aller Arbeiterinnen 
Die Arbeitszeit 10 Stunden nicht überſchreite, ähnliches gilt fiir Württemberg. Da— 
gegen wird an Sonnabenden im allgemeinen, der Vorſchrift entiyredend, um 9,6 
geſchloſſen. Die anderthalbftiindige Mittagspaufe, die das Geſetz den verbeirateten 


Frauen ſchon jest gewährt wiſſen will — fie wird freilicy oft nicht gefordert, weil 
das unliebſame Folgen haben finnte — ijt in Preußen auch fitr ther 50 Proxent 


dev Arbeiterinnen eingefiibrt; in febr vielen Fabrifen ijt dies aber nur eine Ausnahme— 
einrichtung fiir diejenigen, die cin Hausweſen ju führen haben, obne dak der Betrieh 
fonjt davon berührt würde. 

(ber die Zweckmäßigkeit der geſetzlichen Cinfiibrung des jest ſchon zum 
grofen Teil beftehenden Zebnftundentages find die Berichterſtatter — wie nicht anders 
zu erwarten — ziemlich einer Meinung. Oft ijt die UÜUbereinſtimmung, mit der auf 
die gejundbeitlicen, wirtfchaftlicben und fittlichen Wirfungen ciner ſolchen Maßregel 
hingewiefen wird, faft wörtlich. Der Cilner Bericht ſpricht von einer „Notwendigkeit“ 
(Seite 287 a. a, O.), der Wiirttemberger (IT. Bezirk) ,bejaht die Frage unbedingt”. 
Der Beamte fiir Erfurt fagt (Seite 150 und 151), Fabvrifarbeiterinnen welften im 
allgemeinen ſchneller dahin als andere Frauen und” Mädchen, als Gattin und Mutter 
gingen fie, wenn fie nicht febr kräftig feien, einem allmählichen körperlichen Verfall 
entgegen, Die Herabſetzung der Arbeitsyeit wiirde ihr Los erleichtern. — Im Bericht 
fiir den Bezirk III Wiirttemberg heift es Ceite 209: „Eine Kürzung der Arbeitszeit 
erſcheint auch vom geiftig-fittlichen Standpunft aus notivendig. In weiten Schichten 
der Arbeiterſchaft hat ſich in den letzten Jahren ein ſtarkes Bildungsbedürfnis geltend 
gemacht, das Befriedigung verlangt. Ebenſo iſt das Verlangen nach Familienleben 
erſtarkt. Kommt die Frau früh nach Hauſe, dann hat ſie noch Luſt und Kraft zur 
Arbeit. Bet ſpätem Nachhauſekommen hält fie es nicht mehr der Mühe wert, anzu— 
fangen, kurz, die Haushaltung und bei Ledigen die Kleider kommen herunter, vieles 
wird weggeworfen, dafür vielleicht Geringwertiges mit teurem Geld wieder 
angeſchafft.“ — 

Von beſonderem Intereſſe ſind die Anſichten der Arbeiterinnen ſelbſt. Es fehlt 
unter ihnen nicht an ſolchen, denen eine Verkürzung der erſchöpfenden Fabrikarbeit 
ohne weiteres als wünſchenswert erſchien; im allgemeinen aber werden ſie, wo ſie 
einzeln befragt wurden und nicht nur durch die Vermittelung der ſozialpolitiſch weiter— 
blickenden Organiſationen zu Worte kamen, von dem einen Geſichtspunkt des eventuell 
drohenden Verdienſtausfalles aus geantwortet haben (Württemberger Bericht Seite 209). 
„So kurzſichtig das im erſten Augenblick erſcheint, angeſichts der Tatſache, daß die 
10 bis 20 Pfennige Mehrverdienſt in den meiſten Fallen weit zurüchſtehen gegenüber 
den Opfern an Geſundheit, Kleidern, Ordnung in der Haushaltung und Familie, 


Die Arbeitszeit der Fabrifarbeiterinnen iiber 16 Jahre. li 


ſoweit ſich das alles iiberhaupt in Geld ausdrücken Lift, fo lernt man es veriteben, 
wenn man ficy die Familicnverbaltnifie der YUrbeiterinnen im einjeluen vor Augen 
halt” — die nämlich unter dem Dru der Umſtände ſich fo gejtaltet haben, dap der 
Sinn fir cin geordnetes Hausweſen und Familienleben fajt yu grunde geben mug. 
Auch im badifchen Beridt (Seite 74) wird cin Fall erwähnt, wo cine Mutter von 
6 uncrwadjenen Kindern zu Hauſe nicht genug yu tun yu haben glaubte, und daraus 
mit Recht die Notwendigkeit gefolgert, dafiir Sorge yu tragen, dap die Frauen thren 
naheliegendſten und beiliqiten Bflichten nicht ganz entfremdet werden, — 

Ebenſowenig fann cin anderes Argument, das von den Unternehmern häufig 
vorgebracht wird, gegen die Zweckmäßigkeit der Verkürzung der Arbeitszeit 
fprechen: daß nämlich die jiingeren Arbeiterinnen felbjt lieber eine Stunde linger 
arbeiteten als etwa den Eltern nod in Feld” und Haus zu helfen. Es ift mur zu 
begreiflich, Daf, wenn erſt cine gewiſſe Abjtumpfung cingetreten ijt, die relativ bequeme 
Rabrifarbeit angenebm empfunden wird. Dieſe Arbeiterinnen, denen das Bediirfnis 
nach einer Unterbrechung des den Cinerlei ibrer Tage feblt, gleichen meines Erachtens 
den vielen Frauen des Mittelftandes, denen auch heute nod dic „Handarbeit“ zur 
Ausfüllung ungezählter Stunden geniigt. Es darf eben bei der Behandlung ſolcher 
Fragen nie vergeſſen werden, dah erſtrebenswerte Kulturfortfebritte nicht qleidbedeutend 
yu fein braucen mit zunehmenden fubjeftiven Wnnehmlichfeitsgefiiblen der Einzelnen. 

Neben der Zweckmäßigkeit haben wir nun als zweites nod) die Frage der 
Durchführbarkeit zu erdrtern. Hier treten naturgemäß die Unternehmerintereſſen 
in den Vordergrund, aber auch, ſoweit es fich um etwa cintretende Lohnausfälle handelt, 
die Der einzelnen UArbeiterfamilie. Dabei ijt yu bedenfen, daß im allgemeinen Arbeiter 
und UArbeiterinnen desfelben Betriches auch diefelbe Arbeitszcit haben, daß alfo die 
Einführung des Zebnjtundentages auch fiir zablreiche Männer bedeutungsvoll fein wird. 
Vor allem handelt es ſich darum, inwieweit die wirtſchaftliche Entwidelung der Geſetz— 
gebung den Weg gebahnt hat: wie wir wiſſen, arbeiten heute über die Hälfte aller 
deutſchen Arbeiterinnen ſchon nicht mehr als 10 Stunden. Alſo, möchte man 
argumentieren, wenn dies der Fall iſt, ſo wird wohl der Augenblick zur geſetzlichen, 
zwangsweiſen Einführung einer ſchon fo weit verbreiteten Sitte unbedingt gekommen 
ſein! Liegt nicht eine Ungerechtigkeit darin, wenn rückſtändigen Arbeitgebern noch 
immer erlaubt wird, auf Koſten der Lebenskraft ihrer Arbeiter ſich Vorteile im 
Konkurrenzkampf zu verſchaffen? Allerdings — die Situation wird aber durch eines 
erſchwert: die längere Arbeitszeit findet ſich hauptſächlich in der Textilinduſtrie, die 
ſchon fo wie fo mit Schwierigkeiten su kämpfen bat. Die Außerungen der Fabrikanten, 
vor allem die mitgeteilten Gutachten der Intereſſenverbände, Handelskammern u. ſ. w. — 
flingen denn auch ſehr peſſimiſtiſch. Manche Fabrifinfpeftoren weiſen aber darauf bin, 
bab dieſe Befürchtungen nicht nur fadlich begründet find — natiirlich! Bedeutet 
doch jede weitere ſtaatliche Verkürzung der Arbeitszeit cine Beſchrankung der Macht— 
befugnis des Unternehmers, die immer unangenehm empfunden wird, auch wo der 
Spielraum, den das Geſetz läßt, an und fiir ſich den vorhandenen Bedürfniſſen 
genügt. — Auch die Erfahrungen einzelner und gerade der bedeutendſten Induſtriellen 
ſtehen im Widerſpruch mit dem Gutachten der Korporationen. Zahlreich find die 
Fälle, in denen während der Kriſen der letzten Jahre ſpeziell in Webereien die Arbeits— 
zeit eingeſchränkt wurde, ohne daß der erwünſchte Erfolg, eine Produktionsverminderung, 
eintrat. So dürfen wir wohl annehmen, daß ebenſowenig wie ſeinerzeit beim Ther: 


12 Die Arbeitszeit der Fabrifarbeiterinnen über 16 Jabre. 


gang jum Elfſtundentag auch diesmal die Tertilinduftrie nennensivert geſchädigt wird. 
Nbergangs: und Ausnabmebeftimmungen, befonders fiir Spinnereien, wo aus technifden 
Griinden cine Erhöhung der Arbeitsintenfitat am wenigſten erwartet werden darf, 
werden immerhin am Plage fein, damit follten aber auc die letzten Bedenfen 
ſchwinden. 

Die zweite in Frage kommende Anderung iſt der frühere Schluß an den 
Sonnabenden (in England ijt der ganze Sonnabend Nachmittag frei); er iſt haupt— 
ſächlich als weitere Verkürzung der Arbeitszeit zu betrachten, wir haben alſo dem 
bereits ausgeführten nur nod) weniges hinzuzufügen. Der status quo ijt jedenfalls 
der Cinfiibrung cines halben freien Nachmittags vor den Fejttagen nicht febr günſtig, 
da, wie febon erwähnt, bis jest im allgemeinen die geſetzlich gewährte Frift voll aus: 
qenugt wurde. Wuferdem ware es fiir den Unternebmer unvationell, nach der Mittags- 
pauſe fiir nur etwa 3 Stunden den ganjen Betrieb nod cinmal in Gang qu fegen; doch 
finnte dieſer Schwierigkeit durch Cinfiibrung der fogenannten engliſchen Arbeitszeit 
leicht abgeholfen werden, ſo nämlich, daß an Sonnabenden mit Einführung einer 
kurzen Mittagspauſe bis zum Schluß, etwa um 3, durchgearbeitet würde. Cin weiteres 
Bedenken, das ſehr häufig ins Feld geführt wird, iſt der Umſtand, daß die Männer 
und ledigen Arbeiterinnen von der ihnen zufallenden freien Zeit keinen rechten Gebrauch 
zu machen wüßten, daß Liederlichkeit und Wirtshausbeſuch zunehmen würden. Daß 
auch mit ſolchen Vorkommniſſen gerechnet werden muß, dürfen wir leider nicht bezweifeln. 
Das iſt aber nur ein Grund mehr, nichts unverſucht zu laſſen, was zur ſittlichen 
Hebung unſeres Arbeiterſtandes beitragen kann. Wir ſind uns darüber einig, daß auf 
dem Gebiet der Volkserziehung noch unendlich viel zu geſchehen hat — wie aber ſoll 
dies vor ſich gehen, wenn der Arbeiter von morgens bis abends in der Fabrik feſt— 
gehalten ijt? — Im Intereſſe aller Arbeiterinnen, die ein Hausweſen zu verſorgen 
haben — und das ſind nicht nur die verheirateten — liegt es im höchſten Grade, daß 
ihnen einmal in ſieben Tagen die Zeit gegeben wird, in Ruhe ihren häuslichen Pflichten 
nachzukommen. 

Die obligatoriſche Verlängerung der Mittagspauſe iſt der einzige Reformvorſchlag, 
der überall wenig Anklang findet. Sie hat nur Wert für die Frauen, die nicht durch 
zu weite Wege verhindert ſind, zum Kochen nach Hauſe zu gehen. Für die übrigen, 
ſowie die Mädchen und Männer iſt die lange Mittagspauſe, durch die der Schluß am 
Abend nur hinausgeſchoben wird, unzweckmäßig und unerwünſcht. 

Hoffen wir, daß die Ermittelungen der Fabrikinſpektoren, die fo oft wiederholten 
und begründeten Wünſche aller Sozialpolitiker unferen Arbeiterinnen nun bald cine 
Arbeitsseit zu teil werden laſſen, wie fie England feit 50 Jahren bat und wie fie 
nächſtes Jahr in Frankreich cingefiibrt wird. Grundlagen zu weiteren Fortſchritten 
werden aber alle folche Berbefferungen mur fein, wenn es qelingt, internationale Ber- 
ſtändigungen berbeisufiibren, die unfere Qnduftrie vor dem Wettbewerb von Völkern 
mit rückſtändiger ſozialer Geſetzgebung ſchützen, und wenn unfere Arbeiterſchaft ſelbſt 
in ſtrenger Selbſterziehung, im Glauben an ihre Aufgabe als Glied des Volksganzen, 
einer beſſeren Zukunft die Bahn bereitet. 


Oie Schriftstellerin. 


Skizze 


Nachdruck verboten. 


a Vs was ift aus ben beiden Berge- 
borifs getvorden 7” 
Su einem bebagliden dammerigen Raum 


bon 


t 


wurde diefe Frage gejtellt; cin Heuer {nifterte, 


und der durds Fenſter cinjallende Laternen- 
fein huſchte über Goldrahmen von Familien- 
bildern und alte Mahagonimöbel mit einer 
Vergangenheit. 

Mir gegeniiber ſaß eine Greifin mit Locken— 
jdeiteln, giitigen Mugen, und jeinen Händen 
voll alter Ringe. Wir Hatten eins jener 
Plauderſtündchen, wie es nur mit alten Damen 
möglich ijt, die nod ein Liebevolles Intereſſe 


für die Schidfale derer haben, die dad Leben | 
auf fiirzer oder Langer mit ibnen jufammen: | 


geführt. 

Ich war lange im Auslande geweſen, und 
es intereſſierte mich zu erfahren, was aus 
dieſem und jenem geworden. 

Manche waren geſtorben, einige hatten 
Karriere gemacht, die meiſten vegetierten ſo 
zwiſchen beidem hin. 

— ,,Die beiden Bergedorffs, — warten 
Sie mal, die Hübſche und die Häßliche?“ 

„Ganz recht. Das heißt, ſo häßlich war 
die Häßliche garnicht, aber ſie hießen allgemein 
fo, zum Unterſchied.“ 

„Ich bitte, raten Sie mal! Mir hat es 
immer Spaß gemacht, den jungen Mädchen, 
die ich in die Welt eintreten ſah, ein Prognoſtikon 
qu ſtellen. Den meiſten fann man ihre Zulkunft 
ſo ziemlich vom Geſicht ableſen. Manchmal 
fam es freilich bod) anders. Erinnern Sie 
ſich noch der ſchönen Lüth? Wer hätte nicht 
gedacht, daß ſie eine große Partie machen 
würde? Da mußte der Vater, dicht vorm 
Oberſten, den Abſchied nehmen; ſie zogen in 
eine kleine Stadt, und das Mädchen iſt ſo 








H. v. Beaulieu. 


allgemach verblüht. Sie würden Sie nicht 
wiedererfennen. Eine häßliche, ſpitze, alte 
Jungfer, die keinem jüngern Madden etwas 
gönnt. Verfehlte Karriere, wie der Vater. 
Aber die Bergedorffs haben beide Karriere 
gemacht, jede in ihrer Art. Nun raten Sie 
doch mal!“ 

Einen Augenblick tauchte meine Seele in 
die Vergangenheit. Ich ſah den Ballſaal des 
Kaſinos von B., — ein ſchönes, blühendes 
Mädchen im roſa Kleide, unter einem Roſen— 
kranz ſehr woblirifierte Löckchen, einen immer 
gleichmäßig lächelnden Mund. Und ich hörte 
ſie, bedauernd, aber doch ein klein wenig 
triumphierend ſagen: „Es tut mir leid, aber 
meine Tanzlarte iſt ganz voll, nichts mehr 
frei!“ — 

Und ich ſah ein andres Mädchen, hager, 
bod aufgeſchofſen, ebenfalls in roſa. Aber 
der Roſenkranz ſaß windſchief auf dem etwas 
zerzauſten Haar, die Augen blickten halb ſcheu, 
halb drohend, und die Bemerkungen, die von 
ben etivas ju ftarfen Lippen fielen, waren 
meiſtens geradezu. 

Und dann ſah ich wieder beide Mädchen 
in einer literariſchen Matinee. Es wurde 
moderne Lyrik vorgeleſen. 

Die ſchöne Bergedorff gähnte verſtohlen, 
und ihre Blicke ſchweiften gelangweilt umber. 

Die häßliche Bergedorff ſaß, die Hände 
um die Knie geſchlungen, in ſehr inkorrelter 
Poſe. Ihre Augen brannten, und ihre halb 
geöffneten Lippen bebten, die ganze Geſtalt 
war glithende, zuckende Empfindung. 

Auf einer Landpartie frug jemand 
träumeriſch-ſentimental: „Was wohl in zwanzig 


Jahren aus uns allen geworden ſein 


wird?“ 


14 


, dain bin id längſt tot” rief jemand mit 
Beſtimmtheit. ,,Cine dide alte Dame werde 
id nicht.” 

Das war die hafliche Bergedorff. 

— — „Nun?“ frug die alte Dame. 

— „Die ſchöne Bergedorff hat eine gute 
Partie gemadt.” 

„Richtig, das war ja vorauszufeben.” 

, Und die Häßliche — — die hat gewif 
irgend etwas befondres angefangen. Dit fie 
vielleidt zur Biibne gegangen?” 

„Sie nebmen aber aud) gleich bad Aller— 
argfte an. Gang fo ſchlimm ijt es nidt.” 

„Dann — ſchreibt fie am Ende!“ 

„Richtig. Ich fage 8 ja, mande Madden 
tragen ibr Schickſal gang deutlid) in ihrer 
Perfinlicfeit vorgebildet. Die Theſſa Berge: 
dorff war ja immer etwas bejonders; was 
andre Mädchen intereſſierte, war ihr längſt 
nicht hoch genug. Ich ſelbſt habe ihr manches 
Mal geſagt: Liebes Kind, Sie ſchreiben gewiß 
noch einmal. Ich bin überzeugt, das läge in 
Ihnen. Neulich erinnerte ich ſie noch daran, 
alg wir uns bei Kes trafen, und von alten 
Seiten ſprachen.“ 

„Wie iſt fie denn fonft geworden?“ 

„O wirflid) febr nett. Viel umgänglicher 
und liebenswürdiger als damals jemand von 
ihr gedacht. Cuden Sie fie dod einmal auf. 
Sie batten ja immer ein fleines tendre fiir 
bas gärende Genie.” 

„Ja. Sie intereffierte mid. Cie gab 


Die Sehriftftellerin. 


ganz lebensvoll vor mir in ibrer Fantigen 
Gigenart, den fparlichen, raſch berausfabrenden 
Bemerfungen, mit denen fie fo oft Anſtoß 
erregte. Ich jab ibre haſtigen Betvegungen, 
die wie Auflehnung gegen ein unfidtbares 


| Sod) ausjaben, bas momentane Wufleudten 





den Gindrud von etwas Bedeutendem, das mit | 


ſich rang, fic) nod) nicht licbensiwiirdig geben 
fonnte, aber etwas fiir bie Zukunft verfprad.” 

„Sie baben gang recht gejehen. Ich fann 
Ihnen cin kürzlich von ihr erſchienenes Bud 
geben. G8 liegt bier fogar zur Hand. Ich 
muß zwar gefteben, daß ich felbft es noch nidt 
geleſen habe — ich graule mich etwas vor 
modernen Büchern — aber es wird ſehr 
gelobt.“ — 

Ich nahm das Anerbieten gern an. 
intereſſierte mich, etwas von der häßlichen 
Bergedorff zu leſen. 


Gs | 





ber Augen, das bon febr intenfivem Innen— 
leben ſprach. Ich erinnere mich an ibre fid 
etwas itbertrieben äußernde Beradtung der 
materiellen Seite des Lebens, id) hörte noc 
den ibr von vielen fo veriibelten Ausſpruch: 
Wer an einem Diner von acht Gangen Gefallen 
finden fonne, fei ärger, ald ein Tier, denn 
das äße fic) dod) nur fatt. Sch erinnerte 
mid ihrer Ungeduld ben jeitraubenden Forde- 
tungen der Gefellidaft des Alltags gegeniiber, 
die bon ben meiften von uns nicht cinmal als 
ein Raub empfunden werden, bei vielen fogar 
den Inhalt des Lebens ausmadien. 

Sie ftand ſchließlich mit lebensvoller Deut- 
lidfeit vor mir, und id) nabm ihr Bud mit 
grofer Spannung jur Hand. 

Sh war gefakt auf etwas Exzentriſches, 
nicht künſtleriſch Abgeflartes, etwas, dem ich 
vielleicht nicht würde zuſtimmen fonnen, aber 
id) erwartete auf jeden Fall etwas Originelled, 
Bedcutendes. 

Meine Erwartungen wurden getaufde. 

Es war ein gut gefdbricbenes Buch, dads 
Welts und Menfdenfenntnis verriet, cin Buc, 
das ſich angenchm [a3 und dod gebaltvoller 
war, als viele’, das auf den Markt geworfen 
wird. 

Und bod, und dod! Bon der Thefja 
Bergedorff, der nichts hod) genug twar, von 
der Theffa mit ben aufleuchtenden Augen und 
den Beiwegungen eines gefangenen Wilbvogels 
batte ich andres ertvartet. — 

Wis id) meine alte Freundin twieder fprad, 
fagte fie: „Ich babe der Theffa Bergedorij 
Soren Bejud angemeldet. Sie wird ſich jebr 
freuen. Ganz beftimmt. Geben Cie recht 
bald bin. Heute Mittag treffen Sie fie gum 


| Beifpiel gu Haufe.“ 


Auf bem Heimiwege taudten meine Ge- | 


banfen wieder in die eben beriihrte Ver: 
gangenbeit. Es war fo natiirlich, daß fie 
ſich mit ihr befchajtiqten, deren Geiſteswerk 
id mit mir trug. Das Madden ftand mieder 


Eigentlich hatte ic) ben Beſuch aufgegeben, 
aber nun mußte id) wohl. Und es reizte mid 
bod) ein wenig, zu feben, ob id) nicht in der 
Perſönlichkeit etwas won der alten Theffa 
wiederfinden würde, die id) in dem Bude 
vermipt hatte. Ach bin der Anfiddt, dab 


Die Schriftſtellerin. 16 


Menfden ſich nicht wirflid) andern. Das 
Yeben mag mildern oder febarfen, aber die 
Natur dnbert fic nicht. 

Ich ging bin, und blieb erjt cinen Mugen: 
blick allein im Simmer. Dort fab es aug, 
wie fiberall bei gebildeten Leuten. Wn den 
Wanden Radierungen nad Bilin, aud cin 
paar gute Aquarelle von Landfdaften. Das 
Portrait eines reizenden jungen Mädchens von 
einem befannten Modemaler, Reproduftionen 
pon CSfulpturen, offenbar Grinnerungen an 
eine Stalienreife; ein paar Bücher lagen umber, 
von denen grade gefproden wurde, Wber 
aud eine ftarf jerlefene Fauftausgabe. Ich 
ſchlug untwillfiirlid auf und traf: 

„Setz dir Perriiden auf von Millionen Loden, 
Du bleibft dod) immer was bu bijt.” 
ba trat die Herrin des Hauſes cin. 

Ware ih ihr anderswo begegnet, hatte id 
fie nicht erfannt. 

Theffa Bergedor|f war did geworden. Das 
hagere Geſchöpf mit den brüsken Bewegungen, 
bei ber immer etwas ſchief oder abgeriffen war, 
war jet cine behäbige Dame, gut gefleidet, 
verbindlid ladelnd, mit angenebmen Umgangs- 
formen. 

Sie war wirklich, wie die alte Dame es 
geſagt hatte, „nett“ geworden. 

Wir ſprachen, was man ſo ſpricht. Sie 
hatte im Geſpräch die ſichere Leichtigkeit derer, 
die viel mit mancherlei Menſchen in Berührung 
kommen, viel ſehen und leſen. Natürlich war 


auch von der Vergangenheit die Rede, in der 


ja eigentlich unſre Berührungspunkte lagen. 

„Sie waren immer ſehr gut zu mir,“ ſagte 
ſie. „Und das rechne ich Ihnen hoch an, 
denn ich war damals ein unausſtehliches 
Geſchöpf, das niemand leiden mochte.“ 

„Sie waren in Ihren Gärungsjahren. Es 
iſt natürlich, daß ein junges Geſchöpf, in dem 
Kräfte ringen, die ed ſelber nod nicht recht 
verſteht, kein harmoniſcher Menſch ſein kann. 
Die Menſchen, die wenig in ſich haben, ſind 
viel früher fertig. Ich babe immer etwas von 
Ihnen ertwartet, und id babe Recht bebalten.” 
Sh fagte ibr etwas fiber ihr Bud, dads war 
bod unvermeidlid. 

Es war mir eine Erleidhterung, dah fie, 
wie Leute von gutem Gefdmad tun, raſch 
iiber ihr eigenes Schaffen fortging. Dafür 





erjablte fie mir um fo augfiibrlider und Lieber 
pon ibrer Nichte Evden, dem Urbilbe ded 
lieblichen Mädchenporträts, die ſchon feit zwei 
Jahren ihre Hausgenoſſin war. Es war die Waiſe 
ihres Bruders und wenn aud nicht geſehtlich, 
ſo doch in allem andren ihre Adoptivtochter. 

wait es aud fo ein intelleltuelles, hoch— 
fliegendes, junges Wefen, wie Sie waren?” 
frug ic. 

„Gott fei Danf, nein, fie ift gar nicht 
intelleftuell und unausſtehlich, fondern bold 
und lieb und reizend. Ich babe ibr innerlid 
viel gu danfen, da fie mein Heim mit Schön— 
beit, Jugend und Frobfinn ſchmückt. Natürlich 
werde id) fie bald bergeben miifjen, und dads 
wird nicht leicht fein. Cie miijjen fie jeden: 
fallé fennen lernen. Seien Sie doch, bitte, 
Sonntag unfer lieber Tifdgaft.” 

Ich ging gang benommen nad Haufe. Es 
ift immer cin tvenig verftimmend, wenn man 
eine Liebtingstheorie fahren laſſen muß. Wie 
fonnte ich meine Unfidt, daß die Menfden 
fid nicht ändern, aufrecht balten angeficdts 
der beutigen Erfahrung? 

Die Thefja Bergedorff, bie ich heute gefeben, 
war cine rect umgdnglide, angenebme Dame, 
wie eS viele gibt. So wie ibr Bud. Wirklich, 
Bud und Autorin paften durdaus zu— 
fammen, 

Und das war mir lächerlicherweiſe faft bas 
Verwunderlidfte, daß fie did geworden. 

Sh folgte der Cinladung, fand zwei Gäſte, 
angenebme Durdfdnittsmenfden, vor denen 
bie alte Theſſa davon gelaufen fein toiirde, und 
bie Nidte, ein allerliebjtes, blondes Gefchipf, 
bas mir aber oberfladlid, bumm und egoijtifd 
erſchien, und der vergétternden Liebe der 
Aboptivmutter wenig würdig. Es war cin 
Schaufpiel, wie man es oft findet, dah eine 
Frau blind aufgebt im der Anbetung eines 
andren Geſchöpfes, fei es ein Dann, ein Rind, 
eine Freundin — oder aud ein Hund oder 
cin Ranarienvogel —, cin Schauſpiel, das im 
ganjen riibrend, mandmal etwas fomifd, auf 
die Dauner langweilig wirkt — auf den Dritten. 

Bis zur legten Phaſe fam es bei mir nice. 
Ich erinnerte mid nur mit ftillem Lächeln, 
daß damals Thejias Familie oft über deren 
Mangel an warmeren, zärtlichen Empfindungen 
geklagt hatte. Cie fei ,wie ein Stück Holz“. 


16 


Das Holzſcheit hatte fid) entgiindet. Und 
fie tat mir leid. Denn ich traute dem ver: 
gogenen Kinde ju, dak eS fic) immer wie cin 
ſolches benehmen würde. 

Theſſa machte die liebenswürdigſte Wirtin. 
Das kleine Diner war vorzüglich, und aus den 
Worten der andren Gäſte entnahm ich, daß 
man bei Fraulein von Bergedorff immer aus— 
gefudt gut und opulent fpeije. 

Es drangte fid) mir der damals mit fo 
viel Entrüſtung jitierte Ausſpruch der jungen 
Theffa auf, und ih gab ihn gum beften, gur 
großen Erheiterung. 

Das junge Mädchen rief erſtaunt: „Nein, 
Tantchen, daß du einmal ſo kratzbürſtig geweſen 
biſt! Weißt du, mir iſt es doch lieber, daß 
ich dich erſt ſpäter kennen gelernt habe. Ich 
glaube, damals hätten wir nicht beſonders 
harmoniert.“ 

„Das glaube ich auch, mein Liebling,“ 
fagte dic Tante zärtlich. 

Evchen ging ind Theater. „Es ſieht viel: 
leicht nicht febr höflich aus, aber, nicht wahr, 
Cie nehmen es nicht übel? Es wird gum letzten 
mal ‚Der blinde Paſſagier‘ gegeben, und fie 
wollte es ſo gern ſehen,“ ſagte die Tante ent— 
ſchuldigend. 

Ich verſicherte natürlich, daß ich das ganz 
ſelbſtverſtändlich fände, und wollte mich mit 
den andren Gäſten empfeblen. 

Aber Theſſa bat mich, noch etwas zu bleiben, 
und ich blieb. 

Es war abgeräumt, aber der Wein ſtehen 
geblieben, und wir blieben wie alte Herren bei 
der Flaſche ſitzen. Und Theſſa trank, zwar 
mäßig, aber mit Behagen und ſcheinbar auch 
Verſtändnis. 

Ich erinnerte mich, daß ſie damals einen 
Abſcheu vor Spirituoſen gezeigt, und auch in 
Geſellſchaft nie einen Tropfen getrunken. 

Die alte Theſſa war fort. Menſchen ändern 
ſich dod. 

Ich batte es nicht ſagen wollen, aber ein— 
mal fuhr es mir doch heraus: „Wie haben 
Sie ſich verändert!“ — „Zum Vorteil“, be— 
eilte id) mid) natürlich hinzuzufügen. 

Sie lachte. Und in dieſem verächtlichen 
Lachen fand ich zum erſten Male die alte Theſſa 
wieder. 

„Natürlich verändert man ſich. Man wächſt 


* 





Die Schriftſtellerin. 


oder kriecht in das Leben hinein, das das 
Schickſal uns zubereitet hat. Wir alle ver— 
ändern uns. Sehen Sie dod) die ſchlanken 
Gymnaſiaſten, die vom Olymp herab dem Tell 
zujubeln, und die dickbäuchigen Geheimräte. 
Es iſt unſer aller Los. Doch nein“ — ſie 
ſah mich mit etwas Neid an, — „Sie ſind 
ſchlank geblieben, Sie haben Ihre Ideale noch!“ 

Ich lachte. Wher es koſtete mid etwas. 
„Iſt Magerkeit mit Idealismus identiſch?“ 

„Ja. Es gibt Ausnahmen. Dod ich bin 
leine.“ 

Plötzlich beugte fie ſich vor, fab mid ine 
tenfiv an und fagte beinabe beftig: ,,Sagen 


Cie einmal aufridtig — Cie haben mid ja 
früher gefannt, — haben Cie nicht andres 


yon mir erwartet? Qa, das ift peinlich fiir 
Cie. Ich fann das verjtehen. Uber ich be— 
ſchwöre Sie, antworten Sie mir offen. Haben 
Sie nidt etwas von mir ertwartet ?” 

„Ja“, fagte id) bilflos, ,aber —” 

pRein aber,” fagte fie heftig. „Sie haben 
etwas von mir erwartet. Ich — id aud!” 

Sie atmete ſchwer. 

» Aber was wollen Sie denn? Sie leiſten 
dod) etwas, haben etwas geſchrieben, das von 
Allen gelobt wird,” 

„Das iſt's ja eben. Etwas, dad von Allen 
gelobt wird. Damals aber war mein Traum, 
etwas ju fdreiben, bas von den Wenigen ge— 
lobt würde. Aber diefen Wenigen bin id jetzt 
eine von den Allzuvielen aus dem Kürſchner, 
weiter nichts. Cie haben den Roman gelefen, 
— oder taten Sie nur fo? Nicht? Bitte, dann 
geiteben Sie, daß er Sie enttäuſcht bat, id 
bitte Sie darum!“ 

Sch fenfte den Kopf. 

„Ich merite es Ihnen ja an,“ fagte fie 
beinabe triumpbierend. „Und id möchte Ihnen 
erfliren — nein, einfad) fagen, dag id) felbjt 
am allermeijten über mid enttäuſcht bin. 

Sch erivartete etwas von mir, etwas, dad 
mid) vor denen redtiertigen follte, die mid 
iiberfpannt und verriidt nannten. 

Und ic traumte davon, etwas gan; Grofes 


zu tun. Darüber verſäumte ich manches nabe- 
liegende. Wiſſen Sie, es gibt fo Leute, dic 


immer in Bereitſchaft find, ein Rind aus einem 
brennenden Hauſe yu retten, und während defen 


| bie Suppe überkochen laſſen. 


Die Schriftſtellerin. 


Was id twollte, war mir nod nidt ganz 
flar. Sur Biihne gu geben, erlaubten die 
Gltern nicht. Vielleicht hatte ich es dort ju 
etwas gebracht, vielleiddt aud nidt. Man 
überſchätzt fic) fo rafend in ber Qugend. 

Hatten wir in einer grofen Stadt gelebt, 
würde ich mich wohl mobdernen foxialen Be- 
firebungen angefdlofjen haben, Bei uns 
fannte man fo etwas nidt. Nur Sonntag: 
ſchulen und Suppenanftalten. Das war nichts 
fiir mid. Qn mir war ein Chaos, das gärte, 
rang, fid) aur Welt geftalten wollte, und bas 
Mittel nicht fand. 

Dann tat id, was alle tun: ich ſchrieb. 
Es war das eingige Ventil, was id finden 
tonnte. 

Mit klopfendem Herzen ſchickte id ein paar 
Heine Sachen an nad freien Grundſätzen 
qeleitete Blatter. 

Man drudte fie ab. 

Ich hatte das dunfle Gefiibl, dah fie 
nidt ben Beifall meiner Familie finden 
würden. 

Aber ſo arg hatte ich es nicht erwartet. 

Meine Mutter hatte verweinte Augen und 
ſah mich halb vorwurfsvoll, halb mitleidig 
von der Seite an. Und mein Vater war 
außer ſich. Wir batten eine große Aus— 
einanderſetzung. Er ſagte, ich kompromittierte 
nicht nur mich ſelbſt, ſondern auch meine 
Familie mit folchen Sachen‘. Er gebrauchte 
die ſtärkſten Ausdrücke. Gegen Schriftſtellern 
an und für ſich habe er nichts einzuwenden, 
das täten viele Damen aus den beſten 
Familien. Aber ſo etwas! Das ſei ja ebenſo 
kompromittierend, als wenn ein Sohn zur 
Sozialdemokratie ‚hinabſtieget. Co lange id 
bei ihm im Hauſe lebe, dulde er fo etwas 
nicht; wenn er tot fei, finne id) ja machen; 
was id) wollte! 

Die von Eltern fo beliebte melodramatiſche 
Wendung verfing nidt viel bei mir. Bd 
beugte mic, innerlich knirſchend, dem Recht 
ded Starfern, dag ja faft immer ein Unredt 
ijt. Mir fam auch der abenteuerliche Gedanfe, 
nad Berlin oder Miinden gu geben, in einer 
Dadfammer ju wohnen und zu fdreiben, was 
mir belicbte. 

Aber von den zwanzig Marf oder nod 
weniger, bie bie Zeitungen jablten, fonnte id 





17 


nidt leben, aud) nidt bei meinen damaligen 
Bedürfniſſen. 

Wäre ich ein Junge geweſen, ja dann! 
Uber nod mehr als die materielle ſchreckte 
mid die andre Seite einer ſolchen Exiſtenz. 
Gin junges Madden aus gutem Hause mag 
in ihrer Familie fiir nod fo erxzentriſch 
qelten, — ftellt fie bem wirfliden Leben, 
der Boheme gegeniiber, und die jaghafte 
höhere Todter fommt beraus. 

Ich war eine höhere Tochter — trog 
alledem! 

Das Ärgſte war, — id war ſelbſt ängſt— 
lich geworden. Ich las meine Sachen — heute 
finde ich ſie harmlos genug — wieder und 
wieder, und wußte ſchließlich ſelbſt nicht recht, 
ob fie nicht wirklich etwas gang Entſetz— 
liches ſeien. 

Eine Zeitlang ſchrieb ich gar nicht. Dann 
fing ich wieder an, aber unter dem Druck des 
väterlichen Urteils ftehend. 

Ich ſchickte wieder an liberale Zeitungen 
ein, — die Sachen waren ihnen zu familien⸗ 
blatthaft. Ich ſchickte an Familienblätter, die 
Sachen waren „für die Familie nicht recht ge— 
eignet.“ 

Meine ſchöne Schweſter heiratete einen 
hohen Beamten. Die Verpflichtung, meine 
Familie nicht zu kompromittieren, wuchs. 

Wir waren arm wie Sie wiſſen, und als 
der Vater ſich penſionieren ließ, fab es farg 
bei uns aus. Die Brüder forderten und er— 
hielten ſtandesgemäße Zulagen. 

Da erwachte in mir der Wunſch, Geld zu 
verdienen. Verwandte gaben mir auch zu ver— 
ſtehen, daß fie eigentlich etwas von mir er— 
wartet hätten. Warum ich nicht ſchriebe! 
Ich hätte ſicherlich Talent dazu. Und das 
würde ſo gut bezahlt. Die und die habe für 
eine Novelle bare achthundert Mark bekommen, 
und es ſei gar nicht viel dran geweſen. Das 
könnte ich gewiß auch! — 

Das reizte mich. Ja ich wußte, daß ich 
bas aud) ungefähr fonnte, wenn ich wollte. 
Es war eine große Verſuchung, und ich unterlag. 

Ich fing einen Roman an, zuerſt mehr aus 


Spielerei. Einen Roman nad befanntem 
Mujter. Bistweilen fam der Pferdefuß gum 


Vorſchein, und ich mußte dieſe Stellen nach— 


her übertünchen. 


2 


18 


Schließlich wurde es ein Ganges, nidt 
beffer und ſchlechter als andre. 

Gine grifere Zeitung nabm ibn, und id 
fonnte den Eltern zweitauſend Mark auf den 
Tifh legen. 

Qn der folgenden Nacht weinte ich mid) 
fajt blind. Sd) fiiblte mid) wie Judas, da 
er ben Herrn verfauft. 

Sh hatte mein Belted und Eigenſtes ver: 
raten! 

Das Schredlidjte war, wenn man meinen 
Roman lobte. Criviirgen bitte id die Leute 
finnen, die fo niedrig bon mir badten, bap 
das mein Beftes fei! 

Dod ic gewöhnte mid. 

Sie finnen fic) denfen, wie es dann 
weiterging.” Man betritt nidt ungeftraft eine 
ſchiefe Ebene. 

Dann gelang eS meinem Vater nad grofen 
Mühen, mix einen Stiftspla zu verſchaffen. 

Sh bore nod fein befriedigtes: ‚Nun 
weiß id) dich verjorgt.' 

Cine neue Berpflidtung fiir mid, mid 
mit drijtlid-fonfervativen Grundſätzen nicht 
in Widerfprud au feten. 

Dod wozu foll ih Ihnen alle die Faktoren 
aufjablen, die gebolfen haben, mic) gu dem ju 
machen, was id) bin?” — 

„Verzeihen Sie,“ warf ih ein, ,,aber warum 
baben Gie, nad) dem Tode Ihres Vaters, 
alg Sie gang fret waren, nicht fo geſchrieben, 
wie es Ihnen gemäß war?” 

„Da waren andre Rückſichten. Und — 
man verrät nicht ungeſtraft die Ideale ſeiner 
Jugend. Denn alle Schuld rächt ſich auf 
Erden. In der Jugend könnte man, aber 
man darf nicht. Ym Alter diirjte man, aber 
man fann nit. Das grofe Wollen ift 
verbraudt, Es follte nicht fein, aber aud 
der Mißbrauch zehrt es auf. Manchmal denke 
ich: wenn ich damals getan hätte, was mich 
lockte, die Brücke hinter mir verbrennen und 
mein eigenes Leben leben! — Ob dann alles 
anders gefommen wäre!“ — 

„D hätten Sie doch!“ rief ich aus. „Hätte 
ih Ihnen dod helfen fonnen!” — 

„Glauben Sie?“ frug ſie mit eigentümlichem 
Blick, „daß unter andren Verhältniſſen etwas 
aus mir geworden wäre? Etwas Großes? 

„Ja, dad glaube id.” 


“al 


*R 








Die Schriftſtellerin. 


„Wohl Ihnen. 
nicht.“ 

Ich ſtarrte ſie erſtaunt an. 

„Wenigſtens: id) kann nicht ehrlich ſagen, daß 
ich es glaube, und das iſt das Schredlidfte. Manch⸗ 
mal kommt mir mein ganzer ſchöner Enthufias- 
mus von damals nur vor wie findifde Selbjt- 
überſchätzung. Iſt mein Schidfal nicht vielleicht 
nur ein Wtagslos? Wollen wir nidt alle 
auf unfre Urt die Welt erobern, wenn wir 
zwanzig Jahr alt find? Wer wei, — vielleict 
war id) gar fein grofes Talent, fondern nur 
ein leidenſchaftlicher Charafter. Wen die Gitter 
lieben, dem fcbenfen fie darum einen frühen 
Tod. Shin ijt es, hinzugehen mit dem 
Bedauern um ungetane große Dinge, ebe man 
an fich felbft Enttaufdumgen erlebt hat. Denn 
nicht die Enttaufdungen, die wir an anbdern, 
die wir an uns felber erleben, das find die 
härteſten. Und, wenn ich mir damals meine 
Schajfensjreibeit erjtvitten, bann hatte id ja 
jest nichts, twomit id mid vor mir felber 
etwas entſchuldigen — rechtfertigen fonnte? — 
Es ift fo gut, etwas von bem, was man fid 
jelber ſchuldig geblicben, auf die ,Berbaltniffet 
fhieben ju fonnen. Glauben Sie nur, id) bin 
nicht immer fo aufridtig, aud nidt gegen mid 
jelbjt. Die volle Wahrheit hat etwas Cyniſches, 
und fann nidjt immer ertragen werden. Wber 
eS gibt Momente, in denen fie beraus muß.“ 

„Es gibt einen Wahrheitsfanatismus, ber 
iiber die Wahrheit hinausſchießt und deshalb 
ebenjo wenig twabr ijt, wie das feige Vorbei— 
febleiden an der Wahrheit. Man foll gegen 


3h — ih glaube es 


, einander nicht ungeredt fein, aud) nicht gegen 


fich felbjt, wenn auch eine feltjame Befriedigung 
barin fliegen fann. Mir fonnen Sie die 
Überzeugung nicht rauben, dag es dod) ſchade 
war, und — im Herzen Ihres Herzens glauben 
Sie es ja dod ſelbſt!“ — 

„Wir founen nun einmal nidt gang obne 
Glauben leben”, fagte jie umd dritdte mir fur; 
und feft die Hand. „Ich danke Ihnen. Es 
ift gut, wenn Menſchen uns fagen, daß fie an 
uns glauben, — felbft twenn Cie es nur 
jagen.” 

Mit einem Male fprang fie erfdredt auf 
und lief ans Fenfter. 

„Es regnet“, fagte fie entſetzt, „und Coden 
hat keine Gummiſchuhe!“ 


George Cliots und George Sands Frauenleben unter bem Geſichtspunkt moderner Probleme. 19 


„Die nimmt fid gewif einen Wagen,” | Das Leben nimmt uns viel Großes. Aber 
tréftete ic. es gibt und einiges Kleine dafiir. 

„Ach, bad Rind ift fo forglos. Geftern | Ich fand den Moment zum Gehen gefommen, 
Nacht bhuftete fie mehrmals. Entſchuldigen Und id) wurde nicht zurückgehalten. 





Sie mid einen Augenblid.” Andern ſich die Menfden nun, oder ändern 
Sie lief aufgeregt hinaus und ſchickte | fie ſich nicht? fragte ih mich verivirrt, als 

jemanbden mit den Gummifduben fort. id durch den raufdenden Regen heimwärts 
Ich lächelte ftill fiir mid bin. | ging. — — — — 


—— 


Seorge eliols und George Sands Ppauenleben unter dem 
Sesichtspunkt moderner Probleme.’) — 
Adele Gerhard. 


Radbrud verboten. 





Ip eben den ökonomiſchen Urjachen, die die Frau heute in das CEriverbsleben 
( und fo auch su geiftigen Berufen führen, febeinen mir fiir die Beurteilung 
der qeiftigen Arbeit der Frau zwei Gefichtspunfte maßgebend. Der eine 
iit fozialer Natur: er faht den Kulturwert der weiblichen Leijtung ins Auge und 
vergleicht hiermit, was die Geſamtheit mbglicherweife durch dieſe Leiftung einbüßen fann. 
Der andere Geſichtspunkt iſt der individuelle, fiir den die Erhöhung des perſönlichen 
Glücksgefühls, das Wobhlbefinden des Einzelnen im Vordergrund ftebt. 

Mag nun auch, was ich bier voneinander zu fondern fuche, oft incinander 
fibergreifen und aufeinander rückwirken, fo ift doch unteugbar, daß eine ſoziale 
Betrachtungsweiſe ſchlechthin vor allem die Frage nach dem Rulturwert der geiſtigen 
Arbeit der Frau auhverfen wird. Dieſe Frage fann wobl heute als im zuſtimmenden 
Sine entſchieden betrachtet werden. Es ijt gwar wabr, dak anf beſtimmten Gebieten 
— vor allem wo die Fähigkeit gefebloffener Kompoſition erforderlich ijt — die 
Veiftungen der Frauen noch Flaffende Lücken aufweiſen. Im ganzen aber darf es als 
anerfannt betrachtet werden, daß die Diitarbeit der Frauen neue und ſpezifiſche Werte 
geſchaffen hat und bei genügender Vorbereitung und Eröffnung der Berufssweige in 
nod hiberem Make in der Sufunft febaifen wird. In dem von Fraulein Helene 
Simon und mir verfaften Buch „Mutterſchaft und geiſtige Arbeit” ijt nachgewieſen, 
wie im 16, Jabrbundert die Komponiſten ſich hiiteten, in den Bofalwerfen den Sopran 
zu feiner vollen Höhe yu fithren, weil die Frau als Sangerin vom kirchlichen Kunſt— 
geſang ausgeſchloſſen war — wie alfo die Hinausdrangung der Frau cine 
VBeeintrachtiqung der ſchöpferiſchen Freibeit und Vollkommenheit mit fier brachte. 


1) Bortrag, gebalten in Berlin im Februar 1903 im Berliner Frauenverein, Verein Frauenwohl, 
Bercin ftudierender Frauen. 
Q* 


20 George Clots und George Sands Frauenleben unter dem Gefichtapuntt moderner Probleme. 


Wenn die Unterdriidung der Frauenftimme (wenn bier auc nur als reproduftiver 
Kraft) ſich als Feſſel und Beenqung fiir die ſchöpferiſche Leiftung überbaupt 
gezeigt bat, fo fann diced gewiſſermaßen ſymboliſch aufgefaßt werden. Die Ver— 
bannung und Unterdriidung der Frauenftimme im weiteren Sinn wiirde 
auf den verſchiedenſten Gebieten die Mannigqfaltiqfcit, den Nuancen— 
reichtum weſentlich beeintradtigen und bat ibn in der Bergangenbeit bereits 
vielfach beeinträchtigt. Es ijt bei Allen, die fic iiberbaupt mit dicfem Thema 
eingehend befchaftiqen, faft allgemein anerfannt, dah die Mitwirfung der Frau -auf 
weiten Gebieten — auf dem einen mehr, auf dem anderen minder — cin Neues yu 
geben vermag. Diefes Nene tft eben ein ſpezifiſch Weibliches und hängt mit der 
Sonderorganijation des Weibes aufs engite zuſammen. Ich möchte neben den 
reproduftiven Berufen, wo die Frau freilich bereits vor Jabrbunderten auf dem Plan 
etfcrien, nur auf das Gebiet der fozialen Wiſſenſchaften binweifen, ferner auf das 
Gebiet der Dichtung, fpeziell des Romans, wo neben vieler Spreu dod auc beim 
Weizen folche Frucht zu finden ijt, die den Stempel des ſpezifiſch Weiblichen trägt. 
Die Frage nad einem Rulturwert der geijtiqen Arbeit der Frau darf alſo, wie ich 
ſchon erwabnte, im ganzen als im juftimmenden Sinne entſchieden betrachtet werden, 
mag auc die Frage nach der geiftiqen Leiftungsfabigfeit der Frau auf den verfebiedenen 
Gebieten febr verſchieden beurteilt werden. 

Für den fozialen Gefichtapunft fommt dann weiter in Betract, was die 
Geſamtheit etwa durd die geiftige Arbeit der Frau einbüßen fann — jenes ganze 
weite Gebiet, Das die Frage jum Gegenftand hat, ob die Frau als Erzeugerin und 
Erzieherin des Fommenden Geſchlechts unter der geijtiqen Urbeit leidet. 

Es find ganz andere Ideengänge, denen wir uns zuwenden miifjen, wenn wir 
die Erhöhung des perfinlichen Glücksgefühls, das Woblbefinden des cingelnen oder 
der cingelnen ind Auge faffen. Diefer, der individuelle Gefichtspunft, fibrt uns 
vor die Frage, was die geiftiqe WUrbeit fiir Dad Leben Der Frau bedeutet, führt uns 
zu dem Verhältnis diefer gqeijtigen Arbeit zu ibrem perſönlichen, ibrem Frauenleben. 
Ich glaube nun, daß in dem Leben jeder ernſter arbeitenden Frau, in dem Daſein von 
uns allen, die wir das Pilgerzeichen des Lebens an der Stirn tragen, mindeſtens ein 
Mal der Moment eingetreten iſt, in dem man ſich vor die Frage geſtellt ſieht: was 
bedeutet denn nun dieſe meine Arbeit für mein Lebensglück? Was vermag ſie einem 
Gefühl ſeeliſcher Leere, was vermag ſie Qualen des Gemüts gegenüber? Wie weit 
weiß ſie perſönlichen Leiden gegenüber zu wirken? Und was iſt im Grunde 
beherrſchender für Glücksempfinden und Lebensgeſtaltung — die geiſtige Arbeit oder 
das perſönliche, das Frauenſchickſal?? 

Vor nicht allzu langer Zeit haben zwei Selbſtmorde in der Offentlichkeit ſtehender 
Frauen dieſe Frage in ihrer ganzen ergreifenden Schwere uns vor die Seele gerufen. 
Ich meine den Selbſtmord der Schriftſtellerin Juliane Dery und der bekannten 
Sozialiſtin Eleanor Marx, der Tochter von Karl Marx. Juliane Dérys Tod hat 
nur eine engere literariſche Gemeinde tiefer intereſſiert. Eleanor Marr' Tod aber hat 
weitere Kreiſe berührt. Ihrer ernſten Geſtalt iſt ſelbſt von politiſchen Gegnern mit 
einer tiefen Achtung gedacht worden. Dieſe Frau, deren Seele eng verwoben mit 
einer der größten Bewegungen unſerer Zeit war, deren Wirken ein einziger heißer 
Kampf im Dienſte dieſer Bewegung war, warf unter dem Bann perſönlicher Leiden 
iby Leben als unbefriedigend, qualenvoll und wertlos dahin. Cie hatte jabrelang, 


George Eliots und George Sands Frauenleben unter dem Geſichtspunkt moderner Probleme. 21 


wie ja allgemein bekannt ijt, in cinem illegitimen Verhältnis mit Cdivard Aveling 
qelebt, und offenbar war es feine Untreuc, Die fie jum Tode trieb. Es ijt für unfere 
Qwede gleidgiltig, ob es dieſe Untrene fdblechthin war oder — wie nad ihrem Tode 
vielfach bebauptet wurde — feine ſpätere fegitime Verbinding mit einer anderen Frau. 
In jedent Fall: Eleanor Marr it an diefem Manne zu grunde geqangen, der durd- 
aus feine bedeutende Perſönlichkeit war — bedeutend höchſtens in feiner Berruchtheit 
und feinen erotiſchen Qualititen. „Du haſt deinen Jungen, ich babe nichts und ich 
jebe nicht, wofür es ſich lohnt zu leben,” febrieh fie wenige Woden vor ibrem Tode 
an einen ibrer michjten Freunde. Hort man dieſe Worte und bedenft, was dieje Frau 
als geiſtige Perjinlicdfeit war und fiir die foziale Bewegung bedeutete, fo überkommt 
uns zunächſt cine tiefe Mutlofigkeit. Cine Art Bankerotterfldrung ſcheint fie uns, wenn 
wir nicht die verzerrende Versweiflung des Moments als mildernden Umjtand hinzu— 
sieben wollen. Gehen wir aber den Dingen auf den Grund, fo find fie doch nur cin 
flammendes Mene Tefel, der „Grenzen der Menſchheit“ yu gedenfen. Cie zeigen an 
einem Einzelfall, daß beftimmte Konftellationen kommen können, in denen keine geiſtige 
Macht mit Engelsflügeln über eine gewiſſe Verlaſſenheit, über Qualen des Gemüts 
hinweghilft. Ausdrücklich möchte ich betonen, daß es ſich meines Erachtens bei 
Eleanor Marr durchaus nicht lediglich um eine Enttäuſchung auf rein erotiſchem 
Gebiet handelt, wie febr diefe auch mitbeftimmend war. Vielmehr bat diefe ftarfe und 
ganze Natur gewiß nicht verwinden können, dah fie cine Lange, lange Reihe von 
Jabren mit einem Mann in engfter ſeeliſcher Verbindung gelebt hatte, deffen Ver— 
worfenbeit und Untrene ihr nun unleugbar klar wurde. Man löſcht nicht ein 
Dezennium feines Lebens als reifer Menſch wieder aus, als fei es nicht getvefen, weil 
die Perfintichfeit, mit der man während dieſer Beit in engfter ſeeliſcher Gemeinfchaft 
lebte, ſich als furchtbare Enttäuſchung eriveift. „Der Wunden fact, wer feine 
Narben fühlt“ .. .. 

Auch kann ich nicht zugeben, daß, wie es bei dem Tode von Eleanor Marx oft 
hieß, es ſich hier um ein ſpezifiſch weibliches Schickſal handelte. Die Geſchichte von 
Laſſalles Tod ſpricht gegen dieſe Auffaſſung in beredter Sprache. Laſſalle iſt zweifellos 
an Helene von Dönniges geſcheitert: „Gehe ich jetzt zu grunde, ſo iſt es an dem 
grenzenloſen Verrat, an dem unerhörten Wankelmut und Leichtſinn des Weibes, das 
ich weit über alles Maß des Erlaubten hinaus liebe.“ Und an einer anderen Stelle der 
Briefe aus ſeiner letzten Zeit heißt es: „Ich habe mir mein Ehrenwort gegeben, an 
dem Tage, wo ich Helene verloren geben muß, mir cine Kugel durch den Kopf yu 
jagen.” Auf der Brat des VBerwundeten fand man die Zeilen: „Ich erflare biermit, 
dah ich ſelbſt es bin, welcher meinem Leben cin Ende gemadt bat.“ Mag alſo auch 
sufalliq ibn die Kugel des Gegners getroffen haben, fo ware, falls er dieſen nieder— 
geſchoſſen, fraglos Laſſalles zweite Kugel gegen die eigene Bruſt gerichtet geweſen. 
Er „wollte ſterben“, und ſeine ganze politiſche Bedeutung, die Größe der vor ihm 
liegenden Aufgaben hat nicht verhindert, daß er, um mich des techniſchen Ausdrucks 
su bedienen, um eines „Liebeshandels“ willen fein ganzes ſtolzes Leben vernichtet hat — 
mag auch verletzte Eitelkeit als erklärendes Motiv hinzutreten. 

Rann ich nicht zugeben, dah Eleanor Marr’ Schickſal als cin ſpezifiſch 
weiblices ausgenützt wird, fo ift es fiir mich andererfeits dod) gewif, daß im ganzen 
das Verhaltnis des geiſtigen Lebens zu dent perfonticven bei der Frau Sonderzüge 
scigt, was ſchon aus der größeren Crdgebundenbeit ded Weibes auf dem geſchlecht— 


22 George Cliots und George Sands Fraucnleben unter dem Geſichtspunkt moderner Probleme. 


lichen Gebiet folgt. Es erſcheint mir deshalb von Wert, dies eminent moderne 
Problent gerade an dem Frauenleben der Bedeutendjten des weiblichen Geſchlechts ju 
prüfen. Betreffs der Gegenwart ift unſer Blick naturgemäß getrübt. Uns mangelt 
die Diſtanz, und wenn unfere große und giitige Dichterin Marie v. Ebner-Eſchenbach 
yon fics fagt: „Ich babe nichts erlebt”, fo ift dies mit dem gleichen Vorbehalt zu 
nehmen, wie die Räuber- und Mördergeſchichten, die über einige unferer modernen 
Dichterinnen qraffieren, deren Leben fics der Klatſch, die Verleumdungsſucht bemachtigt 
hat, im beften Fall jene Freunde, von denen man mit Recht fagt, daß Gott uns vor 
ihnen behüten möge. „Es zeigt fic in der Ferne alles reiner, was in der Gegenwart 
uns nur verwirrt.“ Und fo find George Eliot und George Sand, jene beiden grofen 
Dichterinnen, die an der Pforte unferer Zeit fteben und die nicht nur als Dichterinnen 
fondern ebenfo febr als Denkerinnen und Perſönlichkeiten unferen Blick feſſeln, geeig- 
neteres Material fiir cine pſychologiſche Betracdtungsiweije als unjere zeitgenöſſiſchen 
Dichterinnen. Beider Frauenleben wirft aber nicht allein interejjante Schlaglichter 
auf die Beziehung des perſönlichen zu dem künſtleriſchen Leben, fondern bictet auch 
bedeutungsvolle Beitrage sur Priifung anderer moderner Probleme. So vor allem 
su dem Verhältnis der genialen Frau yu Che und Mutterfdaft. 
* * 

George Eliot und George Sand haben beide in illegitimen Verbindungen geſtanden, 
aufwühlendſte perſönliche Kaäampfe haben beide erſchüttert. Überſchaut man ihr Leben 
als Ganzes, ſo will es zunächſt erſcheinen, als ſei das Leben George Eliots ein 
einfaches, unbewegtes im Vergleich zu den dramatiſchen Konflikten, den greifbaren 
Senſationen, die uns bei George Sand vor Augen treten. Blicken wir aber tiefer in 
died einfachere, unbewegtere Daſein George Eliots, fo erſchauen wir auch bier tiefe Konflikte 
— an die letzten Fragen und Probleme wird gerührt, und ein Menſchenleben von tiefer 
Traurigkeit erſteht uns in George Eliots ſtillem Bilde. 

Es kann hier nicht meine Aufgabe ſein, George Eliots geiſtige und künſtleriſche 
Bedeutung darzuſtellen. Das eine aber möchte ich doch betonen, daß unſere heutige 
Generation kaum mehr genug ſchätzen kann, was George Eliots Leben und ihr Tod ihren 
Zeitgenoſſen bedeutete, wie man die Wirkung ihrer Arbeiten ſpeziell auf ſittlichem Gebiet 
beurteilte. Will man ſich über die Breite und Tiefe der Einwirkung dieſer großen 
Frau, dieſer „merkwürdigen Intelligenz“ klar werden, ſo darf man nicht nur ihre Werke 
leſen, ſondern muß das Urteil der erſten ihrer Zeitgenoſſen über ſie ſtudieren. „Es 
hat kein Sterbebett gegeben,“ ſagt Lord Acton in einer Würdigung George Eliots, 
„auf das die letzten Worte Fauſts mehr paßten als auf dieſes: Es kann die Spur 
pon meinen Erdentagen nicht in Aonen untergehen.“ Und in einem anderen tiefeindringenden 
Artifel der Contemporary Review heißt es nach ibrem Tode: „Kein Prediger unferer 
Zeit bat foviel getan, um die moralifchen Anlagen der Zeitgenofjen zu bilden, wie fie, 
denn fein anderer hatte fo febr die Möglichkeit und die Fähigkeit und die Macht.“ 
» Dinner von febr verſchiedener Denfiveije — die beiden Scherer, Montague, Mr. Spencer 
und Mr. Hutton, Profejjor Tyndal und Wir. Moers — haben es mit merfiwiirdiger 
Einmütigkeit ausgefprochen, daß fie cine Vereiniqung von Eigenſchaften beſaß, welche, 
wenn überhaupt, nur ſelten von Männern iibertroffen fei und ſchwerlich jemals wieder 
auf Erden erſcheinen werde, dah ibre Werke den Höhepunkt weiblichen Könnens be— 
zeichnen, daß fie unter den Frauen, von denen die Geſchichte weif, fo gewif der größte 
Genius war wie Shafefpeare unter den Männern.“ 


* 


George Eliots und George Sands Frauenleben unter dem Geſichtspunkt moderner Probleme. 23 


„Der Lorbecrfrany ijt, wo er dir erfeheinet, cin Seichen mehr des Leidens als 
des Glücks“ . . . „Ruhm verſpricht Gold und jahlt Silber” hat George Eliot ſchmerzlich 
in ſpäteren Jahren gedufert. Als ſich der Traum ihrer Jugend, Unſterbliches zu 
ſchaffen, verwirklicht hatte, vermochte es fie nicht mehr mit wirklicher Helle, mit rechter 
Heiterfeit der Seele zu erfiillen. Su viel Bitternis war durch ibre Ceele gegangen, 
zu viel Schmerzliches hatte fie erfabren, um nun nod) mit vollfraftigen Armen das Glück 
umfangen zu können. Es ift ja cin beſonderes Kapitel in unferer aller Seelengeſchichte, 
wie viel Kraft das vergeblidie Sebnen, Warten und Hoffen uns wegzehrt, fo dap, 
wenn wir wirklich erreiden, wonach wir einſt fo febnfiichtig unfere gitternden, verlangenden 
Rinderhinde ausftredten, es fiir uns gar fein rechtes Glück mebr ijt. Wir möchten 
uns wohl nod freuen, aber wir können nicht mebr. Wir find yu müde. Uns feblt 
die Kraft. Wir haben gu lange gewartet. Auch Marvy Ann Evans, wie G. Cliots 
bürgerlicher Name lautete, batte yu lange auf die Sonne qewartet, hatte su fewer 
ringen müſſen, um fich endlich des hohen Preiſes noc mit ganzer, beiler Seele freuen 
zu können. Und zwar nicht etwa nur deshalb, weil ſich ibr ihr wunderbares Talent 
erſt, als fie bereits 37 Sabre zählte, offenbarte, jondern weil die Schidjale ibres 
Araucnlebens cine jo ſchwere, ernjte Natur wie die ibre binabdriiden mußten. 

Um died zu verſtehen, muß man fic die Gejtalt von Mary Win Evans ver- 
gegenwärtigen, wie fie uns aus den Berichten der Zeitgenoſſen übereinſtimmend entgegen- 
tritt. Außerlich unſchön, oder vielmebr mebr und ſchlimmer als dieſes: offenbar jedes 
ſpezifiſch weiblichen Reizes bar, feit frithejter Jugend mit einem brennenden Liebes— 
bedürfnis, einer Neiqung, ,jemandem alles zu fein”, ausgeſtattet. Man rühmt zwar 
den feelenvollen Ausdruck ibrer Augen, aber Berichte und Portrats von ibr zeigen 
jie uns übereinſtimmend als cine Frau, der der ſpezifiſch weibliche Sauber feblte. 
Wenn man Marv Yn auch cine ,,cdle Erſcheinung“ nannte, fo follen ibre Züge dob 
mit zunehmendem Ulter immer mebr an Savonarola evinnert haben, was aud) nicht 
für Schönheit der Yinien ſpricht. Anton Springer, der fie gu einer Zeit kennen lernte, 
da fie noc) unberiibmt war, bebt ausdriidlich hervor, daß ihr „jede anmutige weibliche 
Weichheit” in der Erſcheinung gefeblt babe. Und dod) war ibre Empfindungsweiſe 
cine durchaus weibliche, und aus allen Berichten von iby ſelbſt und anderen Flingt 
iibercinjtimmend, dah fie ,,needed some one especially to love‘. Tro engfter 
Freundſchaftsbande ijt ibr legtes Wärmebedürfnis febr fpat, wie ich urteile, völlig 
niemals befriedigt werden. Mary Ann Evans war 35 Jabre alt geworden und hatte 
ſich bisher nur in Artikeln und Uberſetzungen betitigt, als jie in George Henry Lewes, 
der uns in Deutſchland als Bivgraph Goethes vertraut ijt, den Mann kennen lernte, 
mit Dem fie 25 Jahre engfter Gemeinſchaft verleben follte. Lewes lebte von feiner 
Frau, die fich feiner durchaus unwürdig erwiejen hatte und ibm wiederbholt untreu geworden 
war, qetrennt. Nad engliſchem Geſetz aber fonnte er nicht von thr geſchieden werden, 
da er ihr cinmal vergeben hatte. Unter dem Zwange diefer Umſtände entſchloß fich 
George Eliot, aud) obne die geſetzliche Sanftion ihr Leben mit dem des geliebten 
Mannes yu verfniipfen. Cs from fein Siweifel dariiber obiwalten, daß das Verbhiltnis 
von beiden Teilen vom erjten Moment an alS cin unlbsliches aufgefaft wurde, wie 
denn auch erjt Lewes’ Tod nad 25 Jahren ihrem Zuſammenleben ein Ende machte. 
„Ihre Berbindung”, febreibt cine beiden nabeftebende Perſönlichkeit, „wurde von 
ibnen als cine wirkliche Heirat aufgefaft, als cin Bündnis beiligiter Art, das cinen 
bindenden und dauernden Charafter hatte.” Wls die Tatface ihrer Verbindung 


24 Weorge Cliots und George Sands Frauenleben unter dem Gefichtspuntt moderner Probleme. 


einigen intimen Freunden mitgeteilt war, wurde fie fogleidy von einer Erklärung 
begleitet, dag die Unlösbarkeit ihrer Verbindung eine unwiderruflich feſtſtehende fei. 
Und doch hat diefer Sebritt cinen tiefen Schatten auf George Eliots Frauenleben 
geworfen, da fie Dauernd unter der Verurteilung, die er fand, aufs ſchwerſte gelitten 
bat. Sabrelang mufte fie, wie Lady Blennerbafjet ung berichtet, dic Welt ausſchließen, 
um nicht von ibr ausgefdlofjen yu werden; und nod in den Tagen ibres höchſten 
Ruhmes wagte fie nicht, in London allein fiber die Straße zu geben. Mit fiber: 
ſtrömender Dankbarkeit, ja mit demittiger Freude foll George Cliot die erjten Frauen 
begrüßt haben, die fich ihr näherten. 

Vernimmt man diefe Dinge, fo fragt man ſich zunächſt, ob man richtig licft 
oder birt — damn erinnert man fic, als cineds miterflarenden Umſtandes, dak 
George Eliot in England lebte, aber cin Gefiihl der Empörung, der grenzenloſen 
Erbitterung bleibt in uns. Denn was ift Ehe, wenn nicht dieje feſte, innige 
Verbhindung, die die Flucht der Jahre nur nod fejter, mur noc inniger geftaltet? 
Aber dies Wort genügt nicht zur Charafterifierung des Verhältniſſes zwiſchen Lewes 
und George Clivt, genügt nicht yur Würdigung deffen, was die Verbinding mit ifm 
aud fiir iby künſtleriſches Schaffen bedeutete, Man muß fic evinnern, dak George 
Elivt bisher thre dichterifche Fähigkeit überhaupt nod) nicht entdedt hatte, fondern 


nur durch Eſſahs und Nberjepungen — vor allem von Strauß und Feuerbach — 
befanut geworden war, Sie befa cine ungewöhnliche und tiefe Bildung, — fo 


ungewöhnlich und tief, dag ich fürchte, wenn fie in unjerer Zeit gelebt hatte, jo 
wilrden einige unferer moderniten Rritifer fiirchterliche Bedenfen an der „Urſprünglich— 
feit” ihres Talentes gebeqt haben. « Doch, um ohne Spott yu reden: Marv Ann Evans 
war obne Ziveifel cine tief philofophifche Natur — Harrijon nennt fie den pbhilo- 
fopbifcbjten Riinftler und den am meiften künſtleriſch beanlagten Philoſophen der neuen 
Literatur — und fie felbjt hatte bis zu diefer Zeit an ibre Fähigkeit yu dichteriſcher 
Gejtaltungstraft nicht geqlaubt. Nach ibrer cigenen cingehenden Darftellung, die fie 
in ibrem Tagebuch uns gibt, hatte fie zwar oft Die Idee gebabt, einmal cine Novetle 
zu febreiben, war aber über ein cinleitendes, rein beſchreibendes Rapitel, in dem fie 
cin englifdes Dorf und das Leben der Nachbarfarm jfehildert, nicht hinausgekommen. 
WS fie auf einer Reife nach Deutſchland Lewes dies erzählte, wollte er gern das von 
ihr Geſchilderte leſen — fie hatte es zufällig unter ibren Pavieren und fas es ibm 
por. George Cliot fcbildert uns mim febr anſchaulich, wie entzückt Lewes war, wie 
in ibm der Glauben an ibve dichterifche Fabigkeit erwwacdte und wie er von nun an 
unausgeſetzt in fie Drang: „Du mußt es verjuchen, du mußt cine Geſchichte ſchreiben.“ 
Nachdem Lewes durch ſeine Anregung und Ermutigung ſie zur Offenbarung ihres 
großen Talentes brachte, kam er ihrer ſcheuen, leicht hinabgedrückten Natur auch 
weiter zu Hilfe. Er ſchickte ihre erſten Novellen unter dem ſpäter weltberühmten 
Pſeudonym an den Verlag Blackwood als Arbeit eines Freundes von ihm ein. Und als 
ſchon ihr Ruhm feſt begründet war, wachte er nach dem Urteil beſtunterrichteter Freunde 
immer noch mit „wahrhaft mütterlicher Zärtlichkeit“ über ihr und ſuchte ihr jede quälende 
Aufregung fernzuhalten. Er führte ihre geſchäftliche Korreſpondenz; ja, ſeine Fürſorge 
ging ſo weit, daß er ihr abſprechende Kritiken nicht zeigte. Wie ſeltſam dies auch 
erſcheinen mag, ſo zweifle ich nicht, daß Lewes bei George Eliots Eigenart hiermit 
durchaus das Richtige traf. Sie gehörte zu den Naturen, die ju ihrer Entfaltung 
der Sonnenwärme der Anerkennung ohne quälenden Schatten bedürfen. Sie 


“i 


George Eliots und George Sands Frauenleben unter bem Gefiehtspunlt moberner Problente. 25 


beſaß feine Hornhaut, feine Ellenbogen fürs Leben. Sie war cine ſcheue 
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ſchwere, leicht verleglidye Natur, — die Elemente waren nicht fo glücklich in ibr 
qemijebt, dak ihr die Erde leicht werden fonnte. Und wenn denn die illegitime 
Verbindung — oder vielmebr die Berurteilung, die diefe fand — einen dauernden 


Schatten auf ibe Leben warf, fo ijt anf der anderen Seite nicht genug anjuerfernen, 
Daf} Lewes wabrend vines Bierteljahbrbunderts einen febiigenden Schild fiber George 
Eliot hielt, deffen gerade ibre Natur jo ſehr bedurjte. 

Die Geqner diefer illegitimen Verbindung haben dieſen Sebritt in Verbindung 
mit George Cliots Weltanſchauung gebradt, ibn dtefer yur Laſt gelegt. Sie meinen, 
wenn George Clivt fic niet von dem „Glauben an den höchſten Richter aller Dinge“ 
losgelöſt bitte, fo iwiirde fie ſich auch nicht von der Verpflichtung, die Idee der 
Unldsbarfeit Der Che zu refpeltieren, frei gemacht haben. Ich geſtehe, dak ich es, 
wenn die Geqner recht batter, als cin feltenes Gli begrüßen müßte, daß George 
Eliot fic) yur Zeit ihrer Begegnung mit Lewes von dem Glauber an Gott bereits 
entfernt batte. Denn wie boc immer man über dic Heiligkeit der Che denken mag, 
in einem Halle, wie Dem bier vorlicgenden, Fann nur dogmatiſche Enge den Maßſtab 
individualifierender Gerechtigkeit verweigern. Und der ganze Segen, den George Eliots 
tief ſittlicher Einfluß fiir die Menſchheit bedeutete, wire nad meiner Anſicht nie 
geworden ohne jene angefochtene Grundlage ihres Frauenlebens, auf der ſich erſt ihre 
Perſönlichkeit zur vollen fruchtbaren Kraftentfaltung bob. 

Auf der anderen Seite muß ohne weiteres zugegeben werden, daß die Welt— 
anſchauung, welche bei George Eliot an die Stelle der Religion getreten iſt, nicht 
Stand hielt oder ihr vielmehr keinen Troſt zu geben vermochte, als für ſie die dunkelen 
Stunden des Lebens gekonmen waren. Als Lewes ihr nach 25 jährigem Zuſammen— 
leben entrifien ward, bricht die Damals 59 jährige Frau völlig zuſammen. Früher 
hatte fie das Aufgehen in dem qrofen Gedanken der Natur, in der ewigen Geſetzen des 
Seins und Werdens im Gegenfag yu dem Anklammern an die cigene begrengte’ Erijtens 
mit ibren wechſelnden Schickſalen als höchſtes Ziel hingeftellt. Jetzt im ihrem eigenen 
perſönlichen Web febcinen dies nur tönende Worte fiir fle yu fein. Sie bricht zuſammen, 
und am Colvefterabend, an dem fie fonjt ftets irgend cine höhere Betrachtung in ibr 
Tagebuch febreibt, finden wir in diefem Jahr bier nichts als die Worte: ,Here I and 
sorrow sit“. Nicht cine philoſophiſche Weltanſchauung, nicht cine künſtleriſche Arbeit, 
nicht das Bewußtſein der unverlierbaren Werte, die das Zuſammenſein mit dem geliebten 
und beweinten Gefährten in ihr gereift bat, nein, ein ganz Perſönliches ift es, was 
George Eliot aus der großen Nacht wieder rettet und fle nod einmal das ſonnige 
Vict Des Dajeins fiiblen läßt: Wm 6. Mai 1880 — ein halbes Jabr nach Lewes’ 
Tode — erfährt das ſtaunende Yondon, dak die berühmte 6Ojabrige Dichterin Herrn 
Crop, cinem um viele Sabre jiingeren, ihr feit Langer Seit nabe befreundeter Mann, 
die Hand zum ehelichen Bunde gereicht bat. George Clivt fiarb dann ſchon im Winter 
dDesfelben Sabres; aber die Berichte, die fie ther dieſe frye Beit ibrer Ehe gibt, find 


von Olid und Dankbarfeit durchſtrömt. Der Frühling ſcheint in ihr — ich jitiere 
George Cliot wörtlich — wieder hervorjubreden. . . 


Nun, ich geftehe: es ijt ſchwer, George Eliot in diefer letzten Lebensſpanne ver- 
ſtehend yu folgen. Es gibt cin Wort Barnbagens, das auf deijen ciqene Ehe mit der 
vierzehn Jahre alteren Mabel angewendet worden iſt: „Was an diefer Verbindung 
uneber und wunderlich erfebeinen mag, gehört nidt uns an, ſondern den törichten 


26 George Eliots und George Gands Fraucnieben unter dem Geſichtspunkt moderner Probleme. 


Cinrichtungen der Welt. Es ift nicht unfere Schuld, daß es fiir dad Verfchiedenartigite 
in Diefer Armenanjftalt nur dieſe Cine Form gibt.” Wie febr man ſich aber auch miibt, 
George Eliot ein letztes Berftehen iwiderfahren yu laſſen, cin Reſt von dunklem Unbebagen 
bleibt trog allem. Und doc) zeigen fic) bei diefem letzten Schritt nur Charaftersiige 
George Clivts, denen wir in ibvem Leben — ſchauen wir genauer bin — ftets begegneten. 
Einem gewiffen Mangel an Selbſtändigkeit — jo ſelbſtändig fie aud) als rein intelleftuelle 
Kraft war — einem Anlehnungsbedürfnis, einer Unfähigkeit den Raubeiten des Lebens gegen: 
liber begeqneten wir ftets in iby — vor allem aber einem brennenden Lichesbediirfnis, 
einer Sebnfucht nach Wärme und Hingebung. 

Und hier komme id) yu dem, was mir ju vielem in George Eliot den Schlüſſel 
zu geben ſcheint: cin blindes Schickſal hatte ihr verfagt, was gerade dieſer Natur, dic 
in jedem Atemzuge Miitterlichfeit ausitrimte, tiefftes Bediirfnis gewefen ware. George 
Eliot ijt nie Mutter geworden. Die Menſchheit wurde des ungeborenen Lieblings 
Erbe; aber was fie ſelbſt hierbei an perſönlichem Glicsempjfinden einbüßte, ſcheint 
mir unermeßlich groß. War fie aud den heranwachſenden Söhnen von Lewes eine 
forgliche Beraterin, fo hat fie doch das intimfte Wunder des Frauenlebens nicht erlebt. 
Jene Augenblide, da fic cin Fleiner Arm fo warm und jutraulich im Bewußtſein 
befter Geborgenbeit in den unſeren ftieblt, da cin junges Geſicht mit dem glitdlichen 
Gefühl engiter Zuſammengehörigkeit uns zunickt — jene Augenblide, da in unfer 
ernftes Urbeitsleben pliglich diefe fo ganz andere Holde Melodic tint — George Eliot 
durfte fie nicht erleben. Und wenn wir von dem bleiernen Ernſt hören, der über 
ibrem ganzen Leben lag, in dem alles auf das ,,Gelingen der einen grofen Aufgabe“ 
geſetzt war, fo liegt die tiefite Erklärung wobl darin, dah eben jener Sonnenſchein 
feblte, jener erwiirmende Strahl, den allein das Lächeln des Rindes tm Herzen des 
Weibes — und fei es das größte — entzündet. Kein weiblicher Genius bat diefen 
Sonnenfdein voller und danfbarer empfunden als George Cliots große Schweſter, 
George Cand, deren ganzes Leben, deren ganze Auffaffung hiervon gezeichnet ijt, ja 
die dic Mutterſchaft geradezu „le second baptéme“, dic zweite Taufe der Frau nennt. 

Che wir uns aber George Sand zuwenden, möchte ich nod) einmal abſchließend 
bei George Eliots ernjtem Bilde verweilen. Um es fury yu fagen: George Clivts 
Schickſal läßt fich meines Crachtens weniger als das vieler anderer bedeutender 
Menſchen in cine Formel preffen, ohne gegen den beiligen Geiſt der Dudwidualttat 
zu fiindigen. Es heißt bier mit Vorſicht feine Schlußfolgerungen ziehen. Gewiß ijt, 
daß bei aller Größe und Bedeutung ihrer Intelligenz, bei all ihrer unendlichen Güte 
cine gewiſſe Schwachheit in ihr nicht zu verkennen ijt. Und dieſe Schwachheit ijt es 
auch, die ihr Schickſal in Gutem und Böſem gezeichnet hat. Das eine aber läßt ſich 
wohl, ohne ſich kecker Vergewaltigungen ſchuldig zu machen, ausſprechen: George Eliots 
Leben gehört gewiß nicht zu denjenigen, in denen die geiſtige Kraft über das perſönliche 
Erleben zu triumphieren gewußt hat. Und was ſie als Weib empfing, wie was ihr 
verſagt blieb, iſt von einſchneidender Wirkung geweſen. Die Mütterlichkeit ihres 
Weſens hat ſich nicht in der nächſten, natürlichen, beglückenden Weiſe ausleben dürfen. 
Und den Niederſchlag dieſes, eines ſpezifiſch weiblichen Verhängniſſes, glaube ich 
in ihrem Leben zu finden. Als einen Beitrag zum Kapitel der freien Liebe aber 
kann ich es in keiner Weiſe auffaſſen. Fite mich wird immer George Eliots Zuſammen— 
leben mit Lewes eine Ehe geweſen ſein; zu dem Kern des Problems der freien Liebe 
bietet es kein Material. Der Proteſt, der gegen jenes Bündnis erhoben wurde, iſt 


George Elivts und George Sands Frauenleben unter dem Geſichtspunkt moderner Probleme. 27 


nur aus dogmatiſchen Anſchauungen verſtändlich — er balt nicht ftand vor einer rein 
menſchlichen und ethiſchen Auffaſſung der Che im Sinne einer idealen Monogamie. 
Ellen Key, die bekannte nordiſche Denkerin, ſagte mir einmal, ſie käme bei George 
Eliot nicht darüber hinweg, daß dieſe in ihren Schriften das große Problem eines 
Freient Zufammentebens zwiſchen Mann und Weib um feine Linie gefirdert habe. 
Nun, meines Cradtens hat George Clivt dieſes auch nicht fordern wollen. Richt 
etwa nur, weil es ihr widerftrebte, Den Schein auf ſich yu Laden, als ob fie in cigener 
Sache ſpräche, bat fie nie im Sinne der freien Liebe in ihren Sebriften gewirkt und 
die Heiligfeit der Che hochgehalten, ſondern weil died ihrer wabren Anſicht entſprach 
und jie — meines Erachtens mit vollem Recht — ibren eigenen Fall als einen 
Ausnabmefall betradytete, der gegen das derjeitige engliſche Gefes, nicht aber gegen 
Die Heiligfeit der Che als folche verſtieß. 
* z * 

Ein ganz anderes Bild bietet ſich uns, wenn wir uns George Sand zuwenden. 
Die Fabel ihres Lebens darf ich wohl als ſo bekannt vorausſetzen, daß ich ſie hier 
nur zu ſkizzieren brauche. Achtzehnjährig wird das früh entwickelte Mädchen, in dem 
das Blut Moritz von Sachſen's mit dem der Delabordes eine ſeltſame Miſchung ein— 
ging und das in dem Zwieſpalt zwiſchen Mutter und Großmutter herangewachſen iſt, 
an den rohen, ihr geiſtig durchaus inferioren Baron Dudevant verheiratet. Zwei 
Kinder, die dieſer unglücklichen Verbindung entſprießen und denen George Sand ſich 
mit leidenſchaftlicher Liebe und bewundernswürdigem Pflichtgefühl widmet, vermögen 
das Band zwiſchen den durchaus unadäquaten Eltern nicht zu halten. Es muß ju 
ſchrecklichen Szenen gekommen ſein, deren Niederſchlag wir in den Romanen George 
Sands finden. Cin Beſuch Jules Sandeaus regt dann das ſeltſame Nbereinfommen 
swijden den Ehegatter an, da George Sand mit Bewilligung von 250 Franks 
monatlich von nun an die Halfte des Jahres mit ibrem Töchterchen Solange in Paris 
verbringt. Der Verſuch, die Mittel sur Beltreitung ibres Lebensunterbalts yu ver: 
qrifern, filbrte George Sand, nachdem fie es mit Malen vergeblich verſucht batte, yur 
Cntdedung ihres großen Talented. Und erjt 1836, als fie bereits cine literariſche 
Berühmtheit geworden war, erfolgte die gerichtliche Scheidbung von ibrem Warne, die 
der äußeren Unrube ihres Lebens, dem ewigen Gehen und Kommen zwiſchen Nohant 
und Paris ein Ende machte. Obwohl George Sand vor Gericht furchtbare ſchmach— 
volle Anklagen von dem Rechtsbeiſtand ihres Mannes hatte anhören müſſen — „ſie 
ſei eingeweiht in die Geheimniſſe der niederträchtigſten Ausſchweifungen“ — ſo entſchied 
doch der Gerichtshof von Bourges, wo ihr Freund Michel de Bourges ihre Sache 
führte, zu ihren Gunſten. Die Kinder kamen in den alleinigen Beſiß der Mutter, und 
es mag ſchon hier geſagt ſein, daß das Verhältnis zwiſchen ihnen und George Sand 
dauernd ein wahrhaft ideales, von tiefſter Innigkeit durchtränktes war. Andererſeits 
iſt ja genugſam bekannt, daß ſie vor und nach ihrer Scheidung eine Reihe teils ſchnell 
gelöſter, teils ſich lange hinziehender Liebesverhältniſſe hatte. Am eingreifendſten 
waren ihre Beziehungen zu Muſſet und Chopin, aber auch Jules Sandeau, Michel 
de Bourges und der hübſche, unbedeutende italieniſche Arzt Pagello, dem fie Muſſet 
opferte, werden unter ihren Geliebten genannt. 

In drei Eigenſchaften nun muß George Sand näher ins Auge gefaßt werden, 
wenn man das, worin ſich ihr Weſen konzentrierte, zeichnen will: als Mutter, als 
Künſtlerin und als Geliebte. 


28 George Eliots und George Sands Frauenleben unter bem Gefidtspuntt moderner Probleme. 


Reine Frau bat vielleicht in heißeren Lauten die Seligfeit der Mutterſchaft jum 
Ausodrucd gebracht. Ich erwabnte ſchon, daß George Sand fie die zweite Taufe fiir 
die junge Frau nennt. Jn ver ,,Histoire de ma vie“ erzählt fle cingebend, wie in 
der Beit, da fie ihre Ninder erivartete, Das geiſtige Leben in iby ganz zurückgetreten fei 
und ibe Innenleben fich einzig auf das kleine Geſchöpfchen gerichtet habe, dem fie fide 
fo qliibend entgegenfebnte. Cie fcbildert uns in warmen Farben den Wugenblid, da 
jie ihr Rind nach der Geburt, als fie aus einem langen Schlummer der Crmattung 
erwacht, jum erjtenmal feben darf und nennt dics Den ſchönſten Augenblick ibres 
Yebens. Wir haben es bier nicht mit wobllautenden Redensarten yu tun. George 
Sand bat ihre beiden Kinder felbjt genährt und dabei ihre forperlichen Kräfte febr 
erſchöpft, und alle Berichte ibrer Zeitgenoſſen betonen einſtimmig, dah fie aud) den 
heranwachſenden und herangewachſenen Rindern gegenitber die zärtlichſte und auf: 
opferndſte Mutter war, mag aud ibre Kiinftlernatur ihr oft die planvolle Geduld des 
echten Pädagogen unmöglich gemacht haben. Ergreifend ſchildert fie uns die Beziehung 
zwiſchen ſich und ihrem Sohne Moritz in reiferen Jahren. „Er und ich haben über 
viele Dinge nicht die gleichen Anſichten, aber wir haben cine große Ahnlichkeit in 
unjerer Organifation, in vielem den gleichen Geſchmack und die gleichen Bediirfniffe, 
auperdem cin fo enges Band natiirlicher Liebe, dak cin Mißklang zwiſchen uns, welder 
Art er auch fei, nicht einen Tag dauern fann und vor einer Ausſprache zwiſchen uns 
nie Stand Halt. Und wo wir nicht den gleichen Raum in unferen Ideen und Gefiiblen 
bewobnen, ijt zwiſchen uns iwenigitens eine große, immer gedffnete Tür: die einer 
unendlichen Liebe und eines unbegrenzten Vertrauens.“ 

Es ift für George Sand cin Ariom, dah, mag die Gefellfchaft auch die Rechte 
der Mutter nicht anerfennen, die Kinder der Mutter ungleich näher fteben, als dem 
Vater. Und hier kommen wir yu dem Punft, den ich fiir einen der bedeutungsvollften 
und meines Eractens den irrigiten in George Sands ganzer Auffaſſung balte: Der 
atte, der Vater exiſtiert eigentlich nicht fiir fie oder Hat doc) mur cine febr unter: 
qeordnete Bedeutung. Erklärlich, wie dies aus der Geſchichte ihrer Che wird, ſteht 
es aud) mit ibrem ganzen Empfinden als Weib, ihrer Beziehung yu dem männlichen 
Geſchlecht in engitem Sufanunenbang. Der Reis, den George Sand auf Dinner 
ausiibte, ijt befannt. Die Muffet und Chopin fonnten von dem gefabrlichen Zanber 
diefer Frau erzählen, der cin beredtes Beifpiel gegen die Mythe von der Geſchlechts— 
loſigkeit und Ungefährlichkeit der geiſtig hervorragenden Frau iſt. „Da wollte ¢3 das 
Unglück,“ leſen wir in der von Franz Liszt verfaßten Biographie Chopins, „daß er 
eines Tages vom Zauberbann eines Blickes getroffen ward, der ihn in ſeine Netze 
fallen ließ. Man wähnte dieſe Neve wohl anfangs vom feinſten Golde und mit 
Perlen überſäet, aber jede ihrer Maſchen ward für ihn zum Gefängnis, wo er ſich 
mit giftgetränkten Banden gefeſſelt fühlte. Vermochte auch dieſes Agende Gift ſeinen 
Genius nicht zu lähmen, es zehrte doch an ſeinem Leben amd entrückte ibn zu früh 
der Kunſt.“ Auf ähnlichen Ton geſtimmt ſind die vielen Berichte über die Beziehung 
George Sands yu Muffet. In dem Buch Paul de Muſſets Lui et Elle“, das dag 
Verhältnis ſeines Bruders Alfred unter bem Deckmantel des Romanes daritellt, heißt 
es: ,Si j’étais le seul que cette femme eit mis en cet état, on pourrait me 
citer comme une exception, un cas rare, mais regarde ol en sont aujourd'hui 
quelle a aimés! Tous ne sont-ils pas sortis de ses mains plus ou moins meurtris, 
défigurés, estropiés pour jamais? On en ferait une procession de fantömes.“ 


George Cliots und George Sands Frauenleben unter dem Gefichtspuntt modernee Probleme. 29 


Man bat fic gewöhnt, George Sand als den miinnermordenden Vampyr zu 
betrachten, aber ich gejtebe, dah ich cine tiefinnere Ungerechtigkeit in dieſen Be= und 
Rerurteilungen ſehe. Fragqlos bat George Sand Muſſet geliebt — die Briefe nad) 
dem Bruch mit ihm Flingen wie das Stöhnen eines verwiundeten Tiered, und Cine 
geweibte nennen dieſen Bruch den ,,qraujamiten Schmerz ibrer Exiſtenz“ — fraglos 
hat ſie auch Chopin, dem ſie in einer achtjährigen Beziehung nicht nur Geliebte, 
ſondern auch Freundin und Krankenpflegerin war, leidenſchaftlich geliebt und unter 
dem endlichen Zerwürfnis ſchwer gelitten. Und wenn ſie trotzdem dem erſten die 
Treue nicht wahrte und dem anderen gegenüber ſchließlich als 42jährige Frau nach 
langer aufopfernder Krankenpflege die Rechte ihrer eigenen Perſönlichkeit wieder vor— 
treten ließ, ſo muß man fic) vor Augen halten, daß jie in erſter Linie als 
Künſtlerin empfand und handelte. Als der Genius, der ſie war, durfte ſie auch 
beanſpruchen, mit dem Maßſtab eines ſolchen gemeſſen zu werden und ſeine Rechte 
zugebilligt zu erhalten. 

Ein Bild George Sands, das ſie in der Mitte der dreißiger Jahre darſtellt 
— alſo zu einer Zeit, als ihr Verhältnis mit dem viele Jahre jüngeren Chopin 
begann — zeigt uns ein ſeltſames, tiefbrünettes Geſicht von orientaliſchem Typ. Ein 
geheimnisvoller Zauber liegt in den unter ſchweren Lidern hervorblickenden Augen, 
aber trotz des weichen, ſinnlichen Mundes birgt ſich etwas Rückſichtloſes, faſt Grauſames 
in dieſen Zügen. Cine jener Frauen ſteht vor uns, die ſtärker find als ihr Partner, 
weil im letzten Grunde die erotiſche Beziehung nicht Lebensinbalt fiir fie ift, fondern 
das vornehmſte Geſetz ibres Lebens dod) der künſtleriſche Trieb und dejfen Betätigung 
bleibt. Wie zart, fein und gebrechlich muten uns Muſſet und Chopin neben diejer 
Arau an, die mit fouverdner Kraft, wie einem Naturgefege folgend, über fie weg: 
ſchreitet und fich fiber alle Schmerzen Hin die Einheit ihrer Perſönlichkeit, die Freiheit 
ihrer Künſtlerexiſtenz wahrt! Cine Geſchichte, die fie ſelbſt in der Histoire de ma 
vie“ erzählt und die uns Liszt in anderer Beleuchtung in ſeiner Biographie Chopins 
vorführt, ſcheint mir bezeichnender als vieles andere fiir die Natur dieſer Frau, für 
die Bedeutung, die das Liebesleben und andererſeits die Anforderungen des künſt— 
leriſchen Triebes für ſie beſaßen. Chopin war mit George Sand auf der Inſel 
Majorka. Er konnte aus Geſundheitsrückſichten ſein Zimmer nicht verlaſſen, während 
George Sand viel in der Gegend umherſtreifte. So verläßt ſie ihn auch eines Tages, 
um in einem unbewohnten Teil der Inſel auf Entdeckungen auszugehen. Ein fürchter— 
liches Unwetter bricht los, und Chopin verzehrt ſich in Angſt um das Leben ſeiner 
Freundin. In dieſer Stunde der Qual ijt das wundervolle Präludium in Fis-moll 
entſtanden. Liszt fährt fort: „Bei der Rückkehr der geliebten Frau verfiel Chopin 
in eine Ohnmacht. Sie war mehr gereizt als gerührt durch dieſen Beweis einer 
Anhänglichkeit, welche die Freiheit ihres Handelns, ihr zügelloſes Verlangen nach 
neuen, gleichviel wo oder wie gefundenen Eindrücken einſchränken, ihr Leben 
binden, ihre Bewegungen durch die Rechte der Liebe feſſeln zu wollen ſchien.“ 
Mit Recht ſagt Liszt, daß ihre Berichte über dieſe Reiſe die Ungeduld verraten, 
die ihr bereits eine allzu ausſchließliche Zuneigung erregte, welche es wagte, ſich 
ſoweit mit ihr zu identifizieren, daß ſie bei dem Gedanken, ſie zu verlieren, außer ſich 
geriet, während ſie ſelbſt ſich doch das ungeſchmälerte Eigentumsrecht über ihre 
Perſon vorbehielt und ihr Leben durch die Luſt an Abenteuern rückſichtslos in 
Gefahr brachte. 


80 George Efiots und George Sands Frauenleben unter dem Gefichtspuntt moderner Probleme. 


Und doch war George Sand nicht der faltaicrige Vampyr, als ben man fie 
darjtellen will, Cine unendliche Güte wird iby felbjt von ihren Feinden zugeſtanden, 
cine ergreifende Warme lag in ibrem Weſen. Es gibt eben Perjinlicdfeiten, deren 
Schidfal es ijt, dah ihr Weg mit Blut gezeichnet ſein muß, wenn jie der Menſchheit 
das bejte, das fie iby geben können, offenbaren follen, mögen fie felbjt auc nod fo 
jebr unter den Opfern, die ihre Natur ecinfordert, Leiden. 

Es ijt etwas Fatalijtijdes in George Sands Erſcheinung. Sie, die ihre Romane 
wie nachtwandelnd ſchrieb und cine Stunde vorber nods nicht wußte, welches Schicfal 
fie in der nächſten ibre Gejtalten nebmen fief, bat auch in einer Urt Paffivitat alle 
Handlungen ibres äußeren Lebens, fo auch ihre Eheſchließung, vor fic qeben laſſen. 
Und es ift etwas in George Sand, das fie in cinem anderen Sinne als die Maffe 
der Menſchen mit der Natur veriwandt erſcheinen läßt. Ich entlinne mid eines Tages 
im Hochſommer, da ich in Vignau am Ufer des Vierwaldjtatter Sees war — dort, 
wo man von der reinen, kühlen Höhenluft nichts abut und unter nicdrigen, früchte— 
ſchweren Obſtbäumen die rubige, reifendDe Macht des Sommers fiiblt. Es war an 
einem Tag nach langent Regen. Cine wunderbare Feuchtigfeit lag noch in der Luft. 
Ich ſtand am Fenfter und blidte binaus, fab, wie von den Blattern der Baume 


langſam runde, ſchwere Tropfen hinabſanken . . . Die ganze Natur atmete Frucht— 
barkeit. In dieſer Umgebung trat mir mit einemmal George Sands Bild vor die 
Seele . . . Natur wie dieſes! Teil des Großen, Notwendig-Wirkenden, Ver— 


ſchwenderiſch-Reichen, Mütterlich-Fruchtbaren! Und, möchte ich hinzufügen: des 
Unbewußt-Grauſamen. 

Von Frau von Staël ftammt das Wort: „In der Liebe gibt es nur Anfänge.“ 
Wn George Sands Frauenleben gepriift, hat dies Wort ſeine Berechtiqung. George 
Sands Liebe hatte im Grunde nur „Anfänge“ — einer dauernden Hingabe an einen 
Mann fiir cin Leben war fie nicht fabig. Aufrichtig und wabr, wie fie ſich aud 
in all ibren Liebesverhältniſſen zeigt, ſieht fle die einzige Unfittlichfeit in dem Aufrecht— 
erhalten des Scheins der Liebe, wenn diefe felbjt hinweggeſchwunden ijt. Cin 
qliibender Hak gegen die Che — mag fie felbjt auch bebaupten, fie wende fich nur gegen 
die Ehemänner — flammt aus ihren Werfen hervor. Nirgends febe ich, daß fie die 
Bedeutung der Che im Sinne einer Wealen Monogamie erfannt bat, nirgends jebe ich, 
dah fie den untilgbaren Ewigkeitstempel gewürdigt bat, der dem Bund von Mann und 
Weib aufgepraqt ijt, indent das Kind dure ibn gezeugt wird und als bleibende 
Mahnung fiir die Bedeutung der lesten Hingabe daſteht. Lebensſchickſale wie Anlage 
mögen bieran in gleicher Weife Schuld tragen. Reine leife, vernebme Hand bat zum 
erſten Mal den Schleier von ibrer Perſönlichkeit gehoben, in zu rober Weije ijt fie 
zum Weibe gemacht worden, als dak die Empfindung von dem berechtiqten Kern der 
Che, dem Ewigkeitszeichen, das die legte Hingabe in tiefer empfindende Naturen cine 
brennt, in iby bitte werden können. 

Aber hat George Sand die letzte Bedeutung ciner idealen Monogamie nicht erfapt, 
fonnte dies Ideal in ibrer ſonſt fo groß und rein empfindenden Seele nicht wachſen — 
vielleicht nur, weil der zarte Boden dafiir yu frith zerjtért worden ward — fo bat fie 
dafiir auch cinen letzten Schmerz nicht kennen gelernt. Jenen Schmerz, den ich fitr 
cinen Der tiefiten balte, deffen das fo leidensfähige Hery des Menſchen fabig ijt — 
den Schmerz, das Adeal Der Monogamie in feiner ganjen Reinheit und Kraft zu 
fiiblen und auf der anderen Seite als Künſtler mit dem inftinftiven, uncinddmumbaren 


George Eliots und George Sands Frauenleben unter dem Gefichtspuntt moderner Probleme. 31 


BVerlangen des Künſtlers nach der Fille und Buntheit des Lebens, der Eindrucksfähig— 
Feit fiir Neues, neues Wertvolle, in immer friſche qualvolle Gefabren fiir dieſes Ideal 
zu geraten, 

Dieſen Schmerz fonnte George Sand, iwie gefagt, nicht fiiblen. Ihre Starfe, 
wie ibre Schwäche tritt uns bier flar vor Augen. All ihre Irrtümer wurzeln bier — 
die fede Ignorierung des Gatten, des Vaters, die in unferer Generation fo itppig ing 
Kraut geſchoſſen ijt, Denn wenn ich fagte, daß fich fiir George Clivt fewer eine 
Hormel finden lief, fo ijt fie fiir George Sand geqeben. Mebr als das: bei aller 
wunderbaren Cigenart diefer grofen Frau ijt etwas in ihr, das fle fajt als geniale 
Vertreterin eines beſtimmten Frauentypus unferer Jestztzeit erſcheinen läßt. Ach 
meine den Typ der Frau, für die ihre Arbeit und ihre Kinder die Centren des Daſeins 
ſind und für die der Mann — oder vielmehr die Männer — nur eine ephemere Rolle 
als Geliebter ſpielt. Was aber bei George Sand durch die Größe ihrer künſtleriſchen 
Kraft verſtändlich und geadelt wird, iſt als Verallgemeinerung und zum Prinzip er— 
hoben der Weg zur Entartung. Cs löſt das heiligſte und ſeelenvollſte Verhältnis, 
das überhaupt zwiſchen Menſchen denkbar iſt, und ſpottet der geheimen Weiſung der 
Natur, Blut iſt nun eimnal „ein ganz beſonderer Saft”. ,,. . . Nie fein Kind fein? 
Aber es war ja dod fein Kind! Wober diejer harte, herriſche Ton, der jie an jenen 
anderen erinnerte, gegen den ſich alles in ihr aufbäumte? Ich ſchieß Di dod!! 
Sie fah das wollige bellbraune Haar — den ſchöngeſchwungenen Mund — fie ftdbnte 
auf. Mochte ihr Knabe den Bater nie gejeben haben — er lebte in ibm! Er war 
nicht aus ihm herauszureißen! nicht aus ibm herauszuzerren. Und wenn er jabrelang 
ſchlief — irgend cinmal an irgend ciner Stelle fonnte er hervorbreden — unterdriidt 
— niedergezwungen — aber elementar — übermächtig. Das Kind war cinmal fein 
Blut — war fein Rind — mochte fie eS leugnen, mochte ſie es wehren .. . .... 
Menjden, die Kinder baben, find nie gan; tot. Irgend etwas von ibnen lebt nods in 
irqend einer Ede untilgbar, unzerſtörbar. Und die Gemeinſchaft lebt — in jedem 
Blid, in jeder Bewegung des Rindes! — — —“ 

Ich habe dieſe Stelle anus meinem vor furjyer Zeit erſchienenen Roman 
„Pilgerfahrt“ angeführt, weil fie veranſchaulicht, worauf ich hinweiſen möchte. Auch 
die Heldin des Buches glaubt, nachdem ſie ſich in dem Mann enttäuſcht ſieht, dem ſie 
ſich hingegeben hatte, ſich und das Kind von dieſem Manne loslöſen zu können und 
erkennt erſt zu ſpät ihren Irrtum. Mit allen Theorien der Welt iſt und bleibt 
ein Kind das Kind ſeines Vaters — und die „geprägte Form, die lebend 
ſich entwickelt“, ſteht da als furchtbar lebendige Mahnung, daß die 
beiden, die dies Gemeinſame ſchufen, eine Einheit wurden. 

So führt uns George Sands Frauenleben zu den modernſten Problemen unſerer 
Zeit. Und wenn wir bei George Sand in ihren Liebesbeziehungen die künſtleriſche 
Kraft über das weibliche Empfinden triumphieren ſehen, ſo darf andererſeits nicht 
vergeſſen werden, daß gerade das Verhältnis, in dem bei ihr geiſtiges und perſönliches 
Leben zueinander ſteht, auf dem fruchtbaren Boden der Mutterſchaft erwachſen iſt 
und daher jene Sonderzüge weiſt, die uns kein Mannesſchickſal offenbaren kann. 





82 


Ghomas Mann, der Dichter Jer BuddSenbrooks. 


Bon 


@ertrud Baumer. 


Nadhbrud verboten. —— 


njere künſtleriſche Genußfähigkeit iſt heute weniger als je durch eine Richtung 

beherrſcht und beſchränkt. Wenn man in allen früheren literariſchen Epochen 

ſich unter den Willen irgend einer Anſchauungsweiſe beugte, die gleichzeitig 
Philoſophie und Geſchichte, Dichtung und bildende Kunſt zu durchdringen ſuchte, wenn 
man von einem Zeitalter der Romantik und des Klaſſizismus reden kann, ſo iſt das 
Zeichen unſres literariſchen Intereſſes eine wunderbar weite Vielſeitigkeit. Wir haben 
es gelernt, uns dem Einzelnen hinzugeben, der Perſönlichkeit zu lauſchen, mag ſie 
nun Maxim Gorki vder Maeterlinck oder Gerhart Hauptmann heißen. Wir fühlen 
uns in beſonderer Weiſe erquickt und beſchenkt, wenn ein durch und durch naiver 
Künſtler wie Frenſſen die Reichtümer einer ganz elementaren dichteriſchen Kraft vor 
uns ausſchüttet — und doch empfinden wir die berechnete Kunſt in dem Schaffen 
eines andern, auch eines Niederdeutſchen, deſſen Dichtung aus einer äſthetiſchen und 
pſychologiſchen Feinfühligkeit erwächſt, wie ſie nur die raffinierteſte moderne Kultur 
entwickeln konnte. Ich meine den jungen Hanſeaten Thomas Mann. 

Es iſt nicht anzunehmen, daß ſeine Bücher hundert Auflagen erleben werden. 
Sie ſind nicht dazu angetan, dem patriotiſchen Kulturhiſtoriker das Herz zu erquicken, 
als Zeugniſſe einer tatfrohen und lebensmutigen Volksſeele. Kein ſiegesſicherer 
Optimismus ſtreckt da ſeine ſehnigen Arme zu immer neuen ſchönen und großen Auf— 
gaben. Im Gegenteil. Thomas Mann ſteht vor den bunten Schickſalen der Menſchen 
mit einer Frage, deren Löſung wie die Entſchleierung des Bildes von Sais den Tod 
bedeutet: mit der Frage nach dem Geheimnis des Lebenswillens. Sie umſpannt 
ſeinen großen Roman: Buddenbrooks.) Jn welchem Sinn fie geſtellt iſt, verrät der 
Untertitel des Buches: „Der Verfall einer Familie.“ 

Drei Generationen eines hanſeatiſchen Kaufherrngefdledts fiibrt der Dichter an 
und voriiber. Ihre Geſchichte verläuft faſt ausſchließlich in dem eigenen in ſich und 
nach außen feſt geſchloſſenen Kreiſe. Die Mächte, die an ihrem Geſchick arbeiten, liegen 
in ihnen ſelbſt — ſelten nur und nicht im tiefſten Grunde entſcheidend, greift das 
Weltgeſchehen in das Leben des ſtolzen Patrizierhauſes hinüber. 

Wir finden die Buddenbroofs am „Familien-Donnerstag“ mit cin paar Haus— 
freunden in dem Gefellichaftssimmer, — das „Landſchaftszimmer“ heißt es in der Familie, 
nad) den arkadiſchen Schäferſzenen im Stil deS 18. Jahrhunderts auf den jartfarbigen 
Tapeten. Thomas Mann hat es wundervoll verfianden, in jedem Wort, das geſprochen 
wird, jeder Form, in der die Bezichungen diefer Menſchen fic) äußern, in jedem Stück 
ihrer Umgebung eine vornebme, durch äußeres Anſehen und innere Kraft gefeſtigte 
Familienkultur auszuprägen. 

Da iſt das Familienoberhaupt, der ſiebzigjährige Johann Buddenbrook; cin 
Stück der urwüchſigen, friſchen und zähen bürgerlichen Tüchtigkeit, mit der ſeine Vor— 
väter fic) heraufgearbeitet haben, miſcht ſich in ibm mit der weltmänniſchen Gewandtheit 
und Grazie des weitgereiſten Kaufherrn, der ſeine geſchäftlichen Erfolge nicht zum 


) Berlin, S. Fiſcher Verlag. 


Thomas Mann, der Dichter ber Buddenbrooks. 33 


wenigften der Sicherheit und Eleganz ſeines Auftretens verdanft. Sein rundes, rofiges 
Geficht mit dem bebaglichen Doppelfinn, feine heitere, ein wenig leictfertige Spottluft, 
die Urt, wie er mit einem ,n’en parlons plus“ furjer Gand über den ungeratenen 
Sohn zur Tagesordnung iibergeht, das alles zeigt ibn als cine unfomplizierte Natur, 
der das Bewußtſein gejunder Kraft eine heitere Überlegenheit gibt, und die, ohne jemals 
durch Sweifel an fic felbft beirrt gu werden, ihren Willen durchführt. 

Aber fein Sohn, der Konſul, ift [don ein anderer. Jn wenigen, faum merklichen 
Zügen verrat fic) in feinem Weſen ein Erlahmen der Lebensfraft, die fein Geſchlecht 
bis dabin aufbliiben ließ. Cr iſt weicher, nervöſer, Ddifferengierter. In einer etwas 
gewaltſamen Religioſität fucht fein minder felbjtjiderer Charafter Halt und Troft; bei 
ibm beginnt die Liebe zur Vergangenheit feines Geſchlechts, die ſorgſame Pflege alter 
Traditionen — eS ift wie ein unbewußtes Zuriidtreten von der Aufgabe, feinem Haufe 
eine Sufunft su ſchaffen. In der Wahl feiner Gattin äußert fich eine Neigung zum 
Befonderen, Diflinguierten. Cr fann nicht fo entfdieden und feelenrubig wie fein 
Vater die Rückſichten der Firma gegen den pflichtvergeffenen Bruder geltend machen. 
Es ift im unerträglich, daß er Dann der Getwinnende fein wird. Und fo wird der 
Schatten, der an jenem Familien:-Donnerstag über dad zuverſichtliche, ſtolze Wobhlbehagen 
ber Buddenbroofs hinhuſcht, von ifm allein wabrgenommen. Die Rede fommt auf die 
früheren Befiger des alten Gaufes; fie find verarmt, beruntergefommen, fortgesogen. 
Der Ronful weif, woran e lag. Die Familie war eben passée, fie hatte ab- 
gewirtſchaftet, ihre Zeit war voriiber. Der legte, der die Kataftrophe herbeiführte, 
war nicht mehr Herr feines Schickſals. Er handelte unter dem Swang einer unerbitt- 
lidhen Naturnotwendigkeit. — Konſul Buddenbroof bringt fein Leben nicht auf fiebenzig 
Sabre wie fein Vater. Er altert ſchon als Vierziger. Er wird als Geſchäftsmann 
ängſtlich, übervorſichtig; der Zuſchnitt der Firma bleibt ftabil. Und er ftirbt in einem 
Ulter, das fiir feinen Vater nod voller Plane und Unternehbmungen war. 

Cine glanjende pſychologiſche Kunſt entfaltet Thomas Wann nun in der 
Charafteriftif der Sdhne de3 Konſuls — jeder von ibnen Erbe ciner fiber ihr Maß 
qefteigerten ariftofratijden Rultur. In dem einen, Chriftian, verjagt die Kraft, feine 
Perjinlicfeit zu einheitlichem Wollen und Tun zuſammenzufaſſen, gang und gar. Sie 
jcheitert an einer unheimlichen und maßloſen Empfindlichkeit, die ibn jedem körperlichen 
und feelifdjen Cindrud ganz unterwirft, ein feinbefaitetes Inſtrument, auf dent ſich das 
Leben in grotesfen, jerfabrenen Melodien reproduziert. Jedes Körpergeſühl, jede 
Erregung verzerrt ſich ihm krankhaft durch eine unausgeſetzte nervöſe Selbſtbeobachtung. 
So iſt er unfabig, au irgend emer Konſequenz det Anſchauungen, ju irgend einer 
Feftigteit und RKlarbeit der Lebensformen zu fommen. Nur in immer neuen Senfationen 
findet ex voriibergehende Genugtuung. Gein äußeres Leben iit verwirrt und zerſtückt. 
Er ift überall nichts als der Bajazzo, der jedermann mit feinem fabelhaften Beobachtungs— 
und Nadahmungétalent unterbalt — im übrigen aber den Namen der Buddenbrooks 
durch unaufodrliche, immer offenfundigere Taftlojigfeiten fompromittiert. Thomas Mann 
ijt unerſchöpflich in der fonfreten künſtleriſchen Durchführung dieſes mit wunderbarer, 
man fann jagen, wiſſenſchafilicher Schärfe erfaßten Typus. 

Der Trager des Gejchices der Familie Budvenbroof ijt aber Thomas. Intelligent 
utd ebrgeizig, dabei ein durch und durch moderner Menſch, ſcheint er durch eine kühnere 
und gemalere Geſchäftsleitung der Firma den alten Glanz auch unter den verdnderten 
äußeren Vedingungen wieder erobern qu wollen. Seine Bildung, fein weiter Blid, 
jeine geſellſchaftliche Sicherheit verſchaffen ihm an dugerem Anſehen, an Ehren und 
Wiirden mehr, als einer feiner Vorfahren beſeſſen. Das Geſchäft blüht unter feiner 
Hand fichtlich auf. Und im Gegenjag yu Chriſtian iit in ihm jene andere Ceite alter 
Familienfultur ſtark ausgeprägt, nämlich das empfindliche Pflichtbewußtſein, das eine 
Sharafterform wird, wo Generationen ju Trägern ſchwerer Berantwortungen erjzogen 
werden mußten. Uber dieſe Strenge in den Anfpriichen an ſich felbjt bat bei Thomas 
Buddenbrook dod) nod cine andere pſychiſche Grundlage, das tiberempfindliche Gefühl 
fix eine gewiſſe äſthetiſche Abrundung und Vollfommenbeit jeder Leiſtung, das fic 
danernd fritifdy gegen die eigne Perſon richtet. Mur aus der VBefriediqung dicier 

3 


34 Thomas Mann, der Dichter der Buddenbrools. 


peinlich wagenden Selbjifriti€ erwächſt ibm fein Selbjtvertrauen und die Zuverſichtlichkeit 
ſeines Auftretens. Er mug es fic in beftdndiger äußerſter Anftrengung feiner nervifen 
Kraft erfimpfen. Und er gewinnt diefe 2** immer ſchwerer. Der Dichter 
bat das in einer Menge feiner Einzelzüge bis ins Kleinſte und Äußerlichſte hinein 
durchgeführt. In dieſem Kampf, der ſich mit Naturnotwendigkeit immer ſubtiler 
— verzehrt ſich die letzte Lebenskraft, die das alte Geſchlecht aus ſich zu erzeugen 
vermochte. 

Hundert Symptome, von denen eins das andere trägt, eins unerbittlich aus 
dem andern hervorwächſt, zeichnen den glänzenden, eleganten Thomas Buddenbrook 
immer deutlicher als einen Verbrauchten, Aufgeriebenen. Die ererbte Neigung zum 
Beſonderen, Außergewöhnlichen, zeigt ſich bei ihm als Vorliebe für das Raffinierte 
und Extravagante, an die Stelle von ſeines Vaters gezwungener Gläubigkeit hat er 
nichts Poſitives zu ſetzen, wohl aber liegt ein Reiz fiir ibn darin, ſich durch ſteptiſche 
oder revolutionäre Bücher einmal über alle Werte, an die fein Leben gebunden ijt, 
wegiegen zu laſſen. Nichts ſcheut er mebr alS Banalitdt oder ein unbeherrſchtes 
Preisgeben feiner Innerlichkeit. Immer weidht er injtinttiv dem Einfachen und All— 
tiglicben aus und fudt darüber binaus das Verfeinerte, Differengierte. Und er fieht 
vor jeinem Geſchick als ein Wiffender. Das äußert fic) beſonders flar in dem Wider: 
willen gegen feinen Bruder. Er fieht in Chrijtian den Sieg der Mächte, gegen die 
er mit Aufbietung aller Energie kämpft, und das Verſiegen aller Krajtquellen, auf die 
et angewieſen ijt, um fic) gu bebaupten. Und es zeigt fic) ebenſo carafteriftijd in 
der reizbaren Ctrenge gegen feinen Cohn, den jarten fleinen Hanno, dem die 
fiinftlerijdbe Beranlagung der Mutter als nod eine jehrende, aufreibende Macht ins 
Leben gefolgt ift. Thomas Budbenbrook fieht, wie der cingige Erbe de} Namens 
Buddenbroof von den Anfpriiden dieſes Namens erdriidt werden mug. Aber er will 
ſich gegen diefe Einſicht mit Gewalt verſchließen, aus Selbfterbaltungétrieb, denn er 
fann den Glauben an die Sufunft, den ftdrtiten Stimulus feiner verjagenden Kraft, 
nicht aufgeben. — Und dann bricht doc auf einmal diefe immer wieder aufgepeitidte 
Kraft jib zuſammen. Cin forperlicher Cingriff von graufamer und hobnvoller Gering- 
fiigigfeit ijt genug, feinen Tod berbeijufiibren. Und der eine Hanno hat ſchon den 
Anforderungen fener Schulfnabeneriftens feine Widerftandefabigkeit mehr entgegen= 
sujegen. Cr zerbricht unter ihren Anjpriiden, 

So vollzieht fic diefer „Verfall einer Familie” mit der flillen Sicherheit eines 
Naturvorgangs. Keine grofen dugeren Ereignifje greifen gewaltjam vernichtend ein. 
Langjam verjebrt ſich die gebeime, unfapbare Energie, dic dads Leben an ſich reift 
und befiegt, eine immer feiner werdende ſeeliſche Konſtitution bringt taufend verzehrende, 
aufreibende Spannungen, denen feine robufte Willensfraft mehr die Wage Halt. 


* * 
*x 


Die Abhängigkeit unſeres Schidjals von jenem verborgenen, gleichjam organifden 
Lebenswillen in uns — das ift das Grundproblem von Thomas Mann's Dichtung. 
Aud in feinen Novellen febrt es immer wieder, Der Wille gum Glück halt den 
Todfranfen gegen alle jogenannten natürlichen Gefege aufredt, bis das Glück fommt, 
und das geipannte gldubige Warten auf den Tod zieht ibn pünktlich zur erwarteten 
Stunde berbei. „Niemand ftirbt unfreiwillig. Das Aufgeben des Lebens und die 
Hingabe an den Tod geſchieht ohne Unterichied aus Schwäche, und diefe Schwäche 
iit ſtets die Folge einer Kranfbeit ded Körpers oder der Seele, oder beider. Man 
jtirbt nicht, bevor man einverftanden damit iſt“ — — —. Das find zwei Novellen 
aus ber erften, 1898 erjcbienenen Sammlung „Der fleine Here Friedemann“.) 

In anderen wird das Grundtbema variert. Nicht nur Leven und Tod, aud 
Rreude und Schmerz, Erfolg und Wiglingen, Kraft und Ohnmacht fteigt aus diefer 
Tiefe des Lebenswillens. Und fo fcbeiden fich die Menjchen im die eigentlich Lebens- 


) Berlin, S. Hither Verlag. 


Thomas Mann, ber Dichter der Buddenbrools. 85 


flarfen, die in frohbem Selbftgeniigen gu ibren Zielen ſchreiten, juverfidtlid) und darum 
ftoly und ſchön, und die anderen, die dazu bejtimmt find, fich zu blamieren, im grofen 
und im fleinen, vor fich felber oder vor der Welt. Und mit diefen legten, den 
Verjpiclten und Mißratenen, den Unjuldnglicen und Ziellojen, bat der Dichter eS zu tun. 
Wie fie mit Ddiefen LebenSfiarfen ringen in ſehnſüchtiger Liebe und berwundernder 
Ergriffenbeit, oder in bitterem Neide, in Haß und ohnmächtiger Wut, das gibt den 
Stoff fiir die glaingendfien feiner Novellen. Die erſte Skizze der zweiten Novellen- 
fammlung') gehört dabin, ,Der Weg gum Friedhof“. Cin Symbol von erfchittternder 
Wahrheit ift diejer verfommene, arme Schreiber, in feinem ohnmächtigen, unfinnigen 
Born über den elegant an ihm vorbeijaujenden Radler, und man fann fic nichts 
Ironiſcheres denfen, alS die Art, wie man fic) feiner prompt und ohne Umſtände 
entledigt. Thomas Mann hat eine Vorliebe fiir jolche feltjame, verjweifelte Oppofition 
eines einzelnen lächerlich unbebilfliden Menſchen gegen das Leben, das triumpbierend 
in ſeiner grenzenloſen Ungerechtigfeit an ibm vorbeijchreitet, Herr Spinell in der feinen 
Novelle ,,Trijtan”, aud) Hieronymus in , Gladius Dei” find folche traurigen Narren. 


x * 
* 


Von dem Kiinftler Thomas Mann ijt nod) nicht die Rede gewefen. Jn feiner 
Novelle ,,Tonio Kroger” hat er über das Wefen des künſtleriſchen Schaffens Worte 
gejproden, die einem Gelbftbefenntnis nabe fommen. „Man arbeitet ſchlecht im 
Frühling,“ fagt Tonio Kroger, ,gewif, und warum? Weil man empfindet. Und 
weil der ein Stiimper ijt, der glaubt, der Schaffende dürfe empfinden. Seder edhte 
und aufridtige Künſtler lächelt über die Naivetät Ddiejes Pfuſcher-Irrtums, — 
melancholiſch vielleicht, aber er lächelt. Denn das, was man ſagt, darf ja niemals 
die Hauptſache ſein, ſondern nur das an und für ſich gleichgiltige Material, aus dem 
das aſthetiſche Gebilde in ſpielender und gelaſſener Überlegenheit zuſammenzuſetzen iſt. 
Liegt Ihnen zu viel an dem, was Sie zu ſagen haben, ſchlägt Ihr Herz zu warm 
dafiir, fo können Sie eines vollſtändigen Fiaskos ſicher fein. Sie werden pathetiſch, 
Sie werden ſentimental, etwas Schwerfälliges, Täppiſch-Ernſtes, Unbeherrſchtes, 
Unironiſches, Ungewürztes, Langweiliges, Banales entſteht unter Ihren Händen .... 
Denn ſo iſt es ja: Das Gefühl, das warme, herzliche Gefühl iſt immer banal und 
unbrauchbar, und künſtleriſch ſind bloß die Gereiztheiten und kalten Ekſtaſen unſeres 
verdorbenen, unſeres artiſtiſchen Nervenſyſtems. Es iſt nötig, daß man irgend etwas 
Außermenſchliches und Unmenſchliches ſei, daß man zum Menſchlichen in einem ſeltſam 
fernen und unbeteiligten Verhältnis ſtehe, um imſtande und überhaupt verſucht zu ſein, 
es zu ſpielen, damit zu ſpielen, es wirkſam und geſchmackvoll darzuſtellen. Die 
Begabung für Stil, Form und Ausdruck ſetzt bereits dies kühle und wähleriſche Ver— 
hältnis zum Menſchlichen, ja, eine gewiſſe menſchliche Verarmung und Verödung 
voraus. Denn das geſunde und ſtarke Gefühl, dabei bleibt es, hat keinen 
Geſchmack. Es iſt aus mit dem Künſtler, ſobald er Menſch wird und zu empfinden 
beginnt.“ ... 

Dieſe Gedanken find fiir die künſtleriſche Eigenart von Thomas Mann charakteriſtiſch. 
Ich will nicht ſagen, daß ſie ganz mit ihnen identifiziert werden könnte. In einer 
ſolchen Weite und Zartheit der Beobachtung und ſolcher Fühlung für feine Perſönlichkeits— 
werte liegt viel mehr als das „kühle und wähleriſche Verhältnis“ des arbeitenden 
Künſtlers zu ſeinem Stoff. Ihre Vorausſetzung iſt vielmehr gany die gleiche, wie bei 
der „heiligen“ ruſſiſchen Literatur, von der Tonio Kröger mit melancholiſchem Neide 
ſpricht: ein verſtehendes und liebevolles Umfaſſen des Lebens mit den Organen tiefer 
und echter Menſchlichkeit. 

Aber das bleibt beſtehen, daß in Thomas Manns Künſtlertum eine ins Feinſte 
durchgebildete äſthetiſche Kultur ein ganz weſentlicher Faktor iſt. Auf Schritt und 
Tritt empfinden wir die Mitwirkung dieſes höchſt anſpruchsvollen, höchſt wähleriſchen 


') Triſtan. Sechs Novellen von Thomas Mann. Berlin 1903. S. Fiſcher Verlag. 
3* 


36 Thomas Mann, der Dichter der Buddenbroofs. 


Geſchmacks: in den raffinierten Wendungen und Pointen feiner Erzählkunſt, bem Taft, 
mit bem er andeutet, verfdweigt, umſchreibt; überall eine berednete Ausnugung der 
StimmungSswerte, man möchte jagen jedes Wortes, wie fie in der modernen Novelliftif 
ſonſt faum 3u finden fein dürfte. Und fo gelingen ihm die heikelſten künſtleriſchen 
Exrperimente — es gelingt ibm, Stimmungen, fo flüchtig und unweſenhaft wie die, 
aus der die Studie „Der Kleiderfdrant” rie nanos ift, gang klar und zweifellos 
auszudrücken, ohne doch ihre verſchwimmende Zartheit gu verlepen. 

Gine doppelte Gefabr liegt nad) meinem Gefiihl in diefer Art künſtleriſcher Ver- 
anlagung. Gie ift nach der intelleftuellen Seite etwas gu ſtark belajtet. Sie macht 
geneigt, die Dinge yu abftratt und theoretijd zu fagen, ſchwere Begriffsworte zur 
Vermittlung von Stimmungen gu veriwenden. Dieſes Umſchlagen der künſtleriſchen in 
bie wiffenidjaftlide Sprache fann als dichterifche Abſicht zuweilen von groper und 
{hiner Wirkung jein — 3. B. wo in „Buddenbrooks“ vom Tode ded fleinen Hanno 
bie Rede ijt. Störend tritt dieſe Neiqung aber juweilen in den Novellen Hervor, 
— aud in der als Qnterpretation wundervollen Umidreibung der Triſtan-Muſik. — 
Dann aber liegt in dem, wenn aud) feinfiihligen Spielen mit Effelten, in der Richtung 
dieſer Kunſt auf überraſchende, jähe Beriihrungen dev Nerven eine Tendenj, immer 
ungewöhnlichere, ftirfere Wirfungen aufjufuden. Thomas Mann wird der Gefabr, 
dabei die fiinftlerijdje Rube und maze gu verlieren, ficherlic) nicht fo leicht erliegen, 
wie die vermutlich nicht fleine Zahl derer, die es ibm nachmachen werden. Aber 
„Luischen“ ftebt dod ſchon an der Grenje, wo die künſtleriſche Geftaltung nicht mehr 
fiber die peinliche Brutalitat de} Motiv hinaushebt. 

Im Roman, der e3 nicht mit der Herausarbeitung einer Pointe, fondern mit der 
ganjen Fülle und Mannigfaltigfeit des Lebens gu tun hat, liegt diefe Gefahr nicht fo 
nabe. ,,Buddenbroofs” ijt ausgezeicdhnet durd eine vornehme Rube der Charafteriftif. 
Thomas Mann erfaßt feine Perjonen bei wenigen vielfagenden Ziigen und verfolgt 
dann die Weife des Bildhauers, der feinen Meifel immer wieder an denfelben Linien 
entlang führt, um fie immer mebr ju vertiefen. Tony Buddenbroof und Chrifiian, 
Gerda Arnoldjfen und Seſemi Weichbrodt, auch der Eleine Hanno treten uns immer 
wieder mit den gleiden — aud) wörtlich gleich) ausgedritdten — Merfmalen ihrer 
Erſcheinung, ibrer Bewegungen, auc mit gleichen Redewendungen entgegen, und es iff 
das, mit der techniſchen Sicherheit und dem Gefchmad eines Thomas Mann angewendet, 
zweifellos ein gliidlider Runfigriff, uns die Perjintichfeiten immer wieder lebendig zu 
machen und ibre Kontinuitat durch einen ſolchen Generationenroman feftzubalten. 

* * 
+ 

Nur wenige Ziige einer fo reidjen, vielfeitigen und komplizierten Dichterperſönlichkeit 
fann ein furjer Aufſatz andeuten. Und in der Auswahl aus der Fülle des Hervor- 
hebenswerten wird die eigene Neigung trog alles Willens gu objeftiver Darjtcllung 
und Wertung ju fpiiren jein. Vielleicht tritt Thomas Mann anderen von anderer 
Seite nabe — vielleicht ijt er auc) objeftiv nod) aus anderen Zentralpunften ju 
erfajjen. Wher dem Lebenden, dem in der Gegenwart, heute und morgen gu uns 
tredenden Dichter antworten die Cingelnen mit ihren individuellen Cindriiden. Später 
wird einmal die literariſche Wiſſenſchaft ihr wägendes, umfaſſendes Urteil fprecen. 
An Thomas Mann wird fie ficherlicy nicht voriibergeben. 





87 


huise von Sachsen-Weimar. 


Bon 


Maria von Bredow. 


Raddrud verboten. 


Zuf den ftrebenden Menfeben übt eine Biographie einen ftarfen Reiy aus. 
F Dieſer Nei; entipringt nicht nur aus dem wiſſenſchaftlichen Werte der Arbeit, 
* erwächſt auch nicht aus der Bereicherung der pſychologiſchen Crfenntnis, 
jondern berubt auf der Befriedigung eines perſönlichen Bedürfniſſes. Die großen 
Lebensfragen brennen in jeder ringenden Seele, ein jeder fiebt ſich vor der Aufgabe, 
Die Menfeblichfeit in einer ibm gemäßen Weife darzuftellen. Das Gefühl der Ber: 
antwortlichfeit aber treibt dazu, das Leben anderer zu ftudieren. Sind fie ihres 
Schickſals Meijter geworden? Haben jie ibres Wejens Kern herausgehämmert, daß er 
far bervortrat und lebendig zu wirken vermodte? Sind fie durchgedrungen zur 
Harmonie oder ijt in ihrem Wefen eine Diſſonanz, in ihrem Charakter ein Bruch 
geblieben? 

Unſerem modernen Frauengeſchlecht aber eignet das Ringende, Taſtende, aus dem 
Dunkel zum Lichte Strebende. Wir ſuchen die Menſchlichkeit in einer uns gemäßen 
Weiſe zum Ausdruck zu bringen; darum iſt uns jede Biographie hervortretender Frauen 
bedeutſam, gleichgiltig, ob ſie zur Vollentfaltung ihrer Kräfte durchdrangen oder in 
ihrer Entwicklung und Wirkſamkeit ſich gehemmt und gedrückt ſahen. 

Von dieſem Geſichtspunkte aus erſcheint die reiche Materialienſammlung, welche 
Eleonore von Bojanowski in ihrem Buche: Luiſe, Großherzogin von Sachſen-Weimar!) 
gibt, außerordentlich dankenswert. 

Das Lebensbild dieſer Fürſtin ſtellt uns vor ein Problem. Aus eigener Wahl 
reicht Lniſe von Heſſen als Achtzehnjährige dem jugendlichen Karl Auguſt von Weimar 
die Hand und tritt dadurch in eine Umgebung ein, in der ſich das geiſtige Leben dieſer 
reichen Zeit in einzigartiger Weiſe ſammelt. In dieſer Umgebung, in der Anna 
Amalie ſich ſo wohl fühlt, in der ſie ihre Perſönlichkeit mit voller Kraft geltend machen 
kann, ſteht Luiſe im Dunkel. Sie wird die Gemablin eines Fürſten, der, cine geniale 
Natur, nach ſchwerem Entwicklungsgang ſich zur Tüchtigkeit ausreift und eine Kette 
tiefſter Wirkungen zurückläßt. Und an der Seite dieſes Gemahls ſcheint der Lebens— 
ſtrom in ihrer Bruſt zu verſiegen, wie Proſerpina nach dem ſymboliſchen Apfelgenuß 
ſinkt ſie immer tiefer in das Reich der Schatten — des Mißtrauens, der ſcheuen Ver— 
ſchloſſenheit, des einſamen Grams. Die Ziige der achtunddreißigjährigen Fürſtin zeigen 
eine eingeſchloſſene, zurückgeſcheuchte Seele. 

Und doch glaubte jeder, mit dieſer Ehe ein tiefes Glück für beide Teile begründet 
zu ſehen. Die Zeitgenoſſen jubeln der Verbindung der jiingiten Tochter der „großen“ 
Landgräfin Katharina von Heſſen, die ihrer Mutter „an Herz und Geiſt gleiche“, 
mit dem jungen, ſo viel verſprechenden Karl Auguſt zu. Die Prinzeſſin war in 
Darmitadt aufgewachſen, zu einer Zeit, da ſich im Darmſtädter Leben cine geiſtige 
Färbung bemerkbar machte, da der junge Goethe „als Wanderer“ mit Urania und 
Vila ſchwärmeriſche Mondſcheinpartien machte und mit Merck in fruchtbarer Verbindung 





) J. G. Cotta Rachf., G. m. b. H. Berlin und Stuttgart 1903. 


88 Luiſe von Sadjen- Weimar. 


jtand, da Herder ſich mit Karoline Flachsland, der „Pſyche“ Goethes, „der leichten, 
vergniigten Unſchuldsgöttin, der Blume der Menſchheit“ verlobte. Die Landgräfin 
Katharina hatte durch die von ibr veranlafte erjte Sammlung Klopſtockſcher Oden 
ibren Anteil an der erwachenden deutfchen Literatur gezeigt, und fo erſcheint ibre 
Tochter, die fecblanfe, anmutige Prinzeſſin, den Zeitgenofjen wie eine Verkörperung der 
„ſchönen Seele”, der mafvollen Anmut, des Ideals der Weiblichfeit, wie es ſich dieſe 
Beit geformt hatte. „Prinzeß Luiſe! Wahrlich, eine große Seele — icy bitte jie 
küſſen mögen!“ ruft Lavater, „der Seelenkenner“, mit dem die jugendliche Pringeffin 
in cinen brieflichen Gefühlsaustauſch tritt. Und. dod ift diefer ganze Anflug von 
Empfindſamkeit ihrem Weſen fremd, eS ift ein Zug, der in fie von den Zeitgenoſſen 
hineingetragen wird — Bliitenftaub, der von außen auf die nods weiche, unentwickelte 
Knoſpe fallt, cine Weile haften bleibt, um von der fich entfaltenden Blume abjufallen, 
ohne den leiſeſten Fruchtanſatz zu bringen. WAber diefer Bliitenftaub war geeiqnet, das 
Herbe der jugendlichen Knoſpe liebevoll zu umbiillen, die Selbjtindigfeit ihrer Natur 
zu verbergen. 

Schon die Mutter, eid früh verjtorbene, vermift in ihrer Charafteranlage die 
Weichheit. Jn ibren jugendlichen VBriefen tritt die Perſönlichkeit ſo wenig bervor, das 
jie uns falt und fonventionell erfcbeinen. Diefe qebundene Zurückhaltung bewabrt Luiſe 
lange Beit felbjt in dem vertrauteften brieflichen Verkehr. Sogar in den Briefen an 
den geliebten Bruder, den Prinzen Chriftian, in denew ſich fonft einige feinere Farbungen 
ibres Temperaments offenbaren, ſpricht fie nicht von den Menſchen des Hofes und 
ibres Umgangskreiſes in Weimar. Erſt als reife Frau beginnt fie Goethe yu erwabnen. 
Dieſe cigentiimliche Abgeſchloſſenheit und Keuſchheit, dieſes geringe Bedürfnis, ſich aus- 
zuſprechen, die Unfähigkeit, ihr Weſen nach außen hervortreten zu laſſen, ſcheint der 
ganz unentwickelten Perſönlichkeit ſchon zu eignen, ohne daß Die Wurzel dieſer Er— 
ſcheinung gleich erkennbar wäre. Der junge Karl Auguſt ſchreibt in einem Briefe an 
Wieland nach ſeiner Verlobung eine Charakteriſtik ſeiner jungen Braut: „Sie beſitzt 
diejenige große Eigenſchaft,“ ſagt er deutſch in einem ſonſt franzöſiſch geſchriebenen 
Brief, „welche Leſſing in Delheim ſo ſehr veredelt, nämlich nie von einer Tugend zu 
reden, die ſie beſitzt, es ſei denn die höchſte Not.“ Dieſe Scheu, mit der ſie ihr 
Innenleben verhüllt, hält fie zeitlebens dann im Schatten, bis der Augenblick ſchwerer 
Bedrängnis fie zwingt, hervorzutreten, und der Heroismus ihres Charakters Napoleon 
die bewundernden Worte abringt: „Voilà pourtant une femme, à laquelle nos 
deux cents canons n'ont pas pu faire peur.“ 

Die Keuſchheit, mit der fie von ibren Tugenden ſchweigt, deutet aber nod auf 
cine andere Seite ihres Weſens, nämlich auf eine ftarfe Wabrbeitslicbe, die in der 
fittlics fraftigen Anlage der jugendliden Prinzeſſin begründet ſcheint, und die fie jeden 
duferen Glanz, jede Effekthaſcherei fürchten läßt. Mit diejer intimen Dnnerlichfeit, 
dieſem ausgeprägten Sittlichfeitsgefiihl, verbindet fics ein Sinn fiir das Schickliche, der 
ſchon die ſechzehnjährige Prinzeß, „die zarte, leichtverlegliche’ mit „einer Mauer” um— 
gibt. Die Landgräfin Katharina, der die Tochter ſo ähnlich ſein ſollte nach dem Urteile 
Der Zeitgenoſſen, und mit der fie in Wahrheit wenige Züge gemeinſam bat, beluſtigt 
ſich in ibrer frifehen, etwas derben Art über ihre ſcheue Empfindlichkeit und nedt fie, 
indem fie ihr in Petersburg anläßlich eines Maskenballs, als Herr verkleidet, entgegen— 
tritt und einen etwas feden Ton anſchlägt; fie weidet fich an der tiefen Entrüſtung 
der faſt nod) kindlichen Prinzeſſin. 

Dieſer Sinn für äußere Formen eignet ihrem Weſen in einer Weiſe, daß er 
durch ihr ganzes Leben ein hervortretender Zug bleibt. Der Kanzler von Müller 
zeichnet die Herzogin, wie ſie „die alte Hofſitte repräſentierend, den oft zudringlichen 
Anforderungen wandernder, in der Genieherberge Weimars fleißig einkehrender Dichter 
und Dichtergenoſſen den Damm des Hofgebrauchs entgegenſtellt.“ Schiller hat Bedenken, 
der Fürſtin ſeinen „Handſchuh“ vorzuleſen, da ſie an der Schlußſtrophe Anſtoß nebmen 
könne. Mit den zunehmenden Jahren ſteigert ſich die Förmlichkeit ihrer Haltung, aber 
ſchon aus der jugendlichen Erſcheinung ſpricht „ein ruhiges Bewußtſein weiblicher und 
fürſtlicher Würde, Das vereint mit der aufrechten Haltung ihrer mittelgroßen ſchlanken 


Luife von Sachfen- Weimar. 39 


Figur ibrer Erſcheinung trog ihrer Jugendlichfeit den Ausdruck ſtolzer Gelaſſenheit 
verleibt.” Schiller ſchildert ſie Körner als eine edle Figur, „aber mit viel Stolz und 
Fürſtlichkeit im Gange“. Und Schiller gegenüber tut ſich dieſes hochariſtokratiſche 
Empfinden der Fürſtin des achtzehnten Jahrhunderts in charakteriſtiſcher Weiſe fund. 
„Sie findet es ſchade, daß ein ſo anziehendes und hübſches adliges Mädchen (wie 
Lotte von Lengefeld) Schiller, dev jest Profeſſor in Jena fei, heirate.“ 





Aus: „E. von Bojanowshi, 
Luife, Grofhersogin ven Sadjfen- Weimar.” 


J. G Cotta fhe Buchhandlung Nachfolger, G m. 6. O. in Stuttgart und Berlin. 


So ftarf ijt dies Selbſtgefühl der Fürſtin, fo febr mit dem inneriten Kern ibrer 
Individualität verwachſen, daß es ſogar im jtande ijt, ſpäter ibre Freundſchaft mit 
Herder zu zerreißen, mit Herder, deſſen geiſtigem Einfluß fie viel Mube und Kraft zum 
Ertragen verdantte. Die verſchiedenen Anſichten über die franzöſiſche Revolution 
bracken das Verhältnis. Sie fornte Herder nicht ganz vergeben, dah er das Regen 
einer neuen, qrofen Beit in ciner Bewegung fab, in welder fe mur einen gabnenden 
Abgrund erblidte, in dem dic Lisherige Weltordnung zu verjinfen drobte. 

Es war dies empfindliche fürſtliche Selbſtgefühl auc, das Luiſe veranlaßte, ibre 
Hand Rarl Auguſt zu reichen, ja, durch die Generalin von Yrettlad auf cine Bee 


40 Quife yon Sachfen- Weimar. 


ſchleunigung ibrer Vermählung ju dringen. Da fie gar keine Besiehungen yu ibrem 
Vater hatte, der, cin Sonderling, ſeiner eigenen Familie ſehr fern ſtand, war ſie nach 
dem Tode ihrer Mutter an den Hof von Karlsruhe, zu ihrer Schweſter, der Erbprinzeſſin 
von Baden, gezogen. Dort aber fühlte ſie ſich nicht an ihrem Platz, ihre Stellung 
entſprach nicht ibren Wnjpriichen; fie hoffte in Weimar einen ibrer fiiritlichen Würde 
gemäßen Wirfungstreis yu finden. Sie gieht Karl Augujt dem Erbprinzen von 
Medlenburg vor. Ihre Mutter hatte fdon an eine Verbindung dieſer ihrer jungften 
Tochter mit Anna Amaliens Sohn gedacht, und bei der Begegnung in Erfurt 1773 
hatte der 16jäahrige Knaben— Jüngling Eindruck auf das halberwaͤchſene Maden gemacht. 
Außerdem glaubt ſie ſich geliebt. Karl Auguſt war zur Zeit ihrer Verbindung noch 
nicht in ſeine große Entwicklungsphaſe getreten, welche Goethe in „Dichtung und 
Wahrheit“ und in „Ilmenau“ charakteriſiert. Roch ſtand er in der Tradition, eben 
war er aus der Hand des Erziehers entlaſſen, am 3. September 1775 hatte er zwar 
die Regierung übernommen, ſie während der Vermahlungsfeierlichkeiten aber in der 
Mutter Hand suriidgelegt. Er war nods ganz jung, ganz unreif, feine Mutter wünſchte 
die Verbindung mit Luije von Heffen. Ceine Stellung zu feiner Vermablung charafterifiert 
fic) durch die Worte, die er an Dalberg febreibt: „Jedermann rühmt ihren Charafter; 
jie wird mir belfen, meine Untertanen glücklich zu machen; Den angenebmen Cindrud, 
den fie in Erfurt auf mich gemacht bat, babe ich nie vergeſſen. Wie fonnte ich Anjtand 
nebmen . . .“ Ebenjo flingen die Worte aus einem Briefe, den er von Frankfurt aus 
auf der Brautfabrt an die Mutter ſchreibt: „Jedermann fpricht unendlich viel Gutes 
von Luife, und Seine Hobeit (der Crbpring von Medlenburg), mein Rebenbubler, war 
ſchrecklich verliebt; ich würde ſehr gliidlid) fein, vorgeyogen zu werden.“ 


He Ht 
a 


So treten diefe beiden Kinder in dic Che. Die „dämoniſche“ Natur des Herzogs, 
mit dem kräftigen Triebleben, dem ungeitiimen Begebren, läßt ſich durch die Che- 
feſſeln nicht zurückhalten, ſich voll ausjuleben, um ſich — nach ſchweren Jahren 
unablaffigen Ringens sur Entfaltung zu bringen. Der jungen Aran wird natitrlich 
cin gleiches Recht des Cichentividelns nicht zugeſtanden. Sie ftebt in der engen 
Sphäre fürſtlich— weiblicher Taätigkeit, von ihr wird erwartet, daß fie im weſentlichen 
mit ihrer Perſönlichkeit fertig iſt, daß ſie jedenfalls das Maß innrer Harmonie, Güte 
und Milde hat, das zu einem ehelichen Zuſammenleben nötig iſt, daß ſie ſich in den 
Gatten einlebt, denn ſie iſt Gattin und wird Mutter. 


Luiſe hatte ſo viel von Weimar erwartet, und gleich bet ihrem Eintritt ward 
ſie enttäuſcht. Sie, die ſolch ausgeprägtes Gefühl für das fürſtliche Dekorum hatte, 
fand kein ihr angemeſſenes Heim. Das Fürſtenſchloß war Ruine, das proviſoriſche 
Wohnhaus ein ſchmuckloſes, nüchternes Gebäude. Dreißig Jahre mußte ſie, deren 
Weſen durch Außerlichkeiten ſo leicht verletzt wurde, auf ein würdiges Heim warten. 
Aber ſchlimmer als das, — ſie fand ſich in die Rolle einer Zuſchauerin verwieſen 
an einer Stelle, wo ſie gehofft hatte, die Handelnde zu ſein. Wenn Anna Amalia, 
die erſt in den Dreißigern ſtand, auch die Regentſchaft niedergelegt hatte, ſo wollte 
dieſe hoch begabte Frau, die Weimar aus der kleinſtaatlichen Bedeutungsloſigkeit 
gehoben hatte, natürlich nicht auf ihre führende Stellung in den geſellſchaftlichen und 
literariſchen Kreiſen Weimars verzichten. In ihrem Palais hatte ſie einen Muſenſitz 
geſchaffen, deren Mittelpunkt ihre geiſtvolle Perſönlichkeit bildete. 

Neben der reichen, kräftigen Individualität der Vollentfalteten trat die jugend— 
liche Erſcheinung der ſcheuen, verſchloſſenen, zurückhaltenden Herzogin in den Schatten, 
Sie fühlt ſich bei den Feſten überſehen. Sie klagt ſpäter, man habe ſie in den erſten 
zwanzig Jahren in Weimar kaum gegrüßt. Nie hat ſich ein warmes Verhältnis 
zwiſchen Luiſe und ihrer Schwiegermutter ausgebildet; nie hat Luiſe einer bitteren 
Schärfe Herr werden können, mit der ſie der Fähigkeit Anna Amaliens, Eindruck 
zu machen, gegenüberſtand. Denn ihr fehlt die Gabe, durch welche die Frau auch 





Luife von Sacdfen: Weimar. ; 41 


im — Geſchick Glück finden kann, die Gabe, rein durch die Perſönlichkeit 
zu wirken. 

Die Wurzel, aus der all ihre Zurückhaltung, ihre Scheu, ſich auszuſprechen, ihre 
Herbigkeit entſpringt, ſie zeigt ſich im Eheleben: Luiſe iſt eine völlig unſinnliche Frau, 
ihr rinnt der Lebensſtrom nicht heiß durch die Bruſt, ihr fehlt jedes kräftige Trieb— 
leben. Damit aber fehlt ihr die natürliche Wärme, der mütterliche Inſtinkt und die 
Fahigkeit, ſich in cine andere Natur einzulauſchen, einzufühlen: jene Phantaſie, die dem 
Menſchen ermöglicht, die eigene Pſyche der Pſyche des anderen anzuſchmiegen, unbewußt 
oder auch bewußt die Färbung ſeines Weſens anzunehmen, und durch die Frauen, wie 
Rahel Varnhagen, Charlotte von Stein, ſo außerordentlich wirkten. Sie ſteht immer 
verſchloſſen, in der eigenen Perſönlichkeit gfangen. „Sie bat” — nach der Ausſage 
ihres Gemahls — „kein Talent, welches ihr Weſen einölt und biegſam erhält.“ Aus 
ihrer kantigen Selbſtändigkeit kann ſie nicht heraus. Sie wundert ſich einmal, daß 
ſie überhaupt in den Fall kommt, anderer Anſicht zu ſein. Es erſcheint ihr unbegreiflich, 
ein Rätſel. So überbrückt keine Liebe die Kluft zwiſchen ihrer Individualität und der 
ihres Gatten. Wenn ihr feines Schicklichkeitsgefühl ſich durch das kraftgeniale Treiben 
Karl Auguſts verletzt fühlt, jo tritt ihr Unmut ſcharf und bitter hervor. Stahl ſtößt 
auf Stein. „Ich ſah in ihre Seele,“ ſchreibt Goethe Januar 1776, „und beqreife 
nur nict, was ibr Herz fo zuſammenzieht, und doc, wenn ich nicht fo warm fiir fie 
wire, ite bitte mich erkaltet.“ 

So fann fie wie Vila ,nicht bebalten, was iby das Schickſal gab, Liebe und 
Güte flieht ibr wie flares Waſſer durch die dande. “Sice verliert ihren Gemahl, jie 
muß ſehen, wie er, der Ehe nicht achtend, Nebenverbindungen cingebt. Das Gefiibl, 
nicht wirken ju tinnen, nimmt ihr auch das Bewußtſein ihrer Lieblichkeit, ſie wird 
ſteif und unliebenswürdig. „Ich nehme an mir wahr,“ ſchreibt ſie an Herder nach 
den ſchweren Erlebniſſen ibrer Ehe, „daß ich immer sutriidthaltender und mißtrauiſcher 
werde. Ich tadle mich deswegen, aber ich kann nicht Herr über dieſe ſchlimme Seite 
werden.“ Sie glaubt ſich nicht fähig, Beziehungen wiſchen ſich und andern herzu 
ſtellen. Sie ſehnt ſich in die Einſamkeit, das Leben in einem Kloſter erſcheint ike 
lockend. 

Rod erhofft fie viel von der Geburt ihrer Kinder. Sie freut ſich über ihr 
erſtes Töchterchen, die Geburt de Erbprinzen erfüllt fic mit dem glücklichen Gefühl, 
daß ihr Leben jetzt einen Inhalt habe — daß ſie den künftigen Herrſcher zu erziehen habe. 
Aber bald ſchreibt jie wieder an Herder: „Ich und die Hoffnung, wir kennen uns 
lange nicht mehr.“ Bergebens fucht Goethe feine Harmonie in ibre ,,qetrennte Gegen- 
wart” zu tragen. Bei der Geburt des jweiten toten Prinzen ſagt ſie: „Es wäre 
beſſer, ich wäre am Blutſturz geblieben, damit der Herzog cine andere Frau Heiraten 
finnte” und febreibt an Herder: „Die ganze unglückliche Begebenbeit hat cinen Cine 
dDrud auf mich gemacht, fiir welchen ich feine Worte habe, und der jich nie ganz ver— 
lieren wird. Ich foll und fann nicht mebr hoffen, aber wie febn’ ich mid) nach Rube!” 
Bon fieben Kindern blieben der korperlich zarten Frau mur drei; doch auch an der 
Entwidlung diefer Kinder zeigt fie nicht die Freude, die jonjt eine Mutter befeelt. 
„Das Organ fiir Kindesliebe ijt bei mir nicht febr ausgebildet,” fagt ſie einmal. Jn 
ibr Mautterempfinden miſcht fich friih das fürſtliche Verantwortlichfeitsqefiibl fiir die 
ſpatere Entwidlung der Kinder. Zudem hindert fie im Verkehr mit ihren Angebirigen 
iiberbaupt, beſonders mit ihren Rindern, iby unbeſtechlicher Wabrbeitsiinn, ihr ſcharfes, 
klares Urteil. Sie ſieht alle Schwächen und Fehler, alle Einſeitigkeiten ohne jede 
Illuſion und tritt den Ihren mit Kritik und Anforderungen ſtatt mit Liebe entgegen. 
Qu ihrer Tochter Karoline entwickelt ſich üuberhaupt fein Verhältnis. Kühl urteilend 
itebt die „ugeſchloſſ ene und zuſchließende“ Ratur der Mutter diefem ,, holden Prinzeßchen“ 
gegenüber, dem ſich alle Herzen öffnen, und unter deren Zauber ſich die großen Geiſter 
Weimars verjüngen. Dieſes Mißverhaltnis, „das — nach Goethe — als Naturerſcheinung 
der Weiblichfeit anzuſehen und cin unwiükürliches geweſen fei” — führt Eleonore 
pon Bojanowsti auf die tiefe Bitterfeit zurück, ,,mit der Luiſe als Frau, als Fürſtin 
die Unvollfommenheit des weiblichen, mehr noch des fürſtlich weiblichen Loſes, die fle 


42 Luiſe von Sadfen- Weimar. 


an fics felbjt fo bart erjabren hatte, empfand.” „Vielleicht,“ urteilt die Biograpbin, 
„daß fic unter dem Gedanfen litt, in ihrer Tochter Tantalus’ Gefeblecht aufwadjen zu 
feben.” Es iſt nicht ausgefehloffen, dak das Bewußtſein, die Tochter einem „eng— 
gebundenen“ Geſchick entgegenzuführen, auf die ſchwerleidende Mutter einen empfindlichen 
Eindruck machte; an der Entwicklung ihrer Enkeltöchter nimmt ſie freilich ſpäter 
lebhafteſten Anteil. Vielleicht, daß ihr, die überhaupt wenig mütterliche Inſtinkte 
beſaß, die Kinder aus der ſie unbefriedigenden Ehe im ganzen wenig lieb waren, und 
bei den Söhnen das Mißverhältnis nur weniger hervortritt, weil ihr ſtarkes Pflicht— 
gefühl ſie Anteil an der Erziehung künftiger präſumptiver Thronfolger nehmen läßt. 
Mit ihrem Sohne Bernhard verband ſie überdies die gleiche heroiſche Anlage. 


* * 
* 


Es ijt dieſer Heroismus in ihrer Anlage, der fie nicht untergehen läßt. Ste 
bleibt nicht ſtecken im Dunkel, im verbitterten Gram. Cin doppeltes Hilfsmittel bietet 
ihr ihre Natur. Einſeitig iſt ſie, aber nicht arm; ſchon an der jugendlichen Luiſe 
rühmt Katharina von Rußland den klugen Kopf. Dieſe Anlage befähigt ſie, einerſeits 
ihrem Leben einen reicheren Inhalt yu verleihen, andererſeits aber, ſich auf die Höhe 
der Betrachtung emporzuringen, in der das Glücksbegehren verſchwindet, in der der 
Blick rein und frei wird, die Schwächen der eigenen Natur erkennt und milde auf 
die Fehler anderer blickt. Das Heil kommt ihr von der geiſtigen Arbeit. Ihre 
Intelligenz hilft ihr, ihre ſtarken ſittlichen Inſtinkte ins Bewußtſein zu heben, und ihr 
Wille ringt nach Verwirklichung der gewonnenen Maximen. Herder iſt es, welcher 
der einſamen Frau beim Aufwärtsſteigen die Hand bietet. Er lieſt mit ihr Shakeſpeare. 
Ihr eigentümlich berber Geiſt wird vor allem von Julins Caeſar und Coriolan 
ergriffen. Der ſtolze Heroismus des Romertums zieht fie an. So ſtudiert jie Die 
lateiniſche Sprache und lieſt die römiſchen Schriftſteller. Die Arbeit bereitet iby Genuß. 
Villoifon erzählt, die regierende Herzogin verbringe fait den ganzen Taq mit Lefer 
und Studieren. Sie lernt, aus der Enge ibrer Perſönlichkeit herausjutreten, der 
Gigenart anderer völlig gerecht yu werden. Mit Frau von Staél, deren Natur der 
ibren fo völlig entgegengeſetzt ijt, befreundet fie ſich eng und Lift nicht nur die geiſt— 
volle Scbriftitellerin, fondern auch dic temperamentvolle Frau obne Antipathie auf fich 
wirfen. Cie felbjt geftebt, in früheren Jahren würde fie Frau von Staél nicht 
qemodt haben. Ihre außergewöhnlichen Wanieren, dic Formloſigkeit, mit der fie ihr 
leidenſchaftliches Innenleben ausſprach, batten fie abgeſtoßen. Der geklärte Geiſt Der 
gereiften Fürſtin aber läßt die Eigenart der Franzöſin gelten, und die Gleichheit 
ihrer politiſchen Anſichten und ihrer ſittlichen Anſchauung verbindet die beiden 
Frauen. 

Der außerordentlich hochentwickelte Sinn der Herzogin fiir Hiſtorie und Politik 
ſollte auch das Verhältnis zu ihrem Gatten zur Freundſchaft werden laſſen. Dieſe 
Umgeſtaltung ihres Bundes konnte aber erſt nach Jahren des ſchwerſten Ringens 
eintreten. Erſt mußte die geiſtige Reife der Herzogin auf einer Hobe fein, welche fie 
die ſo ganz anders geartete Perſönlichkeit des Herzogs werten ließ; und ein ſchwerer 
Kampf ging vorauf, ehe Luiſe ihr Geſchick als Karl Auguſts Gattin überwand, che 
ſie weder Glück noch Liebe mehr von ihm begehrte. Jedoch die außerordentliche 
ſittliche Größe, die Selbſtbeherrſchung, die Luiſe in ſchweren Tagen zeigte, gewann 
ihr die Wiirdigung des Gemahls. Ihre Natur, der die Leidenſchaft fremd, aber der 
Sinn fiir Sitte und Konvention eingeboren war, mußte unendlich unter dem Hange 
des Herzogs zu erotiſchen Abenteuern leiden. Aber ſie überwand ſich, ſie lernte auch 
hier milde urteilen, weil fie die iby fremde Perſönlichkeit begreifen lernte. Ihre 
Selbſtbeberrſchung charakteriſiert ſich durch einen Brief von Frau von Stein aus der 
Zeit, in der die hochbegabte Karoline Jagemann ihre volle Wirkung auf den Herzog 
ausübte und das Verhältnis öffentlich geworden war. Charlotte von Stein berichtet: 
„Es war Cour, die Jagemann fang, und wie fie geendet batte, machte ihr Die Herzogin 
cin ſehr bemerkbares Rompliment.” Ja, aus den Briefen, welche die Biographin ver: 
Gifentlicht, gebt hervor, daß Luiſe es war, die Karoline Jagemann veranlafte, die 


Luife von Sadhjen- Weimar. 43 


Stellung einzunehmen, die fie als Frau von Hevgendorf mit dem Herzog verband. 
Jedenfalls billigte fie die Verbindung und empfabl ſpäter auch cinen der außerehelichen 
Söhne des Herzogs ihrem Bruder. Bei diefem Entſchluß kam freilich Luiſe ibre 
Leidenſchaftsloſigkeit yu Hilfe, — ihre ſelbſtändige Natur lebte nicht im Gatten. Nichts— 
deſtoweniger liegt in ihrer Haltung eine ſittliche Größe, welche der nach der Schlacht 
bet Jena bewieſenen gleichkommt und ihr die von da an ſtets fteigende Würdigung 
ibres Gatten erwarb. Bald verbinden fie die qemeinfamen politiſchen Intereſſen, Luije 
— den Herzog in das Feldlager von Frankfurt, und ungern entbehrt Karl Auguſt 
ihren Rat. 

Die Freude am politiſchen Leben entſpricht dem klaren, hiſtoriſch geſchulten Sinn der 
Fürſtin. Die Wirkung der Kunſt tritt in ihrer Entwicklung mehr zurück. Erſt als gereifte 
Frau ſpricht ſie von dem literariſchen Leben Weimars und urteilt über die Werke, die 
Goethe als goldene Früchte von ſeinem Lebensbaume bricht. Als der Dichter aus 
Italien zurückgekehrt iſt, findet der Vereinſamte bei der Herzogin das reinſte Verſtändnis. 
Er lieſt thr Taſſo unter bliibenden Bäumen im Park von Belvedere vor, und unendlichen 
Genuß bereitet es der feinfinnigen Fiiritin, unter dem Sebleier Ferraras Weimars 
Vild, in der Geftalt der tiefempfindenden, verſchloſſen duldenden Prinzeſſin manchen 
Sug der ciqnen Seele yu finden. Der „Fauſt“ entzückt fic, und fie erwartet von dem 
qeliebten Bruder, dah er zugebe, „daß es cin Meifteriverf feiner Art fei”. — Ja — 
Goethe findet bei der milde urteilenden, gereiften Herzogin Verſtändnis fiir feine 
Beziehungen zu Chrijtiane. Die Freundin Frau von Steins, die Verebrerin des Grund: 
jages „Erlaubt oft, was fic ziemt“ bat jtets regen Anteil an Chrijtianens Geſchick 
genommen. Und mit der geijtigen Weite und Vertiefung wächſt die Befcheidenbeit, 
Die Der ftoljen, wabrbaften Frau ftets eigen war. Die Ehrfurcht vor fremder Größe 
lebt in ibr, fle wagt es nicht, Goethe zu charafterijieren, „ein fo außerordentliches 
Wefen in feiner Größe darzuſtellen.“ 


* + 
* 


So regelt ſich iby Verhältnis mit den Menfeben der Außenwelt. Freilich ibre 
Zurückhaltung bleibt, ibve Sebeu, ſich auszuſprechen, iby Hang yur Cinfaméeit ijt nicht 
zu tiberwinden, fo febr fie kämpft. So febreibt fie: „Je sens un poids sur mes épaules, 
qui provient de ma bétise, de ma maladresse de ne pouvoir aisément et lentement 
me faire & tout, aux hommes, aux femmes, aux filles et aux garcons, Mais 
avec l'aide de Dieu j'espére devenir victorieuse de tous mes sentiments, de 
toutes mes sensations et c’est au fond ce que je pense faire de mieux et de 
plus sage.“ Diefe nicht überwindbare Zurückhaltung, dieſe Scheu, mit der fie ibr 
Innenleben verbiillte, ließ nur wenigen die ſittliche Größe ibrer Natur offenbar werden. 
Sie ware zeitlebens unerfannt im Schatten geblieben, wenn nicht ein Ereignis eine 
qetreten ware, das ibren heroiſchen Mut, ihr hohes Pflichtgefühl offenbar gemacht hatte. 
,Par ce jour ses vertus privées sont devenues publiques“ äußert Frau von Staél. 
Die Schlacht bei Vena war gefdlagen. Der Herzoq war bei der Armee, auch der 
jiingite Sohn Luifens, der viersebnjabrige Pring Bernhard, war als Freitvilliger dem 
Stabe des Fürſten von Hobenlobe jugeteilt worden. Die Herzogin Anna Amalia, der 
Erbprinz und die Erbpringejfin — alle waren abgereijt. Die Herzogin Luife aber bleibt 
obne irgendwelche militäriſche Bededung im Schloß yu Weimar zurück. Sie verbarrt 
auf dem ausgeſetzten Poften, auf den fie ſich von ihrer Pflicht als Landesmutter 
verwiejen fiebt.  ,, Unter ibrem Schutze verfammeln ſich im Schloſſe Hunderte von 
Arauen und Kinderm . . . und in dem Gewirr bewegt fic die Herjogin wie cin 
ſchirmender Genius.” Sie bleibt fich gleich, keinerlei Unterſchied gegen ſonſt ijt zu 
bevbachten. So ftebt fie und barrt aus — ibr tapfrer Knabe, der im Feuer cine 
hervorragende Haltung gezeigt bat, fommt auf einen Yugenblid. Cie bat fiir ibn 
gefürchtet, bat ibn verwundet geglaubt. Tief ergriffen ſchließt fie den fleinen Helden 
in die Arme — — cinmal tritt fo das Muttergefühl, der Mutterſtolz in ibr bervor, 
— geweckt durch das Heldenbafte. — 


44 , Luife von Sacdfen: Weimar. 


Sie harrt aus, Untertanen und Freunden eine Stiipe in der Not — die Stadt 
füllt fich mit Franzoſen, die Plůnderung beginnt, ſie hat 24 Stunden lang kein Brot. 
Napoleon kommt mit ſeinem Stabe. Sie empfangt ibn auf der Treppe in gqemefjener 
Haltung. Die alternde Frau gewinnt den Sieg über ‘den Sieger; immer wieder betont 
der Korje, ev babe Weimar verfdont um der Herjogin willen. 


Nach diefent bedeutfamen Ereignis erſt erfennen viele ihren Wert. Sie hat voll- 
fommen recht, wenn fie jeden Dank, jede Huldigung abweiſt mit den Worten, fie babe 
nur ibre Schuldiqteit qetan, und nichts fet natiirlicher gewefen als ibr Musharren. 
Ihre Tat eniſpricht durchaus ihrem Charakter, aber ihr ſittlicher Mut, ihre Pflichttreue 
waren wenig bekannt. 


Und hat ſie ſich emporgerungen zu dieſer ſittlichen Höhe, ſo klingt doch in ihrem 
Weſen eine Diſſonanz durch, cin Bruch ijt in ihrem Charakter geblieben. Das offenbart 
fic) bet der Gelegenheit, da am Dabrestage der Schlacht von Jena 1825 Weimar 
feine Fürſtin feierte. Das Portrat der Großherzogin auf der überreichten Medaille 
war nicht gelungen, und der Großherzog, der fein Bild feiner Gemablin beſaß, wandte 
ſich an Luiſens Bruder, den Prinzen Chrijtian, mit der Bitte, thm das in feinem 
Beſitze befindliche Porträt jur Kopie zuzuſtellen. Da quillt die Vitterfeit in der alten 
Fiiritin auf; fle, die ibr Leben fang gekämpft bat, um ibres Schickſals Meifter ju 
werden, bat ſich innerlich noch nicht mit der glitdlofen Vergangenbeit abgefunden; fie 
fann es nicht verwinden, daß erit das Alter iby gab, was fie in der Jugend fic 
wünſchte: die Anertennung. yll est vraiment trés singulier“, ſchreibt ſie an den 
Bruder, que, il y aura vingt ans de cela, toute la famille hors moi, fit gravée 
et courut le monde, personne eut l’idée de vouloir avoir ma chétive figure 
parcequ'elle n'en valait pas la peine, et voila que tout 4 coup je parais sur 
l‘onde et sous differentes formes, tout à coup le Grand-duc se rappelle avoir vu 
mon portrait chez vous...“ Cie fann nicht vergejjen, und fo ift auch ibr Lebens— 
abend nicht frei von Bitternis — — und wenn fie fic) freut iiber die beranwachfenden 
Enfelfinder, fo tritt im Verkehr mit den Ihren dod) oft Schärfe hervor. Sie leijtet 
jede Pflicht; aber oft tut fie aus Pflichtgefühl, was jie aus Liebe tun könnte; ihr Wille 
bleibt ſtets gejpannt. 

So tritt uns aus der Fiille des Materials, das Eleonore von Bojanowsfi in 
ibrem Buche bietet, das cigenartige Bild der @emablin Rarl Auguſts entgegen. Wenn 
wir verſuchen, die Summe ibrer Exiſtenz yu ziehen, fo feben wir eine Frau, der bei 
feltenen Geiſtes— und Willensanlagen dasjenige feblt, was im allgemeinen als weiblich 
bejcichnet wird: die Mütterlichkeit, die Weichheit, die Biegſamkeit des Charakters. 
Nichtsdeſtoweniger iſt dieſe Perſonuichten in ihrer ſcheuen, keuſchen Zurückhaltung, ihren 
reinen, ſittlichen Inſtinkten, ihrer ſtolzen Würde und ihrem ausgeprägten Sinn für 
das Schickliche durchaus Frau. Nur könnte man ſich vorſtellen, daß ſie mit ihrer 
rückſichtsloſen Wahrheitsliebe, ihrer ſtarken Willenskraft und ihrer hohen Intelligenz 
außerhalb der Ehe in einem geeigneten Wirkungskreis eher zur Vollentfaltung gekommen 
wäre. Jedoch der Fürſtin — und vor allem der Fürſtin des 18. Jahrhunderts — 
war durch Geburt und Tradition der Platz angewieſen, auf dem ſie wirken ſollte. 
Das Bedeutſame iſt, daß Luiſe ihr Schickſal heroiſch uberwand und „jeden Mut fand 
— — freilich nicht den Mut zur Freude.“ 





45 


Ce dja. a — 
Novelle von 


Gevrg Rordenſvan. 
Autorifierte uberſetzung aus dem Schwediſchen von E. Stine. 


RNadorud verboten. 


ie 
E. war auf einem Atelierfeſte in dieſem 
Winter, als ich der Malerin Aja Borgſtröm, 





die ich ſeit unſerm Beiſammenſein in Paris | 
vor fin, feds Jahren nicht gefeben hatte, . 


twieder begegnete. Cine ihrer Rameradinnen 
aus der Afademie hatte iby gu Chren das 
kleine eft weranftaltet, auf dem man alte 
Befannte treffen, gemeinfame CErinnerungen 
burdleben und fid) wieder jung und forglos 
fühlen follte wie in vergangenen Tagen. 

Aja — der Robold, wie einer der Pro- 
fefforen fie genannt batte — war feit jenem 
Frühling in Paris geblieében — ja es war 
wirtlid {don ſechs Sabre ber. Nun war 
fic beimgefommen, um ju feben, ob ſich's aud 
bier in Stodbolm fiir fie leben ließe und ob fie 
Arbeit finde. Wenn nicht — fo blieb ja Paris 
auf dem alten Flede fteben, und ihr bortiges 
Atelier war fiir das ganze Jahr gemietet, 

Sie war nod gang dicjelbe wie ehedem — 
lebhaft und guter Dinge, vielleicht nod mebr 
als früher — geſprächig und unbefangen, 
mitunter ein wenig gedankenlos in ibren 
Außerungen und fo gang und gar nidt bes 
wanbdert in der Kunſt, fic) au verſtellen. 

Wie früher wurde fie übers ganze Geficdt 
rot, wenn ſie etwas Übereiltes oder Gewagtes 
geſagt hatte — lachte darauf, um ihre Ver— 
legenheit zu verbergen, und lachte ſchließlich ſo 
herzlich über ihre eigene Unbeholfenheit, daß 
ſie uns alle unfehlbar anſteckte. 

Was fie denn über Stockholm denke, fragte 
unſere Wirtin fie im Laufe des Abends — 
während Aja Borgſtröms Aufenthalt in Paris 
war jene daheim eine Dame der feinen Ge— 
ſellſchaft geworden, die als Porträtmalerin 
eine Poſition einnahm. Sie war elegant 
und forreft und ſagte nie etwas, worüber fie 


„O, Stodholm ift eine ſchöne Stadt, um 
kurze Beit bier gu verbringen. Aber ſich's 
lange bier wohl fein laffen, das geht wohl 
faum. Die Leute hier haben feine Intereſſen. 
Sie feben fo langweilig und fo gepflegt und 
gebiirftet aus. Und alles ift fo reinlid und 
ſteif. Und jeder gudt ben anderen an. In 
Paris kümmert fic jeder um ſich ſelbſt. Ich 
räumte höchſt eigenhändig mein Utelier auf — 
bier ware bas unpaffend. Ich wohne nun 
feit drei Sabren in einer Künſtlerlaſerne am 
Boulevard Arago mit achtzehn AWteliers, eins 
neben dem andern. WMedaillengefrinte wohnen 
dort Wand an Wand mit Anfingern, und 
des Morgens fommen fie von allen Seiten 
zur Wafjerleitung im Garten angezogen, jeder 
mit jeinem Waſſereimer. Das find freilid 
feine Stodbolmer Gitten. Hier würde man 
dadurch alles Anſehen verlieren. Ich babe 
felbft mein Friibjtiid am Ramin gefodt und 
Beefſteak und Krammetsvögel braten gelernt.“ 

„Das war rect, dah du wenightens etwas 
dort gelernt baft,” fiel ein Wisbpld ein. 

„Ja wabrbajtig,” ladte Aja Borgftrim, 
„Krammetsvögel find meine Spegialitat.“ 

Unſere forrefte Wirtin meinte, man fonne 
es wohl aud bier in Stodbolm angenehm 
und gemiitlid) zu Hauſe haben, 

„Ja, dad glaube id; wenn man fo viele 
liebe Freunde bat wie du!” rief Wja, fprang 
von ibrem Plage auf, nabm die elegante 
Wirtin um die Taille und ſchwenkte fie herum. 

„Übrigens“ — fie ftrid) das Gaar aus 
ber Stirn, dag unbändige Haar, dad ibr immer 
in die Mugen bing — „übrigens ift es ja fo 
luftiq bier, wobin id) fomme. Ceitbem id 
dabeim bin, ſtürze ich von einer Geſellſchaft in 
die andere. Überall fleine Mittagstafeln und 
Unterbaltungen! Und dann mug ich natürlich 


hatte errdten oder andere hätten lachen müſſen. die neuen Cafés anfebhen, und dag nimmt Seit, 


46 


Es ſcheint hier fein Mangel an Kleingeld gu 
fein. Aber fo ausſchweifend twird dod) fein 
Stodholmer, dak er Bilder fauft.” 

Sie lachte fiber ihren Ginfall und wir 
anderen iiber ihr luſtiges Laden. Und nun 
hatte fie fid) in cine Cofaede verfroden, 
ein Glas Punſch in Greifweite — man mufte 
bod) patriotifd) fein und Punſch trinfen — 
und raudte cine Sigarette nad) der anderen, 
pum fic) möglichſt lange friſch zu balten,“ 
twie fie meinte. 

Mir ſchien fie aber dod nicht fo gang der 
alte Robold, und aud die Stimmung bier 
oben nicht jene ungeſucht friblide, wie früher 
einmal bei ähnlichen Anläſſen. De weiter der 
Abend voridritt, defto mehr fam etwas Ge- 
zwungenes in die Stimmung, etwas Forciertes 
in Die Heiterfeit. 
ſchien es fo — als paften Ddiefe Menfden 
nicht mehr recht zueinander und als fühlten 
fie es und verfucten, es einander zu verbergen. 

Eigentlich war es, feit Sven Richert wie 
aus den Wolfen herunter in die Gefelljchaft 
gefallen twar, daß id eine gewiſſe Unrube 
in der Luft zu bemerfen glaubte. Cr war 
den Tag zuvor von feiner Hochzeitsreiſe nad 
Sizilien und Maroffo juriidgefommen, und 
es gab grofe Uberrafdung, als er und feine 
junge Frau plötzlich unter uns erſchienen. 

Breitidultrig und ficer, fonnenverbrannt 
und hünenhaft fam er daber, die perjonifizierte 
Kraft und Friſche. Lebhafter Blid, feſter 
Handſchlag, fraftige Bapjtimme, entichiedener 
Ton, ſelbſtbewußte Haltung — alles in allem 
ein junger Mann, der Glück gebabt und das 
Glück gu zwingen verfianden, wenn es nicht 
gutwillig geben wollte, und der nun feiner 
Zukunft ſicher fein fonnte. 

Seine Frau, cin ſchlankes und cleganted 
hübſches Püppchen mit lichtblauen Mugen und 
zarten Schultern, war fremd unter uns und 
daber etwas feu, im übrigen aber recht 
niedlich. Alles, was fie während der Reiſe 
geſehen, war „entzückend“ geweſen. Ihre 
bewundernden Blicke ſuchten immer wieder 
ihren Mann und hingen an ſeinen Be— 
wegungen. Er war offenbar doch das Ent— 
zückendſte, das ſie aus Marolko mitgebracht. 

Aja hatte eben mit Edvard Aſp geſprochen, 
als die indiſche Binſendraperie, die die Vor— 


Es war — mindeſtens mir 








Aja. 


zimmerrür bededte, ſich raſchelnd geteilt hatte 
und Sven Richerts ſtattliche Geſtalt ſichtbar 
geworden war. Ob es Einbildung von mir 
war, wage ich nicht zu entſcheiden, aber mir 
ſchien es, als tauſchten Aſp und ſie einen 
Blick, der nicht nur Verwunderung fiber dies 
unerwartete Wiederſehen ausdrückte. 

„Sieh da, Aja!“ rief Richert. „Biſt du hier?“ 

Er ſtellte vor „meine kleine Frau — 
Fräulein Borgſtröm“, und mit einem Blick 
auf Aja ſagte er ſeiner Frau: 

„Wir beide haben ſehr luſtige Tage mit— 
einander verbracht, mußt du wiſſen.“ 

Als ich die drei, Aja zwiſchen Edvard 
Aſp und Richert, ſo vor mir ſah, ſtand 
der Konflikt, in den ich ſie verwickelt geſehen — 
cin Heiner Ronflift, der ſich yu einem ganzen 
Roman hatte entwideln finnen — fo flar 
vor meinem Gedächtnis, als hatte die Geſchichte 
qeftern gefpielt und nicht vor mebreren Jahren. 
Und ald ich fpat bei Nacht — eine ſchöne, 
jternflare, [que Winternacht — heimwärts 
wanderte, ordneten ſich die mit dieſen drei 
Perſonen verlnüpften Erinnerungen in meinem 
Kopfe, und ich durchlebte nochmals jene Ge— 
ſchichte, aus der ein Roman hätte werden können. 

Was ich „durchlebte“, war folgendes: 


2. 

Es war zur Sommerszeit auf dem Lande, 
alg id) Fräulein Borgſtröms Belanntſchaft 
machte. Einige junge Künſtler — darunter 
auch ſie — hatten ſich in demſelben Ort 
niedergelaſſen, wo auch ich Quartier genommen. 

Da malten ſie denn — mit mehr oder 
weniger Fleiß — draußen im Freien ihre 
Studien. Der faulſte unter ihnen war Niſſe 
Linder — deſſen Aufgabe eigentlich darin zu 
beſtehen ſchien, Unſinn zu treiben und jeden 
von uns, ob er nun wollte oder nicht, mit 
guten Ratſchlägen zu verſehen. Er hatte ſich 
in Paris, wo er ſich im Frühling zugleich mit 
Aja aufgehalten, mit modernen Theorien voll⸗ 
gepfropft und war nun nicht nur vollkommen 
mit ſich im klaren, was und wie gemalt 
werden ſollte, ſondern wußte auch ſonſt über 
alles genau Beſcheid. 

Unſere Belanntſchaft begann damit, daß er 
mich in der beſten Methode des Brettſpieles 
unterwies — daß er ſofort „matt“ wurde, 


ja. 


binderte ihn nicht im geringjten, die Unter: 
weijung fortjufefen und dic guten Ratſchläge 
fließen zu laſſen. Im übrigen Tiebte er es 
ſehr, in Fraulein Borgſtröms Hangematte zu 
liegen, Wermut au trinfen und ſeine Commer: 
mufe zu geniefen. In dicfer Kunſt bewies 
er eine derartige Fertigkeit, daß ich mich öfters 
fragte, ob er ſich dieſe Sommermuße nicht 
etwa auch im Winter vergönne. 

Fräulein Borgſtröm dagegen war fleißig 
für zwei. Unermüdlich geradezu! Und ſo 
flinf, fo munter, fo gerade heraus! Wan 
braudte fie nur anjufeben, und man befam 
Luft ju laden und guter Dinge ju fein. 


Schön war fie allerdings nicht. Nlein 


und voll, mit gerundeten Wangen, Heinen | 


munteren, braunen Mugen, feder Rafe, hoch— 
roten Lippen, kräſtig geformtem Rinn und 
einem vollen Halfe mit weiden Linien. Und 
die Haarftrabnen fielen ihr in Stirn und Augen, 
unmiglid au bandigen. Sehr ſchöne Hande 
yon jenem Typus, den man auf italienifden 








AT 


lichjte aber war freilich, auf die Berge yu Elettern 
oder im Boot gu liegen und fic treiben zu laſſen. 

Mehr als cinmal bhielten wir damals Nadt- 
wache. Es war ja Mittfommerjeit, die ſchönſte 
Beit des Jahres! — Da bleibt es Abend bis 
zum Morgen, und der Simmel ift fo flar, daß 
es gar nicht not tut, das Lidt im Monde 
anzuzünden und der mit feinem bleiden Pierrot: 
geſicht ganz überflüſſigerweiſe dabeiſitzt. Da 
ſtehen die Walder voll Anemonen und die Objt- 
baume voll weifen Schnees, und es wird nicht 
Nacht, und die Natur hat feine Zeit gu ſchlafen. 

Oft famen wir erft nad Mitternacht von 
unferen Bootfabrten nad Hauſe und blieben 
dann draußen fifen, bis die Sonne uns recht 
in die Augen lachte. Dann geſchah es wobl, 


daß Aja Borgftrdm ihren Badeanzug über die 


Achſel nahm, ſich vor den Herren verneigte 


und auf dem Steg, der zum See hinabführte, 


Gemalden aus der Renaiſſance ſieht, kleine 


hübſche Füße, aber ziemlich ftarfe Taille und 
durchaus fein elfenbajter Wuchs! 


verſchwand. Mie twar es friſcher im Waffer 


| als gleid) nad) Connenaufgang. 


Oder fie blieh auch allein draußen in der 
Hangematte, wenn wir anderen und nieder- 
legten. Cie brauchte fic) twabrlid nicht zu 


langweilen in ibrer eigenen Geſellſchaft. Wenn 


Lachte fte nicht, fo trallerte fie beftandig | 
vor fid) bin, batte in der Tafcbe immer einen 


Vorrat an Sigarrenpapier, beniigte den Stod 
ihres Malerſchirms als Spagierftod — er war 
befonders dazu geeignet, fid) bei den Tieren 
in Refpeft gu feben — trug ein weißes Barett 
auf dem Rrausfopf und cine hochrote Blufe, die 
fröhlich und fed in die Landſchaft hinausleuchtete. 

Ammer war fie mit Leib und Ceele bei 
ibrer Befchaftiqung, ob fie nun arbeitete oder 
ſich in der Hängematte firedte, nachdem fie 
bicfelbe umgelippt und Niſſe herausgeworfen 
oder ibn auf andere Art herausgelodt hatte, 
indem fie elwas Ef: oder Trinfbares auf den 
Kaffeetiſch ftellte, welcher cinige Schritte davon 
entiernt mit bem Fuße in die Erde feftgefeilt 
war, ſodaß er nicht naber geriidt werden fonnte. 


Nie hatte man den Cindrud, daß fie | 


beſchäftigungslos fei, felbft wenn fie ausrubte. 
Und alles machte ihr Vergniigen: cine Studie 
malen, cin Bufett binden — eines ihrer ganz 
cigentiimliden Bufetts —, Strümpfe ausbeſſern 
eter was ſonſt immer. 

Alles fand fieamiifant, felbft die Debatten mit 
Niffe über Runft und anderes mehr. Das Herr- 





id) Dann meine Gardine berablich, ſah ich die 
glimmende Spitze ibrer Bigarette wie ein 
Leuchtwürmchen berauffdimmern, während fie 
unten in der Hangematie lag und fic ibres 
forglofen Daſeins freute. 

Cines Tages wußte Niſſe eine Neuigkeit 
zu erzählen. Der Landfdaftsmaler Afp war 
mit bem Dampfboot angefommen und iin 
Gajthof abgejtiegen. 

„Iſt ficher ein Langiweiliger Patron, twas?” 

„So bejaubernd wie du, ift er natiirlid 
nicht, Briiderlein,” meinte Aja. ,, Aber viel- 
leicht Lift ſich doch etwas mit ibm anfangen.” 

„Wenn er Wufheiterung braudt, werden 
wir ihn Ihnen refommandieren,” fagte ic. 
„Ein gefdidter Maler ijt er ſicherlich.“ 

„Jawohl, ,qefcbict’ ift bier juft der richtige 
Ausdruck,“ antivortete Aja. 

„Bah, er malt philiſtrös, er ift cin Düſſel— 
dorfer,” wandie Niſſe ein. 

„Du wirft ibn lehren, befjer zu malen,“ 
riet ibm Aja. 

„Und dann iſt er Familienpapa, und das 
ſoll ein Maler nicht ſein. Heirate nie, Bruder!“ 

„Bruder,“ das galt Aja. 


48 


Kannſt berubigt fein, Britderlein!” fagte 
Aja und fab ibn mit ibren fleinen braunen 
Augen an, die immer [adten und immer 
glangten. „Wenn ich mid nicht in did) ver— 
liebt babe, fo berliebe ich mid nie mehr, 
verlag dich drauf!“ 

Sie ſprach gu thm twie 3u einem Chul: 
tnaben, und „Brüderlein“ fand fid) obne Cin: 
twendung in feine Rolle. — 

Sh hatte Edvard Aſp letzten Winter in 
Stodbolm fennen gelernt. Er gefiel mir vom 
erfienmal an. Es war etwas Feines, Vor- 
nebmes fowobl in feinem Ausſehen als in 
feinem ziemlich ſchweigſamen, juriidbaltenden 
Refen, das ibn dod nie hochmütig oder fteif 
erſcheinen Lief. 

Er hatte Erfolg gebabt, war als talent: 
poller Künſtler in den Zeitungen befproden 
worden und verfaufte Bilder an Runftvereine 
und Privatperjonen. 

Der Gefelligteit wegen fcien er nicht hier— 
ber gefommen zu fein, es dauerte mebrere Tage, 
bebor wir ihn trafen. Da aber jeigte er ſich 
durchaus nidt als ,langtweiliger Patron”, wie 
es Niffe beliebt batte fic) auszudrücken, und 
fcdien aud keineswegs einer Aufbeiterung gu 
bediirjen, ſodaß Ajas Fiirforge überflüſſig 
geweſen wäre. 

Wir begegneten ihm im Freien, und er 
zog uns ſogleich auf einem mehrſtündigen 
Streifzug durch die Gegend mit ſich. Mit 
knabenhafter Lebhaftigkeit kletterte er bergauf 
und bergab, ſprang den Eichhörnchen nach, 
rief das Echo, pfiff Melodien aus „Fauſt“ 
und war froh wie ein Zugvogel, der ſein 
Heimatland wiederſieht. 

An etwas, das Kunſt genannt wird und 
männiglich als ſehr heille Sache befannt iſt, 
dachte während jenes Tages keiner von uns. 


Wir empfanden nur, wie herrlich es oben auf 
den Bergen oder drin im Schatten der Wälder 


fet — an fold) einem Tage zur Mittfommerzeit. 
Am Heimivege fragte Aja, ob Herr Aſp 
nicht mit uns ju Mittag efjen wolle. 
Danfe, nein, dad fonne er nicht. Er miijfe 
an feine Frau febreiben. 


Haus und Hof ausgerifjen bin.  Niemand 
fennt meinen Aufenthalt — es ift geradezu 
cine Schande, dak ich nicht gefdrieben babe.” 


Aja. 


Seine luſtige Miene ließ jedoch auf kein 
ſchlechtes Gewiſſen ſchließen. 

„Jawohl, ich bin durchgebrannt. Niemand 
außer Emma, meiner Frau, weiß von meiner 
Ahreiſe, und auch ſie weiß nicht, wohin ich 
mich gewendet habe. Ich fuhr eben ganz und 
gar ins Blaue hinein und ſtieg hier ab, weil 
es mir da gefiel. Heute aber muß ich 
ſchreiben. — Schönen Dank, daß Sie mir die 
Gegend gezeigt haben!“ 

Im Grunde genommen war er es, der 
uns mit fic) gezogen und geführt hatte. 

Tags darauf fam die Rede auf die Kunſt 
Der große Theoretiler Niſſe war dabei, und 
es dauerte nicht lange, ſo hatte er die neueſte 
aus Paris mitgebrachte Gelehrſamkeit ausgepackt. 

Aja ſekundierte ihm mitunter, aber mit weit 
geringerer Sicherheit. Aſp hörte ſie mit 
Intereſſe an; es war augenſcheinlich etwas 
Neues für ihn. Als Niſſe aber zu Ende war, 
meinte er, es ſolle überhaupt keine „Art“ zu 
malen geben. Ohne alle Vorausſetzungen ſolle man 
die Natur ſehen und einen wahren und ehrlichen 
Ausdruck des Geſehenen zu geben verſuchen. 
Dies die einzige Regel, die gu befolgen fei. 

Nein, bie Sade fei durchaus nidt fo ein— 
fad, wandte Niſſe cin. Cr fprad von 
Impreſſioniſten und Luminijten und PointiDijten. 
Schließlich wurden feine Wusfiihrungen fo 
verividelt und nebelhaft, daß Aja fie mit einem 
ſcherzhaften Worte abſchneiden mute. Wud 
Aſp fdien von der Gelebrjamfeit genug gu 
haben; er fragte, ob Niſſe einige feiner Ciudien 
zeigen twolle, aber Niſſe hatte das Pringip, nie 
ju zeigen, woran er arbeite — dieſes Pringip 
fei nämlich das einzig ridtige, wenn man 
feine Urſprünglichkeit bewahren wolle. 

Dagegen bat uns Aja, eingutreten, bann 
fénne Herr Aſp das wenige feben, das fie fertig 
habe. Cie fürchte nicht fiir ihre Driginalitat. 

Wir gingen in ibr Zimmer, das fie mit 
| Draperien, Papierlaternen, Fadern und anderem 
wohlfeilen Kram fo mobvern „pariſeriſch“ als 





möglich ausgeltattet hatte. 

Fünf, fechs neue Studien waren an den 
| Wanden aufgeftellt. 
„Ich muß nämlich gejtehen, dak ich von 


Aſp blieb vor der erſten 
ſtehen; es war eine Abendlandſchaft mit ſtarker 
blauer Farbe über Wald und See und hie 
und da zwiſchen den Bäumen angeſetzt. Die 

zweite zeigte ein kleines flachshaariges Mädchen 


Aja. 


auf einer Wiefe im Sonnenſchein.  Grelle 
Farben, dag Ganze rob und robuft, aber voll 
Saft und Kraft. Die dbritte war cine Strand- 
partie mit einem weißen Boot im Schatten 
der Weiden und im Boot eine junge Dame 
in roſa Kleid und grofem Strobbute. 


„Das bier ift Schund,“ fagte Aja bei 


diefem Gemälde. „Nun brauden Sie es 
nicht mebr gu fagen, da id) felbjt es gefagt. 
Aber ic) denke, gerade diefe eine, nicdliche 
Idylle paßt fiir das Publifum; es ijt fo recht 


tin Bild fiir eine Großhändler-Herrſchaft, 


wenn fie im Herbſt vom Lande jguriidfommt. 
od muß zu verkaufen tracdten, nicht nur 
malen, denn ohne Eſſen läßt ſich nicht leben.“ 

„Es geht jedem von uns cin wenig fo,“ 
meinte Aſp. 

„Für nid gab es eben immer nur Arbeit 
um das liebe Brot,” fubr Aja fort. „Als 
id) flein war, war es mein Miitterlein, dads 
fid plagen mufte, dann war die Reibe an 
mir, Man muf fic forthelfen, fo gut man fann. 

Wir haben nie cin Ore gebabt, das wir 
und nicht felbft evarbeitet batten — es war 
oft ſchwer genug fitr die alte Frau. Und 


bod war fie voll Munterfeit und Poſſen, 
wenn es ihr nicht gerade gar gu febr in die | 
Nod als ich auf die Akademie 
| aus der Gegend — ſteif und diirr, eine fo 


Quere ging. 
ging — damals war fie ſechszig Sabre — 
lieben wir uns jutweilen einen Schlitten und 
fubren binaus, wenn's duntel wurde, und 
dann irgend cinen Hiigel binunter, daß der 
Schlitten krachte. 

Wenn ich an mein Mütterchen denke — 
ſie iſt nun ſeit mehreren Jahren tot — dann 


fallt mir immer dies und jenes Luſtige ein, | 


fiber dad id laden mug. Was traurig war, 
bab’ id) vergejjen. Cie verftand die Runft, 


ten Kopf oben zu halten und ſich alles fo | 


angenehm zu maden, als es in menfdlicder 
Macht ftebt. 
id nicht befommen — aber id bin wenigſtens 


praltiſch geworden und made mir feine Sorgen — 


um mid. Und etwas ift ja dod) aus mir 
geworden, nidt wahr?“ 

Ich batte fie nie vorher fiber ihre perſön— 
lichen Verhältniſſe, ihre Mutter und ihr Daheim 
reden hören. Aber es ftand ihr gut; fie 
erzählte alles ſo friſch und unbefangen — es 
war, als wolle ſie, daß beſonders Aſp ſie 


Eine beſondere Erziehung habe 


49 


kennen lerne, wiſſe, woher ſie gekommen und 
warum fie fo geworden, wie fie war. 

Gr jah die ganje Beit vor ibr, den 
rubigen, ſuchenden Blid auf fie gewandt. 
| Bielleicht bemerkte fie diefen beobadtenden 
Ausdruck feiner Augen, denn plötzlich ging 
fie auf ibre Arbeiten über. 

„Sie feben aber, dah id nidt nur Bilder 
jiir das Publifum male, nicht nur folche, die 
Ausſicht haben, zu ‚gehen‘. Sehen Sie 
bier ber! Das find Verſuche, Experimente. 
G3 ift ja nur Schund. Aber das madt 
nits... Ich fiible mitunter felbjt, daß 
es etwas Unmiglides iſt. Wber eben weil 
es unmöglich ijt, ijt es amüſant.“ 

„Es wird eben nie ſo, wie man es will,“ 
meinte Aſp. 

„Nein, ſonſt würde man es auch bald 
ſatt haben. Das Intereſſante iſt ja eben das 
Verſuchen und immer wieder Verſuchen. Wird 
es auch nicht ſo gut, hat man doch immer 
etwas vor ſich. Ich will jest ein Kuhſtall— 
Interieur‘ malen mit Maja in der Tür im 
Sonnenſchein. Sie iſt ſo reizend und hübſch, 
ganz das Gegenteil von mir.“ 

So lachte und ſcherzte ſie. 

„Und dann habe ich ja auch Auftrag für 
ein Porträt — ein gnädiges Fräulein hier 





miſerable Figur, daß ſie ſich ſchämen ſollte. 
Aber zweihundert Kronen als Belohnung.“ 

Aſp ſtand auf, um zu gehen. 

„Sehen Sie wieder einmal her, wenn 
Sie Luſt haben,“ bat Aja. „Es iſt nicht 
gut fiir ben Mann, daß er allein fei.” 

„Ich werde nicht mebr lange allein fein,” 
fagte Wp. „Ich babe den Meinen geſchrieben 
und beim Diller Wohnung fiir fie gemietet. 
Aber id) werde wobl bald von mir hören laſſen.“ 

Ich ging cin Stiid Weges mit ibm. Gr 
begann fogleid von Fraulein Borgitrim zu 
ſprechen. „Sie ift angenchm im Geſpräch und 
fiebt droflig aus mit ihrem Schelmengeſicht 
und den munteren Augen — und rund und 
voll ijt fie — fte braucht ſich nicht ihrer 
wniferablen’ Figur zu ſchämen. In ibren 
Studien aber ift etwas Grobes und Nobes — 
3. B. dieſe große blaue, das ift ja nichts als 

| aufgeftricbene blaue Farbe ftatt Luft. Es ift 
| fo gugebauen, nichts Durdgearbeitetes, nichts 
4 


50 


Perſönliches darin. Für mich hat es etwas 
Abſtoßendes, die Natur fo ohne Gefühl und | 
Liebe aufgefaft zu feben. Und fo in gan; 

anderem Geijt gu malen, wenn es ſich um 

Bilder handelt, die leicht verfaujlich fein follen, 

das ijt cyniſch und unkünſtleriſch. — Uber 

friſch und lieb ijt fie.” 


3. 
Vielleiht waren eben die Gegenſätze in 
ibren Naturen — die feinige juriidhaltend, 


rückſichtsvoll, friedlid, die ibre gedankenlos, 
mutiviflig und laut — die Urſache, daß fic) eines 
in der Geſellſchaft des anderen fo wohl fiiblte. 

„Eine befondere Erziehung habe id nicht 
befommen,” batte fie gefagt. Und fo twar fie 
eben unternehmend, furdtlog, felbjtandig ge: 
worden, obne fonderlid feine Anlagen ju 
zeigen. Vielleicht fonnte fie nod) nadbolen, | 
was die Erjiehung ihr zu geben verſäumt 
hatte — bie Fabigfeit hierzu mangelte ibr nicht. 

Dak Edvard ibr gefiel, fonnte man im | 
Stodfinftern ſehen. Wir trafen uns sfters, fie 
aber faben fic, glaube id, jeden Tag und 
ſchienen nie um Geſprächsſtoff verlegen. 

Aud von ibm fprad fie gerne. Es fei 
etivas fo Sicheres, Verläßliches, Vertrauen— 
erweckendes in ſeinem Weſen — er habe einen 
ſo klaren und guten Blick. „Er gehört zu 
denen, die, ohne die mindeſte Anſtrengung zu 
machen, unterhaltend zu ſein, Behagen um 
ſich verbreiten, nicht wahr? Es iſt ein Menſch, 
den man lieb gewinnen kann.“ 

Sie habe ibn fiir konſervativ gehalten, 
aber bad fei er durchaus nicht. Und ebenſo 
wenig verſchloſſen und juriidbaltend, wenn man 
ihn nur redt gu nehmen wiſſe. Er habe ibr | 
cine Menge Dinge erzablt. Nur gar | 
qu ritdfichtsvoll fei er, gu twenig fred) — im 
Leben muß man ſich mit den Ellenbogen Blas 
ſchaffen, fonft wird man verdrängt. 

Sie ersiblte mir einen Zug aus feinem 
Ditijeldorjer Leben, Wenn es ihm dort mit 
der Urbeit nicht recht vorwarts ging und er | 
niedergefdlagen und mutlos wurde, fo pflegte 
er fortgureijen — den Rhein aufwarts oder 
binaus aufs Yand — nur um nicht die anderen 
mit feiner feblechten Laune zu verftimmen. 
Nad einigen Tagen fam er wieder und nahm 
die Arbeit mit frifden Kräften auf. 











Wa. 


Das erfte Jahr in Diifieldorf hatte er wie 
ein Ginfiedler gelebt und nur gearbeitet, Gr 
glaubte nichts gu finnen und fdien fid darum 
nidt twiirdig, mit den anderen Riinftlern ju 
verfebren. Auch ein Grund! Nach und nad 
aber wurde er befannt; man jfprad von ibm 
als von einem begabten Maler, und Projefjor 
Dücher fagte ihm einmal, er pafje nicht nab 
Diifjeldorf, er folle nad Paris reifen. Dummer— 
weife befolgte er dieſen Nat nicht, fondern ging 
jtatt deſſen nad) Stockholm. 

Einjtweilen hatte er guten Abſatz fiir feine 
Arbeiten gefunden und fic verheiratet. — 

Einige Tage nad) feiner Anlunft zog die 
Familie ibm nach. Aja fand dies durdaus 
unverniinftig. Es fei nur zu deutlid, dak 
er fid) in der grofen Familie feiner Frau in 
Stodbolm nidt im Clement fithle. 

„Er bat zwar verfidert, daß er feinen 
Veriwandten recht gut fei, und doch kommt ein 
gewiſſer unwillkürlicher Grol in feinen Ton, 
wenn er von ibnen fpridt. Gr fiiblt — ob 


er's aud) nicht eingefteben will — dah das 


Leben, das er führt, ihm fcbadet, dak er nichts 
unter dieſen Menſchen zu tun bat und feine 
Urbeit eine andere Luft fordert. Cr hat feit 
den letzten beiden Jahren nichts als fleine 
Bilder gemalt — denn das Leben mit Familie 
foftet in Ctodbolm viel Gelb — und twas er 
gcarbeitet, hat ihn unbefriedigt gelaſſen.“ 

Aja wurde ganz warm, wenn fie mit mir 
von alledem ſprach. Natürlich hatte er ibr es 
nicht in diejem Tone gefagt, fie batten eben 
beritber und biniiber von allem möglichen ge- 
fproden, darunter aud von jeinem Ctod- 
boliner Leben, 

„Es ift der Ruin für einen Künſtler, in cine 
Familie von Nichtkünſtlern yu fommen,” meinte 
fie gang erregt. „Iſt es nicht fo?” 

„Gewiß“, gab id gerne gu, „wofern nicht 
feine Frau ibn verftebt und ihm aus der Ver— 
wandtidaft beraus gu folgen vermag. Das 
ift, glaube ich, dic einzige Löſung.“ 

„Frau Wp hat fich gewif fo eine Löſung 
nie 3u denfen vermodt.” 

Aja warf diefe Worte in wirklich veradt- 
lichem Tone bin. 

Edvards Frau war groß und ſchlank — 
ein bleiches, regelmagiges Geficht mit grofen, 
lichten, nichtSfagenden Mugen. Wir befamen 


fie nicht oft zu Geſichte — meiftend ſaß fie 
in ber Nahe ihres Mühlhofes an einem 


Walbabbang und nabte, den Rindertwagen | 


neben ſich. 

Edvard dagegen fuddte uns oft auf, oder 
wir trafen uns im freien. So beiter wie das 
erftemal, al8 wir in den Bergen ftreiften und 
er „Fauſt“ pfiff und Eichhörnchen jagte, war er 
wohl nie mebr. Im Gegenteil, je weiter der 
Commer vorſchritt, deſto verfdlofjener und 
unzugänglicher wurde er, und defto ftarfer 
trat der nervife Sug fiber feinen Augen 
bervor. 

Die Urſache davon war nicht ſchwer yu 
finden. Ich fing an, ibn ju fennen. 

Afp war ein Riinfiler von jenem Schlag, 
der, nie von ber eigenen Arbeit gufriedengeftellt, 
im ftetigen Rampf mit feinen Aufgaben, 
unaufborlid von den Anjorderungen an ſich 
felbft gebest wird. Gr hatte fid) eine folide 
Technik angeeignet, er malte gut und elegant, 
aber die Sdulgelehrjamfeit laſtete auf ibm 
bei allem, twas er unternabm. Wenn er ein: 
jam, nur bie Natur vor Mugen, etme Stimmung 
auf bie Leintwand [egte, bann war es ibm cine 
Luft und Freude, mit den Sebwierigfeiten ju 
ringen. Cobald aber das Gemalde in feinen 
Details ausgearbeitet werden follte, da fam 
ber gelebrte Ballajt und drängte fic zwiſchen 
ibn und ben frijden, grofen, ganzen Cindrud, 
und bas Bild wurde enttveder eine folide 
Diifjeldorfer Landſchaft mit harmonifder Farben: 
ffala und effeftvollen Gegenſätzen oder cine 
Freiluftſtimmung, dah man, davoritehend, die 
friſchen Himmelswinde cinguatmen meinte. 

Sein frühzeitiger Erfolg in Stockholm, 
weit entfernt, ibm au Kopf zu fteigen — er jab 
rect gut ein, wie viel derjelbe twert fei —, 
hatte nur feine arbeiterfdwerende Selbſtkritik 
gefteigert. Als Vertreter des gefunden, ebrliden 
Realigmus, als den ibn die Kritik hervorhob, 
war ed feine Schuldigfeit, durch ſeine Bilder 
den allgemeinen Glauben an ſeine Künſtlerſchaft 
zu redptjertigen. Er war nun vor die Wabl 
geftellt: den Rubm, ben er unverdient erworben, 
aufrecht gu erbalten, indem er in demfelben 


Aja. 





51 


Geiſte wie bisher weiter malte — das wäre 
ihm ja ein Leichtes geweſen — oder ohne den 
Gedanken an weitere Anerkennung mit Liebe, 
Energie und Geduld Schritt für Schritt den 
Weg zu gehen, den ſein Gewiſſen ihm wies. 

Edvard Aſp war vielleicht kein großes 
Talent, aber er war Künſtler in ſeinem Denfen 
und Empfinden, und er war ehrlich, au ehrlich, 
um ju denen ju gebdren, denen der Erfolg 


| leicht wird. Se mebr er arbeitete, defto höher 


wudjen ibm die Schwierigkeiten — friiber 


| war es ibm dod fo leicht, fo mitbelos gegangen — 


und alles, was er zu ftande brachte, ſchien ibm 
nur Stiidwerf. 

Nervös und unfider, wie er fid) fühlte, 
war er fo empfanglid fiir äußere Eindrücke, 
daß er Ajas und Nifjes Reden über die gegen: 
wirtiq in Paris durdbredenden Ideen weit 
mebr Gewicht beilegte, als er fonft wobl getan 
hatte. Aja begniigte fic) wohl damit, ibm 
vorjubalten, der Maler babe nur Licht und 
Luft gu fucben und ſich um nichts yu fiimmern, 
alg um ben Totaleffeft des Motive — gan; 
entgegen Edvards Anfdhauung, der haupt- 
facblid) den Charafter der Landſchaft und 
ber Gingelbeiten darjuftellen ftrebte. Niſſe 
dagegen, gefdmeidelt von dem Ernſt, mit 
weldem Edvard feine Darlegungen entgegen- 
nab, pfropfte die Ohren „des Düſſeldorfers“ 
mit Theorien voll und malte in der Luft groß— 
artige Landſchaften vor ihn bin mit deforativen 
Yinien, welche bas Gefiihl des Malenden in 
bie Seele ded Befchauers fuggerieren follten, 
mit vereinfadten Tönen, die er ,,gemalte 
Melodien” nannte, und jerlegten Farben, 
fonftruiert aus einem verividelten wiffenfdaft- 
liden Syſtem, das in der Runft Revolution 
qu machen beftimmt tar. 

Bu guter Letzt reifte Niffe mit feinen balb- 
verdauten Ideen und feinen nie fertigen und 
fiir niemanden fidtbaren Studien ab. Bon 
den Riinftfern war nun auger Aſp nur nod 
Aja da — in vierzehn Tagen follte auc fie 
fortjabren. 

Der Sommer begann fich feinem Ende zu— 
quneigen. (Fortſetzung folgt.) 


Seyler 


4* 


42 





Nachdruck mit Guellenangabe erlaubt. 


*Aus der lesten Gewerkſchaftsſtatiſtik ergeben 
fic) fiir den Fortſchritt der Organifjation unter 
den Urbeiterinnen folgende Refultate: Es gibt nob 


bejchaftigten Arbeiterinnen dem Gewerkſchaftsver— 
bande angebirt; im ganzen find Frauen erft in 
26 Organijationsverbanden vorbanden, und zwar 
28218 gegen 23669 im Vorjahre; d. h. erft 
3,13 Prozent der tweiblichen Berufsangehörigen find 
organifiert, gegen 17,29 Prozent ber mannlicden. 
Immerhin aber ift der Zuwachs der weiblicen 
organifierten Arbeiter gegen das Vorjabr ſtärker als bet 
ben männlichen (19,2 Projent gegen 8,2 Prozent). 
Von dieſen 26 Organifationsverbinden mit weib— 
lichen Mitgliedern batten 15 eine Sunabme, während 
11 einen Berluft aufzuweifen batten. Am Tapesier: 


erwachſene UArbeiterinnen einen Umfang erreict, 
der alle anderen Regicrungsbegirfe in auffallender 
Weife iibertrifft. Nachdem nun fejtgeftellt worden, 


: ; F daß mehrfach von den Bewilligungen nicht in vollem 
cine ganze Anzahl Berufe, in denen nod) feine der | 


gewerbe find die 84 Frauen, die 1901 organifiert | 


waren, wieder verſchwunden. Die iweiblichen 
Mafieure haben gerabe die Halfte (43) ibrer Mit: 
glieder vertreten, desgleichen die weiblichen Sattler 
(30), Die Bunabme ijt hauptſächlich darauf zurück— 


gufiibren, daß die organifierten Tertilarbeiterinnen — 


fich um 2636 vermebrt haben; fie zählen jest 6654 
gegen 4018 im Yorjabre; aber trogbdem find bis 
jest nur 2,11 Prozent der Tertilarbeiterinnen 
organifiert. Die Gewerkſchaft der Metallarbeiter 
und Handlungsgebilfen erbielten mit 993 und 568 
einen guten Zuwachs an weiblichen Mitgliedern. Bon 
den Schneiderinnen find 884 organifiert, d. h. 0,87 
der Verufsangebdrigen; bei dem grofen Streife der 
Schneidervereine in Berlin zählte die Organifation 
bier allein mebrere Tauſend Mitglieder. 

Den chriftliden Gewerkſchaften gehören in act 
Organifationen 4040 wweibliche Mitglieder an, dem 
chriſtlichen „Gewerkverein der Seimarbeiterinnen” 
bagegen unter 1782 Mitgliedern 405 männliche. 


* Gegen die Nberarbeit der erwadjjencn 
Urbeiterinnen bat der Regicrungsprafident yu 
Frankfurt a. O. folgende Berfiigung erlaſſen: 

„Wie die Jahresberichte ber Regierungs: und 
Gewerberate ergeben, bat im diesſeitigen Re: 
gicrungSbesirt die Beivilligung von Uberarbeit fiir 


+ 








Umfange Gebrauch gemacht worden ift, woraus 
bervorgebt, daß mehr Anträge geftellt wurden wie 
notivendig waren, ift fortan jeder Uberarbeitsantrag 
zunächſt bem Gewerbeinjpeftor zur Bequtadtuna 
vorjulegen. Es werden daber die diesbezüglichen 
Gefuce nicht mebr cine fo ſchleunige Erledigung 
wie bisher finden können.“ 


* Ginen vermehrten polizeiliden Schut der 
Frauen gegen Beläſtigungen auf der Strafe 
verlangt der Minifter des Innern vom Berliner 
Polizeiprajidium. Mit der Uusfiibrumg follen nicht 
die uniformierten Schugleute, fondern nichtuni— 
formierte Rriminalbeamte beauftragt werden. 


* Gine Polizeiafjijtentiu iſt in Stuttgart an- 
geftellt worden. Als Ajfiftentin des zweiten Stadt: 
arztes foll cine Rrantenpflegerin die Fürſorge fir 
qefallene und gefangene Frauen iibernebmen und 
ihnen die Rücklehr zu ebrlicher Arbeit nad Kräften 
erleichtern. 


* Die ftiindige Deputation des Deutſchen 
Qurijtentages hat befdlofien, dab aud weiblide 
Doctores juris einer deutſchen und deutſch— 
ſchweizeriſchen Univerfitit als Mitglieder in den 
Suriftentag aufgenommen werden können. 


“Die Anftellung von Frauen als Armen- 
pfleger wurde von der Schineberger Stadtver- 
ordneten⸗ Verſammlung crortert. Die Verſammlung 
beſchloß einſtimmig, den Magiſtrat zu erſuchen, die 
notigen Schritte gu tun, um in kürzeſter Zeit die 
Herangichung von Frauen zur Tätigkeit als Armen: 
pfleger zu ermöglichen. Der Antrag wurde damit 
begriindet, dak den Armenfommiffionen baufig 
Walle unterbreitet werden, fiir deren Unterfuchung 
Manner nidt die geeiqneten Perjonen find. 


* Armenpficgerinnen anjuftellen beſchloß dic 
Armentommiffion der Stadt Oberhaufen a. Rb. 
Die Frauen jollen vorlaufig zur Unterftiigung ber 
Armenpfleger herangezogen werden, 


Bur Fraucnbeweguna. 


* Maddhengymnafialfurfe von 3 Jahreskurſen 
find in Bamberg errictet worden. 


* Ron ben 631 mediziniſchen Doltoranden 
reichsdeutſcher Univerfititen im Winterfemelter 
1902/03 waren 3 Frauen. 


* Gieben Abitnrientinnen entließen dic 
Miindener Gomnafialfurfe, fünf die Leipziger 
Realguinnafialturfe kürzlich nach gut beftanbdenen 
Briifungen. 


* Gir die Ymmatritulation ordnungsmäßig 
vorgebilbeter Stubdentinnen erflirte fic) auf cine 
Anfrage des bayeriſchen Minifteriums der Senat 
ber Univerſität Erlangen. 


* Wn der Univerſität Halle promovierte 
art. Adele Jentſch, cine Genferin, mit einer 


Differtation: „De Ja littérature didactique du 
moyen ige, s’adressant spécialement aux 
femmes‘, 


* Nber die Frauen: Radjtarbeit verhandelte die 
ungarifde Sektion ber Anternationalen Ber: 





ciniqung fiir geſetzlichen Urbeiterfdug, und fam | 


babet gu folgenden einftimmig angenommenen Thefen: 


1. Die Nachtarbeit der Frauen in Grof: und 
Kleinbetrieben ift yu verbieten. 2. Der Arbeitgeber, 
welcher ber Arbeiterin in der Nacht gu verfertigende 
Urbeiten mitgibt, oder die Arbeiterin, die fie über— 
nimmt, find gu beftrafen. 3. Die zu Haufe fiir 
fremde Rechnung geleiftete gewerbliche Arbeit — 
Heimarbeit — ift gewerblic) gu regeln. 4. Als 
Grfay der durch das Berbot ber Nadiarbcit ver: 
forenen Urbeitagelegenheiten foll die gewerbliche 
Ausbildung in jenen Induſtriezweigen vertieft und 
ausgeftaltet werden, in denen fid größere Nacfrage 
nad gründlich worgebildeten Franentraften zeigt. 
Pet ber Induſtrieförderung mögen jene Induſtrie 
zweige befonders berückſichtigt werden, bei denen 
man Frauen vornebmlich verwendet. 5. Da dad 
Berbot ber Nachtarbeit der Frauen unbedingt eine 
gewiffe Ridwirfung auf die allgemeinen Arbeits— 
verbaltnifje bervorrufen wird, bad wirkſamſte Mittel 
yur Hegelung ber Arbeitdverhiltnifie aber dads 
freie Berfammlungs: und Vereinsrecht ijt, fo ift 
dieſes gefeblich au ſchützen. 


* Gugland, Frauen in der Schulverwaltung. 
Im Sufammenbang mit 
Unterrichtsgeſetz, dad die Grafſchaftsrate (Provinzial— 
verwaltungen) als lokale Unterrichtsbehörden cin: 


fegte, ift in London neben dem Grafſchaftsrat, zu 


dem neuen engliſchen 


53 


Anzahl Frauen fein. Außerdem müſſen ein 
Drittel der Schulverwaltungsbeamten (managers) 
fiir die öffentlichen Volksſchulen Frauen fein. 


* Die Tatigheit der Sanitétsinjpeftorinnen 
in England, die im Sabre 1897 zu dem Swede 
aefdaffen wurden, die Uberwachung fiir die Snne: 
haltung beftimmter geſetzlicher Vorſchriften zum 
Schutze der Arbeiterinnen zu übernehmen, hat ſich 
als eine ſo fruchtbare erwieſen, daß die Regierung 
ihre Anzahl nunmehr bis auf 45 erhöht hat. Es 
amtierten Sanitätsinſpeltorinnen in Birmingham 12, 
in Viverpool 9, in Sheffield 7, in Leeds 6, in 
Manchefter und Stodport je 2, im Bradford, 
Oldham, Bootle, St. Helens, Middlesborough, 
Norwid) und Rodale je 1. An ſechs anderen 
Stadten ſteht ibre Ernennung in ficherer Ausſicht. 
Die Beamtinnen treten in unregelmäßigen Swifden- 
räumen ju einer Konferenz gufammen, um durd 
Ideenaustauſch ihre Amtstätigkeit gu fordern und 
qu wertiefen. Die erſte ſolche Ronfereny fand im 
April 1901 in Leeds, die siveite im November des 
nämlichen Jahres in Sheffield, die dritte 1902 in 
Liverpool ftatt. (Soziale Praxis.) 


* Die Froude, die befannte ganz von Frauen 
qeleitete Parifer Tageszeitung ftellt nach ſechsjährigem 
Beſtehen ihr Erfceinen cin. Dah das über fury 
oder fang notwendig werden würde, war bei der 
Art der Fundierung diefer Scitung vorauszuſehen. 
Es ift im Antereffe des Anſehens der frangofiiden 
Frauenbewegung gu bedauern, daß ein mit jo viel 
lang und Pritenfionen begonnencd Unternehmen 
in diejer Weife Fiasto gemacht bat. 


* Weiblide Stationsvorjteher, Der ruſſiſche 
Gifenbabnminifter Sat in jüngſter Seit die Ber 
fügung erlaffen, daß auch Frauen in Rußland jum 
Dienfte als Bahnhofschefs gugulaffen find. Es 
wurden alsbald nad Erlaß der Verfügung jofort, 
natürlich nur auf kleinen Stationen von Neben— 
babnen, praltijde Verſuche angeftellt, die febr be: 
friedigende Hefultate ergaben. Der Minifter bat 


deshalb jest feine Bestimmung erneut veröffentlicht 


; betwequng 


dem Frauen bis jeyt noc) nicht wablbar find, cin | 


Central-Education-Committee eingeſetzt, 
Mitglieder zum Teil dem Grafſchaftsrat angebören, 
jum Teif von diefem fooptiert werden. Bon den 
fovpticrten Mitgliedern müſſen eine  beftimmte 


deffen 


und weitgebendfte Anwendung derſelben empfoblen, 


Eine in der däniſchen Frauen: 
befannte Witarbciterin, Kirſtine 
Wrederiffen, die Herausgebcrin ver Heitung 
wKvinden og Sumfundet*, ftarb kürzlich auf einer 
Reife in Umerifa. Sie hat an der Konftituicrung 


* Totenfdjan. 


des Internationalen Frauenbundes 1888 in 
Waſhington teilgenommen und den Daäniſchen 


Frauenbund mit begründet und geleitet. 


1g Wale te 





Quternationaler Franenbund. 
Wie bereits mitgeteilt, fand die diesjährige 


Vorſtandskonferenz des Internationalen 
Frauenbundes (International Council of 
Women) in den Tagen vom 17.—20. Auguſt in 
Dresden, Hotel Savoy und Penfion Yim, unter 
außergewöhnlich zahlreicher Beteiliqung ftatt. Bon 
den in London 1899 gewählten Vorjtandsmitgliedern 
waren anweſend: Mrs. May Wright Sewall: 
Indianapolis (Ver. Staaten), VBorfigende; Lady 
Uberdcen-London, ftellvertr. Borfigende; Frl. 
Helene Lange-Berlin, Schahmeijterin; Miß 
Wilfon-London, 1. Sehriftfiivrerin. Das Wmt 
der 2, Schriftführerin verjab fiir Mademoifelle 
Vidart-Genf Mig Emily Fanes-London. Mit 
Ausnabme von Franfreich, NeusSiid- Wales und 
Neujeeland waren ſämtliche bis jest angeſchloſſenen 
Nationalverbinde durd) ire Vorfigenden oder durd 
cigene Delegierte vertreten: Bereinigte Staaten 
(Mrs. Wood Swift), Canada (Mrs. Digna), 
Deutſchland (Frau Marie Stritt), Schweden 
(Fröten Maria Cederſchiöld), Grofbritannien 
(Mik Olga Herh), Danemarf (Fru Norrie), 
Holland (Mad. van Dorp: Verdam), Tasmanien 
(Mrs. Dobjon), Stalien( Mad. Graffi), Argentinien 
(retin von Beſchwitz), Viktoria (Mrs. Martin: 
dale), außerdem dic nod nicht angeſchloſſenen 
Verbinde von Ofterreid) und Norwegen (Frau 
Marianne Hainifd und Friten Gina Krog). 
Auf Cinladung der Vorſitzenden nabmen als 
Zuhörerinnen an den Situngen teil: die Mitglieder 
des Bundesvorftandes Frau Helene von Forſter 
(jtellvertr. Vorſitzende) und Frau Anna Simſon; 
ferner die Vorſitzende des Lokallomitees fiir den 
Berliner Kongref Frau Hedwig Hevl- Berlin, 
die Borfitende der Sittlichkeitslommiſſion des 
Bundes Frau Katharina Seven, Frl.Gertrud 
Baumer: Berlin, Frl. Sdneider und Frau 
Krieſche-Dresden und 3 Ginnerinnen des 
J. ©. W. Mrs. Peirce, Mrs. Sharp (Ver. 
Staaten) und Conteffa di Brazza (Atalien). 


Die 4tagigen 3. T. höchſt interefjanten, englifd | 
und deutſch gefiibrten Berhandlungen, die mit cinem | 


vom Bunde deutſcher Frauenvereine veranftalteten 


| 


| 
| 





Empfangsabend auf der Brühlſchen Terrafje cine | 


geleitet und mit cinem gemeinjamen Ausflug nach 
der Albrechtsburg-Meißen beſchloſſen wurden, galten 
in erfter Linie zwei widhtigen Aufgaben: 1. Der 
Reranjtaltung und Fejtitellung der Tagesordnung 


ber nächſten Generalverfammlung des J. C. W.— 


bie als Abſchluß der laufenden 5 jährigen Geſchäfts— 
periode im Sommer 1404 in Berlin ſtattfinden 
wird, und 2. der Verſtändigung mit dem Bunde 


= 


deutſcher Frauenvereine fiber die bereits getroffenen 
und nod) 3u treffenden Vorbereitungen, das Arrange: 
ment und Programm bes daran anſchließenden, 
vom Bunde einguberufenden Qnternationalen 
Frauenkongreſſes, gum Swed einer einbeit: 
lichen Ausgeftaltung und Durchführung der Heiden 
widhtigen Unternebmungen. 


Die Sigungen der Generalverfammlung des 
J. ©. W. wurden auf den 9., 10. und 11. Juni 1904 
feftgefett, der Kongreß wird unmittelbar darauf 
folgen und bie Tage vom 12. bis intl. 18 Quni 
umfaſſen. Sn Bezug auf das Programm des 
legteren fei an Ddiefer Stelle auf unfere fpateren 
diesbezüglichen Mitteilungen bingewiejen. Der 
Qnternationale Frauenbund wird aufer feinen 
geſchäftlichen Sigungen, gu denen alle Mitglieder 
von angefdloffenen Rationalverbaénden Zutritt 
baben, drei grofe allgemein zugängliche Verjamm: 
lungen veranjtalten, und gwar: einen offiqiellen 
Empfangsabend fiir die Delegierten am 8. Quni 
(Yofal nod) unbeftimmt), bei welder Gelegenbeit 
bie Vorfigende Mrs. Wright Sewall iiber den 
Anternationaliamus fprechen wird; — ferner 
Rerjammlungen am Y., mit Wnfpraden und 
turzen Bericten der verfcdiedenen National 
verbande — und am 10. Suni eine Demonftration 
fiir die internationalen Friedensbeftrebunger, 
die aus allen Kräften yu fordern der Jnternationale 
Frauenbund als cine jeiner Hauptaufgaben betrachtet. 
Es find fiir diejen Abend cine deutfche, eine engliſche 
nnd cine franzöſiſche Rednerin in Ausſicht genommen. 
Die beiden legteren Verſammlungen und die geſchäft 
lichen Sifungen, fowie auc alle Beranftaltungen 
des Kongreſſes werden in den Salen der Phil: 
barmonie ftattfinden. 

Die iibrigen Beſchlüſſe ber Konferenz betrafen 
u. a: jablreiche wichtige Statutens und We: 


fmhaftsordnungsanderungen, die auf die 
Tagesordnung der Gencralverfammlung geſetzt 
werden follen; die Cinrichtung cines eigenen 


Bureaus (head-quarter) in einem dafür sur 
Verfügung qejtellten Gebäude der Weltausſtellung 
von St. Louis, um in regelmäßigen Zuſammen 
fiinften mit Referaten und Diskuſſionen und durch 
Berbreitung der einfeblagigen Literatur die Ideen 
des Anternationalen Weltbundes in Wort und 
Schrift gu propagieren; die vorlaufige Anmeldung 
von vier neuen Nationalverbanden gum J. C. BW: 
der Bunde ſchweizeriſcher, öſterreichiſchet 
und norwegiſcher Frauenvereine und des National 
Council von Sitdauftralien; die Ernennung 
von Honorary Vice-Presidents (offiziellen Ber: 


| treterinnen des J. ©. WW.) in den noc nicht an 


Verfammilungen und Bereine. 


acidfoffenen refp. noch nicht organifierten Ländern: 


Chile, Peru, Merifo, Japan, Türkei und Bulgarien | 


— um aud dort im Sinne ded 9. ©. W. auf 
weitere Frauenfreife zu wirlen. 


Allgemeines Ynterefje erregten die Qabred: 
berichte der ſtändigen Kommiſſionen: fiir Friedens— 
beftrebungen (erftattet von Wrd. Sewall), fiir 
vergleichende Unterſuchung der rechtlichen Stellung 
der Frau und Mutter (Vorſitzende Freiin 


55 


nefende oder Erholungsbedürftige gegen Penſions— 
zahlung und 10 Mitglieder gang freien Mufenthalt. 
Im Londoner Heim wohnten durchſchnittlich vier: 
undzwanzig Lebrerinnen per Wore, entweder als 
Stellenfucbende, Tageslebrerinnen, oder um fic an 


| den vortrefflicen Kurſen, welche der Verein zur 


pon Befdwig) und der Preffefommmiffion (Vorfigende | 


Mrs. Cummings Canada) — gang bejonders die 
beiden legteren. Freiin von Beſchwitz gab cine 
liberfichtlicbe Daritellung aller die Frauen be: 
treffenden GeſetzesU Anderungen und Fortſchritte in 
den Rulturldndern wahrend ded Jahres 1902, die 
mit grofem Beifall aufgenominen wurde. Ebenſo 
wurde der Vorſchlag von Mrs. Cummings auf 
Herausgabe und moaglichft weite Berbreitung eines 
vierteljabrlidy erfcbeinenden Bulletins mit authen: 
tifchen Mitteilungen über die Frauenbeiwegung aller 
Vander begriift und der Plan eingebend be: 
iproden. 

Manes Bemerlensiwerte boten auch die Bericdte 
der Nationalverbande, unter denen der anſchauliche, 
iiberjichtlide Berit aus Holland beſonders 
bervorgeboben fei, aus dem bervorging, dak die fo 
baiufige falſche Wuffaffung der Siele und Aufgaben 
ber Nationalverbande immer nod als eine typiſche 
Exrideinung zu betracten iſt und alle Bundes— 
feitungen damit yu fampfen baben. An den Bericht 
aus Tasmanien knüpften ſich höchſt intereifante 
prinyipielle Museinanderfegungen iiber die Sulajfig: 
{cit Der Mitgliedſchaft der vier auſtraliſchen National: 
verbande auf der bisherigen Bafis, nachdem die 
betreffenden Staaten nunmehr gu einem einjigen 
großen Gemeinweſen vercinigt find. Die Frage 








wird jedenfallS auf der Berliner Generalver: 


fammlung ibre endgiltige Löſung finden. 

Den Schluf der Tagung bildeten die Bor: 
ſchlage (Nominations) fiir die nächſtijährigen Wablen 
au den BVorftandsamtern. 
Amt zwei oder mebrere Randidatinnen aufgeftellt, 
um der Generalverfammlung möglichſt Freie Sand 
su laſſen. Für den Vorſitz im nächſten Guin: 


quennium wurden Lady Aberdeen und Fraulein | 


Helene Lange vorgefclagen. Weitere Vorſchläge 
fiir alle Amter werden bis 4 Monate vor der 
Generalverfammlung aud nod von den einzelnen 
Nationalverbanden erivartet. 


Das deutſche und das franzöſiſche Lehrerinnen: 
heim in London, 


Rad dem uns vorliegenden 26. Jabresberidt 
deS Vereins deutſcher Lebrerinnen in England 
ſchreitet die Bereingarbeit in allen Srweigen riiftig 
weiter. Es find im verfloffenen Jahr 220 Stellen 
mit deutſchen Lebrerinnen bejegt worden, Im Sa: 
natorium und Nefonvaleszentenheim fanden BL Ge- 


Es wurden fiir jedes | 





Erlernung der engliſchen Sprache fiir Lebrerinnen 
cingerichtet bat, zu beteiligen. Leider find durch 
den Krieg und ſeine Folgen aber alle Lebens— 
bedürfniſſe febr gejteigert und bie Abgaben enorm 
erhöht worden. Es find auch viele Jahresbeiträge 
flir bad Sanatorium und bas Nefonvalessentenbeim 
von englifden und aud) deutſchen Gönnern ded 
Vereins feit den Kriegsjahren weagefallen. 

Der Verein hat, wie wir aus anderen Berichten 
erfeben, ftarf gegen die vermehrte Konkurrenz anderer 
Rationen gu arbeiten, Much die franzöſiſche Re— 
gicrung macht energiſche Anitrengungen für ver: 
mebrte Anſtellung franzöſiſcher Lehrer und Lehre— 
tinnen und fiir Verbreitung der franzöſiſchen Sprache 
in England. 

Wie hod die Republil die Bedeutung franzö— 
ſiſcher Lebrerinnen in dieſer Hinficht wertet, das 
zeigt nicht mur bas neu errichtete franzöſiſche 
Lehrerinnenheim, das, wie es als Eigentum 
ſchuldenfrei daſteht, ein großartiges Geſchenl von 
200 000 Marf an ben Verein repräſentiert, ſondern 
dad beweifen noc mebr die Worte, die der Brafident 
ber Nepublif Loubet kürzlich bet einem Beſuch im 
dortigen Heim gefproden bat: 

der franzöſiſchen Regierung fowohl wie dem 
franzöſiſchen Bolt fei wobl befannt, wie febr der 
biefigen franzöſiſchen Rolonie die Berbreitung und 
Kenntnis der franzöſiſchen Sprache in England am 
Herzen liege. ES fei died cin edles Werk, denn je 
mehr man Frankreich und feine Sprache befannt mache, 
defto mehr würden die beiden Lander fic) gegen: 
feitig fchagen fernen, defto inniger wiirden fie mit 
cinander verbunden fein.“ 

Nbrigens waren fowobl bet der Einweihung ded 
franzöſiſchen Heims, als auch bei dem Beſuch ded 
Präſidenten Youbet die Vorfigenden ded deutſchen 
Deims, Frl. Helene Adelmann und Frl. Gaudian 
anwejend, um der follegialen Gefinnung, die fie 
mit den franzöſiſchen Lehrerinnen verbindet, herz— 
lichen Musdrud zu geben. 

Möchte das franzöſiſche Beifpiel auc bei uns 
bas Antereffe fiir die wichtigen nationalen Aufgaben 
bes engliſchen Lebrerinnenvercings nod immer mebr 
werden; gerade jest bediirfen deuticbe Intereſſen 
auf englijcbem Boden jeder nur möglichen Hilfe 
vom Baterland. 

Deutſche Lebrerinnen weifen wir noc beſonders 


auf die im deutſchen Lebrerinnenbeim ervichteten 


Rurfe bin, die fiir dad erfte Studium der engliſchen 
Sprache das denfbar Befte find. Die alle 13 Woden 
abgebaltenen Schlußprüfungen mit Abgangszeugniſſen 
find jet ſchon zweimal über alle Erivartungen gut 
auggefallen. Im erften Rurjus waren es 8, im 
zweiten 12 Rurfijtinnen, die beftanden haben. 


Ee 


7 
‘) 


¥ 
{ 


Mene Nietjdhe-Literatur. Mit der dritten 
UAuflage ded erſten Banded der Niewi dhe: Briefe 
(„Friedrich Nietzſches Gefammelte Briefe’. Berlin 
und Leipzig. Schuſter und Locffler), die von 
Clifabeth Förſter-Nietßzſche und Peter Galt 
herausgegeben ijt, erfebeint zugleich der zweite 
Band, bei deffen Herausgabe Frisk Schöll der 
Mitarbeiter von Nietzſches Schwefter war. Der 
erjte Band, der bon Felir Poppenberg bereits 
ausfiibrlich im Aprilbeft 1401 dieſer Zeitſchrift be: 
fprochen wurde, ijt in ber dritten Wuflage um cine 
größere Zahl von Briefen vermehrt. Der neu: 
erſchienene zweite Band umfaßt den ganzen Brief: 
wechſel zwiſchen Nieſche und Erwin Rhode. 
Es iſt natürlich unmöglich, von dem Reichtum grade 
dieſer Sammlung, in der ſowohl Nietzſches wiſſen⸗ 
ſchaftliche Intereſſen als die zarteſten Züge ſeiner 
Perſönlichkeit ſich konzentrieren, in einer Beſprechung 
auch nur annähernd ein Bild zu geben. Dem 
Nietzſchekenner gibt ſie eine ganze Fülle von Licht 
für des Philoſophen perſönliche, wiſſenſchaftliche und 
künſtleriſche Entwicklung — eine künſtleriſche Ent: 
wicklung ſowohl in muſikaliſcher als aber auch in 
dichteriſcher Hinſicht. Enthält dod z. B. der Brief: 
wechſel mit Rohde jenen intereſſanten Schlüſſel zu 
dem Problem des Zarathuſtraſtils: „ich bilde mir 
cin, mit dieſem Zarathuſtra die deutſche Sprache 
zu ibrer Bollendung gebradt yu haben. Es war, 
nad Luther und Goethe, nod cin dritter Scbritt 
gu tun. . ſieh ju, ob Kraft, Gefchmeidigteit 
und Wobhllaut je ſchon in unferer Sprache fo bei: 
cinander geweſen find. Lies Goethe nad einer 
Seite meines Buchs — und du wirſt fühlen, daf 
jenes Undulatoriſchet, dad Goethen als Zeichner 
anbaftete, auc dem Spradbildner nicht fremd blieb. 
Ich babe die ftrengere, männliche Yinie vor ibm 
voraus, obne boc, mit Luther, unter die Riipel qu 
geraten. Mein Stil ift ein Tang; cin Spiel 
der Symmetrien aller Art und cin Überſpringen 
und Berfpotten diefer Symmetrien. Das geht bis 
in bie Wabl der Bofale.” Dem Laien ift diefer 
Briefwechſel ein wundervolles Dofument feinſter 
menſchlicher Beziehungen, wie alle Freundſchaften 
Nietzſches zu einer Tragödie geſtempelt durch ſein 
letztes Wort, das wie ein Fazit den Band beſchließt: 
nod babe jest 43 Jahre hinter mir und bin 
genau noc fo allein, wie ich es alS Rind geweſen 
bin.” — Die feine biographijche Stigye iiber Nobde 
aus der Feder von Crufius (Verlag von J. C. B. Mohr, 
Tilbingen und Leipzig) ijt gerade rechtzeitig erſchienen, 
unt dieſen Briefwechſel zu interpretieren und die 
Seite gu beleuchten, die fiir das groéfere Publifum 
naturgemäß mebr im Dunfel fag. — Cine erite 
Einführung in Nietzſches Perſönlichkeit und Werte, 


— 








Le § 
PAYS Be, 


bie in ihrer flar zuſammenfaſſenden Art ibren 
Swed ſehr gut erfiillt, ijt kürzlich von Raoul 
Richter herausgegeben unter dem Titel ,, Friedrich 
Nietzſche. Sein Leben und fein Werf. (Leipzig 
Verlag der Diirrichen Bucbbandlung.) Tas Buc 
ift weniger durch geniale Sntuition gelennzeichnet, 
als burd die geiviffenbafte und im beften Sinne 
treue Snterpretation ded Forſchers, deſſen Dar: 
ftellung durchweg auf eindringendeds Studium ver: 
läßlich gegründet iſt. Das Buch ijt jedem, der 
fih nit nur an dem Glanz Niehzſches erfreuen, 
fondern feine Arbeit verfteben will, warm ju 
empfeblen. 


„Briefe, die ihn nidjt errcidjten’’, 14. Auflage. 
(Berlin, Gebriider Bactel.) Man wird heute felten 
einen Band aus der Hand legen mit dem Geſamt 
urteil: das ift cin vornehmes Bud. Hier ſteht 
man durdaus unter diefem Eindrud; man verliert 
wabrend des Lejens nie das Gefiibl, fich in befter 
Geſellſchaft au befinden, und man ſcheidet ſchließlich 
von einem Menſchen, den man fennen möchte. — 
Ob das Buch tatſächlich feiner feinen pſychiſchen 
Cigenart den grofen Erfolg feiner fic jagenden 
elf Muflagen verdankt oder der Wltualitat feiner 
Handlung, mag dahin geftellt bleiben; jedenfalls 
ift cS gelungen, beide gu cinem [ebendigen Ganzen 
zu verſchmelzen. Die fein empfindende Frau, die 
alle Ereigniſſe im fernen China verzeichnet, in dem 
fic den gelicbten Mann in ſchwerer Gefahr weiß, 
ſchildert die uns allen nod in [ebendiger Gr 
innerung ftebenden Wirren mit der Sicherbeit 
beS Cingetweibten. Sie zeigt fich der realen Seite, 
der politiſchen Betradtung der Dinge ebenfo ge 
wachſen, wie der Betrachtung sub specie aeterni, 
die die Eleinen Gefcbebniffe der Erde in den 
Ewigleitsrahmen cinguriicen weif, die langes Dulden 
und Warten eine melancholiſche Weisheit gelebrt, 
die ſchließlich doch dem tiefen Lebensſchmerz erliegt. 
So wird der Roman, dem auch äußere Spannung 
ein glückliches Geſchick verheißt, weit über die Hobe 
der gewöhnlichen Tageslektüre hinausgehoben. 


„Agave“. Bon Marie von Ebner-Eſchen— 
bad. Berlin 1903. Schon mander deutſche 
Riinftler und Dichter hat in Gtalien eine zweite 
Heimat gefunden, ſchon manden bat das ewige 
Rom die Reinheit der Lebensatmofpbare gegeben, 
dic in unferer Enge und Rerriffenbeit, in unferen 
fauten Tagesfampfen mit ibrer häßlichen Gewalt 
ſamkeit verloren geht. Dieſer Rube bedurfre die 
Dicterin nicht, die in ihrer ſchönen Ausgeglichenbeit 
bon Nraft und Wollen, von Gedanfen und Form 
das in unferer modernen Literatur fo feltene Seiden 


Bücherſchau. 


ded „Klafſiſchen“ von jeher an ber Stirn trug. 
Aber wenn Marie Ebner in dieſem jüngſten Werf 
bei der italieniſchen Renaiſſance einkehrt, fo ſpürt 
man doch das tiefe Genießen, die innige Freude, 
mit der ſie ſich in dieſe Welt verſenkt hat. Und 
auch hier bleibt ihre Kunſt echt und wahr, ſie 
wächſt hervor aus einem ſelten reinen inneren 
Schauen der Geſtalten und ihres Weſens. Jede 
von ihnen traat die klaren Konturen und die warmen 
Farben, die Marie Ebner all ihren Figuren zu 
geben gewußt hat, und jede ſchreitet ſicher und 
eindrudsvoll, ſich ſelbſt bid ind einzelne getreu, 
an uns vorüber. Und dieſe Kraft und Klarheit iſt 
in der Entfaltung eines Problems feſtgehalten, in 
dem die „Modernen“ ohne Neuraſtheniſches und 
Vathologiſches kaum fertigwiirden; es ijt die Geſchichte 
eines Künſtlers, deſſen Kinnen durch leidenſchaftlichſte 
Liebesglut über ſich ſelbſt zu einem einzigen großen 
Werl hinaufgehoben wird — um dann hilflos in 
die alte Gebundenheit zurückzuſinken. 


„John Ruskin: Praeterita““. Bb. 1. Aus 
bem Engliſchen von Anna Henſchke Verlegt 
bei Eugen Diederichs. Leipzig 1903. Als ſechsten 
Band der ausgezeichnet angelegten und vornehm 
ausgeſtatteten deutſchen Ruslin-Ausgabe ded be— 
lannten Verlages erſcheint der erſte Band der 
Selbſtbiographie Ruslins von der Überſeherin, die 
ſchon den Kranz von Olivenzweigen“ bearbeitet 
batte. Es iſt ganz beſonders wertvoll, daß in 
dieſer Biographie, die gleichſam das allerperſönlichſte 
und intimſte Zeugnis über Ruskins Weſen und 
Wollen iſt, keine Kürzungen vorgenommen find, 
die man in bezug auf das Formaliſtiſche und 
Dogmatiſche in den „Modernen Malern“ nur als 
einen Vorzug empfand. Cin Schriftſteller wie 
Rustin, der auf fo unendlich vielen Lebensgebieten 
qu Hauſe ift, der fie auf allen eigene Wege fucht, 
der Den modernen Geiſt nicht nur in feinen feinften 
Ruancen aufnimmt, fondern ſelbſtändig weiter bildet, 
ftellt die groften Anforderungen an Sorgfalt, Jn: 
tuition und Kenntnis des Aberſehers. Anna Henſchke 
zeigt fich dieſen Anſprüchen in jeder Beziehung ge 
wadfen, fo daß felbjt ſolche, denen die englifde 
Ausgabe jugdngli tft, fic mit Genus in die 
deutiche vertiefen werden, 


Wahrheit’. Roman von Emile Bola. 
2 Bande. (Preis geb. 6 Mark, geb. 8 Mart. 
Stuttgart. Deutſche Verlagsanſtalt) Das, wad 
an Solas fegtem Roman zunächſt am meiften 
intereffteren wird, ijt bas Stoffliche. „Wahrheit“ 
entbalt cine bié ing einzelne durchgeführte Barallele 
qu Dem Dreyfus Fall. Sum Verſtändnis nicht ded 
Romans felbft — er ift ein in fich geſchloſſenes 
Ganze aud) ohne feine Tatfacengrundlage — aber 
der Intentionen Solas wird deshalb die Leltiire 
einer in demjelben Gerlag erſchienenen Sammlung 
von Solas Außerungen zur Dreyfſus Afſäre „Der 
Siegeszug der Wahrheit“ gu empfehlen fein. — 
Uber bas Buch tft natiirlich viel mehr als ein 
Dokument dieſes fenfationellen fin de siécle-Gr: 
eigniſſes. Es iſt zugleich ein hochintereſſantes 
RKulturbild des modernen Frankreich, des Kampfes 


einer nach Humanität und Gedankenfreiheit in 


modernem Sinne ringenden Bevölkerung gegen den 
Zwang einer geiſtigen Macht, die zugleich eine 
politiſche im eminenten Sinne ijt. 


Hinter dieſen 





57 


Vertiefung zurück, wie immer bei Zola, wenn auch 
die Schilderung des Zuſtändlichen lebhafter 
individueller Züge nicht entbehrt. Gerade dieſer 
Roman Zolas wird fiir bas deutſche Volk, das 
Volk der Gedanfenfampfe, feine bejondere Wn: 
ziehungslraft haben. 


„Geſammelte Auffite zur Philofophie nud 
Lebeusauſchauung“ von Rudolf Euden. Leipzig. 
Verlag der Diirrichen Buchhandlung. 1903. Die 
Aufſätze des befannten Jenenfer Philofophen wenden 
fic) an den Laien. Sie fucken dent Webildeten die 
verwirrten, Ddrangenden Fragen ber Heit in das 
Elarende Licht einer in fid) gefcblofjenen Welt: 
anſchauung gu riiden, obne diefe Weltanfdbauung 
ſelbſt ſyſtematiſch-wiſſenſchaftlich aufzubauen. So 
greifen ſie mitten hinein in die geiſtigen, ſozialen, 
politiſchen Bewegungen unſerer Zeit, dies und jenes 
Problem hervorhebend, ſei es die Stellung des 
modernen Menſchen zur Religion oder zur Arbeit, 
zur Weltpolitik oder zur Ethik. Und über allen 
liegt ſowohl die Friſche einer menſchlich tiefen und 
lebendigen Teilnahme an allem, was die Zeit be— 
wegt, als die vornehme Ruhe und die reife Klar— 
heit der wiſſenſchaftlichen Perſönlichkeit. — Wo ſich 
die Aufſatze an Perſönlichteiten hefien, an Goethe, 
Fichte, Friedrich) Fröbel, Nuneberg u. a., feblt bei 
der Kraft abjtrafter, ſyſtematiſcher Zuſammenfaſſung 
der geiftigen Leiſtung dod) nicht das feine künſt 
leriſche Gefühl fiir individuelle Farbungen. Cuden 
ift wie twenige unſerer Fachphiloſophen berufen, 
feine Wiffenfebaft ju einer Lebendigen Macht auch 
fiir die Menge der Nicht Gelehrten zu machen, und 
jeder, der fein Buch lieft, wird ibm diefes Hinaus— 
treten aus der ariſtokratiſchen Abgeſchloſſenheit der 
ftrengen Wiffenfehaft aus warmem Herzen danfen. 


„Aus Wald und Flur“. Marden fiir finnige 
Veute. Von Elijabeth Gnauck-Kühne. (Minden. 
Allgemeine Berlags-Gefellfdaft m. 6. H.) Für 
allegoriſche Märchen ift das künſtleriſche Empfinden 
der Gegenwart nicht gerade ſehr empfänglich. Das 
Verſtandesmäßige, das in der Beziehung des Bildes 
ju feinent tieferen Sinn liegt, beriibrt uns als 
cin frembded und ftirendeds Element, es fei denn, 
daß eS dem Dichter gelingt, das Lebrbafte durch 
bic Feinbeit ber Geftaltung gu verdeden. Das ift 
in diejen Mareen ,, Mus Wald und Flic” gelungen. 
In einer ſchlichten und künſtleriſch reinen Form 
gibt die Verfaſſerin kleine, trauliche Alltags— 
beobachtungen; und ſie ſieht in ihnen die inneren 
Erfahrungen ſich verkörpern, die den Weg jedes 
Menſchen bezeichnen, der ſeine Lebenswerte im 
Geiſtigen und Ewigen ſucht. 


„Das Land der Zuknnuft“. („Was können 
Amerika und Deutſchland voneinander lernen?“) Bon 
Wilhelm v. Polenz. (Berlin, F. Fontane & Co. 
Preis 6 Mark, geb. 7,50 Mark.) Wilhelm 
v. Volenz ift uns bisher nur als Romanſchrift— 
{teller entgegengetreten und bat als Berfajfer des 
„Büttnerbauer“ und des „Pfarrer von Breitenfeld“ 
verdiente Erfolge erzielt. Auch das vorlicgende 
Bud, das ihn von einer gang neuen Seite zeigt, 
wird cin Erfolg fein. Poleng ijt cin ausgezeichneter 
Beobachter; er bat überdies feine eigenen Eindrücke 
an der Hand gründlich orientierter Fachleute 
fontrolliert — wir nennen nur War Sering: ,, Die 
landwirtſchaftliche Konkurrenz Nordamerifas”, der 


Wedantenfimpfen tritt notiwendig die pfychologiſche fiir den entiprechenden Teil des vorliegenden Buches 


‘ 


58 


qrunblegend geweſen gu fein ſcheint. Als ein nicht 
geringerer Vorzug des Buches muß die nie er: 
miidende, ſtets gu intereffanten Vergleichen anregende 
Darjtellung bhervorgeboben werden. 
zwecklos fein, über den Inhalt qu orientieren, da 
cr nicht weniger als ein Mefamtbild der amerifanifden 
Verbaltniffe bietet; das Buch muß gelefen werden. 
Was Amerifa und Deutſchland nach des Verfaffers 
Anſicht voneinander lernen finnen, fann erft nad 
folder Kenntnisnahme ciner fiderlid nicht un- 
intereffanten Nacbpriifung durch den Lefer unter: 
zogen werden, 


„Beate und Mareile“. Von E.v. Keyſerling, 
Buchſchmuck von Chriftophe. (S. Fifer Berlag, 
Berlin.) Geb. 3,50 Mark, geb. 4,50 Mart. 
Kevferling bebandelt in der fein ftilifierten, zurück 
baltenden Weife, die ibm eigen ift, cin in unferer 
Literatur nicht feltenes Motiv: den Monflitt des 
Mannes, den die unfinnliche, iiberfeinerte ariſto— 
fratijde Gattin nicht allfeitig genug zu feſſeln 
bermag, um ifm gegen den elementaren Sauber 
der lebengliibenden Inſpeltorstochter unempfindlich 
gue machen. Der Verfaffer entfaltet beſonders in 
der Zeichnung de Helden, des verwöhnten, immer, 
auch in der Leidenſchaft, balb unbewußt pofierenden 
Grafen Gilntber, cine Kunſt der Charakteriftit, dic 
ſcharfſinnig ijt und cigene Wege gebt, fo dah die 
„Schloßgeſchichte“ bis zuletzt ben Reiz einer feinen 
pſychologiſchen Studie bewahrt. 


„Gedichte in Proſa“ von Turgenjeff. Inſel 
Verlag. Leipzig 1903 (Preis 1 Mark). Die 
tigenartig gedanfenvollen Parabeln find bei und 
fo wenig befannt, daß es cin Berdienft ijt, fie 
in Diefer Ausgabe geboten yu haben. Die (ber: 
fegung von Th. Comichau ijt ſehr gut. Am reiz— 
volljten erſcheinen die Gedichte in Brofa, wo fie 
Momentbilder, Stinumungsbilder geben, deren Sinn 
nur leiſe angedeutet wird, 3. B. „die Seefabhrt”. 
Als Sammlung bieten fie cin reiches Spiel von 
Medanten, Cindriiden, Crlebnifjen, in das man 
fic) immer wieder gern vertieft. 


Die deutſchen Künſtlerſteinzeichnungen (Verlag 
B. G. Teubner, Leipzig) haben ſich in der deutſchen 
Schule ſchon ein Biirgerrect erworben. Und mit 
Hecht. Denn es diirfte kaum ein befferes Mittel 
geben, dic Rindesfeele ohne verftimmende padagogifde 
Abſichtlichkeit zum fiinftlerifden Seben und Auf— 
faſſen zu bilden, als die ftete Gegenwart diefer 
fraftigen und Elaren Bilder im Schulzimmer. Wher 
was für das Schulzimmer gilt, gilt auch fiir das 
deutſche Haus, fiir die Familienftube, fiir die Ainder: 
ftube, Mus cinem Bild, wie Hans v. Rolfmanns 
wogendes Kornfeld, das die Sommerſtimmung 
verforpert gleich cinem Stormichen Gedicht, ſpricht 
die Cigenart der Heimatlandſchaft in zarteſter und 
zugleich eindrucsvolliter Werle, fo dah es manches 
anjprucsvolle und teure Bild in der Kraft feiner 
friedengebenden Stimmung weit iiberbietet. Es 
fiibrt, wads man eigentlich von cinem Bild will, 
aus der Haft des Alltags immer wieder zu er 


erſcheinungen nennen wir nod Trübners „Alt— 
Heidelberg, ou Keine”, das Schloß und Flug 
und das ferne Rheintal in warmer Abendftimumung 


Es wiirde | 


| TeilS find 
friſchendem ſeeliſchen Ausruhen. — Unter den Neus | 





Bücherſchau. 


zeigt, und Julius Bergmanns Seeroſen. Wir 
machen ferner auf ein Blatt der kleineren Ausgabe 
aufmerkſam, Hermann Peet: Wm Stadttor, das 
befonders in der Farbenfompofition von wunder: 
finer Wirfung ift. Die Preife der groperen 
Ausgabe find 5—6 Mark pro Blatt, das Meine 
Blatt toftet 2,50 Mark, 


„Paul Heyfe, Homane und Novellen“. Wohl 
feile Ausgabe. Erſte Serie: Nomane. 48 Liefe- 
rungen ju je 40 PF. Alle 14 Tage eine Lieferuna. 
(Verlag der J. G. Cottafden Buchhandlung Nach: 
folger Gam b. H. in Stuttgart und Berlin.) Die 
nene wohlfeile Geſamt⸗Ausgabe von Paul Hevies 
Romanen gebt ibrem Abſchluß entgegen. Auf die 
beiden grofien Romane „Kinder der Welt und 
„Im Paradieſe“ folgt, mit Lieferung 33 endigend, 
„Der Roman der Stiftsdame”, gleichyeitig enthalt 
diefe Lieferung den Anfang von ,, Merlin’. Selbft 
two bie von ben „Neuſten“ nad anbderer Richtung 
gedrängten literariſchen Bediirinijfe des Publitums 
von heute in Hepfe nicht mehr volle Befriedigung 
finden, wird die bewußte Kunſt feiner Technik und 
bie Feinheit feiner dichteriſchen Ausdrucksmittel 
ihre Wirkung auf den wirklich gebildeten Leſer nicht 
verfehlen. Eine Geſamtausgabe ſeiner Werke bildet 
cin unentbehrliches Stück jeder Bibliothel, die das 
literariſche Leben unjeres Volls wirklich umfaffen foll. 


„Friedrich Spielhagen Romane’ — Neue 
Folge. — Woblfeile Lieferungsausqabe in 50 Heften 
& 35 Bf. Wile vierzehn Tage cine Lieferung (Verlag 
von &. Staadmann in Leipzig). Die Lieferungen 15 
bis 22, welde uns vorliegen, bringen die Fort: 
fesung und den Schluf der Novelle „Suſt“, ſowie 
den größeren Teil des Romans „Opfer“. 

Die Romane zeigen, daß Spielbagen, der Dar: 
fteller des Kulturlebens der ſechziger und ſiebziger 
Jahre, auch die Fühlung mit dem letzten Jahrzehnt 
ſeines Jahrhunderts nicht verloren hatte, auch bier 
noch lebendige Bilder und Typen zu geben weiß. 


„Die Tiere der Erde“. Bon Profeſſor 
Dr. W. Marfhall (in 50 Lieferungen a 60 Pf.) 
Stuttgart, Deutſche Verlagsanftalt. Das fiir die 
naturwiſſenſchaftliche Bildung weiterer Vollstreife 
auferordentlich nutzliche Werk ift nunmehr bis sur 
12. Vieferung erſchienen. Die Frifebe der Darftelluna, 
die itberall das Sntereffante und Charatteriftifde 
aliidlicd herauszuheben weiß, cine gründliche 
Belehrung gibt, ohne den Leſer mit zuviel gelehrten 
Einzelheiten zu belaſten, macht das Werk ganz 
beſonders geeignet, die Wiſſenſchaft zu populariſieren. 
Wir verweiſen auf Abſchnitie, wie „Die Lemuren“, 


die „Ratte der Pharaonen“, „Lumpenſammler 
unter den Nagern“. 
„Für ound wider Die Reformkleiduug“. 


Sonderdrud aus der Ailuftrierten Seitung. Verlag 
vor J. J. Beber in Leipzig. Preis 50 Pf. Diefer 
Sonderdrud enthalt cine grofe Sabl von Gut: 
achten fiber die Reformfleidung aud allerlei Kreiſen 
und pon allerlei bervorragenden Perſönlichleiten. 
es einfache Geſchmacksurteile, teils 
mediziniſch oder äſthetiſch eingehend begründete 
Gutachten von Autoritäten. Jedenfalls find ſie 
für den Stand der Bewegung zur Reform der 
Frauenkleidung außerordentlich intereſſant. 


— =e 


— 


59 


fiir Haus und Familie. 


Die Wobhnungsverhaltnifie der Grofftadt haben 
die gleichzeitige Benugung mander Räume jum 


Wobnen und Schlafen fiir viele notwendig gemacht. 





Befonders die auf , Moblierte Zimmer” angewieſenen 
Grofftadthewobner oder Familien mit vielen Kopfen 
find zum grofen Teil auf Hilfamittel angewiejen, 
Da find alle Crfindungen, die den Raumen den 
Schlafſtubencharalter nebmen, eine Erhihung des 
häuslichen Bebaaens fiir 
Tauſende. Cine ſolche Er: 
finding bat die durd 
ibre „Patent Möbel“ ſchon 
rühmlichſt belannte Firma 
R. Jaekel's Patent: 
Möbelfabrik, Berlin S.W., 
miteinem,,Banfett Bett” 
gemacht. Es hat eine 
Zwiſchengröße zwiſchen 
Sofa und Seſſel und füllt da cine fühlbare Lücke 
aug, wo der Naum fiir Aufſtellung eines Sofas 














nicht vorhanden ijt, man aber Wert auf cin Bett, 
von bequemer Breite (90 cm) und normaler Bett: 
höhe legt. Der Preis betragt je nad der Aus— 
ftattung TO—1L00 M. 


Tie moderne Hygiene bat gegen die Gewohnheit 
vieler Menſchen, wabrend der Nadtrube ibren 
Körper mit ſchweren Federbetten yu belaften, ſehr 
entidieden Front gemacht, und dagegen bie leichte, 
luftdurchläſſige und dabei aleichycitig wärmende 
Steppdede empfohlen. Nicht den kleinſten Anteil 
an ber Einführung derfelben bat die renommierte 
Wiener Steppdedenfabrif Bernhard Stroh— 
mandel, Berlin S., Wallftrafe 72. Ihre Be: 
milbungen nad) diefer Richtung find infolae reeller, 
gediegener und dabei preisiverter Arbeit durch den 
ftetig fics vergréfernden Umſatz belobnt worden, 
die es wiedcrum bem Anbaber der genannten Firma 
sur Pflicht machten, feine Verkaufs- und Fabrif: 
räume um mebr alé das Doppelte yu vergropern. 
Tie ſtilvoll eingerichteten Verkaufsräume bicten 
bas Bild ciner Mufterausftellung von Geſchmack 
und Eleganz. Hier findet man die cinfadften 
neben den prachtvollſten Steppdeden aufgeſpeichert 
zu duferft niedrigen Preiſen. Man verlange 
zu näherer Orienticrung die foftenfreie Zuſendung 
einer Breislifte, 








60 


Kleine Mitteilungen. 


Wir weifen auf die in dieſer 
Nummer enthaltene Angeige der 
Haudelsſchule für Mädchen unter 
der Leitung von Guſtav Brühl 
(Berlin, Mathieuſtr. 13) bin, bie 
in einjabrigem Rurfus in allen 
kaufmänniſchen Fächern Unterricht 
erteilt. Proſpekte über nähere Be— 
dingungen ſind bei der Direltion 
ju erhalten. 


Im Verlag von Ernſt Wunder— 
lich, Leipzig, ſind neu erſchienen 
von A. Reukauf und E. Heyn: 

„Bibliſche Geſchichten“ für 
die Mittelſtufe gegliederter Schulen 
mit einer Karte von Paläſtina. 
Preis 40 Pf., geb. 60 Py. 

„Leſebuch aus dem Alten 
Teſtament“ fiir die Oberftufe 
gegliederter Schulen. Preis 40 Pf., 
geb. 60 Bf. 

,Lefebud ans dem Neuen 
Teſtament“ 
gegliederter Schulen. Preis 60 Pf. 
geb. 80 Pf. 

„Die Behandlung der 
Schwachſinnigen in der Bolfs- 
ſchule“. Gortrag, gebalten auf 
ber Jahresverſammlung ſächſiſcher 
Schuldirektoren gu Bautzen 1902. 
Von Schuldirektor Dr. M. Heym. 
Preis 50 Pf. 

[ira ie ie —— 

Diefer Nummer fiegt cin 
Profpelt: 

Der Runftwart 

(Verlag Georg D. W. Callwey, 

Minden) 


bei, den wir beſonders gu be— 
adjten bitten, 


Liste neu erschienener 
Biicher. 


Beſprechung nad Raum und Gelegenbeit 
vorbebalten; cine Hildfendung nicht bee 
ſprochener Bilder ift nicht moglicd.) 


Mabel, Maric. Das Cinfoden ber 
Fruchte. Die Bereitung der Frucht⸗ 
jafte, Hausſchnapfe, Creme, Lompotte 2c. 
ber in Eijig cingemadten Fruͤchte wie 
ber in Blechbuchſen cinqemachten Früchte 
und Gemuſe. 21. Auflage. Preis 50 Pf. 
3. Rarb’s Verlag Bacnang 
Vellſtändige Rartoffelfiide, Rad 
eigener bieljabriger Erfabrung, heraus⸗ 
gegeben von Marie Mabel. Neue Huss 
gabe. 154.160. Taufend. Preis 
60 BF, Bachnang: J. Rath's Verlag 
Baars, Paftor Ernft, Was wir wellen! 








fiir die Oberftufe | 





Bortrag in der Berfammlung os | 


Alfobolacgnerbundes zu Bremerhaven 
am 18, November 1900, IT, 
20 Hf. 
bundes“ Berlin N. 28 

Baumbach, Clara. , Wie Frauen lieben.” 
Komen, Brofh 1,50 Mart, gebbd. 
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Berlag ves ,Wllobolgegners | 


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Lehrerinnen-Seminar mit eigener Ubungschule, 








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(mahe dem Anhalter, Potsdamer Vorsteherin. 


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BERLIN W., Potsdamer-Strasse 90. 


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Aier telſahrs ⸗· Halbjabrés und Jabresturie. « Wuiterfontor. 
Silb. Medaille. Neue Kurje: Unf. Nan, April, juli, Ctt. Penfion im Hanfe. 


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Mädchen 
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Beſte und billigſte Ausbildung in allen kaufmänniſchen Sächern. 


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Anmeldungen: Guftaw Brühl, 
tiglid 3—5. Mathieuſtr. 13. 
**8 (2. Eingang Ritterſtraße 36.) 





Höhere Madchenschule 


St. Jacobi. 
Mathieustrasse 13. (2, Eingang Ritterstrasse 36.) 


Anmeldungen taglich r1r—t1. Gustav Brihl. 


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Winterfemefter 1, Ol.—B1. Diary, · Sommerfemefter 1. April—3i. Jul. 

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Heine. Rnirr, Chrijt. Landenberger. — Landſchaften, Stillleben: 1. Nov.—15. Wai im 

Jull auf dem Lande: Fraulein &. Rempter. — Cithograpbie 

mit prattiſcher Perwendung: Herr M. Heymann. — Abend Alt: die Herven: War 

Feldbauer, H. Knirr, Chr. Landenberger. — Anatomie: Here Bildbaucr Bermarnn. 
Pevipettive: Fraulein v. Welfdbrum. 





Unfragen yu adreffieren an das Sekretariat deo Riinftlerinnen-Pereine. 
1. Ottober, 


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, 61 


ned Boridrift vom Geh-Rath Grofeficr Dr. O. Liebreid, befeitigt binnen kurzer Zeit Verdanuungs- 


Hhwerden, Sodbrennen, Magenverſchleimung, vic Forgen von Unowwsigteis tw Gen 


und Frinfer, und if: gang befombers Feguen und Madden ju empfeblen, die injolge Bleichfucht, Hyiterie und ähnlichen 
Bufinden on nervofer Magenſchwäche tcives. wreis y, FH. 3 Wt, Fl. 150 M. 


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Niederlagen in faft famitliden Apothefen und Drogenhandlungen. 
Man verlange ausbridlig PB ScHhering’s Pepfin-Cfiens. Pe 


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oe iDeig & Dilndel, Strafburg 

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© Plerfon, Dresden. 

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N Mftten, Bien und Leipiig 1903. 
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faddftanbigen Bermodgensverwaltung tite 
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Prior), Hannover 

Roervifage Zauberringe. Yon Mrdfin 
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H—4. H. 2 Mart. Kommiffiondvcrlag 
Bb. H. Baldbaueriden Bb., Paſſau 

Salmé-Bayfen, H. Ein Howdjeitstay’ 
Roman. Yreis 4 Wark, «leg. gebo. 
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Serfin W. 10, 

Nociner, De. mod. G, Bie wird rein 
Rind grog, flart, geſund Prattiſcher 
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geſunden und Franfen Tagen. Aufi. 

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Allgemeinen Deutſchen Lehrerinnenvereins 


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Beſchrankung. 
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ſondern ges 
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Vereinigung. 
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Hauptitr. 20a, 
Atazienſir. 5. 
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burg, 
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Profpette zratis bom Vorftante des Damenheim, Hauytiir. 20a. 





Sprachkranke Kinder 


find griindl. Heilunterricht u. 
liebevolle Aufnahme bei Johanna 





Lenk, gepr. Tochterschul- und 
Sprachlehrerin. Coburg, Adami- 
Strasse al. Beste Emphtet 

Dr. and Mrs. Oswald, 


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two ladies in their cheerful. musical, 
and intellectual family. Hehest Re- 
ferences given and required. 


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Familien:Penfion I. Ranges 


{21 





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BERLIN 
Potsdamerftr. 35 1. rests 
Pferdebahnverbindung nad allen Rich⸗ 
tungen. Solide Breife. Belle Referenyen. 


ene Bahuen 


Organ des Nogemeinen Peul(dhen 
FPranenvercins. 


Das Blatt erſcheint 14 tägig und 
foftet pro Jabr (24 Nunumern) 3 Pit. 
| durd Poft ober Budhandel, — 


| Leipzig. Mlorik Shafer. 








62 





Driginalresept. Kräftiges 
cinfades Kalbfleiſchgericht. 
6 YPerjonen. Zubereitungszeit 
1'/,—1'/, Stunden. Bon 3 Pfund 
Kalbfleiſch aus der Keule ſchneidet 
man ungefähr talergroße Scheiben 
und brat fie ſchnell in einer 
Kajjerolle in fteigender Butter 
nebjt einer mittelarofen — fein: 
geſchnittenen Zwiebel braun, dann 
gießt man fodendes Wafer oder 
cine aus 1, Magagi-Bouillonfapfel 
durch Aufgiefen von focendem 
Waſſer bereitete kochend beife 
Bribe darauf, fiigt Pfeffer, wenn 
ndtig, nod etwas Sal; dazu und 
apt das Fleiſch auf mafia beifer 
Stelle cine Heine Stunde langjam 
ſchmoren; ſchmeckt es ab, würzt 
mit Teelöffel Maggi-Würze 
und richtet es gu Bratfartoffein 
oder durchgerührten Kartoffeln in 
ticfer Schüſſel an. v. Bg. 





Ausing aue dem 
Stellenvermittlungeregifter 
deo Aligemeinen deutſchen 

fehrerinnenverscine, 


Jentralleitung: 
Berlin W. 57, Culmftrafe 5 pt. 


Offene Stellen an Schulen. 


1. File eine höhere Privat-Maddens 
ſchule in tleiner Stadt Ritteldeutſchlands 
wird zum balbigen Antritt cine evan: 
geliſche, wiſſenſchaftlich gepriifte Lebrevin, 
die Englijch im Ausland erlernt hat, 
gefucht. Gebalt 1200 Wart. 


tn ber Proving Hannover wird jum 
14. Ottober eine cvangelifie, wiſſen⸗ 
ſchaftlich gepriifte Yebrerin zur Vertretung 
bis Oftert 1904 gejucht. Bet Zufriedenben 
fefte Anſtellung. Die Schule bat Ausſicht, 
ſtadtiſch gu werden. Gebalt 1100 Mart 
P. & und 100 Mark fir Penfionataffe, 

3. Fur ein neugegriindetes Minders 
heim mit Haushaltungs ſchule in Pommern 
wird zum 10, Oftober eine erfabrene, evans 
gelijche, wiſſen ſchaftlich gepriiite Yebrerin 
gefucht, die aud die erwachſenen Maoden 
fortbildet. Giebalt 6—800 Wark neben 
voller freier Station. 

4. File cine hoͤhere Privat ⸗· Nadchen⸗ 
ſchule in Pommern wird gum 10. Ottober 
tine ebangeliſche, wiſſenſchaftlich aepritite 
Lebrerin geſucht. 28 Stunden gu ertetlen. 
Gebalt 1050 Wart. 

5, File eine höhere Privat Madden: 
ſchule mit Penfionat in Pommern wird 
zum fofortiqen Antritt eine evangeliſche 
wifſenſchaftlich geprufte Lehrerin fir dic 
V. Klaſſe geſucat. Gutes Franzöſiſch 
Bedingung. Gehalt 600 Wart mit freier 
Station, 40 Mart fiir Mafibe, 

6, Fur cine hödere Maodenfdule 
mit Penfionat in ber Pfaly wire jum 
18. Ottober cine erjabrene, cvangelijde, 


2 File cine hdbere Mädchenſchule 


| 





Unjeigen. 


Berlin, Markgrafenstrasse 20. 


Wollen Sie Betten anschaffen? 


Dann fordern Sie sich gratis und franko Preisliste U ber Jaekel's berahmte, 
unfibertroffene Patent- Reform -Bettatellen nebst kompletten Bettausstattungen, 
OS Franko-Versand fiber ganz Deutschland. od 


R. Jaekel’s Patent-Mdébel-Fabriken, 


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St. Alban’s College, 


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Terms 30—40 shillings per week. For particulars address 


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Stadtische haushaltungs-u. 
Gewerbeschule fir Madchen. 


Cinbecd:, Prov. Hannover. 


Wn der gum 1. April 1904 in 


Cinbed gu eröffnenden ſtädtiſchen 





Haushaltungs: und Gewerbeſchule 
für Madchen find durch uns vor: 
bebiltlicy der Beftitigung des 
Herrn Minifters fiir Handel und 
Gewerbe 4 Lebrerinnenftellen gu 
beſetzen und zwar: 
2 Stellen fiir Kod: und Haus: 
haltunggunterricht, 
1 Stelle fiir Sandarbeit und 
Zeichnen, 
1 Stelle fiir Maſchinennähen, 
Waſche und Schneidern. 


Bewerberinnen, die über die 


nötigen praltiſchen Erfahrungen 
verfügen und ſchon in ähnlichen 
Stellungen mit Erfolg tatig ge— 
weſen find, wollen ihre Geſuche 
bid gum 15, Oftober d. Is. unter 
Veifligung eines Gefundbeits: 


attejtes, eines ſelbſtgeſchriebenen 


Lebenslaufes und von ZJeugnis— 
abſchriften an uns einreichen. 
Die Stellen find penſions— 
berechtigt nach Maßgabe der fiir 
die preußiſchen Staatsbeamten 
geltenden Beſtimmungen. Die 
Annahme erfolgt zunächſt auf 
Probe gegen cine jabrliche Re: 
muneration von 1200 Mark. Bei 


feſter Anſtellung beträgt das Ge— 


halt 1430 Mark und ſteigt von 
3 zu 3 Jahren um je 200 Mark bis 
zum Höchſtbhetrage von 2630 Mart. 

Yebrerinnen, welche ſich ſchon 
in fefter penſionsberechtigter Stel: 
lung befinden, können mit einem 
ihrem gegenwärtigen Einkommen 
entſprechenden Gehalt ſofort pen— 
ſionsberechtigt angeſtellt werden. 


Der Wagiftrat. 


Troje. 





{eer (M. A. Glasgow Univ.) 


thoroughly experienced, 
desires post as governess to 
family. German and English 
references. Miss C. Lamb, 
15 Kelvinside Terrace, 
Glasgow. 


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giebt Penfion filr 2,50 Wl. bis 4,50 We, 
ber Zag fur Tage, Boden und Monate, 
Selma Spranger, Yoriteberin. 


Damen bie fic Studiume halber 
~ in Berlin aufbalten wollen, 
finden in m. Hauft rubigen Aufentbalt mit 
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auc alte Steppdeden auf⸗ 
qearbeitet werden. BK. Strohmandel, 
Berlin S. 14, \lufte. Breistatalog gratis 

















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Lehrerinnenu. Ergiebecinnen 
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wilenidafelicy gepribfte Lehrerin geſucht. 
10—16 Nabre alte Madden in Deurfd, 
BGeograpye und Raturgeſchichte unter⸗ 
ridien. Webale 600 art bei vollig 
ter Station. 

7. Fue cine hohere Privat Rädchen⸗ 
heule tn Ueiner Stadt Loſens wird zum 
1s, Ottober eine erſahrene, evangeliſche, 
wifeniaftlic geprufte Lehrerin fur 
dee Rittielſiufe geſucht. Gutes Franzoſiſch 
dediagung. Gehalt 1000—1400 Rart 
edne free Station, oder 5—700 Wart 


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1, Eine Forjiuncifteriamilie in Pofen Filialen an allen grésseren Platzen. 
fuct zum baldigen Antritt cine erfabrene, 
coartyeliide, wrfjenjdbaftlid gepruſte Cre 
veberim für ein DN gdoriges Mandhen, 
Gute Epraten und Wulf verlangt 
Gegalt 400 Mark und Fanulienanidlup. 

4. Cine griechiſche Familie in Riein= 
afes ſucht gum baldigen Antritt eine 
pungcre, evangelilde over katholiſche, 
wifen{dattted geprifee Erzieherin file 
4 Marden von 4211 Jabren. Reiſe 
besabls, Berpilidtung jur 2 Jabre. Stelle 
ture ocuthcbe Familie warm empjebien. 





ip ves Sta0tischen Madchen- 
Gymnasiums, Karlsruhe. » 


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Gedalt nad UÜbercinkommen. Auskunft: Frau L. Himmelheber, Karlsruhe i. B., Leopoldstr. 40. 


3. Cine adlige Fantilte auf dem 
kante in Sachſen tact gum 16, Oftober 
tine crlabrene, eparttacliiche, twifjenicbatt 
lim geprinfte Exgicberin fiir cin Wadden 
von 14), Jabren. Gute Spraden und vere 
alide mufifaliicoe Begabung erwunſcht. 7 > 2 
@ebalt 1000 Wart, Familienauſcluß. | l iB) 3 Ss t 

4. Cine Offnersfamilie m tleiner la ge ant JAZ. Deima 
Stadt oer Wark fudt gum ſolortigen $i 

3 f Fur Tihter gebildeter Stande grund⸗ 
Antes cine erfabrene, cvanachine, | fihe anobildung in Wrffentchaften, Hauge fis alleinfejende Madden und Frauen 
mufjemtchafeted geprufte Eryeverin Fie | pate, Ganrarbciten, Wufit, Gejang, | Sebild.Stdnde, Dresden, Littidgan- 


Der Verein ..FPranenbildung— Ff ranuenstudiam". 














ton Madsen vow TE Zahren, Frauzoſeſzze waren re. Sprachen vor Austanderinnen. | ftrahe 10, U1, gegründet von dem Verein 

eae pio und Auſit erwunſen. Penſten mit Unterricht jäbrlich $00 Mark. Freundinnen junger Mädchen“. Preis 

Sxymt eas : are gg re essa auf Reſerenzen. Brofpelte. 1,20 M. tagllch. Auch Simmer fiir Damen 
; Familie, 2 ‘ , 

tem Sanbe, tm Winter in qrogerer Stade Fran Profeffor Leymann, mit und ohne Penfion. 





wr Proving Sachjen, ſucht gum 10. Ofteber 
tute Jurtgere, cvangeltfie, wiſſenſchaftlich 
geprutte Erneherin tie ein Raädchen von 
13 jabren, dads tm Winter zur Schule 
echt, im Sommer gang unterribtet wire. | 
Durl erwunſcht. Gebalt 7—900 Mark, | 
Famalserranh lark. 


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wu adreffieren. 


Unverianat cingefandten Mannſkripten ift das nötige Rüchporto | 
beisulegen, da andernfalls cine Rückſendung nicht erfolat. 





Berliner Verein fur Volkserziehung 


unter dem Protectorat Ihrer Majestit der Kaiserin und Kénigin Friedrich. 


Laie 


Prospekte Besichtigung 
Pree en — der Anstalton 
Qo jeden Dienstag 
sit a {Ur Haus | 
Verlangen t von 10—12 Uhr; 
jederzeit f fr Haus 1 
zugesandt. ef 


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von 11—1 Uhr. 


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Festaloæ· õbe Ihaus. — 


Barbarossa-—Strasse 74. 
—— 


Haus I. gegrindet 1870: 

Seminar fur Kindergartnerinnen und Kinderpflegerinnen. 
Cursus fiir junge M&adchen zur Einfihrung in den hduslichen Beruf. 
Curse zur Vorbereitung fir soziale Hilfsarbeit. 

Pensionat: Victoria-Miidchenheim. Kinderhort. Arbeitsschule. 


Elementarklasse, Vermittlungsklasse, Kindergarten, Sauglingspflege, Kinderspeisung laut Specialprospect. 
Anfragen fair Haus I sind eu richten an Frau Clara Richter. 


>. Ke. 


Haus II. Curse 
gegriindet 1885: in 
E allen Zweigen der 
Seminar-Koch- Klche u. Haushaltung 
und for 
Haushaltungs- Todchter 
schule: hdherer Stunde, 
for 
Hedwig Heyl: Birgertéchter. 
Curse Kochcurse 
far Koch- far Schulkinder. 
u. Haushaltungs- Ausbildung 
Lehrerinnen. tur Stitze der Hagsfrau 
— und Dienstmadchen, 
Pensionat. 


Auskunft aber Haus II 
erteilt Frl, D. Martin. 


Oras O 





Im XVL Jahrgange erschein: # * Wereins- Zeitung des Pestalozzi-Frébel-Hauses * 4 
Expedition im Sekretariat, W. go, Berlin-Schoneberg, Barbarossastr. 74. Die Zeitung erscheint vierteljfhrlich itm ersten Monat jeden Quartals 


und geht den Abonnenten unter Kreuzband zu. Der jahrliche Abonnementspreis betragt einschliesslich Porto: Far Berlin a M. fOr Deutschland 
2.50 M., far das Ausland 3 M. Anfragen, Bestellungen, Beitrige (auch die Geldbeitrage) und Mitteilungen sind an die Expedition zu richten, 


Berantwortlic fiir die Redaftion: Helene Lange, Berlin. — Verlag: BW. Mocjer Budbandlung, Berlin 8. — Druct: W. Woefer Buchdruderei, Berlin 8. 


ap 11. 2 Heft? om ay Va November 1903 od 











Rerausgegeben 8 2* 2 95° Verlag: 
eee 


bon 


W. Moeſer Sudhbandlung. 


Foeleme Cange. Berlin s. 


ase. 


Moderne Sifflichkeitsprobleme. 


Bon 


Jha Freudenberg. 


Raddrud verboten. 





an bat ſchon oft Verwunderung dariiber ausgefproden, dah unſere Beit, 

"7% die doc fo viel Geift und ein faſt allmdchtiges Können auf allen Gebieten 
betatigt, nod feinen Dichter von allererjtem Range hervorgebracht hat, der im ftande 
wire, all das gropfartige Umwälzen und Fortſchreiten der Gegenwart in ebenjo 
grofartigen Geftalten und Handlungen darzuſtellen. 

Vielleicht fann man mit einigem Rechte fagen, dah die Menſchheit heute ibr 
eigner Dichter und Denker, Deuter und Darjteller ijt, daß fie felbft das Wort ergriffen 
hat und von dem, was fie bewegt, Runde gibt, viel lebendiger, viel Fraftvoller, viel 
padender, als das die Stimme eines Cinjelnen vermöchte. Dieje mächtige Geſamt— 
ſtimme unſerer Seit ijt unfer öffentliches Leben; in ibm reden die Maſſen. Der 
allgemeine, jeden Tag neue Möglichkeiten bietende Verkehr ſchafft tauſend Zuſammen— 
hänge, verbindet die Sleichdenfenden, die Wleichjtrebenden, die unter gleiden Ver— 
hältniſſen Arbeitenden, die unter gleicher Not Leidenden, wenn fie auch räumlich weit 
von einander getrennt find; ein Wort, das vielen aus der Seele gefprocen ijt, wird 
jum Schlagwort, cin Vorſchlag, der vielen Fortſchritt verfpricht, yum Programm. 
Und jo, in Schlagworten und Programmen, reden in unferem öffentlichen Leben 
gewaltige Cinbeiten miteinander, die Millionen von Individuen in fic begreifen, und 
der Sujammenflang dieſer Einbeiten bringt eine natürliche Wirfung bervor von folcber 
Unnittelbarfeit, Wucht und Bedeutung, wie fie feine Kunſt jemals erreichen würde. 

Gs ift über dics Denfen und Reden der Maffen ſchon viel Abjprechendes geſagt 
worden; feine und ſcharfe Geijter fiiblen ſich abgeſtoßen von dem mehr oder weniger 
5 


66 Moderne SittlichfeitSprobleme. 


qroben Sufchnitt, ber dent Majjfengedanfen notwendig anbaftet, und Niewiche bat das 
verächtliche Wort von den ,viel zu vielen” in Die Welt gerufen. Wher fo manches 
wundervoll Neue und Babnbredende wir Niebfde auch verdanfen — mit diefem 
Worte hat er der heutigen Menſchheit feinen Dienſt erwiefen. Denn unfere Zeit it 
nun einmal cine Beit der Maffen; fein Machtipruc eines einzelnen fann dem Zu— 
cinanderbinjtreben der in ibrem Denfen oder in ibren Intereſſen Verwandten Cinbalt 
qebieten. Anſtatt darüber zu febelten, follte man lieber verftehen, daß in diejer 
Summierung alles Gemeinfamen, in diefem Fefthammern der Prinzipien durch taujend- 
fade Wiederholung etwas Titanifees liegt, cine Steigerung ins ganz Große, Schickſal— 
mächtige, Daf unfere Zeit fich eben auf diefe Weife die ungebeuren, weltbewegenden 
Kräfte fcbafft, die fie zur Vollbringung ibrer Aufgaben braudbt. 

Much das, was feither recht eigentlich und ausſchließlich die Domäne der Kuni 
und dev Dichtung war, und was fich feinem innerjten Wejen nad gegen jede 
verallgemeinernde und gleichmachende Behandlung ftrdubt, auch das perſönliche 
Gefiiblsleben, das Verhaltnis von Menſch yu Menfeben, des einzelnen yur Familie, 
— aud) dads drängt ſich heute zum offentlichen Worte, aud die Heryensfonflifte der 
Menjcbeit werden vor Hunderten von Hörern oder Lejern befprocden, und das 
Innerſte und Intimſte ijt in gewiſſem Sinne ebenfalls Maffenangelegenbeit geworden. 
So eng find in unferen itbervilferten Staaten, in unferen Millionenjtadten die Menſchen 
zuſammengedrängt, einander durch gleiche Erziehung, gleiche Tatigteit nabe geriidt, in 
dem bewegten Fluidum unferes geijtigen Lebens fo intenſiv auf einander aufmerfian 
qeiworden, dak jeder viel viel mebr als früher auch mit feinem cigenften Tun und 
Denken der Gejamtbeit angebirt und ibr verpflichtet tit. Die gleichartigen Berufs- und 
Erwerbsverhältniſſe, in welche dieſe Maſſen fich ordnen, bedeuten auch eine gewiſſe 
Gleichartigkeit des Lebensganges, dieſelben Schwierigkeiten, dieſelben Gefahren und 
Erfolge für viele, und ſo ergibt ſich die eigentümliche Erſcheinung, daß, während 
unſre geſteigerte Bildung den einzelnen ſo viel freier und unabhängiger macht als er 
in früheren Zeiten jemals war, er gleichzeitig durch tauſendfache Zuſammenhänge ſich 
auch wieder viel mehr mit der Allgemeinheit verbunden fühlt; er ſpürt, ſo zu ſagen, 
ſeine Nebenmänner im Gliede unmittelbar neben ſich, hört ihren Schritt und Tritt, 
lebt ihre Gedanken mit; er geht ſie und ſie gehn ihn aufs nächſte an. Darum iſt es 
kein Widerſpruch, wenn unſre Zeit zwar die Freiheit des perſönlichen Denkens und 
Fühlens als Grundſatz aufſtellt, zugleich aber mit Nachdruck darauf aufmerkſam macht, 
daß der Gebrauch, den jeder von dieſer Freiheit macht, keineswegs ſeine Sache allein, 
ſondern die Sache vieler ijt. Die beiden Faktoren, auf deren Mit: und Aufeinander: 
wirfen aller geijtige und moraliſche Fortſchritt beruht, Individuum und Wigemeinbeit, 
find miteinander gewad fen. Die reichen Vildungsmittel der Gegenwart ftellen jedes 
Individuum auf die eignen Füße — aber die Allgemeinheit ift auch nicht mebr das 
form: und leblofe Gebilde friiherer Seiten, fondern eine Fleiſch und Blut gewordene, 
ſehr reale Macht, deren Walten fic) in unferm reid) bewegten sffentliden Leben 
deutlich und ausdrudsvoll fund gibt. 

Daf} nun in diefem Hifentlichen Leben auch die perfdnlichen und innerliden 
Menſchheitsfragen immer mebr yum Worte kommen, das hängt in bobem Grade mit 
der Teilnabme der Frauen zuſammen. Man könnte aud umgekehrt fagen: Tie 
Notwendigkeit, das ganze fosiale Leben der modernen Menſchheit bis in alle Einzel— 
verhältniſſe binein mit neuem friſchem Geijte yu durchdringen, es auf unfrer jo total 


Moderne Sittlidifeitsprobleme. 67 


verwandelten Wirtſchaftsweiſe neu aufzubauen, und die ganze Fiille äußerer Kultur, 
die das letzte Jahrhundert uns gebracht bat, wun auch yu wabrer, innerer, individueller 
Rultur zu verarbeiten — Ddiefe Notwendigkeit hat die Frauen in die Offentlichfeit 
qerufen, Auch die Frauenbewegung ijt cin Verfuch, Bediirfnijfe, die von ganzen 
Maſſen geteilt werden, auf cinen verhältnismäßig einfachen, gemeinſchaftlichen Ausdruck 
zu bringen und den Willen vieler Taufende zuſammen ju ſchweißen ju einer einzigen 
qropen, belfenden und umgeſtaltenden Macht. Die Frauen find an allen Fragen ded 
Einzel- und Familienlebens am unmittelbariten intereffiert, die Pflege alles Reine 
menfeblichen, dev perſönlichen Sittlichfeit innerhalb der großen Menfebbeitsfamilie war 
von jeber ihre Pylicht, und fie genügen nur diefer Pflicht, wenn fie fich jest aufmachen, 
um an der Pflege eines fittlichen Geſamtbewußtſeins mitzuwirken, iwelches im Begriff 
ijt, fic) gu bilden, und cine Kraft von höchſter Leiftungsfabigteit ju werden. 

Das Aufwerfen der cigentlichen Sittlichkeitsfrage ift Denn auch zumeiſt ibr Werk. 
Dank dem faft iibermenfeblichen Mute einiger Vorkimpferinnen, die es wagten, die 
ticfften Abgründe unferes Gejellfchaftslebens aufzudecken, baben wir gelernt, uns unferes 
jittlicben Lebens im engeren Cinne, alfo der perjinliden Besiehung der Geſchlechter 
zu cinander, als einer Gejamtangelegenbeit bewußt 3u werden, die, mehr als irgend 
eine andere, grade unter den heutigen Zeitverhältniſſen ein ernjiliches Durchdenken 
erfordert. Je gründlicher wir dieſe Zeitverhältniſſe darauf anfeben, um fo mebr 
enthiillen fic uns Liebe und Che als cin Maffenproblem von riefigem Umfang und 
von tiefiter Bedeutung. Die beiden Mächte, die nad) Schiller die Welt umtreiben, 
Hunger und Liebe, halten fic auch innerhalb deS ganzen Gewoges fozialer Fragen, 
die unfere Seit in Spannung verjegen, durchaus das Gleichgemicht. 

Die Frauen aber haben zu jenem Maſſenproblem zunächſt nod ein gan; 
befonderes Verhältnis. Cind fie dod) in der Lage, ſich überhaupt eine gan; nene 
Ethik aufbauen ju müſſen, ſich Gefese zu fchaffen fiir die ganz neuen Wege, die fie 
heute au geben baben, fiir Unſicherheiten und Nonflifte, die es früher im Frauenleben 
einfach gar nicht gab. Mit der feblichten Weisheit aus unferer Grofmiitter Zeiten 
finden wir uns in den fomplizierten Verhaltnifien der Gegenwart längſt nicht mebr 
surecht; im Gegenteil, ein ftarreds Felthalten an dem, was vor hundert oder nod vor 
fünfzig Sabren recht und gut war, ijt in unzähligen Fallen geradezu ein Unrecht, denn 
es macht uns unfibig, den Anforderungen der Seit wabhrbhaft yu geniigen, in der wir 
Doc leben, deren Kinder wir find, und deren Seqnungen wir dod) aud in vollen 
Zügen geniefen. Die Frau ftebt dent ganjen Leben heute anders gegenither als frither, 
weil die wirtſchaftlichen Verhältniſſe fics total gedndert haben, — und diefer Wandel, 
deffen Einfluß ſchon in der Kinderſtube cinfest, unfere ganze Erziehung umzugeſtalten 
beginnt, Millionen von Frauen aller Stände ju eigenem Erwerb nötigt — dieſer Wandel 
kann gar nicht anders als auch für das Verhältnis zum Manne von Bedeutung ſein. 
Aus vertiefter Bildung, aus beruflicher Tätigkeit, aus wirtſchaftlicher Selbſtändigkeit 
wird auch cine größere Selbſtändigkeit des Charakters hervorgehen. De mehr die 
Frau vom Leben verſteht, je mehr ſie durch ſich ſelbſt, durch eigenes Denken und eigene 
Arbeit erkannt hat, um ſo mehr wird ſie fordern, ernſt genommen und als aufrechter, 
ſelbſtverantwortlicher Menſch geachtet zu werden. Eine Frau, die denkt, wird auch über 
ihr eigenes Gefühl nachdenken, ſie wird ſich all das Tiefe und Starke, was in ihr 
lebt, bewußt zu eigen machen umd wird die höchſte perſönliche Sittlichkeit darin 
erkennen, auch in der Liebe ganz und ehrlich ſie ſelbſt ſein zu dürfen. Daß das eine 


5* 


68 Moberne Sittlichkeitsprobleme. 


andere Art von Hingebung bedeutet, als die man der Frau im allgemeinen jeither 
sur Pflicht gemacht bat, und die cigentlich cin Aufgeben und Auslöſchen der eigenen 
Perſönlichkeit vorfebrieh — bedarf Feiner naiheren Ausführung. Mit diefem Selbſtändigkeits— 
fireben, mit dieſem Perfinlichfeit-fein-Wollen der Frau wird cin tief- und weitreichender 
Anſpruch in Ehe und Familie bineingetragen; wir finnen uns dariiber nicht täuſchen, 
ein Unfpruch, der der Menfebbeit im allgemeinen leider fo neu und befremdend ift, 
bak cr zu feiner befriedigenden Crfiillung cin bobes Mah von gutem Willen bei 
Mann und Frau vorausfest, und der den Frauen namentlicy die Pflicht auferlegt, die 
Welt dariiber qu berubigen, dah man vor dieſer Befreiung nicht yu erzittern braucht, 
wie vor der des Slaven, der die Kette bricht, fondern daß fie inzwiſchen auch qelernt 
bat, ſich zu dem Grundfage ſozialer Gefittung ju bekennen, den cine der bedeutenditen 
Frauen unferer Zeit in dem Worte ausgefprocen bat: Freibeit iſt Verantwortlichkeit. 

Dod diefe rein ethifehe Seite unferer Frage, fo wefentlich fie iff, und fo febr 
jie aller Menſchheitskultur an die Wurzeln gebt, fie tritt als eine interne Angelegenheit 
unwillkürlich zurück vor den viel Derberen, aufdringlicheren Gufferen Formen, in 
Denen das Liebes- und Ebeproblem vor uns ſteht. Biel lauter als die ftillen Seelen— 
kämpfe der verbeirateten Frau ſpricht die Mot Dderjenigen Majfen des weiblicden Ge- 
jeblechtes, die gegen ihren Willen heute nicht mebr zur Che gelangen. Auf die Urſachen 
diefer Erſcheinung, die, wie wir alle wiſſen, zum weitaus größten Teile die gebildeten 
Klaſſen trifft, können wir hier nicht naber eingehen; genug: fajt die Halfte aller Frauen 
Der Mittelſtände muß auf Che und Mutterglück verzichten. Und alle diefe Oundert: 
taufende bat man nod) gelebrt, dag der Beruf der Hausfrau und Putter der einjige 
jei, Der ibnen cin Recht aufs Dafein gewähre! Nun überläßt man eS ihnen, je nad 
Temperantent und Erziehung, ficy mit rubiger Gelaſſenheit anderen Lebenssielen zu— 
suivenden, oder in ungeberdigen Jammer geiftiq und körperlich zu grunde zu geben. 

Wenden wir uns zum Manne, fo begegnen wir auc bier einer Maſſenerſcheinung, 
Die man mit Recht cine ſoziale Tragddie genannt bat: es iſt die auf ganzen Berufs— 
und Criverbsflajjen lajtende Unmöglichkeit, gerade in den Jahren der geſundeſten 
Rraft und des leidenfchaftlichjten Gefühls zu Che und Familiengriindung febreiten yu 
können. Der Beamte und Angeftellte ſowohl als der Vertreter der foqenannten freien 
Berufe muß jabrelang auf eine cigene Häuslichkeit warten, er muh, wie oft, daraui 
versichten, bei feiner Heirat einer wirfliden Neigung ju folgen. Auch bier geben wir 
an einer Stätte vorüber, wo viel bittere Herzensnot begraben liegt. 

Auch der Mann hat Grund zu einer berben Anklage gegen die Gefellfchaft, der 
vielleicht im Vertrauen auf feine Gefchiclichfeit im Berufe und auf die fleipigen Hände 
der Frau fich das Recht des Herzens genommen und feine Liebe heimgeführt bat, wie's 
nur eber zum Nötigſten yu reichen febien, den aber bald der Kinderſegen und Krank 
beiten aller Art in ſchwere Bedrängnis ſtürzen und der nun von allen Seiten mit 
Vorwiirfen wegen feiner leichtfinnigen Heirat und unverantivortliden Familiengriindung 
freigebig bedacht wird. Liebe und Wirtſchaft find eben zwei Faktoren, deren bar: 
moniſche Ubereinftimmung zwar im Intereſſe ciner geregelten bürgerlichen Ordnung 
dringend zu wünſchen, aber in unſerer Zeit ganz außerordentlich erſchwert iſt, dadurch, 
dah zur Führung eines Haushaltes fo viel mehr Mittel erforderlich find als in der 
friiberen Beit der felbjtproduzierenden Hauswirtſchaft. Der ftets wachſende Anſpruch 
an die ganze Lebenshaltung, den der zunehmende Wohlſtand in allen Volksklaſſen erzeugt, 
droht aber, die Rückſicht auf das wirtſchaftliche Gedeihen bei der Eheſchließung weit 


Moderne Sittlichteitsprobleme. 69 


mebr an die erjte Stelle zu rücken, alS es im wabren Intereſſe Der Menſchheit ju 
wünſchen ift. Das innerjte und beiligite Gejes der Natur will ja, daß die Menfeben 
ſich nach) wabrer Suneiqung verbinden, damit aus folcher echten Che cin lebensfähiges 
Geſchlecht hervorgehe, in dem dads Weſen der Cltern ſich zu feſtgefügter fraftvoller 
Einheit innig durchdringt. Und wenn dieſes Ideal auch niemals vollſtändig und für 
alle erreichbar ſein wird — ſo wenig wie irgend ein anderes auch, wie z. B. das 
Ideal der ganz uneigennützigen Nächſtenliebe —, ſo zeigt es doch die Richtung an, in 
der alles Streben nach Vervollkommnung ſich bewegen ſollte, und gibt uns einen 
Maßſtab dafür, in wie hohem Grade der herrſchende Geiſt unſerer Zeit der tiefſten 
Abſicht der Natur entgegenwirkt. — Aber freilich, die Ehe, die aus Liebe geſchloſſen, 
aber dann in Armut und drückende Abhängigkeit geſunken und darüber verwildert iſt, 
wo der Mann in ſeinem Vorankommen gehindert, die Frau überanſtrengt iſt und keine 
Mittel vorhanden ſind, den Kindern eine genügende Erziehung zu geben — ſie bietet 
ein kaum weniger troſtloſes Bild als jener andere Typus, dem wir hauptſächlich in 
den mondainen Kreiſen unſerer Großſtädte begegnen, wo die aus ſogenannten Vernunft— 
gründen eingegangene Ehe mit der Zeit cine bloße Form geworden it, mit der manches— 
mal cin frivoles Spiel getrieben wird. Selbſt da, wo feinerlei Not und Unfreiheit 
Der Menſchheit webrt, nach dem deal zu greifen — jfelbjt da feben wir die Liebe 
keineswegs als allmächtige Ciegerin fiber alle anderen Intereſſen — ja es gibt be- 
kanntlich Leute genug, die bebaupten, es werde im Bereich der Entbehrungen ver— 
hiltnismapig viel mehr nach Liebe gebeiratet als im Bereiche des UÜberfluſſes. 

So fehen wir alfo ganze Scbichten der Bevdlferung durch die Macht der Vere 
hältniſſe zum Stärkſten und Elementarjten, zur Natur in ibnen — in ein durchaus 
unnatürliches, verſchrobenes Verhältnis gebracht. Die Natur gönnt jedem ſein Herzens— 
glück; unſere Kultur verwehrt es dem einen und verleitet die anderen, es um äußerer 
Annehmlichkeiten willen mit Füßen zu treten. Aber die Natur läßt ſich nicht unter— 
drücken, und je hochmütiger und verſtändnisloſer man ſich ihr gegenüber verhält, um 
ſo tückiſcher nimmt ſie ihre Rache. Wenn wir genauer zuſchauen, bemerken wir mit 
Schrecken, welch' breit entfalteten und zum Teil grauenhaft gearteten Erſatz ſich die 
erzwungene Entbehrung dieſer einen und der frivole Verzicht dieſer anderen geſchaffen hat. 

Damit kommen wir zur furchtbarſten Seite unſeres Problems. 

Von jeher, ſeitdem es cine bürgerliche Ordnung gibt, bat auch immer ein Uberſchuß 
yon Roheit und Unbändigkeit beftanden, der ſich in diefe Ordnung nicht einfügen wollte; 
Diebe und Verbrecher weiſt die menfebliche Gefelifeaft immer und auf allen Gebieten 
auf, auch auf dem der CSittlichfeit; fle ſelbſt erzeugt fie ja in inumer neuer Geitalt. 
Die Natur wird und Fann niemals vollitindig und ohne Reft in der Kultur aufgeben; 
das weif} jeder, Der Geſchichte yu leſen verftebt. Was wir aber heute feben, was in 
unſeren Großſtädten auferbalh der biirgerlichen Ordnung und Citte heute fein Wefen 
treibt, das geht über dad erträgliche Maß hinaus; das bedeutet micht mehr einen 
notiwendigen Abfluß gefabrdrobender Säfte, durd den der Gefellfchaftstorper gereinigt 
wird, das ift felbjt cine fürchterliche Krankheit, die das Volkstum zu entnerven und im 
Kern zu zerſtören droht; das ijt fein notwendiges und bei der Mangelhaftigkeit alles 
menſchlichen Weſens entſchuldbares Ubel, fondern wildeſte Entartung; nicht mebr 
unvollkommene, ungeläuterte Natur, ſondern ſelbſt üppigſte, raffinierteſte Kultur, deren 
gefährlicher Reiz, deren glänzender Schimmer weltmänniſcher Ungebundenheit Unzählige 
zur Vergeudung der Mittel verlockt, mit denen ſie bet gutem Willen einen eigenen 


70 Moderne Sittlichfeitsprobleme. 


Hausbalt ſehr wohl batten gründen können. So febr aber hat fics die Geſellſchaft 
mit Ddicfer Freibeit vor und neben der Che ausgeſöhnt, daß alle Verfuche, ihr mit rein 
fittlichen Waffen entgegenzutreten, von den meiſten aufgeklärten und lebenskundigen 
Leuten immer nur beldchelt worden find. Neuerdings kommt dicfen verlachten 
Sittlichkeitsbeſtrebungen allerdings cin mächtiger Bundesgenoſſe gu Hiilfe: die Angſt, 
die furchtbare Angſt vor den Folgen! Cin verbheerendes Gift ſchleicht durd alle Klaſſen, 
durch Familien und Generationen, ſchont nicht Rang und Stand, und trijft die 
Unſchuldigſten mit jabem Berderben. Bald müſſen ſich alle Eltern, wenn fle den Sohn 
ins Leben hinausziehen laſſen, ebrlich fagen, daß es fajt cin glücklicher Zufall ijt, wenn 
er ihnen an Leib und Seele geſund bleibt, und wenn fic ibve forgjam gebiitete Todster jum 
Altar geleiten, fo müſſen fie ficr in banger Sorge die Frage vorlegen, ob jie fie nicht 
in wenig Jahren als gebrodene, mit lebenslangent, qualvollem Cicchtum gefdlagene 
Rranfe wiederſehen werden. 

Denn, während die natiirlidien Wege yur Erlanqung der ,Mrone de3 Lebens“, 
wie Goethe fagt, immer ſchwieriger und labyrinthiſcher werden, während ſich dafiir 
immer breitere und gangbarere Seitenwege zu cinem bequemen „Sich-Ausleben“ auftun, 
ift das allgemeine Verlangen der Menſchheit nach Lebensglück und Lebensgenuß immer 
heifer, drängender und ffrupellofer geworden, im Berhaltnis, wie auch unfer ganzes 
Dafein fic immer genupreicher, farbiger, intereffanter um uns ausbreitet, Wenn wir 
antlagen wollen, fo baben wir vor allem unſere aufregende Zeit anzuklagen; die enorme 
Vervollkommnung der äußeren Zujtinde, die fich in folchen Rieſenſchritten vollzogen 
bat, daß das phyſiologiſche Vermögen der Menfebbeit, über dieſe Fülle des Erlebens, 
über dieſen Reichtum an Eindrücken Herr zu werden, daß unſere Nervenkraft dahinter 
zurückgeblieben iſt. Das Leben der zweiten Generation vor uns kommt uns heutigen 
Tages bereits wie ein beſcheidenes Idyll vor. 

Mit der Möglichkeit, ſo viel mehr Lebenswert umd -Anbalt zu erfaſſen, wächſt 
natürlich auch der Wunſch danach; unſere Weltanſchauung lehrt uns nicht mehr: wer 
cin Leben im wahren Sinne führen will, der flüchte aus der Sinne Schranken in das 
weltferne Reich der Gedanken und der Phantaſie, ſondern fie lehrt uns umzuſchauen, 
die Wirklichkeit, die bedeutungsvolle Gegenwart zu lieben, die uns nach Jahrhunderten 
der Entbehrung und Einſchränkung aller Art ſo freigebig mit Wohlſtand und Schönheit 
überſchüttet. Eine warme Sinnenfreudigkeit durchſtrömt ung; die Weite, in die wir 
hineinſehen, dehnt und belebt unſer Gefühl. Prof. Sombart kündigt in ſeinem Werke 
über die Volkswirtſchaft des 19. Jahrhunderts geradezu das Anbrechen einer ſinnlich— 
künſtleriſchen Epoche an. Junge Menſchen, vor deren empfänglichem Geiſte ſich die 
unermeßlichen Schätze modernen Wiſſens entfalten, die zum erſtenmal die berauſchenden 
Töne, die brennenden Farben moderner Kunſt auf ſich wirken fühlen, die packt's wie 
ein Taumel — ſie möchten ſich dem Leben in die Arme werfen und ſeine Herrlichkeit 
in ſich aufnehmen. Und dic Armen, die Mühſeligen und Beladenen, fiir die es früher 
feine Freunden gab, auch fie baben das Fordern qelernt; es iſt ja fo viel ſchwerer, 
ausgeſchloſſen yu fein, wenn fo viele geniefen! Sie feben fo viel Bebagen und Wohl— 
jein vor Augen, cine fo ſouveräne Herrſchaft über alle Sdvige der Welt — follte 
Diefer faft erdrückende Reichtum an Lebensgiitern niet bet gerechter Verteilung fiir 
alle geniigen? 

Wie aber bei einem von allen Seiten ftrdmenden Regen die Grundwäſſer fteigen, 
jo haben all die tanfendfachen Kulturniederſchläge der legten Jahrzehnte aud bas 


* 


* 


Moderne Sittlichleitsprobleme. 71 


Ticfite und Innerſte in der Menfebbeit zum Steigen gebracht; dag perſönliche Glücks— 
verlangen bebt fics in jedem eingelnen, es verſtärkt fic) durch das Sicheinsfühlen mit 
Gleichgefinnten ringsum zu cinem Gefiibl des Rechtes, des unbeftreitharen Menſchen— 
rechtes auf lid und Freude. Das CEntfagenmiiffen wird fiir Taujende jum 
unertrigliden Martyrium — und fo, aus diefem Aufeinanderprallen von leidenſchaft— 
lichem Begebren und tauſendfacher Hemmung ergibt fich cin chaotiſcher Zuftand, dem 
als dunkles Sphinrratjel die Frage entfteiqt: Was foll denn nun werden?? 


* * 
* 


Wenn wir die Vielgeſtaltigkeit unſeres Maſſenproblems ins Auge faſſen, ſo 
werden wir nicht erwarten, daß einer von den zahlreichen denkenden Köpfen, die ſich 
an ſeiner Löſung mühen, ein Mittel gefunden babe, welches aller Not mit einem 
Schlage abzuhelfen vermöchte. Es iſt klar, daß nur durch viele verſchiedene Einflüſſe, 
von vielen verſchiedenen Stellen aus, eine allmähliche und teilweiſe Beſſerung der 
Zuſtände erreicht werden kann. Die Notwendigkeit, uns auf unſer eigentliches Thema 
zu beſchränken, zwingt uns, hier abzuſehen von den Theorien, die alle Hoffnung auf 
dic Umgeſtaltung unſerer ganzen Geſellſchaftsordnung ſetzen, die der UÜberzeugung 
entſpringen, daß mit dem wirtſchaftlichen auch das ſittliche Elend verſchwinden oder 
doch ſich bedeutend vermindern müſſe — ſo wichtig ſie auch für unſere Frage wären 
und fo viel unbeſtreitbar Wahres fie auch enthalten. Wenn ein moderner Großſtaat 
möglich wäre, der fo vollſtändig, wie es vielleicht für einen antiken Kleinſtaat aus: 
fiibrbar oder dod) denfbar war, die Sorge für Unterbalt und Erziehung der Kinder 
auf ſich nibme, fo wäre allerdings die Familie in hohem Grade entlaftet und der 
traurigen Verwahrloſung gefteuert, unter welder die Qugend der arbeitenden 
Bevölkerung heute fo fewer leidet. Es wire cine größere Freibeit der Eheſchließung 
gewährt — mur liege ſich dariiber ftreiten, ob es nicht einen prinjipiellen Widerfprud 
bedeutet, daß jie erfauft wird durch cine Maffenerziehung der Kinder, die nicht anders 
als febablonenbaft fein fann, und ob jene individuelle Freiheit nod ihren vollen Wert 
bitte fiir diejenigen, dic von vornberein durch dieſe Erziehung zu Maſſenmenſchen 
geſtempelt worden find. Auf diefe Theorien, die zum Teil ins Politiſche übergreifen, 
sum Teil nur einen beſchränkten Kommunismus anjtreben und etwa in der Form von 
Haushaltungsgemeinfcbaften den arbeitenden Familien die Wirtſchaft zu erleichtern 
ſuchen — darauf dürfen wir bier nur hindenten, ebenjo wie auf das Wiederaufleben 
der Malthus'ſchen Bevdlferungslebre, deren Vertreter den unbeilvollen Queritand 
bekämpfen möchten, daß gerade die armen und ärmſten Klaſſen durch Kinderreichtum 
immer wieder erbarmungslos proletariſiert werden, während mit dem wachſenden 
Wohlſtand notoriſch die Zahl der Kinder abnimmt, obgleich dort Hunger und frühe 
Arbeit, hier ſorgſame Pflege und freie menſchliche Entfaltung ihrer wartet. 

Alle dieſe Theorien bedeuten ja auch größtenteils nur erſt ein unſicheres Vor— 
waärtstaſten, bei dem das Gefühl, daß eine vielfache Verbeſſerung unſerer ſozialen Zu— 
ſtände zu wünſchen iſt, ſtärker und deutlicher wirkt als die Vorſtellung von dem, was 
denn nun eigentlich zu geſchehen bat, und wie die Verbeſſerung beſchaffen fein ſoll. 

Aber da ſoziale Zuſtände ſich überhaupt nicht nach Vorſchriften regeln, ſondern 
organiſch entwickeln, ſo genügt jenes Gefühl ſchon, um überall friſche Säfte zum Kreiſen 
zu bringen. Kräftig dringt der ſoziale Geiſt in Staat und Gemeinden ein und bringt 
ihnen die Pflicht der Fürſorge für die großen Maſſen zum Bewußtſein, die Pflicht 


72 . Moderne Sittlidfeitsprobleme. 


eines wirflichen Rulturitaates, jedem einzelnen cin menſchenwürdiges Daſein durch dic 
Möglichkeit ausreichenden Erwerbs zu fichern und die Dugend des Volfes vor ver- 
robenden und entſittlichenden Einflüſſen yu ſchützen. 

Wir müſſen alfo verjuchen, einen fliichtigen Blick in die Gedanken derjenigqen 
Manner und Frauen yu werfen, die die Menfebbeit yur Erlöſung aus allem Wirrjal 
auf ibve eigenen, perſönlichen geiftigen und moraliſchen Kräfte verweiſen; die uns 
yurufen: werdet ibr nur erjt felbft in eurem Denfen und Fiiblen gefund und gerecht, 
dann werden auch die Berhialtniffe gefunden! Und da verdient an erjter Stelle die 
Frauentliteratur der legten Jahrzehnte genannt zu werden, die jene befondere Stellung 
Der Frau yur Liebes- und Chefrage als Hauptgegenitand erfaft, und die namentlich 
mit ebenſo viel dichteriſcher Kunſt als ſittlichem Ernſte gefebildert hat, wie die moderne, 
zum Selbſtbewußtſein erwachende Frau den MWbergang aus der vollftindigen Unwiſſen— 
heit, in der Erziehung und geſellſchaftliche Sitte fie gefangen bielten, zur wirklichen 
Erkenntnis des Lebens und feiner Erſcheinungen erfabrt und — iwabrlid! — erleidet. 
Ohne Ausnabme haben dieſe Schilderungen den Charakter ciner furchtharen Antlage 
gegen Familie und Gefellichaft. Man bat das junge Madchen erjzogen, als ob ein 
ficheres Eheglück ihrer warte, — man bat damit dem gangen Frauenleben jenen une 
feligen Fatalismus als Grundzug eingepragt, der timer glaubt, irgendwo da draußen 
miiffe das Olid fiir ibn bereit liegen, während jedem Knaben als bejter Galt die 
Erfenntnis cingepraigt wird, daß der Menſch alle Lebensiverte in ſich felber trägt. 
Cin geijtreiches Frauenbud der allerlegten Zeit enthalt den Sag: Frauen figen eigentlich 
immer Da und warten, ob die Türe aufgebt und jemand Fommt. 

Kann man die tiefe Bitterfeit, die heute durch die ganze Frauenwelt geht, Me 
Sehnſucht nach Erlöſung aus der Qual dieſes tatenlofen Harrens und der Hilflofen 
Gebundenheit erfebiitternder ausſprechen? Und liegt nicht eine Welt von Troft und 
frober Suverficht in dem VBertrauen, dak es uns gelingen wird, die Erziehung der 
Frauen fürs Leben mit einem ganz anderen Geiſte zu durddringen? Dah es cin 
Ende haben wird mit dem Brachlieqen und Verkümmern fo viel guter Frauenkraft, 
weil jedes junge Mädchen gelebrt wird, fich in frifeher, tapferer Arbeit einen eigenen 
Weg zu bahnen — fei ¢3 als häusliche, fet es als erwerbende Tätigkeit, jet es als 
irgend cin Studium — cinen Weg, der, wenn er auc nicht ju Liebe und Che bin: 
fiibren follte, doch feinesiwegs in Cinfamfeit und Herzensöde zu enden braucht. Die 
Welt ift weit und ſteht heute jedem offen; fie bietet dem regen Geifte fo viel und dem 
warnten Herzen nod mebr. Die Menſchheit braucht Arbeit, braucht Gedanfen und 
helfende Liebe in Fille! Gerade der in uns fo jtarf gewordene Drang, dies reiche 
moderne Leben zu verſtehen und zu geniefen, lebendigen Anteil daran zu haben, 
Den gilt es in Die richtigen Bahnen zu lenfen, ihm den Zugang ins Grofe und Alle 
gemein-Menſchliche su eröffnen. Beſchränkt auf den Eleinen perſönlichen Gefühls- und 
Intereſſenkreis, in dem man die Frau feither gebalten bat, muh er jum Unbeil aus: 
ſchlagen, cine rückſichtsloſe, leidenſchaftliche Selbſtſucht entfachen. — 

Unſere Literatur, die uns in fo mancher ergreifenden Geftalt das junge Mädchen aus 
quter Familie vorgeführt bat, welches durch fortwabrende trügeriſche Hoffnungen, durch 
jolchen egoiſtiſchen Kultus de cigenen Gefühls in cine krankhafte Empfindſamkeit qeraten 
ijt und das ſich Dann von derſelben Familie und derfelben Geſellſchaft, die fie ſyſtematiſch 
in dieſe Gefühlsüberreizung bineingefteigert baben, mit Unwillen und Hohn zurückgeſtoßen 
fühlt von dem Tage an, wo ibre Jugend verblüht ift und jene Hoffnungen fie lächerlich 


Moderne Sittlicdlcitsprobleme. 73 


erſcheinen laſſen — unſere Yiteratur läßt uns ebenſo furchtbare Ehetragödien erleben 
in denen wir die Frau, ohne Verſtändnis für das wahre Weſen der Liebe, vertrauens— 
ſelig und befangen in romanhaften Vorſtellungen, von den Erlebniſſen der Ehe in ſinnloſe 
Beſtürzung verſetzt ſehen. Niemand hat ſie auf die großen Rätſel des Menſchenlebens 
vorbereitet, niemand hat ihr vow den Verheerungen der Leidenſchaft erzählt — fic 
war de3 naiven Glaubends, dah mit der Ehe alles geordnet fei, ibr ganzer künftiger 
Lebensqang flar und obne jegliche Abgriinde vor ibr daliege — und aus diefem 
Findlichen Wahn herausgeriſſen, vernichtet durch Erfabrungen, die fie nicht zu deuten 
weiß, iſt fie ſelbſt diejenige, die ibr und ihres Gatten Leben zerſtört. Konſtanze Ring 
in dem bekannten Roman von Amalie Skram kann die Erkenntnis nicht überwinden, 
daß das Gefühlsleben des Mannes anderen Geſetzen gehorcht, als das der Frau; 
aber ſie ſpricht in ihrer Todesſtunde doch das herbe Zugeſtändnis aus: „hätte ich nur 
beſſer Beſcheid gewußt über das, was eine ſo große Rolle im Leben ſpielt — dann 
wäre es mir beſſer ergangen!“ 

„Hätte ich gewußt“ — aus wie vielen Herzen mag ſich dieſer Notſchrei ſchon 
emporgerungen haben! „Gebt uns Wahrheit“ — lautet ein anderes Schlagwort, 
welches durch eine kürzlich erſchienene Flugſchrift ausgegeben worden iſt. Die Frau 
fordert Ehrlichkeit — Ehrlichkeit von der Erziehung, Ehrlichkeit vom Manne; jie bat 
das Gefühl: wenn nur erſt einmal all das Falſche, Verſteckte, dies unheimliche 
Einverſtandenſein der Wiſſenden, mir, der Unwiſſenden gegenüber, aus der Welt iſt, 
dann wird alles tauſendmal beſſer ſein! Was Natur iſt, was fein mug, das muh 
ids auch wiſſen, das muß ich ertragen können. Natur fann nicht abſcheulich fein — 
abſcheulich ijt die Heuchelei, dex gewiſſenloſe Betrug, der die Frau mit cinem Sebein 
von Achtung unigibt, aber in Wirklicfeit ihrer ſpottet. Es gibt nichts, was fo 
unfittlich ware als Unwabrbeit. — 

Nod einen Schritt weiter geben diejenigen, welche die jftrengen ſittlichen 
Anforderungen, die der Mann von jeber, bet wilden und bei jivilifierten Volfern, an 
Die Frau geftellt bat, mun auch auf ibn anwenden, und fagen: nur durch qleiche Moral, 
nur durch gleiche ſittliche Reinbeit bei beiden Geſchlechtern kann die Menſchheit aus 
Det ticfen Erniedriqung erboben werden, in die fle verjunfen ijt. Und es find nicht 
etwa mur Frauen, die dicfe Forderung ausſprechen; cin großer nordiſcher Dichter bat 
feine Kunſt mebr als einmal in ibren Dienst geftellt und der Frau das Recht 
suerfannt, cin reines Leben vom Manne zu fordern; und unter den mancherlei 
Abjtinensbejirebungen unferer Zeit, die cine Gefundung unſeres Volfslebens von innen 
heraus anzubahnen fuchen durch Enthaltung von allen entnervenden Genüſſen, durch 
Riidfebr yu Einfachheit und durch Härte gegen ſich felbft — darunter verdienen wahrlich 


dic — meift ſtudentiſchen — Berbindungen junger Manner, die fich ein enthaltjames 
Yeben zum Geſetz machen, mit befonderer Achtung genannt yu werden. Unfere heutige 
Menſchheit were auch in der Tat cin febwades Gefchlecht — „unwert der Ahnen“, 


unwert Der alten germanifeben Vorfabren, die an fittlicher Reinheit vor anderen Ur— 
völkern bervorragten, unwert unferer großen Ethiter, dic uns das Ideal Der unerbittlicven 
fategorifdien Pflicht vorgezeichnet haben, wenn in ihrer gejamten ſittlichen Selbſt— 
erziehung jener höchſte, ſtärkſte und feierlichſte Imperativ der gleich ſtrengen Moral für 
Mann und Frau und mit ihm der tiefe Ernſt fehlte, der von ihm ausgeht. 

Wer freilich die allgemeine Verſchiedenheit der Geſchlechter, die unendliche 
Mannigfaltigkeit der Individualitäten bedentt, wer bedenkt, dah Liebe fo verſchieden 


74 Moderne Siltlichleitsprobleme. 


ift, wie Menſchenherzen und Charaftere und Temperamente verfchieden find, der wird 
aud) von dieſem Ideal nicht erwarten, daß fie ihm dic Diillionen fiigen. Es gereicht 
unjerer itberfeinerten, verweichlichten Seit yur Ehre, dah fie Die Kraft gebabt bat, es 
hervorzubringen und vor die Maſſen hinzuſtellen, und die fcharfe Luft, die von ibm 
wie von einem hochragenden, cisgefrinten Bergriejen ausgeht, fann wobl flarend und 
befreiend in die Dumpfheit und Schwüle unferer Grofitadtatmofphiren hineindringen. 
ES ijt ſchon viel gewonnen, wenn man die Apoſtel dieſer Lebre als Helden und nicht 
mehr als bloße Narven anjieht; wenn etwas von der furdtharen Ungeredhtigheit, 
Die mit der fogenannten doppelten Moral zuſammenhängt, vor jenem fehneidenden 
Hauche jergebt; wenn man nicht mehr dem einen alles, Den anderen nichts verzeiht; 
wenn man nicht mebr die dreifte Frivolitit nachſichtig belichelt, und den unbedadten 
Leichtjinn, der — wie oft — mur Leichtgliubigfeit ijt, und der über  feinerlei 
Raffurement verfiigt, um fic nach aupen bin su febitgen, um fo unbarmberziger von 
ſich ſtößt. Es iſt ſchon viel gewonnen, wenn der Cynismus der Weltleute cin wenig 
eingeſchüchtert und das Pharifdertum der Wohlgeborgenen, Unverfuchten, ein wenig an 
ſich felbjt irre gemacht wird, denn dieſe beiden ftehen in unferem Gefellichaftaleben 
wie zwei ftarre Klippen, an deren Kälte und Unzugänglichkeit Taufende von Schwachen, 
Strauchelnden, Halbjfehuldigen, denen emporzuhelfen ware, in Verzweiflung ſcheitern 
und vollends untergeben. Wenn auf irgend einem Gebiete, fo follte auf dem Gebiete 
der perſönlichen Sittlichkeit gleichſam als Kommentar yu den allgemeinen Normen aud 
der Grundſatz Geltung haben: es fei jeder möglichſt ftrenge gegen ſich ſelbſt und 
möglichſt milde gegen die anderen. 


* * 
* 


Es gibt eine alte Sage, die in verſchiedenen Geſtalten bei verſchiedenen Völkern 
wiederkehrt, wonach eine Wunde immer nur durch die Berührung mit der Waffe geheilt 
werden kann, die fie geſchlagen hat. So ſagen und ſchreiben auch heute mance, und 
zwar ſolche, die an die urſprüngliche Güte der menſchlichen Natur glauben: die 
Wunden, die die Liebe der Menſchheit ſchlägt, können auch nur durch Liebe geheilt 
werden, nicht durch Strenge; man lehre die Menſchheit, ſich auf die echte Liebe beſinnen, die den 
ganzen vollen Menſchen, mit Leib und Seele, fiir ſich verlangt, dann wird die Herrſchaſt 
jenes widerlichen Zerrbildes gebrochen ſein, dem viele nur deshalb anzuhängen im 
ſtande ſind, weil ſie ihr eigenes Weſen zerriſſen, in zwei Teile geſpalten haben, einen 
höheren, edleren und einen niedrigen unreinen, die beide nichts voneinander zu wiſſen 
brauchen, von denen jeder, wie man annimmt, ohne Schaden für den andern getrennte 
Wege gehen kann. Ein jahrhundertlanges, von einem Geiſt weltabgewandter Askeſe, 
von übertriebener Gewiſſensangſt eingegebenes Mißverſtehen der menſchlichen Natur 
hat uns dahin gebracht, in den tiefften, vitalſten Gründen unſeres Gefühlslebens Unrecht 
und Sünde zu erblicken und ſie weit aus dem Bereiche alles deſſen zu entfernen, was 
uns als gut und ſchön gilt. Wir haben einen Teil unſeres Weſens ſo zu fagen 
preisgegeben; was an ſich unſchuldig und natürlich iſt, dem haben wir den Stempel 
der Häßlichkeit aufgeprägt, und es dadurch auch wirklich häßlich gemacht und aller 
Anmut beraubt, daß wir unſer beſſeres Selbſt vollkommen von ihm zurückgezogen 
haben. Aber dieſe Sinnlichkeit, deren jeder ſich ſchämt, und die jeder hinausgeſtoßen 
hat — die hat ſich draußen vor unſeren Türen zuſammengefunden und iſt eine Macht 
in der Welt geworden, die mun dem fo äugſtlich gehüteten Hauſe mit viel, viel 


wr, 


Moderne Sittlichfeitsprobleme. 75 


ſchlimmeren Gefabren droht. ener künſtliche Zwieſpalt int einzelnen hat ſich zu einem 
unheilvollen Zwieſpalt im großen ausgewachſen; wir ſehen cine Sphäre reiner 
Geſittung in Haus und Familie und eine Sphäre zügelloſen Genießens draußen, 
zwiſchen denen, trotz anſcheinend abſoluter Getrenntheit, die verderblichſten Zuſammen— 
hänge ſpielen — ſind es doch häufig dieſelben Menſchen, die in beiden leben. Wir 
ſehen das weibliche Geſchlecht eingeteilt in Frauen, die man ehrt und hochhält, und in 
ſolche, die man verachtet und verlengnet, obgleich man fie nicht entbehren will; ſchon 
der heranwachſende Jüngling erfabrt, dah es Frauen ven gang anderer Art gibt als 
jeine Mutter und feine Schweſtern find, und er gewöhnt ſich an cine Schätzung des 
ganzen weiblichen Gefcblechtes, die cine Art von beſcheidenem Mitteljuftand zwiſchen 
den beiden verſchiedenen Klaſſen berjtellt, 

Mn diefem allem feid ihr felber ſchuld! fagt man uns. Erziehet die Jugend zu 
qefundem, ungeteiltem Empfinden — das ift die wabre Unſchuld! Ihr follt euch des 
Natürlichen, Dunkeln in euch nicht ſchämen, fondern es verſtehen und mit den belleren 
Geiſteskräften durchdringen, es ift Der Beredelung fähig; ja, es wird das Verſtändnis, 
das thr ihm widmet, überreich vergelten, indem es ener ganjes Sein mit Wärme und 
Freudigkeit erfüllt. Wenn jeder einzelne cin ſolcher ganzer Menſch von vollem, 
unverkrüppeltem Empfinden wäre, dann wäre kein Geſchmack mehr da für das Gemeine, 
fiir Das Untermenſchliche — dad Liebesleben der Menſchheit wäre mit einemmale auf 
cine höhere Stufe gehoben. In dieſer Apologie eines freien, ſchönen, natürlichen 
Menſchentums, deſſen begeiſtertſter Verkündiger Carpenter geworden iſt mit ſeiner 
Schrift: „wenn die Menſchen reif zur Liebe werden” — lebt cin Hauch antiken Geiſtes, 
von griechiſcher Heiterkeit und Lebensfreude, und ſie iſt namentlich bei künſtleriſch 
gearteten Naturen einer hinreißenden Wirkung gewiß; während ihr die ernſthafte, 
ſchwerblütige Gefühlsweiſe nordiſcher Vöolker in mancher Hinſicht entgegenſteht, 
und entgegenſtehen muß, weil ihr heiligſtes Ideal doch immer die Treue iſt, die 
lebenslange Treue gegen das einmal erwählte Glück, die einmal übernommene Pflicht, 
und weil ſie im allgemeinen bereit iſt, dieſer Treue mehr Freiheit, mehr Recht der 
eigenen Perſönlichkeit zum Opfer zu bringen, als ſich mit dem Grundſatz der vollen 
eigenen Entfaltung verträgt; eine Gefühlsweiſe, bei welcher die Sinnlichkeit deshalb 
zurücktreten muß, weil den Mächten des Gemüts die erſte Stelle gehören ſoll. Jene 
Lehre der freien individuellen Entfaltung ſetzt notwendigerweiſe neben die Forderung 
der ungebrochenen leidenſchaftlichen Neigung als Grundbedingung einer wahrhaft ſittlichen 
Ehe — die andere Forderung, daß eine Ehe nicht länger aufrecht erhalten werden 
dürfe, als dieſe Neigung dauere. Jeder Zwang in der Liebe ſei im tiefſten Grunde 
unſittlich. 

Den ſtärkſten Ausdruck fiir dieſe Auffaſſung finden wir in der modernen Kunſt; 
Sicglinde in Richard Wagners Walfiire will vor Scham vergeben — nicht weil fie 
die Che gebroden hat, fondern weil ibr jest, nachdent fie Die wabre Liebe Fennen 
qelernt hat, die Che mit dem ungeliebten Mame als bitterite Schmach erſcheint. Im 
ſchroffen Gegenſatz hierzu bat cin befannter Philoſoph der Neuseit gegen die Craltation 
proteftiert, deren fics diejenigqen febuldig madsen, die die ungebinderte Freibeit der 
Leidenfdraft — dieſes vergänglichſten aller Gefiihle — zum leitenden Geſetz des menſch— 
lichen Ehelebens machen möchten. Wirkliche, große Leidenſchaft ſei vor allen Dingen 
nur wenigen gegeben, und mit jenen extremen Forderungen, mit jenem Brandmarken der 
Pflichtehe als einer Unſittlichkeit maße ſich ein leichtfertiger Radikalismus ein durchaus 


76 Moderne Sittlicdfeitsprobleme. 


ungeredtes Urteil an ither Taufende von Männern und Frauen, denen Fein leidenſchaft— 
licheS Glück befebieden war, dic cinen Lebensbund aus rubiger Erwägung gefdloffen, 
auf Achtung und Vertrauen geqriindet, und ebrlic und redlich gebalten haben. Und 
die Vertreter diefes Opportunismus können fich mit Fug und Recht darauf berufen, 
dah der größte Deutſche, Gvethe, einer Che entſproſſen ijt, die viel mehr den Typus 
einer Vernunftehe als eines leidenſchaftlichen Liebesbundes trigt. 


* * 
* 


Zu denjenigen Sittlichkeitsprogrammen, die zur Erlöſung aus der quälenden 
Spannung der ſozialen Verhältniſſe das natürliche Gefühl anrufen, und die der Uber— 
zeugung ſind, die Menſchheit brauche nur den Panzer von Engherzigkeit und Vor— 
urteilen abzulegen, in den ſie ſich eingeſchnürt hat, um ſofort freier und leichter zu 
atmen, zu dieſen Programmen gehört endlich auch eine Forderung, die in Frauenkreiſen 
laut und ſtark geworden iſt, und die das Recht der Mutterſchaft für jede Frau in 
Anſpruch nimmt. Ausgehend von den unverſchuldeten Leiden derer, fiir die es keine 
Ehe gibt, denen ein grauſames Schickſal das höchſte Frauenglück verweigert hat, eigne 
Kinder zu beſitzen, unter Berufung ferner darauf, daß man mit allen Mitteln der 
Erziehung alle anderen Intereſſen aus dem Gefühlsleben der Frau fern gehalten hat, 
fo dak ſich ihre Entbehrung nun ins Tragiſche ſteigern muß — fo rufen die An— 
hängerinnen dieſer Forderung der Geſamtheit der verheirateten Frauen zu: mit welchem 
Rechte verweigert ihr, die ihr ohne ener Verdienſt glücklich ſeid, uns, den Über— 
gangenen, Vergeſſenen, die Hand nach dem Rechte auszuſtrecken, das mit uns, wie mit 
end, geboren ward? Wir verlangen ja nicht Wohlſtand und Fürſorge, wir wollen 
felbjt fiir unfer Rind arbeiten, mit taujend Freuden ein Leben bindurdh; mur nicht 
allein fein müſſen, nur nicht diefe grauenbafte Leere des Herzens, diefe ode Swed: 
Lojiqfeit des Dafeins. Sie weiſen darauf bin, wie im grellſten Gegenfag yu ibrer 
Mot, gleichfam ihnen zum Hohn, und unter den Augen der Gefellfcbaft die wabre 
Unſittlichkeit ihr Wefen in der Welt treibt und treiben darf, und auch fie ſtellen den 
Yeitfag auf: man gebe der echten Liebe Freiheit, und fie wird ihr gemeines WAbbild 
verſcheuchen — die freie Frau und Mutter wird die Dirne verdrangen. 

Vor Jahren wobnte cinmal cine beriilinte Sebrijtitellerin, die aud in cinem 
herrlichen Buche fiir das „Recht der Mutter” eingetreten it, einem Frauentage bei 
und nabm an einer Verjammlung teil, die dev Cittlichfeitsjrage qewidmet war. Weder 
ihr künſtleriſches, noch iby menſchliches Gefühl fand ſich jedoch befriedigt von dem, 
was fie da hörte, und fie febrieh bald danach, es fei zwar erfreulics, daß es ſich 
endlich unter den Frauen yu regen beginne — aber was cin Sturm fein folle, daa fei 
vorerjt dod) nocd cin armſeliger dünner Luftyug, obne rechte Kraft, ohne den grofen 
weltiiberwindenden Willen. „Gebt der Frau Arbeit, bet der iby die Seele weit wird, 
und ein Rind, das ibr das Hers froh macht. Schützt fie — und fie ijt geſchützt, 
ſagt, fie ijt ebrbar, und fie ijt ehrbar. Breitet cure Flügel aus,” ruft fie Den in der 
Bewegung arbeitenden Frauen zu, ,,bereitet Dem jungen, jtarfen Weibe cin Neſt — 
und aus dieſem kleinen Neſte wird cine neue ftarfe Menfebheit fommen.”“ — Cie, die 
wie feine andere das Hohelied der Mutterliche gefungen bat, darf jo ſprechen, denn 
aus iby ſpricht die Künſtlerin, die alles Menſchliche verſteht, und fpricht mebr nod 
das tief fühlende Weib, in dem fich der Geift feines ganzen Geſchlechtes dariiber 
empört, daß wir mit den Schlägen, die Der UnfittlichFeit qelten, auc) fo oft die echte 


Moderne Sitttichfeitsprobleme. 77 


Miitterlichfeit treffen, die fich in Liebe aufopfert; dah wir fo oft im ftande find, der 
notoriſchen Leichtfertigkeit und ſittlichen Sfrupellofigfeit unfer Haus yu öffnen und die 
Mot wirflicher Liebe mit barten Worten von unferer Schwelle zu tweifen. 

Aber unjerer Bewegung bat fie dennoch Unrecht getan, und gar aus diefer 
Forderung: cin Kind und Arbeit fiir die Fran allein — ein foyziales Programm 
machen woller, wie man’s getan Kat, das beift dod wobl, die Kunſt mif- 
veriteben; Die Frauenbewegung wenightens müßte diefes Programm aufs entſchiedenſte 
ablebnen, wenn fie ihren boben Zielen treu bleiben will, Die Frauenbewegung bat 
ein Ideal fiir Taufende, cin Menſchheitsideal aufzuſtellen, und dies Fann fein 
anderes alS Die Che fein, die volle Lebensqemeinfcaft zwiſchen Mann 
und Frau, zwiſchen Vater und Mutter, Nicht nur das leiblicie, auc) dad geiſtige 
Yeben muß das Kind von beiden Eltern empfangen, wenn es ein ganzer voller Menſch 
werden ſoll. 

Die Franenbewequng fann ſchon deshalb nicht daran denfen, die Sorge fiir die 
Rinder der Frau allein aufyubiivden, weil damit ja die Mutterliebe gezwungen wiirde, 
ſich in wirtfcbaftlicher Fronarbeit aufyureiben und in Wabrbeit auf alle höheren 
Veijtungen ju verzichten, Wir wollen ja gerade dazu helfen, daß in den armeren 
Rlajjen, die über feine häuslichen Hilfstrafte verfiigen, die Mutter von der Erwerbs— 
arbeit entlaftet werde, die fie Dem Hauſe und dem Ihrigen allzu febr fern Halt, damit 
fie wieder mebr in dic Lage kommt, ibre Kinder yu gefunden und tüchtigen Menſchen 
zu erziehen! Wir find der Anſicht, daß keine Staatsfürſorge jemals der Menſchheit 
die häusliche erſetzen wird, auch im idealſten Zukunftsſtaate nicht, und daß gerade das 
Familienleben und die Familienerziehung der unentbehrliche Faktor ſind, um das Maß 
von Individualismus, von perſönlicher Eigenart in die Welt zu bringen, deſſen wir 
als Gegenkraft gegen die uniformierende, gleichmachende Tendenz des Maſſenweſens be— 
dürfen. Gerade weil die Frauenbewegung die Frauen zur Mitarbeit an den all— 
gemeinen Kulturaufgaben heranziehen will, gerade weil ſie neues aufbauen, höher 
emporkommen möchte, darum muß ſie ſorgfältig darauf bedacht ſein, daß kein Stein 
verloren gehe von dem, was bisher an echter ſozialer Geſittung erreicht worden iſt. 
Jedes Rütteln an dem Grundſatze aber, daß Mann und Frau fürs Leben zuſammen— 
gehören und daß die Sorge für die Kinder ihre gemeinſame Pflicht iſt, würde eine 
ſolche Gefährdung tiefſter und wertvollſter Menſchheitskultur bedeuten. — Die Frauen— 
bewegung bat die Abſicht, yu ſozialiſieren, nicht yu atomiſieren. 

Ein anderes gutes Frauenbuch aus amerikaniſcher Feder, „Mann und Frau“, 
hat ja aus der Kulturgeſchichte den Nachweis geführt, daß die Hingebung und Unter— 
ordnung, zu der der Mann die Frau urſprünglich und in Urzeiten auf roheſte Weiſe 
gezwungen hat, unverſehens das Mittel geworden iſt, ihn ſelbſt ans Haus zu feſſeln, 
ibn dahin zu bringen, daß er ſich mit ber Sorge fiir dieſe unſelbſtändige Frau und 
ihre Kinder belud und auch ſeine Freiheit der Familie zum Opfer brachte. So iſt in 
Jahrtauſenden zunehmender Kultur die Einehe erwachſen, und wenn wir heute daran 
gehen, jenen Typus aus der Urzeit, der durch die Verfeinerung der Sitten längſt 
überholt ijt, endgiltig zu erſeßen durch den Typus der Che, die zugleich die rechte 
Freundſchaft der Gatten in ſich ſchließt, in der alſo Mann und Frau als gleiche, 
einander ebenbürtige Weggenoſſen durchs Leben wandern und in welcher die Autorität 
der Mutter von den Kindern, auch von den Söhnen, der des Vaters völlig gleich 
geachtet wird — wenn wir dieſen Typus heute als den normalen anerkannt ſehen 


78 Moderne Sittlihlertsprobleme. 


möchten, fo foll damit von der gewonnenen und der Menſchheit in Fleiſch und Blut 
iibergegangenen Innigkeit und Feſtigkeit be Bundes nicht das Geringſte preisqeqeben 
werden, 

Auch die Forderung, die die Frauenbeivegung an die Gefebgebung rictet, dap 
die illegitimen Kinder aus ihrer Rechtlofigfeit erhoben und daß es den Vätern diefer 
armen Fleinen Wildlinge dev Gefellfdbaft immer mehr erſchwert werden mige, fic ihrer 
Fiirjorgepflicht gu entziehen — auch diefe Forderung entfpricdt ja jenem CStreben, 
dem ehelichen Bunde Dauer und Würde zu fichern und dem leichtiinnigen Cingeben 
ſolcher loſen, von vornherein nicht ernſtgemeinten Beziehungen zu ſteuern. 

Die Frauenbewegung iſt ſich ferner bewußt, einen in hohem Grade verſittlichenden 
Einfluß auf das Liebesleben der Menſchheit dadurch auszuüben, daß ſie der Frau 
cine größere Freiheit der Wahl qu ermöglichen ſucht. Indem fie das weibliche 
Geſchlecht zu beruflicher Tätigkeit erzieht, unterſtützt ſie einerſeits die Eheſchließung, 
denn die arbeitende und erwerbende Frau kann zum Haushalt beitragen, andererſeits 
verſchärft und verfeinert ſie den perſönlichen Anſpruch; das junge Mädchen, welches 
fühlt, daß es ſich zur Not auch allein durchs Leben ſchlagen könnte, wird vielleicht 
nicht ſo ſehr geneigt ſein, den Erſten als den Beſten zu ſuchen, und daß ſolche Ehen 
von vornherein auf einen höheren und edleren Ton geſtimmt ſind, bedarf keiner 
Verſicherung. 

Ja, wir ſind des frohen Glaubens, daß der ganze Verkehr der Geſchlechter 
überhaupt ſich unwillkürlich auf einen ſolchen reineren Ton ſtimmen wird, je mehr ſich 
auch eine Gemeinſamkeit geiſtiger Intereſſen, eine Gemeinſamkeit des Strebens und 
Arbeitens zwiſchen ihnen entwickelt. Die hübſchen kameradſchaftlichen Beziebungen, 
welche ſich heute ſchon an manchen Univerſitäten zwiſchen Studenten und Studentinnen 
herausgebildet haben und welche von allen Beteiligten gerühmt werden als eine ihnen 
unvergeßliche Zeit harmlos-herzlichen Behagens und gewinnbringender Anregung — 
ſie könnten uns zum Beweiſe dienen, daß eine ſolche geiſtige Gemeinſchaft zwiſchen 
Mann und Frau möglich und für beide Teile von Nutzen iſt. Wir wiſſen es alle 
recht gut, daß das Niveau unſerer Geſelligkeit deshalb vielfach niedriger iſt, als es 
nach unſerem ganzen Bildungsſtande ſein müßte, weil der geiſtige Anteil, den die 
Frauen herzubringen, eher eine Subtraktion als eine Addition bedeutet — es iſt bitter, 
uns das eingeſtehen zu müſſen. Es hat ſeinen guten Grund, daß bedeutende und 
anſpruchsvolle Geiſter ſo leicht dahinkommen, die Geſellſchaft zu meiden. Und unſere 
jungen Männer ſagen's uns ja auch mit aller nur wünſchenswerten Offenheit, daß ſie 
oft nur deshalb die ſchlechte Geſellſchaft aufſuchen, weil ſie ſich in der guten langweilen 
— und daß hier ein Berfehlen von ſeiten der Frauen vorliegt, darüber iſt wohl kein 
Zweifel; ein Verfehlen freilich, an dem ſie nur zur kleineren Hälfte Schuld ſind. Die 
größere Hälfte der Schuld trägt unſere unſelige Erziehungsweiſe, die die Geſchlechter ſo 
vollſtändig trennt, daß ſie einander fremd werden müſſen, daß jedes ſeine Wege geht 
und auch in allen gemeinſamen großen Menſchheitsfragen die rechte Fühlung für das 
andere verloren bat. Alles was wir tun, um dieſe Kluft zwiſchen den Geſchlechtern 
zu tiberbriiden, dadurch, daß wir die Frau aus der ibr aujgeswungenen geiſtigen 
Einſchränkung erlöſen, dadurch, daß eS ihr gelingt, den Mann davon ju überzeugen 
— nicht nur, daß der geiſtige Verkehr mit iby Freude fiir ibn bedentet, fondern daß 
er es iby ſchuldig ijt, fie auch an feinem intelleftuellen Yeben teilnebmen zu laſſen 
— alles was in dieſem Sinne geſchieht, bedeutet fiir Liebe und Ehe neue Schönheit 


— 


Streifzüge durch die dramatiſche Saifontiteratur. 79 


und eine Fülle neuer Glücksmöglichkeiten. Und darum glaubt die Frauenbewegung 
mit der durchgängigen Hebung, mit der geiſtigen und moraliſchen Kräftigung des weiblichen 
Geſchlechts das beſte zu tun, was von ihr zur Löſung der Sittlichkeitsfrage getan 
werden kann. 

Wie dieſe Frage der perſönlichen Sittlichkeit von ſeiten des Mannes zu löſen 
iſt, das muß ſie natürlich in der Hauptſache ihm überlaſſen. Aber eine Macht iſt der 
Frau gegeben, die bei rechtem Gebrauche von beſtimmendem Einfluß auch für ſein Denken 
und Fühlen werden könnte — die Macht der Mutter über ihren Sohn. Sie hat ſeine 
Seele in der Hand gerade dann, wenn ſie weich und eindrucksfähig iſt — möge ſie 
dieſe koſtbare Zeit zu nützen wiſſen; vielleicht entziffert Mutterliebe und Mutterwitz 
noch am meiſten von jenem Sphinxrätſel, an dem ſchon ſo viel Weisheit zu ſchanden 
geworden iſt. — 


“GE 


Streifziige Surch die Spamatische Saisonliferatur. 


Bon 
Elfe Halle. 
Nachdrud verboten. nen 


&: gibt feinen anderen Reichtum als Leben.” Dieje Erfenntnis prangte von 
— Alters her in Goldſchrift über den Eingangstoren zum Pantheon der dramatiſchen 
Literatur, und in den verſchiedenen Epochen ſchwankten nur die Meinungen darüber, 
wohin das Leben führt, was es lehrt und welches ſein Sinn und höchſter Inhalt fei. 

Im Gegenſatz zur Vergangenheit, wo jeweils dieſe oder jene Anſicht vom Leben 
die herrſchende war, iſt in unſerer Zeit aus dem Kampfe der Lebensauffaſſungen noch 
keine recht als Sieger hervorgegangen. Die intellektuelle Nervoſität, das ſpezifiſche 
Kennzeichen modernen Geiſteslebens, läßt den Menſchen ſelten zu glaubensſtarker Ent— 
ſcheidung in Sachen der Lebensanſchauung kommen. Das Leben iſt jo bunt, jeder 
Tag zeigt uns eine andere Seite desfelben und verindert unſeren Standpunft. UÜber— 
dies bat der reiche Zufluß an Ideen cin Bedürfnis nach febnellem geijtigen Stoffwechſel 
zur Folge, und die fleberhaft raſche Verarbeitung, der kurze Verbrennungsprozeß nimmt 
den eins und ausgebenden Gedanfen und Anſchauungen viel von ibrer nabrenden Kraft. 
Die Geijter bleiben ewig hungrig, lechzen unaufhörlich nach Abwechſelung und qoutieren 
ſchließlich alles. Bor den bunten Wandelbildern de3 Lebens verjtummt die ſonſt fo 
vorlaute Stimme der Kritif; man findet jeden ,coin de la nature‘, jeden Yebens- 
ausſchnitt intereffant, fichtet und wertet nicht mebr und verlernt es zuletzt, den Edelſtein 
vom Glasfderben zu unterſcheiden. 

Solche Kritiflofigheit geqeniiber den Lebenserſcheinungen Fonnte auf die Dramatif 
nicht obne Einwirkung bleiben. Borurteile (als welche auch die Werturteile angejeben 
wurden!) gegeniiber Ddiefer oder jener Lebenstatſache wurden als unkünſtleriſch verworfen; 
nad Solas Vorgang follte die Vorausfegungslofigfeit des Forſchers auc auf die leben— 
ſchildernde dramatiſche Dichttunjt angewendet werden; neben dem ,roman expérimentel* 
entitanden die erperimentellen Dramen — Bilderbiicher der Wiſſenſchaft! Balzacs 
Kunſtgeſetz: die Ablöſung der Welt vom Menfeben und Flauberts Berdift: daß weder 
des Dichters Naturell noch irgend eine Auffajfungsvoreingenommenbeit fich zwiſchen ibn 
und die Dinge jtellen diirfe, madten fo lange Schule, bis die künſtleriſche Wirfung des 
Dramas derart verfladt und das Stoffgebict fo ſtark trivialijiert wurde, daß man 


80 Streifyiige durch die dramatiſche Saifonfiteratur. 


fich in anderen Sphären nach documents humains“ und tranches de vie‘ umzu— 
feben begann. Nietzſches Sturmwort: „Wirf den Helden in deiner Seele micht weg! 
Halte heilig deine höchſten — und Roſtands ſchalkhafte Mahnung: 


Car n’avoir pas dime — 
C'est horriblement eunuyeux!* 


waren nur Ausdrucsformen fiir den Umſchwung der Stimnning: aus dem Naturalismus 
und Verismus jtrebte man hinauf yur Neuromantik wd yum Symbolismus. Die 
ganze Technik des dramatiſchen Aufbaues wurde nun verdndert, durchgeiſtigt, wenn auch 
immerhin fompliziert und die Frage: was ift dramatiſch, was tragiſch? trat in cin 
neues Stadium. Tberall werden eS nun verinnerlichte dramatiſche Faktoren, dic 
Handlung bewirfen; verfeinerte Gewiſſensbedenken und Zartgefiiblstonflifte find an der 
Tagesordnung, wie eben nur cin Geſchlecht mit fenfitiven Merven fie ausbilden fonnte; 
man wendet Den ,,doppelten Dialog” an, wobei durdy alltdgliche Worte gebeime Zwie— 
gefprace der Gedanfen und Empfindungen hindurchklingen müſſen und gewöhnt fich 
wieder an das Doppeltieben: binter begrenzten äußeren Formen foll die Unendlichkeit 
ihres inneren Gebalts, inter der Alltagsbegebenheit das Seelenfebidjal, binter dem 
bewußten Gebabren ſollen tiefinnerite unbewupte Fabigfeiten, höhere Grundfrifte, 
vorabnende Inſtinkte und dad leiſe Leben gebeimnisvoller Crinnerungen aufgezeigt 
werden. 

Das Stoffgebiet diefer Dramengattung umfaßt Museinanderfepungen zwiſchen 
Seal und Wirflidfeit, Ich und Welt, Individuum und Geſellſchaft, Sitte und 
Sittlichfeit, Wijjen und Glauben, Kunſt und Leben; eS wird gebandelt vom Walten 
duntler Gefühle, von der Sehnſucht nach ciner innigeren Seelengemeinſchaft von Mann 
und Weih und von den Menſchenrechten der Frau. Der echte Sumbolijt führt uns 
jreilid) meijt binein in Regionen, wo das reale Leben fich verflüchtigt, alle fefte Formen 
perdiimmern, wo der Wille erliſcht und ein blumenhaftes Getriebeniverden, cin nacht— 
wandleriſches Dabingleiten an ſeine Stelle tritt, wobei denn alle Kraft und dramatiſche 
Aktivität verloren gebt. 

Maturalismus und Symbolismus ftellen in ibrer heutigen ertremen Form zwei 
nicht weiter verfolqbare Nichtungen dar — auf der cinen Seite der Zynismus eines 
Strindberg, auf der anderen das vijiondre Träumen cines M zwiſchen denen 
cine ganze Heerſchar von Vermittlern fich tummelt. 

Es ift interefjant, an einzelnen typiſchen Dramen und dramatiſchen Fiquren der 
letzten Theaterfaifon fidy das Hine und Herwogen der — man darf bald nicht mebr 
ſagen „Richtungen“ — jondern Yebensauffaffungen gegenftindlich yu machen. Die 
Reit der „Ismen“ dürfte fiir die Bühne facht woriibergeben; denn der wabre Ernſt 
des Lebens iſt von der Stätte am wenigſten lange zu verbannen, wo das Leben in 
ein Spiel aufgelöſt werden ſoll. 

Unter den lebenden Autoren iſt freilich Björnſon ſo ziemlich der einzige, der, 
obſchon Tendenzdichter, an allen Richtungen vorbei ſich eigene Wege ſucht und zu den 
wenigen gehört, die dem Theater ernſte Bildungsaufgaben zumuten, die es aus einer 
Stätte ſeichter Unterhaltungen und verlogener Lebensdarſtellung, aug einem Sport: 
plag, wo eit flaches Machwerk das andere yu Tode best, zurückreſormieren möchten ju 
einem Tempel de Lebens, an deſſen Pforte die künſtleriſche Gewiſſenhaftigkeit 
Wache halt. 

Nach dem großen Erfolg von Aber unſere Kraft“ gab man in der letzten 
Saiſon u. a. Laboremus“ * » Kaul & Lange und Tora Parsberg”’, „Auf Stor- 
hove“, idealiſtiſch gehaltene D Dramen, die die Frage des ſeeliſchen Kraftaustauſches der 
Geſchlechter und einige Formen der Selbjthebauptung des Weibes bebandeln, wobei 
freilich das Pathologijde leicht geftreift wird. Nicht in Ibſenſcher Wrt, denn bei 
Björnſon find die Schilderungen des Morſchen und Perverfen erträglicher durch den 
edeln Sorn, der — manchmal unkünſtleriſch — binter den mit fibler Sachlichkeit 
bingeworfenen Erijtenzidilderungen bervorbricbt. 





Streifzüge durch die dramatiſche Saifontiteratur. 81 


Björnſon zeigt, auf welcher Schwelle dem modernen Menjchen feine Gefpeniter 
begeqnen müſſen: „Ich glaube, daß dads Glitd viele Schwächen großzieht. Und die 
werden dann febuld an unferem Unglück.“ Beweisobjeft ijt ihm die veriveidlichte, 
verwöhnte, arbeitslofe Frau —- Maria in „Auf Storbove’, die Vorläuferin der 
Yudia in „Laboremus“, Angebsriqe der Kaſte der Zerſtörer, hyſteriſche, reizbare 
Menſchen, die wie übelgeartete Kinder und Betrunkene, Neidiſche und Aberluſtige ihre 
Freude am Vernichten haben, weil ſie nichts ſchaffen mögen, und deren ſenſations— 
hungrige Nerven wollüſtig erzittern, wenn ſie ſich ſagen können: „Es war ſo ſpannend.“ 
Keine Ahnung von jener geiſtigen Welt, deren edelſte Kraft in der Sittlichkeit ſich 
auslebt; wenn ſie die Mittel ſchlau erfundet haben, womit fie anderen ſchaden uͤnd 
ihren damoniſchen Egoismus befriedigen können, ſäen ſie Zwietracht, zerſtören ſie 
wertvolle Dokumente, legen ſie Feuer an wie Maria oder richten, wie Lodia, die 
dämoniſche Seite ihrer Kunſt auf ein wehrloſes Leben. Das alles nur aus Sport, 
zum Zeitvertreib, aus Herrſchſucht. Sie bleiben immer unfruchtbar, und der alte 
Wisby, deſſen Willen die treuloſe Lydia feſſelte, ſpricht es aus: „Wir ernten fo, weil 
wir nicht geſäet haben. Wir ernten Unkraut. Ich habe in meinem Leben nicht 
qearbeitet. Das gibt ungejunde Inſtinkte.“ Der gefunde Menſch eben „wählt 
Arbeit und Frau aus demfelben Juſtinkte berans.” 

Der Mann tragt Schuld an ſolchen Frauen aber auch dort, wo er muir fitt 
ſich cin MArbeitsleben wollte, „ein Arbeitsleben mit einem Maͤrchen darin“. Das 
Märchen narrt ibn. Cr will „die große Naturſehnſucht, die im Märchen lebt, erlöſen“, 
aber er reißt nur die Damme der Leidenſchaft ein. In „Laboremus“ ijt es Lydia: 
Undine, die „die Hande zum Himmel redt nach mehr”, und weil fie den Himmel 
nicht erreicht, wieder binabtaucht, umſchlingend und fliebend, begehrend und weichend, 
eine blinde, ſeelenlöoſe Naturfraft, beqabt mit dem Recht des Naubtieres, menſchliche 
Schranken nicht anerfermend und obne Verſtändnis dafiir, daß der Menſch nach höheren 
Geſetzen lebt. Lydia gewinnt erft Wishvs und dann Langfreds Seele, um durch beide 
Anteil an höheren Lebensformen yu erlangen, aber fie macht Den Männern das Her; 
falt, fie bat die Wärme nicht, die nad und nad in das Leben der Menſchen binein: 
gekommen ijt; Jahrtauſende der Entwidlung liegen zwiſchen ihr und jenen. Abr 
genußfrohes, herriſches Yebensevangelium mug ohne Echo verflingen vor dem alt: 
ehrwürdigen Liebesgeſetz in unſerem Gemiit: dent das Leber, mag es nod fo 
ſieghaft loden und triumphieren, bebalt nicht recht, wenn es bas Feinſte, Heiligſte 
verletzt — die Treue, die Barmherzigkeit, die Ekbtfurcht. Sein begehrlich wildes 
Anſtürmen muß wie die Welle zu Schaum zerſchellen am Demantfelſen unſerer ſitt— 
lichen Gefühle. 

Moderne Dichter behandeln mit Vorliebe die Rechte der elementaren Natur. 
Aber wenige erkennen ſo ſcharfblickend wie Björnſon ihre Rechtsgrenzen, jenſeits deren 
Kultur und Leben rettungsloſem Untergange verfallen ſind. 

Superlative der Lydia und Maria finden ſich in der „Salome“ Oskar 
Wildes, des unglücklichen und exzentriſchen engliſchen Dichters, in Strindbergs 
„Fräulein Julhie“ (womit im Hamburger Theater ein Verſuch gemacht wurde) 
und „Rauſch“ (Berliner Kleines Theater), vor allem in Frank WedekFinds 
„Erdgeiſt“, der dasielbe artiſtiſche Grundgeprige trigt wie Wildes Dichtung: 
parador, wild, qraujam, finnlich. Das find Herxentänze eines diaboliſchen Zunismus, 
wo alle Leidenſchaften verwegen durcheinanderquirlen. Die dichteriſchen Gejtalten 
ſtehen außerhalb der Geſellſchaft, der Tradition, des Geſetzes; es ſind Abnormitäten, 
deren Weſen und Schickſal jenſeits der Menſchlichkeit —* und die darum unfähig 
ſind, menſchlich zu ergreifen. Es ſpielen ſich da Lebensgeſchichten von männer— 
mordenden Meſſalinen ab, die ſinnlos und gefühllos alles hinopfern, was ihnen in 
den Weg läuft, und deren ganzes Tun ein Hohn auf die erbärmliche Schwäche ihrer 
Opfer iſt. Immerhin iſt der Wedekindſche Peſſimismus der Ausfluß einer einheitlichen, 
wenngleich pechſchwarzen Weltanſchauung, und ſeine wüſten Fratzen haben Stil, obwohl 
jie in ein pathologiſches Muſeum gehören. Dagegen tragen Strindbergs Geſtalten 
noch Menſchenantlitz. Die Henriette in „Rauſch“ hat wenigſtens den Ehrgeiz, ihre 

6 


82 Streifzüge durch die dramatiſche Saifonliteratur. 


Kleinheit an Männergröße wachſen zu laſſen, und die Szenen, wo die Liebe der beiden 
Schuldiggewordenen in Haß umſchlägt, weil das Mißtrauen wie eine giftige Saat 
zwiſchen ihnen emporwuchert, erhalten einen großen Zug durch die Erkenntnis, daß 
die Schuld, mag ſie äußerlich ſtraflos bleiben, ſich im Innern rächt durch Lebens— 
entziehung — Liebe, Ruhe, Freiheit welken dahin. „Soviel Bosheit und Lüge er 
in ſich trägt, ſoviel ſtirbt auch in ihm ab,“ ſagt Emerſon vom Miſſetäter. Strindbergs 
„Fräulein Julie“, mit pſychologiſchem Raffinement angeſchaut und dialogiſiert, 
bleibt dennoch unverdaulich: die verwahrloſte Seele, in Moderluft aufgewachſen, die 
fofett und feige das Niedrige will und auc nicht will und nach begehrlich geſuchtem 
Und widerwilliq erduldetem Fall ſich bange aus dem Leben febleicht, (aft uns in 
einen Fatalismus hineinſchauen, dem die Adee der fittlichen Freibeit nod nicht von 
ferne dämmerte. 

Dieje noch in den SOer Jahren herrſchenden Anſchauungen muften jene Kunit- 
form zeitigen, Deren Swed es febien, jaubere pſychologiſche Praparate zu liefern, durch 
genaue Analyſen die Kenntnis pſychophyſiſcher Zuſammenhänge zu erweitern, yu jedem 
Willensmotiv den zugehörigen phyſiſchen Anſtoß aufzufinden und überhaupt das 
Bedingtwerden des Menſchen von außen und innen feſtzuſtellen, um die angeblich 
metaphyſiſche Natur des Schickſals in Kauſalbeziehungen aufzulöſen. Dieſer einſeitige 
und radikale Determinismus, der in jo ſcharfem Gegenſatz ſteht yu Hamlets edler 
Freiheitslehre: — 

„Die Abung kann 
Faſt das Gepräge der Natur verändern, 
Sie zähmt den Teufel oder ſtößt ihn aus 
Mit wunderbarer Macht —“ 


dieſes Sichohnmächtigfühlen gegenüber den Leidenſchaften, dem Unglück, dem Laſter 
hinterließ dem Menſchen freilich nichts als Ironie, Bitterkeit, Stumpfheit — entweder 
er rettet ſich hinein in eine tiefe Nirwanaſehnſucht, oder er geht im Taumel des 
Genuſſes unter. 

Um die determinierenden Mächte weniger brutal und materiell erſcheinen zu 
laſſen, nahmen einige jum Überſinnlichen ihre Zuflucht; fo Schnitzler, der Renner 
des modernen savoir vivre, in ſeinem wirkungsvollen Einakter: Die Frau mit 
dem Dolce”), wo cine Dame, fewanfend ob fie den Ehebruch begeben foll, 
vor Dem Renaiſſanceporträt der „Frau mit Dem Dolche“, Das ihr in jedem 
Suge gleicht, in hypnotiſchen Schlaf verfinft: durch ihre Seele sieht das 
Schickſal jener, im deren Leib einſt ihre Seele wohnte und was fie in ihrer 
Präexiſtenz ſann und tat, das muß fie mun wieder tun: fie erwacht und willigt in 
den Ehebruch. 

Maeterlinck arbeitet aud mit myſtiſchen Mächten, obne freilich Anleiben beim 
Spiritismus zu machen zu dem Zwecke, den Libertinismus zu befchinigen; er verliert 
ſich Flopfenden Herzens in die Tiefen der Seele, um zu erforſchen, mit welcherlei 
Banden „das Leben an feinem Urgrunde und an feinen Myſterien hängt“ und „auf 
welchen ſtummen tiefen Gewäſſern Die dünne Rinde des tiglichen Lebens rubt’;?) das 
innere Königreich ijt feine Welt, deren Schönheitswunder, deren unſichtbare Giite und 
geheimes Wijfen, deren unmeßbare Tiefen er mit überfeinen Sinnen ertaſten möchte. 
Cr erſehnt fiir Den Menſchen den „Inſtinkt der übermenſchlichen Wahrheiten“ und ſteht 
als Grenzwärter an jener Stelle, wo unſer dämmerndes Wiſſen und Empfinden in die 
purpurne Finſternis der Ahnungen übergeht; er findet, daß wir das ſchmerzlich geſuchte 
Jenſeits in uns ſelber tragen und fühlt ſich als Entdecker der vierten Dimenſion 
innerhalb der Menſchenſeele, als Dichter des ſechſten Sinnes. Traumwandelnd gehen 
ſeine Geſtalten durchs Leben, ihr Daſein verläuft lautlos, con sordini, von Schauern 
des Wunderbaren umſchwebt; es find präraphaelitiſche Typen, die nicht lächeln können; 
ihre Gefühle ſind wie Nebelrauch von der Asphodeloswieſe, wo die Schatten wandeln. 


— 


a 


\" 





) Mus dem Soklus „Lebendige Stunden”. 
2) Ugl den Eſſay „Zur Tragif des Alltags“. („Schatz der Armen.) 


Streifzüge durch die dramatiſche Saiſonliteratur. 83 


Fernliegende Analogien werden dazu gebraucht, Stimmumg zu erzeugen, und die Hand- 
lungen fpinnen ſich bin wie narfotijierende Muſik: träumeriſch, einförmig, das Gemüt 
in qualvolle Spannung verſetzend, als ſollten wir ſchwere Laſten aus einem tiefen 
Rätſelgrund emporheben und reichten dod nicht hinab. 

Uberdunkle Myſtik bat manchmal das Ausſehen einer — Myſtifikation. Jedenfalls 
iſt dem Dichter ſein Programm- über den Kopf gewachſen: er kann ihm nicht folgen, 
und ſein Verſuch, das Spiel der Leidenſchaften aus dem Drama zu entfernen, iſt ihm 
nur etwa im „Eindringling“ oder den „Blinden“ (wenn auch nicht bühnengerecht) 
gelungen; ſeither iſt er in praxi mehr und mehr von ſich abgefallen. Man hat jüngſt 
wieder Verſuche mit „Peleas und Meliſande“ genmacht, einem durch und durch 
ſymboliſtiſchen Drama, das eine Perlenreihe poetiſcher Bilder aufweiſt, an deutſche 
Märchen (3. B. Rapunzel) anklingt und ſich ſehr feſt an eins der feinfühligſten Gedichte 
Goethes anlehnt: 

„Warum gabſt du uns die tiefen Blicke 
Unſre Zukunft ahnungsvoll zu ſchauen, 
Unfrer Liebe, unſerm Erdenglücke, 
Wabnend ſelig, nimmer hinzutrau'n? 
Warum gabſt uns, Schickſal, die Gefühle, 
Uns einander in das Herz zu ſehn 

Und durch all die ſeltenen Gewühle 
Unſer wahr' Verhältnis auszuſpäh'n?“ ) 


Der Dichter erzählt zwar wieder eine Leidenſchaftsgeſchichte — die alte Geſchichte von 
zwei jungen Seelen, ihrer ſchuldvollen Liebe, der Qual des getäuſchten Gatten, dem 
Brudermord aus Eiferſucht; aber wie er die materielle Oberfläche von Leidenſchaft, 
Wut, Tränen, Tod von innen ftiigt und unter der heftigen Wellenbewegung menſchlichen 
Fühlens und Handelns ewige Tiefen abnen läßt, das kennzeichnet ibn als einen Neuerer. 
Der äußere und innere Dialog, dejfen funjtvolle Handhabung und Miſchung Maeterlinck 
an Ibſen bewundert, it bier mit faft raffinierter Geſchicklichkeit angewandt: die Yippen 
ſpielen mit gqleichgiltiqen Eleinen Worten, die Mugen bemerfen dies und das, was der 
Handling fernzuliegen febeint, und doch qewinnt alles Bedeutung fiir die entſcheidenden 
Ereigniſſe in den Tiefen der Seele. Maeterlincks verdienſtliches Strebven, fich „dem 
Mittelpuntt der Seele zu nabern,” fiibrte ihn zu einer tieferen Weibauffaſſung, und er 
scichnet vor allem Melijande als das Weib, dem ,feine Seele immer yur Hand iit,“ 
Das der Wabrbeit näherſteht als der Mann und deſſen Wurzeln viel unmittelbarer 
binuntertaucden in alles, was nie Grenzen batte. 

Tas Verwachfenfein von Inſtinktivität und Wille veranjebaulicht Moeterlind 
aud an Monna Vanna; aber auf diefer Geftalt bat mebr Sonne geleqen, und im 
geſunden Licht potenzierten fic ibre Bewußtſeins- und Willensfrajte, ſodaß Banas 
perjonticbe Rechts- und Pflichtgefühle ſich jedem Drud und Stoß von Vorurteilen, 
Sittenzwang und brutaler Verkennung gewachſen zeigen. So wie Naturgejeve wirfen — 
geräuſchlos, affektfrei, ſelbſtverſtändlich — fo wirft ihr Gefiibl auf ihren Willen, 
und fle gehorcht mit ebenſo rubiger Energie dem Mitleid, das fie antreibt, ſich dem 
hungernden Bolfe zum Opfer zu bringen, als fie ſpäter das Verhängnis einer 
Lüge auf ſich nimmt, um den zu retten, Der ihr groper, freier, edler ſcheint als 
Die anderen. 

Ter erjte Entwurf ſchloß damit, dak Banna ver zweifelt über den Unglauben des 

Gatten an die bewabrte Reinheit ſich den Tod gibt. Das war cine Löſung, fo wie 
fie Hebbel in dem (jüngſt wieder aujgefiibrten) Drama „Goges und fein Ning” gibt. 
Auch bier bandelt es fic) um die Schambattiqkeit des Weibes. Nbodope, Dem auf— 
kläreriſchen Wahn ibres über feine Zeit binausbegebrenden atten cin Opfer, vernichtet 
ſich und den Vernichter ihrer heiligen Schamhaftigkeit. Oebbel, qetreu feiner Definition 
des Tragifcben als des ,durchaus Unauflösbaren,“ yeigt bier, wie die beiliqqebaltene 
Idee über Das Leben und über den „vorwitzigen Storer” ſiegt. Waeterlind, mebr 





) Brietweehjel mit Charlotte von Stein. 


84 Streifzüge durch dic dramatiſche Saifonliteratur. 


Individualiſt, erfegt in dem Augenblick, wo durch den Antagonismus der Naturen 
Vannas und Guidos die Idee der Wattentreue an Wert verliert, das alte Gebot durch 
einen perſönlichen Entſchluß feinesy Heldin, die der Natur mebr gehorchen muß als 
der Sitte. Der legte Aft endet mit der Erpofition zu einem zweiten Teil der Tragddie 
— denn der ,, Triumph des Lebens”, den WMaeterlind ſchildern wollte, Fann nicht voll: 
kommen fein, wenn er ſich auf eine Liige griindet. 


Cin vollentwideltes fittliches Kraftbewußtſein befigt Bjsrnfons Tora Parsberg. 
Ihre Würde gründet ſich auf Wahrhaftigkeit. An der großen Welt mit febenden Wugen 
aufgewachjen, bat fie ihre Erfabrungen in einem bewußten Geiſtesprozeß durchlaufen 
und führt iby Selbjtbeftimmungsrecht wie ein Szepter. Cie findet den Jugendgelicbten 
wieder und bietet ibm mit ſelbſtſicherer Grazie ibre Hand an; im Begriff, fic ihm yu ver- 
binden, wird er ihr durch niedere Antriquen geraubt: feiner boben Stellung verlujtig, 
unvermbgend, feine bisberige Politik yu verbeſſern und mit feinen Taten ibrem boben 
Geiſt genugzutun, aus Furcht, iby unebenbiirtig zu bleiben, nimmt er in feiner Selbyt- 
qual ſich das Leben. Und Tora, die Lebensfennerin, wußte doch, daß über Selbjtqual 
der Weg yur Gripe fiibrt: 


„Du weißt nidt, wovor ic Inie. Bor bem, was ſchwach in dir ift umd dich jest fo ungliidlid 
macht. Im innerften Innern ift das das Befte, was du haſt. Nur daß es die Geſellſchaft, in die es 
bineingeraten ijt, nicht mehr vertrigt. So empfindlich, fo feinfiihlig miiffen die fein, die entdeden 
tinnen, daß anbere leiden und daß Gefabr vorbanden ijt. So ängſtlich, fo ſchwach in fic) müſſen fie 
fein, die ſchwachen Gefäße werden auserwählt, nicht die eifernen Keſſel, um Heilmittel yu tragen. So 
wenig ſelbſtiſch ſchwer müſſen fie fein und da find fie oft ſchwach .. . . Cin Mann ift nicht der 
ſtärkſte, weil er fiegt. Die ſtärkſten find die, die im Biindnis mit der Qufunft find und in die Gewiffen 
faen .... Wir entfinnen uns deffen, wir Frauen, bier triffft du mit und gufammen. Richt mit 
denen von uns, die efjen, ſchlafen und aus ſich felber Ausftellungsgegenjtinde madden, fondern bie, in 
denen der Anftinft der Raſſe am ftarfiten ift. Die Sufunft barrt in ibrer Sehnſucht wie die 
Statue in Marmor. Bisher gumeift im Stillen und oft in Tranen. Zuweilen aber — zuweilen tritt 
cine Frau bervor aus der Reibe. Nimm mich mit, fagt fie, Deine Ideale find unfere ewigen 
Ideale! Wit dir für fie!” 


Für jede Periode, wo fich ſittengeſchichtliche Umwälzungen vollziehen, gilt das 
Wort: ,, Wenn über die Völker der eijerne Wagen der Gefchichte rollt und die feſten 
Burgen ftiirjen, dann bhoffen die gebeugten Wanner auf die Frauen.“') Moderne 
Dramatifer machen ſich yum Sprachrobr folcher Hoffnung. Weibliche Natürlichkeit foll 
uns emangipieren von Der boblen Form, weiblicher Individualismus foll dem Ge— 
feblechtaverbaltnis einen neuen fittlichen Inhalt ſchaffen, weibliche Lebensanſchauung 
joll gegen die riidfichtsloje ftarre Selbſtſucht zu Felde ziehen, und die Mutter Erden- 
Wärme der Frau foll die Verftandesfilte verdrängen. 

Cine Frau, die den beiligen Geijt Der Weiblichfeit ausgiefen möchte fiber die 
Welt, bat aud Wildenbrud in feinem „König Laurin” zeichnen wollen — 


peine Konigin! Bon der Natur 
Mepragt gum Geben und gum Uberſtrömen, 
Woran man köonigliche Menſchen kennt!“ 


und fähig zu beweiſen, daß „Seele mehr im Menſchen kann als Sinn“. Amalaſunta aber 
paktiert mit dem Ehrgeiz, und auf ihrem „großen Schickſalsgang“, als ſie dem Kaiſer 
Juſtinian die Hand zum Lebensbunde reichen will, zum Wohle der Völker, zertritt ſie 


die Liebe — und bereitet ſich ihren Fall hierdurch wie durch die Phantaſtik, mit 
welcher ſie Unmögliches zu verwirklichen trachtet und nächſte Aufgaben — Beſänftigung 
der Zwietracht, Belebung der Tatkraft ihrer Goten — überſieht. Es fehlt dem 


Drama nicht an heroiſchen und leidenſchaftlichen Geberden, wohl aber an den feineren 
pſychologiſchen Motivierungen. 

Verborgener fließen die Glutſtröme der Leidenſchaft im „Armen Heinrich” 
von Gerhart Hauptmann, aber ſie furchen auch tiefer. 


) Weinhold: „Geſchichte der Frauen tin Mittelalter“. 


Streifzüge durch die dramatiſche Saifonliteratur. 85 


„Narben find 
Koſtbarer als der Purpur. Ja, ich griff 
die Wahrheit tauſendſach, und was ich pacte 
ſchnitt Runen mir ins Fleiſch. Was unten gärt 
an Angſten, giftigen Krampfen, blutigem Schaum 
id) lenn's. — Ich ſah!! — Joh wälzte felber mich 
verzweifelt in ben Bulgen ber Berdammten 
bis bah die Liebe, die uns alle ſucht, 
mid fand.“ 


Der Grundgedanke lautet bier: wir fommen alle aus den Tiefer des Wahns, der 
Leidenſchaft, des Peſſimismus, wir find alle Rranfe, aber iver fic überwindet und, 
durch Liebe belehrt, die Selbſtſucht entſcheidend niederjwingt, defjen Krankheit ſchwindet. 
Dann fommt das Leben wohl einmal zu ihm wie ein Maientraum unter dem 
Hollerbuſch. 

Neudichtungen alter Stoffe werfen meiſt ein intereſſantes Schlaglicht auf den 
veränderten Zeitgeiſt. Das Epos Hartmanns ging ganz auf Verherrlichung der Opfer— 
treue, die dem Mittelalter als vornehmſte Tugend galt. Der moderne Dichter da— 
gegen achtet immer mehr auf das Leben als auf die Idee; er ſchildert das, was 
werden kann und muß, wenn dieſe und jene eigenartigen Naturen zuſammentreffen 
und ihren Willen, ihre Triebe yu einem Schickſal verflechten. Was ibn am tiefiten 
intereſſiert, ijt nicht die Loſung, ſondern die Entwicklung, und fo bolt er fidy aus 
Dem Bereich jeiner Menſchenkenntnis Perſonlichkeiten von ſo ſtarker Eigenfarbe, daß 
der Typus der alten Geſchichte durch ſie ein ganz neues, junges Gepräge erhält. Es 
wire darum unzeitgemäß, wollte man an Hauptmann tadeln, daß er aus des alten 
Hartinann ſchlichtem Mägdlein und Mitter einen durch alle Hollen de3 Zweifels und 
der Versweiflung Gejagten und ein Kind gemacht hat, das zugleich Weib und Heilige, 
von den Schauern nabender Jungfraulichfeit und dem Hieber religidfer Cfitaje auf die 
Hobe ihres Entſchluſſes geführt wird. 

Spezialartiſt im kecken Schnellmalen kleiner, raſcher, ſchickſalsvoller Entwicklungen 
aus dem Leben der „Freieſten“ und Strupellojen ijt Arthur Schnitzler, deſſen 
vielgefpielte, wienerifdy Lebendige Komödien der Moral oft lujtige kleine Fragen 
ſchneiden. Seine Landsmännin Marie Eugenie delle Grazie, mit dem gleichen 
Viibnentemperament begabt, die fic ebenfo ſcharfſichtig wie er in Einaktern über das 
Wiener Biirger- und Halbiveltsleben ausfprict, hat jedoch des Dafeins bittere. Hefe 
geſchmeckt und ijt durch ibr perſönliches Miterleben und ibre philojophifcde Nlarbeit 
immer auch auf den ethiſchen Kern ibrer Probleme aufmerkſam geworden. Sie weicht 
der Tragif nicht aus. 

Ihr Dramolett „Mutter“) ſchärft der modernen Geſellſchaft, die gegen den 
Opfergedanken revoltiert, wirfungsvoller als Hauptmann, der Nur-Poet, die Notwendigteit 
des Opfers ein. Dak eS obne Opfer fein Glück, feinen menfeblichen Zuſammenhalt, 
keine Yiebe geben fann und dah, wer Treue und Caritas beijeite fest und immer nur 
tut, was ibm am bequemften ijt, feine reichjten Yebensquellen verſtopft, zeigt fie mit 
künſtleriſcher Feinbeit. Cine Schauſpielerin bat einer vorteilbaften Verbindung wegen 
ihre natürliche Tochter im Stich gelaſſen und nun, krank und verraten, verzehrt ſie 
ſich in Sehnſucht und Gewiſſensqual nach derjenigen, die als ibr Geſellſchaftsfräulein 
unerfannt, freudlos, verbittert neben ibr binlebt. 

Mutter” erinnert int Grundgedanfen an ,. Wenn wir Toten erwacen’; 
Ibſen vervolljtindigt denjelben durch den Zuſatzt wer in der Frau das Weib tötet, 
mordet in iby jugleid) Die Mutter — und ijt fie dort falt und jtarr geworden, wo 
ibre höchſte Lebensglut flammen ſoll, dann breitet ſich der Eiſeshauch über ihr ganzes 
Weſen, und fie wird irr und entmenſcht wie die arme, einſt fo opferjelige Arene oder 
leichtjinnniq und hohl wie Maja. Und der Mann, der blind an den Idealen und 
Myſterien der Weibesjeele vorbeigeht, kann fein eigenes Höhenmaß als Menſch und 
Riinftler auch nicht erreichen —: dev Bildhauer Rubek ſchafft nach der Trennung von 


) Mus dem Zytklus „Zu ſpät“. 


86 Streifzüge durch dic dramatiſche Saijonliteratur. 


Irene nur noch „Menſchen mit heimlichen Tiergeſichtern!“ — Ibſens whe Björnſons 
Epilog iſt immer derſelbe Seufzer: der edlere Teil der Menſchheit, der in die Höhe 
ſtrebt, wird tragiſch vernichtet; Ne anderen jteigen berab in die Niederungen und leben 
dort das Leben dDer Halbmenſchen unbehelligt weiter — warum gelingt die Empor— 
bildung des Menſchengeſchlechts nicht in grader Linie? warum dic tauſendfachen 
Umwege? warum verſchleudern die Robuſten ihre Kraft an Wertloſigkeiten, und warum 
werden die Wiſſenden und Könnenden durch ſoviel Leiden geſchwächt? 

Dennoch aber wird das Excelſior! immer wieder mit Feuerworten gepredigt. 
Bei Gorki ſcheint's mur eine ſtumme Mahnung zu ſein — und doch cine Predigt! 
Sein düſteres Nokturno „Nachtaſypl“ bat erſchütternd gewirkt. Es iſt Fein ſtilgerechtes 
Drama — ſeine Romane find oft viel dramatiſcher. „Szenen aus der Tiefe des 
Yebens” nennt er fein Stück, ans dem fo viel Selbſtergriffenheit zu uns ſpricht. Es 
ind Zuſtandsſchilderungen, Bilder aus dem Leben der von Wott und Menjeben 
Verlajenen, zu denen de Gitte im Gejtalt des alten PBilgers Luca hinabſteigt und es 
fertiqhringt, ſchlummernde Gottesfunken in den ausgebrannten Seelen zu ween. 
Was doch ein Guter für ſeine Brüder vermag! Gorki erkennt freilich: das Elend ſelbſt 
iſt nicht aus der Welt zu verbannen, es gebiert ſich immer neu, ſelbſt wenn Tauſende 
es erdrücken und erſticken wollten, weil es da ſein muß, weil es ſeine unentbehrlichen 
Funktionen im großen Le benspro; wh bat. Aber yu feinen Funftionen gehört, dah es 
Die Kampfkräfte aufreizt, dah eS fic) Feinde macht — möglichſt viele. Denn die 
Kämpfer werden doch fo viel erreichen, daß das Elend fies wandelt, daß es ſich 
verfeinert, daß die Leiden mehr nach innen ſchlagen. Leichter werden ſie dadurch 
nicht, aber fie verroben den Menſchen nicht mebr, fie veredeln ibn, 

Die religiöſe Tiditung gewinnt auch Vordergrund. Seit man pſychologiſch bell: 
ſichtiger wurde, iſt die Lebensfülle der erhabenen Geſtalten der Bibel gleichſam neu 
entdeckt worden. Es wirkt einigermaßen humoriſtiſch, daß die Zenſurbehörde des 
chriſtlichen Staates gerade dieſe Dramengattung verfolgt. Paul Heyſes „Maria 
yon Magdala“ wurde verboten und ebenſo aud Eliſe Schmidts Drama „Judas 
Iſchariot“!), cine Dichtung, die, ſchon 1876 erfebienen und feitdem fait vergeſſen, 
cine großartige Gedankenlyrik und weit kühnere Charakterzeichnungen enthalt als das 
Hevſeſche Drama, Hier iſt Judas nur der litfterne Mann mit dem weltlichen Ehrgeiz, 
dort Der geiſtige Weltumfegler, der große Menſchenveräachter, der Machtgierige, zu 
ſteptiſch aber, um tatkräftig yu fein, ein Luziferiſcher Typus, der den Größeren nicht 
erträgt, weil an deſſen Güte alle damoniſchen Gewalten sunichte werden. 

Das Theater erbebt ſich allmählich wieder yur Bildungsſtätte. So foll es fein. 
Das Bühnenſpiel foll Bewegungsſpiele in unferem Gemüt anregen, Klänge von dort 
jollen Widerfldnge erregen — dann greifen wir begebrlich- wehmütig nach all' den 
bunten Farben, womit das Leben der Dichtergeſtalten geſchmückt iſt; ein freitätiges 
Miterleben und Nachſchaffen, ohne bewußten Swed, aus bloßer Freude an den 
mouvements de l'âame, weckt alle Kräfte unſeres Geiſtes, und fo entwickelt ſich leicht 
und unmerklich, indem die Seele ſich in erhabene und rührende Empfindungen hinein— 
träumt, aus äſthetiſchen Reizen, aus Sehnſucht, Erinnerung, Willensantrieben, Wohl— 
gefallen an den klaren Linien geſunder Menſchenart, jene gehobene Stimmung, in 
welcher die ſittliche Tatkraft gedeiht und der Blick des Nachdenklich-Gewordenen das 
Leben freier und tiefer erfaßt. 


) Reclam Nr 1246, 





—— Uja. — — 


VNovelle von 


®evrg Dordenfvan. 
Autorifierte Überſetzung aus dem Schwediſchen von €. Stine. 


Nadbrud verboten. 


4, 

— Sie eine Taſſe Kaffee mit mir 
trinfen!” ſagte Aja eines Nachmittags, als 
wir von einem Spaziergang zurückkehrten. 

Als wir in ihr Simmer traten, fap Edvard da. 

Sie war fo froh überraſcht! „Wie hübſch 
pon Ihnen, dak Sie auf uns getwartet haben,” 
brad fie aus und fdbiittelte ibm bie Sand. 

Govard hatte mebrere ibrer Studien von 
ber Wand genommen. Gr ſaß vorn beim 
Fenſter und bejah fie. 

Die Urfache feines Kommens war offenbar. 
Die Arbeit war ihm nidt von ftatten gegangen, 
er hatte die Pinſel weggeworfen, und da es 
ifm felbftverftandlid) nicht angenebm fein 
fonnte, fener Frau yu fagen, er könne nidt 
arbeiten, twar er bierbergefommen, um mit ibr 
qu ſprechen, die es verjtand, was es fiir cinen 
Künſtler heißt, zu twollen und nicht gu fonnen. 

Sie fragte nichts der Art — ein inftinftives 
Gefühl jagte ir, wie er bebanbdelt werden 
mitjje —, fondern begann bon gang anderen 
Dingen zu reden, aber die Freude über jein 
Rommen vermodte fie nicht zu verbergen — 
fie leuchtete ihr aus den Mugen, fie ſprach 
aus ihrer Stimme, weldje eine Warme an: 
genommen, die fie fonjt nicht beſaß. 


— — — 


Mir war's, als hätte ſie zu ihm hingehen 


und ihm mit weicher, kühler, ſchützender Hand 
fiber die Stirn ſtreichen mögen, wie cine 
Mutter ihrem Knaben tut, um ibn gu tréften, 
wenn die Welt hart und böſe gegen ibn 
geweſen. 

Und ihm ſchien es eine Erholung, ſo bei 
uns zu ſitzen. Er wurde bald geſprächig und 
heiter, wie er es fein fonnte, wenn er nicht 
an ſeine Arbeit dachte. 





Er ſagte fein Wort 


(Forticgung von Seite 56) 


bariiber, noc) iiber Wjas Studien, die er dod 
eben betrachict hatte, Und dod freifte das 
Gejprich um das, was die Urſache feines 
Befudes war und von dem die beiden fid, 
troy ibrer Scheu, es zu berühren, dod) nidt 
ganz losreißen fonnten. 

Wir hatten ſchon ziemlich lange geplaudert, 
alg es an bie Tiir flopfte. Es war Edvards 
Frau, die nachzuſehen fam, ob er bier fei. 

„Nehmen Sie Pla, Frau Aſp!“ 

Cofort erhielt das Geſpräch einen anderen 
Ton — es glitt auf die lokalen Verbaltniffe 
liber, man fprad von Nachbarn und Sommer: 
gajten, von Dingen, die keinen unter uns 
intereffierten. 

Frau Aſp fah fic mit grofen Augen im 
Bimmer um; es war augenfdeinlid, daß fie 
defjen Ausſchmückung mit woblfcilem Larifer 
Rram ziemlich fonderbar und geſchmacklos 
fand, und Aja, welcher dieſe ſtille Muſterung 
nicht entging, nahm ihre Zuflucht zu forciertem 
Geplauder über alles und nichts, bis nach 
einer Weile Edvard aufſtand und gute Nacht 
wünſchte. 

Ich ſah die beiden ſtumm nebeneinander 
ihres Weges gehen. Er natürlich wieder in 
ſeine Gedanken verſenkt, die mit ihr zu teilen 
er keine Veranlaſſung hatte, fie, wie mir 
ideinen wollte, ohne vielleicht felbft gu wiſſen 
warum, ebenfalls ein wenig gebdritdt und 
niedergefdlagen, twas nod) verftimmender auf 
ibn wirfte, ba er fie betrübt jab und ſich 
auper ſtande fühlte, fie aufzuheitern. 

Ich bin überzeugt, daß er, als er ſo dahin— 
ſchritt, eine gewiſſe Abneigung gegen Aja zu 
fühlen glaubte, weil ſie jene Keckheit beſaß, 
die ihm ſo gänzlich fehlte. Mußte es ihn 


88 


nicht reigen, fie als die Sichere gu feben, die 
berechtigterweiſe mitleibig auf fein ungewiſſes 
Umbertappen herabblidte ? 

Obne das Oberflächliche ihrer Runjt ju 
verfennen, beneidete er fie wohl um die un— 
befangene Leichtigheit, mit der fie alles behandelte, 
was ihm fo endlofe Schwierigkeiten bereitete. 
Ober war eS dads Weib in ibr, bei dem er 
Aufmunterung fudte? 

Da wanderte er nun beim gu feinem Sool. — 

„Haben Sie Herrn Aſp heute gefeben?” 
jragte mid) Aja um die Mittagdsftunde ded 
folgenden Tages. 

Mein, id) hatte ibn nicht gefehen. 

Aber fie war ibm begegnet. 

» Aber nun raten Sie, twieviel Ubr es war? 
Drei Ubr morgen’. Cin Rendezvous ju 
nidilider Stunde!” 

Sie hatte in der Hangematte ein Schläfchen 
gemadt, war bei Morgenfiible aufgewacht und 
sur Gartentür gegangen. 

Da hatte fie Alp fommen gefeben. Gr 
finne nicht fcblafen, fagte er, und wolle fid 
darum bier ein wenig umfeben. Aber Gefellfdhaft 
twolle er feine — das fagte er gerade heraus 


— „nicht einmal meine angenehme Geſellſchaft 


ließ er ſich gefallen”. 

Einige Wochen hindurch kam er nicht zum 
Vorſchein. Aber er hatte ſich mit dem Dampf— 
boot eine große Leinwand herausbringen laſſen, 





und wir wußten, daß er täglich punkt vier Uhr 


aufſtand und hinaus an die Arbeit ging. 
Unſere Gefellfchaft fuchte er nicht. 

Da fam eine Regengeit. Es war unmöglich 
dDraugen gu malen, und fo befam id) eines 


Tages fein gropes Gemalde, das er im Saal | 


des Müllers aufgeſtellt hatte, gu feben. 


Es ftellte das Erwachen der Natur dar. | 
Nod ijt die Sonne nicht aufgegangen, aber | 


ſchon glimmt und gleift es an dem glashellen 


wolfenlofen Himmel, auf bem bie und da nod | 


ein Bleicher Stern juriidgeblicben ijt. Der 
See cin Spiegel fiir das Farbenfpiel des 
Himmels, fiir Baum und Schilf! Wiles fo 
flar und rein! Friſche, Rube und Schweigen 
iiber der ganjen Natur! Cie ertvartet die 
Sonne, die rofige Sonnenglut iiber Himmel 
und Gee... 

Und er, der diefe Stimmung fo groß und 
fiibn, fo voll Empfindung auf die Leinwand 


— 


kam und klopfte an meine Tür. 





Mya. 


gelegt, er bencidete Aja Borgſtröm und ihre 
Malerei. Er gramte fid, nichts zu fonnen. 

Ich mufte verjpreden, iby nidt cin Wort 
von dem Bilbe gu fagen. Indeſſen war fie 
e8, die mit mir davon anfing, obwohl fic es 
nod nidt gefeben. Welch grofen Pla er 
fon in ibren Gebanfen einnabm, zeigte fid 
in ibren Reden, die fic) in jenen Woden gar 
viel um feine Perfon drebten und folgende 
Tonart batten: 

„Nun regnet e8, und er bat das Bild in 
fein Simmer genommen. Wabrideinlid fann 
er es nicht tiber fid) bringen, das Malen jest 
qu laſſen. Gr muß ja jeben, daß es fid 
drinnen ganz anders ausnimmt als im Freien; 
daß feine Emma nidt den Verftand bat, ibm 
Pinjel und Farben wegzuſperren und ibn, fo 
lange e8 regnet, cin twenig gum Gefelligteitstier 
ju maden. Ctatt fiir fie Mufter yu zeichnen 
ober das Kind gu malen oder wie ein vers 
niinftiger Menſch mit uns Vira ju fpielen, 
wird er nun anfangen, mit dem Bild qu 
experimenticren, wird die Farben nad bem 
Stubenliht andern, wird wirfungsvolle Gegen— 
fage bineinfomponieren, um eine recht ſchön 
abgeténte Farbenffala herauszubekommen — 
und wird eines ſchönen Tages wieder dabinter 
fommen, dah er auf bem beſten Wege iſt, 
eine Chic-Landſchaft zu malen, und bag fein 
Bild cin Switterding ijt. Cs ift zu traurig! 
Sie werden fehen, dah id) recht bebalte. — 
Ich fange an, ihn gu fennen. Cr malt gar 
gu gewandt, das ijt feine Schwäche. Er fann 
nicht ſchlicht und geradezu malen.“ 

Das Regenwetter wollte fein Ende nehmen, 
und fo fam der Tag von Ajas Abreife. Cie 
Nein, fie 
fonnte fic) nicht zurückhalten, fie mußte ſich 
Luft maden, 

„Ich babe das Bild gefeben; id) gab mid 
nicht jufrieden, eh’ ich nicht hineindurfte. 

Seben Sie, dak id) recht hatte? Er bat 
daran gemalt, bis das Friſche der Stimmung 
verſchwunden ijt. Gerade, twas er betonen 
wollte, was er zum Wusgangspunft genommen, 
gerade bas feblt jest. Und er weiß ¢3 jebr 
wobl, id fab es ibm an. Gr twar fo nervös, 
als ob er beifen wollte. Sagen Sie nur’ 
gerade heraus, daß es ſchlecht ift; Sie 
wenigitens fürchten fich nidt, die Wahrheit 


Aja. 


zu ſagen, rief er. 
mid ſchlagen — und id wußte einen Augen— 
blick nicht, was tun. 

Aber nun hören Sie! Es kam mir der 
Einfall, ihn zu reizen, um ſein Selbſtgefühl, 
ſeinen Künſtlerſtolz zu wecken. Ich ſagte im 
faltejten Ton, den ich herausbringen fonnte, 
dag dies durchaus nidjt das fei, toad id von 


ibm erwartet batte, und dah ich twiifte, wad | 


id) ibn tun fiche, wenn er mein Schüler 
ware. Es war koloſſal unverſchämt, aber 
jedes Leder braucht feine Schmiere. Das 
Ende war: Nehmen Sie ein Meffer, Fragen 
Sie alles das ab und maden Cie es dann 
in cinem Bug fertig. Ich war fo fred, dah 
id mid) vor mir felbft ſchämte, aber ich war 
bofe — wie fann das alled zu einem Refultat 
führen!“ 

Sie war ſo erregt, daß ihr ganzes Geſicht 
glühend rot war und die Tränen ihr in den 
Augen ſtanden. — 

Aja reiſte ab und die Regenzeit hörte auf. 
Edvard blieb unſichtbar. 

Eines Tages machte ich auf dem Mühlhof 
einen Beſuch und traf ſeine Frau allein. Edvard 
ſei ausgegangen, er ſei ſeit letzter Zeit ſo 
ruhelos und fortwährend außer Haus. Dad 
Bild habe er wieder begonnen, aber niemand 
dürſe es ſehen. Und er habe jetzt keinen 
anderen Gedanken als daran. Nachts gönne 
er ſich keine Ruhe zum Schlafen und ſtehe 
einmal ums anderemal auf, um zu ſehen, ob 
der Himmel ſich bewölle. 

Aus ihrem Ton ſprach die äußerſt korrekte 
Ergebenheit einer vernachläſſigten Frau, die 
dennoch anzudeuten verſteht, daß ſie ihr 
Schickſal mit Demut und Würde trage. 

Am Heimweg begegnete ich Edvard. Er 
war jerftreut und nervds. 

„Das Bild? Ich babe alles verwiſcht und 
es neu angelegt. Alles hangt jest davon ab, 
ob wir ſchöne Morgen baben — der Barometer 
ftebt gliidlidermeife bod) — andernfalls ijt 
der ganze Sommer verloren . . .” 

Von da an intereffierte ich mich eine Beit: 
lang beinabe ebenfo fiir die Witterung wie 
er. Seber Taq mufte benust werden, wenn 
bas Bild fertig werden follte. Denn ſchon 
war die Beit da, wo die Birlen hie und da 
gelbe Zweige befommen und die Morgen: 


Gr fab aus, ald tvolle er | 


geſehen. 











RY 


und Abendfarben Anfabe gu Harte und Schärfe 
zeigen. Der Hochſommer begann in den Spät— 
fommer überzugehen. 

Mls ic) Edvard das nadftemal begegnete, 
war er in fo rubigem Gleidgewidt, wie id 
ibn nur twabrend der erften Woche hier draußen 
Er hatte fic) entidlofjen, das Bild 
fo zu lafjen wie es war und feinen eingigen 
Pinfeljug bingugufiigen. 

Aja hatte mir bei ihrer Abreiſe eine halb- 
qeleerte Chartreuſeflaſche vermacht, und cin 
Glas des goldenen Trunkes leerten wir auf 
das Reſultat dieſes Sommers. Dak das Hod 
aud ifr galt, nab id) als auggemadt an. — 

Nad) meiner Uberfiedlung in die Stadt 
jah ic) meine Sommerbefannten felten. Eines 
Mittags aber begegnete ich Aja auf der Strafe. 

Ich fonnte ibr cine Neuigfeit mitteilen: 
daß ich einen Wufenthalt in Paris über den 
Winter vorhätte. 

„O wie angenehm! Und wenn id gut 
verfaufe, fomme id vielleicht aud im Frühling 
bin, da wollen wir aber Luftiq fein!” 

Mud) fie batte etwas Neues ju bericdten. 
Sie begann mit der Frage, ob id Aſps 
» Morgenftimmung” gejeben. 

Ich fannte es nod) nicht. 

„Denlen Sie ſich alſo, es iſt gut, es iſt 
wirllich gut. Ich war ſchon lange über 
nichts ſo erſtaunt. Erſtens, daß es fertig iſt, 
und zweitens über dieſen Rachdruck und Schwung 
darin. Ach, ich war ſo froh, ich hätte den 
Menſchen umarmen können.“ 

Auch von anderer Seite hörte ich die 
Beſtätigung dieſer Neuigkeit. Edvard Aſp 
hatte eine tüchtige Arbeit geliefert. 

Das Bild überraſchte nicht durch etwas 
Neues, aber es war ſolid und ehrlich, wahr 
und fein wie ſeine eigene Perſönlichkeit. Sogar 
diejenigen, welche die Eleganz ſeiner Technik 
herausfordernd fanden, neideten ibm den Erfolg, 

Es wurde zum Herbſt fiir das National- 
mufeum angefauft, und wenige Tage fpater 
meldeten die Beitungen, der hervorragende 
Landſchaftsmaler Edvard Aſp, welder in fo 
reichem Maße die Crivartungen, die er erregt, 
befriedigt batte, fet nad Baris abgereift, „um 
dort feine Kunſt yu vervollfommnen.” 

So war aljo fein Sommer fein verlorener 
geweſen. 


5. 
Sn Paris angefommen, nabm id) in ber 
Nähe des Boulevard Clidy Wohnung. 
Ginige Sfandinavicr, die in dieſer Gegend 
wobnien, batten ein Eleines Reftaurant nabe 
bem Place Blande gum Cammelort gewable. 


Hier pflegten wir uns um die fiebente Stunde, 
. Gili, feine Furcht fannte. 


sum Diner yu treffen. 
Auger Edvard Aſp unb feiner Frau — 
das Kind batten fie in der Obhut der Schwieger— 


mutter und der Berwandten gelajjen — famen | 


nod) einige andere junge ſchwediſche Maler und 
finniſche Malerinnen bin. Gelegentliche Gäſte 
waren Sven Ridert, der ſich gewöhnlich zu 
einer Noterie junger Franjofen bielt, und ein 
Norweger, der fich in Sfandinavien unmöglich ge- 
macht hatte und nun bier den Märtyrer fpielte. Er 
hatte unter bem Titel ,, Decadence” eine Serie 
Novellen aus dem Braſſerie-Leben im Quartier 
latin geſchrieben, welche fonfissiert wurden und 
teiltweife dadurch eine gewiſſe Berühmtheit er- 
langt batten. Gegenwartig beſchäftigte fic 
ber Berfajfer ausſchließlich damit, das Pariſer 
Pflaſter yu treten, die Menſchen gu veradten 
und jedem zu verfiinden, dak er mit bem 
Leben fertig fei. 

Er hatte ein rundes, bartlofes, knabenhaftes 





Geficht mit höhniſchem Ausdrud, trug das | 
Haar in die Stirn bherabgejtriden und legte 


es darauf an, durd fein ganged Auftreten als 
bohémien zu wirken. Zeichnete ſich auferdem 
durch eine unwiderſtehliche Begierde aus, in 
Gegenwart von Damen beſonders gemein zu 


fein und fühlte ſich im übrigen von den | 


weniger Genialen unter uns „nicht verftanden”. 

Richert, der ibn in Schutz nahm, bebauptete, 
ber Noriveger fei ein guier Junge und cin 
von Grund aus feiner Junge, der auperdem 
das Verdienſt befige, vor nichts zurück— 
zuſchrecken, und ber felbft in jenen Winkeln 
der Stadt Beſcheid wüßte, welche weder 
Fremde noch Pariſer kannten, noch kennen zu 
lernen wagten. 

In ſeiner Geſellſchaft hatte Richert ver— 


ſchiedene, ſowohl durch ihre Ungewöhnlichkeit 
als durch ihre Gefahren reizvolle Abenteuer 


durchgemacht. Mehr als einmal hatten ſie 
ſich in den Champs Elyſées zur Nachtzeit mit 
herumſtrolchendem Geſindel zuſammengetan, ſich 
in Spielhäuſer und Banditenhöhlen einführen 





Berührungspunlte. 


Aja. 


laſſen, und als einmal ein ſolches Neſt um— 
ſtellt und die Geſellſchaft eingezogen wurde, 
waren ſie nur mit knapper Not — ihre Flucht 
ging über Dächer und Gartenmauern — der 
Polizei entgangen. Alles in dieſem Stil 
war nach Richerts Geſchmack, der, im Ver— 
trauen auf ſeine Fäuſte und auf ſein gutes 


Während ſeiner erſten Jahre in Paris 
war es unmöglich geweſen, mit ihm aus— 
zukommen. Seine überquellende Grünjungen— 
laune pflegte ſich in der Weiſe zu äußern, 
daß er bei einem Feſte die gefüllte Waſſer— 
flaſche an die Wand warf, oder, im Wagen 
ſitzend, die Scheiben mit den Ellenbogen 
durchſchlug, um ſich Luft zu ſchaffen — die 
Scheiben ganz einfach herabzulaſſen, wäre zu 
wenig genial geweſen —, oder daß er einmal 
von ſeinem Atelierfenſter im ſiebenten Stock 
auf einen Balfon des fiiniten Stockwerkes 
Eletterte, um ein paar dort in Penſion lebende 
engliſche Miſſes zu erſchrecken. 

Mit der Zeit hatte nun dieſes Stadium 
von Verrücktheit nachgelaſſen, er trat nun 
nicht mehr ſo prahleriſch und übermütig auf, 
und es war etwas Friſches und Gemütliches 
in ſeiner Jungenhaftigleit. Er war jetzt eine 
Miſchung von gamin und Pariſer Künſtler, 
kleidete ſich elegant und hatte ſich unter dem 
jungen Frankreich Freunde erworben. 

Als Maler ebenfalls unbändig und 
unberechenbar, hatte er doch entſchiedenes 
Talent, dem nur Reife und Selbſtbeherrſchung 
mangelten. 

Derzeit war er Intentioniſt und Synthetiſt 
und verachtete das Naturſtudium. „Die nichts— 
ſagende Wirklichkeit“ war zu banal für ihn 
und ſeine Koterie. 

Aſp und Richert hatten keine näheren 
In Stockholm war Aſp 
vor ein paar Jahren der einzige geweſen, der 
Richerts Partei genommen, als alles über ſeine 
gewaltſamen Effektbilder lachte und ſogar viele 
Künſtler — jene echte Stockholmer Clique, 
die ſich gegen alle unnötigen neumodiſchen 
Einführungen mißtrauiſch verhält den 
Burſchen fiir verriidt erflirten. Bu jener Beit 
war Richert mit Haut und Haar Impreſſioniſi. 
Unter groper Unjtrengung war es Aſp einmal, 
als Ricert fic) in Geldflemme befand, gelungen, 


Nia. 


einige von defjen Bildern zu verkaufen. Seit 
nun Richert unter die jungen Pariſer Umſtürzler 


gegangen, verachtete er naturgemäß Bourgevis: . 


funft, bie Aſp reprafentierte, und hatte einen | 


Ton gegen ihn angenommen, der den Älteren, 
Verniinitigeren verdriehen mufte. 

Edvard fonnte bier in Paris nicht rect 
ing Gleidhgewidht fommen. Er fühlte fid fo 
auperbalb ftehend, fo zurückgeblieben angeſichts 
dieſes fieberbafien Rampies um Erfolg und 
Fortſchritt, in welchem ihm weniger die große 
Bewegung, die ehrliche raſtloſe Arbeit, das um 
Moderichtungen unbekümmerte Streben der 
ſelbſtändigen Künſtler vor Augen trat, als vor 
allem die Begierde, überall dabei und obenan 
ju fein und in erſter Reihe gu ſtehen unter 
den Mannern des Fortſchritts. Mit dem 
Strome ju ſchwimmen, jedem Windftoh gu 
jolgen, jeder Modelaune fich yu unterwerfen, 
bas, ſchien ibm, hatte fic) die Augend zu 
ihrer Hauptaufgabe gemadt. Und er, dem 
alles, was Humbug und Prablerei heißt, cin 
Greuel war, ev ereiferte fics, wenn von der 
Kunft des Tages die Rede war, und nabm 
die alten Maler in Schutz, ob er gleich inſtinkt— 
mäßig dasfelbe anftrebte, wie die Beſten unter 
ber Dugend: den MWusdrud fiir bas cigene 
Gefühl, fiir die cigenen Natureindrücke. 

Und er erfannte innerlich und geftand aud 
mir, daß feine mifgliidten Verfude ibn gegen 
jene aufgebracht batten, denen die Gabe des 
Fanatismus und der Gedanfenlofigfeit das 
Gelingen foviel leidter madt. Dieſen Winter 








hatte ex wenig arbeiten finnen; er batte ſich 


in Grperimente, die feiner Natur zuwiderliefen, 
verirrt, fidd in Wugenblidsftimmungen, in Luft: 
ſtudien verſucht, und nichts war ibm gealiidt. 
Aber er beklagte fic nicht, und ein Wort der 
Teilnabme ware gerade das geivefen, was er 
am twenigften ertragen hatte. Ad) fannte nun 
dieſe allju empfindliche und ſcheue Natur, die 
es nicht über fid) gewann, ſich zu enthiillen 
und die Hand auszuſtrecken nach dem Mit— 
gefühl, nach dem ſie dürſtete; eine jener Naturen, 
die verurteilt ſind, allein zu wandeln; eine 
jener ſtummen Naturen, die ſich danach ſehnen, 
zu ſprechen. 

Eines Tages zu Anfang März kam Aja 
Borgſtröm an, voll Entzücken, wieder in Paris 
gu fein und in einem RNeſt in Clichy ſpeiſen 





91 


zu können, mit dem Boulevardlärm, den 
Trompetenſignalen der Pferdebahn, dem heiſeren 
„u—up“ der Kutſcher, dem Rufen der Zeitungs— 
jungen, dem Geſchwätz und Gelächter der 
Vorbeigehenden vor den Fenſtern. — — 

Die ganze Geſellſchaft ward von ihrer 
munteren Laune angeftedt — Frau Emma 
natürlich ausgenommen. Sie machte zwar bei 
Ajas etwas lauter Heiterkeit keine oftentativ 
mißbilligende Miene und lachte mit uns über das 
mit Hurrah begrüßte Präſent der Neuange— 


kommenen — eine hermetiſch verſchloſſene 
Blechbüchſe mit Eierkuchen — echten ſchwediſchen 
Eierluchen — aber ihr ganzes Weſen zeigte, 


daß ſie ſich in ihrer Umgebung nicht wohl 
befand und dads Bewußtſein mit ſich trug, 
nicht bierber ju gebdren und die Intereſſen 
der anderen nicht gu teilen. Ihre Abweſenheit 
hatte nidt die geringite Lücke hinterlaſſen. 
Aber obwobl fie dies fühlte, gab fie ficd feine 
Miibe, ficd beliebt gu madden. Co ging denn 
aud die allgemeine Anſicht dabin, dah jie cin 
langtweiliges Geſchöpf und Edvard zu be: 
bauern fei. 

Mir befdhlofien den Tag im Divan 
Japonais. Es war cin Vergniigen twie cigens 
fiir Aja beftellt. Das dort verfammelte Publi— 
kum ſchien nur gefommen, wn Speftafel yu 
machen, und die Auitretenden fahen aus, als 
feien fie nur dazu angeftellt, um die Späße 
ded Publikums herauszufordern. Liefer bleiche, 
ehemalige Tenor mit den hungrigen Augen, 
dieſer Folojjale, bligende Reger mit dem eleganten 
Auftreten und dem entgiidt lächelnden Mande 
von einem Obr bis gum anderen, diefe jaferige 
Straßendirne, die Yoette Guilbert zu fopieren 
ſuchte! — Das Publifum überſchrie die Sanger, 
applaudicrte wild, fdrie aber „non ~assez!“ 
wenn man mit Dacapo-Nummern drobte. 

Es war cin wildes Konzert. Sogar 
Edvard wurde von der allgemeinen Aus— 
gelaſſenheit mitgeriſſen. Für Aja, die direlt 
aus Stodbolm fam, war all das neu und 
merkwürdig — diefe gange Gefellfcbajt junger 
Leute beiderlei Geſchlechts, die da aus voller 
Reble fangen, pjiffen, krähten und gaderten, 
obne dod den ganzen Abend mehr als cine 
Taſſe Kaffee oder cin Glas Bier zu trinfen. 

„Ja bier gibt's Anregung, um ju arbeiten, 
was dad Seug halt,” brad Aja aus, als wir 


2 


wieder auf Place Blande ftanden. Yon 
Moulin rouge fdallte Mufit heriiber, und 
che twit touften wie es fam, tangten tir auf 
dem Pla Walzer — Aja und Cdvard an 
der Spite. Und als Hintergrund fiir das 
improvifierte Ballet ragte die rote Mühle in 
ſcharfer Beleudtung gegen den WAbendhimmel, 
und ibre mit fleinen, bligend roten eleftrifden 
Lidtern befesten Flügel ſchnurrten iby ,Will- 
fommen im frobliden Paris‘. 


* * 
* 





Aja hatte ein paar Landſchaften für den 
„Salon“ mitgebracht. Edvard hatte zwar 
nichts fertig, aber die Erlaubnis, fein Muſeum— 
bild vom vorigen Sabr in Paris auszuſtellen. 
Richert dagegen veradtete den ,, Salon” und 
wollte fid) feinem Refus ausfeben — felbjt- 
redend wären feine Bilder der herrſchenden 
Philiftermajoritat in der Jury nur cin Greuel 
geweſen. 

Aja hatte begonnen „zu arbeiten, twas 
das Zeug hält“. Vormittag malte fie Modell, 
und um ihre Nachmittage auszufüllen, hatte 
fie ein großes Porträt von Emma Aſp an— 
gelegt. 

Sie malte Emma in Edvards Atelier 
fibend, in ber doppelten Beleuchtung zweier 
Fenſter, beren eines einen Streiſen der Mittags- 
fonne bereinliep, welcher in die falten, grauen 
Tine des Ganjen cine Menge luftiger Reflere 
bradhte. 

Emma war cin Muftermodell. Cie ſaß 
Stunde fiir Stunde geduldig da — Aja 
Borgſtröm wollte durd ihre Geftalt den 
Cindrud träumeriſcher Melancholie hervor— 
rujen. Bisher hatte ihre Figur aber nod 
gar einen Ausdruck befommen, denn die 
Connenjtrablen, die in dem grauen Atelier 
ihr fréblides Spiel trieben, batten Ajas Auf: 
merfjamfeit ausſchließlich gefeffelt. Die Auf— 
gabe war neu und ſchwer, und ed freute fie 
immer, fid) an dem Unmöglichen yu verſuchen. 

Govard ſaß wor jfeiner Staffelet, cine 
deforative Landſchaft fomponierend. 

Ich fab fie nicht oft, meine Wege fithrten | 
mid) nad anbderer Ridtung und nur felten | 
in dad Reftaurant des Boulevard Clidy. | 
Ricert fab ic gar nicht, und fragte man | 
nad) ihm, fo grinfte ber Nortweger fein über⸗ 











Aja. 


legen ironiſches Lächeln und meinte, er ſei 
von Germaine in Anſpruch genommen. 

Ich hatte ſie einmal geſehen, dieſe Germaine: 
ein kleines Modell, erſt fünfzehn Jahre alt, 
aufgewachſen und erzogen in Ateliers und 
unter Künſtlern, ein echtes Zigeunerkind, eine 
Mignon im modernen Pariſer Stil — aber eine 
Mignon, deren Sehnſucht nicht nach einem 
Märchenſchloß unter Lorbeer und Orangen 
ging, fondern nad einem Heinen, eleganten 
Haus beim Pare Monceau mit Equipagen und 
Groom und einer disfreten Kammerjungfer. 

Anfangs gefiel UWja dem Norweger. Er 
verleitete fie, Abſinth gu trinfen — Wbfinih 
war dad eingige, was ihm das Leben erträglich 
machte — und fie ſchnitt bem griinen Gepanticde 
eine Grimafje und meinte, man müſſe es wobl 
in die unrechte Keble befommen, um redt ju 
erfennen, wie gut es fei. Als er aber einmal 
eine Stunde bei ihr geſeſſen und ihr auf feine 
Weife von verjdiedenen Seiten des Parifer 
Lebens erzählt hatte, die fie nidt fannte und 
die ihre Reugierde reigten, ba wurde fie mit 
cinemmal böſe und gebot ihm zu ſchweigen. 
Und als er darauf beleidigt ihr etwas fagte, 
was cr ,,cine Wabrbheit” nannte und damit 
feines Weges ging, da entlud fie ihre Ent- 
riiftung uns anderen gegentiber mit einem 
Gefiibl und einer Überzeugung, die id) faum 
von ibr ertwartet bitte. Sie hatte die Tranen 
in ben Augen, und ihre Lippen zilterten: 

„Ich glaube nicht, dak ich zimperlich bin, 
id bin aud faum cine von den ,befferen 
Leuten‘, und cine ingénue bin id auch nicht, 
aber fiir fo unfein und ungebildet bat bod 
niemand das Recht, mid gu balten, dak id 
daſihen und die Gemeinheiten dieſes Tolpels 
anbiren müßte.“ 

Cie ftand auf und ging aus dem Zimmer, 
um und nicht gu geigen, wie kindiſch fie fei 
und twie twenig fie fich zu beherrſchen wiſſe. 


6. 
April war gefommen und man begann den 


| Frithling in ber Luft zu fptiren. 


Eines Wbends, als wir an unferem Ver- 


ſammlungsort anlangten, waren weder Edvard 


und Emma nod Aja da. Erſt nachdem wir 
uns draußen im Freien gum Kaffee nieder— 
gelafjen batten, twurden wir Wjas anſichtig, 


Nia. 


die von einem Omnibusdadh herab und ju- 
wintte. Sie hatte Edvard bei fich oben. 


Sie fprang berab, fonnverbrannt, warm | 


pon der Frühlingsluft. Cine ganze Beute 
eben aufgeblithten Flieders fiibrte fie mit fic. 

„Es lebe der Frilbling!” riefen wir. Und 
fie nabm bas Kompliment mit ftrablender 
Miene und einer gropartigen Verneigung gegen 
das Publifum entgegen. 

Bis hierher in die Boulevards brachten fie 
die Friiblingsluft. — Aja hatte Covard ju 
früher Morgenjtunde in einem Omnibus erblice, 
und augenblicklich erratend, daß er im Begriffe 
fei, durchzubrennen, war fie ebenfo augenblicklich 
zu ihm in den Omnibus geſprungen, und ,,fo 
war ber arme Rerl geswungen, dem ganzen 


Tag mit ihr herumzuziehen“. Übrigens war 


es gang „ertra luſtig“ geweſen. 

„Ja, es war herrlich auf dem Lande!“ 
ſtimmte Edvard ein. Und er beſchrieb die 
Landſchaft, wie ſie noch vor ſeinen Augen 
ſtand, kleine zarte Motive vom Seine-Uſer. 
Die ganze Au ringsum ein einziges Bukett 
von Frühlingsblumen, ein ganzes Beet er— 
blühenden Flieders unter der Veranda, auf 
der ſie gefrühſtückt hatten. Und wie dann die 
Dämmerung ſich ſo ganz leicht in zitternder 
Durchſichtigkeit über die Landſchaft gu legen 
begann und hie und da die Lichter angezündet 
wurden, während der Himmel noch ganz hell 
in Roſafarbe über Hügel und Fluß lag — 
geradezu bezaubernd! 

„So habe ich die franzöſiſche Natur nie 
vorher geſehen! Und auch Paris nie ſo, wie 
es heute da lag, als wir im Dampfboot in 
das blaue Dämmerlicht hineinfuhren mit der 
Botſchaft, dak der Frühling gekommen fei.“ 

„Wo iſt Emma?” unterbrach er ſich plötzlich. 

Dieſe Frage kam ſo unbewußt komiſch 
heraus, daß eine allgemeine Lachſalve ibm ant— 
wortete. Edvard lachte mit — er hatte Emma 
wirklich gang und gar vergeſſen gehabt. 

„Ich will binaufgeben, feben, ob fie gu 
Hauſe ift.” 

Gr fam nicht wieder. 

Nächſten Mittag ging id in fein Wtelier. 

Ob Frau Aſp geftern vielleicht auf eigene 
Fauſt ausgegangen fei, das Parifer Leben zu 
fiudieren ? 

D nein, fie fei qu Hauſe geblieben, ant: 


93 


| wortete fie, fie batte gar feine Yuft gum Aus— 
geben gebabt. 

Edvard fan wieder auf die denfiviirdigen 
Ereignijje ded geftrigen Taged juriid. Gr 
zeigte uns auf einer Karte, wobin fie gefabren 
und welche Wege fie gegangen waren. Gin 
tiihtiger Marj! Emma hatte nicht fo tveit 
geben können. 

Da Elopfte e8. Es war Wja, die einen 
impofanten Einzug biel, 

„Haben die Herrfchajten je etivas fo 
Elegante geſehen? Haben Sie gefalligft die 
Güte, verbliifft gu fein!” 

Ja wahrhaftig, fie war neu bom Scheitel 
bis zu den Sehen, in einem ultramodernen 
Pariſer FriiblingSfoftiim, von dem mit 
Ariblingsblumen umivundenen Hute bis berab 
zu den Heinen, lichten Schuhen. Cbif, ertra 
| if! Und fie ſelbſt ſtrahlend von Zufrieden— 
heit! Die fofette neue Schale ſtand ihr merk— 
würdig gut, ſie ſah ſich nicht ähnlich, ſie war 
beinahe ſchön! 

Ihr zu Ehren wurde das am wenigſten 
unwürdige Fauteuil des Hauſes herbeigerollt, 
in welchem ſie ſich mit viel Würde niederließ. 

Ja ja, da hatte ſie eben einmal den Ehe— 
mann unter ihre Flügel genommen. Hoffent- 
lich ſei Frau Emma nicht böſe über die 
Entführung, durchgebrannt aber wäre er ja 
auf alle Fälle. So ſei ſie ihm noch als 
rettender Engel in den Weg gekommen und 
habe den ganjen Tag nad ihm gefehen: Er 
babe aud gar feine Dummheiten gemadt, 
fie könne es bezeugen. 

„So luſtig bab’ id ihn dod) noch nie 
gefeben. Wie ein freigelajjenes Kalb im Früh— 


jabr! Die Frau und die Garcons in dem 
Reftaurant, two wir friibftiidten, haben uns 


nadgequdt und gelacht. Was fie fagten, hirte 
id) nicht; daß fie fic) aber über ung unter: 
hielten, fonnie cin Blinder feben. Aber das 
war dein Febler, denn meine Wenigheit war 
äußerſt if.” 

Sie begegnete cinem verwunderten Blicke 
Emmas, der dem unbefangen bingetvorjenen 
„Du“ galt. Da ift dod nichts gu iwundern! 
Und doc wurde Aja verlegen und errötete — 
wie immer unfähig, ihre Gefiible gu verbergen. 
Es war offenbar, dak fie fic von Emmas 
Urt, fie angufehen, unangenebm berithrt fühlte. 





94 


Sofort ging fie zu einem anderen Gee | 


ſprächsſtoff über. 

„Ich bin heraufgekommen, um zu ſagen, 
daß ich heute nicht an dem Vorträt malen 
fann. Begreiflicherweiſe bin ich zu aufgeregt 
über dieſe unerhörte Eleganz und daher nicht 
in der Gemilisgibe, die man zur Arbeit 
braucht.“ 

Sie bat uns, die Staffelei mit ihrem Bilde 
ins hellere Licht zu rücken. 

„Übrigens ijt es Stümperei, wie Sie ſelbſt 
ſehen. Schlecht angelegt vom erſten Anfang 
an. Gin paar Kinder, die im Sonnenſtrahl 
ſpielen, wären beſſer geweſen. Parijer Kinder, 
ausgelaſſen — wie id.“ 


So plauderte und lachte ſie unaufhörlich, 


nahm dann Abſchied und verſchwand in all 

ihrem Glanz. 

Beim Diner kam ſie nicht zum Vorſchein, 
und auch einige der Herren fehlten. „Vielleicht 
bat Fraulein Borgſtröm fie aufs Land entführt,“ 
fagte eine der Malerinnen. 

Am nächſten Tag jedod tauchte Wja wieder 
wieder elegant und hübſch und fo ftrablend 
lächelnd und luftiq und geſprächig, dab 
ibre muntere Stimmung fofort anftedte. 

Sie und Edvard, der ein Stiid von ihr entfernt 

fag, wechſelten fein Wort miteinander, aber 

id) bemerlte, wie fie ifn einigemal verftohlen 

anjab mit cinem Blid, der auf verſchiedene Art 

au deuten war, als eine Frage, cin ungewiſſes 

Bedenten. An ibren Augen war etivas, twas 

id) nie vorher gefeben, etwas fo Warmes und 

Hingebendeds und dod zugleich Scheues! 

Vielleiht war es Cinbilbung von mir, aber 

mir fdien, alS ob bas Knabenhafte in ibr 

ciner weichen Weiblichkeit Platz gemacht hatte. 

Nein, es war nicht Einbilbung: dieſe Beiden 
waren offenbar während des geftrigen Tages, 
an dem fie fich frei und jung gefühlt, einander 
nabergefommen, — 

So wie Cdvard fic) wabrend ber nun 
folgenden Seit zeigte, batte ich ibn nur einmal 
vorher gefeben, an jenem Tage, als wir ibn 
juerft trafen, dabeim in Sweden. 

Gr parabdierte nicht im mindeſten mit feiner 
Aufgeräumtheit, er wurde nidt faut und 
lärmend wie Wa, wenn fie einen Ausflug für 
ibre Yebengluft fudic. Seine Freudighcit 
äußerte fic) barin, daß cr an allem, was er 


auf, 
und 
uns 


— 


Aja. 


ſah und hörte, Intereſſe nahm, daß er, ohne 


| nad) Worten zu ſuchen, ſeine Anſichten mit 


Nachdruck und Beſtimmtheit jum Ausdrud 
brachte. 
Der Druck, der faſt immer auf ihm lag, 


war ganz und gar verſchwunden. Sein 


Lächeln war fo unrefleltiert, fo ohne jeden 
| Verfuch, feine Empfindungen ju verftellen, daß 





, man nicht anders fonnte, als es ibm ebenſo 


jroh, ebenfo wnrefleftiert zurückgeben. Wie 
Sonnenfdein lag es auf ibm. 

Seine plötzlich erwachte Lebensluſt machte 
ſich in dem doppelten Verlangen nad Arbeit 
und nad Unterbaltung Luft. Mitunter war 
er auf ein oder zwei Tage verſchwunden und 
fam dann vom Lande zurück mit fleinen 
Stubien, die cinen Schwung, eine Friſche, 
einen jugendliden Trotz jeigten, welche ibm 


| fonjt durdaus nicht eigen waren. 


An dem Pariſer Leben fonnte er ſich nid: 
fatt feben. Alles fand er zu jener Zeit 
interefjant, das Volfsgewiibl, die Typen und 
CStimmungen in den belebten Parks und in 
den ſchwülen Gajjen, die Eleganz der großen 
Boulevards und die elenden Baraden der 
Vorftddte, den Aushli€ vom Montmartre über 


| dad Steinmeer bei verfdiedenartiger Beleuchtung, 


— und alles war carafteriftif fiir Paris, 
von den Thermen im Palais Cliny bis yu den 
kleinen Gorjtadttbeatern und dem lebhaften 
Gewimmel auf dem Lebfudenmartte. 

Paris zeigte fid aud in jenen Tagen in 
fener beriidendften Frühlingstracht — laue 
Abende, Blumenduft, die Boulevards wie ein 
Salon und die Gärten wie eine einzige große 
Kinderſtube, und Lebensluſt und Freude, wohin 
man fant. 

Da war feine Beit, im Simmer vor der 
Yeinwand zu fifen und die Lippe hängen yu 
lajjfen, weil man nicht alles fonnte, tras man 


zu können fich wünſchte, feine Beit an die Su: 


funft gu denfen, wo die Gegenwart fo herrlich 
war, da hieß es binaudeilen, den intenfiven 
Rauſch des Augenblicks geniegen. 

Emma hielt fic mehr als je von ung ent: 
fernt. Cie legte feinen Wert darauf, etivad 
zu feben oder mitzumachen. In ihren Mugen 
war Baris ficher nichts weniger als binreifend. 
Und fie wurde bleids, befam eingeſunkent 
Wangen und dunfle Schatten um die Augen. 


ja. 


„Was feblt Shonen? Sind Sie frank, Frau 
Aſp?“ frug ich eines Abends, als fie in das 
Heftaurant fam. 

„O nein, ſicherlich nicht; es wird mix nur 
ſchwer, nachts yu ſchlafen. Es iſt fo geräuſch— 
voll auf der Straße,“ antwortete ſie mit ihrem 
gewohnten ruhigen, ergebenen Wusdrud. 

Aja ſaß uns gegenüber. Ich bemerlte, 
wie ſie bei meiner Frage aufſah und Emma 
mit einem verwunderten Blick betrachtete. Sie 
ſchien bisher gar nicht bemerkt zu haben, wie 
abgezehrt und blaß Emma ausſah. Sie errötete, 
war dann über Tiſch zerſtreut, aß wenig, ließ 
den Wein ſo gut wie unberührt ſtehen, und 
als Edvard eine Promenade vorſchlug, wollte 
ſie nicht mitlommen. 

Sie ging dann doch, und wie gewöhnlich 
hatten er und ſie einen Vorſprung vor uns 
anderen. Das langſame Gehen fiel ihr ſo 
ſchwer — bei jeder Straßenecke mußten ſie 
ſtehen bleiben und auf uns warten, und hatten 
wir ſie erreicht, ſo waren ſie gleich wieder 
voran. 

„Wohin wollen Sie gehen?“ fragte ich Frau 
Aſp, als wir alle beratſchlagend an einer 
Straßenecke ſtanden. 

„O ich will gar nichts, — ich habe keine 
Stimme hier unter dieſen Menſchen, wie Sie 
wohl bemerlt haben werden,” erwiderte fie 
leiſe, fo bak nur id) fie hören fonnte. 

Cie und id waren hinter den anderen 
juriidgeblieben. Und obne irgendwelche Cin: 
leitung, obne mic) anjufeben, fubr fie fort: 

„Ich bin eine Null unter ibnen, ich habe 
bier nits ju tun. Es ift cin Ungliid, dah 
Edvard mid jur Frau befommen bat. Ich 
fann ibm bad nicht fein, was er von feiner 
Gefährtin verlangt.” 

„Warum nicht? 
Willens!“ 

Sie ſchüttelte den Kopf und fuhr ruhig 
und lalt fort: 

„Nein, dies beruht auf Verſchiedenartigleit 
der Naturen. 
was ſeine Gedanken ausfüllt, mir fremd iſt, 
und daß er nicht mir ſagt, was er fühlt. Ich 
möchte ja gern alles für ihn tun, aber ich 
fann ja nicht. Ich bin ihm nur cin Hindernis, 
bad ihm ben Weg erſchwert und fann es bod 
nicht ändern.“ 


Das iſt Sache des 


Ich weiß ſehr wohl, daß das, 








95 


Was follte ich ertwidern? Was id) dadhte, 
fonnte ich) ibr nicht ſagen. Auch begehrte fie 
ja tweder Troft nod) Rat, nur ausfpreden 
mufte fie’s einmal, was ihr beſtändiger Ge- 
danke war. 

Wieder hatten die Borangebenden uns 
erivartet, fo dap fie mir nur nod zuflüſtern 
fonnte: 

„Ich kann — ich will fie nicht feben.” 

„Ich will nad Hauſe,“ fagte fie ju 
Edvard. 

Nein, krank fet fie gar nicht, habe nur 
feine Luft mebr, draußen yu fein. Und das 
jagte fie ganz offen, fie, die fonft fo Nach— 
giebige und Rückſichtsvolle. 

Sie gab mir die Hand und fagte den 
anderen gute Nacht. Wjas Anweſenheit aber 
jebien fie nicht 3u bemerfen, fab fie nicht an, 
wandte ibr den Rücken und ging. 

Edvard jolgte ibr. Aber aud Wja hatte 
nun die Luft verloren, fic zu unterbalten, und 
fo traten wir beide den Ruckweg an. 

Sie war erregt und nervös. Ihre fröhliche 
Laune war wie abgeftreift. In ihre Gedanten 
verticft, birte fie gar nicht, was ich ſprach, 
bis ich endlich fragte: 

„Was denfen Sie von Sdvard?” 

Da antwortete fle obne einen Augen: 
bli€ ded Schwankens und ohne mid anzu— 
ſehen: 

„Was ſoll ich von ihm denfen, ald dah 
er nie dahin gelangen wird, fich frei gu fühlen 
und fic) ganz hinzugeben, niemals das Bejte 
und Tieffte aus fich berausholen wird, dad, 
was feine Anjtrenqung, keine Urbeit jutage 
fordert, twas ganz von felbjt von da drinnen 
fommt, aus dem allerinnerften Herzen. Cr 
wird bingeben und fich grämen und fic ser: 
fplittern und jinfen — er gebdrt gu denen, 
bie leicht finfen, weil fie mebr von fic ver- 
angen alS fie geben fonnen. Und andere 
werden gute Arbeiten madden, und er wird 
suriidbleiben — und ic fann es nicht dndern, 
ih darf es ja nicht ändern.“ 

Tie letzten Worte hatte fie kaum hervor— 
zuſtammeln vermocht. Die Stimme ftodte ihr 
in der Kehle, und ſie brach in Tränen aus, 
in kindiſche, unaufhaltſame Tränen. 

Das war eine andere Stimmung, als die 
in Emmas Klage Ausdruck gefunden. 


96 


* 


„Sie halten mich wohl für närriſch, daß 
ich mich auf offener Straße hinſtelle und heule?“ 


fuhr ſie fort, in dem Beſtreben, zu verwiſchen, 


was ſie ſoeben geſagt. „Die Pariſer Luft hat 
mich ſo nervös gemacht. Und ich plappere ja 
ſoviel, daß es keine Bedeutung hat, was ich 
plappere.“ 

Sie ſuchte ihren gewöhnlichen Ton anzu— 
ſchlagen, aber ihre Stimme zitterte. 

„Muß es einen nicht irritieren, zu ſehen, 
wie ein Menſch Talent hat und nichts daraus 
zu machen verſteht? Man kann ſich einer 
geringfügigeren Urſache wegen aufregen. Ich 
glaube nicht, daß Edvard je Glück haben wird, 
er macht ſich die Arbeit gar ſo ſchwer.“ 

Und ſie fuhr fort, darüber zu ſprechen, wie 
er ſich durch ſeine fortwährenden Kämpfe, 
ſeine Selbſtquälerei martere. Aber ihre Ge— 
danken gingen nicht denſelben Weg wie ihre 
Worte. 

„Ich fahre aufs Land,“ war der ziemlich 
überraſchende Schluß, nachdem fie bisher aus- 
ſchließlich von Edvard und faſt ausſchließlich 
von ſeiner Künſtlerſchaft geſprochen. 

„Und er? Wie, glauben Sie, ſoll ſich ſein 
Leben geſtalten?“ 

Cie ſah mich forſchend an. 

„Das ift es ja — es ift zu traurig!” 
brad fie nach einer Weile aus, von neuem 
jajt weinend. „Was foll id tun? Glauben 
Sie, dak ic ihr feindlich gejinnt bin, glauben 
Sie, dak aud nur eine Spur von Berechnung 
darin gewejen? Und wenn er untergebt und 


ich fonnte ibm auf trodenes Land belfen, fo | 


dürfte ich es ja dod nicht, weil ich nicht das 
Recht hatte, es gu verfuden. Und er gebt 
unter — geiftiq gebt er unter — er braudt 
cine andere Art Energie, alg er fie befigt, um 
fid) in feiner Lage oben zu balten. 

Ich vertrage dieje Urt Refignation nidt — 
Opjerivilligfeit nennt man fie aud. Gott 
bebitte einen davor! Wahrhaftig, es dantt 
einem niemand fiir bas Opfer — am wenigſten 
bie, fiir Die man es bringt. Cie tritt einen 
nod unter die Füße, ja, das tut fie. Und fo 
qleitet cinem bas Leben aus den Handen, und 
man muß ſich fo durchſchlagen obne jede 
Lebensluſt, die ja auch Lebenskraft gibt, und 


Aja. 


das alles einzig und allein darum, weil es ſo 
ſein ſoll. 
Was kümmern mid ſeine Bilder! O ja, 
! fie lümmern mid wobl auc, ſelbſtverſtändlich . . . 
Gr bat eben nicht die Kraft, bart gu fein, 
er gehört yu denen, die ohne Licht [eben können, 
die aber darum nur balb leben. Wann lebt 
er denn? Nur, wenn er fiir einen Augenblick 
bergipt, wie es mit ibm fteht — es ijt fo 
jammervoll, fo unſäglich jammervoll, wenn 
man fein ganzes Leben darauf aufbauen muß, 
fid) gu betduben, fid) ſelbſt zu entfliehen. Das 
heißt von Morphium leben, das heißt tot fein.” 
Sie ſprach fo verfdieden von bem, twas id 
vorher bon iby gehört, fo verjdieden in Ton 
wie in Worten, Yd erfannte die frobfinnige 
Aja nicht wieder. Aber nun hatte fie fidd in 
eine getwiffe Rube geſprochen; es war nicht 
mebr der entjagende Rummer in ihrem Tonjall, 
fondern etwas Hartes und Rauhes, als fie 
fortfuhr: 
„Ich will Emma gewiß nichts Böſes zu— 
fügen. Das iſt eben das Unglück, daß ich 
nicht das Herz habe, irgend einem Menſchen 





etwas Böſes ju tun. 

„Legen Sie keinen Wert auf meine Worte,“ 
fügte fie hinzu. „Ich ſchwatze ing Blaue 
hinein. Übrigens können Sie beruhigt ſein, 
ich werde mich verſtändig benehmen. Ich 
weiß, was ich will, und ich kann tun, was 
ich will.“ 

„Was meinen Sie damit?“ 

Aber auf dieſe Frage erhielt ich keine 
Antwort. In dieſem Augenblick rief eine 
kraftvolle Baßſtimme quer über die Straße: 

„Diener, Fraulein Borgitrim. Wohin?“ 

Es war Richert. Er kam zu uns herüber, 
wie immer ſtrahlend von Geſundheit. 

„Ich will nach Hauſe!“ 

„Nach Hauſe geht man des Morgens!“ 
lachte er. „Nein, wir wollen noch beiſammen 
bleiben.“ 

Ich ſagte „Gute Nacht“ und ſah noch, 
wie ſie ſich den großen Boulevards zuwendeten. 
In dieſem Augenblick fiel mir ein, daß er viel— 
leicht zur rechten Stunde gekommen ſei. 

Aber ihr würde wohl dieſer Einfall ſchwer— 
lich kommen. (Schluß folat.) 


— — 


97 


Ver CoIner Prauentag. 


Bon 


Helene Tange. 
Nachdrud verboten. peat 


XS ebr vielleicht als alle anderen Frauenverbainde hat der Allgemeine 
Deutſche Frauenverein in feinen Beſtrebungen ftets die enge Verbindung 
awe Wwifden Bildung und fosialer Stellung der Frau betont. Wenn man 
früher dieſen Zufammenbang vor allem in bezug auf die Berujfstitigfeit der Frau 
bervorbob, wo er ja auf der Hand liegt, gilt es jest — und das leuchtet den meijten 
Frauen viel weniger cin — die Bildungsqrundlagen ju ſchaffen für den Cintritt der 
Arau in das öffentliche Leben, fiir ibre Aufgaben als Biirgerin in Gemeinde und 
Staat. Die Betonung diejes Zuſammenhangs trat in den Verbandlungen der 
22. Generalverjammlung des Allgemeinen Deutſchen Frauenvereins und des damit 
verbundenen öffentlichen Frauentages in Cöln (27.—30. September) immer wieder 
bervor. 

Die Generalverjammlung bot zunächſt die notwendigen Berichte über die laufenden 
Geſchäfte und die jtindigen Arbeitsqebiete des Vereins: Realgymnaſium, Rechtsſchutz, 
Stipendientommijfion, Kaſſe. Am iibrigen aber lagen auch ibre Verbandlungen durchaus 
in Der angegebenen Richtung. 

Von der gefamten deutſchen Frauenbewegung wird es als eine der nächſten 
Aufgaben betrachtet, das fommunale Arbeitsfeld der Frau dure) cine möglichſt breite 
und rege Agitation yu erweitern. Schon die Eiſenacher Generalverfanumlung vor zwei 
Jahren batte beſchloſſen, durd ein Flugblatt fiir den Cintritt der Frau in Armen: 
und Waifenpflege in breiteften Kreiſen zu wirken. Das Flugblatt, das zugleich 
Propaganda: und erjtes Orientierungsmittel fiir die Frauen felbft fein follte, ijt in 
40 000 Eremplaren verbreitet worden und hat, wie veriichert wird, überall gute Dienite 
qetan. In ähnlicher Weife foll jest De Zulaſſung der Frauen zur fommunalen 
Schulverwaltung in Angriff genommen werden. Schon vor swei Jabren hatte der 
Allgemeine Deutiche Lebrerinnenverein diefe in einzelnen Frauens und Lehrerinnen— 
vereinen ſchon vielfach erörterte Frage als Verbandsthema feinen Sweigvereinen yur 
Bearbeitung gejtellt. Es fam auf der lester Generalverjammlung der deutſchen 
Yebrerinnen in Dresden zur Verhandlung. Innerhalb des Bundes Deutſcher Frauen: 
vereine bat der Verein Frauenbildung: Frauenftudiume die Frage durch einen Antrag 
an Die Wiesbadener Generalverjanunling anf die Tagesordnung gebracht. Der 
Allgemeine Deutide Frauenverein wird in Erfüllung diefer Aufgabe nun feinerjeits 
verjuchen, durch cin Flugblatt die Frauen ſelbſt — für die Lebrerinnen ift es bereits 
geſchehen (val. Februarbeft des vorigen Jabrgangs dev Frau) — über die Notwendigfeit 
und die Art ihrer Mitarbeit in der formmunalen Schulverwaltung aufzuklären und ihnen 

7 





98 Der Cölner Fraucntag. 


die in Der Organifation der fommumalen Körperſchaften begründeten Wege fiir ibren 
Cintritt in dicfe Arbeit nach Möglichkeit ju zeigen. 

Mnf dem Gebiet der fosialen Erziehung liegt auch cine andere Aufgabe, die der 
Allgemeine Deutſche Frauenverein durch feine Tagung in Cöln in fein Arbeitsprogramm 
aufgenommen bat: die Bekämpfung des AlFoholismus durch die Schule. Nach dem 
Grundfag von Virs. Mary Hunt, der Borkimpferin diefer Bewegung in den 
Vereinigten Staaten: „J do not want preaching, I want teaching“, find wir der 
Uberzeugung, daß die Veranderung der Trinffitten am wirkſamſten durd die Erziehung 
herbeigeführt werden fann. Cine Kommiſſion foll mit Hilfe gleichſtrebender Lebrerinnen 
und Lehrer unterfuchen, was in deutſchen Schulen bereits nach diefer Nichtung bin 
geſchieht und eventuell weitere Schritte anbabnen belfen. | 

Auch auf einem Gebiet weiblicher Berufstitigheit, auf dem der Dilettantismus 
der Vorbilbung yu einer ſchweren Gefabr yu werden drobt, ijt ſchon feit längerer eit 
dure den Allgemeinen Deutſchen Frauenverein gearbeitet worden: Ju Eiſenach war 
befcblofjen, den Reformverjuchen in der wweltlichen Krankenpflege dic Unterjtiigung des 
Vereins, foweit das möglich ijt, 3u gqewabren. Frau Elsbeth KRrufenberg, die 
damals mit dieſer Aufgabe betraut wurde, bat feitbem an den Organifationsverjuchen 
der freien Pflegerinnen cifriq mitgearbeitet. Aus ihrem Bericht über die Fortichritte 
auf diefem Gebiet und der fic) daran ſchließenden Disfujfion ging bervor, daß die 
Notwendigfeit einer ftaatlid) qarantierten Befabiqung cinerfeits, einer freteren und 
geſicherteren Lebensjtellung der Pflegerinnen andererfeits yu cinem Progranunpuntt der 
Offentlicen Meinung zu werden beginnt. 

* * 
* 

Generalverſammlungen mit ihren vielen rein geſchäftlichen Verhandlungen, mit 
den mancherlei notwendigen und zeitraubenden Formalitäten find meiſt nicht geeignet, 
den Draußenſtehenden die Gedanken, die der Arbeit des Vereins ihren inneren 
Zuſammenhang geben, in ihrer Weite und Fülle nahe zu bringen. Aus dieſer Erkenntnis 
heraus hat man ſchon ſeit lange mit ſolchen Verſammlungen einen öffentlichen Frauentag 
verbunden, der ein Geſamtbild der Ziele und der aktuellen Aufgaben der Frauen— 
bewegung aufrollt. Der Cölner Frauentag hat denn auch die Fühlung mit den 
Frauen und Männern von Cöln in ſeltener und unſere Erwartungen weit übertreffender 
Weiſe hergeſtellt. 

Auch hier ſtanden die Vorträge unter dem Grundgedanken, daß die ganze 
Geſtaltung des ſozialen Lebens und die Stellung der Frau innerhalb ſeiner Rechts— 
ordnung im engſten Zuſammenhang mit Bildungsfragen ſtehe, und zwar ganz beſonders 
mit der von unſerer Zeit mehr als je geforderten Heranbildung zum ſozialen Denken. 
Unter dieſem Geſichtspunkt ſtand der Vortrag von Helene von Forſter-Nürnberg: 
„Wie erzieht das Haus für das ſoziale Leben?” Der Zuſammenhang von Berufs— 
bildung und Berufsſtellung — oder, was bei der Frauenarbeit vielfach noch dasſelbe 
bedeutet, Berufsnot — war das Hauptergebnis der Ausführungen von Alice 
Salomon über „Frauenlöhne“. Dak die Mitarbeit der Frau in der Wohlfahrts— 
pflege ſich ſozialpolitiſch vertieft in engem Anſchluß an ihre wachfende geiſtige und 
praktiſche Schulung fiir und durch dieſe Arbeit, jeigte die Schilderung von Marie 
Hecht über die „ſoziale Frauentatigfeit im Often Deutſchlands“. Auch die Betractung 


Der Cölner Frauentaa. 99 


der Cittlicfeitsfrage in dem Vortrag von Ika Frendenberg über ,,Moderne’ 
Sittlichfeitsprobleme’!) ging einmal nidt von der hygieniſchen oder wirtſchaftlichen 
Seite der Frage aus, fondern beleuchtete die feinen inneren Zuſammenhänge zwiſchen 
Weltanſchauung und Sittlichfeit, die unter den groben Zügen des fozialen Ausdrucks 
dieſer Probleme fich oft verbergen. Die Aufgaben der Frauenbewegung in bezug auf 
dieje pſychologiſchen Grundlagen der Sittlichfeitsfrage ſuchte auch fie in der Erhöhung 
aller geiſtigen Intereſſen und Fähigkeiten der Frau durch eine tiefere und geiſtig 
fraftiqere Erziehung. Und der VBortrag „Die Frau als Bilrgerin,” der die Forderung 
der vollen politiſchen Rechte fiir die Frau vertrat, wies zugleich nach, daß nach der 
bisherigen Entwidhing der Dinge in Deutſchland die Betonung des ftaatsrectlichen 
Standpunkts ibve Wirkung verfeblen müßte, wenn nicht von Seiten der Frauen fozial- 
politiſch wertvolle, anf qriindlicher politiferer Bildung berubende Leiftungen hinzu— 
kämen. 

Selbſtverſtändlich bedeutet dieſe allen Vorträgen gemeinſame Grundanſchauung 
über die Verknüpfung unſeres Fortſchrittes mit geiſtigen Vorbedingungen keineswegs 
eine Verkennung der anderen, für den Realpolitiker mehr in die Augen ſpringenden 
außeren Faktoren. Aber andererſeits wird es dod, je mehr die Frauenbewegung ſich 
in die Breite entwickelt, eine ernſte Gefahr für ſie, daß man über dem Fordern das 
Arbeiten vergißt, daß man neue Inſtitutionen ſchaffen will, ehe die Menſchen dafür 
von innen heraus reif geworden ſind. Schon hat man damit manchen Erfolg illuſoriſch 
gemacht, manche Errungenſchaft wieder in Frage geſtellt. Solchem gefährlichen „real— 
politiſchen“ Dilettieren gegenüber kann die Notwendigkeit ſozialpolitiſcher Schulung 
gar nicht ſtark genug betont werden. 

Vielleicht liegt der Grund fiir dieſe Verdeckung der wirklichen praktiſchen Schwierig— 
keiten des Fortſchritts unter bequemen und leicht yu handhabenden Schlagworten darin, 
daß die Frauenbewegung zu viel mit Propagandaverſammlungen arbeitet, die in 
Reſolutionen oder Petitionen ein greifbares Reſultat aufweiſen wollen, um auf die 
oft in fo naiver Weife geftellte Frage: „Was bat der Verein getan?” cine — ebenjo 
naive — Antwort bereit yu baben. Cine Musfprache über die Sittlichkeitsfrage, die 
der Verein in Cöln in geſchloſſener Sigung veranjtaltete, bewies, wie viel fruchtbarer 
unter Umſtänden cine Beratung unter denen ift, die auf bejtimmten Gebieten gearbcitet 
baben. Das NHefultat diefer Sigung war die Aufnabme einer Anregung der Tilfiter 
Sweigvereine de3 Allg. Deutſchen Fraucnvereing, die Frauen möchten eine gemeinfame 
Uftion gegen § 3616 des Reichsſtrafgeſetzbuches unternehmen. Aus cinem Referat 
von Frau Dr. Flemming: Hamburg über eine Reform der Reglementierung wurden 
einzelne Punkte als allen Richtungen der Sittlichkeitsbewegung gemeinjame angenommen. 
Im Anfeblug an den öffentlichen Vortrag über die SittlidFeitsfrage zeigte fic) die 
Stellung des Bereins auch nad aufen hin in der entſchiedenen Zurückweiſung des 
Rates, Den einer der Diskuffionsredner den Frauen erteilte: fie möchten von der ganzen 
Atage der Reglementierung ,,die Finger laſſen“. Man befannte ſich unter lebhafteſter 
Sujtimmung zu der Anſchauung, dag gerade bier eine unabweisbare Pflicht fiir die 


Frauen liege. , 
— 


) Wir haben die Freude, den in Coln mit fo großem Beifall aufgenommenen Vortrag ſchon in 
dieſer Rummer unſerem Leſerkreis bieten zu köͤnnen. Da auch verſchiedene andere Vorträge der Tagung 
an dieſer Stelle veröfſentlicht werden ſollen, fo verzichten wir hier auf bie Wiedergabe des Inhalts. 

7* 


100 Denhwilrdigteiten eines Wrbeiters. 


Wenn eine öffentliche Verfammlung ihrer Beftimmung entſprechen ſoll, fo muh 
fie jene lebendige Fuühlung zwiſchen Rednern und Hörern bhergeftellt haben, die allein 
cine Biirgfchaft fiir bas Weiterwirfen der Qocen gewabrt. Bon dieſem Gejichtspuntt 
aus war die Cölner Tagung ein voller Erfolg und wird ju den ſchönſten Erinnerungen 
ded Vereind zählen. Wenn diefe Fühlung fics fo febnell berjtellte, fo fag das vor 
allem an dem Vertrauen, das uns in Cöln entgegengebradt wurde. Und died 
Vertrauen, das fic) an die bisherige Entwidlung unfered Vereins fniipfte, an den 
Geiſt, von dem feine Arbeit geleitet worden ijt, war uns inumer wieder wie ein 
Vermächtnis unferer fo tief betranerten Führerin, Auguſte Sdmidt, deren Büſte, 
von Grin umgeben, fic) neben bem Vorftandstifd) erhob, deren Name immer wieder 
durch die Verbandlungen flang. Dies Vertrauen hat dem Verein die Statte bereitet. 
Und wenn ganz in der bei Mannerfongreffen itblichen Weiſe Regierung und ſtädtiſche 
Behörden den Verein begrüßten, wenn die Stadt Cöln ibn durch glänzende Gajt- 
freundfebaft ebrte, fo bradjte der Berlauf der ganzen Tagung die Uberzeugung, daß 
man mit den Frauen al$ einem fiir das öffentliche Leben bedeutjamen Faktor zu 
rechnen beginnt, daß man fie ernftlich willkommen heißt, wo fie ernſtlich ibren Wnteil 
an den ſozialen Pflichten auf ſich nehmen wollen. Das Gefiibl eines warmen Danes 
gegen das Stadtoberbaupt, Herrn Oberbiirgermeijter Beder, und feine Frau, die als 
Vorfigende des Ortsausſchuſſes fics bei den vorbereitenden UArbeiten an die Spige 
gejtellt hatte, gegen Frl. Mathilde von Meviffen und Frl. Elifabeth von Mumm 
und ibre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wird fic mit der ſchönen Crinnerung an 
die Cilner Tagung dauernd verfniipfen. 


Venkwadrdigheiten eines Arbeiters. 


Bon 


W. Fred. 


Nachdruck verboten. 


in nitchterne3, unromantiſches Leben wird aufgerollt. Man hört von einer 
m gedriidten Jugend, herabgefommenen Cltern, einer Erziehung, im der die 
C4 YPritgelfuppe die größte Rolle fpielt, und einem UArbeiterdafein, dad mit dem 
fiinfjebnten Lebensjabre in Not, Elend und Demiitiqung beginnt und mit dent fechsigiten 
auf die gleiche Weije beendet wird. Umberwandern und Arbeitsfuce, Ounger und das 
milbjame Wufrechterbalten des Lebens, Krantheit und ein wenig Sonntagsvergnügen 
der allerbefcheidenjten Art, bas ift alles, woran fid) der Sechzigjährige erinnert, der 
dieſe ,, Denkwiirdigfeiten eines Arbeiters“ aufgefchrieben bat, als feine Hinde die 
jbwere Fabrifarbeit nicht mebr leiſten können und eine neue Zeit den alten Mann 
aus Dem Berufe gedringt hat. Cin nüchternes und unromantifdres Leben. Und dod 
bat diefer alte Mann, cin Here Karl Fifcher, in den Tagen feiner Invalidität, zwiſchen 
geringer Landarbeit, die er fiir feine Verwandten, bei denen er lebt, yu verrichten hat, 
den allerbeftiqften Drang verfpiirt, aufjunotieren, was er erlebt hat, wie fics ibm und 





Denlwürdigleiten cines Arbeiters. 101 


gerade ihm das Leben gewieſen bat. Nur ein Durchſchnittsmenſch ijt er geweſen und 
nur cin Durdfdnittsleben bat er gelebt, und dod) bat Herr Paul Göhre, der died 
Buch der Denkwiirdigfciten im Verlage von Eugen Diederichs (Leipzig) jest heraus— 
gegeben hat, durch dieſe Veröffentlichung der deutſchen Nationalliteratur eine ungemein 
wertvolle Gabe vermittelt. 

Das Schinjte, was von diefem Buche yu ſagen ijt, mag vielleidt fein, dah es 
ein fo ganz unliterariſches Buch iſt. Nicht cin Ton in diefem Buche ijt fiir den Lefer 
ummoduliert, nicht cine Setle verdantt einer Pofe die Entitebung. Aus den tiefiten 
Drängen kommt jedes Wort und aus einer barten Erfahrung und vielem Griibeln die 
paar Reflerionen, die eS enthalt. Und deren find gar wenige in dem diden Bande; 
denn dem Arbeiter Karl Fiſcher ijt gar nichts daran geleqen, eine Moral zu geben, 
und nod weniger daran, ſich in cinem befonderen Lichte yu zeigen. Er ſchrieb einfach 
auf, was ein Durchſchnittsmenſch, ciner, der um das tägliche Brot ſchuften muß, in 
den Jabren von 1841 bis 1885 erduldet, und indem er das getan bat, bat er uns 
den grofen Dienft erwiefen, die typiſchen Leiden cines arbeitenden Manned unferer 
Zeit in einer Weife ſinnlich zu geftalten, wie es Feinem Dichter hatte gelingen 
fdnnen. 

Biograpbhien und Autobiographien beriibmter Manner und folcher, die fic dafiir 
balten, baben wir genug. Auch an Werfen, in denen einer feine Erlebniffe innerhalb 
eines Berufstreifes, den er im fpdteren Leben überwunden bat, febildert, ijt fein 
Mangel. Dak aber jemand, der fein Lebtag Arbeiter gewejen ijt und Arbeiter 
qeblieben ijt, nod während des Sehreibens nicht über den Dingen ſteht, die er 
befcbreibt — das ijt das Neue und das Wertvolle an diefen Denfiviirdigfeiten. Ihr 
Ton ift der einfachſte; manchmal bebt er fich cin wenig, wenn der Menſch nod) in der 
Erinnerung der Leiden, die er ausgeftanden bat, de3 Unrechtes, das er dunkel empfindet, 
ein Beben verfpiirt; aber das gefchieht nur wenige Male, und fonft herrſcht ein fach- 
lier und rubiger Ton vor, der fo ebrlich und natiirlid) ijt, daß es der einleitenden 
Verſicherungen Göhres, er hatte nichts an dem Terte gedndert, gar nicht bedarf. Der 
Stil aber, in dem diefe Denkiwiirdigfeiten aufgezeichnet find, fann mit feinem befferen 
Worte charafterifiert werden, als mit dem des Herausgebers, der an die Luther: Bibel 
erinnert. Qn der Tat, man merft es auf jeder Seite, dag dieſes Buch die maßgebende 
Lektüre des Arbeiters Karl Fiſcher geweſen iſt. Hart und tnorrig, dann wieder etwas 
nachdenklich und trog allem fo gar nicht gefiiblsfeliq und gar nicht künſtlich find die 
Worte dieſer Denfiwiirdigfciten, ob nun die Jugendjabre gejdildert werden, ob Menſchen 
gezeichnet, die Dem Schreiber begegnet find, oder eigene Mühſal, eigenes Leid mitgeteilt. 
Daf diefem Buche jegliche Sentimentalitat feblt, jegliches Mitleid mit der eigenen Perjon, 
ijt vielleicht der allerſchönſte Beweis fiir die Kraft ded Menſchen, der da von fich felbjt 
erzaählt. Dieſe Harte und Niichternbeit gibt auch des Karl Fiſcher ganze Weltanſchauung, 
foweit er eine im laren Bewußtſein bat, und gibt den Scbliiffel dazu, wie diefes Buch 
entitanden ift. Dieſer Arbeiter gebdrt ciner Beit an, in der die Wertſchätzung der 
einzelnen Snbdividualitét nod gar nicht body war. Der Kampf des Einzelnen gegen 
ſeine Zeit und Mitwelt, der jeded moderne Bekenntnisbuch charafterifiert, ijt bier 
faum gejtreift. Hier ift der Kampf cines Standes, und an anderen Möglichkeiten 
und der beutigen Niiance gemejjen, fann man nur ſagen: ein Langit hiſtoriſch ge— 
wordener Kampf. Durch diefe ganzen Denkwürdigkeiten qebt immer wieder ein höchſt 
primitiv-fosialer Sug. Man veritebe mich recht: es ijt feine Spur von ſozialiſtiſchen 


ire Denkwürdigkeiten eines Arbciters. 


Meinungen in dieſen Denkwürdigkeiten. Das ſozialiſtiſche Bewußtſein, das ſich aber 
dennoch und unabſichtlich ausdrückt, liegt eben darin, daß auf den einzelnen Menſchen 
fo gar keine Obacht gegeben wird. Kaum drei—- oder viermal im ganzen Verlaufe 
dieſer proletariſchen Memoiren wird ein Einzelſchickſal erzählt. Und überdenkt man, 
was überhaupt dieſem Manne erzählenswert erſchienen iſt, als er am Lebensabend ſein 
Taſein rekapitulierte, ſo findet man: er bat nur Typiſches einer Aufzeichnung wert 
gefunden, nur das, was einem jeden ſeines Standes in dieſen Jahren paſſiert iſt, hat 
paffieren müſſen. Und weil er vielleicht ein Dichter geworden ware, wenn er in einen 
anderen Stand bhincingewadjen ware oder cin halbes Jabrbundert fpater fein Leben 
geführt bitte, fo lief es thn nicdt ruben, und er mußte das Bild der Welt, wie es 
ſich in ibm geformt batte, malen. Aber das Bild” der Welt war ibm nicht das Bild 
eines einzelnen, ſondern das Bild der vielen, der grofen, bart um fargen Lobn 
ſchaffenden Schar. 

Die Jugend wird erzählt; das Wenige, was er von den Eltern und Großeltern 
weiß, ſchreibt er ganz nüchtern auf. Die Familie iſt den Weg nach abwärts gegangen, 
und ſie war ganz unten, als er ſelbſt ſein Daſein begann. Er hätte den Stamm vielleicht 
wieder hinaufführen ſollen; aber die Säfte waren ſchon faſt verſiegt. Der Vater ein Spieler 
und Spekulant, der immer ſeine Lebenslage verbeſſern will und in einen immer tieferen 
Sumpf gerät. Die Mutter von edlerer Art, aber in der Ehe erniedrigt, abgeſtumpft, 
verbraucht. Die Voreltern Bürger, ſelbſtändige Menſchen, die das wechſelnde Schickſal 
jener Jahre bald in die Höhe bringt, bald in die Tiefe treibt. Auch Arbeiter gibt 
es unter ihnen und mancherlei unaufgeklärtes Geſchick. Das bekümmert den Memoiren— 
ſchreiber wenig, und er macht auch nicht viele Bemerkungen über die ſchlechte Ehe, die 
der Vater und die Mutter geführt haben. Wie dieſer Karl Fiſcher überhaupt Menſch— 
liſches beurteilt, das iſt etwas Wunderſchönes. Er hat jene Weisheit, die Menſchen 
höherer Stände ſelten gegeben iſt und in dieſer Natürlichkeit auch ſelten gegeben ſein 
kann; denn fie fommt aus dem Zwange barter äußerer Erlebniſſe. Vom Großvater, der 
einen Treubruch begangen hat, ſteht auf der erſten Seite der Denkwürdigkeiten: „Dieſes 
Stück, was mein Großvater da gemacht hat, das hat mir in meiner Jugendzeit, und 
noch viele Jahre nachher gar nicht gefallen, und ich wünſchte oft, da ich ohnehin ſo 
wenig davon wußte, ich hatte Das auch nicht gehört; denn mir kam's nicht anders vor, 
als unrecht und undankbar. Erſt fpater, als ich felber ſchon viele Jahre qearbeitet hatte, 
da machte ich mir andere Gedanfen davon, und da jab ich cin, daß ich meinem Grog: 
vater fein Richter nicht bin.” Und diefer Grindjag, „daß ich meinem Grofwater fein 
Richter nicht bin”, gebt durch das ganje Bud. Es iſt eine cinfiltige, primitive 
Pſpchologie, und in ihr birgt fich ein tiefed und ernjtes Nachdenken über die Grenze 
unferes Willens den Moralgeboten gegenüber. 

Man erfibrt font nicht viel fiber Großvater und Großmutter, denn die allerhand 
Spinnjtubengefcbichten, die Ddiefer Familie wie faſt jeder ihr dunfles Relief geben, 
werden nicht mitgeteilt, und Genaues wußte er nicht, „denn auch meine Mutter fprach 
ſonſt felten oder nie von ſolchen alten Geſchichten; fie hatte allescit genug anderes zu 
bedenken und gu tun”, Von den Eltern birt man naturgemäß mebr. Denn diefer 
beiden Leben ijt mit feinem eigenen aufs engite verknüpft, und was dicjer Menſch 
(und den meiſten von uns gebt ¢3 ja auf die gleiche Weife) in den friibejten 
Jahren erlebt bat, das gibt die feitejte Grundlage fiir die Art, in die er ſpäter 
hineinkommt; und wenn diefer Karl Fiſcher nicht eine fo kreuzunglückliche Ehe geſehen 


Denhwviirdigheiten eines Arbeiters. 103 


hätte, dann wäre er wohl kein ſo ernſter und harter und nüchterner Mann geworden. 
Mit einer Offenheit, die tief ans Herz greift, ſpricht er da aus, wie es mit ſeinen 
Eltern geweſen iſt. „Wenn ſich zweie ſtreiten, ſo hat nicht einer allein die Schuld, 
aber hier hatte mein Vater ſicherlich die meiſte; es war einfach ſcheußlich, wie er ſich 
gegen meine Mutter betragen hat, und wie er ſie behandelte, oft weder menſchlich noch 
viehiſch, ſondern einfach teufliſch. Es fällt mir gar nicht ſchwer, das von meinem 
Vater zu ſagen, aber es fällt mir ſchwer, meinen Vater und meine Mutter richtig zu 
beſchreiben, damit ſich niemand eine falſche Vorſtellung davon macht; denn mein Vater 
hat das mit der Wahrheit bei mir immer ſehr genau genommen.“ 

Der Niedergang der Familie ließ ſie durch mehrere Städte wandern. So ſetzt 
ſchon früh ein Nomadenleben ein, das er dann auch, ein ganz unreifer Burſche von 
dreizehn oder vierzehn Jahren, ſchon ſelbſtandig aufnehmen muß. Und mim lernt 
man die Geſchichte kennen, wie einer früh ein Mann wird, wenn er früh in jenem 
Kampfe ſteht, den man damals ja noch weder den Klaſſenkampf noch den Konkurrenz— 
kampf genannt hat. Er zieht auf der Landſtraße herum, arbeitet bald an einem Bahn— 
damm und bald an einer Flußbrücke, hilft Karren ſchieben und geht dann wieder die 
Landſtraßen entlang, von Herberge zu Herberge, von Arbeitsſtelle zum Spital. Manchmal 
hat der Lohn auch nicht gereicht, um das Logis oder die Koſt zu bezahlen, dann muß 
er natürlich dem Wirte durchbrennen, und ſeine Moral weiß allmählich wenig dagegen 
zu ſagen. Als es das erſtemal geſchieht, da macht es noch Eindruck auf ihn. Das 
erzählt er denn auch: „Mit Recht habe ich es immer für Glück gehalten, daß der 
Wirt an dieſem Morgen noch nicht aufgeſtanden war, denn zurückgehen konnte ich nicht 
mehr, und hätte er mich hindern wollen, da hätte ich mich gewehrt, und wenns ihm 
lein Spaß war, mir erſt recht nicht, aber lebendig hätte er das Geld von mir nicht 
gekriegt. Denn ich dachte nicht mehr an die andere Welt, von der ich in der Schule 
gehört und von der Jeſus Chriſtus ſo viel geſprochen hat, und war ſo nicht mehr, 
wie ich in die Fremde ging, wo ich die zwei Taler Reiſegeld viel lieber meiner Mutter 
dalaſſen wollte, und nachher meiner Tante damit aus der Not half, nein, das war 
vorbei, ſolche Dummheiten hatte man mir in Hanau gründlich abgewöhnt. Na, mein 
lieber Straß in Starkenburg, lebſt du noch, oder biſt du ſchon abgeſchieden aus dieſem 
Kampfe ums Daſein? Geld habe ich immer noch nicht, aber vergeſſen habe ich dich 
nicht, und daß ich dazumal habe bei dir Unterkommen gefunden. Ich habe immer 
noch das alte Notizbuch, was ich bei dir hatte, wo ich alles anſchrieb, da kann ich es 
immer noch ſehen, was ich verzehrt habe, und am Ende ſteht der Reſt 4 Taler und 
4 Sgr., dazu 7 Taler 26 Sgr. 3 Pp, macht zuſammen 12 Taler 3 Py. Schuld. Das 
war eine feblechte Tour fiir dich, aber ich fonnte felber nichts dafiir.” Ach weiß, 
nidt, ob es viel ſchlichtere Beferntnifje gibt als diefe Worte, in denen ohne jegliches 
VBeiwuptfein die ganze Lehre von der Willensunfreibeit der Notleidenden aus: 
geſprochen ijt. 


* * 


Mancherlei Menſchen miſcht das Leben in ſeine Geſellſchaft, aber nur wenige 
prägen ſich ihm ſo ein oder erſcheinen ihm ſo ſeltſam, daß er in den Denkwürdigkeiten 
von ihnen erzählt. Deſto genauer teilt er die Methoden der Arbeit mit, welchen Lohn 
er bekommen hat und wie man das meiſte aus der Arbeit herausbekommen konnte und 
was übrig blieb, wenn man cine Woche fang ſich gemüht batte, Meiſt ja nicht mehr, 


104 Penhwiirdighciten eines Arbeiters. 


als der Sdrenfenwirt die Werktage iiber gelieben batte und was man dann fiir die 
notdiirftigfte Kleidung brauchte. War aber cine Arbeit getan, fo mußte man miibfelig 
auf die nächſte Wanderſchaft geben, nach irgend cinem Ort, wo, wie man gebdrt hatte, 
cine Brücke gebaut, cine Eiſenbahn gefiibrt wurde. Die Zeit des Eiſenbahnbaues pragt 
ſich ja überhaupt aufs deutlichjte in dieſem Buche aus, jene Seiten, wo Arbeitskräfte 
geſucht waren und die qrifte Freigiigigheit der Tagelöhner etwas Selbſtverſtändliches 
und Notwendiges war. Mehr als fünfundzwanzig Sabre sieht Karl Fiſcher fren; und 
quer in Deutſchland herum, obne das Handwerk, das er cigentlicy gelernt bat, yu 
niigen. Cr war feblecht und recht Baeergejelle geworden, weil ja auch der Vater cine 
Baderei qebabt hatte. Aber wie er nur wenig von dem Handwerk verftand, fo bat er 
es auch faum zu anderem Sivede gebraucht, als um fic auf der Wanderſchaft ein 
Zehrgeld, die Bäckergroſchen, zu holen, wenn er ganz obne Mittel war. Die Krankbeit 
hat er auch fermen gelernt, nicht ecinmal, fondern immer wieder, und von manderlei 
Spitilern, quten und ſchlechten Arzten, Ordnung und feblechter Wirtichaft weif ex yu 
erzählen. Und wer das Buch in die Hand nimmt, wird mit vieler Bewegung leſen, 
wie er ſich cinmal von der Polizei bat beim Betteln abfangen laſſen müſſen, wm auf 
dem Untivege iiber das Gefängnis ing Spital yu fommen und furiert zu werden. Und 
dod ging es ibm nod beffer alg mandem anderen. So iſt wenigitens fein Gefiibl 
davon geweſen. Deshalh ijt ¢3 auch etwas tief Ergreifendes, wenn er von einem 
erzablt, der noc elender tar, dem das efle Leben noch beftiger zuſetzte und der auf 
feine Art in die Hobe kommen konnte. Das war ein Mann namens Scharentin, der 
mit ibm arbeitete, als er in Hinsbek Wagen zog. „Der arme Junge ging Anfang 
November wieder fo weg, wie er im Fritbjabr gekommen war, barfuß. Cr ſtammte 
aus Pommern und war zwiſchen 40 und 50 Jabre alt, und ſprach ziemlich durd die 
Naſe und hatte einen ganzen Kablfopf. Seine Kleidung beftand aus ciner Hoſe und 
einer Wejte, an welder ſich aber fein eingiger Knopf befand, und einem Rod, welden 
er fiber Der Bruſt an cinem einzelnen Knopfe zuknöpfen fonnte, und ciner* Miike obne 
Scirm; aber weiter batte er nichts, iweder Schuh, nod) PBantoffelu, noch Striimpfe, 
nod Hemd, noch Jade, nod) fonft was. Die Miitge ſetzte er felten auf, aber den Rod 
zog er jeden Morgen an, wenn er nach der Arbeit ging, wenn er aber bei feiner 
Rippfarre angelangt war, zog cr ibn wieder aus und legte ibn beifeite, bis er zum 
Frühſtück oder Mittag oder Feierabend wieder in die Budife ging, da zog ev ibn wieder 
an, und trug ibn immer zugeknöpft. Und wenn er mit ſeinem Rameraden angezottelt 
fam mit dem vollen Wagen und mußte fich ins Zottelzeug legen, da feuchtete einem 
die fable Platte entgeqen, und ſchon ganz von weitem fonnte man ibn daran erfernen, 
und an den bloßen Armen und der blofen Brujt, wenn ev einem entgegenfubr. Aber 
alle die Febler vergak man gleich, wenn man mit ihm verfebrte. Er hatte febon den 
ganzen Sommer fiber die Abjicht gebabt, fic) cin paar Hemden anzuſchaffen, aber er 
war nicht dazu gekommen. Aber alS der Sommer yu Ende ging, da machte man ibn. 
cines Abends ernithaft auf den Winter aufmerfiam, und daß er dod mindejtens Sade, 
Hemd und Fußwerk haben müßte. Da gab er Beifall und freut fich tiber die Teil- 
nahme und glaubte alles und fagte: ‚Ja, das iit wabr, ihr babt alle recht, ſo gebt 
es nicht mebr, das muß anders werden mit mir. Was der Menſch braucht, das muß 
er haben, aber Ordnung muß fein und Reinlichkeit. Ich babe mir das ſchon lange 
genug vorgenommen, das könnt ihr wabrbhaftiqen Gott glauben; aber ich fann nicht 
alles auf cinmal faufen, das gebt nicht, das müßt ibr bedenfen, dad gebt bloß nach 


* 


Denlwiirdighiten eines Arbeiters. 105 


und nad, da kann ich alles anſchaffen, was ich brauche; twenn ich jest bloß erft etwas 
babe, nachher gebt es ſchon beſſer. Aber zuerſt will id) ein paar Hemden haben, 
Schuhwerk, das bat nods Zeit. Da fragte ibn fein Landsmann, cin anderer Pommer 
mit einem großen, ſchwarzen Bollbart: Wann willſt du dir denn die Hemden ane 
ſchaffen?‘ Da fagte Scharentin: ‚Gleich zur nächſten Zablung’; da fragte fei Lands- 
mann: ,Wollen wir wetten, dah es nicht wabr iſt?‘ Aber wetten wollte Scarentin 
nicht und fagte, es ware nicht nötig. Da fragte ibn Milde: Du kriegſt aber sur 
Zablung dein Lebtag Fein Geld beraus, und der Kaufmann nimmt doch feine Puchinen, 
wie willjft du das denn machen? Da fagte Scharentin beleidiqt: ‚Du frägſt ja, als 
wenn du Feine hundert Fuß weit von bier yu Gaufe wärſt; das wirit du ſchon feben, 
wie ich's made.’ Aber da machte Scharentin Ernſt und zottelte wader den ganzen 
Tag und die ganze Zahlung, da gab's zum Feicrabend Geld und da befam er 2!'/, Taler 
ausbesablt, da bat er ſich in der Budife gar nicht feben laſſen und fam aud nicht jum 
Abendbrot, fondern hatte fic bloß ſeine Mütze aus der Bude gebolt und war gleich 
nad dem cine halbe Stunde entfernten Städtchen gegangen, um fich Hemden yu faufen, 
und hatte Ecinem Menſchen was davon geſagt. Da find wir beinabe die ganze Nacht 
aufgeblicben, aber Scharentin fam nicht wieder, und fam auc am Sonntag nicht 
wieder; aber am Montag hörte man im Schachte von einem einheimiſchen Arbeiter, 
dev hatte ibn am Samstag in dem Städtchen ſehen aus cinem Laden kommen mit einem 
Paket, und aud) cin anderer batte ibn am Sonntag Morgen fo im Städtchen gejeben. 
Aber mehr fonnte man nicht erfabren, und als er aud) am Montag nicht zurückkehrte, 
Da gingen wir vier Mann hod nach dem Abendejfen ins Städtchen, um ibn zu fuchen, 
und gingen zunächſt nad) dem Laden, aber fonnten weiter nichts erfahren, als dak er 
ſich dort cin Hemd fiir 15 Silbergroſchen gekauft hatte. Da gingen wir in die 
Wirtſchaften, und in einer davon hörten wir, da war er den ganjyen Sonntag 
geweſen und wäre erjt ſpät abends weggegangen und batte auch nach Hauſe gewollt, 
aber Das war alles, was man erfabren konnte, und gingen beforgt wieder nach 
unſeren Buden. 

Mber am Dienstag Abend fam er an, ganz erſchöpft, und fab kläglich aus, jum 
Erbarmen, und wußte felber wenig davon yu fagen, wo er gewejen war. Aber foviel 
wußte er zu fagen, dak er am Sonntag Ahend an dem verfebrten Ende aus der 
Stadt geqangen fein müßte, und hatte fic gan; und gar verlaufen, und war fein 
Weg und Steq mehr, und hatte fich gefallen in Graben und in einen Wafferqraben, 
und hatte fein Gemd und feine Miige verloren, und iſt liegen qeblieben und eingeſchlafen, 
und ift am bellften Tag wieder aufgewacht, und wußte nicht wo, und hat fein Geld 
mebr gebabt, und bat den ganzen Tag nach ſeinem Hemd und feiner Mütze gefucht, 
aber vergeblich, und hatte nicht Beſcheid gewußt und wire die Nacht da liegen ge— 
lieben, und hätte heut den ganzen Taq laufen müſſen und fragen, dah er wieder 
hergefunden hatte, Da nabm man ihn aus feiner Bude mit nach der Budife, und 
jeder war frob, da er wieder da war, und einer ließ ibm einen großen Sdmaps 
geben, und cin anderer Brot, und ein anderer Wurſt, und als er fich wieder erbolt 
hatte und wieder fprach, da vergaß er fein Elend, und es gab nods einen beiteren 
Abend. Aber es war ibm zuletzt yu arg, er hatte aud feine PBuchinchen, und ging 
früher alS gewöhnlich nach feiner Bude. Da fagte einer bedauerlich: ,Ovchjtens nod 
ein paar Jahr, da ift er bin’; da rief Mücke: Gach, fo lange gebe ic ibm gar nicht 
mehr, ich vermute ſtark, daß er dieſen Winter ſchon abgebt.‘” 


106 Denkwürdigleiten eines Arbeiters. 


Das ijt das cine Mal, wo er von einem fremden Sebidjal berichtet, und dann 
geſchieht es noch cinmal, vielleicht das einzige Mal, wo es cin rechteds urperſönliches 
Erlebnis iſt, das ihm der Mühe des Aufſchreibens wert erſcheint. „Da waren zwei 
Schlachtergeſellen, der eine hieß Mücke und ſtammte aus Schleſien oder Poſen, der 
andere hieß Mucho und ſtammte aus Prenzlau oder Paſewalk, und’ Mücke erzählte 
dem anderen, wie er vor ein paar Jahren längere Zeit in Nordhauſen gearbeitet hätte 
in einer großen Schlachterei, wo noch mehr Geſellen waren, und wie er da eine 
Meiſterstochter yur Braut hatte, und wie er da plötzlich wäre fremd geworden. Da 
wäre er eines Tages kurz vor Tiſche nach der benachbarten Wirtſchaft gegangen, um 
einen Nordhäuſer zu trinken, und batten den Morgen viel zu tun gehabt und hatte 
nicht eher gekonnt, und traf da Bekannte und babe noch mehr Nordhäuſer getrunken, 
und kam zu ſpät zu Tiſche, und die anderen waren gerade fertig mit Eſſen. Da lag 
wohl ſeine Bratwurſt auf dem Teller, aber in der Schüſſel bloß noch 4 Kartoffeln und 
wenig Sauerkraut. Da bat er Spektakel gemacht und geſchimpft, und daß das Fein 
Eſſen wire, und bat nicht angefangen zu effen. Da batten fie es dem Meijter gefagt, 
der iſt gefommen und bat auch geſchimpft und bat gefagt: Kartoffeln und Sanerfraut 
ijt in Mordhaujen cin Feiertagseffen, aber warte mur, du follit gleich was anderes 
haben. Da ging der Meijter raus, und als er wiederfam, hatte er cine große Schlacht: 
ſchüſſel voll Wurſt, lauter Schlackwurſt von der erjten Corte und hatte einige lange 
Schlackwürſte zerſchnitten in lauter handliche Enden und ſetzte ihm die Scbhiiffel vor, 
Da war Miide erſchrocken, und fiiblte fich beleidigt, und hörte auf yu arbeiten. Aber 
nad Jahresfriſt iit er wieder nad Nordhauſen gekommen, aber abgerifien und verlumpt 
und bat ibn feiner mebr gefannt, und mußte notgedrungen alle Schlächterläden ab— 
bettefn, und fam aud in den Laden, wo feine Braut wobnte, und als die Ladentiire 
geflingelt batte, fam fie felber, und er fagte: das ware fein Spa geweſen, und er 
hätte fics abwenden müſſen, als fic ibm die Bettelpfennigqe jugereidt bat. Aber als 
er aus Dem Laden ging, da hatte fie ihn erfannt und Auguſt gerufen, und wenn 
fie ibm da gleich nachgekommen wäre, bitte fie ibn erreicht; denn als er kaum zwei 
Häuſer weiter war, da mute er ftehen bleiben, und feine Füße ſchwankten, und mußte 
jic> an das Haus anlehnen, um nicht niedersufallen; da war ein Fleiner Gang oder 
Schlippe, dabin ftellte er fics, und lebnte fic an die Wand. Da fam fle gelaufen 
und hatte ſich ein Tuch umgeſchlagen, und lief die Straße binunter, da raffte 
ev ſich auf und ging in entgegengefester Richtung aus der Stadt, denn er brauddte 
nicht wieder nach dev Herberge, weil er feinen Berliner hatte, und bat uns das alles 
ganz ausführlich erzählt.“ 

Dieſes iſt die einzige Stelle in den Denkwürdigkeiten, wo mit einiger Ausführlichkeit, 
ja ſogar Innerlichkeit, von der Beziehung eines Mannes zu einer Frau die Rede iſt. 
Denn es iſt geradezu verblüffend und aufs höchſte abſonderlich, daß in dieſen ganzen 
höchſt offenen und nichts weniger als prüden oder zurückhaltenden Memoiren nicht von 
einem Mädchen oder einer Frau die Rede iſt, zu der es dieſen Mann auf die eine oder 
andere Art gezogen hat. Nichts vom Sexuellen ſteht drin, nichts vom Erotiſchen, nichts 
yom Seeliſchen (wenn man nämlich durchaus ſolche hartherzige Teilung machen will fir 
dieſe cine Triebkraft des Lebens). Cr bat ein Vagabondenleben geführt, und von der 
„Schickſe“ ift fein Wort yu hören. Cr ijt dann ſechzehn Jabre als ſeßhafter Arbeiter 
in einer Fabrik in Osnabrück geweſen, und er bat mit keinem Weib zuſammengelebt 
und feine geebelicht. Cr erzählt aber auch von feinem Schickſal, dad ihm widerfabren 


Tenhwirbdiglciten eines Arbeiters. 107 


ſei in ſolcher Hinſicht und das vielleicht den Grund zu ſolchem Hageſtolzleben gegeben 
bitte. Rein Wort ijt von einer Frau geſagt, fein Wort von Erotik ſteht in dieſen 
Denhwiirdigfciten. Richt, was ibn felbjt betrifft, und faſt nicht, was andere anbelangt. 
Dieje treibende Kraft des Lebens fpielt nach dem Welthilde des UArbeiters Karl Fiſcher 
feine Rolle. Herr Paul Göhre, den ich deswegen anfragte, weil es ja möglich geweſen 
wire, Da dicfe Stellen aus dem Manuſtript geſtrichen worden feien, bat mir freund— 
fichft sur Untwort geaeben, da es niemals in Dem Manuſkripte auch nur eine An— 
dentung ſolcher Art gegeben babe und auch in Briefen und mündlichen Gejprachen, 
die er mit Dem Verfaſſer geführt batte, keinerlei Erwähnung erotijcher Dinge geſchehen 
ſei. Man muß alfo in das Bild, das man von dieſem Menſchen befonunt, diefen 
Sug aufnehmen, wie er uns ebrlids gegeben wird: er hat von Frauen nie etwas 
gewupt, nie etwas gefpiirt. Die Romanſchreiber mögen ſich derlei ſehnſuchtsloſes 
Schickſal anmerfen. 


Sechzehn Fabre figt Karl Fifer in Osnabrück in einer Fabrif, in der Steine 
qeformt werden, Gefäße gemadt, getöpft. Er fommt binein als cin Mann, der feinen 
Handgriff fam, in jener Beit eben, in der eS nods Feine fejte Regelung der Arbeit 
gibt. Die FKabrifen find eben exit im Entitehen, die Preife der Materialien ſchwanken, 
die Preife der Erzeugniſſe find ebenſo wenig felt wie die Löhne. Bald arbeitet man 
auf Afford, bald dem Tagelobn nach, aber je nach der Ronjunftur werden die Löhne 
gekürzt, und des Arbeiters Leben bat feinerlei Sicherheit. Daven erfabrt man denn 
aud vielerlet, cbenfo wie von den kleinen Durchdrückereien zwiſchen den Werkmeiftern und 
den Urbeitern, und bier feblagt noch immer wieder das Gefühl de nicdrigen Fabrif: 
arbeiters Durd, der Das Mißverhältnis zwiſchen feiner Arbeit und dem Erträgnis der 
ganzen Unternehmung fpiiren muß, und jene Verachtung gegen die Direftoren wird 
laut, Die nicht veriteben fann, dah cin Mann, der felbjt Frum cinen Stein yu machen 
im ftande ijt, Der Leiter ciner ganzen Steinfabrif fein fann. Bon ſozialiſtiſchen Bor: 
ftelluiigen oder gar Forderungen ijt noch feine Rede. Nur das dunkle Empfinden eines 
allgemeinen Unrechtes, Das Dem ganzen Stande geſchieht, ciner Bedrückung ift natürlich 
ſchon vorhanden. Dian fpiirt aufs deutlicjte die Nberqangsyeit, in der dieſer Karl 
Fiſcher arbeitet. Er wird alt, während die junge Bewegung der Arbeiterorganifation 
cinfest, und er fann ſich weder innerlich noch äußerlich ihr anſchließen und bat nod 
feine Ahnung von dem Werte des Zuſammenſchluſſes von Menſchen der qleichen Klaſſe. 
Schon frither, als er noch cin Arbeitsnomade war, bat er ja gelernt, daß man fic 
nicht Lange mit jenem aufbalten diirfe, der in feinem Berufe yu qrunde gebt. Er ijt 
einfach einer unter den vielen, und wenn im Schachte bei der Arbeit cin Mann 
erſchlagen worden ijt, fo gebt das Leben und die Arbeit dennoch weiter, kaum dah 
cin Menſch dem Geftorbenen das Leste Geleite gibt. Der einzelne ift eben nicht viel 
wert. ‚Die elende Maſſe iſt um des Cinen, des Beften willen dat — aber dieſe 
Vagantenweisheit des Gorkij iit dem deutſchen barten Verftande des Zufrühgeborenen 
fremd. In der Fabrik wird er alt, überzählig, Menſchen kommen und geben, nur 
er bleibt, weil er morſch iff amd kaum mebr weg kann. Bon cinem Zweige der 
Tatigfeit der Fabrik fommt er zum anderen, die Libre werden immer geringer, feine 
Arbeit immer weniger geſchätzt. Denn Arbeiter, die die beſten Handgriffe gelernt 
haben und in dieſem befonderen Handwerke auferzogen worden find, treten neben thin 


108 Dentwiirdighiten cined Arbeiters. 


cin, und bie können es beffer machen. Er wird immer frember in feiner Umgebung, 
immer einſamer. Cine neue Zeit ift angebroden, und die Arbeiter geben fogar 
wählen. Wher fiir die politiſchen Rechte hat diefer Mann nod fein Verſtändnis. 
Derlet ijt ihm gleicbgiltig. Doch eS ijt wertvoll zu hören, wie ¢3 damit zu— 
gegangen iſt. 

„Als ich nad Osnabrück fam, da hatte ich noch keinen Verſtand: weder von 
Politik noch von den Parteien, denn ich hatte mich nie um dergleichen gekümmert und 
war auch kein Zeitungsleſer. Da war ich nicht wenig verlegen, als 1871 die 
Reichstagswahl war, da bekamen wir am Wabltage ſchon mittags Feierabend, damit 
wir alle wählen fonnten. Zwar war auf dem Stablwerf nicht das geringite befannt 
gemacht oder angefdlagen: wen man wählen follte, aber weil wir deswegen itberbaupt 
Urlauh befamen und cinen balben Tag feiern mußten: da nabm ic die Cache ernft 
und bedachte, da ich wählen müßte. Aber derzeit war id) nod) bei den Maurern 
und mit einer ganzen Anzahl derfelben im Wirtshaus in Quartier, und es ging 
wabhrend und nach dem Eſſen laut genug ber, und ich hörte, daß fie alle wählen 
wollten. Aber die meijten davon ftammten aus dem Göttingenſchen und waren fatholifd und 
waren auch welfiſch Gefinnte darunter, und ich merfte, daß wobl die Katholiſchen und die 
welfiſch Geſinnten zuſammenhielten, um ein und denfelben ju wählen. Aber da id 
nidt katholiſch noc welfiſch, ſondern bloß gut preußiſch gefinnt war, da mufte ich den 
anderen wablen, aber der gefiel mir freilids auch nicht fonderlics, denn er war zwar nicht 
katholiſch und auch nicht welfifeh, aber er war Biirgermeifter in Osnabriid, und die 
Biirgermeifter hatte id) im Magen, wenn ich auch nicht davon ſprach. Wher es war 
weiter keine Muswabl, da ging ich die Treppe binauf und zog mich etwas um, und 
als ic) wieder berunterfam, hatte ich Durſt gefriegt von dem Pökelknochen, und blieb 
im OHausflur vor dem Ladentijeh fteben, weil die Wirtin gerade im Laden war und 
ließ mir ein Glos Bier geben, da trank ich das Bier halb aus, da fragte mich die 
Wirtin: ‚Na, foll’s jur Wahl geben?! Da bejahte ich und tranf mein Bier aus, da 
fragte fie: ,Wen wählen Sie denn? Da fagte ich unbefangen: ,Miquel’, dba fagte 
fie faut im belebrenden Tone: Ach, wählen Sie dod) den Schweinehund nicht!’ Da 
wollte ic nadberes von der Frau erfabren und wollte fie fragen und fagte: Ja, ich 
traue ibm aud) nicht recht, aber da wurde fie in dic Küche gerufen, da ging ich febr 
beflontmen aus dem Hauſe. Aber ich fannte den Kandidaten gar nidt und war bloß 
deswegen miftranife, weil er zu den Biirgermeifters gehörte, aber meine Wirtin 
mufte das doch wiſſen, Da verlor ich dad bißchen Luft wieder und modjte den 
Viirgermeijter aud) niet mehr haben und beſchloß: gar nicht yu wablen, und anjtatt 
nad dem Wabllofal ging ich ins Gartlager Holy fpazieren. Da war ich ſchnell 
meine Beklommenheit wieder los, und wunderte mich nicht wenig fiber mich felber, 
und wie ich anf die Gedanfen gekommen war, dah ich hatte wählen wollen, und 
wollte mich in Zukunft nicht wieder mit ſolchen Gedanten befaffen. 

Aber drei Jahre ſpäter ging das nämliche Stück wieder los, mur weit feierlicher. 
Da hatte ich mir ſchon ziemlich dad Reitungslejen angewöhnt in der Wirtſchaft und 
hatte daraus qelernt, dah die eine Partei ultramontan und die andere Liberal hieß, 
und jede Partet hatte cine Seitung, und beide Zeitungen kamen täglich nach der 
Wirtſchaft; aber dad will id) verfichern! da gingen mir die Augen über! denn ich 
nahm das ailes fiir Ernjt, und las ſich auch nicht anders als ob es Ernſt wäre. 
Aber am legten Tage vor der Wahl hatte der Meijter in der Werkſtatt cine Befannt- 


Denkwilrdigkeiten cines Arbeiters. 109 


madung mitgeteilt, die ich nicht mit angebirt hatte, da fam er nach mir bin und 
fagte mit lauter Rommandojtinme: ,Gabt ibrs gehört Michel? Alfo morgen friih 
fauber antreten, um zehn Ubr mit Gut und Stod! Mann fiir Mann, da ſollt ibr 
wiblen! dba gebt’s im Suge nad) der Stadt, da wird gewablt! Da hörte ich: dah fich 
morgen das ganje StabhverE verſammeln und im Zuge mit Fabnen und Muſik yur 
Stadt ziehen follte sur Wahl, aber dazu hatte ich feine Luft und wollte mit dem 
ganzen gräulichen Cpeftafel nicht das geringite yu tum haben, und blieb bei meinem 
Vorfag: nicht zu wählen. Da wurde am Wabltage gar nicht qearbeitet, man hatte 
den ganjen Tag fret und ic war froh, daß ich cinen ganzen Tag lang aus dem 
Staube herausfam, und machte cinen weiten Weg und febrte erjt abends beim. Da 
qing icy amt anderen Morgen wieder zur Arbeit, aber ich hatte kaum angefangen, da 
fam ein Befannter aus einer anderen Werfftatt und fragte mich: warum ich nicht 
gewählt hätte. Da mufte ic) anid) wundern, wober der Freund das wiſſen fonnte 
und fragte ibn danad, da hörte ids: daß die liberale Partei geftegt hatte und fie 
waren geftern Abend alle anf dem Schützenhof geweſen und batten das Bier umſonſt 
befommen und Butterbrote dazu und fie batten viel Spaß qebabt, und einer bitte 
zuviel getrunken und wollte immer nod) mebr haben, da batten fie ibn rausgeworfen 
und da hatte er gerufen: Was? mitgejtimmt: und ic werde bier fo bebandelt? na 
wart mut, das werde ich mir merfen!! Aber vor Schluß hatte der Herr Direftor ein 
Verzeichnis erhalten, in welchem diejenigen Arbeiter verzeichnet waren, die nicht gewählt 
hatter, da bitte er die Namen derfelben laut verlefen, und Daher wupte der Freund, 
dag ic) nicht gewählt hatte. Da wurde ich etwas ängſtlich, daß ich am Ende von 
ber ganjen Gefchichte nod) Unannehmlichkeiten hatte, aber das dauerte bloß bis Frühſtück. 
Denn bald nach Friibjtiid fam der Meifter ohne Rod und ohne Tabakpfeife, aber 
aufgeregt und mit rotem Geſicht und ging mit großen Sebritten vor meinem Plage 
auf und ab und war augenſcheinlich bei febr ſchlechter Laune und hatte ſich den 
ganzen Morgen noch nicht feben laſſen in der Werkſtatt, fondern war anf feinem 
Simmer geblieben; da merfte ich Gewitterluft und wünſchte, dap id) geſtern gewählt 
hatte. Da hielt der Meiſter in feinem Gang time und fragte mich mit erzwungener 
Rube, aber nicht unfreundlich: Wo ſeid ihr denn geftern gewejen, ich habe eud) 
ja garnit gefeben?? Da fagte id: Ich bin geftern über Land geweſen, ich batte 
einen notwendigen Gang über Land.‘ Aber da legte er (oS und rief mit gewaltiger 
Stimme jorniq und wütend in die Werkitatt: Das paffiert mir nit wieder! Ihr 
ganzen Kerls feid alle jufammen feinen Schuß Pulver wert! Co cine verfluchte 
Wirtſchaft wie hier han ich noch nit erlebt! Deh han mich geftern geſchämt vor die 
Yeute in der Verſammlung. Wie ein Hornvieh läuft man mit dem Zuge durd die gauge 
Stadt! Laßt mir nur den Michel laujen! Der iit gerade fo wie ich, der hat mehr 
Berftand wie ibr alle zuſammen. Das ijt gerade mein Mann! dev bat ganz meine 
Medanten: wenn er ſich nur anders machte!‘ Da unterbrads fic) der Meijter, denn 
er fab durchs Fenjter den Fleinen budligen Sebreiber grade auf die Steinfabri€ 
zukommen, und er trug ein groped blaues Geft unterm Arm, da fagte er: Ma was 
bringt denn dev? Da legte der Schreiber cine Lilte vor, in welder ſich jeder mit 
cinem Beitrag yu der geftrigen Muſik cintragen follte, aber als der Meijter das hörte, 
da ſchrieb er ſchnell cine fibergrofe Null auf die Liſte und wies darauf bin und fagte: 
So, das gilt fir meine ganze Werkftatt!’ Da nahm der Sehreiber das Heft wieder 
unter Den Arm und ging damit ab. Da fagte der Meifter etwas beſänftigt: ,Das ijt 


110 Denfwiirdiateiten cines Arbeiters. 


ſchnell gegangen, wenn er überall ſolche Gefchafte macht, da laßt die Mujifanten 
jeben, two fie das Geld herkriegen, id) habe keine Muſik beftellt!’ Da wollte der 
Meifter weggeben, aber da wandte er fied noch einmal an mich und fam mir mit dem 
Geſicht gan; nabe und ſagte wieder laut und böſe: ‚Da hättet ihr nur vorgeftern 
nur ein einziges Wort yu fagen brauden, da war's gut, da fam die Sacre anders! 
Damit ging er weg. Da war ic wegen der Wahlgeſchichte Lerubigt und hatte mir 
nods dazu Die Gunft des Meifters erworben.“ 


* * 
* 


In die Worte des Berichtes kommt, wenn Karl Fiſcher von ſeinem Sonntags— 
vergnügen erzählt, ſo etwas wie ein leiſer poetiſcher Hauch. Das deutſche Gemüt dieſes 
Mannes, man kann es wohl nicht anders nennen, wird wach. Werktags begegnet ihm 
ſein ganzes Leben hindurch immer wieder der Druck, die Ungerechtigkeit. Aber auch dann, 
wenn er ſich am Sonntag hinausflüchtet, wird ſein Lebensgefühl gepreßt. Er möchte 
fiſchen und hat zu erfahren, daß es dazu eines Rechtes bedarf, und das hat er nicht. 
So bleibt ihm denn ſchließlich nur das Betrachten und das Genießen der ſtillen und 
einſamen Natur. Die Kraft aber, mit der ſich dieſe Eindrücke in ſeine Seele geprägt 
haben, offenbart ſich in den Sätzen, die er da aufzuſchreiben vermag: „Wenn ich die 
ganze Woche Staub geſchluckt hatte, ſo blieb ich Sonntags nicht gern im Hauſe oder 
in der Wirtſchaft. Wenn das Wetter nur einigermaßen gut war, ging ich über Land, 
und zur Sommerszeit ging ich oft angeln, da konnte man ſich auf ſo mancher Stelle 
dabei niederſetzen und fic) in der ſchönen, reinen Wald- und Wieſenluft ausruhen, das 
war ganz was anderes als in der Werkſtatt.“ ‚Das war ganz was anderes‘ — 
können denn Dichter beweglichere Worte erſinnen? ..... 

Sechzehn Jabre bat er gearbeitet, und dann bat er keinen Wert mehr fiir die 
Menfchen, für das Unternehmen, fiir das er bisher gearbeitet hat. Er wird auch wirr 
im Nopfe und mide, „Da vergingen die Jabre weiter, da war aud jene Beit ſchon 
längſt vergangen, an welder alles qut war, da verging mir alle Luft, noch flanger 
das mitanjufeben und zu hören, denn meine Arbeit nützte mir ſchon jabrelang gar 
nichts mebr.” Er befommt nur nod die feblechteft bezahlten Dinge yu tun, und 
immerfort gibt e3 Reibungen mit dem Werfmeiiter. Immer öfter heißt es vom Leben, 
eS fei cel”, und jenes Bewußtſein von der Realitdt des Lebens, den Konſequenzen 
alles Tuns, das ev fonft aufs ſchärfſte qebabt bat, fangt an nachzulaſſen. Cr denft 
aufs beftigite dariiber nad, wie er aus dem Elend, aus der Sackgaſſe, in die er geraten 
iit, herausfommmen finnte, aber ibm fehlt die raft, num wieder ins Ungewiſſe hinaus— 
zugehen. est wendet fic diefer Mann, der fein Lebtag lang nüchtern geſchafft hatte, 
im Alter zu Gebeten, zu Gott, yu Träumen und yu Viſionen, und in einer feltjamen, 
balb abergliubijden, balb frommen Weije fonunt ibm das Gebot, er folle aufbeqebren, 
und das Unrecht, das ibm geſchieht, Laut bei der Arbeit vor allen Genoſſen dem 
Meifter verkünden. Wher natürlich geſchieht da nur das cine, daß man ibm kündigt 
und er nad vierzehn Tagen weggeben muß. Da wird fein Geift natürlich nod un— 
Flarer, und er fann es nicht begreifen, wie man ibn jest plötzlich nach Jahren binaus- 
jtopen fann. Die vierzehn Kiimdigungstage tut er fein Werk, dann will er mit dem 
Direftor der Fabrif Abrechnung halten. Cr muh alferlet mit anfeben, bevor er mit 
dem Manne fprechen fann, und es gelingt ibm nicht zu begreifen, wie wenig diefer 
entlafjene Arbeiter in Dem großen Betrieh bedeutet. Raum, dag er im Zimmer des 


Kunjtersichungsfragen. 111 


Direftors ijt, ijt er auch febon wieder draufen, und ec fann nur nod durchs Fenſter 
jeinen Zorn in beftigen Worten entladen. Dann muß er wieder hinaus in die Armut, 
in Die Mot des Alters. Die Tragif ſeines Lebens aber, daß wabrend der fiinfund- 
vierzig Sabre feiner Arbeit die Seiten fic) geändert baben, er aber nicht in ibnen, 
merft er felbjt wohl nicht. . 

Nüchtern, wie es begonnen bat, endet das Buch. Rein pathetiſches Wort ſteht 
Darin, und viclleict gerade darum fann man nicht zwei Seiten daraus lejen, obne 
cin ftart wirfendes Gefühl vom Leben zu erhalten. 


BE 


Kunsterzichungsiragen. 


Bon 
Gertrud Baumer. 


Radorud verboten. 


unt zweitenmal baben Niinjtler, Kunſtfreunde, Kritiker und Literaten fich mit 

dem Lehrer vereinigt, um cinem großen neuen Prinzip in der Erziehung des 
Rindes Zur Herricaft zu verbelfen: der Runit. Ich jage einem neuen Prinjip, 
denn es bandelt fics nicht um neue Lehrgegenſtände — auch nur in beſchränktem 
Mage unt neue Stoffe, fondern es handelt jich um eine nene Auffaſſung der Erziehungs— 
aufgabe überhaupt, um eine neve Auffaſſung ibrer pſychologiſchen Grundlagen, ihrer 
Bicle und ibrer Methode. 

Der erjte „Kunſterziehungstag“ in Dresden vor zwei Jahren hatte ſich die 
Aufgabe geftellt, iiber die neue Bedeutung der bildenden Kunſt fiir die Schule yu 
ſprechen. Wan batte cine Anzahl von Männern, die man aus irgend cinem Grunde 
fiir Sachverſtändige balten durfte, cingeladen und die Teilnabme an den Verhandlungen 
auf diefe Cingeladenen beſchränkt. 

Die fiir died Verfabren maggebenden Grundſätze wird jeder billigen, der wei, 
wie in Verjammlungen mit unbeſchränkter Oifentlichbfeit die Distuffion durchaus nicht 
immer von denen beherrſcht wird, die wirflids etwas zu fagen haben, fondern vielfads 
von folcen, bei denen die Sachveritindigfeit nur cine ungerechtfertigte perſönliche 
Uberzeugung iſt. 

Für den Kunſterziehungs- Kongreß dieſes Jahres, der vom 9.—11. Oktober in 
Weimar tagte, war man den gleichen Grundſätzen gefolgt — mit dem einen löblichen 
Unterſchied, daß, während der Dresdener Tag Frauen iiberhaupt in der Lijte der Sach— 
verſtändigen ausgelaſſen batte, man diesmal wenigitens Vertreterinmen des Allgemeinen 
Deutſchen Lebrerinnenvereins, Lebrerinnen des Peſtalozzi-Fröbelhauſes zu Berlin und 
cinige Sebviftitellerinnen eingeladen hatte. Auf dem Programm der Tagung ſtand 
„Deutſche Sprade und Didtung”. Unter den Vortragenden waren u. a. 
Web. Cber-Regierungsrat Prof. Dr. Waetzoldt, Otto Ernſt, Landtagsabgeordneter 
Hadenberg, Heinrich Hart, Lichtwark. 


112 Aunſterziehungsfragen. 


Wenn man die Weite und Tiefe des neuen Prinzips bedenkt und wenn man 
bedenkt, daß hier Menſchen der verſchiedenſten Sphären geiſtigen Lebens und geiſtiger 
Tätigkeit ſich die Möglichkeit einer gemeinſamen Arbeit an dieſem Reuen zu ſchaffen 
batten, fo begreift man die Schwierigkeit, an zwei kurzen Vormittagen zu irgend 
welchen, wenn auch nur ideellen Ergebniſſen zu kommen. So kennzeichnete denn auch 
den Gang der Diskuſſion ein gewiſſes unſicheres Taſten nach Verſtändigung; feine 
Fäden, die hier und da von einem Redner zum anderen ſich ſpannen, wurden durch 
ein Mißverſtehen in Einzelheiten jäh wieder zerriſſen; immer wieder trat hervor, daß 
man wohl das Prinzip ſelbſt gefühlsmäßig erfaßt, es aber noch keineswegs in ſeiner 
Anwendung ganz durchdacht hatte; die Verſchiedenheiten der äſthetiſchen, literariſchen 
und pädagogiſchen Durchbildung erſchwerten ein Zuſammentreffen der Anſichten. Es 
war gut und nüßlich, daß der Vorſitzende ſich durch Fein Drängen yu Abſtimmungen 
und Reſolutionen bejtimmen ließ. — Aber trog all dieſer Schwierigkeiten: es wehte 
doch durch die ganzen Verhandlungen ein friſcher und feiner Geiſt; das Bewußtſein 
von dem, was der modernen Schule, der Schule der Zukunft, not tut, war, wenn 
auch oft noch nicht geklärt, doch um ſo intenſiver und tatendurſtiger. Man ſpürte es, 
die Schule rückt hinein in die Sphäre, in der ſich die geiſtigen Lebenskräfte der Zukunft 
emporringen, und die Weimarer Tage bedeuten, dah eine neue Kraftſtation fiir dieſen 
neuen Geiſt in unferer Pädagogik geſchaffen wurde, von der die Strdme kräftig binaus- 
ftrablen werden in Schule und Familie. 

Das Programm ſchloß ſich eng an den Grundgedanfen, den der Kunſterziehungs— 
tag fiir feine neue Pädagogik geprägt bat: Erhöhung der perſönlichen Ausdrucksfähig— 
feit, in erſter Linie durch Bildung des Ausdrucks iiberbaupt, in weiter durch Einführung 
in da8 Charafterijtijche des künſtleriſchen Ausdrucks. So fpracen nad den ecinleitenden 
Worten des Geb. Rats Waetzoldt am eriten Tage Otto Ernſt über Lefen, Vorleſen 
und mündliche Wiedergabe des Kunſtwerks, Landtagsabgeordneter Pfarrer Hadenberg 
fiber den mündlichen MWusdrud (das freie Sprechen), Prof. Dr. Dies; über den 
ſchriftlichen Musdruc (den Aufſatzz; am zweiten Tage Heinrichs Hart über die 
Auswahl, Prof. Dr. Rudolf Lehmann fiber die Behandlung der dichterifehen Kunſt— 
werfe in der Schule, Hauptlebrer Wolgaft ber Jugendſchrift, Schulbibliothek und 
billige Buchausgaben, der Direftor des Berliner Schillertheaters Dr. Raphael 
Liwenfeld über Schiilervorftellungen. 

Diefe Zwanzigminuten-Referate fonnten ibren Gegenjtand natürlich keineswegs 
erfcbdpfen, oder aud nur jeinem Wefen nach alljeitig beleuchten. Cie mußten fic 
beqniigen, andeutend nur die Umriſſe zu geben, und bier und da ein einzelnes 
auszuführen. Bei ſolchem Zwang zu ſummariſchem Verfahren fiel naturgemäß cin 
größeres Gewicht auf Kritik und Theorie, als auf poſitive Vorſchläge und praktiſche 
Erwägung, und auch die Diskuſſion pflegte mehr bei der Erörterung der Prinzipien 
zu verweilen, als auf die Möglichkeiten und Wege ihrer vraktiſchen Durchführung 
einzugehen. 

In den Grundanſchauungen zeigte ſich Einſtimmigkeit oder beſſer geſagt: 
Harmonie. Daf die Schule das Kind ſtumm macht, ftatt die naive Kunſt ſeines 
ſprachlichen Wusdruds zu ebren und zart zu entwickeln, ijt fecbon eine Einſicht, die von 
unendlicher Tragiveite fiir unfere ſprachliche Sebulineijteret werden kann. Werden 
fann, denn die conditio sine qua non: ein Yebrer und nun gar ein Yebrerftand, 
der nicht nur von diefem neuen pädagogiſchen Grundjag durchtränkt ift, wie fein miß— 


Kunſterziehungsfragen. 113 


adteter Vorganger von der Formaljtufenweisheit, fondern feinfiiblig genug ijt fiir 
jolche int eminentejten Sinn künſtleriſchen Aufgaben, der ijt nicht fo ſchnell hingeftellt, 
wie clit Grundſatz ausgeſprochen und verbreitet wird. Und wenn mm dies Stumm— 
werden des Kindes in der Schule und durch die Schule, die Störung ſeines innigen 
und lebendigen Verbaltniffes zur Sprache auf die falte, rationaliſtiſche Redſeligkeit 
und die gegen den Dichter und das Kind qleich indistrete, yerfafernde Fragewut 
unferer Yebrmethoden zurückgeführt wird, fo wird das vielleicht belfen, daß die Rechte 
des Vrrationellen, des Umvdgbaren, Stimmunghaften aud in der Schule ein wenig 
mebr geachtet werden, dak Sinnenfreudigfeit und Humor nicht mebr Rontrebande im 
Tempel der reinen Vernunft find, an deffen Pforte das, nicht fiir die Schule, fondern 
fiir Dad Leben lernen wir” ſich oft fat cin wenig ironife machte. 

Natürlich fprac in der Begeiſterung für dieſes Eintauchen der ganzen Pädagogik 
in Schönheit und Freude auch ein wenig das Pathos der Oppoſition mit, und der 
Proteſt gegen den Drill nahm mit deutlicher Vorliebe die Geſtalt eines Proteſtes gegen die 
Gewalten des Grünen Tiſches an. Auch ging man in einem gewiſſen äſthetiſchen Puritaner— 
tum cin wenig zu fanatiſch gegen alle anderen als die rein äſthetiſchen Faktoren im 
Deutſchen Unterricht vor. Cine übergroße Nervoſität gegen das Tendenjidfe verurteilte 
aud da, wo die Tendenz Fiinitlerife ihr Recht hatte. Der Individualismus geriet 
Dabet zuweilen mit fic) felbjt in Widerfprucd: auf der cinen Seite foll die 
Auswahl des Leſeſtoffs ſich nach der Neigung der Kinder richten, auf der anderen 
ſoll ibnen dod) nur dad Kunſtwerk geboten werden, den dreizebnjährigen Kleiſts 
Kohlhaas oder Hermann und Dorothea. Ya, es wurde fogar einmal verlangt, es follte 
dem Lehrer überlaſſen fein, Religions: oder Gedichtitunde zu geben, wenn et in der 
Stimmung dagu fei. 

Mir ſcheint dic GHauptgefabr fiir die ganze Bewegung darin yu fliegen, da man 
Bedürfniſſe und Fähigkeiten der Wenigen als Norm feet, fowobl in bezug auf Lebrer 
als auf Rinder, und fied über die durch Die Vielen beſtimmten Möglichkeiten der Ber: 
wirklichung binwegfest. Und — was damit zuſammenhäugt — daß aus der Kunſt— 
erziehung wieder cine Doktrin gemacht wird, die andere Erziehungsfaktoren hochmütig 
beijeite fcbiebt, und das cigene eigentliche Wefen ded Neuen, die immer bereite leiſe 
Anpaſſungsfähigkeit in einem Zwang eritarren läßt, der vielleicht noch bedenflicher ijt, 
wie der unferes berrfchenden Intellektualismus. 

Die Frage der Kunſterziehung iſt eben nicht — wie immer wieder geſagt wurde — 
vor allem cine Frage der Schulverwaltung: vor allem ijt fie cine Frage des 
Yebrers. Dah die große Maſſe unferer Lehrer und Lebrerinnen jest ſchon den feinen 
Aufgaben, die ibnen die neue Bewegung ftellt, gewachſen feien, wird niemand bebaupten 
wollen. Immerhin zeigt die Friſche und Begeiſterung, mit der gerade in ibren Kreifen 
dieſe Aufgaben in Angriff genommen werden, dak bier innere Kräfte dem Neuen 
entgegenformen, auf die man ficherlicy allerlei ſchöne Zukunfthoffnungen bauen fann, 


114 


Cine landwirtschaffliche Schule fiir Prauen in @ngland. 


Ben 


RA. I. Schmidt. 


Raddrud verboten. — 


An England ſowohl wie in Deutſchland wird die bellagenswerte Tatſache der Ent: 
X vilterung des Landes immer augenjdeinlider, und viele Verſuche find bereits 
gemadt worden, um dem Strom der Auswanderung der Landbewohner nad den grofen 
Stadten Ginhalt zu tun. Nicht am wenigiten erbofft man bei diefen Verſuchen von 
der Mitwirfung der Frauen, auf die eS ja jehr wejentlidh anfommt, wenn alle Umſtände 
fic) vereinigen ſollen, um die Landwirtidaft yu einem lohnenden und zugleich reizvollen 
Beruf zu machen. Befondere Riidjicht nimmt man in England naturgemäß auf folche, 
bie den Wunſch haben, hinausjuziehen fiber das Meer, um dort dem Boden eine 
Eriftens abjugewinnen, die ibnen das Mutterland nicht (anger gewabrieiften fonnte. 
Auch dabei wird auf Frauenhilfe gerechnet, denn nur zu häufig ift die Tatigfeit einer 
weibliden Perfon in den Riederlaffungen der Rolonijten von ebenjo weitgehender 
Bedeutung wie diejenige des Manned. 

Unter diefen Verhaltniffen Hat fich in den legten Jabren aud) in England in den 
Anfhauungen fiber landwirtidhaftlide Frauenarbeit ein Umſchwung volljogen, jo daß 
man es beutzutage gang ſelbſtverſtändlich findet, wenn Frauen ſich gleichscitig mit 
Männern in den verfchiedenen Gebieten der Landwirtſchaft theoretijd und. praktiſch 
ausbilden, befonders, wenn es ſich Darum handelt, fich einen Erwerbszweig dadurch zu 
verſchaffen. Wohl haben gebildete Frauen unter dem Drucd der Verhältniſſe ſchon 
öfter größeren landwirtſchaftlichen Betrieben vorgeftanden und Tiichtiges darin geleiftet, 
obwobl fie mit bedcutenden Schwierigfeiten dabet zu fampfen batten. Jetzt denft man 
aud daran, durch geeignete Uusbildungsanftalten auc) Frauen andrer Bevdlferung?- 
klaſſen in ftand zu jfegen, die Landwirtidaft zum Lebensberuf zu machen, gu einem 
qefiinderen und Llobnenderen Beruf zweiſellos, als der Frau der gebildeten Stände 
jonft bei der grofen Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt offen ftebt. 

Bu dieſem Zweck hat Lady Warwid, die fic) bereits durch verſchiedene praktiſche 
Cinridtungen, das Erwerbsgebict der Frauen betreffend, cinen Namen erworben hat, 
zu Reading in Berkjhire, in der Nähe Londons, eine Acerbaufdule fiir gebildete 
Frauen der befferen Stände ing Leben gerufen. Cine befondere Ubteilung ift fiir 
jolche beftimmt, die fic) mach den RKolonien begeben wollen, da fic) neuerdings in 
Siidafrita und andern Anfiedlungen des britiſchen Weltreichs fiir alleinftehende, tiichtig 
praktiſch vorgebildete Frauen gute Ausſichten erſchloſſen haben. 

Unter dem Namen ,,Lady Warwick Hostel, Reading“ ijt dieſe Unjtalt vor 
ungefahr vier Jabren begriindet worden, und ihre guten Erfolge berechtigen gu der 
~ Erwartung, dah cine Ausdehnung diefer VBeftrebungen fich nicht bloß als ein Gewinn 
fiir bie erwerbehden Frauen, fondern aud) als ein Segen fiir die Wobhlfabrt ber Nation 
eriveifen wird. 

Es war bie Fiirforge fiir den weniger begiiterten Teil der Landbewohner, welche 
auerft bei Lady Warwid die Idee erwedte, ibnen eine mehr ihren Bedürfniſſen ent- 
fprechende Ausbildung yu geben. Cine Art Fortbildungsſchule follte fic) der in dieſer 
Hinſicht mangelhaften Clementarbildung anſchließen und zugleich bezwecken, die Kinder, 
welde man zur Vervollſtändigung ibrer Erjiehung nach der Stadt fchidte, dem Lande 





Eine landwirtſchaftliche Schule fiir Frauen in England. 115 


zu erhalten. Jn diefer Schule werden die Zöglinge in den Zweigen der Natur: 
wiſſenſchaften unterricbtet, welche fic) befonderd fiir die aderbautreibende Bevilferung 
eignen. Mathematik, Phyſik, Chemie, Biologie 2c. in Verbindung mit prattifden Lehr: 
furjen aller Urt geben den Schiilern eine griindliche Vorbereitung fiir die Berufe des 
Landwirtes, de Viehjiichters und Gartners. Dieſe febr erfolgreiche MAnftalt beftand 
erft in Dunmow, Eſſex, dem Privathefig der Stifterin, fie ijt jest aber aud) nach 
Reading verlegt, um dort denen al Vorbereitungsflafje yu dienen, weldjen e3 an den 
nötigen Vorfenntniffen fiir die höheren Zweige der Landwirtſchaft feblt. In ihr haben 
wir den Keim, aus dem die höhere landwirtſchaftliche Schule fiir Frauen bervor- 
gegangen ift. 

Der LeHrplan der Ackerbauſchule umfaft in erfter Linie Obſt- und Gartenbau 
mit all feinen verfdiedenen Zweigen, wie folder in der ausgezeichneten Anſtalt von 
Fraulein Dr. Elvira Caftner, Marienfelde bei Berlin, fchon feit ciner Neihe von 
Jahren mit großem Erfolge gelehrt wird. Daran ſchließt fid) die Unterweifung in der 
Geflügelzucht für den einfachen Marfthedarf und fiir Ausſtellungszwecke; der Vienengucht 
ift ebenfalls ein grofeS Feld eingeräumt. Milchwirtſchaft, Butter- und Kajebereitung 
werden auf wiſſenſchaftlicher Grundlage gelebrt. Die Viehzucht nad den neueften 
Syftemen in der Filtterung der Kühe, Schafe und Schweine gehört nebſt der Boden- 
fultur ju den widhtigiten Fadern de8 Studiums. Jn den Induſtriezweigen, die fic 
aus dem Land- und Gartenbau entwideln, wie die BVereitung von Obfiweinen aller 
Art, von Obft- und Gemiijefonferven und Dörrfrüchten, wird gewiffenbafte Belehrung 
erteilt. Auch gedenft man in der Weiterentwidlung Hanf und Flachs anjubauen und 
die veralteten Bejdhaftigungen des Spinnen und Webens, die in den Langen Wintern 
auf den einjamen Farmftdtten immer nod ihren praftijden Wert haben, wieder 
aufzunehmen. 

Einer der wichtigſten Punkte im Unterrichtsplan iſt der Abſatz der Erzeugniſſe, 
und eine gewiſſenhafte Vorbereitung in der zweckmäßigen Verwertung der Landes— 
produkte ſchließt ſich den übrigen Unterrichtsgegenſtänden an. Alle Erzeugniſſe der 
verſchiedenen Abteilungen des Inſtituts, die zum Verkauf beſtimmt ſind, werden nach 
dem Marktgeſchäft, Berkley Avenue Weſt, geſandt, von wo aus viele Haushaltungen 
mit Garten- und Landfrüchten, mit den Ergebniſſen der Geflügelzucht und Milch— 
wirtſchaft und mit Konſerven aller Art verſorgt werden. Auf dieſe Weiſe beabſichtigt 
man im Lauf der Zeit den Zwiſchenhandel, der Konſumenten und Produzenten bei 
der Verwertung der Landesprodukte gleich ſchädlich iſt, auszuſchalten und nach und 
nad) einen Ddireften Verkehr zwiſchen den beiden intereſſierten Parteien herzuſtellen. 
Lehrkurſe volkswirtſchaftlicher und kaufmänniſther Art führen in den geſchäftlichen Teil 
des landwirtſchaftlichen Betriebes und geben den Schülerinnen Gelegenheit, ſich in der 
Geſchäftsmethode und Warenkenntnis genügend auszubilden und die verſchiedenen 
Märkte fiir die Erzeugniſſe, die Wet des Ein- und Verkaufs, die Eiſenbahntarife ꝛc. 
kennen zu lernen. 

Bei der Vorbereitung für das Leben in den Kolonien wird neben der Kenntnis 
im Land- und Gartenbau beſonders eine tüchtige Ausbildung in allen häuslichen Ver— 
richtungen angefirebt. Die Behandlung der Wäſche, die Anfertigung von Kleidungs— 
fliiden jeder Urt, Kochen u. f. w. gebdren gu den Lehrgegenfidinden. Häusliche Hand- 
fertigfeiten und der Gebrauch von einfacden Werkzeugen, auch leichte ZimmermannSarbeit 
werden gelehrt, damit man bei der RKonftruftion von Gefliigelbaujern, Bienenfirben, 
Rahmen fiir Mijtheete und Gewächshäuſer u. fj. w. bet dem Mangel an Handwerfern 
auf den einfam gelegenen Unfiedlungen nidt in Verlegenheit fonunt. Alle Hilfsmittel 
fiir die praftifde Arbeit in dieſen Zweigen find einfacher Natur und folcher Art, wie 
Rolonijten fie oft zu gebrauchen gezwungen find. Der Unterricht ijt in jeder Hinficht 
ben Erforderniffen des Lebens angepaft und wird von einer Dame erteilt, die in den 
Kolonien geboren und erjogen wurde und mit allen LebenSbedingungen dort aufs 
befte vertraut ijt. 

Der fpezielle Lehrplan in der Landwirtſchaftsſchule tft dem unſrer Jnftitute, die 
bemfelben Swede dienen, Abnlidh. Das gu der Anjtalt gehörige Land bietet jede 

8 * 


116 Unverjaibrbar. 


Gelegenbeit zur praktiſchen Arbeit in den verfdiedenen Abteilungen. Die Milch— 
wirtſchaft in allen Cinjelbeiten, Bakteriologie u. ſ. w. werden in einer grofen Meierei 
theoretifd) und praktiſch gelehrt. Für die fic) daran ſchließende Vieh- und Landwirtidaft 
find die umfaffendften Unterrictseinridtungen getroffen. Genug, die ganze Anftalt ift 
durchaus fiir die vielfeitige Musbiloung der Aſpirantinnen muftergiltig eingeridtet, und 
am beften ſpricht der außerordentliche Erfolg, von dem dads Werk, troy ſeines erft 
kurzen Beſtehens, gekrönt ijt, fiir feine Notwendigfeit und Vorzüglichkeit. 

Schon hat ſich eine Aderbaugefellidaft von Frauen (Agricultural Association 
of Women) gebildet, die mit der Abſicht gegriindet worden ift, die in Land- und 
Gartenbau und verwandten Berufen beſchäftigten Frauen gu organifieren und ibnen 
mit Rat zur Hand zu geben. Yor Organ, The Woman's Agricultural Times, die 
einmal monatlich erſcheint, bat bereits zahlreiche Abonnenten und hat fic) als außer— 
ordentlich foördernd bewährt. Bon faft nod) größerem Nugen find ein Wrbeitsnadweis- 
bureau und ein folded fiir Auskunft in allen landwirtſchaftlichen Angelegenbeiten, das 
Mitglhedern der Geſellſchaft bis gu einem beſtimmten Umfang unentgeltlich zur Verfiigung 
ftebt. Auch werden durch das Bureau Erfundigungen eingeyogen im Intereſſe von 
Mitgliedern, die ſich anfaufen wollen. Ebenſo plant man Genoſſenſchaften fiir 
Anjiedlungen zu griinden. Schon haben fic) einige der erften Schülerinnen der Anſtalt 
auf ibren eignen Beligungen ſelbſtändig mit gutem Erfolge verfucht, weil fie durd) 
eine vielfeitige Verwendung ihrer Kenntniſſe in den verſchiedenen Sweigen der Land- 
wirtſchaft die Ertragsfabigfeit ihres Befigtums hinreichend auszubeuten verfteben. 

In England und jeinen Kolonien ijt ein reiches Arbeitsfeld für Frauen, welche 
ſich die gründliche zwei- bis dreijährige Musbildung der Anſtalt zu nuge gemadt haben, 
fei ¢8, dag fie ibre Renntnijfe auf eignem Beſitz verwerten, oder in Verwalter- 
ftelungen eintreten, oder ſchließlich, da die Anſtalt aud Abſchlußprüfungen abhält und 
Unterricdtsdiplome erteilt, den landwirtſchaftlichen Lehrberuf ergreifen. 

Yedenfalls diirften die ganzen Beftrebungen, von denen Hier ein Ausſchnitt 
gegeben ift, fic) zu einem nicht gu verachtenden Faltor in der inneren und äußeren 

olonijation und als cin wirfjames Mittel gegen ungefunde Landflucht entwideln und 
fo von fegensreicem fosialen Einfluß werden. 


eet 


Unverjahrbar. 


—8 

Heilt endlich auch die tiefſte Wunde, 
Schließt endlich ſich der tiefſte Schnitt — — 
Die Varbe ſchmerzt noch manche Stunde 
Und ſpricht mit ihrem blaſſen Munde 

In jeder Cuſt des Lebens mit. 


Was du auch tuſt! Du fühlſt ein Wehren, 
Als hätteſt du ein Recht erſtrebt, 

Das dir nicht zukommt zu begehren! 

Denn niemals kann der Schmerz verjähren, 
Und nichts iſt tot, was einſt gelebt! 


Leunore Frei. 


= ee 


117 





Die 1V. Generalverfammiung des Deutſch— 
Evangeliſchen Frauenbundes 


fand vom 24.—26. September in Bonn ſtatt. Der 
Jahresbericht, erftattet von ber zweiten Vorjigenden, 
Wel. A. von Bennigſen, ftellte feft, daß der 
Bund jest 35 Ortsaruppen und 3400 Mitglieder 
qablt und demnach in der letzten Geſchäftsperiode 
in 8 neuen Gruppen 900 Mitglieder gewonnen bat. 
Das erfte diedjabrige Verbandsthema Bur 
Wobnungsfrage” behandelte Frau Stcinbaufen- 
Hannover. Die Vortragende fiibrte die Wohnungs— 
not auf die Verſchiebung der Wobnungsverbaltnific 
durd) den Hug vom Land zur Stadt zurück. Alle 
Klaſſen litten unter diefer Not, und alle bisherigen 
Maßnahmen batten fied als unzulänglich erwiefen. 
Die Dienjtbotemvobnungen feien ebenfo menſchen— 
univiirdig, wie die Kleinwohnungen in ben großen 
Stidten. Durch Bauordmungen müßte der un: 
gezügelten Bodenfpefulation und durch Wohnungs⸗ 
geſetze der Steigerung der Mieten und der damit 
zuſammenhängenden bedenklichen Wohnungszuſtände 
abgeholfen werden. Es ſei Sache der Vereine, 
beſonders ber Sittlichkeitsvereine, ſich der Wohnungs⸗ 
not der Dienſtboten energiſch anzunehmen. Die 
Rednerin forderte eine beſondere Aufſicht der 
Dienſtboten Schlafräume, die weniger als Polizei— 
maßnahme auftreten ſoll, ſondern als fommunale 
Wohlfahrtseinrichtung, bei der die Frau als 
Affiftentin der Wobhnungsinfpeftion anzuſtellen ift. 
Der Antrag der Ortsqruppe Weimar: ,, Die 
Generalverfammlung wolle beſchließen, daß der 
Deutſch⸗Evangeliſche Frauenbund tätigen Anteil 
nebine an den Beſtrebungen, die die Ladenbeſitzer ver: 
anfafjen, fiir binreicbende Citgelegenbeit ihrer 
Berlauferinnen Sorge zu tragen und die Orts— 
gruppen verpflicten, ihren Einfluß in dieſer Richtung 
geltend zu machen,“ wurde mit dem Hinweis auf 
bas ſchon beſtehende Geſez angenommen. Der 
Bundesvorſtand wurde ermächtigt, in dieſem Sinne 
bet den HandelSfammern vorſtellig zu werden, 
Frau Ufer-Geld fprach fobann iiber dads 


Thema: „Wie heeinfluffen wir bie Miitter unſeres 


Volkes 2" 

Sn einer öffentlichen Abendverſammlung fprad 
Fräulein Paula Miller über: „Die Pflichten 
und Rechte der Frau in der kirchlichen und bürger— 
lichen Gemeinde”. Sie forderte nicht nur eine 
vermebrte und planinagfigere Herangichung der 
Frauen im dffentliden Leben, befonders auf dem 
Gebiete der Wrmen: und Waifenpflege und der 
Jugendfürſorge, fondern auc) die dementſprechenden 
Redte, wie die Wählbarleit gu lommunalen Ehren: 


ämtern, dad Wablrecht fiir bie firdlice Vertretung 
und fiir bie Pfarrwahl. 

Der Korreferent, Here Paftor Pfeiffer: Berlin, 
unterftiiste umd ertuciterte die Forderungen der 
Vortragenden und brachte folgende Refolution ein, 
die bon der Verfammlung angenommen twurbe: 

„Der Deutſch⸗Evangeliſche Frauenbund ruft die 
Frauen auf, fic) ben zuſtändigen kirchlichen und 
biirgerlichen Behörden yur Verfiiqung gu ftellen und 
in der Mitarbeit den Beweis ihrer Unentbebrlicfeit 
ju liefern, aber aud zu forbdern, daß ibre Arbeit 
berufsmäßig in bic Gemeindeorgane ecingegliedert 
und ibnen die entiprecbenden Rechte  gefichert 
werden.” 

Sn Ergänzung dieſer Refolution wurde am 
folgenden Tage befdloffen, an die Generaljpnode 
jofort mit cinem Antrag auf CEriveiterung der 
Rechte und Pflichten der Frau im kirchlichen Leben 
heranzutreten. 

In den Verhandlungen des zweiten Tages wurde 
beſchloſſen, bei den Schulleitungen darauf hinzu— 
wirfen, daß die abgehenden Schülerinnen vor leicht: 
finniger Benugung von Stellenvermittlungsbureaus 
gewarnt würden. 

Der zweite Antrag forderte vom Bundesvorſtand, 
eine Petition um Abſchaffung der Reglementierung 
an zuſtändiger Stelle einzureichen. Den Aus— 
führungen, daß die Reglementierung geſundheitlich 
und ſittlich verderblich ſei und zur Demoraliſierung 
des Volksgewiſſens beitrage, wurde lebhaft gu: 
geſtimmt und der Antrag angenommen. Dem 
Vorſtand bleibt der Zeitpunkt zur Eingabe der 
Vetition überlaſſen. Der Bund beſchließt, in der 
Sittlichkeitsfrage mit allen dahin zielenden Be: 
ftrebungen Fühlung zu halten. 

Das Referat zum zweiten Verbandsthema der 
Generalverſammlung: Die Arbeiterinnenfrage, batte 
die Gewerbe Inſpeltions⸗Aſſiſtentin Frl. W. Reichert 
aus Berlin übernommen. Die in der lebhaften 
Diskuſſion gegebenen Anregungen — Erziehungs— 
und Fürſorge-Heime fiir Fabrikarbeiterinnen, Auf— 
ſichtsſchweſtern in den Fabriken, vermehrte Fürſorge 
für die vielfach des Anſchluſſes und Haltes bedürftigen 
Heimarbeiterinnen — führten zur Annahme einer 
Reſolution: „Die vierte Generalverſammlung des 
Deutſch-Evangeliſchen Frauenbundes bittet dic 
Ortsgruppen-Vorſtände, die Griindung und den 
weiteren Ausbau von WArbeiterinnen: Vereinen und 
Heimititten ins Auge zu faffen und zu fordern. 
Sie fiebt Darin auch ein Mittel, auf die Arbeiterinnen 
in religidfer, fittlicher und ſozialer Beziehung cin: 
zuwirken, fie durch Organifation gur Selbftbilfe ju 
erziehen und ibnen dadurch gu wirtſchaftlichen Ver— 


118 


befferungen und möglichſt giinftigem Arbeitsvertrag 
au belfen.” 

Den Schluß der anregenden Tagung bilbete cin 
Bortrag ber Oberlebrerin Frl. M. Martin: Trier: 
Die Pſhchologie der Frau. Im ganzen genommen, 
geigte die Tagung des Deutſch-Evangeliſchen Frauen: 
bunded eine fo erfreulide innere Entwidlung der 
jungen Organifation, daß man feine Filbrerinnen 
nur baju beglückwünſchen fann. 





If. Generalverſammlung 
des Berbandes fortſchrittlicher Franenvercine, 


Die Rerfammlung begann am 28. September mit 
einem Bortrag von Frl. Dr. jur Duenjing iiber 
die rechtliche Lage ded unehelichen Kindes. Dore 
yon gruͤndlichem Wiſſen und reifer ſozialpolitiſcher 
Einſicht zeugenden Ausfiibrungen dienten der Be- 
griimdung und Belcuchtung folgender Forderungen: 


I. 1. Die Entſchädigungspflicht bes Verfiihrers 
qegeniiber der Berfiibrten ijt auszudehnen 
auf die Fälle der Fehlgeburten; 

2. in den Fallen hervorragender nachgewieſener 
Befähigung des unebelichen Kindes ju boberen 
Berufen fann die Alimentation auf eine 
lingere alé im § L708 Abj. 1 feftgejepte 
Daucr nach Maßgabe der Erforderniffe der 
nötigen Borbereitung beanfpruct werden; 

3. die Eltern und Grofeltern ded unebelichen 


bem unebelichen Kinde geqentiber; 


Verjammlungen 


und Gereine. 


oder Familiencinfommen unter 3000 Mart betragt. 
Die genofjenichaftliden und gewerkſchaftlichen 
Arbeiterorganifationen follen bas Unterjtiigungs: 
weſen mit Berückſichtigung der Mutterfdaftstaffen 
und der weiblichen Intereſſen ausbauen. 

Es war auferordentlid bedauerlich, daß die 
ſachlich wenigſtens disfutablen Forderungen von 
Atl Lüders durch die in der aniclichenden 
Distuffion geäußerten ſozialpolitiſch maßloſen 
Wünſche von Frl. Dr. Augspurg der Offentlichkeit 
geqeniiber in ein falſches Licht gefest find. Tie 
Preßberichte haben fich leider mebr an dieſe Utopien, 
alé an die, wenigſtens in vicler Hinſicht, aftuellen 
Fragen des Referats gebalten. ber die Frage, 
wie da’ politifde Intereſſe der Frauen gu 
weden fei, ſprach Frl. Luiſe Zietz. Auch fie ging 
von ber Anficht aus, daß die nächſte Aufgabe eine 
politijde Erziehung der Frau durch alle gur Ver— 
fiigung ftebenden Mittel und Weae fei. Uber die 


| Sittlichfeitsfrage nad der moralijd-rectlicen und 


der gejundbeitlichen Seite ſprachen Frl. Heymann 
und Dr. Blaſchko, ber Wobnungsfrage und Sitt: 
lichfeit Prof. Fleſch, über die Arbeit der deutſchen 
Manner: Sittlidleitsvereine Frl. Scheven. Aus 
den Bortrigen der öffentlichen Verſammlungen ijt 
nod der von Fri. Liſchnewska über bie Cinbeits: 
ſchule zu erwaͤhnen. Im Anſchluß an die Ber: 
handlungen des fortſchrittlichen Verbandes fand 


die Generalverſammlung des Vereins fiir Frauen: 


4. die Einrede der mehreren Zuhälter iſt einem | 


nad $ L717 in Anſpruch Genommenen ju 
verjagen. 
Die gefeslichen Bejtimmungen des B. G. B. 
fiber die Annabme an Kindedsftatt find dem 
folgenden Vorſchlage gemäß gu andern: 
Die Adoption des unebhelichen Kindes durch 
feine Mutter ijt dadurch yu erleictern, dah 
bie geſetzliche Vorausſetzung eines beſtimmten 
Lebensalters der unehelichen Mutter gegen: 
über prinzipiell wegfällt. 
Das Leipziger Syſtem des kommunalen Schutzes 
der unehelichen Kinder iſt überall einzuführen. 
Die landesgeſetzlichen Beſtimmungen gegen den 
Konkubinat müſſen wegfallen; auf dem Wege 


I. 


III. 
IV. 


charitativer Tatigtcit tft bie Legitimierung der 


Konkubinate anzuſtreben und zu fördern. 


Frl. Dr. Stöcker ſprach ſodann über „die 
ſoziale Stellung der unehelichen Mutter“. Die 
Verhandlungen des zweiten Tages galten der 
„Mutterſchaftsverſicherung“. Frl. Elſe 
Lüders forderte für die Ausführung dieſes 
Programms Ausdehnung des reichsgeſetzlichen 
Arbeiterinnenſchuzes auf mindeſtens acht Wochen 
nach der Entbindung, Arbeitsverbot in allen das 
Mind gefährdenden Betrieben cine gewiſſe Zeit vor 


der Entbindung, ſowohl fiir Fabrikarbeiterinnen 


wie filr Heimarbeiterinnen, Landarbeiterinnen, Dienſt⸗ 
angeſtellte 2., und file dieſe Zeit Gewährung einer 
Rente aus einer ſtaatlichen Mutterſchaftskaſſe, die 
der Hobe des Lohnausfalles entſpricht. Die 
Mutterſchaftslaſſen follen im Anſchluſſe an die 
Landesverfiderungs - Unftalten geſchaffen werden; 
Pramienjahlungen aller Staatsbiirger zwiſchen dem 
20, und 50. Jabre, ſowie cin Staatszuſchuß follen 
die Roften der Rente deden. Anſpruch auf Ber: 
ficherungégelder batten alle Frauen, deren eigenes 


Vaters haften fiir die väterliche Wlimentation ſtimmrecht ftatt. 


Der deutſche Verein fiir das höhere 
Mädchenſchulweſen 
tagte in den letzten Septembertagen in Danzig. 
Gehören die Beſprechungen dieſes Vereins auch 
mehr dem ſpeziellen pädagogiſchen Fachgebiet an, 
ſo iſt diesmal doch ein Hauptpunkt der Tages: 
ordnung von allgemeinerem Antereffe. Here Direftor 
Doblin (Hagen) fprach iiber die Frage: „Welche 
Forderungen der mobdernen Frauenbewequng in 
bezug auf die höhere Mädchenſchule fann dieſe 
anerfermen?” Hierzu lagen folgende Leitſätze vor: 

1. Die Forderung, die höhere Mädchenſchule 
ſo umzugeſtalten, daß ſich an ſie ein Oberbau 
angliedern läßt, der zur Berechtigung des 
Univerfisateftudiums fiibrt, ift anzuerkennen. 

2. Die Forderung, eine beſſere geiſtige 
Schulung durch Vertiefung des mathematiſch— 
naturwiſſenſchaftlichen Unterrichts gegenüber der 
bisher fo einſeitig betonten literariſch-äſthetiſchen 
Richtung herbeizuführen, iſt anzuerkennen. 

3. Die Forderung, die höhere Mädchenſchule 
in der Richtung des Realgymnafiums (mit 
fafultativem Lateinunterricht) umjugeftalten, ijt 
anjuerfennen; cine Gabelung der Oberjtufe in 
wei Wbteilungen iſt abzulehnen; praltiſche 

bungen für den künftigen Hausfrauenberuf 

find in beſondere Anſtalten gu verlegen. 

4. Die Forderung einer gemeinſamen Erziehung 
von Rnaben und Mädchen iſt abzulehnen. 

WS Korreferentin verſuchte Frl. Sprengel 
ben Verein fiir das höhere Mädchenſchulweſen von 
ſeinen UnterlaffungSfiinden in bezug auf die 
Stellung der höheren Mädchenſchule zur Frauen: 
frage rein zu waſchen. Die Verſammlung nabm nad 
langerer Debatte folgenden Antrag Wychgram an: 

„Die Frauenbewegung verlangt in bezug auf 
dic höhere Mädchenſchule: 


Verfammtungen und Vereine. 


1. Bertiefung der Bildung der Frau fiir ibre 
allgemeine Bejtimmung. 

2. Borbercitung der Frau auf das Univerfitats- 
ſtudium. 

Der deutſche Verein fiir das höhere Mädchen— 
ſchulweſen teilt dieſe Forderungen und hält eine 
Erweiterung beziehungsweiſe Umgeſtaltung der 
höheren Mädchenſchule in dieſem Sinne für nötig.“ 
Das iſt allerdings eine etwas unbeſtimmte, aber 
doch die ſortſchrittlichſte Erklärung, gu der ſich der 
Verein bisher entſchloſſen hat. Sie wird auf die 
endliche Verwirklichung der lange verſprochenen 
Mädchenſchulreform gewiß nicht ohne Einfluß 
bleiben und ſei darum mit Befriedigung begrüßt. 


Der Münchener Verein für Verbeſſernug der 
Frauenkleidung, 


gegründet am 15. Januar d. J. mit etwa 150 Mit: 
gliedern, veranſtaltete in den Tagen vom 20. Sep: 
tember bis 12. Oktober eine Ausſtellung in den 
Studienräumen des neuen Rationalmujeums. Der 
leitende Gedanke für dieſe Ausſtellung war, gewiifer: 
maßen cine Anſchauungsleltion über Kleiderreform 
zu geben, ausgehend von den hygieniſchen Miß— 
ftanden und der äſthetiſchen Anfechtbarfeit der 
Taillenfleiouna, die Neformtracht fowobl in ibrer 
hiſtoriſchen Entwicklung, als in ibrem äſthetiſchen 
und ſanitären Wert ju zeigen. Im Wai ob. J. 
begannen die Borarbeiten, fie gedichen rafch, cine 
Fille von Anmeldungen lief cin auf die erlaſſenen 
Cinladungen. Das Minifterium fiir Kirche und Schule 
überwies Parterre und auch den erſten Stod vom 


Studiengebdiude des neuen Nationalmuſeums, damit — 
| omit Erfolg unterworfen. 


alle Gegenſtände anſchaulich geordnet werden fonnten, 
War fomit die Lage des Unternehmends an der 
ftattlichen Bring Regentenftrafe aufs giinftigite ge: 
ftellt, fo bat auch der rege Befuch gezeigt, daß der 
rene Gedanke erfreulich anfangt, weiteren Boden 
zu fafjen. 

Tas erſte Zimmer jeigt uns in ciner Niſche 
an Abbildungen, Modellen und PBraparaten die 
Wirfung des alten Korſetts und der ſchnürenden 
Pinder und Taillengurte. Iſt man fic) über die 
Wirfung des Korſetts ſchon etwas flarer, fo pflegt 
man bod die Bander und Gurte der Unterfleider 
nod fiir unſchuldig zu balten; aber auch fie richten 
Schaden an: cine praparierte mormale Leber zeigt 
bie volle, runde Wolbung ciner Halbfugel Cin 
benachbarted Praparat jeigt, wie die febniirenden 
Bander in der glatten Wölbung cine tiefe Cin: 
fenfung verurſacht haben, fo dap fie mun fajt wie 
cine Doppelfemmel ausſieht. 

Weiter zeigt der erfte Raum eine Fille von 
Heformforfetts, fie reichen nur bis in die Taille 
und find mit Knopfvorrichtung an den Seiten des 
unteren Randes verfeben, um daran die Gurte der 
Untertleider zu befeftigen. Denn das Hauptpringip 
der neuen Kleidung berubt ja darauf: die Hüften 
und Taille vom Drude der Gewander zu entlaften, 
und den Schultern cinen Teil ded Gewichtes zu— 
zuweiſen. Alſo gebiibrt vor allem der Neuordnung 
der Unterfleider die erfte Mufmerffamtcit. 

ines neuen Stoffes gu Untertlerdern aus der 
indifchen Neffelfafer fer auch gedacht. Er wird als 





119 


Hefonders gefiind gerühmt, fühlt ſich kühl wie Lein 
an, hat gelbliche Farbe und wird zu feſtem 
und luftdurchläſſigem, trifotartigem Gewebe ver: 
arbeitet. 

Der folgende Raum zeigt an geſchichtlichen 
Koftiimen, daß die neue Tracht fich ſchon an friihere 
Borbilder anlehnt, namentlich an die Empirezeit. 
Aus Familienbefis wurden mebrere ſchöone, foftbare 
Seibentleider ausgeftellt. Dazwiſchen zeigt cin 
echtes Dachauer Kleid die ſchädliche Wucht des 
unendlich diden Faltenrokes. Einen wirkungs— 
vollen Gegenſatz dazu bildet ein modernes ſogen. 
Sansventre:Koftiim. Das neue Nationalmuſeum 
fpendete cine grofe Heibe von Wbbiloungen und 
Schriſten aus dem Gebiet der Frauenkleidung fonft, 
jest und in Sufunft. 

Den letzten grofen PBarterreraum befchicten 
mebrere kunſtgewerbliche Ateliers und Wertitatten, 
und wir feben, wie fich dem neuen Schnitt auch 
neue, geſchmackvolle Verzierungen in Applifations: 
arbeit und Stiderci anpafjen. Bor allem aefallen 
uns die von Fri. Clifabeth Beyſchlag ent— 
worfenen Gewänder. Cin Dinertleid von bläulichem 
Sammet weift hübſche Ornamente von grauem 
Yeder und gelblicher Seidenſtickerei auf. Cine bell: 
mattgelbe Seidentoilette ift mit Blattgeranfe in 
grüner Tafftapplifation geſchmückt. Auch cine 
praltiſche Schürze nad neuem Schnitt, von den 
Schultern glatt herabhängend, von grauem 
Lein, iſt im Seidenkettſtich mit Muſter nach 
neuem Stil geſtickt. Frau Olga Schirlitz— 
Behrend ſteuerte ein gelbſeidenes Ripskleid mit 
Schleppe bei, reich mit Ornamenten in grünlichen, 
bläulichen, grauen und rötlichen Tönen prangend. 
Sugar die Sportkleidung wird dem neuen Prinzip 
Das engärmelige Hemd 


ſchließt am Halſe und ift aus gröbſtem Yein in 


Ivoirefarbe. Darüber ſchmiegt fic ein graues 
Lodengewand dem Körper loſe an. Rote 
und grüne Lederſtickereien geben einen luſtigen 
Aufputz. Die Schneiderſchule Berg Viibl lieferte 
zu einem dunlelgrauen Jackenanzug die genaue 
Anweiſung, wie Rock an Jacke zu befeſtigen iſt. 

Im erſten Stock find Mantel, Jacken, Pelzſachen, 
Schmuck- und Beſatzſtoffe zu ſehen. Der Verein 
für weibliche Induſtrie in Weimar ſandte eigen— 
artige Stoffe fiir Kinderkleider aus hellem Zeug 
mit eingewebten, abgepaßten bunten Streifen. 

Auch die Verbeſſerung der Fußbelleidung iſt 
mit in die Ausſtellung einbezogen, und cine Reihe 
pon Firmen, Ddarunter folde aus Berlin und 
Hannover, macht anſchaulich, wie die ſchmale Schuh— 
ipite die Zehen verkrüppelt, dagegen die runde 
Spitze dem Fuße ſeine von der Natur gegebene 
Form erhält und ſchützt. 

Plaſtiſche Kunſtwerle, die überall an Treppen, 
Fenſtern, Türpfeilern ſtehen, helfen den mit über— 
zeugen, der ſehen fan and will; fie reden deutlich 
ad oculos, und der Benus von Milo göttlicher 
Leib predigt laut von der Heilſamkeit und Schonbeit 
der neuer Reformtracht. 

Die Leitung der Ausftellung bat vom Minifterium 
dic Erlaubnis erbalten, die Wusftellungsraume im 
Nationalmuſeum ned bis yum 20, Oftober fort: 
beniiten zu dürſen. Bon München aus geben die 


* 


Schauſtücke nach Berlin, J. B. 


⸗ 
cnt 400 * 


Radrrud mit Quellenangabe erlaubi. 


* Die Madden. und Franen- Gruppen fiir 
foziale Hilfsarbeit gu Berlin (Vorfigende: 


Wl. Alice Salomon) Hliden im Oftober 
dieſes Jabres auf ihr zehnjähriges Beſtehen 
zurüch. Ihre Entwicklung, über die cine kleine 


Denkſchrift (im Selbſtverlag des Vereins), die ſo— 
eben erſchienen iſt, einen ÜUberblick gibt, reflettiert 
in einem kleinen Spiegel eine der wichtigſten Um— 
wandlungen im Frauenleben unſerer Gegenwart: 
das Erwachen des ſozialen, ded Bürgerbewußtſeins 
in ber Frau, das Aufſteigen der Erfenntnis, dah 
dieſe Pflichten mit einer planlos und gedantenlos 
geitbten Charitas nicht erfiillt find, fondern dap es 
baju einer ernften fosialpolitifden Schulung bedarf. 
Unter der Leitung von Frau Jeannette Schwerin 
ift in der Organifation der Arbeit cine Grundlage 
fiic bie Durchfiibrung dieſer Gedanfen gegeben 
worden, auf der. die Gruppen fich weiterentwidelt, 
die fie dauernd verbreitert und gefeftigt baben. 
Ihr wefentlides Merkmal ift die Schulung ibrer 
Mitglieder durch theoretiſche Kurſe einerfeits, durch 
praftifde Arbeit in allen Arten von Woblfahrts: 
anftalten, Auskunftſtellen, bei Enqueten se. andererfeits. 
Die Zahl der Helferinnen bat fich bis auf faft 500 
geboben, und, was nod mebr bedeutet, ihre Arbeit 
bat fic iiberall als fo wertvoll erwiefen, daß man 
fie jetzt von allen Seiten über bie zur Berfiiqung 
ftehenden Kräfte binaus fucht, wibrend die Leitung 
in den erften Qabren Schwierigkeiten hatte, ibren 
Helferinnen die erforderlichen „Lehrſtellen“ in ge: 
niigender Zahl zu verſchaffen. Zugleich beweiſt 
nicht nur das Entſtehen gleicher Vereinigungen in 
Bremen, Köonigsberg, Hamburg, Frankfurt, Caſſel, 
Leipzig, ſondern auch die Ubernahme des in den 
Gruppen verkörperten Prinzips durch alle Arten 
anderer lonfeſſioneller und interkonfeſſioneller 
Wohlfahrtsvereine und Bildungsanſtalten für 
Frauen, daß der dort eingeſchlagene Weg ein tiefes 
geiſtiges und ſoziales Bedürfnis unſerer Zeit in 
zweckmäßigſter Weiſe zum Ziel führte. 

Was in den Gruppen von Frauen geſchaffen 
worden iſt, beruht gewiß auf den Kenntniſſen 





i > FRALIE (Ze 
(he — CA 


ey 


* 
i 54 
— 


und der Organiſationsfähigleit ihrer Leiterinnen 
Jeannette Schwerin und Alice Salomon; 
eS ijt aber in nod höherem Make eine Schöpfung 
eines tiefen fosialen Gefühls und eines ernjten 
fojialen Gewiſſens, bad in den Leiterinnen eine 
(ebendige Kraft war und von ibnen aus dem ganjen 
Kreife der Mitarbeiterinnen das Geprage gegeben 
bat. Die deutſche Fraucnbewequng darf ſtolz auf 
bad fein, was bier — wenn auch nicht unmittelbar 
und abſichtlich — fo doch im tieferen Sinne in 
ibrem Dienft geſchaffen worden ijt. 


*Zwanzig Jahre im Dienſt der Lehrerinnen: 
fade, Cine Reitidrift, die an der CEntividlung 
unjerer Lebrerinnenbewegung einen gang bervor- 
ragenden Anteil bat, hat im Oftober ibren 20. Jaber: 
gang vollendet. Die „Lehrerin in Schule und 
Haus", das jehige Organ ded Allgemeinen Deutſchen 
Lebrerinnenvereing, iff 1884 von Frau Marie 
Loeper-Houffelle gegriindet worden. Sie bat 
unter ben größten Schivierigkeiten, in einer Reit, 
wo der Lebrerinnenftand nod nicht yum Trager 
eines eigenen Organs gereift war, die deutfden 
Lebrerinnen ju felbftandigem Erfaſſen ibrer Berufs— 
und Stanbespflichten zuerſt erjieben elfen, fie bat 
die raſche Entwicklung bes Lebrerinnenftandes jtets 
verftebend und firdernd begleitet. Der Heraus— 
geberin fei auc) an diefer Stelle im Namen der 
Frauenbewegung cin warmer Dank ausgeſprochen. 


* Zuriidsichung der weibliden Beamten vom 
Fahrlartendienft. Der preußiſche Minifter der 
dffentliden Arbeiten hat, wie Berliner Blatter 
melden, an die nachgeordneten Eiſenbahndireltionen 
cine Berfiigung erlafjen, nad der die weiblicen 
Beamten im Cijenbabndienft von den Fabrlarten: 
ſchaltern zurückzuziehen und im inneren Dienjt ju 
verwenden find. Diefe Maßregel foll fobald wie 


möoglich in Kraft treten, wenn geniigend mannfide 


Beamte fiir den Schalterdienft ausgebildet find und 
fiir diefen verwandt werden können; es foll died ge: 
ſchehen, , damit die weiblichen Beamten moglichſt wenig 
in direkte Berührung mit dem Publifum kommen.“ 


Zur Fraucnbewegung. 


* Urmenpfiegeriunen. Auf Antrag des Bereins | 


„Frauenwohl“ gu Witten beſchloß die Stadtverord: 
netenverſammlung am 1. Ofteber, Frauen verſuchs 
weife zur Teilnahme an ber ſtädtiſchen Armenpflege 
zuzulaſſen. Seit einem Jahre bereits ſind mehrere 
Frauen als Vormünderinnen tätig. 


* Franenftudium ant den bayerijdjen 
Univerjitdten, Bom Winterfemefter 1903/04 an 
werden aud an den baberifeben Univerfitdten 
weiblide Stubierende, welche bas Reifezeugnis 
eines deutſchen humaniſtiſchen Gymnafiumd oder 
eines deutſchen Realgymnaſiums beſitzen, zur 
Immatrikulation nad § 4 der Studien-Sagungen 
zugelaſſen. Das iff cin groper Fortſchritt der 
Cache des Franenitudiumsd, der boffentlicd aud auf 
andere Staaten feine Wirlungen nit verfeblen wird, 

* Freiburg i. Be. Coedneation, Im ab: 
gelaufenen Schuljahr beſuchten 5 Schiilerinnen dic 
Oberrealſchule in Freiburg i. Br. Ihre Leiſtungen 
ſtellten ſich am Schluß des Schuljahres als duferft 


befriedigend heraus, indem von den 4 Schülerinnen 


der Unterprima eine den zweiten, eine den dritten 
und cine ben vierten Platz in ihrer Klaſſe inne: 
balten, während bic Sebiilerin der Untertertia den 
erften Nlafienplay erbielt. Auch das Berhaltnis 
zu Lebrern und Mitſchülern bat ſich in febr 
befriedigender Weiſe geftaltet. 

*Zu 8 8 des preußiſchen Vereinsgeſetzes. 
Der Maurer A. B. zu Lauenburg, welcher Vor— 
ſihzender eines Gewerkſchaftslartells iſt, erſuchte die 
Ortspolizeibehörde im Sommer vorigen Jahres, 
ibm die Genehmigung zur Abhaltung eines Gewerl⸗ 
ſchaftsfeſtes mit Konzert und Ball erteilen zu wollen. 
Die Polizeibehörde verfagte aber die Genehmigung, 
ba das Gewerkſchaftslartell ein politiſcher Verein 
im Sinne des 8 8 ded Bereinggefeted fei. Frauen, 
die gu cinem Ball erforderlich feien, diirfen nad 


politiiden Bereinen nicht beiwohnen. Nach frucht— 
fofer Beſchwerde erbob B. gegen den Regierungs: 
prifidenten Klage mit der Ausführung, das Mewert: 
ſchaftskartell gehöre nicht gu den politifden Vereinen, 








121 


Gewerlfdbaftstartell aus phyſiſchen Berjonen beftebe 
und bexwede, wie die Alten der Polizeibehörde 
beweiſen, politiſche Geqenftande in Verſammlungen 
zu erörtern. Das Oberverwaltungsgericht wies 
auch die von B. erhobene Klage gegen den 
Regierungspräſidenten als unbegründet zurück. 
(Soz. Praris.) 


* Tiber dic tägliche Arbeitszeit der in Berlin, 
Charlottenburg, Schöneberg und Rirdorf beſchäftigten 
Urbeiterinnen hat ber Gewerberat Hartmann Gr: 
mittclungen angeftellt, deren hauptſächlichſte Er— 
acbuiffe folgende find. In 4752 Betrieben, von 
denen 2753 auf das Bekleidungs und Reinigungs— 
gewerbe entfallen, waren 63264 UArbeiterinnen 
befdaftigt und gwar 25.850 in 1832 Betrieben mit 
neunfliindiger Arbeitszeit und darunter. 30414 
arbeiteten in 2391 Betrieben zwiſchen 9 und 10 
Stunden, TOO] in 489 Betrieben 10 bis 11 Stunden. 
ine Wittagspauje von 1—I1'/), Stunden batten 
19249 Arbeiterinnen in 1944 Betrieben, 11/,—2 
Stunden BOBS in 475 Betricben. Die Durch— 
ichnittsarbeitsjcit betragt 9'/, Stunden. Cine iiber 
bas Normale oft hinausgehende Arbeitszeit wird 
bet ber Konfektionstätigkeit beobachtet. Im ganzen 
iſt jedoch für Berlin und die Vororte der Sehnjtunden: 
arbeitstag ſo gut wie durchgeführt, ſodaß ſeine 
geſelzliche Feſtlegung einen Schwierigleiten begegnen 
würde. 

*Das kirchliche Frauenſtimmrecht im Kanton 
Waadt wurde mit einer Petition gefordert, die 
5000 Unterſchriften trägt. Bekanntlich iſt in der 
Schweiz dieſe Frage, die im Kanton Zürich zuerſt 
angeregt wurde, ſchon ſeit längerer Zeit auch in 
theologiſchen Nreijen in Fluß. Auch die General: 
verſammlung des Bundes der ſchweizeriſchen Frauen: 
vereine, bie focben ftattgefunden bat, bejchaftigte 


ſich damit. 
8 8 bed Vereinsgeſetzes den Verſammlungen von | 


bie bezwecken, politiſche Gegenſtände in ibren Ber: | 


fammlungen gu erdrtern, Das Gewerkſchaftskartell 
bejtebe aus Delegierten verſchiedener Berbande, 
welche ſich gegenſeitig unterftiipen wollen, Wenn 
ferner im BereinSgefese beftimmt werde, Frauen, 
Schüler und Lehrlinge dürfen den Berſammlungen 
und Sitzungen von politiſchen Vereinen nicht bei— 


*Weibliche Studenten an holländiſchen Uni— 
verſitäten. Die Zahl der weiblichen Studenten 
beträgt an den verichiedenen Univerſitäten in Holland 
wie folgt: in Amſterdam 86, darunter find 24 
fiir dieſen Murfué neu cingetragen worden; in 
Utredt in der mediziniſchen Fatultat 20, in der 
Mathematif 25, in der Philologie 12 und in der 
Theologie J. In Leiden jtudieren 79 Damen 
und in Groningen 36. (Haarlemer Courant.) 


* Den Anteil der Fran am Kleingrundbeſitz 


zu erforſchen, bat der Konig von Schweden Fri. 


wobnen, fo fonne eine Tanjluftbarteit nicht als, 


cine Berjammlung ober Sitzung cines Bereing an: 
gefehen werden. Der Regicrungsprafident beantragte 


bingegen die Abweiſung der Klage, da dad fragliche 


Karoline Brafoord cinen Reiſezuſchuß von 400 Kronen 
bewilligt. 

*Die Zahl der weiblichen Arzte in Jowa 
iſt in den letzten 4 Jahren von 98 anf 155 geſtiegen. 


tse - 


122 





Die Mütter“. 
yon Hedwig Dobhm. Berlin, S. Fiſcher Verlag. 
In ciner Reibe cingelner Aufſätze bebandelt die 
qciftvolle Vorlämpferin — bier bedeutet das viel: 
mifbraudte Wort cinmal wirklich etwas — der 
Frauenbewegung Fragen der Erziehung, des Ber: 


Beitrag zur Erziehungsfrage 


haltniſſes von Mutter und Kind. Sie bewahrt 
aud in diefem Buch den Charafter, der all ibren 
Eſſays ihren Reiz gibt. Einzelbeobachtungen von 
frappierender Scarfe und Feinbeit wirft fie in die 
Wagſchale, wo die angebetete Theoric, die fable 
convenue, fdeinbar fdon den Ausſchlag gegeben 
bat, und das Zünglein beginnt noch cinmal 
bedentli zu ſchwanken. Und fo find ibre 
Beobachtungen wobl geeignet, die ſoziologiſche Be— 
tradtung durch die individuelle Erfabrung ju 
forrigieren und ju ergänzen. Der Reig einer aus: 
geſprochenen Andividualitat ficat auch über Stil 
und Darftellung. Die Cffavs find wie bervor: 
qegangen aus der Unterhaltung, und man meint 
ordentlich gu feben, wie die Verfaſſerin ihren Wegner 
durch irgend cinen uncrivarteten, — auch unerivartet 
wabren Einwand matt fest. Fein und anmutig ift der 
Aufſatz über ,alte Frauen”. 


„Grundrißt der Religionsphiloſophie“ von 
D. Dr. A. Dorner. Leipzig, Verlag der Diirrichen 
Buchhandlung. 1903. (448 S.) Preis 7 Mart. 
Borliegendes Buch macht den Berfuch, vermittelft 
einer Kombination religionsgeſchichtlicher und 
religionspſychologiſcher Forſchungen mit meta: 
phyſiſchen Betracdtungen die Frage nad Wejen, 
Wert und Wabrbeit der Religion yur Entideidung 
su bringen. Abgeſehen von der Einleitung, die 
der Religionsphilofophie thre Stelle tm ganzen der 
Philoſophie itberhaupt anweift, glicdert ſich die 
Schrift in folgende vier Hauptteile: A. Die Dar: 
ftellung der Religion als Verbaltnis Mottes und 
des Menſchen (Phanomenologic des religiöſen 
Bewußtſeins der Menſchheit); B. die Begründung 
der Religion in Gott (Metaphyſik der Religion); 
C, pſychologiſche Betradtung des religiojen Subjetts 
und feiner Wetitigungen; TD. die Geſetze des 
religtofen Lebens. Wir heben des beſchränkten 
Raumes wegen nur einiges Charatteriftiide heraus. 
Dazu gehört in erfter Yinie der energiſche Kampf 
gegen die auf der Grundlage eines antimetaphyſiſchen 


Agnoftizismus und naturaliftijden Evolutionismus 


ſich erbebende cinjeitige pſychologiſche und hiſtoriſche 
Betrachtungsweiſe, ferner der Proteft gegen dtc 
durch den Neufantianismus, insbeſondere die 
Theologie Albrecht Ritſchlo, yur Herrſchaft gebrachte 
Auffaſſung der Religion als vor allem und 
weſentlich praktiſcher Große, endlich die ſtrilte 





Ablehnung jedes rein anthropologiſchen Erflarungs: 
verſuchs. Nach dieſem iſt die Religion cin meta: 
phyſiſch begründetes Bhanomen, an dem alle 
piychologiſchen Funktionen gleichermaßen beteiligt 
ſind. Der hiſtoriſche Entwidelungsprozeß iſt nichts 
weiter als die immer völligere Verwirklichung des 
religiöſen Ideals. Im Chriſtentum, deſſen Prinzip 
von den mannigfachen Erſcheinungsformen unter 
ſchieden werden muß, iſt der Nulminationspuntt 
des religiöſen Werdeganges erreicht. Das Ideal, 
die volle Gottmenſchheit, iſt verwirllicht. Darum 
iſt das Chriſtentum abſolute Religion, ſeinem 
Vrinzip nach unüberſchreitbar. Der einzigartige 
Wert der Religion in theoretiſcher wie praktiſcher 
Rückſicht, ihre Unentbehrlichleit für die Bildung 
ciner . cinheitlichen Weltanſchauung wie auc fiir 
cinen ſegensreichen Fortſchritt in fultureller, ins: 
bejondere moralifder Beziehung werden vom Ber: 
fajier unter fteter Bezugnahme auf die vielfad 
anders gericteten Tendenzen der Gegenwart gleich— 
falls sur Sprache gebracht. Wer fied fiir religions: 
philoſophiſche Fragen intereffiert, wird aus dem 
Buche mandes fernen fonnen. 
Widminnen, O.P. M. Luar, Prediger. 


p Die Riniginnen von Kungahälla“. Novellen 
pon Selma Lagerlsf. Einzig beredstigte Uber: 
ſetzung aus dem Schwediſchen von Francis Maro. 
Albert Langen, Verlag fiir Literatur und Munjt. 
Minden 1903. Die feltene und cigenartige 
Fähigleit, alte Sagenftoffe neu zu geftalten, die 
Selma Lagerlöf ſchon in Gifta Berling bewieſen, 
berührt uns auc in dieſer Sammlung wieder mit 
kräftigem berbem Saud. Selma Lagerlof befigt 
wie wenige moderne Schriftſteller — wie wenige 
moderne Menſchen — die innere Ganzheit, die 
Unberührtheit durch Problemſucht und zerfaſernde 
Reflexion, die zu reinem, ſtarkem und in gewiſſem 
Sinn naivem Dichter und Geſtalten die Kraft 
qibt. Sie fiebt die Fragen unſeres ſeeliſchen und 
Medantenlebens in cinfachen und großen Formen, 
und ſie fieht ibre Geftalten Mar und ſchlicht und 
ſinnlich. So darf jie es wagen, an den Helden 
alter Seiten weiter zu bilden, fidjer, ihr Wejen 
nicht zu zerſtören. Einfach und unwillkürlich fügt 
ſich auch das, was fie bincintragt in die alte Welt, 
ibrem Stil und ihrer Wert. 


„Allein ich will’, Roman von Frieda Freiin 
yon Bülow. Dresden und Leipzig. Verlag von 
Rarl Reifiner, 1905. Frieda von Bülow führt in 
ibvem neuen Homan wieder in das Milieu, das 
iby vor allem vertraut ijt, die Kreiſe Ded thüringiſchen 
Yandadels. Die Meftalten dices Kreiſes ftellt fte 
in gewobnter Lebendigfcit und in einer typiſchen 


Biicheriebau. 


Treue hin, die man wie bei cinem quten Bortrat | 
empjindet, aud obne das Urbild yu fennen: die | 
fraftige, {are Gunne, cin Freiluftgeſchöpf von 
raffiger Schinbeit und Gangbeit, die alles gewalt— 
titig proteaierende Grafin Dieter, deren Innerlich— 
feit in einem reizvoll problematijden Dunfel bleibt, 
der alte Graf in feiner umerichiitterlichen bof: 
minnifden Oaltung, deren Züge die Spuren abr: 
bunderte alter Trabditionen zeigen. Ausgezeichnet 
ift auc) der Typus der kleinen Dorfdiafoniffin ge- 
ſchildert, wabrend der cigentliche Held, der Pfarrer 
Vaca, troy vieler lebendiger und unmittelbar 
fprechenber Siige etwas Gedantenhaftes, nicht ganz 
zu Fleiſch und Blut Gewordeneds bat. Der Geſamt⸗ 
cindrud, den „Allein ic will’ binterlaft, ift der 
cines nach Form und Inhalt feinen Buches. 


2e Congrés International des Oeuvres ot 
Institutions Féminines tenu au Palais des 
Congres de l'Exposition Universelle de 1900, 
Compte rendu de Travaux par Mme Pégard, 
Paris. Imprimerie Typographique Charles Blot. 
7, Rue Bleae, 1902. Die vier ftattliden Bande | 
(jeder ift 500-800 Seiten fang) der Verbandlungen 
des vor Mle Monod geleiteten internationalen 
Kongreſſes geben cin Bild, weniger derinternationalen 
Frauenbewegung, al der franzöſiſchen, da das 
franzöſiſche Element bier mehr als ſonſt wobl die 
Gigenart des Landes, in dem der internationale 
Kongreß ftattfindet, in ben Vordergrund trat. Ait das | 
cin Abbrud nad der Seite des Anternationalismus, 
fo erhöht es doch dad Charafteriitijde diefer Ber: 
handlungen und ihren Wert fiir die Renntnis gerade 
der franzöſiſchen Bewegung, iiber die uns font 
nidt viel Material vorliegt. Der Bericht folgt 
chronologifd) dem Programm der Verbandlungen, 
nicht der Berteilung auf die Seftionen, wie cd 
vielleicht tiberfichtlicher gewefen ware. Die Seftionen 
umfajjen Philanthropie et Economie sociale; 
Legislation et Morale; Education; ‘Travail; 
Lettres, Sciences. Cine Menge brennender Fragen 
der Frauenbewegung aller Lander werden erdrtert. 
Die Gegenjage ftofen gum Teil heftig aufcinander, 
das madt das Bild um fo bewegter und die Dis: 
tuſſion um fo vielſeitiger. Beſonderes Intereſſe 
haben die Verhandlungen über Frauen: und Kinder: 
arbeit, über die Sittlicifeitsirage, iiber die Frau 
im Familienredht. Man lernt für die Wrbeit tm 
cigenen Lande febr viel aus dev Kenntnis frember 
Anjdauungen und Sujtinde, Forderungen. und 
Fortſchritte auf dem gleichen Gebiet. An Bereins: 
bibliothbefen und ,,Bibliothefen zur Fraucnfrage” 
follte das Werf unbedingt vorbanden fein. 








„Geſchlecht und Charafter’’. Cine pringipielle 
Unterfudung von Dr. Otto Weininger. Wien 
und Leipzig, Wilhelm Broumiiller, A. u. K. Hof: 
und Univerfitats Bucbandler 1903. Cin 600 Seiten 
ftarfer Band unter diefem Titel muß allen, die an | 
der „Frauenfrage“ cin Intereſſe baben, zunächſt 
als eine hochwilllommene Gabe erſcheinen. Iſt 
dod) die Frage nad der geiftigen Differenjierung 
der Geſchlechter gugleich fo brennend und fo ſchwer, 
daß cin Beitrag zur Loſung von außerlich fo 
burchaus wiſſenſchaftlichem Geprage unter allen | 
Umſtänden wertvoll erſcheinen mus. Cin wenig ) 
ftusig macht nun ſchon die Borrede. C8 jollen 
nicht die Ergebniffe der erperimentellen Pſychologie 
verivertet, jondern es foll „die Ubleitung alles | 


123 


Megenfabes von Mann und Weib aus cinem 
einzigen Prinzip“ verfucht werden, Trotzdem will 
der Berfaffer nicht ,,induftive Metapbyfit’, fondern 
„ſchrittweiſe pſychologiſche Vertiefung“ geben. Cr 
will wohl von der Erfabrung ausgeben, ſogar vom 
„Alltäglichſten und Oberflächlichſten“, aber er will 
fie dann philoſophiſch deuten. Was dabei berauss 
fommt, erinnert etwas an die pbhilofopbifden 
Gedichte der Gnoſtiker: cine willkürliche Anwendung 
philoſophiſcher Begriffe auf Gebiete pfychologiſcher 
Erfabrung, bet der fic) die allerwunderbarſten 
Rejultate ergeben, cin Mißbrauch der Wiſſenſchaft, 
gegen den fic von ihrem Standpuntt aus vielleicht 
nod das Wort ergreift — wenn cd ihr lohnt; 
ein Spiel mit logiſchen Formen, bet dem man nur 
nicht begreift, wie der Verfaſſer, der cine äußerlich 
fo reiche philoſophiſche Bildung befigt, im Weſen 
feiner geiftigen Arbeit fo durchaus unwiſſenſchaftlich 
fein fann, Und fo ift das Buch fiir die Lofung 
der Frage „Geſchlecht und Charafter” im Grunde 
vollfommen wertlos — von dem Zynismus, mit 
dem der Berfafier feine CErfabrungen über die 
Frauen gemacht und verivertet bat, gar nicht ju 
reden. Seine Definition ded Weiblicden tft das 
Ungebeuerlicite, was je über die Frau gejagt 
worden ift. Sie ernft nebmen hieße fic) lächerlich 


machen. 


„Deutſches Familienrecht“. Von Dr. Ocinrig 
Dernburg, Geb. Juſtizrat, Prof. a. d. Universitat 
Berlin, Mital. d. Herrenhauſes. Halle a. S. Buch— 
handlung des Waifenbaujes, 1903, Preis gebunden 
12 Markl. Das neue bürgerliche Geſetzbuch ijt und 
bleibt im feiner rein juriſtiſchen Faſſung den meiften 
Yaien cin Buch mit fieben Siegeln. Das möchte 
am meiften beim Familienrecht zu beflagen fein, 
deffen Vorſchriften die innerlichſten Antereffen der 
allerbreitejten Bevolferungsfreije unter Umſtänden 
beriihbren fénnen. Das Buch des befannten Juriften 


| Dernburg hat ſich die Aufgabe geitellt, das Familien: 
recht des neuen bürgerlichen Gefegbudes zu er: 


tlären; fowobl in beyug auf feine Bedeutung fiir 
die im Buchftaben des Geſetzes gar nicht auedriic: 
baren hundert verſchiedenen individucllen Falle des 
lebendigen Lebens, als auch vor allem in bejug 
auf die Abjidten ded Geſetzgebers, die bei der 
Schaffung ded biirgerlichen Geſetzbuches mafgebend 
geweſen find. Er jcigt und in der objettiven Be: 
leuchtung der Wiſſenſchaft die verſchiedenen rid: 
laufigen und forticbrittlidjen Stromungen, die bet 
ber Entſtehung qeaencinander wirften, und lebrt fo 
jeden Paragraphen verſtehen als cin hiſtoriſches 
Dofument gewiffermafen. Gerade wer, wie wir 
Frauen, an die Notwendigleit ciner ſchnellen Weiter 
entwidlung des Familienrechts glaubt, wird aus 
diefen klaren, fachlichen umd von vornehmem twiffen: 
ſchaftlichen Gift getragenen Darftellungen den 
größten Nugen ziehen fonnen, aud wo man dic 
leiſe angedentete ober doch durchblidende Stellung 
ded Verfaſſers yu dieſer oder jener Frage nicht 
teilt. Renntnis nicht nur ded Wortlauts, fondern 
auc der fojialen und biftorijden Bedeutung des 
herrſchenden Familienrechts ift aber die erfte Not: 
wendigfeit, wenn die Frauen binnen furyem mit 
neuen — oder gum Teil mit den alten — Wiinjden 
an die Geſetzgebung berantreten wollen. Wir fonnen 
bem Buch, das diele Renntnis wie fein anderes 
vermittelt, nur in unferm cigenften Sutereffe dic 
weitefte Berbreitung wünſchen. 


14 Bucherſchau. — Anjeigen. 


„Mutterrecht, Frauenfrage und Welt— 
auſchaunng““ von Dr. Mar Thal. Breslau, 
Schleſiſche Berlagsanftalt von S. Schottlaender, 
1903. Der Verfaſſer gebt aus von einer Daritellung 
des Mutterrechts im Anſchluß an ein new er: 
ſchienenes juriftifdes Buc von Paul Wilutzky, 
deffen erfter Teil: Mann und Weib, diefe Frage im 
Sinne von Bachofen cingehend behandelt. Die 
feit Bachofen viel betonte Bedeutung des Ber: 
baltnijfes von Mutter und Kind fiir die Entwidhing 
ſozialer Gefittung wird auch bier ftarf bervor: 
achoben. Die Gegner Bachofens ſcheinen cin wenig 
zu flüchtig abgetan, als daß der Laie ein klares 
Bild von den Grundlagen ihrer Einwände erhalten 
fonnte. Im zweiten Abfebnitt gebt der Berfaffer 
unter der Überſchrift: „Frauenfrage und Zeitgeiſt“ 
auf die Gegenwart iiber. Gr fieht die Urſachen 
der josialen Stellung der Frau in der Gegenivart 
in antbropiftifdben, ökonomiſchen und ſittlichen 
Momenten, die er dann in großen Zügen — gerecht 
und vorurteilsfrei, aber beſonders in bezug auf die 
dlonomiſche Seite der Frage ein wenig zu 
ſummariſch — beleuchtet. Mudd in der Art der 
Sceidung von bürgerlicher und proletarifder 
Wrauenfrage, bei der dte gange Frage der Frauen: 
Lobne als „Frauenfrage“ nicht anerfannt wird, 
liegt vielleicht vom formal juriſtiſchen Standpuntt 
aus cine gewiffe Berechtigung, aber die volfswirt: 
ſchaftlichen Sufammenhange werden durch dieſe 
Scheidung nicht Mar herausgeftellt. Die Forderung, 
daß die Musbeutung der weiblichen Arbeit durch 
nicdere CEntlobnung fiir gleichwertige Leiftung 
bejeitigt werde, fann als eine „offenſichtlich 
nur ſozialiſtiſche“, die mit der Frauenfrage 
eigentlich nichts zu tun babe, nicht wobl aufgefaßt 
werden. Etwas zu niedrig ſcheint der Verfajjer 
auch die Bedeutung der Mutterſchaft für die 
Erwerbstätigkeit der Frau einzuſchätzen. Aber über 
dieſe einzelnen Fragen müſſen tm Augenblick die 
Meinungen mit Notwendigkeit auseinandergehen Die 
Hauptſache iſt, daß an die Betrachtung der Tat— 
ſachen ohne vorgefaßte Meinungen und Urteile heran— 
gegangen wird. Und das iſt hier durchaus der Fall. 








„Der alte und der neue Glaube“. Ein Be— 
lenninis von David Friedrich Strauf. Bolts: 
ausgabe in unverlürzter Form. „Das Leben 
Jeſu“. Für das deutſche Volk bearbeitet von 
David Friedrich Strauß. Zwei Teile. Volks— 
ausgabe in zwei Banden. (Preis 2 Mark.) Bonn, 
Verlag von Emil Strauf. 104. So boc man 
bie biftorifdbe Bedeutung von David Fricdric Straus 
einſchätzen mag, fo ſcheint es faum gerechtfertigt, 
ibn heute in Maffen unter das Volk gu verbreiten. 
Strauß felbjt bat fied cinmal peinlich beriibrt ge: 
funden, als ihm feine aud wiſſenſchaftlicher Arbeit 
und inneren Kämpfen geborenen Anjehauungen 
wieder entgegengebracht wurden von einem leicht⸗ 
fertigen, flachen Radilalismus, den fic weder wiſſen— 
ſchaftliche, noch Gewiſſenskämpfe getoftct batten. 
Und etwas Ahnliches tut ihm eine ſolche Volks: 
audgabe doc) wieder an. Beſonders das , eben 
Jeſu“, iiber deſſen wiſſenſchaftliche Methode die 
Theologic in ebrlicer Arbeit binausgefommen ijt, 
follte dem deutiden Bolt nicht nod einmal als 
etwas vor der Wiſſenſchaft Giltiges — fo wird es 
dod natürlich aufgefaft — Ddargeboten werden. 
Dem reifen Menfchen, der von der Cinfeitiateit der 
Meinung die Bedeutung der Perſönlichleit qu trennen 
vermag, Strauß in feinen biftorifden Sufammen: 
hang zu ftellen, ibn als cine Erſcheinung in der 
Sntwidlung des deutſchen Geiftestebens zu erfajjen 
verftebt, dem mag die billige Musgabe wertoll 
fein. Uber das find dod) nur twenige. 


Die Ubhiirtung der Kinder’, cin Mabnivort 
und Wegweifer von Dr. Rudolf Heder, Privat: 
dozent ber Minderbeilfunde an der Univerfitat 
Minden. Gebauer⸗Schwetſchke, Hallea.S 1,60 Mt. 

Der Verfaſſer gibt aus feiner reidbaltigen 
Erfabrung wertvolle Ratſchläge ſür Mütter und 
Erzieher. Cr tft durdaus nicht gegen die Wb: 
bartung der Minder, wendet fic) aber auf das 
entidicdenjte gegen die fogenannte ſyſtematiſche 
Kaltwaſſerabhärtung fleiner Kinder, aus der nad 
ſeiner Erfabrung, von der er zablreiche Beiſpiele 
beridjtet, weit mebr Schaden als Nugen bervorgebt. 








* 


Mit 


olchen friſchen Mundes Pracht, 





Mit ſolchen blanfen Zähnen lacht, 
Wer täglich, namentlich vor Nacht, 
„Odol“ fic zum Geſetze macht! 


Bücherſchau. — Anjeigen. 125 


Schering’s Pepsin 


nod Dorfdrift vom Geh«Rath Profeflor Dr. O. Ltebreich, befcitigt binnew kurzer Bett Verdanungs- 
beſchwerden, Sodbrennen, Magenverſchleimung, dic dolgen von Unmsgigtels tm Shien 
und Trinken, und ijt gang befonders Frauen und Madchen zu cnpfeblen, die rnfolge Bleichſucht, Hofterie und aͤhnlichen 
Suhduden en nerviter Magenſchwäche tciven. Preis Fl. 3 Ol, Jl. 1,50 M. 
4 ’ 3*43 Berlin N., 
Schering's Griine Apotheke, chaniice- Sreae 2. 
Niederlagen in faft fimtlichen Mpothefen und DrogenhanMungen, 
Man verlanae ausdrilig 2 Sdyering’s PeplineCfiens. Wes 


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gekocht. Unterdefjen ſchält man 
5—6 grofe, weinſäuerliche Apfel, 
nimmt das Rernhaus heraus, 
ſchneidet fic in Scheiben und laf 
fie in wenig Butter weid werden, 
fiigt dann foviel weißen Wein 
dazu, wie man Sauce baben will, 
nad Belieben Suder und | bis 
2 Löffel gewajdene Sultaninen, 
verfoct alles gehörig zu einer 
dickflüſſigen Sauce, die man nad 
Geſchmack mit einigen Tropfen 
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Serantwortlig filr die Redattion: Helene Lange, Berlin. — Verlag: BW. Mocser Buddsanodlung, Berlin & — Drud: B. Moefer Budsrucerci, Bertin S. 
























ee 11.Jahrg. Heft? opm QV ice derember 1903 ed 





DIE FRAU | 


— Te XS) pv; 


Aecrausgegeben as —— 


















Verlag: 
pon W. Moeſer Budhaudlung. 
DMelene Lange. Berlin 8. 


“es 


Vas subjektive Geschlechtsidol. 


Bon 


Rofa Maypreder. 


RNaddrud verboten. 





an könnte als Erklärung fiir die erftauntichen und unbegreiflicen Widerſprüche 
in Den Ausſagen über „das Weib”, die das Problem der Gefchlechts- 
pſychologie ju einem der verworrenjten madden, die Begrenztheit des individuellen Er— 
fabrungsgebietes und die Sufdlligfeiten annehmen, die da mitſpielen. Aber nicht, 
daß die Ausjagen fiber „das Weib” fo widerjprucsvoll find, ijt das Beſondere 
und Auffällige daran, fondern dah fie gewöhnlich in der Form apodiktiſcher Urteile 
auftreten, als Generalijationen mit dem Anſpruch auf allgemeine Giltigfeit. Und doch 
jind die Unterfediede unter den einzelnen weiblichen Jndividuen fo grog, dah auch 
Die denfbar reichjte Erfabrung nicht die Möglichkeit bietet, alle Frauen fennen ju 
fernen. 

Welche Schidjalstiide mun ijt e3, die fiir die meiften eine ganz einfeitige Aus— 
wahl trifft? Warum widerfabrt den einen von den Frauen foviel Seblechtes, den 
anderen foviel Gutes? Welches geheime Geſetz regelt die Begeqnungen, aus denen 
jeder Mann die Summe jeiner Frauenfenntnis zieht? 

Deutlicher als überall offenbaren fich hier die beiden, dad menſchliche Geiſtesleben 
in feinen Untergriinden am ftirfiten bindenden Cigentiimlicfeiten: Die Abhängigkeit 
alles Denkens von det angeborenen Cigenart des einzelnen, und die RNeigung, die Er- 
gebnifjfe deS eigenen Denfens für obieltive Wahrheiten zu halten. Wenn die 
„Wahrheit“, die eine individuelle Intẽlligenz hervorbringt, immer durch eine beſtimmte 
Weſensart bedingt iſt, muß nicht der verborgene Zuſammenhang zwiſchen dem ſogenannten 
y 


130 Das fubjettive Geſchlechtsidol. 


objeftiven Denfen und der geiſtig-körperlichen Konſtitution dort am unbedingteften 
fein, wo ¢3 fic) nicht um Prinzipien des reinen Erfermens bandelt, fondern um 
eine fonfrete Erſcheinung, die den Mann perſönlich fo nabe angebt, wie „das 
Weib”? — 

Der geiftige Prozeß, der fic abwidelt, wenn eine Verallgemeinerung zu ftande 
kommt, wenn einzelne Daten der Erfabrung, in ein gemeinfames zuſammengefaßt, zu 
ciner Schlußfolgerung beniigt werden, iit von der Perjon de3 Erfabrenden nicht yu 
trennen; font fonnten die gleichen Tatſachen von verfchiedenen Beobachtern nicht ganz 
verſchieden gedeutet werden, 

Aber auch jene, die vermitteljt aprioriſcher Aufftellungen iiber ,,die wabre Natur 
des Weibes” Ausfunft geben, das „Weſen des Weibes“ aus den „Prinzipien der 
reinen Vernunft“ begriinden oder gar von der „platoniſchen Adee des Weibes” 
ausgeben, müſſen der Frage unterworfen werden, welches die urfpriinglicen 
Bedingungen find, fraft deren ſolche Ideen in einer individuellen Intelligenz auftauchen, 
die Frage, wie weit ihre Cubjeftivitat ſchon bei der Entitebung jener allgemeinen 
Vorausfepungen mitgewirkt bat. 

Es war der Cinfedler von Sils Maria, der Mann der „ausſchweifenden Hed: 
lidsfeit”, Dex darauf hinwies, daß in diefen Dingen jeder nur zu erkennen vermag, 
was bei ibm darüber ſchon ausgemadt, was in der Tiefe feiner Wefensbefebaffenbeit 
beſchloſſen ijt: 

„Im Grunde von uns, ganz da unten’ gibt e3 etwas Unbelebrbares, cinen 
Granit von qeijtigem Fatum, von vorberbejtimmter Entſcheidung und Antwort... 
Tiber Mann und Weib yum Beifpiel fann cin Denker nicht umlernen, fondern nur 
auslernen — nur ju Ende entdeden, was dariiber bei ibm ,fejtitebt’. Wan findet 
beizeiten gewiſſe Löſungen von Problemen, die gerade uns jtarfen Glauben machen; 
vielleicht nennt man fie fürderhin feine ‚Aberzeugungen‘. Spater — fiebt man in 
ibnen nur Fuptapfen yur Selbjterfenntnis, Wegweifer yum Probleme, das wir find — 
richtiger, zur großen Dummheit, die wir find, zu unjerem geiftigen Fatum, zum 
Unbelehrbaren ganz joa unten‘.“ (Jenſeits von Gut und Bafe.) 

Er ſchickt diefe Bemerfungen jenem einfeitigen und ungerechten Urteile voraus, 
das er über die Vertreterinnen der modernen Franenbewequng fallt, und unterſtreicht 
folcbergeitalt ausdrücklich, daß es nur fein fubjeftiver Geſchmack ijt, der da redet. 
„Auf diefe reichliche Artigkeit hin, wie ich fie eben gegen mich felbjt begangen habe, 
wird es mir vielleicht cher ſchon geftattet fein, fiber das Weib an fich' einige Wabrbeiten 
herauszuſagen: gefest, da man es von vornberein nunmehr weiß, wie febr es eben 
nur — meine Wabrbeiten find.” 

Dod lange vor Nietzſche hat Goethe su Edermann das merfiviirdige Wort 
gejagt: „Die Frauen find filberne Schalen, in die wir goldene Apfel legen. Meine 
Idee von den Frauen tit niet von den Erſcheinungen der Wirklichkeit abjtrabiert, 
fondern fie ift mir angeboren oder in mir entitanden, Gott weiß wie“. 

Und bet Grillparzer findet fic) der Ausſpruch: „Was ijt es auch, ein Weib? ... 
Gin Etwas, das nie etwas und nie Nichts, je demnach ich mir’s dente, ich, nur ich.” 
(Cin Bruderzwiſt in Habsburg.) 

Behaupten wir alfo eimmal: Die Stellung, die der einzelne Mann in der Theorie 
wie in der Praris dem Weibe gegeniiber einnimmt, berubt nur zum geringiten Teile 
auf Erfahrungen — nod mehr: Die Erfabrungen, die jeder macht, find ſchon im 


Das jfubjeftive Gefchledtsidol. 131 


Vorbinein durch eine urſprüngliche Anlage feiner individuellen Natur beftimmt. Außere 
Erlebnivje können dieſe urſprüngliche Anlage nicht erbeblicher verdindern, als die 
Cigenart felbjt durch dufere Einflüſſe zu verindern ijt. Ohne eine Wandlung in der 
Ronjtitution, wie fle allenfalls durch Alter oder Krankheit entſteht, wird ſchwerlich 
jemand über das andere Gefchlecht von Grund aus umlernen, was immer Gutes oder 
Schlimmes ibm geſchehe. Der befebrte Weiberfeind ijt zwar in der Romantiteratur 
cine baufige Erſcheinung; in Wirklichkeit dürfte diefe Bekehrung aber fo jelten fein 
wie jene fundamentale Wandlung religidfer Art, die felbjt der chriſtliche Glaube nur 
durch einen Aft der göttlichen Gnade bewirkt werden apt. 

Jede Qudividualitdt reagiert auf bejtimmte Reise anders. Unter der Bezeichnung 
des fubjeftiven Geſchmadces ijt diefe Tatiache ja eine der landläufigſten Beobachtungen. 
Bei den gewöhnlichen Menſchen, deren Bewußtſein in Hinſicht auf ihre Sexualität 
ſich nicht viel über die Dumpfheit des Inſtinktlebens erhebt, bleiben auch die durch den 
jubjeftiven Geſchmack beſtimmten Vorſtellungen über dad andere Geſchlecht dumpf und 
unentwickelt. Cie übernehmen das konventionelle, dad heißt, dad durch die Mehrzahl 
geſchaffene Urteil und behalten es häufig auch dann, wenn es ſich nicht recht mit der 
Praxis ihres Lebens deckt, weil fie nicht aufgeweckt genug find, um ſich ihres 
perſönlichen Empfindens reflexiv bewußt zu werden. Wo aber Phantaſie und Leiden— 
ſchaft oder ein geſteigertes Abſtraktionsvermögen ſich zur Individualität geſellen wie 
bei den geiſtig produktiven Menſchen, füllt ſich das Bewußtſein mit beſtimmteren und 
deutlicheren Vorſtellungen. 

Der Rompler von Eigenſchaften, der unſere beſondere, von allen anderen ver— 
ſchiedene Perſon ausmacht und ſich als Juhalt unferer Ichvorſtellung im Bewußtſein 
ſpiegelt, erzeugt, gewiſſernaßen als Nebenprodukt, mehr oder minder ſcharf begrenzt 
cin ergänzendes Bild, das wir in Me Außenwelt projijieren und in den Individuen 
des anderen Geſchlechtes verwirklicht ſuchen. Das gilt gleicherweiſe vor männlichen twie 
vom weiblichen Geſchlecht. Da das männliche Bewuftfein aber das mitteilfamere, 
das erpanfivere iit, und viel mebr von feinem Inhalt als gedankliche Schöpfungen nad 
außen richtet, läßt ſich dieſer Borgang eber bei Männern beobachten, umfomebr, als 
feine Konſequenzen vermöge der Machtftellung des männlichen Geſchlechtes fiir die 
Allgemeinheit größere Bedeutung haben. 

Bei der fubjeftiven Voritellung über „das Weib“ hilden die Erfahrungstatſachen 
bloß das Baumaterial, der Bauplan iſt durch die Individualität feſtgeſetzt. Nach 
dieſem Plane werden alle Erfahrungstatſachen interpretiert; alle Wahrnehmungen 
ordnen ſich auf dieſe Weiſe geſetzmäßig zu einem Typus. Was ſeinen Typus be— 
ſtätigt, ergreift jeder mit Aufmerkſamkeit und bewahrt es mit willigem Gedächtnis: 
Eindrücke, die dieſen Typus beſchränken oder gar aufheben könnten, werden als 
ſtörend, als hemmend, als unangenehm empfunden, werden vielfach gar nicht apperzipiert, 
und wenn, ſo ſchwinden ſie raſch wieder aus der Erinnerung. 

Nichts iſt ſo bezeichnend wie die unfehlbare Sicherheit, welche die meiſten 
Männer bei ihren Generalurteilen über „das Weib“ leitet, Männer ſogar, die allen 
anderen Erſcheinungen der Erfahrungswelt gegenüber die vorſichtigſte und gewiſſen— 
bafteſte Denkerzurückhaltung bewahren. Dieſe Sicherheit zeigt, daß fie ohne weiteres 
das empiriſche Weib mit dem immanenten verwechſeln. Das empiriſche Weib, das 
reale Einzelweſen weiblichen Geſchlechtes, iſt eine vielfältige und in ſeiner Vielfältigkeit 
ebenſo inkommenſurable Erſcheinung wie der Mann; das immanente Weib hingegen, 

g* 


132 Das fubjeltive Geſchlechtsidol. 


das Geſchöpf der Cinbildungstraft, iſt jedem bekannt und vertraut wie fein eigenes 
Ich, weil es ja aus diefem Ich hervorgegangen und organife mit ihm verwachſen tt. 

Allen Generalurteilen eines Mannes fiber das Weib kommt in eriter Linie eine 
Bedeutung alS Symptom feiner eigenen pſychoſexuellen Anlage yu; fie baben mebr 
einen biograpbifden als einen normativen Wert. Was er vom Weibe hot und 
fürchtet, wünſcht und vorausſetzt, feine Meinung über das, was das Weib fein „ſoll“, 
geftattet einen ziemlich untrüglichen Schluß auf feine cigene Weſensbeſchaffenheit. 

Es ijt ein Bedürfnis nach Ergänzung, iwelches als oberites Geſetz das pſychiſche 
Verhältnis der Geſchlechter beherrſcht. Diefem Bediirfris gemäß tragt das Idol, das 
die Phantafie jedes Cingelnen von den Perfonen de3 anderen Geſchlechtes ſchafft, jene 
Blige, die cine Ergänzung, in gewifjer Hinficht fogar eine Umkehrung feines eigenen 
Weſens bilden; es entſteht in der Pſyche wie die fomplementare Farbe im Auge. 

Richard Wagner, dejjen theoretiſche Schriften fo viele Beitrage zur Dichter- und 
Muſikerpſychologie enthalten, gewabrt einen bemerkenswerten Cinblid in die Entitebung 
eines fubjeftiven Geſchlechtsidoles in der ,, Mittetlung an meine Freunde,” wo ev feine 
Dichtung ju Lohengrin al’ Symboliſierung eines innerlichen Erlebnijfes fchildert. Den 
tieferen Sinn diejer Dichtung bezeichnet er, indent er fein eigenes Empfinden in der 
Gejtalt des Lohengrin verfdrpert, als die Sehnfucht aus der einfamen Hobe der reinen 
Ritnitlerfehaft nad) der Tiefe des allgemeinfamen menſchlichen Lebens. Und von diefer 
Hobe gewabrt fein verlangender Blid — das Weib. „In Elfa erjab ic von Anfang 
herein den von mir erjebnten Gegenfag Lobengrins — natürlich jedoch nicht den 
dDiejem Wefen fern abliegenden, abjoluten Gegenſatz, jondern vielmebr das andere Teil 
feines eigenen Wefens, den Gegenfag, der in feiner Natur überhaupt mit enthalten 
und nur die notwendig von ibm ju erſehnende Ergänzung ſeines männlichen befonderen 
Wejens ijt. Elſa ijt das Unbewußte, Unwillkürliche, in welchem das bewußte, twill: 
kürliche Weſen Lohengrins fic) zu erlöſen febnt.” 

Wie charakteriſtiſch iſt es für die Individualität Richard Wagners, deſſen Gefabr 
als Künſtler eben in der doktrinären Bewußtheit fag, daß er das „wahrhaft Weibliche“, 
dem er in Elſa „mit Sicherheit auf die Spur zu kommen“ glaubte, im Unbewußten, 
Unwillkürlichen erblidt! Das Nberwiegen der Verſtandestätigkeit, die für den künſtleriſch 
produktiven Menſchen ein ſo ſtörendes, beläſtigendes, hinderndes Element iſt, erſcheint 
ihm als das, wovon er „erlöſt“ werden möchte. Da aber eine ſo mächtige Einwirkung — 
wenn jie überhaupt denkbar ſein ſoll — nur durch cine pſychoſeruelle Verſchmelzung 
herbeigeführt werden kann, projiziert er das, was er ſich erſehnt, in die Geſtalt eines 
Weibes, „des Weibes“, des „wahrhaft Weiblichen“ —. Allerdings ijt er ferne davon 
geweſen, dic Verkörperung dieſes wahrhaft Weiblichen ausſchließlich in weiblichen 
Individuen zu ſuchen, oder gar, es als Norm zu betrachten, nach welcher in der 
Realität die „echten“ von den unechten zu ſcheiden wären. 

Darin iſt ſein Empfinden viel tiefer und reicher, oder wenn man will, gerechter 
geweſen, als das ſeines Gegners Nietzſche. Daß ſich aber auch hinter dem Idol 
Nietzſches ein Weſensgegenſatz, das Bedürfnis nach „Erlöſung“ verbirgt, beſtätigt er, 
deſſen ſchickſalsvoll entſcheidende Eigenſchaft der Drang nach unbedingter Wahrhaftigkeit 
und Redlichkeit des Denkens war, durch die Vorſtellung: „Nichts iſt von Anbeginn 
dem Weibe fremder, widriger, feindlicher als Wahrheit — ſeine große Kunſt iſt die 
Lüge, ſeine höchſte Angelegenheit iit der Schein und die Schönheit. Geſtehen wir es, 
wir Männer: wir ebren und lieben gerade diefe Runft und diefen Inſtinkt am Weibe: 


Das fubjettive Geſchlechtsidol. 133 


wir, die wir es febwer haben und uns gerne yu unferer Erleichterung yu Weſen 
qejellen, unter deren Händen, Blicen, jarten Torbeiten uns unfer Ernſt, unfere Schwere 
und Tiefe beinabe wie eine Torbeit erſcheint.“ 

Diefe Verberrliduing der weiblichen Lügenhaftigkeit und Oberflächlichkeit gehört 
zu den feltjamiten Beifpielen der Geſchlechts-Idolatrie. Man vergleiche damit den 
Grimm und Abſchen, mit dem die Männer des Mißtrauens und der Unehrlichkeit — 
inSbefondere jenc, die an ibrem eigenen miftrauifden und unehrlichen Weſen leiden, 
die fich gerne darüber erbeben möchten — von den qleichen weiblichen Eigenſchaften 
reden, wie body jie die Cinfalt und Gefiiblsticfe am „echten“ Weibe preijen. Nicht 
anders die Unmäßigen, die Zügelloſen, dic Lafterbaften unter den Männern, die 
das Weib als Adol des febdnen Maes, der Züchtigkeit, der Reinheit anjubeten 
pilegen. | 

Die Herridaft, die das fubjeftive Phantaſiebild im Seelenleben des Einzelnen 
ausübt, erreicht zuweilen dic Gewalt einer firen Idee; aber auch wo es nicht diefen 
wabnbafter Charatter anninunt, bleibt es cine der ſtärkſten und unüberwindlichſten 
JIlluſionen. Stebt es doch in inniger Beziehung zu der wichtigſten Angelegenbeit, die 
pas menſchliche Triebleben aufer der Selbjterbaltung kennt: yur geſchlechtlichen Auswahl. 
An den Liebesbeszichungen gewinnt dad fubjeftive Gefcdlechtsidol ſeine größte Bedeutung; 
Da ijt auch die Verblendung, die es bewirft, am leicteften yu beobadsten. 

Nichts anderes als dieſe Gerrjchaft des immanenten Weibes in der Liebe meint 
Macterlind, wenn er fagt: „Vergebens werden wir rechts oder links, in den Höhen 
oder Riederungen wablen, vergebens werden wir, um aus dem Zauberfreis beraus- 
yufommen, den wir unt alle unſere Lebensäußerungen gezogen fühlen, unferen Inſtinkt 
vergewaltigen und cine Wahl gegen die unferes Sternes zu treffen verfucben — wir 
werden doch immer dic vom unſichtbaren Geftirn berabgeftiegene Frau erfitren. Und 
wenn wir gleich Don Quan eintanfenddret Frauen küſſen, werden wir (zuletzt) einfeben, 
daß immer diefelbe Frau vor uns ift, die gute oder die böſe, die zärtliche oder die 
grauſame, dic Liebende oder Die ungetrene.” 

In feiner ſchwülſtig-ekſtatiſchen Manier ſpricht Prybiszewski davon: „Bevor ich 
dich fab, warſt du in mir... lagſt du fo in unbefleckter Reinheit als ein Urbild 
keuſch in meinem Gehirn, eine rein angeſchaute Idee . . . und in einem Nu hatteſt 
du die Fäden zwiſchen meinem ſchaffenden Gehirn und der ſchlummernd brütenden Tier— 
ſeele des Geſchlechtes geſponnen . . . und du, Geſchlechtstier, biſt mit dir, dem Urbild 
meines Hirnes, zuſammengefloſſen und wurdeſt eine große Einheit.“ (Vigilien) 

Hier läßt ſich zugleich ein unheilverkündender Ton vernehmen; denn es kann 
nichts Gutes bevorſtehen, wenn ein „Geſchlechtstier“ und eine „rein angeſchaute Idee“ 
zuſammenſließen. 

Das ſubjektive Phantaſiebild beſtimmt das individuelle Verhältnis zwiſchen dem 
einzelnen Mann und dem Weibe ſeiner Wahl: zum Glücke der Beteiligten, wenn die 
reale Perſon des Weibes dem Idole entſpricht — als Verhängnis, wenn ſich das 
Idol mit der unrechten Perſon verknüpft. Wn den Irrtümern, die den mißglückten 
Liebesverhältniſſen zu Grunde liegen, hat die Herrſchaft des ſubjektiven Phantaſie— 
bildes einen großen Anteil. Der Kampf zwiſchen dem immanenten und dem empiriſchen 
Weibe wird oft in ſeiner ganzen Gewalt aus den leidenſchaftlichen Anklagen und Vor— 
würfen ſichtbar, aus dem verzweiflungsvollen Schwanken zwiſchen Haß und Liebe, 
welches den Auflöſungsprozeß ſolcher Verhältniſſe begleitet. 


134 Das ſubjektive Geſchlechtsidol. 


Bis zum Außerſten geſteigert, mit einer abſtoßenden pathologiſchen Note, aber 
großer künſtleriſcher Aufrichtigkeit, erſcheint dieſer Kampf in Strindbergs „Beichte eines 
Toren.“ Aus der Verworrenheit, Inkonſequenz und Launenhaftigkeit der Leidenſchaft, 
die Da bald mit Wutausbrüchen, bald in ohnmächtiger Ratloſigkeit an das Urteil des 
„aufgeklärten Lefers” appelliert, tritt bald das Idol, bald die reale Perfon des Weibes 
bervor, je nad den Umſtänden, in welchen der Autor [ebt. Wenn er mit feiner 
Geliebten bauernd beiſammen ift, verdringt die reale Perſon das Idol und erfiillt ibn 
mit argwöhniſcher Uncube; wenn er ſich von iby entfernt, „ſteigt das Phantom des 
bleichen, jungen Weibes, das Spiegelbild der Jungfrau Mutter” vor ibm auf; „das 
Bild der zügelloſen Komödiantin“ ijt aus feinem Gedächtnis weggewiſcht. Man kann 
erraten, daß dieſe Frau ſich unter dem ſuggeſtiven Einfluß feines Idoles anders gibt 
als fie ijt; fobald fie aus der Rolle fallt, wird fic fiir ibn ein Gegenſtand des Abſcheus 
und der Verachtung. Er vermag abjolut nicht, fich irgend cine flare und zutreffende 
zorſtellung won ibrer wirklichen Beſchaffenheit zu machen; ſchon allein der Gedante, 
daß fie ſexueller Regungen fähig fein könnte, bringt ihn außer Nand und Band: „ſollte 
dieſe kalte und wohllüſtige Madonna zur Klaſſe der geborenen Dirnen gehören?“ — 
Es gibt keine Unwürdigkeit, die er ihr, während er mit ihr vereinigt iſt, nicht nachſagte; 
er ſchäumt vor Bosheit und Tücke wider fie, vergleicht fie mit Der Spinne, die ihren 
Mann auffript — und kaum iſt er von ibr getrennt, wiederbolt ſich dasſelbe Spiel: 
pote Madonna meiner erjten Liebestrdume taucht empor, und das gebt fo weit, dah 
id) bet cinem Sufammentreffen mit einem alten Rollegen von der Journaliſtik geſtehe, 
Daf ich durch cin edles Weib demiitiger und reiner geworden bin.” 


* * 
* 


Alle die unendlich verſchiedenen Frauencharakteriſtiken, die als Ausſagen über 
„das Weib“ in der Literatur aller Zeiten niedergelegt ſind, ſie geben auch Zeugnis für 
die Mannigfaltigkeit der Idole, welche die männliche Phantaſie hervorbringt. Dian 
Fann dieſe Idole nach dem Rangverhältnis gruppieren, das ſich in ihnen ausſpricht, 
jenem Rangverhältnis, in das ſich der Mann als Perſon zu dem Weibe als Perſon 
jest. Da dad männliche Geſchlecht gemäß der äaußeren Ordnung der Dinge das erſte 
und herrſchende iſt, wird gerade das geſchlechtliche Rangverhältnis, wie es ſich in der 
Vorſtellung des einzelnen Mannes vollzieht, zu einem individuellen Kennzeichen von 
beſonderem Gewicht. Gemäß der äußeren Ordnung der Dinge kann der Mann das 
Weib nur unter ſich ſtellen. In dieſer Ordnung herrſcht das Idol der Leibeigenen. 
Trotzdem ſpielt in der Kulturgeſchichte das Idol, das der Mann über ſich ſtellt, das 
Idol des „höheren Weſens“ oder der Gebieterin, cine nicht yu unterfchavende Rolle, 
ebenſo wie das Idol, das der Mann neben ſich ſtellt, die Gefährtin. In dieſen drei 
Geſtalten ſind allerdings nur die allgemeinſten Umriſſe des Verhältniſſes gegeben, aber 
jenen drei Gruppen entſprechend, in welche ſich die Männer nach ihrer Geſchlechtsnatur 
ſcheiden, und die ſich als Die herriſche, dic ritterliche und die kameradſchaftliche bezeichnen 
laſſen!). 

Da der Rang und Wert der einzelnen männlichen und weiblichen Individuen 
ein völlig relativer iſt, könnte jeder Mann, fefern er in der Tat objeftiv wäre, unter 
den Frauen der Wirklichfeit nad Belieben ſolche finden, die über ifm, wie ſolche, 





1) Siebe meinen Artifel Die Dame”, „Zukunft“, 1901, Nr Hl. 


Das fubjeftive Geſchlechtsidol. 135 


die neben oder unter ibm ſtehen. Der gewöhnliche unbedentende Mann müßte alfo 
am eheſten dazu kommen, das Weib fiber fich zu ſtellen; während nur die Manner 
auf den höchſten Gipfeln der menſchlichen Vollendung, wie fie von Frauen bisher nie 
errveicht worden ijt, unbedingt das Weib unter fic) erbliden diirften. Aber gerade 
das Gegenteil ijt dex Fall. Die niedrigiten und erbärmlichſten Wichte fühlen ſich in 
der Negel dem Weibe überlegen und genießen ibr herriſches Selbſtgefühl in brutalen 
oder boshaften Aten; indes viele der edelften und vornehmſten Reprafentanten dev 
Mannlichfeit das Weil als Gebieterin oder als Gefährtin dachten, alſo ein Idol über 
fic) hinaus febufen. 

Je tiefer und reicher die erotiſche Sphäre in einer Perſönlichkeit entwidelt ijt, 
deſto reicher und individualifierter wird auc das Phantafiebild fein, das fie von dem 
anderen Gefdlechte hervorzubringen vermag. Cine diirftiqe, ſpröde, cinfeitige Erotik 
empfindet das Weih immer nur als inferivres, fiir die Swede ded Manned gefchaffencs 
und von ihm grundverfchiedenes Weſen. Sie kann weder ein inbaltsvolles noch cin 
harmonifdes Bild des Weibes entwerjen; tm beften Fall wird es mit gan; allgemeinen, 
ganz oberflächlichen Geſchlechtsqualitäten ausgeſtattet fein, im ſchlimmſten tiberbaupt 
nichtig, ohne jede eigene Weſenheit, ein leeres Blatt, auf das erſt der Mann ſeinen 
Willen ſchreibt. 

Das Bild der Leibeigenen, das ſubjektive Geſchlechtsidol des herriſchen Erotikers, 
iſt das älteſte, das verbreitetſte und vulgärſte, es beſtimmt auch die Stellung, die dem 
weiblichen Geſchlecht, wenn ſchon nicht in der Geſellſchaft, ſo doch vor dem Geſetze 
eingeräumt iſt. 

Wenn die Leibeigene ihr völliges Gegenteil in der Vorſtellung der Gebieterin, 
dem Idol der ritterlichen Erotik, findet, ſo vollzieht ſich dabei, wie denkwürdig immer 
dieſe Umkehrung fein mag, doch an dem Grade der Fremdheit im Verhältnis der 
Geſchlechter keine weſentliche Anderung. Die Voritellung der weiblichen Schwäche, 
die bei dem herriſchen Mann dominiert, gibt auch für das ritterliche Idol den 
Ausſchlag; nur ijt fie hier mit der Vorſtellung der ſittlichen Nberlegenbeit des Weibes 
qepaart und bewirft, daß der Herr und Meijter jum Diener und Beſchützer wird, 
der fic) in freiwilliger Unterordnung gefällt, foweit er ſich als Beſchützer fühlen fann. 

Aber die Vorftellung eines weitgehenden, ja unitberbriidbaren Unterſchiedes liegt 
tief im Wefen des ritterlichen Idoles; eS wurzelt in dem Bedürfnis nad) Abjtand wie 
das herriſche Idol, nur die Richtung, nach welcher es sielt, tt cine andere. Ohne 


~ 


dic Bewahrung einer gewiſſen Entfernung zwiſchen ſeinem Trager und der Perjon, an 


die es ſich beftet, Fann es nicht bejteben — weshalb Nietzſche meinte: „Der Sauber 
und die mächtigſte Wirkung der Frauen ijt. . . cine Wirkung in die Ferne, eine 
actio in distans; dazu gehört aber, juerit und vor allem — Diftans.” 


Die rubmvolljten Geftalten, die dad ritterliche Idol je angenommen hat, Dantes 
Beatrice und Petrarcas Laura, verleugnen dieſe Dijtany nicht; wie denn als die 
cigentliche Domine des ritterlichen Jodoles, das Berührungen mit der Realitat am 
ſchlechteſten verträgt, die Poeſie erſcheint: indes der herriſche Crotifer, der, bar aller 
Romantif, feine Vorſtellungen aus dem Lehm des täglichen Lebens fnetet, ſich das 
Weib ganz fiir den Hausgebrauch zurechtgemacht bat. 

Vielleicht das einzige, das in ſich ſelbſt die Bedingungen eines wirklichen Ver— 
ſtändniſſes, eines wirklichen Naheſeins zwiſchen Mann und Weib enthält, iſt das Idol 
der Gefährtin, die fubjeftive Vorſtellung, daß das Weib nicht über, noch unter dem 


186 Das fubjettive Geſchlechtsidol. 


Mann, fondern neben ibm ftebt, in einer menfeblichen Gemeinſchaft, deren feruelle 
Differengierung ebenfo wenig aus feiner intelleftuellen wie aus feiner phyſiſchen UÜber— 
legenheit entfpringt. Diefes Idol wird öfters, und namentlich von den Rigorijten 
unter den herriſchen Grotifern, fiir cine ſchwächliche Erfindung des modernen iweiblichen 
Denkens ausgegeben, oder auch fiir ein Verjfallsproduft, weil es erſt feit den 
Tagen der grofien franzöſiſchen Revolution exiſtier. An Wabrbeit ijt es aber 


yon weit älterer Mbfunft; einige der berrlichften Geijter des WAltertumes — wie 
Plato und Plutarch — haben es gefannt; und wenn man der Erzählung von 


Raria und Martha cine fumptomatijde Bedeutung beimejfen darf, fo bat auch Jeſus 
den Willen sur geiftigen Gemeinfamfeit am Weibe dem Willen zum Dienen vorgezogen: 
„Maria bat das beffere Teil erwählt, das foll nicht von iby genommen werden,” 

Diefe drei Typen treten in Wirklichkeit weder fo ftreng gefondert, nod fo 
deutlich ausgefprodien hervor; aud erſchöpfen fle keineswegs die Mannigfaltiqfeit der 
fubjeftiven Idole. Bon anderen Kennzeichen ausgebend, bat Ria Claagen in cinem 
der geiftreichjten und — fiir jene angemerft, die dem weiblichen Geijte die Originalitit 
abſprechen — eigenartigften unter den Beitrigen zur Geſchlechtspſychologie (das Frauen: 
phantom des Mannes, Ziircher Diskuſſionen LV) drei andere Typen gezeichnet, die fic 
nad) ibrer Meinung immer gleich bleiben und ju allen Seiten wiederbolen: das Phantom 
pom Weibe des Siindenfallg, das Phantom der Jungfrau-Mutter, und als „ab— 
fcreulichjtes Phantom, das je in Menfebenbirnen umging,“ das des nurgeſchlechtlichen 
Weibes — „bequemſtes Objet fiir den Sultan Geſchlechtstrieb“ . . . 

Die Rachſucht, die Schwärmerei und die platte Gemeinbeit, die jeweils den 
Gejhlechtstrieh des Mannes begleiten, find in diefen drei Geftalten glänzend wieder: 
gegeben; nur die freundlichen, zärtlichen, kameradſchaftlichen Vorſtellungen, die doch 
aus dem Verkehr der Geſchlechter nicht wegzuleugnen find, geben bei Ria Claaßen leer 
aus. Daber gipfelt ihre Auffaſſung des Geſchlechtsverhältniſſes in der düſteren 
Prognoſe: „Das Schopenhauer - Strindberg'fehe Phantom, das Phantom von dem 
Weibe ded Siindenfalls itberbaupt, ijt wie das Altejte, fo auc das modernite, das 
Rukunftsphantom. Denn nicht größtmögliche Intimität der Geſchlechter ijt die Loſung 
der nächſten Zeit, fondern größtmögliche Fremdbeit, wenigitens in ibren boberentiwidelten 
€remplaren.” 

Es ijt wabr, die moderne Literatur bietet Anzeichen genug, die darauf ſchließen 
laffen, da die Wabnvoritellungen über das Weib in den Köpfen der herriſchen 
Erotifer nichts von der alten Schärfe des Gegenſatzes eingebüßt baben. Sollte aber 
das Frauenphantom, wie es aus dem Kopfe John Stuart Mills oder Bebels 
oder Björnſons oder Walt Whitmans bhervorging, an foszialer Bedeutung dem 
Schopenbauer-Strindbergiden nicht gleichkommen —? Und er, der vollendetite Re— 
prijentant der erotiſchen Genialitit, Goethe, follte fiir kommende Geſchlechter nicht 
mebr vorbildlicy fein —? Mifverftindlicerweife — und vielleicht war es cin williges 
Mifveriteben, mit deffen Hilfe ſich das deutſche Philiitertum der Autorität Goethes 
bemächtigte — gilt ganz allgemein das Wort: ,,Dienen lerne beiseiten das Weib,” 
als dad fiir Goethes Stellung jum iweiblichen Geſchlecht bejeichnende, während ev es 
doch einem heroiſchen Madden als Ausdruck freiwilliqer Selbſtbeſcheidung im den Mund 
legte — jener Dorothea, an der Humboldt tadelte, daß fie unweiblich genug war, im 
Augenblic der Gefabr gleich einem Manne ju den Waffen yu qreifen. Wie Goethes 
fubjeftives Idol ausſah, erbellt unzweideutig ans feiner Anſchauung: wenn die Frau 


Das fubjettive Gefchlechtsidol. 137 


pibre übrigen Vorzüge durch Energie erbeben fann, entftebt ein Wefen, das fich nicht 
vollkommener denfen (apt... Der Ausfpruch yer foll dein Herr fein’, ift die 
Formel einer barbariſchen Beit, die Lange voriiber ijt; die Männer fonnten fich nicht 
villiq ausbhilden, ohne den Frauen gleiche Rechte zuzugeſtehen“ — und feine Werke 
geben reichlics Zeugnis davon, dah er es veritand, ,,mit Mannesgefühl die Helden: 
größe des Weibes” zu tragen. 


* * 
* 


Und ſo wäre „das Weib“ nur ein Produkt des männlichen Gehirnes, eine ewige 
Täuſchung, cin Schemen, das alle Geſtalten annehmen kann, ohne doch jemals eine 
davon wirklich zu beſitzen? 

Das Weib als Abſtraktion, als Objekt des Denkens eriſtiert nur im Kopfe des 
denkenden Subjeftes und iit fo abhängig von dieſem, wie es in der Natur des 
Denfens liegt; das Weib als Individuum bejtebt fiir fic, und ijt fo edel oder fo 
gemein, fo begabt oder fo dumm, fo ſchwach oder fo ftarf, fo gut oder fo bife, fo 
ähnlich dem Manne oder ihm fo entgegengefest, fury, fo verſchiedenartig, als es in der 
Natur der menfeblichen Gattung liegt. Erſtaunlich genug — dieſe einfache Beobachtung, 
die tauſendfältig durch das Leben wie durch die Darſtellung des Lebens beſtätigt 
wird, kann ſich nur in den ſeltenſten Fallen gegen die Macht des ſubjektiven Idoles 
durchſetzen! 

Nichts muß den Frauen ſo angelegen ſein, als gegen die Abſtraktion zu 
kämpfen, in die fie beſtändig durch das männliche Denken verwandelt werden. Gegen 
das Weib als Idol müſſen ſie kämpfen, wenn ſie als reale Perſonen ihr Recht in der 
Welt erobern wollen. Das bedeutet, aus der Paſſivität hervorzutreten und das 
Schweigen über ſich zu brechen, ſelbſt auf die Gefahr hin, daß fürs erſte wenig Er— 
bauliches dabei herauskommt. Viele Männer halten es fiir die große Schamloſigkeit 
der modernen Frauen oder auch für ihre große Torheit, daß ſie mit Enthüllungen 
und Bekenntniſſen den Schleier zerreißen, den die männliche Phantaſie um ſie gewoben 
hat. Das Schweigen mag ſeine Vorteile haben; aber alle Vorteile der Welt werden 
ein Weſen, das ſich ſelbſt als Perſon zu fühlen beginnt, nicht damit ausſöhnen, für 
etwas anderes gebalten zu werden, als es iſt. 

Vergebens wäre es freilich, zu hoffen, durch irgend welche Argumente die Macht 
des ſubjektiven Idoles zu brechen. 

Es iſt eine Sache der Weſensbeſchaffenheit, nicht der beſſeren Erkenntnis, ob 
Mann und Weib einander als freie Gefährten oder als Herr und Untertan gegenüber— 
ſtehen. Doch könnte es wohl eine Sache der beſſeren Erkenntnis ſein, das Verhältnis 
von Mann und Weib als ein Verhältnis von Perſon zu Perſon aufzufaſſen, das ſich 
vernünftigerweiſe nicht generaliſieren läßt, eine Sache der beſſeren Erkenntnis, ein— 
zugeſtehen, daß die Subjektivität hier das Unüberwindliche iſt. 





138 


Vie Verwandlungen der use. 


Bon 


Felix Poppenberg. 


Raddrud verboten. 


‘ ur cin Bilderbogen mit flüchtigem Tert, abgerijjenen 
AN Rotijen, ſchnell firierten Cindriiden äußerer 
oe Momente ijt das ſchmale Buch, das Luigi Rafi 
iiber dic Dufe gefebrieben. (Berlin, S. Fiſchers Verlag.) 
Hugo von Hofmannsthal und Hermann Babr haben 
dic Erſcheinungen diefer tragiſchen Menſchlichkeit tiefer 
erlebt und dieſe Erlebniſſe voll überrieſelnder Gegen— 
wartsſchauer zwingender gebannt, als dieſer Schau— 
ſpieler, der ihr perſönlich weit näher gekommen, der 
mit ihr zuſammen geſpielt und in gemeinſamem Nach— 
bilden dramatiſcher Geſchicke ihre Hände auf ſeiner 
Stirn gefühlt. Cr ijt nur, im Sinne des Niebeſchen 
Wortes, ein ,,verebrendes Tier”, cin getreuer Vaſall, 
cin ebrlicher Freund, der wohl auch der Gefeierten 
den Tribut der Aufrichtigkeit nicht vorenthalt und 
bewundernden Zweifel und zweifelnde Berwunderung in 
Die Dufe von A.M. Rouſſoſſ. ſeine Hymnen miſcht. 





— ramping ear’ — D'Annunzio fang das Lob der Berge, Flüſſe und 
&. Filter Berlag, Serlin. der lateiniſchen Erde, Luigi Rafi fingt die Laudes der 


Duje. Im Flächenſtil find fie qebalten; der ſie anhebt, 
hat wobl den guten Willen zur Hingabe, wir glauben ihm die Starke der Empfänglichkeit, 
aber den Ausdruck, die Vibration des Wortes hat er dafür nicht gefunden. Er vermag 
unferem Gefiibl von der Duſe nichts hinzuzufügen. Und dod legt man died Heft 
nicht teilnahmslos beifeite. Es ift nicht felber fritchtereich, aber es bewegt die 
prangendjten, edeljten Baume im Garten der Erinnerung, daf fie die goldenen Blatter 
Flingen laſſen. Es weckt Reminiszenzen und Langballende Ecos. Es läßt mit der 
Fille der mannigfaden Bilder, die es nach Photographien, Zeichnungen, Gemialden, 
Büſten bringt, einen Reigen vor uns aufziehen, wechſelnd ſchickſalsvoll, die Ver— 
wandlungen der Duſe. Und eine jede ſpricht ein anderes Wort und aus den Worten 
bildet ſich mit drängender Gewalt ein abgrundtiefes, mitternächtiges Lied von 
Menſchenleben. 

Und hinein klingen begleitende Stimmen, Spiegelbilder ſteigen auf, den realen 
Aufnahmen ſtellt ſich herriſch übermächtig das imaginäre Porträt entgegen, das ein 
großer Künſtler von der großen Künſtlerin geprägt, — Gabriele d'Annunzio in „Fuoco“, — 
und das ihr neue weitere und erhabenere Möglichkeiten darſtelleriſcher Kunſt verkündete 


Die Verwandlungen der Duje. 139 


und fie aufrief aus dem Alltag de biirgerlichen Dramas zu Königsdrama und Höhen— 

ſchickſal, sum Feier- und Fejttheater aus Marmor in den albanijcben Bergen . . . 
Verſchlungene Wege find es, die yu dieſer übervollen Gegenwart der Dufe fiihren, 

Wege der Vollendungsfebnjucht. Mit Schauſpieler-Anekdoten beginnen fie in der Luft 





Die Dufe nach cinem Olgemilde vou Gordigiant. 
Mus: Luigi Rafi, die Duje. CS. Fiſcher Verlag, Berlin. 


J 


italieniſcher Wander-Komödianten und yur Sphäre einer comoedia divina ſteigen jie 
auf und münden in der goldenen Pforte der Francesca von Rimini. 
1K * 


* 

„Figlio dell’arte“, cin Theaterkind, iſt die Duſe und wie Vorbedeutung 
künftiger Unſtäte, der gegeben, an keiner Stätte zu ruhen, erſcheint es, daß ſie in der 
Eiſenbahn zur Welt kam, am 3. Oktober 1859. Mit vier Jahren tritt ſie ſchon als 
Coſetta in einem nach dem Victor Hugo-Roman bearbeiteten Drama „J Miserabili* 


140 Die Verwandlungen ber Dufe. 


auf. Qu Chivggia, der Fifcherinfel, deren roftrote Segel über dad Adriatiſche Meer 
leucbten, Deven marmorweife Felsblide am blauen Geftade die Stimmung griechiſcher 
Inſeln bringen, fpielt die Dufe ibre erſten Rinderroflen. Abr Grofvater Luigi war 
der richtige italieniſche Komödiant der alten Schule, cin Hijtrione, cin legter Ausläufer 
der Goldonizeit, Der den Stil und die Tradition des altvenctianijden Theaters in 
vellfommener Echtheit bewabrte. Er gehörte zu jener Gruppe, die aus Beobadhtung und 
Charakteriſierungsſchärfe typiſche Figuren ſchaffen und alle markanten Raſſeeigenſchaften 
einer beſtimmten nationalen Art ſtark koloriert im Hohlſpiegel zeigen. Er bildete die 
Maske des venetianiſchen Giacometto aus, einer Parallele zu der des mailändiſchen 
Menegbino. Cin Bild zeigt ibn uns in dieſer Rolle in ſchwarzer, ungeſcheitelter, 
qlatter Periide, in ein ganz dünnes Zopfſchwänzchen auslaufend, mit ſchwarzfleckigen 
Augenbrauen, dunfelblauem Goldoniwams, bunter blumengeſtickter Weſte, roten Knie— 
bofen, weißen Strümpfen und ſchwarzen Lederſchuhen mit Silberſchnallen. 

Er hatte eine Familientruppe zuſammengeſtellt, und in ihr war Eleonore das 
Theaterkind, Figlio dell'arte; cin abgezehrtes blaſſes Mädchen mit verſchüchtertem 
Blick in dürftiger Kleidung, ſo ſtellt ſie eine kümmerliche Photographie aus dieſer 
Zeit dar. 

Luigi Raſi ſchildert die erſten Wanderfahrten, die richtige Zigeunerzeit mit aller 
Miſere und Ode der fahrenden Leute, voll Unluſt und grauem, hoffnungsloſem Verdruß. 
Dod einmal blühen Roſen auf, und cin Schimmer fällt in die Trübſal. In einer 
Romeb⸗Vorſtellung ju Verona erwacht etwas, cin Strahl von jenem Weſen, das dann 
viel ſpäter mit Liebeslaut die Welt entzückte und d'Annunzios Frauenlob „O grande 
amatrice“ weckte. Als Julia erſchien die Duſe mit roten Roſen, und ihr wortloſes Spiel 
mit dieſen langgeſtielten Kelchen, der Gefühlsausdruck, der die Blumen ſprechen ließ, 
gab eine Vorahnung jener ſpäteren großen Kunſt, die den unbelebten Dingen Seele 
und Leidenſchaft einhauchte, fd dak die ganze Atmoſphäre um fic mit einer Fülle des 
Fühlens durchſtrömt wird. 

Ihre Bahn geht aufwärts. 1879 im Teatro Fiorentini in Neapel geſtaltete 
ſie das erſtarrte Grauen der Tereſe Raquin, mit ſchreckensvoller Wahrheit, daß das 
Publikum wie gebannt ſaß und nicht zu klatſchen wagte. 

Mit dieſer Vorſtellung hatte die Duſe ihrem Namen Bedeutung gegeben. Ein 
Phänomen ſchien das denen, die fie kannten, cine ganz plötzliche Befreiung aus einem 
unbewußten Puppenzuſtande, aus einer vegetativen, dumpfen Exiſtenz, die fie bis dahin 
„ſtumm, verſchloſſen, ſich in ſich ſelbſt verkriechend“ geführt hatte, mit den „großen, 
ſchwarzen, unbeweglichen Augen und den in die Höhe gezogenen geſchweiften Augen— 
brauen“. 

In Raſis Schilderung begleiten wir ſie weiter. Wir ſehen ſie nun als Frau 
Duſe-Checchi im Teatro Carignano zu Turin in der Roſſi-Geſellſchaft. Sarah 
Bernhard tritt auf dieſer Bühne auf, von ihr geht für die Duſe alle’ Vorſtellung von 
Ruhm und Größe auf, alle Elemente ihres Weſens werden entbunden, und in „la 
femme de Claude ſpielte fie erſchütternd auf der ganzen Skala menſchlicher Affekte. 
Das Konvulſiviſche vor allem brachte ſie damals mit erregender Echtheit zur Erſcheinung: 
„die von einem unmerklichen Zucken bewegten Augen blickten unruhig von einer Seite 
auf dic andere, Röte und Bläſſe wechſelten mit unglaublicher Schnelligkeit auf ihren 
Wangen. Die Naſenflügel bebten, die Lippen zitterten, ſie biß die Zähne zuſammen, 
das ganze Geſicht war in fortwährender Bewegung. Und die Geſtalt bewegte ſich in 


Die Berwandlungen ber Dufe. 141 


ſchlangenhaften Windungen oder wie in völliger Erſchlaffung, und fie folgte dabei 
jeder Mefte, jeder Bewegung des Armes, Der Hand, der Finger, jedem Zucken der 
Geſichtsmuskeln.“ 

Und 1892 erringt die Duſe den großen Wiener Sieg, mit dem ſie Europa erobert. 


+ * 
* 


Raſi analyſiert gewiſſenhaft weiter, wie ſie ihre Rollen ſpielt und geht als 
getreuer Vaſall mit ihr von Dumas und Augier bis ju den leßten Wandlungen, zu 
den Dramen d'Annunzios, zum Traum eines Frühlingsmorgens, zur Gioconda, 
zur toten Stadt, zur Francesca. Doch hier, wo wir ſelber geſchaut und erlebt, 
vermag er nicht uns zu bereichern. Seine Reproduktionen dieſer Geſtalten haben nur 
matten Abglanz. Dies „geſteigerte Scheinleben“ der Duſe in der ſtarken Seelen- und 
Schickſalsſphäre ihrer letzten Bühnengeſtalten kann nur ein Gefühlskünſtler von 
geſpannteſter Intenſität aus einer ſchwingenden Empfänglichkeit wiederſpiegeln. In 
d'Annunzios Buch „Fuoco“ iſt es bleibend im koſtbaren Schrein bewahrt. 

Was Raſi uns aus dieſer ſpäteren Zeit zu bieten hat, ſind nur Zeichen des 
außeren Lebens. Momente der vie privée, Einzelzüge. 

Er erzählt von der Herrſchaft der Duſe während des Spiels und er gibt der 
dilettantiſchen Auffaſſung von der Schauſpielkunſt damit eine heilſame Erkenntnis. 
Primitiv iſt die Annahme, daß die großen Darſteller völlig reſtlos in ihren Geſtalten 
aufgehen. Cin viel geheimnisvolleres Bhanomen begibt fic. Cine Art Doppeleriſtenz ſpielt. 
Gewiß deckt ſich Haltung, Sprache, der mimiſche Ausdruck des Erlebens ganz mit dem 
vom Dichter geſchaffenen Weſen, aber es iſt immer noch, ohne dieſes zu beeinträchtigen, 
cine Art Uberbewußtſein da, das ganz genau jeden Schritt und jede Bewegung verfolgt, 
das wie eine immanente Gottheit in der ſchauſpieleriſchen Schöpfung wohnt, und jeden 
Augenblid cingreifen fann als eine, im Verhältnis zur Scheinnatur der Bühne über— 
natürliche Macht. . 

Es mag ähnlich fein, wie bei gewiſſen febr intelleftidsarfen und analytifd 
geſchulten Menſchen im wirklichen Yeben, die ſelbſt in bewegten Affekten, wenn ihr 
Körper vor Erregung bebt und die Hände ſich ballen, ganz genau mit dem Gehirn ſich 
beobachten, ſich zuſehn, und die Worte, die der Mund aus aufgewühltem Inneren 
haſtig herausſtöhnt, wie die eines Fremden anhören. 

Rafi gibt von dieſer Erſcheinung des Doppel-Ichs auf der Bühne mance Proben 
und zeigt, wie Dic Duje felbjt in einer Situation, wo fle mit allen Fiber aus vollem 
Fühlen beteiliqt iit, immer mit dem überſchwebenden Bewußtſein, den Gang des Stites 
verfolgt, fic Den Worten der ſchwächeren Künſtler anpaßt, den Vergeßlichen zuflüſtert, 
ihnen eine Bewegung, eine Betonung ins Gedächtnis ruft, wie es Raſi einmal ſelbſt 
erging, der, offenbar ohne dieſe ſouveräne Gabe, in „Antonius und Cleopatra“, als 
Bote ſo von den Zorn- und Leidenſchaftsausbrüchen ſeiner Partnerin überwältigt 
wurde, daß er ſich nicht zur Zwiſchenrede faſſen konnte. 

Wir hören fie reden und ſich unterhalten. Mber die Schweigſame ſcheint von 
Zeit zu Zeit ein nervöſer Reiz zu kommen, eine Furie überſtürzten Sprechens, cin 
Stimulieren durch Worte bis zum Ermatten. Sie überläßt ſich dann allen Sprüngen 
der Einbildung, eine faſt erſchreckende Beredſamkeit iſt's, die „mit ihrer wilden Strömung 
Menſchen und Dinge mit ſich fortreißt“. „Sie verherrlichte Byron und Shelley, ſprach 
über Chriſtentum und Heidentum, behandelte die Korſettmode, würzte die Unterhaltung 
durch einen Brocken Shakeſpeare, ſtreifte den Tod des Fürſten Ghika, die Dogane, die 


142 Die Verwandlungen der Dufe. 


Bigeuner, den Kornzoll, die lateiniſche Raſſe, die orientalifdse und landete endlid 
erſchöpft bei Dantes Vita nuova, Den „eigenen ſcharfen kindlichen Ton” der Duje 
halt Raji fet, als er fie fiber den Zahnſchmerz Hagen läßt: Wher das ijt cin ſchwäch— 
licheS Leiden! Bon den Würmern gefrefjen zu werden, ehe man tot ijt! Denn was 
ijt die Caries weiter? Es ijt cin Wurm, der uns lebendig benagt!” 

* * 

Andere Worte kennen wir aber noch von ihr, tiefere, weſenhaftere als dieſe etwas 
phonographiſch genrehaft und anekdotiſch reproduzierten. Hermann Bahr bat mit feinerem 
und weicherem Nachempfinden dieſe Stimme der Duſe nachklingen laſſen. Ihre Sehnſucht 
ſpricht in dieſer Stimme „ſo demütig feierlich, mit ſolcher innigen Angſt um das innere 
Leben, um die Fragen der Seele, um den letzten Sinn und die Abſichten unſeres 
Schickſals“: 

„Wenn die Seele einmal etwas geträumt hat, iſt ſie wie ein kleines Kind, dem 
man etwas verſprochen hat. Sie gibt nicht mehr nach, ſie läßt ſich nicht mehr 
beſchwichtigen. Sie geht neben einem her und zupft einen am Kleide, daß man nicht 
vergeſſen ſoll. Und man kann iby geben was man will, es nugt nichts, fie verlangt, 
was man iby verfproden bat. Und man zeigt ibr die ſchönſten Dinge. Man zeigt 
ihr die Hoben Berge und Wilder und das Meer, das ewige Meer. Aber die Fleine 
Seele will nicht. Cie mag die Berge nicht und die Walder nicht und das Meer nicht. 
Sie will, was man ibr verfproden bat: fie will ibren Traum, Und wenn man ibr 
ibren Traum nicht gibt, ijt fie trauriq und weint.” 

Diefer Traum der Duje ijt cin Theater, jenfeits der Alltagstrivialitat, jenfeits 
der Dramatif bürgerlicher Konflikte, die fie fich tibergefpielt und die ibe jum Cfel 
find. Yon cinem Theater träumt fie, das gleich der antifen Schaubühne die Menſchen 
im Böcklinſchen beiligen Hain zu einem Felt des Lebens vereinigt, von dem teatro 
d'Albano, dem teatro di marmo sul colle romano. Und der Schaujpieler ftiinde 
„wie ein Priefter, wie ein Seber, mit frommen Gebärden begliidende Worte verteilend, 
königlich ausitreuend, was der Dichter in feine Hände gelegt“. 

Der Dichter — nach ibm bungerte ihre Seele. Demütig beugte fie fic und 
jpradh von der Ohnmacht der Schauſpielkunſt: eine große Welle kommt rauſchend 
heran und nimmt alles mit. Und dam verrinnt fie. Dann find nur nod) fleine 
Kreiſe, immer fleiner, immer jtiller, inuner leiſer. So eine Welle ijt die große Sarah 
gewefen . . . Und dann id. Ich auch. Und die Welle möchte alles mitnebmen, 
Die ganze Menſchheit forttragen, fort aus diefem Leben, ins Unendliche, in die 
Schönheit fort. Aber wir fonnen es nicht. Nein, die Schaufpieler können es nidt. 
Allein können fie es nicht: Denn fie find dod) nur wie Scbiffe, ganz fleine Schiffe und 
größere Schiffe, aber alle brauden die Flut der Dichtung . . .” 

Was bier ans einer gebobenen Stimmung innerer Cinkebr Flingt, das deutet 
Rajt auch an, den fürchterlichen Uberdruß der Dufe an dem Theater von beut mit 
Rulifien und Schminke und falſchen Lampen, dieſen Uberdruß, der ſich (nur ein 
pſychologiſcher Laie kann über den Widerſpruch lächeln) doch eint mit der Une 
miglichfeit, je von dicjer Stitte ſtärkſter Qual und ſtärkſter Gefühlsbetätigung ſich 
freizumachen: „Ihr Genie und ihr Fatum müſſen fie erbarmungslos verdammen, das 
Joch der Bühne weiter zu ſchleppen“; zu einem ſchmerzensreichen Glück ohne Ruhe 
und einem erſt an den Leiden zum ſtärkeren Gefühl erwachſenden Daſein iſt ſie 
gezeichnet. 


J 


Die Verwandfungen ber Dufe. 143 


Und ant tiefften fpracd dies Schickſal Hugo von Hofmannsthal aus: „Von Jabr 
zu Nabr, vor Land gu Land febeint fie blindlings zu fallen, ‚wie Waſſer von Klippe 
zu Klippe geſchleudert“ Abr Kommen und Verſchwinden ijt aufregend wie das Herab- 
taumeln eines verwundeten Sturmvogels auf das mit Menſchen überfüllte Verde 
eines Schiffes. Sie ijt das ruhmbeladenſte Geſchöpf der Erde und das ruheloſeſte; 
ihre Reiſen ſind Triumphzüge, und ſie gleichen einer Flucht. Wie der Fieberkranke 
ſeine Kiſſen, wechſelt fie die Vander der Welt und findet nicht fußbreit, ſich auszuruhen. 
Es iſt, als hätte dieſe ganze Welt nicht den Garten, der ſie umfrieden kann, nicht den 
Brunnen, an deſſen Rand ſie die fiebernde Schläfe kühlen, nicht den Baum, in deſſen 
Schatten fle einſchlummern wird” .. 

* x 
* 

Bei der Bahrſchen Zeichnung der Duſe voll „demütiger Feierlichkeit und inniger 
Angſt“ denkt man unwillkürlich an die Geſten der Florentiner Kunſt, die ſie ſo liebt, 
an die harrende ergebungsvolle Haltung der Annunziaten, die ihre Berufung gläubig— 
empfänglich erwarten, an jene Annunziata vor allem im Hof des Findelhauſes von Luca 
della Robbia, vom Fruchtkranz umgeben über der Gnadenpforte. 

Der Eleonore Duſe-Annunziata ward ihre Berufung, ſie kam ihr aus dem 
herriſchen Werke Gabriele d'Annunzios. Die rätſelvollſte aller modernen Perſönlich— 
keiten ſcheint er; er gleicht im äußeren wirklich, wie Bahr es ausſprach, einem 
berechnenden Spekulanten, ſicher iſt er herzenskühl und verſchlagen; ſeine Menſchlichkeit 
läßt ſich nicht greifen und halten und entſchlüpft jeder Neugier ſpielend gewandt, 


aalglatt. Künſtliche Züchtung und hochmütige Selbſtſteigerung, einen eiſigen Ideen— 
Egoismus, eine mit wahnſinnigem Raffinement fazettierte Eitelkeit ſpürte man an 
dieſem Menſchen. Aber er hat vielleicht heute die ſublimſte künſtleriſche Intelligenz; 
ſeine Vorſtellungen und Anſchauungen der Dinge ſind höchſt entwickelte Kultur. Er 
iſt kein ſeherhafter Dichter, des „Antlitz mit Träumen ganz beladen“, aber er iſt 
durchtraänkt mit den erleſenſten Eſſenzen der früchteſchwerſten Kunſtperioden. Cin 
fürſtlich prunkender Erbe, thront er über den Schatzkammern, die ſich an den geiſtigen 
Rleinodien aller Beit bereichert haben, und ſouverän febaltet feine Gand init ihnen 
und prdgt fie unt sum Ornamente feines eigenen Werkes. Sein Sehen aus diefer Fille 
heraus ift fo aſſoziativ, fo begleitet von Klängen und Gejichten, dap ſich in thin alle 
Erſcheinungen reicher, vielfaltiger ſpiegeln. 

Die Natur wird jum Kunſtwerk darin, fie jteht nicht als Iſoliertes, Clementares, 
Urjpriingliches da, fie wird immer ald malerifder oder klaſſiſcher Wert, immer als 
cin Phänomen, als Seelen- oder Gefiiblsdeutung der großen Künſtler empfangen. 
Wie das gemeint ijt, das kann man an feiner Spiegelung Venedigd in „Fuoco“ feben. Er 
fpriht bier von „Venedigs Seelchen“, da3 in dem Guitarrengirpen der Gondoliere 
ſchwebt, Venedigs Seele aber hat Giorgione und Tijian und Veroneſe geſchaffen, mit 
ibren Augen muß man die wunderbare Stadt feben: ,,bimmelblau, purpurn und gold, 
meerentitiegen, mit marmornen Armen und taufend grünen Gürteln“, und aus dem 
verblichenen Goldton in diifter befchattetem Marmor ſteigen die Viſionen alter Pract, 
Der Fefte auf den Bildern des Carpaggio. 

D'Annunzios Voritellungen find nie unmittelbare, naiveurfpriinglice, fie haben 
immer die Latina edler Bronje, den Niederſchlag vergangener Jahrhunderte. Doch it 
dies nicht epigoniſches Weſen, nicht Kopiſtentum, fondern wirkliches Amalgam des 


Lit Die Verwandlungen der Dufe. 


Gefühls, Steigerung der Gegenwart durch prunfendes Piedeftal der Vergangenbeiten. 
D'Annunzio fugt feine künſtleriſchen Inkruſtationen ähnlich wie Klinger, der feine 
Amphitrite, die armlofe Göttin mit dem wifjenden Geſicht, die alle Nervenreize moderner 
Seit, Aubrey Beardsley, Oscar Wilde und Baudelaire gu fermen febeint, aus einer 
autifen Marmorſtufe bildete. 

Das muß jedenfalls von d'Annunzio gelten, maq man ibn nun fir einen 
Schöpfer oder nur fiir cine Selbſtzüchtung balten, ec bat dem modernen künſtleriſchen 
Erleben cinen höheren Stil gewiefen, er bat es in tinenden Zuſammenhang gebracht, 
ev bat cin Reich von weitem gejeigt, wo das Alte neu erlebt wird, der Abgrund der 
Seiten fic feblicht, die antife Seele die Lebendige Seele beriibrt, wo All- und Cinbeit 
ſich geftaltet und die künſtleriſchen Mächte ftarfer find als das zufällige Alltagsleben. 

„So bin ich Dabingefommen” fagte er, „Tragödien ju febreiben: um in einigen 
sornigen und edlen Gebdrden etwas Erhabenbeit und Schinbeit aus dem flutenden, 
zudringlichen Schwall Des Gemeinen zu retten, der heute die auserlefene Erde bededt, 
auf der Leonardo feine gebietenden Madonnen und Michelangelo feine nie bezwungenen 
Helden bildete.” 

Und das iit es, dieſe Lebensfteigerung, die aus dem Banalen und Zufilligen 
jum Bedeutungsvollen, zu ciner Fille des Anſchauens fiibrt, das traf die Dufe fo 
jtart. Gleiche Wege fuchte ihre Sehnſucht. Jn d'Annunzios Dramen fand fie die 
Worte dafiir, und ibm ward es Triumph, durch ſolchen Mund verfiindet yu werden. 
„Ein dunfelndchtiges Geſchöpf auf goldnem Amboß von Leidenſchaften und Träumen 
geſtaltet“, ſo fühlte er ſie, er erkannte in ihr „das dionyſiſche Geſchöpf, den lebendigen 
Stoff, der bereit ijt, die Rhythmen der Kunſt zu empfangen.“ 

Und die Annunziata nahm die Botſchaft ſolcher Kunſt tief auf und bewegte ſie 
in ihrem Herzen. Und in neuen Verwandlungen voll ſchmerzlich erlebter Innigkeit 
erſchien ſie. 

Sie wandelt als Blinde über das verdorrte Land von Argos, über den ver— 
ſchütteten Reſten der „Toten Stadt“, die von verwegener Hand berührt, ihre Königsgruft 
öffnet und mit Kaſſandras Sehermaske, Klytämneſtras Geſchmeide und dem goldenen 
Herrſcherhelm des Agamemnon das antike Schickſal, den Tantalidenfluch auf die 
Vermeſſenen ſchickt. Die Erneuerung des antiken Schickſals an den Menſchen, die ſich 
leidenſchaftlich und phantaſiegeſtachelt in ſeinen Bannkreis wagen, wird bier großzügig 
verdichtet. In dieſen Menſchen, die ein ſolch geſammeltes innerliches Leben führen, 
leben die Toten, denen ſie ſich mit aller Leidenſchaft hingegeben, wieder auf „mit dem 
ganzen entſetzlichen Leben, das Aeſchylos ihnen eingeflößt, ungeheuerlich, ohne Unterlaß, 
verfolgt von dem Schwert und der Fackel ihres Geſchicks.“ 

Große Vorſtellungen wechſeln hier und Situationen voll klingender Tiefe, voll 
einer Gegenwart, die umrankt wird von den Ahnungen ferner mythiſcher Frühzeit. 
Und unvergeßbar iſt das Bild, wie Bianka Maria der blinden Anna, die von der 
Duſe wie ein bebender Blütenzweig, erzitternd unter den Schauern dieſes Erlebens, 
dargeſtellt wurde, die Klage der Antigone vorlieſt, auf der Marmorloggia angeſichts 
der chyklopiſchen Mauern und des Löwentors, und wie draußen Brauſen und Freuden— 
ſchreie ertönen und Leonardo viſionär erſchüttert hereinſtürzt und von den eben auf— 
gefundenen Gräbern der Atriden jäh ſtammelnd Kunde gibt. 

Und fie irrte im Traum eines Frühlingsmorgens als Wahnſinnige, mit Blumen 
jpielend, durch die Büſche, ganz mit Grün behängt, und fie ſchien cin liebliches 


Die Verwandlungen der Duje. 145 


Waldwunder, das der Unrajt de3 Lebens entriidt, daz ftille Wefen der Blumen und 
Baume teilt, unendlich fanft und Heiter, von der Sonne mit taujend goldenen 
Fingern, mit taufend warmen und flinfen Fingern umfpielt. Und ihr Antlitz glich 
der Büſte der Madonna Dianora des Defiderio. C3 war wie cine Mandel, in deren 





Die Dufe als Francesca do Rimini. 
Photographie bon Sciutto in Genua. 
Mus: Luigi Naf, bie Duſe. S. Fiſcher Berlag, Berlin. 


halbgedffneter Schale die zarte Frucht ſichtbar ijt, ganz eingehüllt in glatte Haare, 

wie in einer Scale. Und in der „Gioconda“ erjebien die Duſe als verjtiimmelte 

Schinheit, die qeopfert ward, als Silvia Settala, in langem, aſchfarbenem Gewand, 

deſſen weite Yirmelfalten die Stiimpfe der von der Givconda-Statue zerſchmetterten 

Hinde verbiillen. Auch der Statue find die Arme zerſtört. Ihr Schöpfer, Lucio 
10 


146 Die Verwandlungen der Taye. 


Settala, reftauriert fie nicht: ,,fo mie fie jegt daitebt anf ihrem Piedeſtal, ſieht fie 
wirflich wie cin auf einer der Cykladen ansgegrabener antifer Marmor aus. Cie 
hat etwas Tragiſches und Gebeiligtes, nachdem das göttliche Opfer an ibr vollbracht 
worden”, 

Die rithrend hilfloſe Schönheit antifer Torji ijt bier in der Bildſäule und in 
Dem Frauenbild gleichermaßen yu cinem neu erlebten und gefiiblten Einklangſchickſal 
umigedentet, Und tief ſchöpfte die Dufe aus den äſthetiſchen Reizen ſolcher Voritellungen 
(fie find dem Artiſten d'Annunzio die Hauptſache) min ibrerfeits alle Gefühlsmöglichkeit. 

Die ſchmerzensreiche Mutter war fie, die ihr Rind nicht mehr umarmen fann, 
das fich yu ihr drängt und das Geheimnis der faltigen Armel nicht ahnt. Webe, 
Zärtlichkeit durchwühlt fie, und nun begibt ſich's, wie cin Wunder, dak aller Ausdruck, 
der in den Hand- und Armbewegungen der Menſchen liegt, ſich in den Zügen diefer 
Frau fonsentriert zu ciner gefteigerten Innigkeit. Kinn und Hals wird fofend, 
ſchmeichelnd, ein ftrebender Umarmungszug ringt fic) von ibm zur fleinen Beate. 
Und ergreifendſte Schmerzensgewalt, ganz verinnerlicht, ganz aus der Seelenfphare, 
liegt in diefer Darftellung, die auf die bewährten tragiſchen Mittel der Geſte und 
Gebärden ganz verzichten muß und in erftarrter Haltung alles Fiblen von innen aus: 
jtrablen muß ... 

Aus den Strudeln des Inferno tauchte fie zuletzt auf als Francesca von Rimini 
und umgab fic) mit Brofaten und Cdelgerait, den Glanz trunfener Seiten yu erneucn; 
und Träume und Leidenfebaften, jähe Angſt, aufloderndes Rajen und dunfel-weiden 
Liebestod, hinjinfend mit verſchlungenen Leibern, Mund anf Mund, ließ fie erleben, — 
ein ungebeures Sein. Und wieder kommen Worte aus ,Fuoco*® in die Crinnerung: 
„In einem einzigen Mugenblid bat ſich hier alles, was in der Unermeßlichkeit des 
Lebens zittert, weint, hofft, ſehnt, raſt, zuſammengedrängt.“ 


* * 
* 


Und nun kehren wir zum Schluß noch einmal zu dem Buche Raſis zurück und 
durchblättern die Seiten mit den vielen, vielen Bildern der Duſe. Verwandlungen, 
vielgeltaltiq und wechſelnd, wie die Affefte des Menſchen. Der „Gioconda“ febeint 
dies Proteusweſen gleich, von der es heift: „Sie iſt immer verjebieden, wie cine 
Wolfe, die Div von Sefunde ju Sekunde anders erfebeint, ohne dak du gewabrit, wie 
fie ſich andert. Sede Bewegung thres Körpers zerſtört cine Harmonie und ſchafft cine 
andere ſchönere. Du bittejt fie ftehen zu bleiben, ſich nicht zu rühren, und durch ibre 
Regungsloſigkeit flutet ein Strom geheimnisvoller Kräfte, wie die Gedanken durch die 
Augen fprechen. Begreifſt du? Begreifſt du? Das Leben des Anges iit der Blick, diefes 
unfaghare Etwas, ausdrudsvoller alg jedes Wort, als jeder Ton, unendlich tief und 
dennoch pliglich wie der Wig, ſchneller als der Blitz, unendlich allmächtig. Nun ftelle 
dir vor, daß ihr ganzer Körper das Leben dieſes Blickes ausſtrahlt. Stelle dir dieſes 
Geheimnis über ihren ganzen Körper qebreitet vor; jtelle dir alle ibre Glieder, vom 
Sebeitel bis sur Zehe vor, fprechend von diefem flammenden Leben! Kannſt du den 
Blick meifeln? Die Alten ftellten ibre Statuen blind dar. Und nun — ftelle dir vor — 
iby ganger Körper ijt wie der Blid . . .“ 

So durchwandeln auch die Bilder der Duſe alle Reiche menſchlichen Gefiibls- 
ausdrucks, feelifehe Portraits geben fie, Die „hundert Masten”, die wechſelnd ibr 
Antlitz unter gelebten und dargeſtellten Schickſalen annimmt, find bier feitgebalten. 


Die Arche Noah. 147 


Das fonvulfivifehe Gejicht erfebeint mit in die Hohe gezogenen Augenbrauen, 
frampfigen Gilgen, von Sudungen der Errequng gefebiittelt, man denft an die Sebherinnen, 
über die der heilige Wahnſinn und die iiberwaltigende Raſerei des Gottes kommt und 
jie bis ins Mark durchrüttelt. 

Und daneben taucht aus irdiſchem Gran die müde, verhirmte Frau, die, fatt 
ded Theaters, von einem ſtillen Frieden, von einem Ausruhen träumt, dag ibr der 
eigene aufſtachelnde Damon nie gewähren wird. 

Und dann dic grande amatrice, die leidend viel gelernt, mit ſchmerzhaft 
gefpannten Angen, dem bitteren Mind, die Heldin der großen Paffion, der tristi 
amori, dic endlich welffabl, yu Aſche verbrannt, in ſich zuſammenſinkt. Dann ivicder 
Charme und Rokokograzie leichter, tänzelnder Momente, wenn die ſpielende Kind— 
lichkeit des Sinnes frei wird, und fie plaudert und lacht und in die Hinde ſchlägt; 
wenn fie cin Glücksgefühl vor ſchönen Dingen, wor Bildern und Objets d' Art 
genießt und deren feine Anmut auf fie zurückſtrahlt. Und endlich aus der gefteigerten Welt 
der letzten Erlebniſſe die Meduſenmaske, beladen mit den Leidenſchaften und Schmerzen 
der ganzen Welt, vom Schlangenhaar umzüngelt, und wie durch ein Fatum mitten im 
Raſen, im Ausbruch elementaren Sturms jab verſteinert. 

Wie cin Gleichnis amd cin lebendiges Symbol geheimſter unausgeſprochener 
Gefiihblsmvfterien febeint uns dieſe Frau, und wir fühlen mit Hofmannsthal, daß „in 
ibrer Seele noch größere Möglichkeiten find als im Bereiche ihrer Kunſt.“ 


ee coe 


Vie Arche Doah. 


Zon 
Elfe Hildrich. 
Nachdrud verboter. — 


Quaigein nichtsnutziger Bengel!“ rief auf, wenn er mit dem mageren, langen Ge— 
Frau Domberg, indem fie Helmchen mit der | ſellen in Streit geraten war. „Schäbiges 
einen Hand das Butterbrot, mit der anderen Längſel, Satansbraten,“ murmelte dann der 
einen ziemlich heftigen Stoß in den Rücken Kurze, machte ſolche Augen und eine ſolche 
gab, fo daß es wieder einmal zur Türe hinaus, Schnauze, und nachher prügelten ſie fid. 
ben Hausgang entlang auf die Straße ſtolperte. Helmchen trottete die Goſſe entlang, um 
Es knurrte Schimpfworte vor ſich bin, obgleich zu ſehen, wie hoch bas Waſſer über ſeine 
ihm die raſche und mühloſe Beförderung über Schuhe ging. Es ärgerte ſich darüber, daß 
ben ziemlich ebenen Boden cin gewiſſes Be- | fie nicht voller war und hich mit einer Gerte 
hagen verurjadte, das es recht in die Lange | binein, die es morgend im Müllkaſten gefunden 
zu ziehen werfudite durch miglidft geringen | hatte. Das fprigte bis an die Haufer beran; 
Widerſtand gegen dic treibende Kraft. das frifd) getünchte, weiße Haus, das etwas 

Gejtern war es bis an die Pumpe ges | vorgebaut mar, fonnte man fein naß befommen, 
flogen, heute ftand es febon im Rinnitein ftill | Helmchen hatte grofe Freude, wenn die Waſſer— 
und biß in fein Butterbrot, um während des | tropfen an der Mauer binunterliefen und ſchwarz— 
Rauens nod cin Weilchen fort gu ſchimpfen graue Streifden hinterließen. 
und dabei die Drobende Miene zu verfucen, | Gleich fommt ſicher jemand und twill mid 
die es dem breiten, kurzen Gefellen von gegens | priigeln, dadte es dabei; dann mup id fo 
über abgefehen hatte. Der fegte fie immer ſehr fprigen, daß man mid) nicht friegen fann, 

10* 





148 


Die Aree Noah, 


ober id) muß Iaufen! Da um die Ede, durd | aber auc) einen ſchönen roten und cinen 


bie grofe Straße und über den Platz in die 
Gaſſe binein; da fol mid mal einer friegen; 
und dann anders berum juriid. Es fam aber 
niemand, um ibn zu greifen. Das weiße 
Häuschen war nod unbewobnt, die Gaffe leer; 
nur ein paar gang fleine Kinder ftanden in 
ber Nähe und faben feinem Treiben gu. Er 
taudte recht tief ein und ſchlug nad ihnen 
aus. Da fapten fie fid) bei den Handen und 
liefen aus feinem Bereich, um in einiger Ent: 
fernung bon neuem Poften zu faffen. Er 
madte ibnen eine [ange Rafe, die fie täppiſch 
ertviderten; bie neuen Grimajjen, die er ihnen 
gegeniiber verfudte, wollten ibnen nod weniger 
qliiden, fo dag ibm die Beſchäftigung bald 
langweilig wurde und er ſich von neuem den 
Pfützen hingab. 

Früher batten fie es wiel beffer gebabt, 
als fie nod) auf der Bachſtraße wobnten. Da 
waren Maſſen von Rindern, immer Rarren 
mit Pferden und Hunde. Da war immer 
etwas gu tun geweſen. Einmal twar cin Pferd 
gefallen; da batten fie febr lange gugefehen; 
und cin Begräbnis gab’s aud) oft. 

Hier batten fie nichts aufer dem Laden; 
ja, ben batten fie. Im Laden war's hübſch, 
wenn dic Gefcbwifter in der Schule ſaßen und 
bie Mutter heraus war. Helmden hatte einen 
Weg ausfindig gemadt, um an die Dinge ju 
gelangen, die auf Brettern neben und über— 
einander in den beiden Fenftern ftanden. Der 
Käſe war leicht gu erreichen, aber der ſchmeckte 
nicht gut; am beften waren dic Zuckerklümpchen, 
bie ju oberft ftanden; den Tiſch mute man 
porriiden und bie fleine Banf hinauf beben, 
bas war ſchwere Arbeit, und viele zuſammen 
burfte man nicht cinmal nehmen, fonft bitte 
bie Mutter etwas gemerft, 

Weit in der linfen Ede auf dem oberften 
Brett ftand das Glas voll einer, hunter 
Steinfugeln. Helmchen hatte einige davon 
gum Geſchenk erhalten und fie ungefdidter- 
weife am felben Tage in den Abfluß des 
Pumpenjteines rollen laffen. Wls er den 
Wunſch nad neuen ausfprad, wurde er auj 
Sonntag vertrdftet; aber er hatte gar feine 
Luft gebabt, den Sonntag abjuwarten. Wit 
grofer Mühe war es ihm gelungen, das Glas 
in der linfen Ede zu erreichen; nun hatte er 








blauen. 

Helden griff in bie Hoſentaſche, lich die 
angenefbme Rundung ber Steine einigemale 
burd feine Hand wirbeln und warf jie dann 
blind von fid, aber nur foweit, daß fie gewiß 
wieder ju finden waren. Cr war gefpannt, 
welden er guerft entdecken würde und ftellte 
heimliche Wetten an. Als er fie gerade jum 
ſechſtenmale getworfen hatte, tourde er von 
der Mutter gerujen; fie ftand in der Titre und 
winkte ihm mit dem Ropfe, bereingufommen,. 
Helmchen febiittelte den Ropf in entgegen: 
geſetzter Ridtung; es war ibm nod viel yu 
bell, ind Bett gu gehen. Cie rief lauter und 
lauter und eilte fdlieflid mit drobender Ge— 
berde auf ibn gu; hätte cr feine Steine gebabt, 
fo würde er jest in einem grofen Bogen um 
fie berum gelaufen und lange vor ibr ju Haufe 
angefommen fein. Den blauen hatte er; aber 
ber rote? Als er ihn eben fab und greifen 
wollte, fiiblte ex ſich febr feft am Arme gefaft 
und fortgejogen. Gr ftemmte fic, ſchrie fo 
bod er fonnte, und jtellte fic, indem er ge- 
fcleift wurde, das große Schwein vor, bas 
fie vorige Wode vom Rarren geladen und an 
beiden Obren in die Metzgerei gezogen batten. 
Bu Hauje befam er einige Hiebe „du Bengel, 
willft bu geborden, wenn ich dich rufe; cin 
verdammter Quälgeiſt bift bul” „Du aud,“ 
fagte Helmchen und rich feinen ſchmerzenden 
Arm. Da fodte die Suppe über und praffelte 
auf den Herd. Frau Domberg rif den Dede! 
ab, und Helmeen dudte fic, als könne das 
beife Ding in ihrer Hand direkt feinem Kopf 
begegnen. Gr gab unter ber Mutter gar zu 
grimmiger Miene den Plan, bei erfter Gelegenbeit 
gu entipringen und ben roten dod nod zu bolen, 
auf, und liebaugelte mit dem Glas in der 
linfen Ede auf dem oberften Brett. „Nächſtes 
Mal nehme ich mir einen gelben,” dachte 
2 ee 
Die Geſchwiſter waren ſchon alle mit 
Löffeln und Tellern bereit, den heißen Suppen— 
ſtrom zu empjangen. Helmden wollte feine 
efjen, fab gu, wie fein gefiillter Teller im 
Schrank fiir morgen friih verſchwand und 
wandte fid) dann den Geſchwiſtern yu, um ju 
verſuchen, ob er fie nicht ftéren finne in ibrem 
Genus. 


Die Arde Noah. 


149 


Nachdem er ſich vergeblic) bemiibt hatte, | mal bineinfperren wollte, hatte er mit Füßen 


den einen oder anderen durch Geſichterſchneiden 
jum Laden ju bringen, fam ibm bad baumelnde 
Bein des grofen Peter gelegen, der auf dem 
Tiſche fag; er tiff in das Bein, nur fo eben, 
aber der Huh des großen Peter fprang vor 
und traf Helmdens Nafenbein. Diesmal 
britllte es, twirflide Tranen vergiefend und 
hatte feine Vorſtellung als die feines Schmerzes 
und nod griferen Zorns. 

Mls Frau Domberg bas Geräuſch nicht 
mebr ertragen fonnte, bielt fie dem Schreier 
einige Augenblide den Mund gu, zog ihn dann 
mit baftenden Fingern aus und febidte fid) an, 
ihn in die bintere Stube gu tragen. „Ich bin 
nod kalt,“ brachte Helmchen, fein letztes 
Schluchzen unterdriidend, heraus, befreite ſich 
durch heftig zappelnde Bewegungen und ſtellte 
ſich an den Herd, wie es allabendlich ſeine 
Gewohnheit war. 

An dem warmen Herd mit blitzenden 
Meſſingteilen und ſurrendem Waſſertopf, beim 
Lampenlicht und Lärm der Geſchwiſter war 
ihm viel wohler als in der Stube nebenan; 
um keinen Preis mochte er auch nur für 
Augenblicke allein im Bette liegen; ſchon bei 
Tage war ihm in der hinteren Stube bang. 
Sie war ſo voll von Möbeln und ſeltſamen, 
dunteln Winkeln und hatte nur ein einziges 
Fenſter, das wenig Licht einließ und faft 
niemals geöffnet wurde. Denn gleich jenſeits 
des winzigen Hofes ſtieg das Hintergebäude 
auf, in dem gemeine Leute wohnten, wie die 
Mutter ſagte. „Sie ſehen einem ſonſt herein,“ 
hatte ſie geſagt und noch ein paar graugelbe, 
vielfach geflickte Gardinen vor das Fenſter ge— 
hängt. Und dann war das Ding da, auf der 
Wand an Helmchens Bett! Erſt hatte es klein 
hinter demſelben hervorgeguckt, wie eine Hand 
ſo groß und war dann langſam die Wand 
heraufgewachſen. Bei ganz hellem Licht ſah 
es wie ein Flecken aus, aber meiſtens war es 
der Kopf von einem rieſigen Kerl mit allerlei 
Auswüchſen und zerrauftem Haar. Den einen 
Arm hatte er ſchon hervorgesogen und hob 
ibn höher mit jedem Tag. Nun fam ſicher 


bald der zweite und dann plötzlich der ganze | 


Rerl und ſtieß mit dem Kopf an die Dede an, 








Helmchen modte um feinen Preis allein in der 
runzelnd, eines ber Brotchen aus dem Schau— 


binteren Stube fein; als die Mutter ibn ein- 


geftoben und gebrüllt, er ſchlüge bas Fenſter 
entzwei; da unterließ fie es. — 

Nachdem das Licht mit Annchen und Bertha 
in die Stube gebracht worden twar, fagte 
Helmaen, nun fet ihm gang warm und jtoljierte 
ibnen mit recht laut klatſchenden, nadten Füßen 
nad. Er mute die Gelegenbeit, dah die 
Briider nod nidt zur Stelle waren, benuten, 
um auf bem grogfen, freien Bett feine vielen 
Turnfunftjtiide zu verfuden und fid dann 
ganz nah an den vorderen Rand ju legen, 
alg ob er fcblicfe. Cr wußte, dag fie ibn 
dort nicht liegen ließen, wegen bes Heraus— 
und Hereinſpringens nicht, ebenſo wenig wie 
in der Mitte, wo er Gelegenheit gehabt hätte, 
ſtatt eines zwei zu quälen. Bald wurde er 
aud angeſaßt und an die Wand gewälzt, wie 
jeden Abend mit ihm gefdab, und der grofe 
Peter fam in die Mitte neben ibn. Der lag 
wie cin Klotz fo breit und feft; wie febr fid 
auch Helmchen in feiner Enge wand und ſtieß, 
der rührte fic) nicht. Che es ſich gum Schlafen 
beruhigt auf die Zimmerſeite legte, warf es 
einen ſchnellen Blick nach dem Kerl an der 
Wand: Ob er auch nicht zu viel gewachſen 
wãre! — 

Helmchen trat von der Straße ins Laden— 
zimmer und fand den großen, feinen Herrn 
bet der Mutter, ber dann und wann fam und 
Brotmarfen brachte. Zwei braune und eine 
gelbe Münze legte er auf den Tiſch und jprad 
bann längere Seit mit der Mutter; ebe er 
ging, gab er ibr zuweilen nod etwas in dic 
Hand, wobei er rot zu werden pflegte. 
Helmchen drgerte fich iiber feine Anweſenheit; 
er hatte fid) auf bas Butterbrot gefreut; nun 
wiirde er warten miifjen. 

Nachdem er fein Anliegen einige Male mit 
fibellauniger Geberde ju ibnen binaufgemurmelt 
hatte, ſuchte er durch beftiges Bearbeiten von 
Frau Dombergs Schürze deren Auge und 
Ohr, die in der Hobe fo gar beſchäftigt waren, 
zu fic) herabzuziehen. Cie ftreifte weiter 
ſprechend dic laftigen Finger herunter, wonad 
Helmden fic) durch das Ausftofen frampf- 
hajter, weinerlider Tone gu belfen fudhte. 

Endlich fragte der große Herr, was ihm 
jeble, tworauf Frau Domberg, die Stim 


150 


fenſter rif und in die ausgeftredten, ſchmutzigen 
Hinde driidte. „Nun if und halt did | 
ſtill.“ 

Was ſie nur immer noch beſprechen mußten 
da oben in der Höh! Helmchen hatte nod 
feine Buiter ju feinem Brot. Jn jede fleinjte 
Pauſe ihrer Reden ſtieß er fein , Butter” binein, | 
immer beftiger, immer grimmiger; ſchließlich 
griff ex wieder die Schürze an, aber feſt dieſes 
Mal, daß man ibn nicht wieder fo abjtreifen | 
fonnte. Frau Domberg faßte mit ber Hand 
an ibre Stirn: ,, Der macht einen nod) verritdt.” 
Cie gab ibm aber die Butter aufs Brot, und 
Helmchen fing an gu eſſen und zwiſchendurch 
zu fingen und mit bem Stocheiſen an den 
Herd ju Tlingeln, Wenn die Mutter ,,fei frill” 
rief, bielt er einen Augenblick inne und fubr 
dann leiſe fort, allmablidh anſchwellend, die 
Broken gefpannt im Auge behaltend, twas fie 
wohl endlich) mit ihm anfangen würden. 

Sie fpraden nod immer fort. Der Herr 
jah mit grofen Mugen ju Helmchen herüber 
und fdbiittelte Dann und wann den Kopf; nun 
merlte er, dak von ihm die Rede war. Frau 
Domberg jagte, dak fie es aud bald nicht 
mebr mit ibm ausbalten finnte. „Das ift 
cin verfebrter Bengel, wild und eigenfinnig; 
der wird wie fein Vater; der war aud fo.” 
Helmchen wußte fon Tange, dap er wie fein | 
Vater werden follte; er würde aber fdlauer 
fein als ber; ibn würden fie nicht friegen, tie 
er laufen fonnte! 

„Wie lange bat ibr Mann jest nod?” 
jragte ber Herr. Frau Domberg fing an ju 
rechnen. „Seit Oftober fift er; nun nod 
adt Monate”, jagte fie. ,,Seben Sie, wenn | 
id) nur den da nicht dabei bitte; mit den | 
anderen wollte ich ſchon fertiq werden.” 

„Sie müſſen ibn gu erziehen ſuchen,“ fagte | 
ber Herr, „haben Cie ibn eigentlidd ſchon 
einmal gehörig durchgeprügelt?“ 

„Den?“ Frau Domberg rif Helmchen aus 
ſeiner Ecke, wo es eben begonnen hatte, ſich 
mit Abreißen der Tapete zu beſchäftigen, her— 
vor. „Der? Grün und blau iſt der ſchon 
geweſen, der Taugenichts!“ Der Herr nickte 
vor ſich hin und ſah Helmchen wieder mit 
großen, ernſten Augen an, worauf dieſes eine 
Grimaſſe ſchnitt. „Da ſehen Sie es,“ ſagte 
Frau Domberg. — — 





Tie Arche Noab. 


Helmden ſuchte zu entidliipfen, als der 
Herr wieder einmal da war. „Er fonnte mid 
am Ende priigeln,” dachte er, wurde aber auf 
dem Weg zur Titre aufgebalten. „Guten 
Tag, Wilbelm, id habe dir aud) etwas mit- 


gebracht.“ 


Helmchen ballte ſeine Hände auf dem 
Rücken, zum Zeichen, daß er keine Luſt hatte, 
eine davon zu geben und ſuchte mit den 
Augen nach einem zum Schlagen geeigneten 
Gegenſtand, der etwa für ihn mitgebracht ſein 
könnte. Auf dem Tiſche lag etwas von 


beträchtlicher Ausdehnung in gelbes Papier 
gehüllt, deſſen Geſtalt entfernt an das Stück 


Lebkuchen erinnerte, das zu Weihnachten ins 
Haus gekommen war. 

Der Herr löſte das raſchelnde Papier und 
brachte ein langgeſtrecktes Häuschen zum Vor— 
ſchein mit grellrotem Dach. „Haſt du ſchon 
einmal cine Arche Noah geſehen?“ Helmchen 
wußte nicht, was das war, ſondern warf große 
Blicke auf das Häuschen, das an der Längs— 
ſeite gemalte Fenſter hatte mit weißen Gardinen 
und bunten Blumentöpfen dazwiſchen. Da 
wurde die Geſchichte von dem froͤmmen Mann 
erzählt, der mit ſeiner Familie und allen Arten 
von Tieren in der Arche Zuflucht vor dem 


großen Waſſer fand. „Nun wollen wir ſehen, 


ob fie nod drinnen find.” 

Wie der Deel langſam geboben wurde, 
britdte fic) Helmchen langſam beran, ſchob 
jeinen Ropf vor und erblidte in dem offenen 
Häuslein ein feltfames, buntes Gewimmel. 
Da holte es die eine feiner Fäuſte vom Riiden, 
jtedte den Schürzenzipfel in den Mund und 
fab von dem Gewimmel in dad Geficht des 
fremben Herrn, von diefem auf dic Mutter und 
dann twieder in das Gewimmel hinein. „Sind 
nod) bdrinnen,” widte es; dann wurde aus- 
gekramt. 

„Elefant, Eſel, Löwe“ nannte der Herr 
und reihte fie auf der Tiſchplatte paar: und 
paarweiſe bintereinander; das gab cine [ange 
Prozeffion; Herr Noah und feine Familie 
madten den Schluß, eine Manner und 
Frauen in fteifen, bunten Roden. 

M3 fie alle ftanden, war Helmchen bis 
didt an die Knie des fremden Herrn vor: 
gedrungen und faute, wn dad Laden gu 
verbeifen, beftiq auf feiner Schürze herum. 


Die Arche Roab. 


Nachher hatte er das wieder gefiillte 
Hausden auf den Armen. „Danke fagen” 
befabl die Mutter. Helmchen ließ den Kopf 
hangen und ftierte auf das rote Dad. „Sonſt 
nimmt er fie wieder mit.” Da dritdte er fie 
ſehr feft an fic und ſtieß das danke bervor. — 

Nun hatte er etwas. Peter beſaß die 
filberne Ube vom Paten, Karl und Marie 
Schreibtafel und Katechismus, Helmefen alle 
Tiere und die ganze Arde. „Zeige fie dod 
cinmal” fagte die Mutter, als die Geſchwiſter 
verjammelt waren. Helmchen grinfte, jog fie 
aber erſt aus der Ede neben dem Schranke 
bervor, alg niemand fie mebr dringend ju 
ſehen wünſchte. Während er fie leerte, ftanden 
alle um ihn herum. Er ſuchte aus mit 
täppiſchen Fingern und hatte ſehr viel Arbeit, 
die richtigen Paare zuſammen zu finden. „Das 
iſt ja eine Kuh; er ſtellt den Eſel zur Kuh“ 
fagte Peter und ſtürzte einige Paare, indem 
er verbeſſernd in die Reihen griff. Helmchen 
ſchlug nach ihm und ſchimpfte ſehr, indem es 
nach der Mutter ſchaute, ob deren große Hand 
nicht ſchon an ſeinem Rücken ſei. „Nun laßt 
ihn auch, es iſt ja ſein“ ſagte da die Mutter. 

Ihre Hände waren auf dem Tiſch und 
framten die gefallenen Tierchen zurecht. 
Helmchen ſah ſchnell nacheinander alle Ge— 
ſchwiſter an, führte den Löwen, den es eben 
aufgenommen hatte, zum Mund und nagte mit 
den Lippen an ſeinen Vorderbeinen herum. 
Neben ihm und ſchräg hinab ſah er blau und 
blau mit weißen Sprenfeln darin, der Mutter 
Kleid, und hinauf bis an die grauen Schürzen— 
bandel und dritber binaus [outer blau und 
weiß und bie Arme entlang, die ausgeſtreckt 
waren weit fiber den ganjen Tiſch hinüber. 
Das alles war die Mutter und aud) nod der 
aufgeitedte Sopf, der gang in ber Hobe gu 
feben war. Sie war eine ſehr grofe, ftarfe 
rau; wenn fie nur wollte, könnte fie Helmchen 
tot fdlagen; aber fie beſchützte ihn. Der 
gelbe Lowe gab einen häßlichen Geſchmack; 
Helmchen putzte die Lippen an dem Rücken 
ſeiner Hand und das Tier leiſe an der Mutter 
grauer Schürze ab. Es war ſein Tier, und 
die Mutter hatte ihn beſchützt. 

Mehrere Tage überlegte er, welcher der 
beſte Platz für ſeine Arche ſei; er verſuchte 
hier und da; auf dem Kleiderſchrank in der 


151 


bintern Stube gefiel fie ihm endlich fiir die 
Nadt. Sobald die Mutter fic) anſchickte, 
Annden und Bertha mit der Lampe zur Rube 
qu tragen, räumte er fie fiir diefen Tag end- 
giltig jum [egten Male cin, nahm fie unter 
den Urm und erflomm vorſichtig die Fußlehne 
pon Mutters Bert, von wo aus er fie an 
ibre Stelle bringen fonnte. Cr riidte fie ganz 
dict an den vorderen Rand und drebte fie 
fo, dah er bon feinem Schlaſplatz die Langs: 
feite gut iiberbliden fonnte. Ihr rotes Dad 
blinfte in feine Mugen, wenn er bequem auf 
dem rechten Obr da lag. 

Es jolgten eine Anzahl von Regen: 
tagen, an welchen Helmdjen nicht auf der 
Strafe fpielen durfte. Jn ſolchen Seiten war 
es früher bon der Langetveile gezwungen 
worden, durch Ausführung aller möglicher 
Einfälle die Aufmerkſamkeit der Mutter auf 
ſich gerichtet zu halten. Nun hatte es mit 
ſeiner Arche Beſchäftigung genug. 

„Er macht ſich“ fagte Frau Domberg eines 
ſolchen Tages, „man fann ibn ſchon einmal 
ruhig allein im Zimmer laſſen,“ und ging 
während des Waſchens von der großen Bütte 
fort, um Seife nachzukaufen. Es war ſehr 
ſtill, als Helmchen ſo ganz allein zu Hauſe 
war. Eine Weile ſtaunte er und lauſchte dem 
heimlichen Kniſtern, das aus der Bütte fam. 
Dann ſchleppte er die kleine Bank herbei, von 
ber aus er den Seifenſchaum gut feben fonnte 
und beobadtete die vielen Blasden, deren 
größte rote und blaue Lidtlein trugen und 
bie bas Kniſtern verurfadten, indem fie plagten. 
Er taudte die Hand in das iweide, warme 
Geflod bis babin, wo bas gewöhnliche Wafer 
beginnt und dann fiel ibm plötzlich cin, die 
Arde, die dod eigentlich auf das Wafer 
geborte, in der grofen Bütte gu verfuden. — 
Cie ſchwamm wirklich und ſchwankte leiſe in 
dem weißen Geſchäum, während Helmchen hin 
und wieder ging, um die Tiere zu holen und 
einzuladen. Als er mit der letzten Handvoll 


das Biinkden beſtieg, war in der Mitte des 


Seifenſchaums cin Fleden dunkeln, trüben 
Waſſers, von der Arche aber feine Spur mehr 
gu feben. Da griff ex erfdbredt auf den Grund 
und brachte juerjt die Arde, die feinen Boden 
mebr hatte, dann dieſen Boden felbft und 
bann nadjeinander die Tiere herauf. Die 


152 Die Arde Noah. 


AÄrmel feiner Sade waren nak bid oben 
hin, die Tiere jarbten das Bettud, an dem 
er fie trodnen wollte. 
nad Haufe fam, ftotterte und ſchluchzte er 
faut, nun fei fie faput, 

Ta cr dod) ſchon weinte, gab fie ibm 
feine Prügel, fondern fprad nur, während fie 
ibm die Conntagsjade anjog, viel davon, 
was fiir cin Dummer und ſchmutziger Junge 
er fei, Als er aber danad nod immer weiter 


jammerte und verjuchte, durch Aufeinander- 
driiden die getrennten Teile wieder yu ver- 


binden, gab fie ibm 5 Pfennig in die linke | 


Hand und bie Arde famt bem Boden auf 
den rechten Arm und ſchob ihn yur Tiir 
binaus. „Da, mun made, dak du jum 
Schreiner Franjen fommit, dah er fie dir 
wieder zuſammenleimt.“ 

Man hatte ibm nod nie Geld anvertraut; 
er bielt die Hand feft gufammengeframpft, um 
es nicht zu verlieren. Gigentlich fürchtete 
er den Schreiner Franzen, den er früher 
zuweilen ausgeladt batte, wenn er von ibm 
von den Stufen feiner Haustiire, auf denen 
er feine lauten Spiele zu treiben pflegte, ver- 
jagt worden war. Yangfam und ernjthait 


trat er in die Werkftatt binein, ſchob die | 
Trimmer und das Geldftiid ſchweigend auf 


die Hobelbanf, an der der Meifter beſchäftigt 
war und blidte in grofer Beſchämung auf 
den Boden, wo die Spine lagen. Der 
Meijter nabm die Caden und ging fort 
damit; als er nad ciniger Seit wiederfam, 
jagte er, nun müſſe das Ding febr vorſichtig 
getragen und zu Hauſe ruhig hingeſtellt 
werden bis jum folgenden Tag. Da trug 
Helmeben fie febr vorſichtig mit beiden Sanden 
fiber die Straße und fob immer ängſtlich auf 
fic berab, Su Hauſe ſtieß er mit bem Fue 
gegen die Titre, damit die Matter fame, ibm 
qu öffnen. Die mufte laden, als fie ihn fo 
bebutiam und gerade vor fic blidend cine 
treten fab. „Der wird mal tüchtig,“ dachte 
fie. — 

Es regneie tagaus, tagein, fo daß Helmchen 
faum mebr toute, wie es ſich auf der Strafe 
fpiclte, Zuweilen froftelte ihn aber bei feinem 
Yeben in der Stube, und dann ſtellte er ſich 
vor, wie gut ed ſein würde, wenn ned ein: 
mal bie Sonne fdien. Er würde Me Arche 


Als Frau Domberg | 








Helmeben, er wälzte ſich bin und ber. 


Bett verlaſſen, 


und alle Tiere mit hinausnehmen, ſobald es 
ganz troden wire; er fab fie deutlich im 
ellen Lichte auf ben Steinen fteben, und alle 
Rinder der Straße rundberum. Neben fid 
müßte er cinen Sto haben, um feine Sachen 
vor ibnen zu beſchützen. Er fragte Frau 
Domberg haufig, ob nod immer nicht gutes 
Wetter würde, und dieſe febiittelte bei ben 
Nadbarinnen ben Kopf und fagte, es fet 
cigen mit dem Wilhelm, er werbe fo finnig 
in letzter Beit. — 

Den Rerl an der finfen Ceite feines 
Bettes hatte ex gang vergefien, bis er eines 
Abends bemerfte, dak nun aud der andere 
Arm Hervorgefommen war. Da durchriefelte 
es ibn; er driidte fic nabe an Peter und 
jafte bie bunte Wrebe ganz feſt ins Auge; er 
zählte ihre Fenſter und die gemalten Ziegel 
des Dads und wünſchte, die Lampe würde 
nidt ausgelöſcht. Nachdem es dann dod auf 
einmal dunfel geworden war, bielt er den 
Atem an und ftarrte mit weiten Augen, ob denn 
gar nichts gu unterideiden wäre. Allmählich 
gewahrte er dad Fenjter, dann den Schrank 
und ſchließlich über demſelben cinen dunfeln 
Flecken; bas mußte die Arche fem! Er ftellte 
ſich lebbaft das Not ihres Daded vor und 
die bellen Gardinen; zu ſchlafen batte er 
gar keine Rube. 


Nach längerer eit ward die Stube 
Icbendig. Yon dem Sdranf ber famen fie 


gezogen, gan; groß und beweglich, alle auf 
Helmchens Bett yu und über feine Dede weg; 
die meiften waren verfebrt gepaart; der Hund 
ging mit dem Kameel zuſammen; das argerte 
Auch 
waren ſie ihm ſo ſchwer auf der Bruſt und 
waren doch ſeine Tiere, er möchte ſie gerne 
ſtreicheln, ſeine Tiere! Er wollte nicht ſehen, 
wohin ſie gingen; er wußte, wohin! Der 
ſchwarze Kerl nahm ſie eins nach dem anderen 
und zog ſie hinters Bett hinunter; alle, eines 
nach dem anderen. Zum Schluß langte er 
nach Helmchen ſelbſt; der wollte nicht unters 
Bett, wo es ſo dunkel war; er rückte noch 


naber an Veter heran und wurde heiß und 


ſeucht. 

MIS es ganz bell war, waren die Ge— 
ſchwiſter ſort. Helmchen hätte aud gern das 
wußte aber nicht, wie das 


Der junge Herder und de Sprachkunſt. 153 


au madjen fei. Da tweinte er und befam von | ins Spital. Frau Domberg fagte zaghaft, 
der Mutter naſſe Tiicher auf die Stim. Dann | jie wolle es Lieber zu Hauſe bebalten. Wenn 
lag er ftill, der Zimmerſeite zugewandt. | fie es im Spital batten, wußte fein Menſch, 
Einmal war eine laute Stimme an feinem | was mit ihm gefdab. Das ginge nicht 
Dbr; er wurde beftiq aujgeboben von jemand, | wegen der Anſteckungsgefahr, fagte der Wrgt, 
der nicht die Mlutter war. Er taftete über er werde fofort den Wagen ſchicken. — 
etwas Weides, Glattes; das twar nicht der | Am Cypital erfubr Frau Domberg nad 
Mutter fattunenes Kleid. Dann war er einigen Tagen, daß Helmden den Typhus 
irgendiwo anders als fonjt; er fannte fich nicht | babe und einige Tage ſpäter, daß er daran 
und fudte umber, „Er fucht die Arche“ wurde  geftorben fei. Cie jammerte bei den 
geſagt. Darauf erjdien wieder der rote Fleden | Nachbarinnen: ,,gerade jest, wo er fid fo 
und bas ganje bunte Ding. Nun fannte er machen wollte”. 
fidh und war zufrieden. — Der Arzt fagte | Durd das Suchen einer neuen Wobnung 
rau Domberg laute und heftige Worte über | hatte fie febr viel Sorge und Arbeit. Schließlich 
die feuchte Wand, an der das Kind gefdlafen | entſchloß fie fie, den Laden aufjugeben und 
hatte. Die Polizei werde ihr bas ungefunde | mictete einige bodgelegene Simmer, die Sonne 
Lod) nod) heute fcbliefen, fie möge die Betten | batten. Die Arche befam im Glasfdrant 
beriibertragen laſſen. Dads franfe Kind milffe | ihren Plas. — 





GE 


Ver junge herder und sie Sprachkunsf. 


Bor 


Helene Herrmann. 


Raddrud verbotes. 


& rzeugen will ich dem anderen Gedanten, aufrufen in ihm Bilder, in ibm Ideen 
"Ser ſchaffen — niet aber meine Gedanten bloß eryiblen, meine Bilder vorframen, 
meine Empfindungen bingqaufeln.” 

Der Lebenshauch eines ganz modernen Wortes weht aus diefen Sagen, die vor 
mehr als 130 Jabren cin junger Prediger und Schulmeiſter in Riga niederfebrieb. 
Als Herder in einem enthujiaftifeben Nachruf auf einen Friibverftorbenen, der ihm viel 
gegeben atte, dem er fic) weſensnah fiiblte, fo die evofatorifde Kraft befeclter Rede 
pries, fagte er feiner Beit etwas Neues. Etwas ganz Rewes, fo febr die Wanner des 
falten Rationalismus, gegen dic er auch auf ſprachlichem Gebiete erbittert Eimpfte, tic 
flarer, iiberredender Wortgeſchicklichkeit, deutlicher Ausdrucksfähigkeit rühmen mochten. 
Daß die Sprache, auch die des Denkers, nicht nur überreden, Gedanken vermitteln 
ſolle, nein, daß ſie Gedanken ſchaffen, ganze ſeeliſche Welten im Hörer wie aus dem 
Nichts hervorzaubern könne, — das war verblüffend. Das zog Herder den Hohn 
ſeichter Vernünftler auf ſeine eigene, ungezähmte Feuerſprache zu, das entzückte die 
Jugend, die ſeine Schriften las und die ſich freudig bewußt wurde, daß ſie für ihre 
entfeſſelten Seelenkräfte die Waffe ſelbſt hämmern und ſchweißen könne. 

Uns aber glänzt das vor ſo langer Zeit geſprochene Wort mit dem Schimmer 
eines Wunſches, in deſſen Verwirklichung auch für uns noch Lebensreize liegen. Denn 


154 Der junge Herder und die Sprachkunſt. 


wir lauſchen heute Rednern und Schriftſtellern, die zwar nicht im engeren Cinne 
Künſtler find, aber auc ihre Sprade nicht nur als Ausdrucksmittel eines reichen 
Gedankenbeſitzes kultivieren, den ſie mitteilen wollen. Es werden auch nicht bereits 
fertige Gedanken rhetoriſch belaſtet mit dem ſchweren Prunkmantel einer „ſchönen“ 
Sprache, — nein, aus ihren Worten ſcheint das Gefühlte, Geſchaute, Gedachte erſt 
aufzuſteigen wie aus einem friſchen, lebendig bewegten Meere, noch verwandt dem 
erzeugenden Element, ebenſo beweglich, jugendlich glänzend. Noch ſcheint im Ausdruck 
die letzte Schwingung des pſychiſchen Prozeſſes nachzuzittern, wir glauben Zeugen dieſer 
Geiſtesgeburt zu ſein, ja mehr: ſie in unſerer Seele zu erleben. 

So erreicht der moderne Redner das Ziel, das ſich der junge Herder ſetzt: er 
erregt unſer intellektuelles Temperament, er ſteigert die viſionäre Fähigkeit des Geiſtes. 
Der geheimen, belebenden, befruchtenden Kräfte, die im Worte ſchlummern, bewußt, 
zwingt er uns, angefangene Gedankenreihen weiterzudenken und über das, was direkt 
geſagt wird, hinaus ſeinen Intentionen nachzuſchaffen. - Und mit einer beglückenden 
Wirkung, die ſonſt nur die Kunſt hat, macht der Offenbarer den Empfangenden zum 
Schöpfer — auf Momente. Dieſe ganz eigentümliche Kraft der Rede, ſie nährte ſich 
am Born einer neuen Kunſt, die im Klang und Zuſammenklang der Laute, im Rhythmus 
und in den Biegungen des Satzbaus, in den auserwählten und ſtarken Bildern aufs 
neue Wirkungen erkannt hat, die noch nicht ihre belebende Macht voll erproben durften. 
Eine Entdeckung über das ſinnliche Material der Dichtkunſt, ebenſo erregend wie für 
den Bildhauer die Erkenntnis, daß er dem Marmor und der Bronze, deren Sprache 
man generationenlang voll zu kennen glaubte, neue Ausdrucksmittel entriſſen habe. 

Dieſe moderne Sprachkunſt, die aus der Sphäre des Künſtlers auch in die des 
Aſthetikers und Philoſophen hinübergeglitten iſt, — ſie trägt freilich ein ganz anderes 
Gepräge als die, mit der ſich der junge Herder beſchäftigte. Er wollte die urſprüngliche 
Lebenskraft des Ausdrucks, die er in der „hüft- und markloſen Sprache“ ſeinerzeit 
vermißte, viel mehr als wir heutzutage aus der primitiven, zielſicheren Rede unkultivierter 
Völker wieder ergänzen, von deren Art, „den ganzen Gedanken mit dem ganzen Wort 
und dies mit jenem“ zu umfaſſen, er nur noch bei Kindern und beim Volke Spuren 
zu finden meinte. Aber das Ziel, die Sprache zu einer Erweckerin, Beleberin zu 
machen und ſie zu ſolchen Wirkungen zu brauchen nicht als ein an ſich gleichgiltiges 
Werkzeug, ſondern als ein Medium von eigenem Weſen und Wert, ähnelt dem der 
heutigen Beſtrebungen, und es lohnt ſich wohl, die Außerungen des jungen Herder 
über Sprachkunſt im Zuſammenhange zu betrachten. 

Ex ſelbſt freilich hat nirgends in zuſammenhangender ſyſtematiſcher Weiſe darüber 
geſprochen. Aber wenn wir die zahlreichen Schriften, im denen ev ſich mit der Sprache 
beſchäftigt, dDurchblittern, feben wir überall irgend eine Beziehung zu dieſer Frage, eine 
hingejtreute Außerung dariiber. 

Gr bat das Problem: wie fann die Sprache in der Hand eines Geftalters zu 
einer lebendigen Kraft werden? nach verſchiedenen Seiten bin erwogen. Cr bat die 
Sprade als Material an ſich betrachtet, auf ibre Bildungsfähigkeit bin gepriift. Er 
bat auch den ins Auge gefaßt, der Das Material formen ſoll. Gefiihrt wurde er 
zunächſt auf das techniſche Problem durch cin allgemeines wiſſenſchaftliches Intereſſe 
an der Sprade. Cin Ideal feiner gärenden Jugendſeele war es, cine Geſchichte des 
Menſchengeiſtes zu ſchreiben, eine hiſtoriſch-empiriſche Pſychologie. Sie follte fich aus 
allen erreichbaren Suellen nähren, aus allen Offenbarungen der fultivierten Nationen 


— 


Der junge Herder und die Sprachfunft. 155 
wie aus den Lebensbetatigungen wilder Naturvélfer, aus den Bekenntniſſen reifiter 
Genies wie aus den unartifulierten Auferungen der Kindespſyche. Unter allem Material 
ſchien ihm die Sprache das wichtigſte. 

Seine erſte Schrift, die ibn weiterhin befannt machte, die Fragqmente iiber 
nenere deutſche Yiteratur, beginnt mit Betrachtungen tiber die Sprade. Sie ijt das 
Vebifel unferer Geiftesbilbung; mit iby und durch fie lernen wir denfen. Darum: 
wer den Geiſt, die Seele eines Bolfes fennen will, der ftudiere feine Sprade. Qn 
ihren Idiotismen offenbart fic fein Nationalgeiit, das eigentümliche Gepräge, das 
jein Weſen durch Klima, Lebensbedingungen, individuelle Anlage bat. Die Sprache 
ijt der Niederſchlag der Geiſtesgeſchichte. Untrennbar find ſeeliſcher Gebalt und 
Ausdruck verbunden. Er könnte fiir die Frage: ijt ein beftimmtes ſprachliches 
Material durch Mberfesungen, Nachbildungen aus fremden Sprachen ju bereichern? 
ſchon aus dieſen erjten Betracdtungen das Refultat gewinnen: fein Inhalt, feine 
Form Fann aus fremden ſeeliſchen Welten im unſere übernommen werden, dem fich die 
Welt unjerer lautlichen Gebilde, wie fie als notiwendiges Produkt unferer Geijtes- 
geſchichte da find, nicht von felbjt dDarbietet. Denn ebenſo eng wie zwiſchen Juhalt 
und Wusdruc ijt umygefebrt das Band zwiſchen Ausdrud und Inhalt gefniipft. Diefes 
Ergebnis erreicht Herder aber erſt, nachdem er nod eine andere Betrachtung angeftelit 
hat. ber die nationale Bedingtheit des ſprachlichen Materials blidt er binaus und 
entwirft cin Bild von den Lebensaltern der Sprache, wie es ibm vorſchwebt. Dede 
Sprache durchlebt vier Perioden, entfprechend wieder den notiwendigen feelifden 
Entwicklungsphaſen, die jedes Volk durchmißt. Zuerſt die Nindbeit, die Periode 
leidenſchaftlich unmittelbarer Triebe und ſtärkſter Senjibilitat fiir alle Sinnesreize; in 
der Sprade Überfülle finnliden Ausdrucks; Gefang ijt die Rede, Geberde unterjtiist 
fie: eine Sprache „für Auge und Obr, fiir Sinne und Leidenfdaften.” Im Jünglings— 
alter cines Volkes, in der Zeit, da „die Denkart ihr raufchendes Feuer ablegt”, 
bleibt die Sprache immerhin nod eine Wrt Gefang: „Der Dichter erhöhte nur feine 
Akzente in cinem fiir das Ohr gewablten Rhythmus, die Sprache war ſinnlich und 
reich an kühnen Bildern, fie war noc ein Ausdrud der Leidenjchaft, fie war nod 
in den Verbindungen ungefeffelt . . .“ Das ift nach Herder das Blütenalter poetiſcher 
Volfstraft. Cine Sprache in ibrem männlichen Wlter iſt „ſchöne Proje’. Sie 
braucht den Reichtum ibrer Jugend maßvoll, ſchränkt die Jdiotismen ein, mindert 
Die Freiheit der Inverſionen, bereichert den Schatz abjtrafter Worte. Auf der Stufe 
endlics, auf der ein Bolf zu philoſophiſcher Entwicklung durchdringt, erhöht die 
Sprache von felbjt nicht mehr ihre Schönheit, ſondern ibre „Richtigkeit“: fie gewinnt 
mebr Klarbeit des Satßzbaus, Reichtum an Begriffsbezeichnungen und  verliert an 
phantajieerregender Kraft. 

Indem mun Herder den völkerpſychologiſchen Gefichtspunkt und den allgemeinen 
hiſtoriſch-pſychologiſchen verbindet, kommt er yu den vorber charafterijierten Schlüſſen 
und fiigt bingu, es fei notwendiq zu wiffen, in welchem Lebensalter cine Sprache 
jtebe, wenn man fie willfiirlidy formen, als Musorucdsmaterial bereichern will Er 
felbit pritft eine Reibe frembder Viteraturen daraufbin, was bei Uberſetzungen aus ihnen 
und durch die Renntnis ibres ſpeziellen Weſens fiir feine Mutterfpracde zu gewinnen 
fei. Er kritiſiert nach feinen Uberzeugungen den Nat der damaligen Sprachverbefferer, 
die Spracdformen einfad an die oder jene fremde Junge angupajjen. Sein Ideal 
ift offenbar, daß cine Sprache, Die wie die deutſche im Seitalter der „ſchönen Proje” 


156 Der junge Herder und die Sprachfunft. 


ſteht, harmoniſch ausgebildet werde ſowohl nad der Seite ded braujend jugendlid 
dichteriſchen Ausdruds als nad der der altersflaren Verftdndlichfeit. Cinen wabren 
Abſcheu bat er vor dem rationaliſtiſchen Sprachideal, das nur fiir körperloſe Geifter 
qut fei, „die ſich Begriffe in die Seele redeten”. 

Dieſe allgemeinen Betrachtungen dariiber: was fiir Vorausfegungen der Sprach— 
funjt find rein durch die Vedingtheit ibres Materials geqeben? werden dadurds vertieft, 
daß Herder fics angelichts bejtinunter zeitgenöſſiſcher Leiftungen fragt: wie foll man 
iiberjepen? Es ijt befannt, dah er juerjt nachdriidlid) ein echtes Cinfiiblen vom 
Nberfeser verlangt, cin Hineinſchmiegen in die Seele des fremben Autors, in feine 
nationale und zeitliche Bedingtheit, in den Geijt feiner Spracde, ein Vergeſſen dagegen 
und Wufgeben aller fulturellen Selbjtverftandlichfeiten, in die ihn jeine cigene Lebensform 
eindämmt. In den Fraqmenten, die feine Jugendperiode cinleiten wie in den Volfs- 
liederabbandlungen, mit denen fie ausklingt, in zahlreichen Resenfionen von Tber- 
febungen aus dem Lateinifehen, Griechifechen, Hebräiſchen wiederbolt er diefelben 
Forderungen in anderer Form. Aber er fühlt auch ftets aufs neue die Schwierigkeiten, 
die ſchon allein durch den verſchiedenen Geſamtrhythmus zweier Sprachen, durch ihren 
heterogenen Stil einer künſtleriſchen Erfüllung diefer Forderungen entitehen. 

Dah felbjt cin Menſch, defen Seele all das fremde, reiche Leben in fich su 
fajjen vermichte, am ſprachlichen Material febeitern fann, beflagt er in feiner Borrede 
zur Volksliederſammlung in ſchönen, bewegten Worten: „Homer, Hefiodus, Orpheus, ich 
febe eure Schatten dort vor mir auf den Inſeln der Ghidfeligen unter der Menge und 
hire den Nachhall eurer Lieder; aber mir feblt das Schiff von euch in mein Land 
und meine Sprache. Die Wellen auf dem Meere der Wiederfabrt verdimpfen die 
Harfe, und der Wind webt eure Lieder zurück, wo fie in amaranthenen Lauben unter 
eigen Tänzen und Felten mie verballen werden.” Oder mit nod gefteigertem Rei; 
des fprachlichen Musdruds wariiert er diefe Rlagen, wenn er von der Übertragung 
griechiſcher Chorgefinge fpricdt: „Aber wer fommt yum Bilde? Wer fann’s aus der 
Hobe feiner Tine haſchen und cinverleiben unferer Sprache? Co auc mit Pindars 
Geſängen, von denen meines Wiſſens nod) nichts entfernt Ahnliches in unferer Sprache, 
vielleicht aud nicht in unſerem Obr da iſt. Wie Tantalus fteht man an ibrem 
Strome; der Flingende Strom fleucht, und die goldenen Früchte entziehen fich jeder 
Berührung.“ Untrennbar aljo, das erfennt evr von jedem einzelnen Werk, fei’s 
höchſtgeläuterte griechiſche Poeſie, fei’S ,der Natur roher abgebrochener Schrei“ wilder 
fremder Raſſen, ſei's langgezogener Klagelaut Oſſianiſcher Geſänge aus wogendem 
Waſſernebel „von den Hügeln der Kaledonier“, ſei's üppig blühende Dichtung 
orientaliſcher Leidenſchaft, — untrennbar ijt ſeeliſcher Gehalt und jede Form des 
Ausdrucks. 

Mehr zwiſchen den Zeilen zu leſen als deutlich ausgeſprochen iſt die Erkenntnis, 
wie viel eben durch dieſes Ringen mit Geiſt und Melodie der fremden und der eigenen 
Sprache für die Sprachkunſt gewonnen wird. Nichts iſt zu überſetzen, dem ſich das 
ſprachliche Material völlig entzieht — wohl, aber der Sprachkünſtler muß auf dieſe 
Weiſe die Kleinodienfülle eigenen Beſitzes kennen lernen, ja er muß hinabtauchen in 
den verſchütteten Schacht der Vorzeit und von da vergeſſene Reize, verlorene Ausdrucks— 
fähigkeiten heraufholen, damit er dag fremde Geſchmeide nachformen kann. Und was 
erſt nur Mittel zu dieſem Zweck war, wird ibm nun ein eigener Beſitz, deſſen er ſich 
frei und ſpielend bedienen kann. 


Der junge Herder und die Sprachkunſt. 157 


Auf diefe Weife gewinnt die Sprachkunſt Unſchatzbares ans den ber: 
ſetzungen. 

Herder wünſchte ein hiſtoriſches Werk, in dem das Werden, die Erlebniſſe der 
deutſchen Sprache geſchildert würden und das auch die Frage beantwortete: „Wie 
weit iſt die Sprache als Werkzeug der Literatur, wenn man ſie mit anderen Nationen 
vor und neben uns vergleicht? wie weit als Werkzeug der Literatur, ſofern ſie ver— 
ſchiedenen Gattungen angemeſſen wird? wie weit für den Dichter, für den Proſaiſten, 


wie weit fiir den Weltweiſen? ..... Was fliegen in ibr fiir Schähe von Gedanfen, 
fiir robe Maſſen zu Gejtalten fir ungebrauchte Formen, zu neuen Schreibarten .. . .. — 


Ich möchte hier die Frage aufwerfen, ob dieſe ſorgfältige Erwägung des Aus— 
drucksmaterials nicht überhaupt cin Typiſches in Herders Kunſtbetrachtung iſt, das 
nur durch die ſpätere Entfernung von der bildenden Kunſt auf dieſem Gebiete nicht 
zur vollen Entwicklung gelangte. Denn in ſeinen Jugendwerken über bildende Kunſt, 
dem ungedruckten vierten „Kritiſchen Wäldchen“ und der ſpäter daraus erwachſenen 
„Plaſtik“, klingt dieſe Saite an. Der Hauptinhalt dieſer Werke iſt zwar eine Be— 
qriindung der verſchiedenen Schönheitsgeſetze der Malerei und Plaſtik aus dem Weſen 
der verſchiedenen Sinne, die beider Künſte Urſprung ſind, dem Weſen des ſehenden 
Auges und der taſtenden Hand. Aber es wird doch erwähnt, daß die Gebundenheit 
und die Ausdrucksfülle plaſtiſcher Kunſt mit ihrem Ausdrucksmaterial zuſammenhange. 
In einer ſehr kritiſchen Betrachtung von Winckelmanns Würdigung egyptiſcher Kunſt 
bebt er hervor, man müſſe bei einem echt geſchichtlichen Vorgehen beachten, wie dieſem 
Volk ſein Land zur Hand gegangen ſei „mit ſonderbarem Material für die Idee und 
die Ausführung der Idee“. 

Aber Herder hat die Sprachkunſt nicht mur nad den gleichſam objektiven 
Bedingungen bin beachtet, die das Material ſchafft. Er wußte, wie viel beim 
Zuſtandekommen ſprachkünſtleriſcher Leiftungen das fubjeftive Clement bedeutet, daß 
das Werkzeug ſich wandelt in der Hand, die es braucht. Cr rit einem Schriftſteller 
feiner Tage, der den Tacitus mit Fleif und Verjtandnis, wie er ihm jugejtebt, über— 
fest bat, fic Lieber cinem anderen römiſchen Autor zuzuwenden, deſſen Wejen und 
Rede dem Geſamtſtil feiner Sprache mebr adäquat fei. Wertvoller als ſolche 
Außerungen ijt es uns, wenn Herder die individuell verfcbiedene Befähigung zur 
Sprachgeftaltung mit folgenden Worten abjchagt: „Jeder Kopf, der felbjt denft, wird 
auch felbjt fprechen; er wird feiner Sprache Merfmale von feiner Seb: und von den 
Schwächen und Tugenden feiner Denfart, kurz, cine eigene Form eindrücken, in welche 
fics feine Ideen hineinſchlugen. Nun habe ich durch Erfabrungen bemerft, daß nicht 
bei jedem, Der da denft und fprict, Gedanfe und Wusdrud auf eine gleich fefte Art 
zuſammenzuhängen ſcheinen, daß nicht bloß bei dem einen der Vortrag loſer und 
biegjamer ift als bei Dem anderen (Denn dies ijt zu befannt und leicht zu erklären), 
fondern daß bet diefem der Gedanfe felbft mebr an dem Worte klebe und gleicsfam 
Die ganze Denfart ſymboliſcher und jeichendeutender fei ald bei dem anderen . . . und 
wenn wir aud) nur einige Sebriftiteller von Rang und Anſehen fegen, die ibve 
Gedanken der Sprache oder die Sprache den Gedanfen auf fo cigene Art anpaijen, 
jo gibt e3 notwendig im Fleinen und grofen beträchtliche Phänomene.“ Auch bier 
wieder bet Betracdtung der fubjeftiven Bedingungen der Spracfunjt fiebt Herder 
die organiſche Cinbeit von Gedanten und MAusdrud als beſonders wichtige 
Erſcheinung an. 


158 Der junge Gerber u-d die Spracdhfuntt. 


Wir erfabren aber an anderer Stelle noc Intereſſanteres darüber, wie er fic 
das cigentliche Zuftandefommen eines ſolchen Sprachgebildes denft. Herders Meiſter— 
biograph Haym bat erfannt, dak wir es bier, wo er den Stil eines anderen 
charafterifiert, mit einer aus Selbſtbeobachtung geflofienen Schilderung ju tun baben: 
„die Bilder drangen fic) von allen Seiten herzu, fordern Anſchauen und Bemerfung, 
eines ſtößt an das andere, daß es Flingt; aber endlich) machen fie ſich doch Raum. 
(Sedanfen zeugen Gedanfen, dieſe treten wider unfjeren Willen in Sprüchen bervor; 
bier kommt eine Metapher yu Hiilfe, weshalb foll ics fie abiveijen? Dort ein Zug 
aus einer Gefchidte, icy will ihn bebalten. Aber dag das Gefolge nicht ſchleppend 
werde wie Darius’ Kriegsheer, muß ſich jedes einen Fleinen Raum gefallen laſſen: 
das Gleichnid wird zur Metapher, die Metapher yum Beiwort, die Gefchichte Crempel, 
das Exempel Anfpielung in einem Suge, die Meinung wird Gedante und. der 
Gedanke Spruch.” 

Kinnte man nocd zweifeln, ob er dieſes Bild aus dem Spiegel genommen babe, 
jo witrde cine Stelle aus feinem Heifejournal (1769) ung überzeugen, wo er berichtet, 
wie durd die ſprachliche Formung in der Unterredung mit einem jungen Reiſe— 
gefährten chaotiſche Gedanken erſt zum Gebilde wurden: „Der Plan ward lange 
umhergewälzt, und es ging ihm alſo wie bei allen Umwälzungen: zuerſt werden ſie 
größer, nachher reiben ſie ſich ab. Einen Abend gab ich meinem ſchwediſchen 
Jüngling davon Ideen, die ibn bezauberten, die ihn entzückten; das Geſpräch gab 
Feuer, der Ausdrud gab Beſtimmtheit der Gedanken.“ Cr ſchätzt am Sprachgeſtalter 
mebr dieſe innere Kraft, diefe Fähigkeit, das ſeeliſche Gebilde gleichſam aus dem Wort 
heraussuloden, als die Kunſt, den ſprachlichen Ausdrud an fic reizvoll zu glätten. 
Spracpolierer find ibm Spracwverderber. „Das ſchöpferiſche Vergnügen, unter feiner 
Feder Gedanken entitehen werden, Bilder su feben, paart fic felten mit der fparfamen 
Genauigkeit, Gedanfen zu ordnen, Bilder yu feilen.” Hier redet Herder febr pro 
domo, denn ſeine Sprache, fo febr fle lebt, vibriert, die Phantaſie erregt, bebalt 
nad der Seite der Ausgeſtaltung immer etwas vom Torfo. Man ſpürt, daß die 
eftalt los möchte aus dent fedweren, unbebauenen Stein, aber die Feffeln nicht 
ſprengen fann. 

Nicht nur die perſönliche Wrt des Sebriftitellers kommt fiir die Sprachkunſt in 
Betracht, auch der Swed, dem das Spracgebilde dient. Herder fcheidet zwiſchen der 
Sprache der ftrengen Wiſſenſchaft auf der einen Seite und der des Künſtlers und des 
Redners und Schriftſtellers für das lebendige wirffame Leben auf der anderen. 
Wer Menſchen reichen Geiſtes- und Gefiiblsinbalt aus ſeinem Schatze fpenden will, 
obne fie aus den Zufanunenbaingen des fie umgebenden praktiſchen Lebens völlig 
herauszunehmen, defjen Sprache foll verwandt fein mit der Redeweiſe des Künſtlers. 
Er ſelbſt will folch cin Redner fiir die Menſchen fein. Die Metaphyſik aber und die 
abjtratte Wiſſenſchaft brauchen mur eine Sprache eindeutiger Begriffsvermittlung, von 
unabirrbarer Richtigkeit, cine ars characteristica, wie fie Leibniz wollte. Hier ſteht 
Herder dem modernen Streben recht fern. 

Umſo näher ijt er uns mit dem Wiſſen, daß der Hörer unendlich viel zum 
Suftandefommen jener myſtiſchen Berbindung von Ausdruck und ſeeliſchem Gebalt 
beitrigt. Denn der Menſch hat nicht nur als Einheit cin beſtimmtes Verhältnis yu 
Dem geſamten fprachlichen Material, deſſen er ſich bedienen foll: auch das einzelne 
Wort hat cine Geſchichte und zwar nicht nur in der großen Rulturentividlung eines 


J 


Der junge Herder und die Spradjtunft. 1h9 


Volfeds, fondern auch in der Seele des einzelnen. Herder weiß, dak cin Wort dem 
einen nichts zu fein braucht als eine woblige Klangwirkung, dem andern cinen 
einzelnen feſtumriſſenen Inhalt gibt, dem dritten endlich beladen ijt mit dem Gebalt 
voll durcblebter Mugenblice, der bald Entzücken, goldne Erinnerung fein fann, bald ein 
unbegreifliches Graujen. Er weiß, daß namentlich and dämmerhaften Kindheitsſtunden 
Geſpenſter des Erlebens auffteigen, fic) fo an die Worte hängen, daß cine völlig 
andere Wirfung erjielt wird, als der Redner erwarten könnte. Gr ſpricht davon in 
jeinem genialſten Jugendwerk: , Bom Urjprung der Sprache”, deſſen wiſſenſchaftlicher 
Gebalt hier beifeite bleiben fan, in einer ganz beiläufigen Bemerkung: „Dieſe Worte, 
diefer Ton, die Wendung diefer graufenden Romanze u. ſ. w. drangen in unferer 
Kindheit, da wir fie das erjtemal hörten, ich weiß nicht, mit welchem Heere von 
Nebenbegritfen des Sdhauders, der Feiler, des Schreckens, dev Furcht, dev Freude in 
unfere Seele. Das Wort tönt, und wie eine Schar von Geiſtern fteben fie alle mit 
einmal in ihrer dunkeln Majeftat aus dem Grabe auf; fie verdunfel den reinen, 
bellen Begriff de3 Wortes, Der nur obne fie gefaßt werden fonnte. Das Wort ijt 
weg, und der Ton der Empfindung tint.“ Das fann eine ganz andere Wirfung 
haben, als der Redner beabſichtigt, es kann — cin Fall, den Herder hier ins Auge 
faht — zu einer unerivarteten Verſtärkung werden. 

Sch habe hier aus den meiiten Herderſchen Augendfehriften cine Anzahl Muperungen 
über Sprachbehandlung ifoliert und in einen Zuſammenhang gruppiert, den jie beim 
Autor nicht haben. Dazu berechtigt wohl der gemeinjame Sug, der durch alle dieſe 
Worte geht, mögen fie vom Material, vent Zweck der Sprachfunft, von ibrer Wirfung 
oder vom Weſen des Sprachgeftalters handeln: das Problem, wie ſeeliſches Leben 
den Ausdruck bildet, in ibm lebt, von ibm gewedt wird. Darum mag am Schluſſe 
dieſer Betrachtung, die weiter auszudehnen uns bier verwebrt ijt, eine Stelle aus dem 
Dithyrambus ftehen, der in Herders Crjtlingswerk diefem Thema geweibt ijt. Dieſer 
Hymnus auf die Cinheit von ſeeliſchem Gebalt und Ausdruck beim Dichter entflamunte 
die Begeifterung deS jungen Goethe. Wir wiſſen min, daß dieſe Worte, die zunächſt 
fiir den Dichter gefprochen find, bei Herder Geltung fiir cin Gebiet auch außerhalb 
dex Dichtfunft haben: 

„Gedanke und Ausdruck! verhalt es ſich hier wie ein Kleid zu feinent Körper? 
Das beſte Kleid iſt bei einem ſchönen Körper bloß Hindernis. Verhält es ſich wie die 
Haut zum Körper? Auch noch nicht genug, die Farbe und glatte Haut macht nie die 
Schönheit vollkommen aus. Wie eine Braut bei ihrem Geliebten, wenn derſelbe, 
ſeinen Arm um fie geſchlungen, an ihrem Munde hangt? Wie zwei zuſammen Vermählte, 
Die ſich einander mitteilen; ein paar Zwillinge, die, zuſammen gebildet und erzogen, 
ſich lieben und begleiten wie Shakeſpeares Freundinnen? Dieſe Bilder ſind bedeutend, 
aber, wie mich dünkt, noch nicht vollſtändig. Wohl! es fällt mir ein Platoniſches 
Märchen ein, wie der ſchöne Körper ein Geſchöpf, ein Bote, ein Spiegelbild 
einer ſchönen Seele ſei, wie in ihm die Gegenwart der Götter wohne und die himmliſche 
Schönheit einen Abdruck in ibn geſenkt, der uns an die obere Vollkommenheit erinnert, 
ich ſete dieſe ſchönen Sokratiſchen Bilder zuſammen und zeige meinen Leſern ein Bild, 
daß Gedanke und Wort, Empfindung und Ausdruck ſich zueinander verhalten wie 
Platons Seele zum Körper!“ 


AIR + 


160 


Vie Dachtarbeit der Prauen.’) 


Bon 


Rlire Salomon. 


Nahdrud verboter. 





in ————— —88 — der —58 nicht arbeiten jolten 
Die Gewerbeordnungs-Novelle vom J. Suni 1891 verbot die Nachtarbeit von Frauen 
in Fabrifen, Hiittenwerfen, Baubdfen, und ſeit 1900 ijt diefes Berbot auch auf Werk— 
ſtätten ausgedehnt, in denen durch elementare Kraft beweate Triebwerfe nicht blof 
vorübergehend zur Verwendung kommen, und auf das Perfonal in offenen Verkaufs⸗ 
ſtellen. Unter Nachtarbeit verſteht die Gewerbeordnung Arbeit in der 
Seit von BY, Uhr abends bis 5'/y Uhr morgens. 

Aber diefe Beſtimmungen haben die Nachtarbeit der Frauen nicht zu beſeitigen 
vermocht; ſie haben Lücken in dem Schutzgebäude gelaſſen, durch die Nbcranitrengung 
und Gefabrdung hineindringen können. Und wenn die internationalen Bemühungen 
nad einer gemeinfamen, einbeitlichen Regelung des Arbeiterſchutzes in allen induſtriellen 
Rulturlindern ſich das Verbot aller und jeqlicher Nachtarbeit fiir Frauen als erſte 
Aufgabe gewählt haben, fo wird auch dic deutſche Arbeiterivelt Nutzen daraus ziehen, 
trotzdem die Nachtarbeit der Frauen bet uns dem Buebjtaben nach verboten ijt. 

Nach swei Richtungen geht ein Riß durch die deutſche Geſetzgebung, foweit fie 
die Frauen-Nachtarbeit betrifft. Der BPerfonenfreis, dem das Verbot umfaßt, iſt 
zu Flein, und auch fiir die geſchützten Betriebe find gewiſſe Ausnahmen zuläſſig. 

Dev Kreis der geſchützten Perjonen iit zu eng, fo lange die nichtmotoriſchen 
Werkſtätten, alfo cin grofer Teil des RKleingewerbes, den VBeftinumungen fiber die 
Machtarbeit nicht unterliegen, fo lange fie nicht auf die geſchloſſenen Rontore, auf die 
Galt: und Schankwirtſchaften ausgedebnt find. Zwar ijt die Möglichkeit qeqeben, das 
Verbot der Nachtarbeit — wie auch andere Schutzbeſtimmungen — durch kaiſerliche 
Verordnung mit Zuſtimmung des Bundesrats auf andere Werkftatten ausyudebnen. 
Hiervon ijt aber mur fiir die Werkftatten der Kleider- und Wäſchekonfektion?) Gebrauch 
gemacht worden. Dagegen bleibt gerade in den faſt ausſchließlich weiblichen Gewerben, 
in Der Näherei, Schneiderei, Putzmacherei, Wäſcherei und Plätterei die Mehrzahl der 
Arbeiterinnen ungeſchützt. 

Auch in den Fabriken und Werkſtätten, für die das Verbot der Nachtarbeit 
ergangen iſt, kann von einer radikalen Abſchaffung dieſer Arbeitsform nicht die Rede 
ſein. Eine Reihe von Ausnahmen find vont Geſetzgeber vorgeſehen, die den Zweck 
hatten, die Durchführung der Beſtimmung zu erleichtern. Die Praxis hat aber 
gezeigt, daß ſie weit eher den Anlaß zu weiteren Mißbräuchen und Abertretungen 
gegeben haben. 

Unter den zuläſſigen Ausnahmen ſind zwei Kategorien zu unterſcheiden: allgemeine, 
Die ganzen Induſtriegruppen durch den Bundesrat zugebilligt werden, und ſpezielle, 
die für einzelne Unternehmungen und Betriebe bei den Verwaltungsbehörden 
nachzuſuchen ſind. 


Die gewerbliche Nachtarbeit ber Frauen. Sm Wuftrage der internationalen Geſellſchaft fiir 
Arbeiterſchutz herausgegeben yon Prof. Bauer. Dena 1903, 

2) Dev Beariff der Konfeltion iit dabei jo eng gefaßt, da ſelbſt fabrifartige Betriebe, die an 
100 Arbeiterinnen beſchäftigen, niet von Geſetz erfaht werden, foferm fie Maßarbeit ausführen. 


Die Nachtarbeit der Frauen. 161 


Allgemeine Ausnahmen find fiir Gewerbesweige zuläſſig, die nach der Wrt des 
Retrieds auf regelmapige Tag: und Nachtarbeit angewiejen find. Hier fann fiir 
Arauen cine Nachtſchicht von 10 Stunden eintreten. Von der Kompetenz, ſolche Aus— 
nabmen zu bewilligen, bat der Bundesrat nur fiir die Vergwerke des DOppelner 
Bezirks und fiir die Zucerfabrifen — jedoch in fufjefjiv immer beſchränkterem 
Umfang — Gebrauch gemacht. Ferner kann der Bundesrat allgemeine Ausnahmen 
vom Verbot der Frauen-Nachtarbeit für Fabrikationszweige geſtatten, in denen regel⸗ 
mäßig zu gewiſſen Zeiten des Jahres ein vermehrtes Arbeitsbedürfnis eintritt. In 
ſolchen Saiſon- und Kampagne-Induſtrien iſt aber Nachtarbeit nur für 40 Tage 
im Jahr und nur in der Form zuläſſig, daß Erlaubnis zur Aberarbeit über 8'/y Uhr 
abends hinaus erteilt wird. Doch darf in dieſen Fällen die tägliche Arbeitszeit einer 
Arbeiterin nicht mehr als 13 Stunden betragen. 


Dieſe Ausnahme bedeutet alſo nicht nur eine Durchbrechung des Verbots der 
Nachtarbeit (ſofern man die Arbeit nach 8'/y Ubr abends als ſolche anſieht), ſondern 
auch des Prinzips eines elfſtündigen Marimalarbeitstages. Sie ijt Daber vielleicht als 
nod) bedenflicer anzuſehen als die oben angefiibrte zuläſſige Nachtſchicht; denn ſie 
bedeutet nicht nur Arbeit zur Nachtzeit, ſondern gleichzeitig eine übermäßig ausgedebnite 
Arbeitszeit. Die Saiſon- und Kampagne-Induſtrien, fiir die ſolche Ausnahmen geſtattet 
wurden, ſind: Ziegeleien, Molkereien, Konſervenfabriken, ſowie die Konfettions: 
werfitdtten, die jogar an 60 Tagen jahrůch die Arbeit bis 10 Uhr abends aus— 
dehnen dürfen. 


Außer den allgemeinen Ausnahmen für ganze Induſtriezweige können beſondere 
für einzelne Betriebe von den Verwaltungsbehörden zugelaſſen werden. Namentlich 
iſt bier die Erlaubnis zur ÜUberarbeit wegen außergewöhnlicher Haufung der Arbeit zu 
nennen, die ebenſo wie in den Saiſoninduſtrien für 40 Tage im Jahr erteilt werden 
kann und an die Bedingung geknüpft iſt, daß die tägliche Arbeitszeit nicht länger als 
13 Stunden währt und um 10 Uhr abends beendet iſt. Solche Bewilligungen zur 
Nberarbeit ſollen nur erteilt werden, wenn die außergewöhnliche Arbeitshäufung nicht 
vorherzuſehen war oder wenn ſie durch wichtige wirtſchaftliche Gründe veranlaßt iſt, 
wie Die Gefahr des Verderbens der zu verarbeitenden Stoffe, Rückſicht auf Transport— 
gelegenheiten, Rückſicht auf öffentliche Intereſſen u. dgl. Dagegen ſoll die Nberarbeit 
nicht bewilligt werden, wenn die Arbeitshaufung durch ungeſchickte Dispoſition herbei— 
geführt iſt. 

Dieſe Beſtimmung, die ſicherlich aus dem vorſichtigen und gerechten Abwägen 
eines Geſetzgebers hervorgegangen iſt, der nicht der Induftrie ſchaden will, während 
ex Dem Arbeiter nützt, Hat ſich in der Verwaltungspraris doch als febr anfechtbar 
und bedenklich erwieſen. Es ijt eben undenfbar, dah die Organe, die fiir die Bewilliqung 
der [berarbeit zuſtändig find (in einzelnen Staaten — Württemberg und Sachſen — 
ſind es die Ortspolizeibehörden), immer die nötige Sachkenntnis und Zeit zur Vor— 
nahme einer Priifung der Verhältniſſe beſitzen. Und fo waltet denn häufig bei den 
Bewilligungen eine zu große Milde, die Anforderungen an die Arbeiterinnen ſtellt, ohne 
bah es im Intereſſe der Induſtrie notwendig iſt. Der beſte Beweis dafür ijt, daß die 
Arbeitgeber vielfach die Erlaubnis zur Überarbeit nachſuchen, ohne alsdann die 
bewilligte Uberarbeit in vollem Umfang oder überhaupt auszunutzen. Mit vollem 
Recht äußert ſich Max Hirſch in ſeinem Bericht über die Nachtarbeit der Frauen in 
Deutſchland) hierzu: „Es fann wirklich keine ſchärfere Kritik beborduͤcher Uberzeit⸗ 
bewilligungen geben, als die Tatſache, daß die Arbeitgeber ſelbſt in gröͤßerem Umfang 
auf beantragte und zugeſtandene UÜberarbeit verzichten.“ Alſo dieſe Ausnahmen haben 
ein Loch in das Schutznetz geriſſen, das ohnedies nicht groß genug gewebt war, um 
den ganzen Kreis der Schutzbedürftigen zu bedecken, und ſo harren noch verſchiedene 
Formen der Frauen-Nachtarbeit der geſetzlichen Regelung. 

* * 
* 


1) Bgl. Bauer a. a. O. S. 53. 
11 


162 Dic Nachtarbeit ber Frauen. 


„Eine zehnſtündige Nachſchicht“, „Zwei Stunden Nberarbeit’! Trodne Worte 
und Zahlen. Und doch ſprechen fie Bande, enthiillen fie Tragödien wenigitens dem, 
der die Sprache der Arbeiterflafje verſtehen gelernt bat; dem, fiir den dieje Worte 
und Sablen zu Begriffen geworden find. 

Was bedeutet die Nachtarbeit — in einer der gefchilderten Formen — fiir die 
deutſche Arbeiterin? fiir das deutſche Volfsleben? 

Die Verdffentlichung der Internationalen Vereinigung fiir geſetzlichen Arbeiterſchutz, 
dic umfaſſende Berichte über die deutſchen Verhältniſſe vom badifden Fabrifinjpeftor 
Fuchs und von Mar Hirjch enthalt, führt eine Fille von Bildern an, die den durch 
obige Gefepesparagraphen geſchaffenen Sujtand fonfret machen. ,, Die Rachtarbeit bat 
nicht nur dieſe oder jene ſchädlichen Folgen“ — fo beift es Darin, — „ſie ijt an ſich 
cine Sdadlidfeit und gwar eine naturwidrige” Unter der Nadchtarbeit ſeufzen 
aud) jtarfe und barte Manner, und doppelt leiden die Frauen darunter. Die Form 
der Nachtarbeit von Frauen, die in Deutſchland am häufigſten vorfommt, ijt die 
Nberarbeit, aljo die bis in die fpaten Abend: und Nachtjtunden ausgedehnte Tages- 
arbeit. Diefe, die gum Teil in Fabrifen, aber mebr in dem weiten Bereich der 
ungeſchützten Betriebe der Hausindujtrie (Werkſtätten- und Heimarbeit) vorfonunt, 
enthalt alle nachteiligen Einflüſſe der gewerblichen Arbeit iiberbaupt, veritirft durch 
Die Schädlichkeit der Nachtarbeit, und zwar der auf die volle Tagesarbeit noch auf— 
gewälzten Machtarbeit.” Wenn man zunächſt die verheirateten Frauen oder die Mütter 
tnt allgemeinen in Betracht zieht, fo bedarf es nicht vieler Worte, wn die Wirfungen 
pon „zwei Stunden Überarbeit“ zu ſchildern. Das beift 13ſtündige Arbeitsseit; das 
beift mit Einrechnung der vorgefcbriebenen zwei Stunden Pauſe „fünfzehn Stunden” 
Mujfenthalt in Fabrif oder Werkſtätte; das heißt unter Surechnung der fiir den Weg 
vom und jum Arbeitsort nötigen Zeit „ſechzehn- bis ſiebzehnſtündige Ab— 
wefenbeit vom Hauſe.“ 

Dap eine Mutter, die des Morgens um 6 Ubr iby Heim verlaft, wm abends 
qeqen LL Uhr dorthin zurückzukehren, fiir die Pflege und Erziehung ibrer Kinder in 
Feiner, auch nicht in allerbefcbeideniter Weiſe forgen fann, liegt ja auf der Hand, 
und die Schädigung des Hausiwefens und der Kinderpflege nimmt progrefiiv nit der 
Länge und fpesiell mit der abendlicsen Dauner der Fabrifarbeit yu. Und alle Firforge- 
cinvichtungen, Die Rrippen, Kindergärten und Horte können nicht die Verwahrloſung 
der unter ſolchen Verhältniſſen lebenden Kinder verbiiten, da fie nur wabrend einer 
normalen Arbeitszeit — in den Tagesitunden — für die Kinder eintreten können. 
Ant Abend müſſen fie die Kinder dem Haus zurüchgeben können, und ſo bleiben 
Diefe denn ſchließlich doch unbeaufſichtigt, unverpflegt, vernadlaffigt, oder der Obbut 
irgend eines halbwüchſigen Kindes oder ciner gebreddlicen, arbeitsunfabiqen Ane 
verwandten überlaſſen. Namentlich die Erndbrungsverbaltniffe der Cauglinge 
pflegen unter ſolch übermäßig ausgedebnter Arbeitszeit der Mütter yu leiden. So 
dupert fic) ein Arzt des Bezirks Aue dahin, dak die Miitter, um nachts von der 
ermiidenden Arbeit ausfdlafen zu können, fajt allgemein ibren fleinen Nindern den 
jogenannten Berubigungstee geben (trodene Mohnköpfe), der ficher — auf die Dauer 
gegeben — Die Rinderiterblicdfeit erhöht. “Und aus Plauen berichtet cin Arzt, daß 
Den Kindern Schnaps eingeflößt wird, um fie yu berubigen. Auf den Zuſammenhang 
von Dberarbeit der Miitter und Sauaglingserfranfung weiſt auch die Tatfache bin, 
dah die Besirfe, in denen Frauennactarbeit grafjiert, zugleich Hauptſitze 
Der Kinderſterblichkeit find. 

Ruin des Familienlebens, Gefabroung der körperlichen und geiſtigen Entwicklung 
Der Ninder, und ſchließlich nicht zum wenigſten ein ficheres Untergraben der Gefhundbeit 
Der arbeitenden Frauen und Madchen felbjt: das ijt das Ergebnis der noch 
bejtebenden Nachtarbeit, obgleic fie in Deutſchland ſchon in größerem Umfang ein: 
geſchränkt tft. . . 


) Bgl.: Die gewerblice Nachtarbeit. S. 29. 


Die Nachtarbeit der Frauen. 163 


Aber neben den gejundbeitlicben und ethiſchen Schaden der Nachtarbeit muß auch 
nod ihre Wirkung auf das geijtige Niveau der Arbeiterin ins Auge gefaft werden. 
„Auch jest noch”, fo fagt der Bericht, „im Seitalter ded Frauenitudiums und der 
Mädchengymnaſien wird viel zu wenig daran gedacht, wie febr auc im Arbeiterftande 
das weibliche Geſchlecht der Bildung bedarf, einer weiteren, tieferen und vor allem 
auch praftifderen Bildung, als ibm in der Volksſchule yu teil wird. Während die 
männlichen Arbeiter in Fortbildungs- und Fachſchulen, in Bildungs: und Gewerk— 
vereinen, in Verjanuntungen aller Art zum großen Teile ihre Schulkenntniſſe fic 
erhalten, neue niigliche und erbebende Kenntniſſe, Anſchauungen und Ideen erwerben, 
geſchieht von alledem febr wenig fiir und jeitens der Arbeiterinnen. Diefe, denen dod) 
von Natur dieſelben Geijtes: und Herzensanlagen verlieben find, wie ibren befigenden 
Schweſtern, und ywar anders nuangjierte, aber gleichwertige wie den männlichen Volks— 
genoſſen aller Stande, vegetieren zum größten Teile in Unbildung und Stumpfheit 
weiter, als hatte die grofe foziale Emporbebung des letzten Qabrbundertsdrittels nur 
fiir jene anderen ftattgefunden. Dadurch vertieft fic nicht nur die Kluft zwiſchen den 
Nlajjen, fondern eS bildet fics eine folche zwiſchen den beiden Geſchlechtern, die wabrlicd 
nicht jum Woble der VBeteiliqten und jum allgemeinen Beften dienen kann.“ 

Gewiß it es nicht die Nberarbeit in den ſpäten Abend- und Nachtftunden allein, 
die ſolche Wirkungen hervorbringt; aber fie verftarft und unterftreicht die 
Schäden, die die iiberlange Fabrif: und Erwerbsarbeit obnedies zeitigt. Und das 
Plus an Schaden, das allmählich angehäuft wird, wird ſchließlich yur drohenden Gefabr! 


* * 
* 


Stehen aber dieſen Nachteilen der Nachtarbeit nicht erhebliche Vorteile gegen— 
über, die ſie ausgleichen und die gegen ein Verbot dieſer Arbeitsform ausgeſpielt 
werden müſſen? Von zwei Seiten ſind derartige Einwendungen gegen dieſe wie gegen 
jede andere ſtaatliche Regelung des Arbeitsverhältniſſes der Frauen gemacht worden; 
von den Mancheſtermännern, die eine jederzeit kampfbereite Vertretung in 
einigen Unternehmer-Organiſationen beſitzen, und von ſtark feminiſtiſch denkenden 
Frauen, die namentlich außerhalb Deutſchlands mit Energie — und leider auch 
manchmal mit Erfolg — „gegen jede Beſchränkung der perſönlichen Freiheit der Frau“ 
eingetreten ſind. 

Die Unternehmer-Organiſationen ſtellen ſich auf den Standpunkt, daß die 
Nachtarbeit wirtſchaftliche Vorteile für die Induſtrie mit ſich bringt, und daß 
ein Verbot derſelben die Konkurrenzfähigkeit gegenüber dem Ausland ſchwächen, die 
Lage der einheimiſchen Induſtrie verſchlechtern und damit die Wohlfahrt von Arbeit— 
gebern und Arbeitnehmern gleichermaßen ungünſtig beeinfluſſen würde. 

Der Feminismus erblickt dagegen in einem Verbot der Nachtarbeit, das die 
Männer nicht in demſelben Maße wie die Frauen trifft, eine Beſchränkung der 
Arbeitsgelegenheit der Frau und damit die Möglichkeit, ſie vom Arbeitsmarkt 
verdrängt, in cine ſchwierigere Poſition gebracht zu ſehen. 

Die Berechtigung beider Einwände läßt ſich am beſten prüfen, wenn man 
verfolgt, wie das Verbot der Frauenarbeit, oder richtiger geſagt ihre bisherige 
Beſchränkung, in dieſen beiden Beziehungen gewirkt hat. 

Es iſt ein hervorragendes Verdienſt der internationalen Vereinigung für geſetzlichen 
Arbeiterſchutz, daß ſie gerade dieſe wichtigen und ſo ſchwer zu bearbeitenden Probleme 
durch eine vergleichende Zuſammenſtellung des einſchlägigen Zahlenmaterials aus allen 
Kulturländern der Löſung nahe gebracht hat. Darnach ſcheint eine irgendwie erhebliche 
Schädigung der Induſtrie durch das Verbot der Frauen-Nachtarbeit nirgends herbei— 
geführt zu ſein. Nachtarbeit iſt für die Volkswirtſchaft nur in einem Fall produktiv 
und wünſchenswert, nämlich wo eine techniſche Notwendigkeit nächtlicher Produktion 
beſteht wie bei Hochöfen, bet kontinuierlichen chemiſchen Prozeſſen u. dal. Dieſe 
Form der Nachtarbeit ijt aber durch das Verbot der Beſchäftigung von Frauen in 
feiner Weiſe beeintrichtigt worden, da Frauen in folden Betrieben ohnedies nicht 
nachts beſchäftigt waren. Dagegen fann fiir die Nachtarbeit mur cin cinfeitiges 

11* 


164 Die Nachtarbeit ber Frauen. 


Unternehmerintereffe angefiibrt werden, wenn fie lediglich den Swed bat, die 
Gebäude, Maſchinen u. f. w. ſtärker auszunutzen. Aber felbjt vou diefem Standpuntt 
iit nocd gegen die Nachtarbeit — fofern fie in einem Produftionssweig yur Regel 
wird — anjuflibren, daß die allgemein verminderten Broduftionsfojten auch zu cinem 
Sinten der Preiſe qu fiibren pflegen, alfo weniger der Induſtrie als den Konſumenten 
zu gute kommen. Ferner aber wird der Unternebmervorteil auc dadurch geſchwächt, 
daß dic Nachtarbeit nad Quantitat und Qualität gany allgemein minder- 
wertiger als Tagesarbeit ju fein pflegt. 

Es hat ſich denn auch gezeigt, dag die deutſche Juduſtrie das im Jahre 1891 
erfolate Verbot der Frauen-Nachtarbeit, dad befonders die im Unternehmerintereife 
lieqende Nachtarbeit traf, ohne erbebliche Schwierigfeiten tragen fonnte. Jedenfalls 
bat die Konkurrenzfähigkeit der deutſchen Induſtrie qegeniiber Der ausländiſchen 
nicht gelitten; denn die Ausfuhrſtatiſtik lagt erfernen, daß eine Hemmung des 
Erports in dem auf das Verbot folgenden Jahrzehnt nicht eingetreten iſt. Allerdings 
ſind gewiſſe Schwierigkeiten und vorübergehende Unzutraglichkeiten für einzelne Induſtrien 
entſtanden. Dieſe haben ſich entweder entſchließen müſſen, die Retriebe zu erweitern, 
oder ſie haben an Stelle der Frauen männliche Arbeiter für die Nachtſchichten ein⸗ 
geſtellt, was allerdings mit Mehrkoſten verbunden war. Damit iſt wohl der Beweis 
zu erbringen, daß die Unternehmerkreiſe durch das Verbot belaſtet wurden, nicht aber, 
daß die Induſtrie ſelbſt dadurch gelitten hat. 

Die Tatſache, daß Frauen verſchiedentlich durch Männer bei der Nachtarbeit 
erſetzt wurden, ſcheint nun aber klar zu legen, daß der Einwand der Feminiſten 
nicht der Berechtigung entbehrt, die Frauen könnten durch ſolche Schutzgeſetze 
arbeitslos gemacht werden. Solche Möglichkeiten ſind jedoch mur dann richtig zu 
beurteilen, wenn man das geſamte Bild des Arbeitsmarktes — nicht mur einen 
kleinen Teilausidmitt — der Beobachtung unterwirft. Es zeigt fic) aud in der Tat, 
daß in Robjucerfabrifen über 50%, der beſchäftigten Frauen nad dem Verbot der 
Nactarbeit entlaffen wurden. Sn anderen Branchen, wo von den Webeiterinnen 
auch frither nur teihveife Nachtarbeit qeleiftet wurde (in Form von Überarbeit), fand 
nur ganz vereinzelt Erfag der Frauen durch Manner ftatt. Auf dieſe Weiſe evlitten 
cinjelne Arbeiterinnen anf kürzere oder längere Yeit einen Verdienſtausfall.  Diefer 
wurde aber trop des damaligen flauen Geſchäftsganges bald ausgeglichen, da viele 
Betriebe infolge der verfiiryten Arbeitszeit vermebrte Arbeitskräfte brauchten und anf 
Diefe Weife die meiſten Entlaſſenen bald wieder Arbeit fanden. Tatſächlich bat die 
Sabl der Andujtricarbeiterinnen im ganzen Feine Abnabme, fondern 
vielmebr cine Zunahme erfabren, und gwar nicht nur abjolut, fondern auch im 
Verbaltnis zur männlichen Arbeiterſchaft. In den Jabren von 1882 bis 1895 ſtieg 
die Quote des weiblichen Induſtrieperſonals in Deutſchland von 13,31 anf 16,65 %,. 
Auch in den Saifoninduftrien, in Denen durch Die Beſchränkung der Oberarbeit zuerſt 
cine Lohnverkürzung fiir wiele Arbeiterinnen cintrat, bat diefe ſich nicht yu einer 
Schaädigung der Arbetterinnen qeitaltet. Denn da in diefen Geſchäftszweigen durch die 
geſebliche Regelung cine gewiſſe Ausgleichung zwiſchen der Arbeitszeit in der Saiſon 
und der ſonſt flauen Geſchäfteperiode gefördert wurde, fom aud) cine gewiſſe Stetig— 
keit in den Verdienſt. 

Dieſe Erfahrungen, die alle gegen das Verbot der Nachtarbeit erbobenen Ein— 
wendungen widerlegen, müſſen fiir den künftigen Fortſchritt des Arbeiterſchutzes in 
Deutſchland wie auc in anderen Kulturſtaaten von Bedeutung werden, umſomehr als 
Die induftriclle Cutwidlung anderer in bezug auf die Schutzgeſetzgebung vorgeſchrittener 
Mander dasielbe erfreuliche Bild zeigt. 


* * 
* 


Aus der am meiſten geſchützten Induſtrie Englands, der Tertilinduſtrie, wird 
berichtet, daß ſich fein Erjag der gefestich geſchützten Arbeiterinnen durch ungeſchüßtzte 
Arbeiter vollzog. Die Quote der männlichen Arbeiter iſt faſt nirgends geſtiegen, die 
der Frauen überall — in der Baumwoll-, Wollwaren-,, Flachs- und Juteinduſtrie —, 


Dic Nahtarbeit der Frauen. 165 


und zwar auf Koſten der jugendlichen Arbeiter. Auch in Oſterreich, Frankreich 
und den Vereinigten Staaten zeigt ſich dasſelbe Bild der Stetigteit in der Ver— 
wendung vor Frauenarbeit trotz der gefeblichen Regelung: überall cine abſolute Zunahme 
det Frauenarbeit und eine mindeftens ſich gleicdbbleibende Quote im Verhältnis zur 
Mannerarbeit. An den Niederlanden, wo feit 12 Jabren cin weitgebendes Verbot 
der Frauen-Nadhtarbeit in Kraft ijt, bat ſich die Frauenarbeit gerade in diejem Zeitraum 
ganz erheblich — auch im Verhaͤltnis zur Männerarbeit — vermehrt. Auf 1000 in 
der Induſtrie beſchäftigte Männer entfielen dort 1889 nur 113 Frauen; zehn Jahre 
{pater 124, 

Nur ein Land kann einen ziffernmäßigen Rid gang des Frauenanteils an der 
Induſtriearbeit feititellen. Es ijt die Schweiz, in Der zweifellos die Urjache dieſer 
ſingulären Erſcheinung in dem ſtarken Anwawſen von Induſtrien liegt, die ihrer Natur 
nach nur Männer verwenden können, und in der Einführung komplizierter Maſchinen 
in die Stickerei, die von Frauen nicht bedient werden. Aber auch hier zeigt ſich in 
der übrigen Textilinduſtrie ein abſolutes und relatives Anwachſen der beſchäftigten Frauen. 

Dieſe ganzen Ziffernreihen, die für ſamtliche Laänder mit einem beachtenswerten 
Arbeiterinnenſchutz in dem Bericht angeführt werden, deuten darauf bin, daß das 
Verbot der Frauen-Nachtarbeit das Arbeitsfeld der Frauen nirgends in 
ſeiner Geſamtheit geſchmälert und dak es auf die Gliederung der Geſamt— 
arbeiterſchaft keinen erkennbaren Einfluß ausgeübt hat. 

Warum dieſe Entwicklung ſich vollziehen mußte, warum die Fabrikanten 
trotz der ihnen unbequemen Geſetze weiter an der Frauenarbeit feſthielten und feſthalten 
mußten, warum ſchließlich die Frauen eine ungünſtige Wirkung ſolcher Beſtimmungen 
für abſehbare Zeiten nicht zu fürchten brauchen, das läßt ſich nur aus einem tieferen 
Einblick in das ganze moderne Wiriſchafieleben erkennen. Eine Reihe von Urſachen 
haben bier zuſammengewirkt: die Billigkeit der Frauenarbeit, die Differenzierung 
der Arbeit, ihre immer fortſchreitende Zerlegung, die Männer und Frauen für 
beſondere Verrichtungen beſonders geeignet macht, und ſchließlich die noch viel zu 
wenig beachtete Tatſache, dak in den induſtriellen Ländern die männliche Be— 
völkerung bereits jo vollſtändig von beruflicher Arbeit abforbiert ijt, 
daß von einem Erſatz arbeitender Frauen durch Manner im erheblichem Umfange gar 
nicht Die Rede fein kann. Vielmehr fann eine Steigerung des WArbeitsperfonals, die 
ſchneller als die Bevdlferungsvermehrung fortichreitet, nur durch eine vermebrte Heran— 
ziehung von Frauen möglich gemacht werden, und fein Scbubggefesy wird deshalb 
Die Sphire der Frauenarbeit verengern. 

Wenn die Mitglieder der engliſchen Liberal Federation® und die An: 
hängerinnen der franzoͤſiſchen Frauenbewegung, die ſo heftig und ſo erbittert gegen 
den Schutz der arbeitenden Frauen eintreten, die oben angeführten Zahlen kennen,iſt 
ihr Standpunkt nicht gut zu begreifen. Wenn jie ibn aber erjt durch die Yer: 
öffentlichung der Anternationalen Vereiniqung zugänglich werden, fo muß man gejpannt 
fein, ob und mit welchen neuen Argumenten fie ibre Poſition verteidigen werden. 

Ebenſo überzeugend find die Tabellen fiber die Stetigkeit des Erports 
Der geſchützten Andujtrien in den einzelnen Landern, die geeiqnet find, die Argumente 
Der Induſtriellen zu widerlegen. Nicht nur fiir Deutſchland, fondern auch fiir die 
anderen Staaten, die cin Berbot der Nachtarbeit erlaffen haben, kann eine Ver— 
langſamung in der Exportbewegung nicht nachgewieſen werden; vielfady ijt fogar eine 
Steigerung yu verzeichnen. Dagegen (aft ſich mun allerdings nod vorbringen, dah 
diefe Steigerung obne die Geſetzgebung bitte betraddtlicher fein können; daß fie es 
zum Teil in Induſtrien gqewejen ijt, die von den Schutzgeſetzen nicht betroffen wurden, 
weil fie weniger in Fabrifen als in der Hausindujtrie ibren Sig haben (Kleider— 
fonjeftion, Spielwarenindultrie u. ſ. w.) Aber gerade in dieſen Induſtriezweigen ijt es zu 
fo ruindjen Preistimpfen und Lobnreduftionen gekommen, gerade da findet fic eine 
jo fürchterliche Uberarbeitung in der Saiſon und erſchreckende Arbeitslofiqfeit und 
Elend in der toten Zeit, dah die Erportitcigerungen teuer erfauft erſcheinen. 
Sie find erfauft mit Gefundheit und Lebenstraft weiter Volksſchichten, mit einem 


ein Die Nachtarbeit ber Frauen. 


Ruin des Familienlebens, mit einer Hemmung der geiftigen und ſittlichen Entwidlung 
der Vevilferung ganzer Landftriche, und damit find fie zu teuer bezablt. 
Ungeſchübte Fraueninduſtrien find paraſitiſche Bndujtrien, die am Mark des ganzen 
Volles zehren. J 

* 

Somit febvint einer weiteren AUusdehnung des Verbotes der Nachtarbeit 
fein ernitbaftes Bedenfen im Wege yu fteben. 

Fur Me angeltrebte Erweiterung des Perfonenfreifes, fiir die AUsdehnung 
der Geſeßgebung auf Die Kleinbetriebe und fiir dic Befeitiqung der Nber- 
arbeit, Me in Deutſchland als wichtigite Forderungen gelten können, iſt die Feititellung 
aud von Bedeutung, dah der Mangel an einer Organijation des inneren Bedarfs 
viel mebr Nadtarbeit zur Folge bat, alS die fo ſtark befiirehtete ausländiſche Konkurrenz. 
Mls Den Anlaß yur Nachtarbeit nennt der Bericht in allererfter Reihe die Damenmode, 
die in der Schneiderei, PBugmacherei, Runithlumenfabrifation, Handſchuhnäherei und 
dergleichen mebr zu ſpäten Beftellungen und damit yu einer immer kürzer zuſammen— 
gedrangten Saifon führt. Ebenſo iit die Nachtarbeit in der Wäſcherei und 
Buglerei auf feblechte Cinteilung der Arbeit, auf yu kurze Lieferungsfrift zurückzuführen. 
Uber Die Mißſtände in den Kleinbetrieben diefer Gewerbe jtimmen die Mitteilungen 
aus allen Ländern vollftindig überein. Zu ibrer Befeitiqung ijt nod fajt nirgends 
etwas getan. Der deutfche Berichterſtatter Mar Hirſch tritt mit aller Energie fiir die 
Regelung diefer Verhältniſſe ein. „Eine der haufigiten und umfaſſendſten Veranlaſſungen 
yur Arbeitshdufung bilden befanntlic) die Feſtzeiten“ fo fagt er, „auch fiir ſolche 
Erzeugniſſe, die längere Zeit im voraus bergeltellt und feilgeboten werden können. 
Dennod pflegen die Aufträge erjt wenige Tage oder Wochen vor dem Fefte und dann 
natürlich im Therma gemacht zu werden. Uber ijt das unverinderlich, unvermeidlics? 
Für den einjelnen oder wenige Unternebmer. allerdings; fie können der Citte, der 
Gewobnbeit, der Mode nicht gebieten. Aber wenn dem gemeinfamen Drangen der 
Ronjumenten cin gemeinfamer, gefdloffener Widerjtand der Produzenten, fei e3 aus 
freiem Antriebe, fei es durch Not oder Zwang, entgegentritt, wie dann? Wenn die 
Konſumenten und Kaufleute infolge folchen Vorgehens entweder auf die begebrten 
Produfte verjichten, oder von der gewohnten Veripatung abgeben miiften, fo werden 
wobl die meijten oder alle ſich yu legterem entſchließen und die ganze Kalamität hat 
ein Ende.“ ,, Wenn unfere Damen fic den renommierten Geſchmack und die bewährte 
Gefchidlichfeit erjter Rleiderfiinjtler nicht anders zu fichern wiſſen, als durch frithscitige 
Peitellung, fo werden fie Monate vorber in die Bazare und Ateliers eilen.“ Zum 
Widerftand gegen Unſitten der Konſumenten fann es aber feinen cinbeitliceren, 
ywingenderen Impuls geben, als die gejeblice Fejtlequng der Arbeits- 
zeiten; darum tritt der Referent fiir cin Reichsgeſetz ein, das die Nachtarbeit 
verbietet, obne an allen Eden durch Ausnabmen wieder Mißbräuche hineinzulaſſen. 
Den beften Beweis dafiir, dak die bisherige deutſche Gefesqebung nicht genügt, erblidt 
et Darin, dak fie nod) immer Ausnabmebewilliqungen yu Uberſtunden und yu Nachtarbeit 
in fo erbeblicem Umfange möglich gemacht bat. Cr weijt mit vollem Recht darauf 
bin, daß felbjt in den letzten Jahren der ſchweren geſchäftlichen Depreffion die 
bewilliqte Tberarbeit nicht erbeblicy gegen frithere Jahre juriidgegangen ijt. Es ijt 
ein Unding, wenn in Zeiten bodgradiger Unterarbeit die Uberarbeit floriert 
und in einer Seit, in der die Verteilung des Lobnes auf möglichſt viele Perjonen die 
Wirkung der Kriſe abſchwächen fann, ein Teil der Arbeiterſchaft yu Nberarbeit beran- 
gezogen wird, während anderwärts Taujende arbeits: und brotlos werden. Und jo 
fordert er denn Die Vefeitiqunug der Ausnabmen vom Verbot der Frauen: 
Nadtarbeit und die Ausdebnung der geſetzlichen Beſtimmungen auf andere 
Gewerbesweige, und ¢3 jtebt zu boffen, dak die internationalen Anregungen und 
Bemühungen, die auf ein Verbot der Frauen-Nachtarbeit in allen Yandern hinzielen, 
auch Deutſchland bald yu einer Erfiillung dieſer Wünſche fiibren mögen. 

Die deutſche Geſetzgebung ging davon aus, die Nachtarbeit der Frauen zunächſt 
da zu verbieten, wo fie cine neue und nod wenig verbreitete Erjdeinung war, 


— * 


Die Nachtarbeit der Frauen. 167 


daber relativ am leichteſten unterdriidt werden fonnte. Durch diefe Berhinderung 
weiteren Anwachſens der Frauen-Nachtarbeit in der Induſtrie bat fie fics cin qrofes 
Verdienſt erworben. Jest aber erwächſt ibr die Aufgabe, die Frauen-Nachtarbeit da 
zurückzudämmen, wo es ſich um verbreitete und alt eingewurzelte Zuſtände 
bandelt. Noch immer gibt es Unternehmer, die „für die Leiſtungsfähigkeit der Maſchinen 
und MArbeitstiere ein feines Verſtändnis haben’, besiiglich des höchſten Motors aber, 
der menfeblichen Arbeitsfraft, beachten fie nicht einmal die einfachſten Erfahrungen. 
Hier muß Me Gefegqebung einen Riegel vorſchieben. Biel und Richtung ijt ibr fiir 
dieſe Aufgabe gewiejen. 


* * 
* 


Die internationale Bewegung für cinen gefeglichen Arbeiterſchutz, die feit kurzem 
cine feſte Organijation gefunden, bat es fic) zunächſt sur Aufgabe gemacht, die 
Vejeitiqung der Frauen-Rachtarbeit in allen Rulturlandern anjuitreben. Die große 
Agitation, die fle entfaltet, fann fiir Deutſchland nur inſoweit Pionierdienfte Leijten, 
als durch ein Vorivartsdrangen der in der Schuggefesqebung juriidgebliebenen Staaten 
aud das vorgejdrittene Deutſchland yu einem weiteren Ausbau der Geſetze veranlaft 
werden fann. Die Vereinbarungen, die auf internationalem Gebiet ftattfinden können, 
müſſen zunächſt für unfere Verhältniſſe obne direften Einfluß bleiben; denn inter: 
nationale Regelungen find mur dann möglich, wenn man Forderungen jo bod jtedt, 
daß fie Den ſchwächſten und zurückgebliebenſten Landern exfiillbar find. Aber auch ein 
ſolches Heben der indujtriell weniger entwidelten Lander fann den höher ftebenden yu qute 
fFommen; es fann ibre Aufnahmefähigkeit fiir neue ſozialpolitiſche Pflichten 
qejteiqert werden, wenn Konkurrenzländer aud auf diefem Gebict cinige 
Zugeſtändniſſe madden. In erjter Linie werden fic) aber die Lander vorwärts 
treiben laſſen müſſen, die fich jest in Der Ubergangszeit befinden, in der die Umivandlung 
des Rleinbetriebes in fabrikmäßige Gropinduftrie in vollem Gange ijt, die in induſtrieller 
Beziehung auf demfelben Boden jteben, diefelben Schreckniſſe durchmachen, die Groß— 
britannien vor 100 Jabren, Deutſchland einige Jahrzehnte ſpäter durchlebte. 

Nber den Stand der Gefesgebung und iiber die Zuſtände der Frauen: 
Nachtarbeit in jenen Landern gibt die Verdffentlichung der internationalen Vereinigung 
cingebende Berichte. Bon befonderem Anterefje find dabei die Mitteilungen aus Japan, 
das jo recht cigentlid) im Augenbli als daz Land des Nbergangsitadiums bezeichnet 
werden fann. Ferner tiber Rußland, wo zwar die Grundſätze des Arbeitsſchutzes 
jormell anerfannt find, wo aber durch Ausnahmebeſtimmungen und andere Romplifationen 
die Wirkfamfeit des Geſetzes faſt anmulliert wird. In bezug auf die japaniſche 
Induſtrie ift die Tatſache befonders auffallend, dah die Sahl der weiblichen Induſtrie— 
arbeiter Die Der männlichen ganz erbeblicd überſteigt. Es übertrifft die Sabl 
weiblicher Arbeiter die Der männlichen in Motorbetrieben wm rund 50 Prozent, in niet 
motorifcben ijt das Verbaltnis cin nod ungiinitigeres. Als Urfacden der Zunahme 
weiblicher Arbeit werden erjtens Die nNiedrigen Löhne, zweitens die Leichtigkeit der 
medanifaden Arbeit qenannt; dazu kommt, daß Spinneret und Weberei als Monopol 
weiblicher Arbeit betrachtet werden. Cine Regelung der Nadtarbett von Frauen 
ift war in einem Geſetzentwurf bereits enthalten geweſen, aber nicht yum Geſetz erboben 
worden. Sie fcbeiterte an dem Widerjtand der Unternebmer, namentlich der Baunnvoll- 
jpinnerei-Fabrifanten. Zwar fiibrten diefe unter anderem als Grund an, dah die 
Nachtarbeit wegen der geringeren Hike im Sommer von den Arbeiterinnen felbjt 
vorgesogen wurde. Dieſe und andere Einwände werden aber von dem Verichterjtatter 
als unjutreffend zurückgewieſen. 

Im iibrigen febildert er Die Arbeitsverhältniſſe namentlich in den Spinnereien 
als geradezu entfeplicd. Kinder und Erwachſene, Manner und Frauen arbeiten die qleiche 
Stundenzabl. Der Durchſchnitt der Arbeitsdauer beträgt 12 Stunden, das Marimum 17, 
Dieſes findet man hauptſächlich in den CSeidenbetrieben der Proving Shinjbion, 
in Der Seidenwürmerzucht und Spinnerei in denfjelben Handen liegt. Dort it die 
Saijon aus verjcbiedenen Gründen febr fury; man debnt deshalh die Arbeitszeit der 


168 Die Nachtarbeit der Frauen. 


Arbeiter aus, um fie nad Schluß der Saifon ju entlaffen. In einigen Spinnerei- 
gefellfcbaften ijt die Bebandlung der Arbeiter ſehr bedrückend, die Nahrung feblecht, und 
die ſchmutzigen Schlafſäle gleichen Gefängniſſen. Diefe Gefellfechaften betrachten ibre 
Arbeiter als eine Art Maſchine und fpannen fie wie Sflaven von morgens bis abends 
cin. Die gebriuchliche Methode de3 Anwerbens der Urbeiter, befonders von jungen 
weibliden Perſonen ijt die folgende: Die Verforgung der Spinnereigefellfchaften mit 
UArbeitern wird von Vermittlern in die Hand genommen. Dieſe ziehen durch das 
Land und iiberreden arme, unwiſſende Madden, die ihren Cltern bei der WArbeit belfen, 
ſich von einer Spinnereigeſellſchaft anjftellen gu laſſen. Dabei verſprechen fie ihnen 
wenig Arbeit, Vergniigen in den Fabrifen und hohe Löhne. Eltern und Töchter 
werden auf dieje Art vollig betrogen, und die Madden werden weit weg von ihrer 
Heimat in irgend eine Fabrif gefandt. Der Vermittler befommt feine Provijion, die 
armen Madden aber leiden, meiſt abgefdloffen vom Verfehr mit der Aufenwelt, viele 
Sabre fang in den gefdngnisartigen Fabrifen. Cinige von ibnen entfliehen dieſer 
Gefangenſchaft, andere baben fic getitet.') Auf der anderen Seite kommt aud Diebftabl 
geſchickter Arbeiterinnen durch die verſchiedenen Fabrifen vor. Der wichtigſte Puntt 
der Urbeiterfrage Japans liegt nach den Mitteilungen des Berichterjtatters in den 
Sypinnereien. Es ijt yu boffen, daß eS vielleicht auf Grund der internationalen An— 
requng gelingen wird, diefe Verhältniſſe bald zu fanieren, ehe die indujtrielle Entwidlung 
auch bier zu einer Entartung ganzer Volksſchichten führen müßte. 

Solchen Mitteilungen gegenüber ſtehen ausführliche Referate über die Wirkungen 
des Verbotes der Frauen-Nachtarbeit in den fortgeſchrittenen Staaten, wie England, 
Holland u. ſ. w. Hier ſind überall nur Lücken auszufüllen, die dem Geſetzgeber zuerſt 
entgangen ſind. Dazwiſchen ſtehen die Berichte all der Staaten, in denen der Arbeiter— 
ſchutz bisher nur fiir einen kleinen Bruchteil der weiblichen Arbeiterſchaft beſteht. Es 
ijt ſchon an anderer Stelle darauf hingewieſen, wie aud unter ſolchen Verhältniſſen 
überall die Wirkungen des Verbotes der Nachtarbeit nur günſtige geweſen ſind; daß 
die Arbeitsgelegenheit der Frauen nicht vermindert, die Entwicklung der Induſtrie nicht 
gehemmt worden iſt. Aber ferner wird in dem Berichte gezeigt, daß da, wo Lücken 
im Geſetz geblieben ſind, ein Schädling im Volksleben fortwuchert und wächſt, und 
daß es an der Zeit iſt, ihn auszureißen. So heißt es aus Belgien, in dem überhaupt 
noch ſtark mancheſterliche Ideen die leitenden Gewalten zu beherrſchen ſcheinen, daß 
überall, wo die Frauen-Nachtarbeit vom Schutz frei geblieben iſt, dieſe Arbeitsweiſe ſich 
mehr und mehr einzubürgern beginnt; daß ſelbſt Induſtrien, von denen zu wiederholten 
Malen geſagt wurde, daß ſie die Verwendung der Frauen-Nachtarbeit verſchmähen, jetzt 
zu ihr * So werden aus England geradezu erſchreckende Mißſtände über die 
oe aaa mitgeteilt, auf die das Verbot der Nachtarbeit noc) nicht ausgedehnt 
worden ift. 

Und jo iſt es denn weit weniger die wachſende Cinfict in die üblen Wirfungen 
der Nachtarbeit der Frau, die Veranlajjung ju einer Criveiterumg der Geſetzgebung 
qibt; es ijt vielmebr die wadjende Beteiliqung der Frau am Erwerbsleben, ibr 
Cintreten in UArbeitsgebiete, die früher als yu anftrengend erachtet wurden, Die cine 
Regelung diefer Frage immer brennender und dringender erjdseinen - lat Mage 
diele Regelung fo ſchnell erfolgen, daß die erſchöpfenden und belebrenden Berichte der 
internationalen Vereiniqung in furzer Zeit nur nod) „die Bedeutung ſozial-geſchichtlicher 
Dofumente” befipen mögen. 


1) Bergl. a. a. O. Seite 276. 


: $22 


169 


Ce ja. —— 


Novelle von 


@®evrg BRordenfvan. 
Autorifierte liberfegung aus dem Schwedifchen von €. Stine. 


Nachdruck verboten. 


ri 

J. jenen Tagen wurde die Entſcheidung 
der Jury des „Salons“ belannt gegeben. 
Aſps Effet de matin en Suéde“ war an— 
qenommen; ,mademoiselle Borgstroem* jedod 
erbielt einen jener fleinen gedruckten Briefe, in 
welden die Künſtler höflich erfucht werden, die 
cingefandten Bilber wieder absubolen. 





Ich erfubr durch mebrere Tage nidt, wie | 


fie dies Mißgeſchick aufgenommen. Cin paar: 
mal war id bet Edvard oben, traf fte jedoch 
nie. 
in einer Ede. 

Aud bei unferen Mittagsverfammlungen 
erfcbien fie nicht. 

Ginmal ded Nachts — es war halb ein 
Ubr und id war auf dem Heimweg vom 
Theater — ward id Edvards anfidtig, der 
auf bem Boulevard Clidy auf und abging. 
Pei jedem fünften Sebritt drebte er fic) um 
und fpabte in die Quergafje, in welder Aja 
wobnte. Mid fab er nicht. Als ich mein 


Haustor erreidht hatte, wandte ich mid) wieder | 


guriid, um ibm Vernunft zuzuſprechen. Er 
fpajierte nod immer auf und ab, nun aber 
in ihrer Gaffe, die ftumm und leer dalag. 
Und id wandte mid nodmals und ging 
nad Hauſe. , 

M13 ic) ibn tags darauf traf, fab er ge- 
altert aus, war geiftesabwefend und zerſtreut; 
Emma wie immer blak und ergeben. Sogleich 
nad Schluß des Diners gingen fie ibres 
Weges, 


Emmas Portrait ftand zurückgeſchoben 


Schluß von Seite 94.) 


der mir nicht völlig ungeſucht ſchien. Es war, 
als wolle ſie den anderen zeigen, daß ſie es 
gar nicht vermeide, mit ihm zu ſprechen, daß 
ſie ſich durch ſeine Nähe nicht im geringſten 
befangen fühle. 

Dann verſtrichen wieder einige Tage, ohne 
daß id) fie und Richert zu Geſichte belam. 

Aber ſchon fing man an, im Kreiſe der in 
Paris lebenden Skandinavier von ihnen zu 
reden. Während des Winters hatten einige 
Damen aus dem Norden — es waren dies 
jedoch leine Schwedinnen — durch ein ziemlich 
rückſichtsloſes Auftreten an öffentlichen Orten, 
beſonders in einem von den Slandinaviern 
ſehr beſuchten Café, wo man fie bald allgemein 
fannte und bezeichnete, Anſtoß erregt. Dan 
begann über die nordiſchen Damen Gerüchte 
auszuſprengen, und es fanden ſich immer 
Perſonen, die die Augen offen und die Ohren 
geſpitzt hielten. 

Schon früher hatte mand einer an Ajas 
freiem Benebmen Anſtoß genommen — fie fei 
gegen Herren gar gu kameradſchaſtlich, hieß 
es, fie rauche nie eine Sigarette, fondern immer 
mebrere, fie fibre cine gar freie Sprade. Die 


,allgemeine Anſicht“ ging dabin, dah fie fic 


Am nächſten Tag taudten Aja und Richert 
_ des Parifer Lebens forderten. 


wieder auf. Ich bemerfte etwas Angeftrengtes 
in Ujas Heiterfeit. 


Edvard gegeniiber ſchlug 


fie einen freimütig klameradſchaftlichen Ton an, 


durch ihre Unvorſichtigleit fompromittiere — 
um den gelindeſten Ausdruck zu gebrauchen. 

Der Vertreter der allgemeinen Anſicht in 
unſerer Geſellſchaft war ein neu hinzuge— 
kommener ſchwediſcher Philoſophielandidat, 
der Aſthetil ſtudierte und in einer Penſion 
wohnte, deren übrige Inſaſſen mittels genauer 
Uberwachung ihrer Landsleute ihr Studium 


Was Fräulein Borgſtröm beträfe — erklärte 
der Kandidat — ſo mache ſie ſich durch ihr 


170 


Wja. 


fortwabrendes und beſtändiges Beifammenfein | eigens um Edvards willen veranftaltet war. 
mit dem jungen Herrn Ricert, der nidt den | 


beften Ruf babe, in geſetzter Geſellſchaft un: 
möglich. 
„Ach was, Altweibergeſchwätz!“ warf ich ein. 
Da wurde der Kandidat böſe. 


Sollte es ein Radilalmittel fein, wn ibn von 
fic) gu entfernen, um fic) felbft zum Bergefjen 
qu zwingen? Hatte fie wirklich denjelben Ge- 


danken gebabt, dah Ridert zur rechten Stunde 
ihren Weg freuzte? 


„So? Iſt dad vielleicht Altweibergeſchwättz, 


wenn man die Herrſchaften um 11 Uhr des 
Abends in Mademoiſelles Tür hineingehen 
und ibn um 1 Ubr wieder berausfommen 
fiebt? Wenn bas Altweibergewäſch ift, fo 
müſſen Cie wenigſtens zugeben, dak die Be— 
treffenden Anlaß dazu gegeben haben.” 

Das Männchen ſah ganz animiert aus bei 
der ſchönen Gelegenheit, ſeine Anſicht zu ver— 
teidigen. Seine Auglein glänzten vor Bufrieden: 
heit, und hätte er ſich nicht zufällig in 
Künſtlergeſellſchaft befunden, ſo hätten wir 
wohl ſicher einen oder den anderen wohl— 
gewählten Ausdruck fiber Künſtler- und 
beſonders Künſtlerinnenmoral zu hören be— 
fommen. 

Ich fragte, mann 
Vifite bemerft habe. 


„man“ Ddiefe ſpäte 


Selbſtwerſtändlich hatte er ſowohl Tag als 


Stunde in feinem Gedadtniffe verjeidnet. Es 


war diefelbe Nacht, als id) Edvard gegen ein | 


Norweger. 





Uhr vor Ajas Hauſe Poſten halten ſah. Er 


hatte ſie alſo geſehen. 
Dies Geklatſche machte einen äußerſt un— 
behaglichen Eindruck auf mich. Ich wußte, 


wie unbedacht Aja fein fonnte, wie wenig ſie 


ſich darum kümmerte, was ſich „ſchickt“ und 
nicht ſchickt: ich kannte ja auch ihre Vor— 
liebe, die Nächte gu durchwachen. 


Dak es 


Anlaß gu tibelwollenden Auslegungen geben — 


mufte, 
Abendbefuch ing Wtelier lub, daran dachte fie 
nit. Und verging Dann die Beit fo ſchnell 
beim Plaudern, daß man, ebe man ſich's ver: 
jab, tief in den Nachtſtunden war, fo ging’s 
wobl aud niemanden an. ,,Sie wollen ſchon 
geben?" hieß es immer, 
Nacht“ fagte, — war aud die S 
aufgegangen. 

Und dod zweifelte ic, 
wirllich Gedantenlofigkeit geweſen. 
ganz im Gegenteil Berechnung ſein. Bei 
Ajas Leidenſchaftlichkeit war es leicht an— 
zunehmen, daß dies Umherziehen mit Richert 


Sonne ſchon 


ob es diesmal 


wenn man „Gute 


wenn fie ihren Begleiter auf einen 





Innerhalb unjerer Roterie — die übrigens 
nun fo gut wie gefprengt tar — rief dads 
Geſchwätz eine gewijje Verſtimmung bervor; 
derartige Gerüchte brachten ja cinen Fle auf 
bas Anſehen der flandinavifdien Koterie. Der 
eingige, Der ſich des Geborten freute, war der 
Er gudte uns ladelnd mit den 
ftedhenden Augen an. 

„Richert wire ja närriſch, wenn er fie 
nicht nähme. Gie ift ja fo gliidlid mit ibm, 
bah fie auf der Straße, ftatt neben ibm her— 
zugehen wie ein anderer Menſch, fic) ſchwenkt 
und hüpft wie ein Kälbchen.“ 

Und als einer von uns böſe ward und 
ein Wort von Verantwortung hinwarf, fuhr 
er in ſeinem überlegenen Tone und mit un— 
erſchütterlicher Überzeugung fort: 

„Sind Sie nun wieder einmal da mit 
Ihren dummen Empfindungen von Verant— 
wortlichkeit? Wir Menſchen haben einfad 
feine Berantivortung, wir haben das Recht 
nad unferen Anlagen ju leben” u. ſ. w. in 
diefem Stil. 

Edvard klopfte ftumm und nervös auf den 
Tiſch — er fonnte heute die Hande gar nit 
rubiq balten. Much Emma war da — was 
fie wobl benfen mochte? Ach glaubte etwas 
wie Schadenfreude in ibren ſonſt fo rubigen 
Augen ju entheden — fiir fie fonnte ja and 
nichts Befferes cintreten, als daß Cdvard, 
erregt und berlegt von dieſen Gerüchten — 
modten fie auch nod fo untwabr fein — gu 
glauben begann, Wa habe mit ibm gejpielt 
und, fobald fie einen Amüſanteren gefunden, 
ibn beifeite geworfen. War einmal  feine 
Kritik ihr gegeniiber gewedt, fo fonnte er nidt 
anders als ibr miftrauen, 

Aber gerade, wie ich da fo fife und mir 


' cinrede, daß Frau Emmas Gedanfen diefelbe 


Es fonnte | 


Ridiung geben und dah fie fic fo recht im 
Herzen diefer lesten Wendung der Dinge freute, 
da fagt fie gang rubig, aber beftimmt: 

, Mein, Daran fann dod niemand glauben, 
bak bas wahr ift.” 


ja. 


Die anderen veritummten. War ed wirklic | 
die fleine Frau WA fp, die etwas gefagt? Und | 
in ber Abſicht, Fraulein Borgſtröm in Shug 
zu nehmen? 

„Aja iſt nur unüberlegt,“ fuhr ſie fort, 
„und kümmert ſich nicht darum, was man von 
ihr ſpricht. Es macht ihr Vergnügen, ſich 
jeder Art Konvenienz zu widerſetzen. Aber 


171 


| nod! Da war auch ein Spaßvogel — er hieß 
Bigot oder ſo ähnlich — der lud uns für 
morgen auf cin Maskenfeſt, ein Privatkünſtler— 


| mastenfejt, in feinem Atelier Rue Vaugirard 
, ein. Man foll eben -alled feben und dad 


Luſtigſte wählen. 
den Humor behalten. 


von da iſt ein weiter Schritt bis — bis zu 


dem, weſſen man ſie beſchuldigt und was na— 
türlich unwahr iſt . . . und ed iſt cine Schande, 
ſo etwas zu verbreiten.“ 

Sie war glühend rot geworden vor Be— 
wegung und vor Ungewohnheit, ihre eigene 
Stimme zu hören. Der kleine Kandidat errötete 
und machte eine Miene, als ſei ihm zu nahe 
getreten worden. Der Norweger glotzte die 
kleine Bourgeoiſe mit überlegenem Mitleid an 


und öffnete gerade den Mund — er war 


wahrhaftig nicht der Mann dazu, zu ſchweigen, 
wenn er etwas zu ſagen hatte, und das 
hatte er immer — als die Titre aufging 
und Aja Borgſtröm, gejolgt von Ridert, 
cintrat, 

»Bonsoir la compagnie.“ 

Sie liefen fic) nieder. 

„Was haben Sie eben vor?” begann fie. 

„Und Sie felbft?” fragte ber Norweger. 
„Wo haben Sie während diefer Tage geftedt?” 

Aja lachte. „Ich Habe gar nirgends .qe- 
ftedt’. Am Gegenteil! Denfen Sie nur, was 
fiir unerbirte Dinge ic, dank diefem jungen 
Gentleman bier, mitgemadht babe. Borgejtern 
Abend cinen gewaltigen Wtelierjur bei Monſieur 
Gasque, dem Symboliften. 
cine Dame mitnehmen, und Monfieur Richert 
nabm mid. Es gab dort cin Schattenfpiel 
der ſchönſten Parifer Modelle.“ 


» Wir wollen nicht fragen, twieviel fie an: | 


batten,” fiel einer ein. 

pein, tin Sie bas nicht,” meinte Ricert. 

„Aber luftig war's!” bebauptete Aja. „So 
eine pudelnärriſche Gefellichaft! Diefe Pariſer 
Kiinjtler finden nidt ihresgleichen, was tolled 
Poſſenzeug betrifft. Zuletzt wurden die übrig— 
gebliebenen Speiſen veraultioniert. Für mid 
fiel ein Hammelbraten ab, dem zu Ehren 
geſtern bei mir eine Geſellſchaft ftattjand. Im— 
provifiertes Frühſtück fiir jeden, der cine feine 
Nafe Hatte und fom. Aber nun Hiren Sie 





Seder Herr durjte 


Hier in Paris lernt man 
Der Tod ertwartet did 
ja bod) einmal — Beit genug, dann die 
Lippe hängen zu laſſen.“ 

War das nicht alles auf Edvard gemünzt, 
dieſes übermütige Auftreten, dieſe ausführlichen 
Berichte, wie ſie ſich in Richerts Geſellſchaft 
und immer wieder in Richerts Geſellſchaft 
unterhielt? Um mich los zu werden — ſollte 
Edvard ſich denken; um eine unüberſteigliche 
Mauer zwiſchen ihm und ihr zu errichten — 
das war meine Überzeugung. Mir hatte ſie 
geſagt, als ſie an jenem Abend von ihm ge— 
ſprochen und von ihrer Verzweiflung, nicht 
das für ihn tun zu dürfen, was ſie konnte: 
„Ich weiß, was ich will, und ich fann tun, 
was ich will.“ Ich war nun überzeugt, daß 
ſie ihren Vorſatz durchführen werde, koſte es, 
was es wolle. 

Es geſchah in ganz offenbar oſtentativer 
Abſicht, daß ſie nach dem Kaffee Richerts 
Arm nahm und, uns anderen zum Abſchied 
zunickend, an ſeiner Seite hinausſchlüpfte. 

Man mußte zugeben, daß ſie füreinander 
paßten, dieſe beiden, beide gleich unermüdlich 
und unerſättlich im Genuß des Vergniigens. 
In Richert hatte Aja den Kameraden nach 
ihrem Sinn getroffen. 

Auch die Gedanken der anderen gingen 
wohl in dieſer Richtung. Der Norweger pfiff 


vergnügt vor ſich bin, und der kleine Kandidat 


ſah ſich mit triumphierenden Blicken um — 
„nun, hatte id) etwa nicht recht?“ 

Edvard ſaß bleich und ſtumm da, und 
Emma hatie Tränen in den Augen. 

Wohin ſollte all das führen? — 

Einige Tage ſpäter ſchlenderte ich, vom 
Odéon kommend, den Boulevard St. Michel 
entlang und trat in dad Café Rouge ein, 
das gu dieſer Nachtſtunde gedrängt voll war. 

3 gab dort Mufif, der niemand zuhörte, 
bie Damen rauchten, und es herrſchte die 
lebbaitefte und lautefte Unterbaltung. Das 
Publifum bier war ein gang anderes, als in 
ben Boulevard-Cajés des nördlichen Seine— 


172 


ufer$; es war bie Jugend ded Quartier Latin, 
bie bier berrjdte und Ton angab. 

. Man jah Siudenten der oberen Klaſſen, 
Jünglinge von getoandter und forrefter Elegan;, 
einige in Fradangiigen, wie es dem Parifer 
der mondaine geziemt und anftebt, blafiert, 
bleid) und dünnhaarig; daneben ungefdorene, 
mit genialer Achtloſigkeit gefleidete Genies; 
ländliche Biiffler mit glattgebiirftetem Haar; 
ältliche, abgeſchabte Philoſophen, die in bem 
Gajé ju Hauſe waren, alle Seitungen laſen 
und Gäſte und Kellner beim Vornamen riefen. 
Man ſah bier die Minijter bes morgigen 
Tages, die Talente und die fleinen Beamten 
und an der Seite dieſes ober jened irgend 
eine blaſſe Schönheit in moderner Frithlings- 
toilette; aber auch gang baugbaden und einfad 
gefleidete junge Madden, alle in frober Laune 
und ohne Spur von Schläfrigkeit. 

Man fpielte Karten und Domino und 
tranf wenig. Die Beitungen gingen von 
Hand ju Hand, feinen Augenblick frei; man 
visfutierte Politif, Literatur und Tagesfragen. 

Wolfen von Tabafsraud, fein Tag, die 
Ellbogen unterzubringen, und dazwiſchen immer 
neue Gäſte, die, mit Gelächter und Witen 
bewillfommt, Herren und Damen obne Unter- 
fchied bie Hände fcbtittelten. 

Eben im Begriff ju geben, erblidte id 
Edvard, hinter einem Kreis des zukünftigen 
Frankreich eingejperrt, einſam an einem Tijde 
figen. Ich nidte ihm gu und fragte, ob tir 
miteinander nad Haufe geben wollten, Worauj 
wir uns auf bie Gajje binaus Bahn brachen. 

Er hatte fid) auf einem Spaziergange 
bierber auf dad linke Ufer verirrt. Co bradte 
er alfo jetzt, feit es nicht mehr der Muhe lohnte, 
Fräulein Borgſtröm gu behüten, ſeine Abende gu. 

Allein er war nicht der Mann dazu, mir, 
ſowie ſie es getan, ſein Vertrauen zu ſchenken. 
Er ſchien müde und gedankenleer, und es fiel 
hauptſächlich mir zu, das Geſpräch in Gang 
gu halten, während wir durch die laue Nacht 
über Pont des Arts, am Louvre vorbei und die 
Boulevards entlang unferem Viertel zuſchritten. 
Beim Anblide des bunten Schildes auf dem Café 
des décadents fam mir der Cinfall, cin wenig 
hineinguquden — man batte dort immer 
Gelegenheit, etwas aufzuſchnappen, und Cdvard 
braudte Zerſtreuung. 





Aud bier war es geftedt voll. Wir 
famen bon ben Stubenten ju den Künſilern, 
pon Quartier Latin nad Clidy, von cinem 
Milien von Berlaine in ein folded von Villette. 
Aud bier Lärm und Bewegung: von Müdigkeit 
und blafierter Gleidhgiltigheit nicht die mindefte 
Spur. Beitungen fah man nur wenig, und 
hörte man bier ftreiten, fo war es nidt über 
Politif, fondern iiber das Runftideal ded 
nächſten Jahrhunderts. 

Das Schattenſpiel war fiir heute Abend 
gu Ende und der Vorbang fiber der fleinen 
Bühne gefallen. 

Viele der jungen Herren hatten Damen bei fid. 
Man fah neben anſpruchslos aber nett ge= 
fleideten Mädchen auc) wieder andere, deren 
ertravagante Toiletten in ihrer wilden und 
lacherlichen Rarifatur der neueſten Moden 
bennod Gefdhmad und Stil aujiviefen. Etwas 
Entitellendes fab man nirgends. 

Und rund berum um und ein wildes 
sarbenballett auf Dad und Wänden! Nirgends 
cin leerer Fleck yu entdeden! Überall groteste 
Bizarrerien, ausgelafjene Phantafien einer 
Kunſt, welde laut lachend Purzelbäume ſchlägt, 
lange Naſen dreht und doch, ob ſie ſich auch 
nichts weniger als anſtändig geberdet, nie plump 
oder vulgär wird. 

Die Götttin des Lofals iſt la femme. La 
femme, mit rotem Barett, Sigaretten und ge: 
waltigem japanifden Sonnenſchirm, — und nichts 
anbderem. La femme ſchlittſchuhlaufend in einer 
midtigen Boa, die ftattliche ornamentale 
Linien um fie berum bilbet, in Muff und 
hoben Stiefeln — und fonjt nits. La femme 
auf Goldgrund in hohen ſchwarzen Striimpjen, 
langen Handſchuhen und mit einer fleinen Maske 
bor dem Geſichte — und fonjt nichts — auger 
bem Worte ..hors concours‘ als Schild auf 
den Goldgrund gemalt. Qn Je forét vierge‘ 
fpagiert la femme — fie felbft alles eber als 
vierge — in webmiitigen Gedanfen  einber. 
Bizarre Kompofitionen, Karikaturen der Kellner 
des Lofals, deforative Phantaſien in Malerei 
und Sfulptur, in twelden rote Rieſenhummer 
ibren Spul treiben, wie die ſchwarze Rage im 
Chat noir, Burlesfe Phantaftercien, ein un— 
gebemmter Strom echter Parifer Schnurren, alles 
mit Schwung und franzöſiſcher Qiinglingslaune 
gemalt, 


Aja. 


173 


„Das bier ijt fin de siècle, fo gut wie | ift als anderwärts. Ich aber paſſe nicht bierber. 


Fräulein Borgſtröms Atelierfeft,” ſagte id). 
„Ich finde es ekelhaft,“ antwortete Aſp 
heftig. „Das heißt die Kunſt entwürdigen. 
Was ſoll aus dieſen Knaben werden, die in 
dieſer Luft zu Künſtlern heranwachſen?“ 
„Elelhaft oder nicht,“ meinte ich, „ſo bat 


es dod) ſeinen Charafter für ſich, und ich 


denke, es miifte fiir einen Maler von Intereſſe 


ſein, dieſe Pariſer Jugendnatur zu ſtudieren, die 


fo verſchieden von der unfrigen, fo verſchieden 
von der deutiden ift, Du willft bod die 
franzöſiſche Kunſt wohl nicht nad diefen Pofjen 
beurteilen? Vergiß auch nicht, daß dieſe 
Nachtſchlemmer nicht die einzigen ſind, die die 
Kunſt des morgigen Tages zu tragen haben.“ 

„Ubrigens weißt du, dab die Pariſer 
Jugend mit mehr Nerv und Energie und 
Ausdauer arbeitet, als man bei uns zu Hauſe 
auch nur eine Ahnung hat, daß man arbeiten 
könne.“ 

Er aber hörte nicht auf mich. 

„Es elelt mich an,“ fuhr er fort. „Es ijt 
ſo weit entfernt von allem Natürlichen und 
Friſchen, wie eine Dekadenzgeneration es nur 
ſein kann. Übrigens was haben wir mit den 
Pariſern gemein? Wir ſind ihnen nicht ähnlich 
und tun am beſten daran, ſie nicht zum Muſter 
zu nehmen. Ich habe genug davon, ich reiſe 
meiner Wege.“ 

„Komm, geben wir!” unterbrach id ibn. 





' frage erbielt. 


Auf der Gaffe angelangt, fragte ih: „Reiſeſt 


du wirllich?“ 

„Jawohl, ich fahre nad Hauſe.“ 

Eine Weile ging er ſtumm vor ſich bin. 
Als aber die roten Mühlenflügel des Moulin 
rouge im Hintergrund der Straße ſichtbar 
wurden und wir nur mehr wenige Schritte 
zu gehen hatten, ſagte er: 

„Ich leugne nicht — und es wäre dumm, 
es zu leugnen — daß es von Nutzen iſt, hier 
zu ſtudieren, von Nutzen, neues zu ſehen und 
Eindrücke zu ſammeln. Aber ein neuer Menſch 
wird man nicht, wenn man ſich auch eine neue 
Art zu malen aneignet. Und es wäre auch 
gar nicht erfreulich, wenn man es würde. Es 
find die inneren Fähigleiten und nichts anderes, 
worauf ſich bauen läßt. 

„Zugegeben, daß hier mehr Leben, mehr 
Vielſeitigkeit, mehr Moglichkeit zur Entwicklung 





Es iſt zuviel Haſt, man ertrinkt in all den neuen 
Strömungen und weiß nicht, wo aus und ein. 
Das gebt fo weit, dak ich mit wirflichem Be: 
dauern an bie Rube des fleinen Diifjeldorj 
denfen fann. Dort wußte man nidts von 
Bwiefpalt — dort wufte man, wie jeded Ding 
gu machen fei, und man machte ¢8, fo gut man 
fonnte und es einem gelebrt wurde. 

„Nein, du wirſt mid verjteben, dag id es 
nicht fo meine — nur mitunter, wenn id müde 
und unlujtiq werde, wenn ich die Wrbeit von 
Woden und Monaten faffieren muß und jeder 
Tag, der vergeht, meine Irritation fteigert, bis 
id aus reiner Verzweiflung, nur um zu fühlen, 
daß id) dod) nod etwas tauge, irgend cine 
Kleinigleit male, von der ich wenigitens weif, 
dah id fie malen fann, die ich aber feinem 
der Kameraden jeige . . . da fann ich mandymal 
das alte Düſſeldorſf vermiffen, obwohl es ein 


Loch war. 


„Ich reife beim, im vollften Ernft, fobald 
ih den Salon gefeben. Ich babe cin Anz 
erbieten von dabeim, cine Malerſchule in einer 
griperen Stadt gu übernehmen — ich dari 
nod) nichts näheres fiber den Blan fagen, ba 
es fid um ein ganz neues Unternehmen 
handelt. Es ift ein Monat, feit ich die An— 
Zuerſt gedachte id) fofort mit 
nein zu antivorten, jest werde id) aber dod 
wahrſcheinlich zuſagen. Es fommt fiir uns 
alle eine Seit, wo wir cine Anjtellung, die 
ben Vorteil mit fic bringt, viermal des Sabres 
feinen Gebalt in barem ju erbeben, nidt von 
der Hand weiſen. 

„Wenn ich es als Dialer gu nichts bringe, 
fo fann id) dod wenigſtens ein tüchtiger 
Lehrer werden und mid bejireben, cin wenig 
Kunſtintereſſe dabeim in Krähwinkel zu ver— 
breiten. 

„Ein Schelm gibt mehr, als er hat.“ 

Der Salon öffnete ſeine Pſorten, und ed 
herrſchte Jubel und Entzücken, Hoffnungs-— 
freudigkeit, Zufriedenheit oder Verdruß unter 
den Teilnehmern und Hohn oder angenommene 
Gleichgiltigleit unter jenen, die nicht mit dabei 
waren. 

Edvards „Morgenſtimmung“ vom vorigen 
Sommer hatte einen ehrenden Plas an der 
Gimaife erbalten und erwarb als gute, ge- 


174 


biegene Arbeit allgemeine Anerkennung. Ridert 
hatte in der „Exposition des Indépendents* 
ausgeftellt, wo feine Bhantafien — „Geſichte 
und Traume” nannte fie der Katalog — durch 
ibre—geivaltjamen und fdbneidenden Farben: 
zuſammenſtellungen und die auf den Rahmen 
geſchriebenen Erlduterungen Auſſehen erwedten 


und feine in affeftiert findlider Technif ge- | 
baltenen Pariſer Strafenbilder ibm viel Schimpf 
Man ladte ibn aus, | 
und die Witzblätter farifierten feine Bilder, | 


und Spott eintrugen. 


aber zumindeſt wurde er nicht totgeſchwiegen, 
und die Verniinftigen mußten eingeftehen, dak 
jedenfall Talent in ben Bijarrerien ftede. 
Am lesten Abend der Anweſenheit Edvards 
in Paris batten ſich mehrere Landsleute ver- 
fammelt, um ibm gliidlicbe Reife gu wünſchen. 
Der Norweger fand fic aud cin. Er hatte 
eine Nenigfeit gu melden: Richert war an die 
Küſte gereift und zwar in Geſellſchaft Germaines 
— , Sie wiffen dod, Germaine, dad fleine 
Mädel, die ibn vor einem Monat aujgeaeben 
bat, um dag high lifes gu foften und an der 
Seite eines Wmerifaners, einen Negerfnaben 


riidiwarts im Wagen, ing Bois de Boulogne | 


zu fabren. Angwifden tft fie auf beſſere Ge- 
danken gefommen, und fo baben fic) die Herr: 
ſchaften ans Meer begeben, um Seebäder ju 
nebmen.” 

Aja fam fpat. Dak fie nervös und ibe 
Scher; aufgejagt und erfiinftelt war, war jest 
fo twenig neu an ibr, wie der ſcharſe, elwas 
höhniſche Tonfall ibrer Stimme. Ich bemertte, 
daß Edvard fie mebreremal mit 
forfdenden Blide anfab, den ich öfters an ibm 
beobadtet hatte. Es war nicht fewer ju 
erraten, was er in ihrem Antlitz fuchte. 

Die Stimmung wollte nidt lebhajter werden, 

Wir gaben Aſps bas Geleite bis gu ibrer 
Tir; diedmal aber gingen Gdvard und Aja 
nicht cin Stiid voraus. Sie fcbieden, obne ein: 
ander gejagt yu haben, twas fie gu fagen batten. 

Naddem wir Edvard und feiner Frau 


adieu gefagt, begleitete id) Aja bis yu ihrer 


Ecke. Und als ih ihr die Hand zur guten 
Nacht reichte, fragte ich: 


„Nun, baben Sie eS jest fo, mie Sie es 


wollten 2” 
„Ja,“ antwortete fie ohne Saudern und 
jab mir gerabe in die Augen. 


jenem | 


Aja. 


8. 

Und nun — feds Jabre nadber — traf 
id) alle drei auf dem kleinen Wtelierfeft in 
Stockholm. Edvard ſtill und verfeblofjen wie 
ebedem, Ridert felbftbemupter als je, Aja 
Borgftrim ein wenig grotest und iiberreif, aber 
nod immer den Ramen „Kobold“ mit Be— 
redtigung tragend. 

Viele Stiirme waren feit jenem Friibling 
in Paris tibers Land geblaſen — fpurlos waren 
bie ſechs Jahre an feinem der drei voriiber- 
gegangen. 

Govard ift in ciner griferen Stadt an- 
faffiq, fiir deren Kunſtverein und -fcbule er 
tatig ift. Jedes grifere Gemälde, das er 
beginnt, tvird pon den beiden Seitungen der 
Stadt in achtungsvollen Ausdriiden bejproden 
— daran ift er ſchon fo gewöhnt, daß es ibn 
faum mebr drgert. Ob er will oder nicht, er 
muß feinen Ruhm als eine der Notabilititen 
der Stadt tragen. 

Sm Sommer wohnt er auf dem Lande, 
wo er fleipig malt und große Motive breit 
und kühn in ftarfen faftigen Farben anlegt. 
Da fann er dann fiir einen ober zwei Tage 
beiter und aufgerdumt fein, mit den Rindern 
— fpiclen und abends mit der ganjen Familie 
auf den See binausfabren. Sowie aber das 
Bild fertig ijt, findet er es unjrifd) und 
„gemacht“. Trohdem wird es feiner Corg: 
faltigfeit und zugleich Naturtreue wegen beliebt, 
um feiner echt ſchwediſchen Stimmung willen 
qelobt und zu billigem Preis an irgend einen 
Runftverein oder cine Privatperjon verfaujt. 

Edvard ijt jedod cin allzu ehrlicher Künſtler, 
um ohne Bedenfen aus ſeiner Geſchicklichkeit 
Nutzen zu ziehen. Er hat mehrere Bilder bei 
ſich zu Hauſe, die ſich ſehr wohl zu gefälligen 
und leicht verläuflichen Publikumsbildern eignen 
würden, wenn er ſie leichtfertig vollendete, 
aber er gibt fie nicht aus ber Hand. 

In feiner Stadt gilt er als liebenswürdiger 
| und angenebiner Mann, der in Familien gerne 
gefeben ijt und auch feine Freunde gern um 
ſich ſieht. Gr hat zwei Kinder, und an feiner 
| Che ift nichts auszuſetzen. Seine Frau ift 
| bei den iibrigen Frauen der Stadt beliebt, 
, fie ijt anſpruchslos und befaßt ſich nie mit 

Butragercien. Cie ift immer mit ibrem Mann 
zuſammen, twenn er fie bei ſich baben will, 





Aja. 


und auch er ſcheint ſeine alte Paſſion am 
Ausreißen und ſeine Liebe zur Einſamkeit 
überwunden zu haben. 

Er lieſt im Klub die Zeitungen, iſt Mitglied 
des Viraquartetts des Reltors, intereſſiert ſich 
ſür die ſozialen Fragen der Zeit und ſpricht 
gern ernſt mit den Ernſten, iſt im übrigen 
ein Ehrenmann, der ſich die Muühe nicht ver— 
drießen läßt, anderen zu helſen und der mit 
Gleichmut — wenn auch nicht ohne einen 
Schimmer von Bitterkeit — ſieht, wie andere 
es verſtehen, fein Wohlwollen auszubeuten. 
Er ſcheint auf dem Wege, ſeine großen An— 
forderungen an ſich ſelbſt zu überleben — 
und wird eines Tages finden, daß er alt und 
ſein Platz unter den Reſignierten ſei, unter denen, 
die nichts mehr vom Leben zu erwarten haben. 

Mit Aja Borgſtröm hat er heute lange 
geſprochen. Ein ruhiger Gedankenaustauſch 
unter alten Freunden und Kameraden, die ſich 
nach mehreren Jahren wieder begegnet ſind 
und hören wollen, dag es ihnen beiderfeits 
wobl ergangen. — 

Aja ijt feit jenem Frühling in Paris ge- 
blieben. Sie bat fic eifrig auf die Arbeit 
geworjen und bat auf verfdiedenen Ausſtellungen 
franzöſiſcher Kleinſtädte Medaiflen befommen, 
Ihre Bilder haben nod immer mebr Kraft 
als Feinheit; etwas Urfpriinglices, cinen per: 
ſönlichen Charafter ſucht man vergebens darin. 

Nbr Auftreten ift nod ungenierter geworden. 
Gang junge Herren ſuchen ihre Geſellſchaft mit 
Vorliebe; das Lebbafte und kameradſchaftlich 
Areie Ajas giebt fie an. Bn Frauengeſellſchaft 
bewegt fie fih gar nicht, und diefe oder jene 
ber ſchwediſchen Pariferinnen bezweifelt, ob es 
paſſend fei, mit ibr zu verfebren. Wer fte 
jedoch fennt, iweif, daß Aja, wenn aud cin 
wenig „toll“, dod) „verſtändig“ iſt und daß 
ſie eine Art hat, freier zu erſcheinen, als ſie 
tatſächlich ijt. Reiner ihrer näheren Befannten 
wird fie einen Mugenblid im Verdacht eines 
Verhaltniffes zu cinem jener Herren haben, 
fiir welche fie im Laufe der Jahre nach jenem 
böſen Gerede, das ihren Namen mit bem Sven 
Riderts in Verbindung gebradt, geſchwärmt 
gu baben bebauptet. 

Cine wirllide Hingebung bat fie nicht gu 
erringen vermodt, — fie bleibt die ftets bet 
jeite Gefchobene, fo wie fie der gute Ramerad 








174 


bleibt. Cine ftarfe Liebe hatte die Fähigkeiten 
diefer ftarfen Natur gejammelt — nun jere 
fplittert fie ihre Empfindungen in Scherz und 
Spiel und fudt in eifriger Arbeit und ebenfo 
energifdem Streben nad Unterhaltung Erſatz 
fiir das, defjen fie verluftig gegangen. 

Denn ibre Lebenslujt ijt fo unbändig wie 
nur je, ja wird nod ſtärker in bem Grade, 
als fie fiiblt, daß Beit und Jugend ihr aus 
den Händen gleiten. Der ,, Kobold” verſteht 
es, Das Leben von der heiteren Seite zu nebmen, 
aber bet alledem bat er gang ficber dad Gefiibl 
davon, daß er nicht geworden, wad feinen 
Anlagen nad aus ihm hatte werden können. 

Rauchen ift Ajas grofe Paffion, fie raucht 
wie ein Schornſtein von friih bid Abend, 
und Nachtwachen ijt nod immer ibre Spezialität. 
Hat fie Geſellſchaft bei fic, fo ſchicken die 
ſchläfrigſten Gäſte fic) [chon um vier Uhr an 
abzuziehen, die letzten aber fagen um acht Uhr 
gute Nacht oder bleiben gum Frühſtück da. 
Schlafen fann man genug, wenn man alt ijt, — 

Sven Richert hat in vollem Mage feine 
Verjpredhungen, Auffeben gu erregen, eingelöſt. 
Er bildet nod) immer ein ſtändiges Streitobjelt 
zwiſchen jenen, die feine Art affeftiert und nur 
auf Effekt berechnet finden, und feiner eigenen 
Partei, die in feinen Bilbern einen Strahl 
der Morgenröte ſieht, im ber die Kunſt des 
neuen Sabrhunderts über der neuen Menſchheit 
herauffteigt. 

Er ijt Weltmann geworden, madt nicht 
mebr folden Lärm wie friiber, zeigt aber 
durch feine iiberlegene Haltung, dah er feine 
Stellung als Führer und Vertreter der neuen 
Runjt fennt. 

Seine junge Frau — eine reiche Grof- 
händlerstochter — ijt febr nicdlid) und ſehr 
hübſch und fiebt ju ihm auf als zu dem 
bedeutenden Mann, der er ijt. Wenn er feinen 
Arm beſchützend um ihre Schultern legt, lade 
ex fein jugendfrifdes Lachen, gufrieden mit thr 
und mit fic felbjt. 

„Dein Wobl, Wat” Man hort feine 
ftarfe Stimme aus all dem Gefumme heraus. 
„Weißt Du nod, damals in Paris? Da war 
id nabe daran, mich in did) zu verlicben.” 

„Ein Glück fiir deine Frau, dab du es 
nicht tateſt!“ antivortet Aja in ibrem aller: 
frobgemuteften Ton. 


oe 


176 





Gin biographiſcher Beitrag zum 
Vibliothefarinnenberuf. 
Von Alice Bounffet. 


Nachdrud verboten, 


—~ 


Die Septembernummer des vorigen ahr’ 
gangs ber „Frau“ brachte cine Notiz fiber dad 
Thema ,,Bibliothelarin”. Qn dieſer Notiz wurde 
darauf hingewieſen, daß der nod) ziemlich neue 
Frauenberuf, in dem bis jegt erſt eine fleine 
Anzahl von Damen Anjtellung gefunden bat, zur 
Beit geringe Ausſichten biete. In Anbetracht der 
viclfeitigen und boben Unforderungen fiir die Fach: 
bildung ift es ficerlic) cine Forderung der Ge— 
wiffenbaftigteit, auf dieſen Umſtand hinzuweiſen. 
Andererſeits dürfte es aber auch Intereſſe haben 
zu zeigen, wie ſich Frauen, die mit Sprachtalent 
und literariſchen Neigungen begabt find, im 
Bibliothelsfach einen angemeſſenen Wirkungskreis 
zu ſchaffen vermögen. So mögen einige Mit— 
teilungen über den Bildungsgang einer Frau, die 
auf eigenen Wegen dieſes Ziel erreichte, manchen 
zur Ermutigung dienen. 

Helene Höhnk, die den Leſerinnen der „Frau“ 
ſchon durch mehrere, meiſt kulturgeſchichtliche Bei— 
trage belannt iſt, ſtammt aus Dithmarſchen, dem 
Lande des „Jörn Uhl“, in dem ihre Borfabren 
feit [anger als 2'/, Sabrbunbderten anſäſſig waren, 
in dem fie felbft mit der ganzen Cigenart ihres 
Weſens wurjelt. Der Tried nach Wiffen und 
Crfenntnis lies fie nach erlangter Selbſtändigkeit 
mit Cifer Mittel und Wege ſuchen, um die Liiden 
ibrer mangelbaften Schulbildung auszuſüllen. Qn 


Dresden, wobhin fie fich zunächſt begab, tried fie | 


ziemlich planlos alles, was in ibren Ideen- und 
Geſichtskreis trat, doc) ftanden hiſtoriſche, funft: 
geſchichtliche und ſchöngeiſtige Qntereffen ſchon 
damals im Vordergrunde. Cin längerer Aufenthalt 
in London wurde hauptſächlich jum Studium der 
engliſchen Geſchichte und Literatur benugt, wabrend 
fie fich im Franzöſiſchen als Hofpitantin an der 
Univerfitat in Genf vervollfommnete. Dann be: 
fafite fic fic) mit der Erlernung der nordifden 


i, 





/ — ⸗ 
AON 


Sprachen und erwarb gute Kenntniſſe im Schwediſchen 
und Danifechen, fowie in der Literatur beider Lander, 
was ibr bei ſpäteren archivariſchen und bibliothe- 
farijden Foridungen zu grofem Rutzen gereidte. 

Durd ihre Beiträge gu Reins pädagogiſcher 
Encyllopadie zeigte fie ihre Kenntnis der pada: 
gogifchen Literatur; ihr Qutereffe fiir die Frauen: 
bewegung machte fie zur Mitarbeiterin verſchiedener 
Frauenzeitſchriften. 

Die Bibliographie erſchien ihr ſchon damals 
wichtig genug, um ſie zu eifrigem Sammeln der 
auf die Frauenbewegung bezüglichen Literatur: 
erſcheinungen gu veranlajfen, fo daß ibre Bibliothef 
die Broſchürenliteratur in ziemlicher Vollſtändigkeit 
umſaßt. 

Das Hauptgebiet von Helene Höhnks literariſcher 
Tätigleit wabrend der letzten Jahre iſt mehr und 
mehr die Familiengeſchichte geworden, mit deren 
Aufſtellung reſp. Bearbeitung ſie von verſchiedenen 
Seiten betraut wurde. Perſönliche freundſchaftliche 
Beziehungen zu einem livländiſchen vornehmen 
Hauſe vermittelten ihr den Auftrag, deſſen Familien- 
chronik zu ſchreiben, wodurch fie gu eingehenden 
genealogiſchen Forſchungen in verſchiedenen Archiven 
und Bibliotheken des In⸗ und Auslandes veranlaßt 
wurde. Dann unterzog ſie ſich, im Beſitz einer 
guten techniſch wiſſenſchaftlichen Vorbildung, einem 
mehrmonatlichen Lehrkurſus unter Leitung des 
Univerfitats-Bibliothefars in Jena, und jo aus— 
geriiftet, fonnte fie in der Folge die ibr mebrfad 
angetragene Aufgabe iibernebmen, Familienardive 
und VBibliothefen gu ordnen, foftematifde Kataloge 
anjufertigen und alle einſchlaägigen Wrbeiten gu 
übernehmen. — Helene Höhnks bisherige Tatigfeit 
in diefem Fach volljog fic innerhalb der Kreiſe 


des hohen holſteiniſchen Adels, in den Schlöſſern 


der Grafen ju Rantzau Vreitenburg, v. Brocdorff— 
Ahleſeldt und des Barons v. Donner in Bredeneck. 
Ihre Dienſte ſind außerdem ſchon von kleineren 
ſtädtiſchen Körperſchaften in Anſpruch genommen, 
und die Ordnung eines Kirchenarchivs in ihrem 
jetzigen Wohnort Wandsbed wird fie demnächſt be— 
ſchäftigen. — Der bis jet nod) ziemlich feltenc 


Verſammlungen und Bereine. 


Fall beweift, daß die Möglichkeit privater Titigteit 
fitr Damen, die im Bibliothekfach ausgebildet find, 
vielerorten vorbanden ift; Angebot und Nachfrage 
lichen fic) auch auf dieſem Gebiete gewiß in zweck— 
entipredender Weife regeln. — Das Gebalt ent: 
ſpricht dem ciner erften Bibliotbefarin an den 
neugegriindeten Bücherhallen, es betragt 2500 bis 


8000 Mark jährlich. Die von Helene Höhnk in” 


ihrem Aufſatz: „Bücherhallenbewegung und Biblio: 
thefarinnen”') ausgefprodene Forbderung, daß die 
Arauenvereine fich überall der Griindung von Volts: 
biblivthefen annehmen follten, iſt neuerdings in 


der anfangs erwähnten Notiz wiederholt worden. | 


Die AHffentlichen Biicherhallen (deren Bedeutung 


gegenwärtig cine größere Wufmertjamfeit gewidmet — 


wird) fteben in Deutſchland der Zahl nad immer 
nod beträchtlich hinter anderen Aulturftaaten zurück. 
Ihre an fich ſehr wünſchenswerte Bermebrung 
wiirde einer griferen Anzahl berufsmapig aus: 


gebildeter Frauen Beſchäftigung geben; dicjenigen, | 


welche durch Abfolvicrung aller den Mannern vor: 
geſchriebenen Studien bis zur Erlangung des 


ty Die Frau“, Jahrg. 1900, Heft 7. 


177 


philologiſchen Doltorgrades die Anwartſchaft auf 
Unftellung an Staatsbibliothefen eriverben, haben 
gleichfalls cine gweijabrige praktiſche Bolontararbeit 
im Sffentliden BibliothetSdienft yu leiſten. 


* 
Die Höhere Handelsſchule fiir Madden in Cöln 
bielt kürzlich ihre Semefterprilfung ab, welche, 
ebenfo wie die friiberen, cin erfreuliches Bild von 
dem Leben in der UAnftalt gab. Der Priifung 
wobnte aud) ein Mitglied der Cölner Schul— 
deputation bei. Man fab, wie der reichbaltige 
Lehrſtoff in gründlicher Weije nach verftandiger, 
auf freien, dauernden Beſitz abjielender Metbode 
verarbeitet wird, und wie die Schiilerinnen mit Luft 
| und qutem Erfolg den Wnfordecrungen der Schule 
| gerecht gu werden fich beftreben. Auch finden die 
Riele wie die Leiftungen der Wnftalt in immer 
| qweiteren Kreiſen Wnertennung, und die abgebenden 
Schiilerinnen erhalten, fofern fie es wünſchen, 
ſamtlich austimmlicd befoldete Stellungen in ane 
| gefebenen Häuſern. Für das gu Oftern 1904 be: 
| ginnende neue Schuljabr fliegen fdon jest An: 
| meldungen von Schitlerinnen aus allen Teilen des 
| Reichs und aud dem Auslande vor. 





— —— 


Versammlungen und Vereine. 


Der oſtdeutſche Frauentag, 
ber vom 9.—12. Oktober in Bromberg tagte, ver: 


banbdelte über bie Frauenarbeit im der Armen: und | 


Waifenpflege, iiber das weibliche Fortbildungsſchul⸗ 
wejen und über Organifationsfragen im Anſchluß 


an drei Neferate über die ſtädtiſche Armenpflege | 
iiber die Frau als | 


(Frau Eſch en bach Pofen), 
Vormünderin (F (Frau Hubner: Bromberg) und iiber 
die pᷣflichten der Frauen in der Armen: und Waiſen— 
pilege in Stadt und Land (Frau Fran: Danjig). 
Die von den Rednerinnen aufgeſtellten Thejen hoben 
befonders die Notwendigkeit einer Vorbiloung der 
Frauen fiir diefe Amter hervor. Am Schluß wurde 
folgende Reſolution angenommen: 

Die auf dem erſten oſtdeutſchen Frauentag 
verſammelten Frauen halten es fiir wünſchens— 
wert, daß ein Ausſchuß für die Vorbereitung 
zur Ausiibung der Armen- und Waiſenpflege 
gebildet werde. 

Uber die lönigliche GHewerbeſchule in Poſen berichtete 
rl. Ridder Poſen, über das hauswiriſchaftliche 


Fortbildungsſchulweſen ſprach Frau Prof. Bohn-, | 
uber das gewerbliche Frl. KRicd- Gefen, über das | 
sm | 


taufmanniſche Fri. von Roy-Königsberg. 
Anſchluß daran wurden folgende Reſolutionen gefaßt: 
1. Kaufmänniſche Fortbildungsſchulen mit 
obligatoriſchem Tagesunterricht für weibliche 
Handlungsgehilfen ſind zur Hebung der ſozialen 
und wirtſchaftlichen Lage dieſer Berufsgruppe 
ale dringend notwendig zu bezeichnen. Die heute 
verſammelten Frauen des oſtdeutſchen Frauen— 


tages beſchließen daher, für die Gründung ſolcher 
Anſtalten in den großen und mittleren Städten 
nachdrücklich einzutreten. 

2. Der oſtdeutſche Frauentag befürwortet die 
Einführung der obligatoriſchen allgemeinen und 
hauswirtſchaftlichen Fortbildungsſchule für 
Mädchen, die nach Bedarf da, wo es die örtlichen 
Verhaltniſſe geſtatten, in gewerbliche und kauf— 
mannifde Fortbildungsſchulen ausgebaut werden 
ſollen. 


Uber die an den oſtdeutſchen Frauentag zu 
ſchließende Organiſation der Frauenbewegung in 
den Oſtprovinzen ſprachen Frl. Schnee und Frau 
Hecht. Im Anſchluß daran wurde beſchloſſen: 

1. Der oſtdeutſche Frauentag iſt eine loſe 
Vereinigung der Frauenvereine der drei Djt: 
provingen mit regelmäßig, mindeftend alle zwei 
Sabre, nach beſtimmtem Turnus wiederfebrenden 
Berjammlungen. 

2. Cin Ausſchuß von ſechs Mitglicdern, aus 
jeder Proving zwei, trifft alle erforderlidyen Vor— 
bereitungen fiir die nächſte Taquna. 

3. Die Borfipende fowie die anderen Mus: 
ſchußmitglieder werden von den Delegierten 
gewählt. 

Es wurden ferner drei Arbeitsausſchüſſe gebildet 
und zwar: 

1. fiir Armen- und Waiſenpflege und Vor— 
mundichaft; 

2. fir Fortbildungsſchulweſen für Mädchen und 

3. fiir Propaganda. 





12 


178 


Wis Ort fiir den nächſten Frauentag wurde | 


Elbing in Ausficht genommen, als Vorfigende Frl. 
Schnee gewählt. 

In drei öffentlichen Verſammlungen ſprachen 
Frau Krukenberg über die Mutter als Erzieherin, 
Frl. Pohlmann über die Vorbildung oer Frau 
au höheren Berufen und Frl. Pappritz über die 
Fürſorgeerziehung. 


Der erſte ſchleſiſche Frauentag 


fand am 22. und 23. Oftober in Breslau ſtatt. Er 
bat zur Konftituicrung eines ſchleſiſchen Frauen: 
verbandes gefiibrt, der es, wie die anderen beftebenden 


Provinjialverbande, als feine Wufgabe anfiebt, tm | 


engen Anſchluß an örtliche Berhiltniffe und in 
planmäßiger Sufammenfajjung der lokalen Einzel— 
beſtrebungen ſür die Frauenbewegung zu wirken. 
Das Programm der Verhandlungen war vor allem 
unter dem Geſichtspunkt aufgeſtellt, die Einzel— 
vereine, die in verſchiedenen ſchleſiſchen Städten 
beſtehen, einander näher zu bringen durch Mitteilung 
ihrer Arbeitserfahrungen und Erfolge. So berichteten 
dic Frauenvereine von Gorlitz, Liegnitz und Kattowitz 


über ihre Rechtsſchutzſtellen, Frl. Großer-Breslau 


über den dortigen Verein für weibliche Angeſtellte 2. 
In einer öffentlichen Verſammlung ſprachen Frau 
Stritt über „Frauenfrage und Kulturfortſchritt“ 
und Frl. Pappritz über „Die ſittliche Gefährdung 
der Jugend und die Fürſorgeerziehung“. Der 
ſchleſiſche Frauenverband umfaßt 9 Vereine mit 
insgeſamt etwa 3000 Mitgliedern. Die Vorſtands— 
wahl hatte folgendes Reſultat: 1. Vorſitzende Frau 
Wegner-Breslau, 2. Vorſitzende Frl. von Prittwit- 
Gorlitz, 1. Schriftführerin Frau Handel, Kaſſiererin 
Arl. Richter Breslau, Beifiserinnen Frau Ladenburg: 
Breslau, Frau Hegenfcbeiot Gleiwitz, Frau Alara 
Reifier, Fri. Grofer, Frl. Nefjel, Frau Heilberg— 
Breslau, Frau HirſchLiegnitz. 


Die deutjdje Nationalfonferens zur Bekämpfung 
— des Mädchenhandels, 


bie am 27. und 28, Oftober in Berlin tagte, zeigte 
einen anerfennendsiverten Fortſchritt der Wrbeit auf 
dieſem Gebiet. Uber die Arbeit des National: 
fomtitees berichtete Major a.D Wagener. Troe 
ber, auferordentlichen Schwierigkeiten, die die 
Schlaubeit der Madchenbandler und -Handlerinnen 
jeder Nachforſchung bereitet, ift es mit Hilfe der 
Beborden, die fich überall dem Komitee zur Ver: 
fügung geſtellt baben, gelungen, 42 Händler felt: 
quftellen und 56 Madden gu retten. Die Titigtcit 
des Romitees bat vor allem die Beauffidtiqung 


der Vabnbdfe und Hafenplage umfaft. Die Bahn- 


bofmiffion babe dabei gute Dienfte geleifiet. Was 


auferdent zunächſt geſchehen fonnte, fet die Anſtellung 
eines gewandten, mit den Verhältniſſen ciniger: | 


mafen vertrauten WAgenten als cine Art Deteftiv 
fiir den Mädchenhandel, der vor allem auch die 
deutſchen Kolonien tm Ausland auf die Verbaltniffe 
hinzuweiſen babe, auferdem Durchführung der 
Beſchlüſſe ber Pariſer Konvention in allen Ländern. 
Unter den Bericten der Lofalfomitees war der ded 
Sanitatsrats Maregti über die Belampfung des 
Madchenbandels, oder vielmebr feiner Urfachen in 
der verelendeten jüdiſchen VBevollerung Galiziens 


Verfammilungen und Bereine. 


befonders intereffant. Gr ſtützte fich auf die Er: 
gebniſſe ciner Studienreife, die Frl. Pappenbeim 
| aus Frantfurt gemadt hat, um die Bevslterung 
und por allem die Nabbiner über ben Madchen: 
handel aufjutlaren und dafür gu arbeiten, daß der 
Kampf gegen Unwiffenbeit und Mangel bier aud 
von anbderer Seite aufgenommen werde. 

Gegen cine Außerung des erften Berichterſtatters, 
ber Verein fonne nicht den Kampf gegen Bordelle 
und reglementierte Proftitution aufnebmen, wendeten 
fi Frau Scheven, Frl. Papprig und Grafin 
Puͤckler vom deutſch-evangeliſchen Frauenbund mit 
dem Einwand, es fei Halbbeit, gegen den Madden: 
handel zu fampfen, wenn man die Verhältniſſe. 
| aud denen er mit Notwendigheit immer wieder 
bervorgeben müſſe, rubig fortbefteben laſſen wolle. 

Hicrauf ſprach Profeſſor Dr, Ullmann 
(Minden) iiber: Die ſtrafrechtliche Bekampfung des 
Madchenhandels. Er erblict in dem Madchenhandel 
die tieffte fittlide und moraliſche Cutwilrdigung der 
Frau, und gebt in der geſetzlichen Verfolgung über 
bie Variſer Nonvention injofern binaus, als er 
meint, es fonne vom Standpuntt des Schutzintereſſes 
die Frage der Einwilligung oder Nichteinwilligung 
feine Rolle fpielen. Yur Frage der Ausdehnung 

ber ſtrafrechtlichen Berfolgung auf Fille der Cin: 





willigung befiirwortct Nedner folgenden Wntrag, 
dem die Verjammlung ohne Debatte zuſtimmt: 


„Die Nationaltonferens ſpricht ihre Uber 
zeugung aus, daß cine wirkſame Bekämpfung 
des Maddenhandels dic Ausdehnung des Tat 
beſtandes dieſes Verbrechens auch auf die Fille 
der Cinwwilligung einer grofjabrigen Frauens— 
perjon notwendig fordert. 

Dic Nationaltonferens beſchließt gleichzeitig 
die Mitteilung ihres Beſchluſſes und threr Ber: 
handlungen an das Reichsjuſtizamt mit der Bitte 
um Menntnisnabme und geeignete Würdigung 
bei der Reform des deutſchen Strafgeſetzbuchs.“ 


Weiter ertlirte fic) die Verſammlung damit 
cinverftanden, daß das Neichsjuftizamt bet der 
Strafprosefreform aud die Beftrafung der Aus: 
beutung der Notlage, die Frage der Strafbarleit 
ded Verſuchs und die Ausdehnung der Anzeigepflicht 
in Erwägung ziehe. 

Aber die Frage der Freizügigleit der Proſti— 
tuicrten ſprach Dr. Burdard: Berlin. Er forderte, 
daß die Polizeibehörde dem Proftituierten gegen 
iiber die Wusiweifungsbefugnid haben folle. Gegen 
ibn wendeten fic) — wie dad vom Standpuntt des 
Antireglementarismus natiirlich iſt —, Fr. Pappritz 
und Frau Seven. Pfarrer Heinersdorf berichtet 
aus feiner Erfabrung als Gefangnisgeiftlicer und 
Anſtaltsvorſteher über Einzelvorgange, die ibn be: 
lehrten, Daf bei ſtaatlichen Beborden die Projtitution 
als gleichſam berechtigtes Gewerbe gilt. Qn feinent 
Schlußworte betont Dr. Burdard, daß man den 
Heimatsgemeinden die Verpflichtung auferlegen mug, 
fiir die Heimgeſchickten in facgemafer Weife zu 
forgen. Wo es angebracht tit, bat Fürſorgeerziehung, 
Ginweifung ind Arbeitshaus zu erfolgen. Die 
Verfammlung ftimmt mit ciner geringen Mehrbeit 
den Burchardſchen Anſchauungen ju, 

Hierauf jprad Dr. Naumann (München) über 
| Madcenhandel und Kunſt. Er beleuchtete zuerſt 
| die Frage: Welche Mittel laſſen ſich ergreifen, um 
dem gemeinen, ordinären Mädchenhandel unter 
Angabe kunſileriſcher Swede zu ſieuern? Die 





Verfammlungen und Vereine. 


heutigen Impreſarii und Agenten rekrutieren ſich 
meiſtens aus dem Stand der Zuhälter oder der 
Schanffellner. Redner verlangt 1. Konjeffionierung 
der Amprefarii, Agenten x¢., 2. Rautionsftellung 
für Smprefarii, welde Runftreifen ing Ausland 
unternebmen wollen, 3. Meldepflicht fiir jeden fir 
das Ausland abgeſchloſſenen Kontralt nebſt Angabe 
der Heiferoute und Meldepflicht bei den Ronfulaten 
im Ausland, 4. ſtrenges Verbot des Engagements 
von Madden unter 18 Jahren — oder möglichſt 
cin nod höheres Schugalter. Ausnahmen mige 
man machen bei Afrobatenfindern, Wunbderfindern rc. 
Ferner empficblt Redner eine Selbftbilfe durch 
Genofien{chaftsorganijation gegeniiber dem Ring 
der Agenten und Amprefarii. Bebdeutend ſchwieriger 
jet das Thema des indirelften verfdleierten Madchen: 
handels an unferen Theatern. Er verweift auf 
cine Reihe von Mifitinden, die auf den Anftellungs: 
verbiltnijjen beruben, insbeſondere in Hinſicht auf 
die BVerpflichtungen, die den Kiinftlerinnen auferlegt 
werden. Die Honorare find vielfach fo gering, 
daß cine Riinftlerin davon nicht leben fann, zumal 
fie fic) obenein nod) die Biihnentoftiime felbft 
befdafien muß. Dr. Naumann ijt der Anſchauung, 
daß auch bier, teils durch Berwaltungsmafnabmen 
(itrenge Theaterfonjeffionierung, Priifung der Ber: 
trage) und. durch Mafnabmen auf Grundlage der 
Selbftbilfe (Genoſſenſchaft, Verein sur Beſchaffung 
von Bühnenkoſtümen u. a. m.) Wandel geſchaffen 
werden könne. 

Zum Schluß behandelte Reichstagsabgeordneter 
Henning Gerlin) das Herbergerecht der Ver— 
mietungsbureaus. 

Redner empfahl, die ſcheinbar unverdächtigen 
Statten des Mädchenhandels im Auge gu behalten 
und fics bei irgend welchem Berdacht an die Polizei: 
behörde zu wenden. 





Krankenpflegeſtation des Berliner Frauenvereins 


(Bülowſtraße 14, 11.) Bom 1. Oftober 1902 bids 
zum 30. September 1903 find in der Bilegeftation 
fiir Fraucn, Bülowſtraße 14 1, 93 Rrante verpfleat 
worden und gwar 21 unverbeiratete, 72 verbeiratete 
Frauen und Witwen, Bon dieſen haben 82 einen 
tleinen Zuſchuß zu den Koften ibrer Verpflegung 
geleiſtet, während LL gang und gar aus den 
Mitteln bes Verein erhalten worden find. 

Die Babl der Pflegetage betrug 1272 
davon entfallen 278 auf die vollftindig vom Berein 
unterbaltenen Sranfen —, die der ausgefiibrten 
Dperationen inégejamt 83 (61 fleinere und 22 grofe). 
Seit dem Bejtehen der Anjtalt haben dort im 
ganjen 1099 franfe Frauen Verpflequng und 
Grgtlide Bebandlung gefunden. Die WAufnabme: 
bedingungen find die gleichen geblicben. Die Ent: 
ſcheidung iiber die Aufnahme ftebt Frl. Dr 
Tiburtius ju. Sprechſtunde morgens von S—9 Ubr 
in der Bylegeftation, Bülowſtraße 14 1, oder vorm. 
10—12 und nachm. 2—4 Ubr Biilowftrafe 14 II. 
Ausgeſchloſſen von der Aufnahme find Kranke mit 
anftedenden oder unbeilbaren Leiden. 

In der feit dem J. Oftober 1897 mit dem 
Berliner Fraucnverein in Verbindung ftebenden 
Poliflinif fiir Frauen, Gleditſchſtraße 48, Garten: 


mm — — — ———a — 


— — — —— — — — — — — — — 


179 


haus pt. (friiber Alte Schönhauſerſtraße 23/24), 
find vont 1. Oltober 1902 bid yum 30. September 
1903 610 neue Patientinnen behandelt worden. 
Die Zabl der Konjultationen belief ſich im letzten 
Rechnungsjabr auf 2421. Seit Eröffnung der 
Poliflinif (am 18. Suni 1877) baben dort im 
gangen 26345 franfe Frauen ärztlichen Hat und 
Beijtand geſucht. 

Die polikliniſchen Sprechftunden finden regel: 
maäßig Dienstags und Freitags, nadmittags von 
“45 Ubr an in der Gleditſchſtraße 48, Marten: 
baus pt, ftatt. Behandelnde Argtinnen find 
art. Dr. med. Agnes Blubm, Frau Dr, med, 
Ploes und Fr. Dr. med. Agnes Hader, 
unter Affifteny verfdiedener jiingerer RKolleginnen. 
MS Beifteuer gu den Unterbaltungsfoften ijt pro 
Perfon und Konjultation ein Betrag von 10 Ff. 
qu entricdten. Gänzlich Unbemittelte erhalten freie 
Arznei. 





Der Berein der Freundinnen junger Mädchen 


bat in Deutſchland eine ganze Reihe für Stelle: 
ſuchende unentgeltlich geführter Stellenbilreaus — nur 
die veranlaßten Portokoſten werden erſetzt — in 
allen großen Städten. 5000 jum Helſfen bereite 

rauen in Deutſchland und 400 in allen übrigen 
ändern der Welt, bilden die allein dem Verein 
zugänglichen Liſten der Vertrauensperſonen, mit 
denen die genannten Stellenvermittlungen zum 
beſten der Auftraggeber und Stellenſuchenden 
arbeiten. Es wird z. B. durch die von gebildeten 
Ständen ſtark benutzte Berliner Stellenvermittlung 
ded Vereins — W. 9, Köthenerſtr. 42 — fein junges 
Madden nach Italien, England, Rußland u, ſ. w. 
in Stellung geſchickt, ohne vorherige genaue Er- 
fundigungen fiber dad Wie und Wo der Stellen bet 
den Bereindmitgliedern in den betreffenden Landern 
und Stadten. Dah diefe Stellenvermitthingen, 
welche nur zum beften der Töchter unſeres Bolfes 
und durch die internationale Stellung des Vereins 
auc den Tichtern anderer Nationen dienen, mit 
grofen Opfern des Vereins gefilbrt werden, ijt 
ebenfo ſelbſtverſtändlich wie die Tatſache, daß in 
all dieſen Stellenbiireaud den Stellenjuchenden nad 
beften Rraften Hat und richtige Hinweiſe fiir die 
paſſenden Berufe geaeben werden. Dieſe Hinweiſe 
find naturgemäß von den Anforderungen des be: 
treffenden Landed, der Befabigung und dem Naturell 
der Suchenden abbiingig; der Berein der Freundinnen 
junger Madchen hat deshalb feine Stellenver- 
mittlungen dezentraliſiert, um jede Cinfeitigteit im 
Helfen und Beraten yu vermeiden. 

Deutſche Lehrerinnen jedod wenden fic) am 
beften direft an die Lebrerinnenvereine des Ane und 
Auslandes. Das Sentralbiircau des Allgemeinen 
deutfden Lebrerinnenvereins befindet fi Culm: 
ſtraße 5, Berlin. Dads Heim des deutſchen Lehre: 
rinnenvereins in England in 16 Wyndham Place 
London W., das des franzöſiſchen 8 Rue Villejust 
Paris, das des italienifden Bereind 110 via 
de Seragli Florenz, das Seim in Butareft ijt 
in Calea Heonei 32, Bukarest. 

Niemand follte durch Zeitungsanzeigen oder 
Agenten Stellen im Ausland annehmen. 


Fe 


12* 


180 





Nadrrud mit Ouellenangabe erlaubt 


* Die erjten weiblidjen Doftoranden pro: 
movierten an der mediginifden Falultät in Bonn. 
Es waren Frl. Hermine Edenhuizen und Frl. 
Frida Buje, beide ehemalige Schiilerinnen der 
Berliner Gymnafialfurje. Beide haben die Doftor- 
priifung summa cum laude beftanden. Die Pro: 
motion gab bem Defan der medijinifden Fatultat, 
Geh. Rat Fritſch, Gelegenbeit gu einer burd die 
» Kilner Zeitung” folgendermaen wiedergeaebenen 
Außerung gum Frauenftudium: „Amtlich und nicht— 
amtlich ift in den letzten Jahrzehnten das Frauen: 
ftudium von uns Brofefforen der Medizin viel er— 
Srtert worden, Stets habe ic) mich auf den Stand: 
puntt geftellt, dag, wenn die Frauen dadsfelbe 
(ciften, wie die Manner, fie auch dicfelben Rechte 
baben follen. Beſchränlt und ungerecht ijt ber, der 
anders denkt. Es fann uné Lehrern nur will: 
fommen fein, wenn unjere Subdrer die fleifigen 
Damen neben ſich fehen, die mit Feucreifer und 
ernjter Uusdauer fid) dem Studium widmen.” 
Wenn iiberall die Herren Dozenten fo vorurteilsfrei 
wiren, fic) durch die Leiftungen der ftudierenden 
Frauen in ibrer Stellung gum Frauenjtudium be: 
ftimmen zu fajfen, fo würde fidjerlich bie Sm: 
matrifulation aud in Preußen nicht mebr lange 
auf ſich warten laſſen. Sn Galle promovierte, 
gleichfallS an der mediziniſchen Fatultit, Frau 
Natalie Ferland. 


* Die tedjuifdje Hochſchule in München ift den 
babrifejen Univerſitäten infofern gefolgt, als fie 
die weiblichen immatrifulierten Studentinnen der 
Univerſität unter den gleichen Bedingungen (Erlaß 
der Einſchreibegebühr) zuläßt wie die männlichen. 

* Der Antrag des CEvangelijden Frauen: 
bundes an die Generaljynode, fie „wolle in 
woblivollende CEriviigung ziehen, inwieweit cine 
Erweiterung der Fraucnpflicten und -redjte im 
kirchlichen Gemeindeleben, ingbejondere auch cine 
Herangichung der Frauen gu den kirchlichen Wahlen 
und der Gemeindevertretung möglich und durchführbar 
fei,” ift von ibr als gur Beratung im Plenum 
ungecignet zurückgewieſen worden. 





* Sum Gemeindewahlredit der Frauen in 
Holland, Aus Anlaß ciner Revifion des Gemeinde: 
geſetes batten mebrere Abgeordnete der Sweiten 
Kammer der niederlindijden Generalftaaten cine 
Faſſung beantragt, die dad ative und pafjive 
Gemeindewablrect auf die Frauen .ausgedehnt 
bitte. Die niederländiſche Gemeindeverfaffung von 
1845 fagt nämlich, daß jeder volljährige und 
unbeſcholtene Hollander zu den kommunalen 
Würden und Amtern zugelaſſen werden ſoll. 
Die Feminiſten deuten nun, wie man es ſeiner— 
zeit in England mit der Bezeichnung ,,person® 
tat, den Ausdruck Holländer auf beide Geſchlechter. 
Die Regierung hat dagegen jest einen Zuſatzantrag 
gum Gemeindegefes eingebracht, wonach jened Recbt 
fich ausſchließlich auf Niederlander mannliden Ge- 
ſchlechtes beziehen ſoll. Dariiber fam es gu ciner 
langwierigen Debatte, die ſchließlich mit ber An— 
nabme des Regierungsantrages endete. Die 
liberale Partei, mit Ausnahme von 7 Abgeordneten, 
die ſich ber Regierung anſchloſſen, ſtimmte fiir die 
Frauenſache. Jn Holland ift damit dasſelbe geſchehen, 
wad in England 1835 ſchon geſchah, burd die Ber: 
leifung des Gemeindewablrechtes an die Frauen 
1869 aber wieder annulliert wurde. 


“Der Verein „Frauenbund“ in Griinn bat 
dem mabrifden andtage während deſſen jiingfter 
Seffion eine Denktſchrift iiberreicht, welche auf 
Grund cingebender Unterfuchungen die Mängel 
und Unguldnglidteiten des Siebtinderwefens dar: 
legt und cine Ddurchareifende Reform deSfelben 
fordert. Die LebenSverhiltnijfe der fogenannten 
Zieh⸗ oder Haltetinder, welche bis jest jeder be— 
hördlichen Uberwachung entbehren, find bie denfbar 
traurighten umd ibre Sterblichfeit erreicht infolge: 
deſſen cine erfebredende Höhe. Damit cine Beſſerung 
angebabnt werde, ſchlägt dic Dentſchrift folgende 
Mafnabmen vor. 1. Reform der Wrmenfinder: 
pflege im gangen Lande im Sinne einer behörd— 
lichen Uberwachung der Bflegeparteien; fiir die 
YandeShauptitadt Briinn: Cinfiibrung des Leipsiger 
Syitems mit Ziehlinderamt, Generalvormundſchaft, 


Aus Literatur und Kunſt fiir den Weihnachtstiſch. — Bücherſchau. 


befoldeten Bflegerinnen; 2. Errichtung cines Siiug: 
lingS{pitaled in Brinn; 3. Errichtung eines Er: 
aichungsbaufed fiir verwabrlofte Madden (fiir 
Knaben beſteht ein folded); 4. Startere Heran: 
ziehung der Frauen zur Waifenpflege und Teil: 
nabme derfelben am den Beratungen über die 
Organifation der Waiſenhäuſer. H. H. 


* Die Zahl der weiblichen Studierenden an 
Univerfitdten, Colleges und techniſchen Schulen in 
ben Bereinigten Staaten von Amerila war im 


181 


BVerhalinis gu der der mannliden im letzten Jahr— 
zehnt folgende (Zeitſchrift für Sozialwiſſenſchaft): 


1890 . . 10761 weibliche, 44.926 männliche 
1895... 19071° 62 053 ti 
1900 .. 26764 " 72 159 * 
1901 .. 27879 Fr 75 472 iv 


Die Zunahme ber weibliden Stubdierenden von 
1890 und 1901 ift alfo rund 155 vom Hundert, 
die Zunahme der männlichen Studierenden gleich— 
zeitig nur rund 70 bom Hunbert. 


i 


fius Literatur u. Xunst fiir den Weihnachtstisch. — Biicherschau. 


„Goethe“. Sein Leben und feine Werfe. 
Non Dr. Albert Bielſchowsky. In zwei 
Banden. Zweiter Band. Mit ciner Pbhotograviire 
(Goethe im 79. Lebensjabre von Sof. Stieler). Erſte 
bis dritte Auflage. Preis 7 Mark. (Munchen 1904, 
©. G. Beckſche Berlagsbucbandlung.) Es ift cin 
danfbares Gefühl, mit dem wir den lange erivarteten 
zweiten Band des Bielſchowslyſchen Goethe yur 
Hand nehmen. Seinen Berfaffer erreicht diejer 
Dank nicht mebr. Faft bis gum Schluß hatte er 
ibn gefordert, als ber Tod ibn abrief. Profeffor 
Smelmann und Brofeffor Hoethe in Berlin haben 
die Durchficht bed fertigen Manuffriptes, Profeſſor 
Theobald Yiegler in Strafburq die Vollendung ded 
Fauſtkapitels und den Schlußabſchnitt übernommen. 
— Eine große, ſorgfältige, ſeinem gewaltigen 
Gegenſtand nad Möglichkeit gerecht werdende Arbeit 
liegt auch in dieſem Bande vor uns. Wenn die 
Darſtellung nicht ſelten andersartig erſcheint als 
im erſten Bande, fo iſt es ber Stoff, der es fordert. 
Die Friſche des Erlebens, die beim jungen Goethe 
fo fortreißend wirlt, führt gu einem anderen Tempo 
der Behandlung als der ernſte feierlich werdende 
Schritt des in großartiger Einſamkeit dahin 
ſchreitenden Mannes. Als ſymboliſch mutet uns 
cine Notiz an, dic Bielſchowsly gibt. Mls der 
Uchtundviersigiibrige auf feiner Schweiger Reiſe den 
ſchlechten Weg vom Schwyzer Halen herabjteiat, 
ftdbnt er und „man bat die Empfindung, daf er 
verdrieflich und abgentattet in Schwyz angefommen 
fei.” 1775 ift fiber dew gleichen Weg notiert: 
Nachts zehn in Schwyz. Müd und munter vom 
Bergabſpringen. Voll Durſts und Lachens. Ge— 
jauchzt bid zwölf.““ 

Uber die Auffaſſung wird ſich der Leſer mit 
dem Buch ſelbſt auseinanderſetzen müſſen; er wird 
—— daß cS der Withe wert iſt. Dieſe Zeilen 
ollen nur fiir den Weihnachtstiſch auf einen 
würdigen Gegenſtand hindeuten. 


„Der Weg des Thomas Truck“, ein Roman 
in vier Büchern von Felix Holländer. 
S. Fiſcher Verlag (geh. 4 Mark, geb. 5 Mark). 
Unſer modernes geiftiqes Leben iſt dadurch 








gelennzeichnet, daß iiberall außerhalb der innerlich 
und äußerlich rangierten Geſellſchaft ſich Gruppen 


und Konventikel von Einzelnen zuſammenfinden, 
philoſophiſchen Abenteurern, die auf eigenen Wegen 
ihre Sebnfucht zu ſtillen ſuchen, die cin kühner 
Glaube an die Beſonderheit ihrer Perſönlichleit 
und ein ſtarler Wille zur Treue gegen ſich ſelbſt 
u Exulanten der Geſellſchaft gemacht bat. Bon 
Foden Gemeinſchaften ersablt das Leben der Groh: 
ftadt, erzählen die vielen Weltanfchauungs: und 
GMottfucderromane ber Gegenwart. Manchmal ijt 
eS nur cin Spiel, in dem der aller Lebensreize 
Uberbdriiffige voll nervifer Unraft cinen neuen 
Yntrieb fiir feine LebenSenergie fut, manchmal 
flingt ¢3 aus dieſen Worten wie das Schwerter: 
ſauſen eines gewaltigen Kampfes. Es gebt darum, 
gegen die Rieſenautorität eines unanfechtbaren 
exalten Denkens, das Triumphe über Triumphe 
feiert, das Innerliche, das Anfommenfurable, dad 
im tiefen Grunde allein Lebenswerte zu retten. 
Dieſer Kampf bezeichnet den Weg des Thomas 
Truck. Holländers Roman führt wie fein anderer 
zu den „Vagabunden des Lebens“, die da draußen 
por den Toren der anderen ihre heißen Kampſfe 
lämpfen. Und dazu iſt er mit allen Unaus— 
geglichenheiten, die in der Größe des Inhalts 
begründet ſind, eins der bedeutungsvollſten 
literariſchen Aunſtwerle der Gegenwart. 


„Das Suchen der Zeit“. Blätter deutſcher 
Zukunft, herausgegeben von Friedrich Daab und 
Hans Wegener. 1. Bo. Verlag von Karl 
Robert Langewieſche, Diiffelborf (Pr. 2,40 Mark). 
Die tleine Sammlung eingelner Aufſätze von den 
Herausgebern, vor Artur Bonus, Hermann Guntel, 
Heinr. Weinel u. a. fpicaelt dad Wollen der 
Richtung in unferem Meiftesleben, die vom Boden 
des Chriftentums aus einen Weq zur mobdernen 
Kultur ſucht. Cin feines Berftandnis fiir dad 
Wefen bes modernen Menſchen, fiir feine heimliche 
Sehnſucht und jeine lauten Kämpfe vereinigt fic 
bet den Mitarbeitern mit einer weiten und freien 
Auffaſſung des Chriftentums, in der das dogmatiſche 
Element zurücktritt binter das religidje. Go wird 
bas Bud) jedem Sinnenden etwas bieten fonnen, 
eS ftebt im Geifte des ſchönen Wortes 

was iff das Heiligite? Das, wads heut und eivig 


die Geifter 
Tiefex und tiefer gefiiblt, immer nur einiger macht.“ 


182 


„Leben ohne Lärmen“. 
Diederichs. Verlegt bet Eugen Dieberichs. 
Leipzig 1903. (Pr. br. 2,50 Mart, geb. 3,50 Mark.) 


Helene Voigt:Diederichs ift dem Dichter des Jorn Uhl 


ftammverwandt. Ihre Menfeben ſchreiten wie die 
feinen ſchweren Schrittes über die niederſächſiſche 
Heimaterde, der Nordſeewind rötet ihre Wangen 
und macht ihre Augen hell und klar, und die 
ſchweren Nebel machen ihren Sinn oft ſeltſam tief. 
Aus eigenem Frauenerleben ſchuf fie die Geftalt 
der kleinen Suſe in der erſten Geſchichte, deren fein 
andeutende Charakteriſtik an dic Zwiſchenland Kinder 
der Lou Andreas erinnert, nur daß in der Suſe 
eine derbere Einfachheit liegt. Aber auch fremdes 
Weſen erfaßt die Dichterin mit ſcharfem Auge und 
feinem ſeeliſchen Verſtehen, und den Heimatzug all 
der Menſchen, die ſie vor uns hinſtellt, weiß ſie 
wohl lebendig zu machen. Dabei fehlt es ihr nicht 
an der naturaliſtiſchen Schulung, die ihrer Dar: 
ftellung, bet aller Selbſtändigleit und Urfpriing: 
lichkeit, etwas ausgeſprochen „Modernes“ gibt. 

Die feine Ausſtattung, in der der Diederichsſche 
Verlag bahnbrechend geworden ijt, erhöht die Freude 
an dem kleinen Bande. 


„Krauslkopf““. Roman von Hermann Wette. 
Leipsig, Fr. Wilh. Grunow, Jn dem vorliegenden 
Bud, dem cine ernfthafte Beachtung fider fein 
diirfte, liegt uns ber erfte, in fich geſchloſſene Teil 
ciner Lebensgeſchichte vor, die durch bie grofe Zeit 
der Neubegründung ded Deutfden Reichs bindurd: 
führen und im Bewußtſein des Helden alle Feit: 
fragen ſich ſpiegeln laſſen ſoll. „Krauskopfs“ 
Kindheit macht dieſen erſten Teil aus. Die weſt— 
faliſche Erde — cin großes katholiſches Dorf im 
Miinfterlande iſt der Schauplatz bes Romans — 
ift in ibrer Cigenart auf das glücklichſte erfaft. 
Die Menſchen find bier noc nicht abgeſchliffene 
Typen, fondern ftarfe, ecige QYndividualitaten. 
Pjarrer, Kaplan, Dorfſchulmeiſter, Organift, die 
in dem Leben KrausfopfS cine Rolle ſpielen, 
find fejt auf die Fife geftellt. Wm feinften ift 
der „Patohm“ Krauslopfs, der Doltor ded Ortes, 
berausgearbeitet; der reiche Humor, ber ben Dichter 
fo fouverin mit {einen Figuren ſchalten laft, 
tommt bicr am meijten gur Geltung. — Wir 
diirfen auf bie weiteren Teile begierig fein. 

Sm Verlag von Fr. Wilh. Grunow erfdienen 
ferner die nachfolgenden Bande: 

„Feuer!“ Srinnerung aud bem ruſſiſchen 
Volizeileben von Alexander Andreas. Das 
Buch iſt weniger durch ſeine Kunſtform als vielmehr 
durch ſeinen Inhalt intereſſant. Ein ruſſiſcher 
Beamter ſchildert mit der eigentümlichen An— 
ſchaulichkeit und realiſtiſchen Kraft, die ähnlichen 
Schilderungen in Tolſtois „Auferſtehung“ eigen 
iſt, ſeine Erlebniſſe als Polizeiaufſeher in einem 
armen Viertel einer ruſſiſchen Stadt, Ganz periin: 
liche Schickſale find in die Yujtand Schilderung 
verflodten und geben dem Ganjen auc als Roman 
ein Sntereffe. 

„Skizzen ans unjerm heutigen Volksleben“ 
gezeichnet von Frit Anders Der beliebte Er: 
zähler bietet darin bereits bie dritte Sammlung 
feiner kleinen Erzählungen, deren Hauptzug ein 
frijcber Humor und ein freundliched Erfaſſen ded 
Kleinlebens im Familie und Städichen ift. 
eine dritte Sammlung von ſolchen Skizzen erſcheint, 
fo verftebt fic) von ſelbſt, daß fie nicht alle wertvoll 





Wenn | 





Aus Literatur und Kunft fiir den Weihnachtstiſch. — Biicherfdau. 


Von Helene Voigt: | find; manchmal wird die Komif mit billigen Nber- 


treibungen ergielt, bie ein wenig gezwungen wirlen. 
Uber einzelnes aus dem Band fann einem wohl 
cine fröhliche Stunde bereiten. 

„Der Marquis von Marigny’. Cine Emi: 
grantengefdicte von Julius R. Haarbaus. Sie 
qibt cin Miniaturbild cines Edelmanns des alten 
Regime, der fic) alS Erulant in der braven deutſchen 
Stadt Koblenz ſchlecht und recht durchhilft, immer 
feinen Ravalierstraditionen und dem weltmänniſchen 
Geſchmack an erlefenen Tafelfreuden getreu, 

Samtliche Bande tragen die geſchmackvolle 
Ausftattung des Grunowfden Berlags. 


„Souette nad dem Portugiefijden’’ von 
Elizabeth Browning, aus dem Engliſchen 
tiberfegt von Marie Gothein. Broſch. 5 Mart, 
eleg. in Leder geb. 7,50 Mark. Berlegt bei Eugen 
Diederichs, Leipzig. In einer wundervollen und 
foftbaren Musftattung, mit Qnitialen von Frit 
Hellmut Ehmcke, in denen fliegende Herzen und 
Dornenranfen zu feinen Gebilden künſtleriſcher 
Symbolif verflodten werden, erſcheint cines der 
tiefften und ſchönſten Denkmäler weiblider Liebes— 
Iprif in deutſcher Nbertragung. Nur gartefte Suter: 
pretationstunſt fonnte die Aufgabe unternebmen, 
die dunlelweiche Mufit dieſer Dichtung mit anderen 
Spradmitteln wieder gu erzeugen, obne zugleich die 
wunbderbare Einfachheit der Ausdrucksweiſe gu ver: 
legen. Bollfommen war fie nicht gu lofen. Wer 
die Aberſetzerin hat mit einer Feinfühligleit um 
dieje Loſung gerungen, wie fie nur die innigſte 
Rertrautheit mit dem Wejen der Dichterin und ein 
intenfiv fultiviertes Sprachgefühl geben fann. So 
ift bas fleine Buch in jeder Hinſicht ein erlejener 
kunſtleriſcher Genuß. 


„Dialog vom Tragiſchen“ von Hermann 
Bahr. Berlin, S. Fiſcher Verlag, 1904. Sermann 
Babr wird unferen Lefern als ciner der feinften 
Interpreten moderner Kunſt befannt fein. Die 
Eſſays dieſes Banres find philoſophiſcher Art, fie 
ftellen das Suchen eines künſtleriſch empfindenden, 
man fann aud fagen künſtleriſch denkenden Menſchen 
nach pbilofopbijder Oberivindung von Lebens: 
problemen dar. Nichts Syſtematiſcheſtrenges in der 
Richtung dieſes Denfens, aber cin intuitives Er: 
fafjen des Kerns, deS Wefenbaften in allen Pro: 
blemen, rind cin ficheres Empfinden der Macht in 
ibnen, die unferem perſönlichen inneren Leben an 
die Wurzel greift. Und dann feine Beobachtungen 
zur Pſychologie der künſtleriſchen Wirfung und des 
künſtleriſchen Schaffens in den Aufſätzen „Ekſtaſe“, 
„Philoſophie des Impreſſionismus“, und jum 
Schluß cine kleine Studie „der böſe Goethe’, die 
Bielſchowskys Auffaſſung in dem ſoeben er: 
ſcheinenden zweiten Band ſeiner Biographie voraus— 
nimmt. UÜberall die eigenartige Feinheit eines 
Geiſtes, deſſen Gedanken an ſich feſſelnd und reizvoll 
find, ob wir ihnen objektiv zuſtimmen oder nicht. 


Sämtliche Werle von Marie Eugenie delle 
Grazie. Sn Y Banden oder 30 weadentlicen 
Vicferungen, jede durchſchnittlich 5—9 Bogen gu je 
1 Mark. Verlag von Breitkopf & Hartel in Leipzig. 
Cine Gefamtausgabe der Dichterin ift cin literariſch 
ficherlich danlenswertes Unternebmen. Bis jest 
liegen der J. und IIL Band vor, entbaltend das 
Cpos NobeSpierre und Erzählungen unter dem 
Titel Bom Wege. 


Mus Literatur und Kunſt fiir den Weihnachtstiſch. — Biicherfdan. 


Eugenie delle Grazie ijt cine felten vielfeitige 
Dichterin. Ihr Können beherrſcht, fait fonnte man 
ſagen, gleichmaßig Epos, Lprif, Rovelle und Drama, 
Ihre fiir eine Frau cigentiimlide Objettivitit er- 
innert an Marie von Ebner Eſchenbach. Mit ibr 
teilt fie cine Rraft plaftifder Geſtaltung, die ſich 
aud) an frembden, ſubjeltivem Erleben fernliegenden 
Stoffen bewährt. Am frappantejten zeigt das ibe 
Epos Robespierre. Vollsſzenen voll heimlich 
grollender Drohung und voll entfeſſelter Wut und 
Leidenſchaft, St. Antoine und Berſailles erſtehen 
vor uns mit glühenden Farben und klingendem 
Leben. Auch die Geſchichten und Marden der 
Sammlung „Vom Wege“ laſſen die ſichere Technit 
und die reiche Eindrucksfahigkeit der Dichterin 
bewundern, und zugleich ihren friſchen Humor und 
die Feinheit ihrer iyriſchen Stimmungen. UÜberall 
ſchöpft ſie aus einer Fülle des Sehens und Erlebens, 
wie ſie wenigen zu Gebote ſteht, und überall vermag 
fie dieſe Fülle durch cine biegſame, bildträftige 
Sprache reich und volltönend yu verlorpern. — 

M. E. delle Grajie ftebt, wie wenige moderne 
Schriftſteller, außerhalb der Richtungen; fie vermag 
vielen etwas gu geben, und darum wird die vor: 
liegende Geſamtausgabe der Cinfebr in viele Häuſer 
ficber fein. 

„Das Süuderglöckel“. Bon Peter Rofegger. 
Pr. 4M. (Leipsia, ¥. Staadmann.) Ein „moraliſches“ 
Yefebud, aber aud Kunſtlerhand. Was an Runjt: 


fiinden, Wobnungsfiinden, Aleiderfiinden, an Sprad: | 


und Siteraturfiinden bei uns fein Weſen treibt, 


was „das deutſche Laſter“, dex Trinfteufel ver: | 


ſchuldet, Pietatlofigteit und Prozeßführen, Robeit 
und Geiz, dad alles erhalt fein Geſchichtchen und 
feine Betrachtung, und aus Beter Roſeggers Munde 
hort man das alles gern. Iſt einzelnes etwas 
dogmatiſch, fo ijt anderes wieder aus dem friſcheſten 
Leben Herausgenommen. Für einzelne Stücke, wie 
„die Siinde des Brautigams“, bat die Fraucnivelt 
dem feinfiibligen Dichter bejonderd yu danfen. 


„Eduard Mörikes Briefe’. 1. Band (1816 
bis 1840). Ausgewählt und herausgegeben von 
Karl Fiſcher und Rudolf Preuß. (Berlin, 
Ctto Elaner), Das Werk, deffen erfter Band vor: 


licat, wird noc eine cingebende Wiirdigung erfabren. | 


Der Swed dieſer AUngeige ijt nur, es ale Weihnaches: 
gabe ganz befonders ju empfehlen. 


Die Stadt mit lidjten Tiirmen’. Noman 
yon Toni Sdwabe. Umſchlag und Cinband 
von Frz. Chriſtophe. Fiſcher Verlag, Berlin. 


— 


— 


bd a8 : : . 
(Geh. 2,50 Mart, geb. 3,50 Mart.) Die Geldichte | fabrungen nicdergelegt, fiinftlerifdes Ringen und 


ber frau, die mit der „großen Sehnſucht“ im 
Herzen, der Sehnſucht nach der feinen, iby gemafen 


Andividualitat, die fie ſeeliſch verftebt und ergänzt, 


den minder feinfiibliqen Mann erwablt und ibn fib 
fiir furge Seit zu verflaren weiß, ift nicht oft mit 
feineren Farben ſtizziert worden. Biel innerlic 
Erlebtes, viel gebcimes Poetenleid mag bier gum 
Ausdrud gefommen fein. Unmerllich faft aleitet 
in der Schilderung hauptſtädtiſcher geiſtreicher 
Cercles die Berfajjerin aus der Spbhare ibrer Heldin 
in die cigene hinüber. Was fie fiber den Wangel 








an Ehrfurcht, die ſchlechten Inſtinlte des Taged: 


Leſepublilums ſagt, über das Ringen derer, die in 
ber Erde wurzeln, die fiir die Ewigkeit ſchaffen 
midten, ift echt und erlebt. Und fein und echt ift 
aud der Schluß, der dem billigen Anscinanderlaufen 


183 


aus gebundencr Ehe die Erinnerung entgegenbalt: 
bas Leben, das fie gelebt bat und von dem fie fid 
nie befreien fann, balt fie feft. Und die Stadt 
mit den lichten Tiirmen verfintt. 


„Nils Tufeffon und feine Mutter’. 
roman von Guftaf af Geijerftam. 
und Cinband von Fritz Arbeit. S. Fifer Verlag, 
Berlin. (Geb. 3,50 Marl geb. 4,50 Marl.) Das 
Thema des Romans: Blutfdande und Mord, würde 
fiir ben fenfationellften Kolportageroman ausreichen. 
Und dod ift bier nichts von Senfation, nichts von 
Marche, nits von fiinftlid) erregter äußerer 
Spannung. Das graufige Verbreden wird ans feinen 
pſychologiſchen Borbedingungen entwidelt und mit 
der eridnitternden Wabrbaftigfeit in cinfachem Auf— 
bau bis zur Vollendung gefiibrt, wie wir fie abntich 
vielleicht nur in Doftojewstis Rastolnifow finden. 
Die ungefuchte Cinfachbeit der Sprache, wie fie einer 
reden würde, der Miterlebtes rückſchauend berichtet, 
die Cinfachbeit der Motive und der ſzeniſchen Mittel, 
bie bas gange Antereffe der inneren Entwidlung pu 
wendet, fteigert die Wirfung: man ftebt bis jum 
graufigen Ende unter dem Bann eines Dichters. 


„Moraliſche Unmiglidfeiten’ und andere 
Novellen von Paul Heyſe. J. G. Cottaſche 
Buchhandlung Nachf. G. m. b. H. Es iſt fiir uns 
nicht immer leicht, uns vom modernen pfychologiſchen 
Roman zu Heyſe oder Spielhagen zurückzuſinden. 
Die ſtarlen und intenfiven Eindrücke, mit denen 
die gang moderne Erzähllunſt auf uné wirft, laſſen 
die Novelliftif der Generation vor uné mit ibren 
jo unendlic) viel cinfacheren Problemen blak und 
couliffenbaft erfdeinen. Und dod ijt es auc 
etwas um Ddiefe reine Luft am Fabulieren, die hier 
aud) einfache Motive ergreift und fie in das 
Gewand eines cleganten und gepflegten Stile 
{leidet. Den Reis dieſer Glatte und Feinheit 
findet man aud in der letzten RNovellenfammiung 
wieder, die fonft vielleidht den befonbderen An— 
ſprüchen der Gegenwart am wenigften gu bieten bat. 


Baul Heyfe, Romane und Novellen“. Wobl: 
feile Ausgabe. Erſte Serie: Romane. 48 Lieferungen 
gu je 40 Pf. Alle 14 Tage cine Lieferung. (Verlag 
ver 3. G. Cottaſchen Bucbandlung Nachfolger 
@. m. b. H. in Stuttgart und Berlin.) Bon der 
woblfcilen Musgabe von Baul Hevjes Nomanen 
liegen die Licferungen 34—42 vor. Sie enthalten 
den Schluß oes fechsten und den Anfang des fiebenten 
(vorlesten) Bandes dieler fobonen neuen Ausgabe 
und fitbren den grofen Roman ,,Werlin”’ weiter, 
Yn dieſem Roman hat Hevje cigenfte innere Cr: 


Bauern: 
Umſchlag 


Schaffen verkörpert, das ibm ſelbſt gum Erlebnis 
geworden iſt. Die diiftere außere Geſtaltung der 
Geſchicke ſeines Helden wirlt freilich ſeiner eigenen 
Laufbahn gegenüber wie die Komplementärfarbe. 


„Frühling“ von Per Hallſtröm. Autoriſierte 
Uberſezung von Franzis Maro. Inſelverlag 
Leipzig 1908. Per Hallſtrom iſt wie wenige cin 
Dichter des Innerlichſten. Nicht fo, da er dads 
Wirkliche myſtiſch verflüchtigt, fondern gerade, indem 
er von cinem flarjicbtigen Nealismus aus fich den 
Weg nad innen fut, die heimlichiten und leifeften 
RNuancen, das letzte Zittern einer flüchtigen 
Stimmung nod mit der Sprache feftyubalten, mit 
Worten gu malen fucht. Cin ſeeliſches Crlebnis 
innerliditer Art gibt den Inhalt. Cin Kunſtler 





184 


erareift Befis von einem Weibe, tweil ihr Wefen 
bie Konjeption zu cinem Werf in ibm auffteigen 
lief, und weil er ibrer bedarf, um diefem innerlich 
Geſchauten Form ju geben. Dabei betriigt er fie 
und fich felbft um dad, was fie ſich menſchlich find; 
der Künſtler in ibm gebt falt und fühllos an der 
zarten Seele voriiber, die nad) ibm bie Arme aus: 
ftredt, fie ijt ibm Motiv, er ftellt fie vor fic bin 
und ftudiert fie wie etwas Fremdes. Go totet er fie. 
Und dann wacht er auf und weiß, wads er ihr und 
ſich felbft getan bat. Qn dieſes Schickſal flutet 
von allen Seiten wogendes Leben binein. Die 
ſeeliſche Unrube, die ſchmerzhafte und dod 
begliidende hellſeheriſche Eindrucksfähigleit des 
modernen Menſchen hat fein Gud nod fo ſtark 
und reich wiedergeſpiegelt. Die Uberjesung wird 
den feinen Mufgaben, die ibr dieS Buch ftellte, im 
ganzen gerecht, obwohl es gerade bier natiirlic ijt, 
daß vieles verloren gebt. 


* 


Xinderbiicher. 


Unter den Neuerſcheinungen dieſes Jahres ift 
nicht viel, dem man fo warm zuſtimmen fonnte, 
wie dem Knecht Ruprecht oder den Blumenmarcden 
von Streidolf. Im Verlag von Schafſtein in Coln 
erſchien „Rumpumpel“ von Paula Debmel. 
Die Verſe zeigen cine Dicbterin, die wie feine 
anbere ben Ton des Minderliedes in Form und 
Anhalt zu treffen weif. Der leichte, wohlllingende 
Fluß der Worte, bie finnliche Kraft des Ausdrucks 
und das freie Spiel der Erfindung ficern den 
Verſen ibren Cindruc auf das Kinderobr und den 
Rinderfinn, Nicht fo unbedingat einverftanden fann 
man mit den Bildern fein. Es ift cin fruchtbarer 
Gedanke geweſen, das Kinderbuch in der Einfachheit 
der Linien und Farben dent Seben bed Kindes 
anjupafien. Es wird ſehr ſchwer jein, die Grenze 
qu finden, bids gu der dieſe WAnpaffung gu geben 
bat. Hier febeint fic nun doch iiberfebritten gu fein, 
wiibrend anbererfeits der phyfiognomifde Ausdruck 
zuweilen mebr bem fiir Rarifatur gejdulten Auge 
des Erwachſenen als dem Verftandnis bed Kindes 
entſpricht. Bor allem möchte man gegen den 
„Herrn Jeſus“ proteftieren, der dba auf dem cinen 
Bild mit einer Brille auf der Raſe am Pult ftebt 
und die artigen Kinder cintragt. Obne pedantijd 
ciner naiven Herabziehung der Stoffe in die Bor: 
ſtellungsſphäre des Kindes ihr Hecht beſchränken yu 
wollen, laſit ſich bier doch fragen, ob es richtig iſt, 
ben Kindern alles in died AlltagSlicht zu riiden, 
fic zu gewöhnen, fic) mit allem ſozuſagen an: 
zubiedern. Es fchimmert bier aud von feiten ded 
Erwachſenen cin gewiſſes bewußtes Sichhinwegſetzen 
über allerlei Pietätsworte hindurch, das in ein 
Kinderbuch nicht eindringen ſollte. 

„Drei Marden’, Erzählt und mit ſechs bunten 
Bildern geſchmückt von Marie von Olfers. 
Berlin W. 35. B. Behrs Verlag. Die Marden, 
die in zweiter Auflage erſcheinen, haben manches 
Anmutige. Aber ihre Kindlichleit iſt zuweilen cin 
wenig geſucht und weichlich, und es feblt ihnen 
an Urſprünglichkeit. Die Bildchen dazu find fein 
und grazids in der Seichnung und nicht obne Humor. 

Sur Freude“. 150 Geſchichten und nod) cine. 
Von Helene StHtl und Frau Suliane. Ravens: 
burg. Berlag von Otto Maier. Preis 3,50 Mark, Das 
ijt cine gang hübſche Sammlung kleiner Erzählungen, 





Aus Literatur und Kunſt fiir ben Weihnachtstiſch. — Bücherſchau. 


bie vielleicht von einer febr puriſtiſchen Jugend⸗ 
fcbriftentritif eines leiſen moralifierenden Anſtrichs 
wegen nicht durdgelafjen werden, denen aber doc 
Peter Rofegger ein freundliches Geleitiwort geſchrieben 
bat. Sie werden von Kindern ficer gern gelefen 
werden, nur milfte nicht gerade gleich anf dem 
Titelblatt ſtehen „für artige Kinder’. 

Tier-A BC, Cin Bilderbuch von Henrh 
Albredt. Eflingen und München. Berlag von 
3. F. Schreiber. Ein Bilderbucd alten Schlages 
mit befannten Fabel und Klapphornverfen, die auf 
künſtleriſche Vollkommenheit feinen Anſpruch machen. 
Die Bilder find nicht ſchlecht. Dem älteren Kinder: 
buchcharakter entſpricht aud Ri⸗Ra⸗Rutſch, Kinder: 
lieder (B. Behrs Verlag, Berlin), mit anfprucs- 
fofen Schwarz-Weiß-Bildern und friſchen netten 
Berjen. Gang verichlt ift aber ,, Dads fröhliche 
Tierbuch“ von Egon H. Strasburger und Theodor 
Eel (Eduard Koc, Minden). Die Geſchichten 
zum großen Teil wertlods, die von dem Pferd 

obrigo einfach rob, die Rarifaturen ibrer Art 
nach fiir Kinder ungeciqnet. Für grifere Kinder 
find die Wusgaben der Heldengefdhidjten des 
Mittelalters von Baffler zu nennen, die im 
Verlag von H. Hartung u. Sobn, Leipzig, erſcheinen. 
Jn einfacher Ausftattung zum Preife von 1,25 Mart 
und 1,50 Mart bieten fie die Frithjoffage, dic 
Rolandjfage, die Nibelungen we. Cine febr hübſche 
Auswahl ans den Deutſchen Sagen von den 
Briidern Grimm ift in ſchöner Ausftattung in 
der ,Damburgifden Hausbibliothet” bei Wlfred 
Janſſen in Hamburg erfebienen. 

Fir ben Weihnachtstiſch möchten wir vor allem 
wieder bintweifen auf die friiber ſchon von uns 
bejprodencn Werle: fiir die Keinen auf Kreidolfs 
»Blumenmarden”, , die Wiefengwerge”, 
„die [hlafenden Baume”, Knecht Rupredt, 
Fife Buge (ſämtlich bei Schajftein & Co., Cin), 
auf das Qugendland (Verlag von Gebr. Künzli, 
Zürich). Für die reifere Jugend machen wir u. a. 
auf die MWusgaben der Kinder- und Sausmarden 
von Grimm und des Robinſon Crujoe aufmerffam, 
bie beide in ciner unverfiirjten Ausgabe der 
Deutiden Verlagsanftalt Stuttgart (val. die Be: 
fprechungen im Qanuarbeft 1903) erfebienen find. 
Auch auf das Büchlein von Helene Adelmann: 
„Aus meiner Kinderzeit“ (YL. Oebmiate, Berlin) 
fet nocd cinmal verwieſen. Es ift eine Jugend— 
ſchrift im beften Sinn, weil fie nicht künſtlich fiir 
die Jugend zurechtgemacht ift, fondern durch ibre 
Matiirlichteit und Friſche Kindern wie Erwachſenen 
gleiche Freude machen fann. — Cine grofe, unbedingt 
suverlaffige Auswahl wirklich guter Sachen bictet 
das Jugendſchriftenverzeichnis der Vereinigten 
Prüfungsausſchüſſe, das von Herrn Wilh, Senger, 
Hamburg 22, Wagnerftr. 53, ju beziehen ijt. 


„Arnold Böcklin“. Nach den Crinnerungen 
feiner Siiricber Freunde von Adolf Frey. Mit 
cinem Jugendbildnis Bédling von Rudolf Koller. 
Stuttgart und Berlin 1903. J. G. Cottaſche Buch: 
handlung Nachf. G m. b. H. Das Bud gibt auf 
Grund cines reichen unveröffentlichten Materials 
cine Schilderung Böcklins in feinen Siiricer Jahren 
(1835-1892). Aus dem reife feiner nachften 


| Freunde ftammend, zeigt fie eine [cbendige Friſche 


und Intimität fowohl in der Auffafiung des 
Kiinftlers als des Menichen, die fie höchſt anziehend 
und feſſelnd macht. 


Mus Literatur und Runft fiir den Weihnachtstiſch. — Bücherſchau 


„Höhenluft“. Novellen von Heloife von 
Beaulieu, Dresden und Leipzig. Berlag von 
Heinrid) Minden. Bn den gewandt und fliiffig ge: 
ſchriebenen RNovellen, deren dufered Geprage an 
den Konverfationsroman erinnert, ftedt doch menſch— 
lid und künſtleriſch mehr Ernft, alé in der fonft 
in dieſem Gewande auftretenden leichten Inter: 
baltungSleftiire. Der Ernjt, der in der Erfaffung 
ber Ronflifte wie in der Charafterijtif yum Aus: 
druck fommt, gibt jeder von ibnen cine tiefere 
Farbe und zeigt, daß die Berfafferin aud zu 
größeren Aufgaben reifen wird. 


„Der Mutter Gedeulbuch“. Cin Buch fiir 
wichtige Aufzeichnungen aus dem Familienleben, 
mit Spriicen und Ausſprüchen fiir jeden Tag, ge- 
fantmelt von ciner Mutter. Verlag von Cugen 
Sutermeifter, Bern 1904. Das hübſch ausgeftattete 
Buch bringt cine reiche und gut geiwablte Ausleſe 
von Dicterworten und <fpriiden und michte fiir 
feinen Bwed gang beſonders geeignet fein. 


„Das Muſeum“. Cine Anleitung pun Genuß 
der Werke bildender Kunſt. Herausaegeben von 
RidhardGraulund Ridard Stettiner. Verlag 
von W. Spemann in Berlin und Stuttgart. Es gibt 
feinen befferen Bilderattas zur Cinfiibrung in die 
Kunſt aller Zeiten alS die in der Auswahl und 
Ausfiibrung der Reproduftionen, wie in den hinzu— 
gefügten furgen tertlicben Unmerfungen gleich aus: 
gezeichnete Zeitſchrift, auf die wir immer wieder 
verweiſen. Für jeden kunſtgeſchichtlichen Kurſus, 
wie zur eigenen Fortbildung bietet fie bad vorzüg⸗ 
lichſte Material zu einem ganz außerordentlich 
geringen Preiſe und bequemen Bezugsbedingungen. 


„Künſtlerſteinzeichnungen“ (B. G. Teubner, 
Leipzig). Su wem die Künſtlerſteinzeichnungen als 
alte Wefannte fommen, der wird die Lester von 
ibnen: , Das Tal” von Frang Hein, „Herbſt in 
der Cifel” von Hans von Volkmann, „Blühende 
Kajtanien” von Strid-Chapell mit befonderer 
Areude und Überraſchung begrüßt haben. Sie zeigen 
die Vorzüge der langen Reihe ibrer Vorgänger in 
nod) gefteigertem Vilage. dic ausdrucksvolle kräftige 
Harmonie ber Farben, die maleriſche Sinnlichfeit 
der Stimmungen. Es ift cine fo reine, frobliche 
und jtarfe Runft, die aus vielen der Riinjeler: 
ſteinzeichnungen fpridt, daß man fic) nur immer 
wieder freut, Daf gerade ibre Sprache nun gu den 
Taufenden und Millionen dringen fann, zu denen, 
an die man bet dem Begriff „das deutiche Haus” 
denkt. Gerade auf diefe lezten Bilder möchten wir 
bejonders binweifen: die kühne rotgelbe Farben: 
fompbonie, die in bie glasklare Herbſtluft von Bolt: 
manns Gifellandjdaft bineintint, die feinfiiblig 
erfaßte, ſeltſame Zwielichtſtimmung der duntlen 
Laubmaſſen auf dem Bilde von Strich Chapell, die 
Mit thren Blutenlerzen vor dem gelben Abendhimmel 
ſtehen, und unter denen man in die dämmrige 
Dorfſtraße hineinſchaut, und die eigenartige Kom— 


pofition des Wieſentals bet Hein, wo das jonnen: | 


bejchienene Lichtgrün der Wieje und die ſchimmernden 
Birlenſtämme cinen leuchtenden Maientag malen. 





Und ebenfo kräftig in Erfindung und Ausführung 


ift Marie Orthebs „Herbſtluft“: fompatte Baum: 


filbouctten iiber einem dden Horizont mit ſchweren 
bangenden Wolfen darüber. — Der Preis fiir das | gu bringen, voll entiprecden fann. 


Blatt betrigt 2,50 Mart. 
5 Blattern foftet 12 Mart. 


ine Rartonmappe mit 








Vigée- Lebrun: 


Mutter und Kind, (Doppelblatt.) 
Berlag dex Geſellſchaft sur Verbreltung Maffifder Aunſt. 
G. m. 6, H. 


Wen eS um cine wirklich vornehme und zu— 
gleich billige Neproduftion tlaffifmer Kun ft: 
werfe ju tun ift, der fet auf dic von der Gefell: 
ſchaft zur Berbreitung klaſſiſcher Kunſt 
unternommene „Wandſchmuck⸗ Sammhing vor 
Meiſterwerken klaſſiſcher Kunſt“ aufmerkſam ge: 
macht. Der Herausgeber dieſer Sammlung, die in 
Photogravüren nad Original⸗Aufnahmen Haupt: 
werke der Malerei vom 15. bis zum 19. Jahr— 
hundert umfaßt, ijt Profeſſor Dr. v. Loga, deſſen 
Name fiir Wuswabl und Ausführung von vorn— 
herein biirgt. Es find dabei vor allem folde 
Werle beriidficdtigt, die fic nach Motiv und 
deforativer Wirkung vorzüglich gum Zimmerſchmuck 
eignen. Uns liegt der Ruisdalſche Eichenwald 
und das befannte Bild: Mutter und Kind von 
Mme. Vigée-Lebrun als Doppelblatt vor. Wir 
bewundern, wie fein die Töne der Photogravüre 
ber unverglcichlichen Weichheit, der feinen Anmut 
der Franzöſin zu folgen vermigen, wie ſchön fie 
bie tiefen, warmen Schatten, die fraftig fontrajtterende 
Helle auf dem entlaubten Stamm im Bordergrund, 
bas damumernde Licht des durchſcheinenden Himmels 
in der Ruisdalſchen Landſchaft wiedergeben. Der 
Preis der Bilder (10 Warf das cinfade Blatt 
73 x 95 cm; 20 Mart das Doppelblatt 90 x 110 em) 
ijt im Verhältnis gu der Größe und Wusfiibrung 
billiger als irgend welche fonjt im Kunſthandel 
befindlichen Reproduftionen, fo daß bad Unter: 
nehmen auch in diefer Hinſicht feiner Aufgabe, die 
flajfifde Kunſt weiteren Volfstreijen in das Haus 
Man verlange 
sur Ausivabl den illuſtrierten Katalog vom Verlag 
dev Geſellſchaſt, Berlin W., Elßholzſtr. 15. 


186 Mus Literatur und Kunft fiir den Weihnachtstiſch. — Bücherſchau. 


„Meyers Hiſtoriſch⸗· Geographiſcher Kalender 
fiir 1904, VIII. Jahrgang. Mit 12 Planeten: 
tafein und 354 Landfdafts: und Stidteanfidten, 
Portrats, fulturbiftorifeen und kunſtgeſchichtlichen 
Darftellungen fowie einer Jahresüberſicht (auf dem 
Riiddedel). Sum Wufhangen als AUAbreiffalender 
cingeridtet. (Preis 1,75 Marl) Berlag des 
Bibliographiſchen Inſtituts in Leipzig und Wien. 
Der vorliegende Kalender hat fich längſt cinen 
folden Chrenplag unter ſeinesgleichen eriworben, 
daß eS unnötig erſcheint, ſeine Borgiige noc 
beſonders zu erwähnen. In bezug auf die died: 
jährige Ausgabe ſei nur die hübſche äußere Aus— 
ſtattung beſonders hervorgehoben. Es ſind faſt 
durchweg neue Bilder aufgenommen. Sie zeigen 
in bunter Reibe Helden der Geſchichte, der Wiſſen— 
ſchaft und der Yiteratur, Bolfertypen und Landſchaften 
aller Sonen, Werle der Natur und Kunſt. Deder 
Tag bat fein bejondereds Bild; kurze überſichtliche 
Weleitworte weiſen auf die Bedeutung des Bildes bin, 


Meyers Grofes Ronverjations - Lexifon’’. 
Cin Nachſchlagewerk des allgemeinen Wifjens. 
Sechste, gänzlich neubcarbeitete und vermebrte 
Auflage. Mebr als 148 000 Artifel und Ber: 
weifungen auf über 18 240 Seiten Tert mit mebr 
als 11000 Ubbiloungen, Karten und Planen im 
Tert und auf iiber 1400 Siluftrationstafeln (darunter 
etwa 190 Farbendrudtafeln und 300 ſelbſtändige 
Kartenbeiflagen) jowie 130 Tertbeitagen. 20 Bande 
in Halbleder gebunden zu je 10 Mark (Verlag 
des Bibliographiſchen Inſtituts in Leipzig und 
Wien.) Unter den Artifeln des focben erſchienenen 
vierten Bandes von Meyers Grofem Ronverjations: 


Yerifon diirfte der über 4'/, Bogen fich bingiehende | 
| gu iwerben, 


Urtifel „Deutſchland“ befonders intereffieren. Ab— 





geſehen von den geographijden und wirtſchaftlichen 
Ubjehnitten bat der Wetifel cine hervorragende Bes 
deutung in der flaren und furgen Behandlung der 
deutſchen Gefchichte bis in unfere Tage binein. Bon 
den 18 bem Artifel „Deutſchland“ beigegebenen 
Karten und Tafeln zeigen vier die Hauptepocben der 
deutſchen Geſchichte. Um den fiir dad Verſtändnis 
der deutſchen Entwickelung beſonders wichtigen 
Epiſoden der Befreiungstriege, der Zeit des Deutſchen 
Bundes und des deutſch franzöſiſchen Krieges nod mehr 
Beachtung zu ſchenken, find dieſe Abſchnitte in eigenen 
Artikeln behandelt. Die Entwickelung des deutſchen 
Bolles, die nach außen auch in ben Artileln über 
Deutfd) Oftafrita, Deutſch⸗Sudweſtafrila und China 
gum Wusdrud fommt, bebandelt nod) intenfiver 
der Urtitel „Deutſches Volk’, im dem nad Er: 
lauterung der ethnograpbifden Bildung des deutſchen 
Bolles deffen Wusbreitung in die Nacbargebicte 
bis in ferne Lande beſchrieben iſt Die Beftrebungen 
bes deutſchen Schulvercins, das Deutſchtum im 
Ausland durch Scbulen gu ftarfen, findet in den 
Artikeln „Deutſche Sdulen im Ausland“ und 
Deutſcher Schulverein“ Wiirdigung. Ebenjo maden 
wir aufmerfiam auf die Urtifel „Deutſche Sprache", 
„Deutſche Literatur”, „Deutſche Verokunſt“, 
Deutſche Philologie“ und „Deutſches Recht“. Die 
Kunſt findet, ſoweit nicht auf die unter „Deutſchland“ 
zu findende deutſche Kunſt hingewieſen werden ſoll, 
ihre Rechnung in dieſem Band vor allem durch den 
Artikel ,,Chriftliche Altertumer“, dem zwei ſehr gute 
Holzſchnittafeln beigegeben find, und den die chineſiſche 
Runft behandelnden Teil des Artifels , China’, der 
gleichfallS mit zwei Tafeln geziert tft. Die Knapp: 
Heit und Klarbeit famtlicher Artikel verdient auc 
in dicfem Bande wieder rühmend bervorgeboben 
(Fortfegung der Bucherſchau ſ. S. 184.) 





— 





Das qute Beiſpiel. 


Erſt left, was auf der Flafthe 
ftebt, 

Dann will id) meinen Mund 
Euch zeigen, 

Und, wenn Ihr deſſen Schön— 
heit ſeht, 

Macht Ihr Euch gleich „Odol“ 
zu eigen! 








Runſtſtickerei ausgeſührt auf der Original- Singer -Rabmafdine 
der Singer Co. Nahmaſchinen MttGef. Berlin W., Leipjiger|tr, 92, 


187 


188 Aus Literatur und Kunft fiir den Weihnachtstiſch. — Bücherſchau. 


„Friedrich Spielhagen Romane — Rene 
Folge’. — Woblfeile Licferungsausgabe in 50 Heften 
A 35 Pf. Alle viergehn Tage eine Lieferung (Verlag 
von L. Staadmann in Leipsig). 

Die Lieferungen 23 bis 30, welche uns vor: 
liegen, bringen den Schluß bes Romans „Opfer“, 
fowie dic vollſtändige Novelle „Fauſtulus“, 
7. Auflage, und den größeren Teil der Novelle 
„Herrin“, 7. Auflage. — Beide bringen altgewohnte 
Motive. In Fauſtulus dürften bie Schilderungen 
der Landſchaft, auf der als Hintergrund ſich die 
Heinen Geſchicke Heiner Menſchen abſpielen, den 
Spielhagen:Verehrern den Dichter ber erſten Romane 
wieder nabe bringen. Die alte Kraft, eine Landſchaft 
gu täuſchendem Leben gu eriveden, bewährt fich bier 
aufs neue. 

Im gleichen Verlag erſchien ferner foeben: 

7 Mm Wege“. Vermiſchte Schriften von 
Friedrich Spielbagen. Die Sammlung von 
Auffaigen hauptſächlich literarifden, aber aud 
politiſchen Inhalts geigen in anjiehendjter Weife 
Spiclhagen als Qournaliften. Die Geiftestimpfe, 
bon denen die Romane feiner beften Zeit fpreden, 
ragen aud in dieſe Sammlung binein, beſonders 
in die autobiographiſchen Stiide Die literarifden 
Eſſays zeigen uns cine Perfinlichleit, bie auch im 
Werten des Frembden eine ganz cigene, felbftindige 
Stellung fudt. Jedenfalls michte die Sammlung 
flir jeden Gebildeten von höchſtem Qntereffe fein. 


„Die Freude“. Cin deuticder Kalender fiir 
bas Jahr 1904. Berlag von Karl Robert Lange: 
wieſche, Düſſeldorf und Leipzig. Der feine kleine 
Kalender ftebt dieSmal unter dem Zeichen von 
Morig von Schwind und Eduard Miurife. Briefe 
von Schwind an Mörike, cine Fülle ſchöner kleiner 
Reproduktionen von Schwinds unvergänglich heiteren 
und ſo zart humorvollen Bildern erinnern den 
Leſer daran, daß wir im Januar 1904 Schwinds 
100jährigen Geburtstag feiern. Und ibm geſellt 
ſich Mörike, der modernſte und reinſte Lyriler der 
deutſchen Spatromantif, mit neu herausgegebenen 
Briefen und ciner Auswahl feiner ſchönſten Gedichte. 
Cine ſchöne Zugabe find die Aphorismen aus 
Ernft Morig Arndt und Multatulis Ehepredigt — 
es ift aber ſchade, daß fie gelürzt ift. ,, Die Freude” 
bietet auch dieSmal wieder cine fein gewählte und 
reide Gabe aus dem Scat echter deutider Kultur. 


„Liſelotte von Reckling“. Roman von Gabriele 
Reuter. Umſchlag und Cinband von Mar Kutſch— 
mann. S. Fifther Verlag, Berlin. (Geb.4 Mark, geb. 
5 Mark.) Dies Buch ijt feinem Stoff nach nicht 
geeignet, dic Schriftſtellerin von ibrer ſtärlkſten 
Seite qu zeigen. Bet der Heldin felbft verjagt ibre 
feine pſychologiſche Kunſt nicht, die gerade in dem 
oft Unvermittelten, Unausgeglidenen, in den vielen 
Unfingen und ſcheinbar zuſammenhangsloſen Cingcl: 
gitgen, aus denen Wefen und Schickſal tbrer Menſchen 
ſich zuſammenſetzt, das Lebenswahre oft fo wunderbar 
trifft. Aber da verſagt ſie und muß ſie verſagen, 
wo ſie den Propheten, an deſſen Schickſal Liſelotte 
ihr Leben geknüpft hat, und ſeine Bewegung ſchildern 
ſoll. Es iſt eben einfach nicht möglich, einen ſolchen 
Propheten glaubhaft zu machen, weil man die 
Hauptſache, den Inhalt ſeiner Lehre, doch nicht, 
oder was ſchlimmer, nur referierend, matt, trocken 
wiedergeben kann. Der Prophet als Romanfigur 
imponiert nicht, wir glauben nicht an ſeine Wirkung, 
weil wir fie nicht nachempfinden finnen. — Bei vielen 


ſchönen Einzelheiten gehört Lifelotte bon Redling 
nicht gu den Biichern, die den Kiinftlernamen von 
Gabriele Reuter voll reprajentieren. 


Wie man in Berlin zur Zeit der Königin 
Luife fodjte’. Nach ben im Sabre 1795 
niedergefdriebenen Aufzeichnungen von Frau 
F. &. Fontane. Verlag von F. Fontane & Co. in 
Berlin, Preis 3 Marl. Cin höchſt originelles 
Weihnachtsgeſchent fiir qute Hausfrauen. Wer die 
in der Schreib- und Redeweiſe der Original: 
handſchrift wiedergegebenen Regepte lieft, wird daraus 
nidt nur feine ftulturbiftorifden  Renntniffe 
vermebren, fondern obne Zweifel auc manderlei 
praktiſchen Nugen fiir ben eigenen Tiſch daraus 
ziehen lönnen. Die Leibgerichte unferer Urgrofeltern 
find augenſcheinlich durchaus nicht ohne“ geweſen. 


„Das Tagebuch des Verführers“. Bon 
S. Kierkegaard. Inſel-Verlag, Leipzig 1908. 
Das Bud, das gum erſtenmal in einer voll 
ftindigen deutſchen Uberſetzung (M. Dauthendey) 
erſcheint, iſt eines der intereſſanteſten modernen 
documents humains. Es iſt das Selbſtbekenntnis 
eines Mannes, deſſen Weſen in einer gewiſſen 
unheimlichen Weiſe ſeine innere Einheit verloren 
= der cinen zweiten Menſchen fpielt, einen grau- 
amen, raffinierten, eislalten Genußmenſchen. Die 
Schrecken, wenn das Spiel gu Ende ift und er er: 
wachend dieſen Zwieſpalt empfindet, ohne ſich ſelbſt 
wiederfinden gu können, werden nur leiſe ans 
gedeutet. Das Spiel ſelbſt, in all ſeinen einzelnen 
Genüſſen, Launen und Berechnungen von ihm ſelbſt 
aufgezeichnet, iſt der Inhalt des Bekenntniſſes. 
Wir ſehen einen Menſchen wie ein Raubtier immer 
engere Kreiſe um ein hilfloſes Opfer ziehen. Er 
berechnet mit Hibl wägendem äſthetiſchen Sinn den 
Genufivert jedes Momentes der erſten Befannt: 
ſchaft, des innigeren Verkehrs, die Art, wie er voll 
auszuloſten iff, und wie die [este Erfillung mit 
aller Sunft vorbercitet twerden fann, um allen 
Genus gu bieten. Damit ift dann für ibn alled 
vorbei. ,, Die Menjchen waren fiir ihn nur Inci— 
tament; er warf fie von fich weg, wie bie Baume 
bie Bitter abſchütteln — er verjiingte fic, dad 
Laub verivelfte.” Es ift eine Geſchichte, die ald 
eine raffinterte ſeeliſche Stubie feffelt — gum Runft- 
wert feblt ibr einfach die Menſchlichkeit; cin falted 
Rechenerempel von wiſſenſchaftlichem Reiz, das cin 
ritdfichtslos ſcharfer Denler tm Spiel ciner ſchöpfe 
riſchen Laune erfonnen. 


perder’, Sein Leben und BWirken. Bor 
Ridard Biirfner. Berlin. Ernſt Sofmann & Co. 
Die ca. 300 Seiten umfaffende Biographie bildet 
einen Band ber befannten Sammlung „Geiſtes—⸗ 
helden“. Sie ift dem Swed und Charalter diefer 
Sammlung entiprecend gebalten und bictet eine 
populdre Biographie auf Grund des grofen Hahmſchen 
Werkes, ohne den Anſpruch auf eine eigene Auf— 
faffung von Herders Perſönlichkeit erbeben zu wollen. 
So erfiillt bas Buch in feiner die Hauptzüge Har 
gruppierenden Darftellung feine Abſicht, cinem 
grifteren Kreiſe der Gebildeten Herder verſtändlich 
gu machen, fowobl nach feiner literarbiftorijden und 
philoſophiſchen Bedeutung, wie aud als Perjonlich- 
feit. An einer ſolchen fnappen Charatteriftit bat 
es bisher gefehlt. — Wir möchten bei diejer 
Gelegenbeit nochmals auf die friiber erſchienenen 
Bände der Sammlung bintweifen. 


Bücherſchau. — Anzeigen. 


189 






tf cin ausgezeichnetes Hausmittel zut Kraftigung far Mranfe und Hefonvalessenten und bewabrt firth vorgfigli& ols 
Vinderung bet Retgguitdnden der Umuuge Wil. 75 1S Tt 


Malz⸗-Extrakt mit Cijen 
Malz-Ertraft mit Kalk 


organe, bei Ratarrh, Keudbuiten ix ; wt. 5p F 
achdrt gu ben am leichteiten berdaulicen, die Zahne nicht angresfenden Cilen- 
prittetn, melhe bei Bintarmut (Bleidfucht) rc. verorbuct werden. FL D1 u. 2. 
wird mit grokem Crfolge gegen Nhachitis (forenannte englifde Rranfheit) 
gegeden wt. unteritiigt mefentlic® die Anocheubildung bet Rindern, FL WN. 1,—. 


Schering's Grüne Apotheke, vectin w., cyauser-steage 19. 


RNiederfogen in fot famtlidjen Mpothefen und gqrodieren Drogen-Haudungen. 








Pi u. 





» Boefie firs Haus’. Cine 
Auswahl von Gedichten, be— 
ſonders aud der neucren eit von 
J. J. Lieſſem. Buchſchmuchk von 
H. Mever-Caffel, Coln am 
Rhein. Verlag von J. P. Bachem. 
Die Sammlung iſt außerordentlich 
reichhaltig und iſt mit großer 
Sorgfalt getroffen worden, ſo daß 
ſie wohl geeignet ſcheint, ein 
Hausbuch zu werden, deſſen Dich⸗ 
tungen den einzelnen und die 
Familie begleiten wollen durch 
die Tages: und Jahreszeiten, 
durch Freude und Schmerz. 


„Fraueutroſt“, Bedanten fiir 
Manner, Madden und Frauen, 
Verlag von C. H. Bed. Minden. 
(Preis 140 Wark.) Das Bud 
erfaßt die Frauenfrage nicht nad 
ihrer ſozialpolitiſchen Seite, 
ſondern als cin individuelles 
Lebensproblem. Es verſucht die 
Löſung vom Standpunkt einer 
nicht in dogmatiſchem, ſondern 
in freierem Sinne — religiofen 





| 





Weltanjdauung und diirfte als | 


cine ernft qemeinte Hundgebung 
gu feinent Thema von Yntereffe 
fein, auch wo man den leitenden 
Geſichtspunkten ferner ftebt. 


Nach Schluß der Redaftion 
licfen nod) folgende Nen- 
erjdjcinungen cin, die wir 
fiir den Weihnadtstifd warm 
empfehlen: 

„Böcklin Mappe“. Heraus- 
gegeben vom Kunſtwart. Neue 
Ausgabe mit Tonunterdruck. Preis 
1,50 Mart. 

Meiſterbilder firs deutſche 
Haus’, herausgegeben vom ſunſt⸗ 
wart. XV. Folge, Blatt 55—90. 
Verlag von Georg D. W. Callwer, 
Minden. Preis jedes Blattes 
25 Pia. 

„Jugendland“. Band IL. 
Herausgegeben von Heinrid 
Mofer und Wirid) Moll: 
brunner. Berlag von Sebrilder 
Riingli. Zürich. 

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Butter folange gediinjtet, bis alles | K B Pade Poinciast 
ſehr weich ijt. Dann ſtäubt man ate Bowen, Lady Principal. 


2 Ehloffel Mehl darüber, (aft 3 | me : 
qelb werden und verriibrt gut Th St 0 £ | h 0 0 
mit Fleiſchbrühe oder Wafer. e u 0 n 1S in x or ° 
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etwas Pjeffer daran, aft die in St. Hilda’s Hall. Commences July 2°4, and ends August agth, 1904. 


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ſodaß nichts zurückbleibt. Bor . . : 
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und geht den Abonnenten unter Kreuzband zu. Der jahrliche Abonnementspreis betragt einschliesslich Porto: FOr Berlin 9 M. far Deutschland 
2,50 M., far das Ausland 3 M. Anfragen, Bestellungen, Beitrage (auch die Geldbecitrage) und Mitteilungen sind an die Expedition zu richten. 


Berantwortlich fiir die Nedattion: Helene Lange, Berlin. — Verlag: BD. Moefer Budhandlung, Berlin & — Drud; B. Moefer Budoruderei, Beriin 3, 






fe. i. aes Heft 4 aw & ay Dy Januar 1904 ab 















1 — “se pv er 


AHecrausgegeben : Bs * 





Verlag: 
W. Moeſer Sudhandiung. 


Berlin 8S. 


oon 


Xeaelene Lange. 


ts. 


Vie Prauenbewegqung 
und das ,,Recht auf die Mutterschaft*. 


Helene Tange. 


Nadorud verboten. 





Yon Gretchen bis auf Rofe Bernd hat die moderne dramatiſche Kunſt in mannich— 
Sim facen Bariationen das Schidfjal der ,gefallenen” Frau geftaltet; im Noman 
bat e3 in , Adam Bede” und in Helene Böhlaus „Recht der Mutter” klaſſiſche Ver— 
tretung gefunden. Die phariſaiſche Harte, mit der die Gefellfchaft gerade bier fo be- 
dingungslos verdammt, dic Ungerechtigkeit, mit Der fie die Verlegung eines zu ihrer 
Selbjterhaltung notwendigen Geſetzes nur an dem ſchwächeren Teil rächt, mußte die 
Kunſt in ihrer rein menſchlichen, individuell abſchäzenden Betrachtung der Dinge jum 
Einſpruch aufrufen, einem Einſpruch nicht mit den Mitteln moralijierender Abwagung, 
jondern mit ibren eigenften Mitteln, menſchliches Leben und Leid in feiner Tiefe zu 
erfaſſen und in feiner erſchütternden Wahrheit darzuſtellen. 

Nicht ſelten iſt die Kunſt die erſte Verkünderin deſſen geweſen, was an neuen 
ſittlichen Werten ſchon unbewußt das menſchliche Fühlen und Urteilen mitbeſtimmte, 
ohne noch die feſten Formen ſittlicher Begriffe gewonnen zu haben; nicht ſelten hat ſie 
geholfen, ſolche zu ſchaffen. So auch auf dieſem Gebiet. Wir empfinden den Zu— 
ſammenhang zwiſchen den Geſtalten, die, der üblichen Vorſtellung von der verachteten 
Dirne ſo unähnlich, lebendig durch unſere Literatur ſchreiten, und dem Wandel der 
Anſchauungen über die „Gefallene“. 

Daß ſich ein ſolcher Wandel zu vollziehen beginnt, zeigt ſich in dem geſteigerten 
werktätigen Intereſſe, das ſich der „unehelichen Mutter“ — ich behalte der Kürze 
wegen den unkorrekten Ausdruck bei — und ihrem Kinde zugewendet hat. Es zeigt ſich 
13 


194 Die Frauenbewequng und bad „Recht auf bie Mutterſchaft“. 


in all ben Bemiihungen, die rechtliche Stellung der unehelichen Mutter gu beben, ifr 
mit den Mutterpflichten aud) die Mutterrechte, mit der Verantwortlichfeit aud die 
Autorität yu geben, in der fozialen Fiirforge durch Wöchnerinnen- und Säuglings— 
beime, in dem Auftauchen des ſozialökonomiſchen Problems der Mutterſchaftskaſſen uſw. 
Bei der hohen Riffer der unebheliden Geburten, bei der Ausdehnung der Kreiſe, deren 
Wobl und Webe mit diejen Fragen verfniipft ijt, muß man folche Bejtrebungen auf 
das wärmſte unterftiigen und fann nur dringend wünſchen, daß die Frauen alten 
Schlages den Aufgaben der Geſellſchaft in diefer Hinficht etwas freier ins Geſicht feben 
lernen. 

Ihnen dazu gu verbhelfen, ift ficrerlich aud) eine Aufgabe der Frauenbewequng. 
Aber ebenjo ficher löſt fie fie fcblecht, wenn fie nun ibrerfeits mit einer Sentimentalitat, 
die mit einer griindliden ſoziologiſchen Bildung unvereinbar tft, um die unebelice 
Mutter cinen Heiligenfchein webt, wenn fie cinen Zustand, der auf beflagenswerte 
wirtidaftliche Berhaltnijfe zurückzuführen ijt, aber unjerem Rulturideal vom Sufammen- 
{eben der Gejchlechter in feiner Weife entſpricht, zum Prinzip erbeben wollte, wenn fie 
Theoricen auftellt, die denen der freien Liebe verzweifelt ähnlich ſehen. Und eS gibt 
Kreiſe, im denen das mit einem unreifen Radikalismus gefchiebt, der die Frauen: 
bewegung aufs duferfte disfrediticren muß. 

Diefe Theoricen haben anch bereits ihre Formulierung gefunden. Cin Biidlein 
von Ruth Bré!) (jelbjtverjtindlicd ein Pjeudonym — feltjam genug, dah eine Ver— 
fiinberin einer fo welterfcbiitternden neuen Lebre fie nicht mit ibrem Ramen dedt) will 
alles Ach und Weh der Gefellfehaft, alle Intereſſenwirtſchaft, die Gliidlofigteit des 
mobdernen Menſchen, die zunehmende Degeneration der Menſchheit aus einem Puntt 
furieren; fie verſpricht Glücksmöglichkeiten für jeden, Erzeugung ſchönſter menſchlicher 
Harmonieen, Erhaltung der Volkskraft, Wiedergeburt uſw. 

Und durch welches Allheilmittel ſollen die in dieſem verheißungsvollen Programm 
in Ausſicht geſtellten wunderbaren Wirkungen erreicht werden? 

Die Vorausſetzungen ſind dieſe. 

Es gibt heute nur zwei Arten von Frauen, die ihre Naturbeſtimmung erfüllen: 
die aus tauſend Gründen zur Löſung ihrer kulturellen Aufgaben unfähige Ehefrau und 
die Dirne. Zwiſchen beide ſoll eine neue Gattung eingeſchoben werden: die freie Frau, 
deren Ehe dauert, ſo lange es ihrem Bedürfnis entſpricht: „vielleicht ein paar Jahre, 
vielleicht ein paar Monate — oder Wochen. Bei mancher Frau vielleicht nur eine 
Nacht.“ Von dieſer neuen Inſtitution, in der alle heute unerfüllte Sehnſucht nach 
Mutterglück befriedigt werden kann, denn die volle Achtung der Geſellſchaft iſt ihr ge— 
ſichert, erwartet Ruth Bré einen ungeahnten moraliſchen Aufſchwung der Menſchheit. 
Die Proſtitution verſchwindet, Mann und Frau wirken in voller Harmonie neben ein— 
ander, jedes in ſeinem Beruf; das Kind, deſſen Ernährung ihnen leicht fällt, iſt ihr 
ganzes Glück, und iſt es nicht ſo, verläßt er ſie: „ſie hat ein Kind und damit eine 
Zukunft“. (Die höher entwickelte Frau will nämlich nach Ruth Bré „ſich mit einem 
Kinde begnügen“, die Bevölkerungsfrage wird damit nebenbei auf die einfachſte Weiſe 
geregelt). 

Den Beweis dafür, daß das „freie Weib“ die Geſellſchaft ſo von Grund aus 
verändern wird, bleibt Ruth Bré uns freilich vollſtändig ſchuldig. Denn ekſtatiſche Beteue— 


) Das Recht auf bie Mutterſchaft. Leipzig 1903, Verlag ber Frauen Rundſchau. 


Die Frauenbewegung und bas Recht auf die Mutterſchaft“. 195 


tungen und gliubige Verficherungen find fein Beweis. Sie ruben iberall auf der Annabme, 
dah mit der neuen Jnititution aud pliglich die Menſchen fic) ihrer ganjen pſycho— 
logiſchen Anlage nad von Grund aus umwandeln werden. 

Unzweifelhaft ijt es Ruth Bré heiliger Ernſt mit ibrer Gefellfchaftsrettung, und 
von der Schuld, aus cinem Senfationsbediirfnis heraus — wie das jest nicht eben 
felten ijt — dieſe Fragen aufgegriffen zu baben, ijt jie ficherlic ganz frei zu ſprechen. 
Von ciner anderen Schuld aber nicht. Jn unferer ÜUbergangszeit, wo die Frauen obne 
eigentliche geijtige Schulung pliglich vor große fosialethifche Probleme gejtellt werden, 
laden nicht wenige fie auf ſich: die Schuld cines leichtfertigen Dilettantigmus, der fic 
an die weittragendften Fragen wagt, ohne ihre Grundlagen ju beberrjden. Und wenn 
es eine Frage gibt, die nur aus der reifften ſoziologiſchen Cinficht beraus angefaßt 
werden fann, yu deren Löſung auf den verfchiedenjten Gebieten unferes wirtſchaftlichen 
und fosialen Lebens anbaltende gabe Urbeit eingefest werden muh, fo ift eS die Frage 
einer würdigeren Geitaltung der Che, und die Befeitiqung der entfeglichen Erſcheinungs— 
formen der doppelten Moral. Dergleichen macht fic nicht über Nacht durd ein 
phantaſtiſches Programm. 

Denn wobl felten tit dieje Frage mit findliceren Mitteln angefaßt worden. 
Etwas fritiflos iibernommene Bachofen'ſche Mutterrechtatheorien, Vebels „Frau“, pro- 
qrammatijd ausgeprägte Ausfpriiche aus einigen nicht eben yu den beften yu rechnenden 
modernen Frauenremanen, fubjeftive Empfindungen und von dieſen beeinflufte unzu— 
reichende Beobachtungen in einem fleinen Lebensfreis: das find die Grundfejten, auf 
denen ihre Theorie ftebt. 

Einer ernſthaften Auseinanderjesung mit den Cingelbeiten von Ruth Brés Aus— 
führungen bedarf es Daber nicht. Will man diefe Theorieen einer eingebenden Kritif 
unterzieben, fo wird man fte bet ibren ernjter ju nebmenden und originaleren Ver— 
tretern, Bebel und Carpenter, aufſuchen. Was die Frauenbewegung nötigt, von diefer 
Brofebiire Notiz zu nehmen, ift alfo feineswegs ibre ſachliche Bedeutung. Es iſt viel: 
mebr cinerfeits die Erwägung, dak bei der Kritiflofigfeit fo vieler Frauen die ftarfe 
Reflame, mit der diefe Schrift und andere ähnlichen Anbalts vertrieben werden, doch 
Erfolg haben könnte. Und andrerfeits ijt es der Umſtand, daß diefe Broſchüre in 
ihrer unreifen Cinfeitigfeit eine ganze Richtung reprifentiert, cine RNichtung, die fic) 
der Frauenbewegung immer wieder aufdrangen michte, und die fie deshalb im Intereſſe 
ibrer Selbfterhaltung energiſch yuriidweifen mug. Das ift um fo notwendiger, als 
die Frauen diefer Rictung fic als die eigentlichen Vertreterinnen der durch die 
Frauenbewegung angeblid) zu wenig beriidjichtigten mütterlichen Inſtinkte der Frau 
geberden und das heiligſte und ſelbſtloſeſte Gefühl in der Frau, das Muttergefühl, in 
befonderem Mahe fiir fics in Anſpruch nehmen. 

Im Hinblid auf diefen Anipruch wollen wir dod) ibr Schlagwort „ein Kind und 
eine Zukunft“ nod etwas näher unterſuchen. 

Wir können füglich abjeben von der diefem Dogma augenſcheinlich zu Grunde 
lieqenden Annahme, daß das Rind des ,freien Weibes” weder ſtirbt nod) verdirbt, 
fic) weder mit der Mutter auseinanderlebt, noch fie durch feine Charaftereiqenfcbaften 
ungliidlich macht, wie dad den bedauernswerten Chefrauen Alteren Datums biswweilen 
geſchah. Das alles muß wobl mit den pſychiſchen Wandlungen, die das ,,freie Weib“ 
bringen wird, unmiglich werden. Wir find eben im Reiche der Phantaſie, und fo 
mag es denn gelten: cin Rind und eine Sufunft. 

13* 


196 Die Frauenbetvegung und bas Recht auf bie Mutterſchaft“. 


Cine Zufunft fiir die Mutter nämlich, die ihrem CEmpfinden Geniige getan, 
die fiir fic) cine Glücksmöglichkeit gefchaffen bat. Das ijt das Charakteriſtiſche fir 
das Mutterfchaftsgefibl des freien Weibes“, daß nur die cigene Zukunft, nicht die 
des Kindes cine Rolle fpielt. 

Die wirflice, echte und darum felbjtlofe Mutterliehe aber wiirde fragen: wie 
ftebt eS um die Bufunft ded Kindes? Welche Gliidsmbglichfeiten, welche Möglichkeiten 
voller, freier, allfeitiger Entwicklung fcajft ibm die neue Gefellfchaftsform? 

Als eigentliche Vorausſetzung diefer neuen Geſellſchaftsform gilt ausgeſprochener— 
maßen der Grundjag, dak das Kind Cigentum der Mutter ijt. Es wird garnicht 
einmal in Frage gezogen, ob bei der Trennung dieſer Chen, die ,,vielleict cin paar 
Sabre, vielleicht ein paar Monate — oder Wochen” dauern — ,,bei mander Frau 
vielleicht nur eine Nacht’ — nicht auch der Vater irgend welche Anſprüche an den 
Beſitz des Kindes haben folle. Alleinjtehende „freie Weiber” mit einjigen „freien“ 
Rindern werden daher einen wwefentliden Beftandteil der zukünftigen Geſellſchaft 
eines neu etablierten „Mutterrechts“ bilden. Gerade Ddiefen Kindern alfo, die dad 
Recht des Weibes auf die Mutterfchaft fo recht eigentlich gu dofumentieren beſtimmt 
find, werden alle die Glücks- und Entwicklungsmöglichkeiten entjogen, die das Auf— 
wachjen in dev Familie, die Erziehung durd Vater und Mutter in fich fohliept. 
Daf die Familie, fet es aus allgemeinen wirtſchaftlichen, fei es aus zufälligen individuellen 
Urjacen, oft in Wirklichfeit nicht dieſe Entwidlungsmiglichfeiten gewährt, erſchüttert 
nicht die Tatſache, dap fie als Inſtitution unendlich viel größere Garanticen dafiir 
bietet, als cine einzelne Mutter fie ibrem eingigen Kinde gu bieten vermag. Und fo 
hat ſich denn dod) tatſächlich die Familie als die Pflegeltitte der aufwachfenden 
Weneration feit den Urjeiten der Menfchbeit entwidelt, fie hat, wie unvollfonumen fie 
auch ingbefondere nod in bezug auf die Rechte der Frau fein mag, ein relativ 
ficheres und feftes Dac fiber dem Kinde gebaut. Und nur unter diefem Dach ijt 
dem Kinde eins gefichert, was von unferer verfeinerten Schätzung der Lebenstwerte 
immer mehr in feiner Bedeutung gewiirdigt werden wird: der Aufbau feiner 
qeijtigen Perſönlichkeit in ibrem individuellen Geprage, da8 nicht von der utter 
allein, fondern von Mutter und Vater gefdaffen ijt. Auf der Möglichkeit, die 
individuellen Werte, die mit einem neuen Menſchen der Welt geſchenkt werden, in 
vollem Maße ju entfalten, berubt aber im Grunde der Reichtum und die Auf— 
wartsbewequng unſeres geiftigen Lebens. 

Wie fteht eS mit dieſer Möglichkeit bei den Chen, die ,,vielleidht ein paar 
Sabre, vielleicht ein paar Monate — oder Woden, bei mander Frau vielleicht nur 
cine Nacht“ dauern? Der grauſame Egoismus des Rechts auf die Mutterſchaft 
ſchließt das Kind cinfad von feinem beften Recht aus. Er erfauft das eigene Glück 
mit dem Glück der fommenden Generation. 


* * 
* 


Wie fommt es, dah das geſchlechtliche Problem — denn um diefe3, nicht um 
das Recht auf Mutterſchaft, handelt es fic im Grunde — beute von fo vielen 
Frauen mit fo leidenſchaftlichem Nachdrucd disfutiert wird? Der Grund liegt flar 
qenug auf der Hand. Die offenbare Polygamie de3 einen Geſchlechts — der er: 
zwungene Cilibat fo vieler Ungebsriger des andern, die fo lange und ängſtlich ge— 
wabrte Pritderie in der Erörterung ferueller Fragen, das alles hat zu einer Reaftion 


Die Frauenbewegung und bas ,,Recht auf die Mutterſchaft“. 197 


geführt, die nun ibren Wusdrud findet. Und fo mance Frau hat den Bli€ fo lange 
ſtarr auf dies eine Problem geheftet, bis fie ſich an ihm blind geftarrt hat. Sie 
ſchiebt ſchließlich alles Unbefriedigtfein, alle in ihrer Jndividualitit gegebenen 
Hemmungen fiir ein volles Lebensgliid auf die cine Urſuche, mit der ibr dads 
„Menſchenglück“ ſchlechthin verbunden ſcheint. 

Worin beſteht denn aber eigentlich das Glück für den höher entwickelten 
Menſchen? 

Formal gefaßt in der Möglichkeit, ſeine Perſönlichkeit zu entfalten und zu be— 
tatigen; in ethiſchem Sinne inhaltlich beſtimmt: in der Möglichkeit, den beiden großen 
Worten zu genügen „wirket, ſo lange es Tag iſt“ und „nicht mitzuhaſſen, mitzulieben 
bin ich da.“ 

Nur wo die Verbindung zwiſchen Mann und Weib auch der Frau eine ſolche 
Möglichkeit gewährt, iſt ſie für ſie zugleich eine Glücksmöglichkeit — vielleicht, denn das 
würde in der Natur der Dinge liegen, die höchſte. Aber, das zeigt die Begriffs— 
beſtimmung, durchaus nicht die einzige. Und wenn der moderne Dichter, vielleicht 
auch unter dem Druck der erwähnten Probleme, einzig das Weib ſieht, das nur 
cin „Weibesſchickſal“ will, fo haben Größere vor ibm im Weibe den Menſchen 
geſehen, der ein eigenes Menſchenſchickſal erlebt. Co ſprechen die dunklen Augen der 
Antigone, dev zwingende Blick der Iphigenie von einem inneren Leben, das, losgelöſt 
von der phyſiſchen Gebundenheit de3 Geſchlechts, fich ſelbſt erfiillt, indem es der Um— 
welt fein eigenes Geſetz aufprigt. 

Die Fragen aber, die heut fo tief und ſchmerzhaft in das Leben fo vieler Frauen 
eingreifen, find nicht durd) Broſchürenweisheit gu löſeu. Ihre Urjachen Liegen fo weit 
verzweigt in Den verſchiedenſten Gebieten unferes wirtſchaftlichen Lebens und der Welt 
unferer fozialen Einrichtungen und ſittlichen Begriffe, dah fie unmöglich von cinem 
Punkte aus gehoben werden fonnen. Die Frauenbewegung fann ihre Löſung nur mit 
vorbereiten belfen. Der Kampf gegen die Proftitution, gegen den Alkoholismus, der 
Kampf um beffere Urbeitshedingungen fiir die Frau, um gefundere wirtſchaftliche Ver— 
haltniffe und im Zufammenbang damit vermebrte Heiratsmiglichfeiten, um eine geredtere 
Regelung des Familiens und des Hffentlichen Rechts, cine tiefere Bildung, die alle 
menſchlichen Beziehungen, vor allem die der Geſchlechter, adeln hilft, das alles find 
ſchwerwiegende Faktoren fiir dieje Ldjung. Und die Frauenbewegung ift ſich felbjt 
flar daritber, daß fie auf all dieſen Gebieten arbeiten mug, um dad feruelle Leben 
auf eine natiirlichere und gefundere Baſis ftellen zu belfen, auf der fic) dann mit 
anderen menſchlichen Verhältniſſen aud die Formen der Che entfprecend wandeln 
können. 

Immer aber wird der Frauenbewegung, der „organised mother-—love,“ eins 
dabei maßgebend bleiben: das Glück der kommenden Generation. 





198 


arf der Chemann die Briefe seiner Prau öffnen? 


Son 


Dr. jur. Ernft Goldmann. 


Nachdruck verboten. ae — 





Du den wichtigſten Bürgſchaften der politiſchen und individuellen Freiheit gehört 
QQ der geſetzliche Schutz des Briefgeheimniſſes, der heute im ganz Deutſchland 
durchgeführt iſt. Die Zeiten, wo die Regierenden und ihre Beamten ſich das Recht 
nahmen, die Briefe der Untertanen nach Belieben zu erbrechen und zu leſen, ſind 
voriiber; es waren die Zeiten der abſolutiſtiſchen Willfiir. Ym konſtitutionellen Staate 
gilt der Grundfag, daß das Briefgeheimnis unverletzlich ijt, und diefer Grundſatz ijt 
dem modernen StaatSbiirgern fo widhtig erfdienen, dah fie ibn als ein „Grundrecht 
der Ration” in die Verfaffungsurfunde aufgenommen haben. Er gilt aber aud) fiir 
Diejenigen deutſchen Bundesftaaten, welche feine Fonjtitutionclle Verfaſſung haben; denn 
das Reichsgeſetz über das Poftwefen vom 28. Oftober 1871 hat ibn als fiir das ganze 
Reid verbindlich von neuem ausgefproden. Staatsheamte, welche das Briefgeheimnis 
verlegen, insbefondere Poftheamte werden mit ſchweren Strafen bejtraft. Nur fiir 
wenige Ausnahmefälle bat die Staatsgewalt die Befugnis erbalten, das Briefgebeimnis 
zu verlegen, aber diefe Ausnahmen find durch bejondere Geſetze fanttioniert und können 
nur im Wege der Gefesgebung eriveitert werden. 

Das Briefgebeimnis bedarf aber des Schuges nicht nur gegeniiber dem Staate 
und feinen Beamten, fondern aud gegeniiber jeder Privatperfon. Wer einen Brief 
oder cine andere Urfunde verſchließt und adreffiert, vertraut darauf und darf darauf 
vertrauen, daß mur der Mdreffat den Verſchluß öffnen und den Inhalt erfabren werde. 
Der Verſchluß hat ja eben den Zweck, den Inhalt des Briefes der allgemeinen, 
beliebigen Kenntnisnahme zu entziehen, die Vertraulichkeit des Inhalts unter den 
Beteiligten zu ſichern. Wer den Verſchluß unbefugt löſt, greift alſo in die perſönliche 
Rechtsſphäre des Abſenders oder des Adreſſaten ein, er macht ſich einer Rechtsverletzung 
ſchuldig. Deshalb haftet er dem Geſchädigten mit ſeinem Vermögen für allen ent— 
ſtehenden Schaden. Unſer Recht geht aber in der Abwehr ſolcher Einmiſchungen und 
Ubergriffe noch weiter: der Störer des Briefgeheimniſſes wird obendrein in Strafe 
genommen, ſobald es der Verletzte verlangt. Der § 299 unſeres Strafgeſetzbuchs 
ſagt nämlich: 

Wer einen verſchloſſenen Brief oder eine andere verſchloſſene Urkunde, 
die nicht zu ſeiner Kenntnisnahme beſtimmt iſt, vorſätzlich und unbefugterweiſe 
eröffnet, wird mit Geldſtrafe bis zu dreihundert Mark oder mit Gefängnis 
bis zu drei Monaten beſtraft. 

Die Verfolgung tritt nur auf Antrag ein. 

Der Staatsanwalt erbebt die Anklage alfo nur dann, wenn der Verlegte die 
Beftrafung ausdrücklich beantragt; wird aber der Strafantrag gejtellt, fo bat der Tater 
cine Geldjtrafe, in febwereren Fallen cine Gefängnisſtrafe zu erwarten. 


Darf der Ehemann die Briefe feiner Frau öffnen? 199 


Der Wortlaut des § 299 zeigt jedoch, dag nicht jedes Eröffnen fremder Briefe 
jtrafbar ijt, Wer nur aus Verfeben, aus Fahrläſſigkeit handelt, fann nicht beftraft 
werden; nur die „vorſätzliche“ Brieferbredung wird geabndet. Bedeutungsvoller 
al3 dieſe erjte Einſchränkung des Paragraphen ijt eine gweite, die fic) aus dem 
Worte „unbefugterweiſe“ ergibt: nur die unbefugte Brieferdffnung ift ftrafbar. ° 
Rann alfo der Angeflagte fic) darauf berujen, dah er irgendwelche Befugnis hatte, 
den Brief zu öffnen, obwohl er nicht an ibn adreffiert war, fo mup er von der 
Anklage aus § 299 freigejproden werden. Man fann fic denfen, dak diefer Cinwand 
pon den Angeflagten am baufigiten erhoben wird und dah er bet der Anwendung und 
Auslegung ded § 299 die gripte Rolle fpielt. Wir müſſen uns deshalb die Frage 
vorlegen: Wer ijt befugt, Briefe zu öffnen, welche nicht für ibn bejtimmt find? 

Muf diefe Frage befommen wir weder von § 299 nod) von den anderen 
Paragraphen des Strafgeſetzbuches eine Antwort. Auch die übrigen Gefese geben uns 
feine erſchöpfende Musfunft. Wir müſſen die in Frage fommenden Faille vielmebr ans 
verftreuten Geſetzesſtellen ſammeln, jum Teil fogar aus dem Geifte der Gefege und 
aus der Natur der Redhtsverbialtnijje abguleiten fuchen. Cine Klaſſe folder Fille 
haben wir ſchon erwähnt — die Fille, wo ausnabmsiveije die ftaatliden Organe 
zu einem Gingriffe in das Briefgebeimnis legitimiert find. Es find im einzelnen 
folgende Halle: Der Unterfucungsricter darf Briefe, die an den Beſchuldigten 
gerichtet find oder von ibm herrühren, in Beſchlag nehmen und öffnen. Der Konkurs— 
verwalter bat das Recht, die an den Gemeinjduldner gericdteten Briefe in Empfang 
que nebmen und zu öffnen. Die Poftverwaltung darf unbejtellbare Briefe zur 
Ermittlung de3 Wbfenders erbrecien. Alle dieſe Befugniffe beruben auf ausdriidliden 
Geſetzesvorſchriften. 

Wir gehen zu anderen Fällen über, die ſich nicht unmittelbar aus dem Geſetze, 
wohl aber aus der Natur der Rechtsverhältniſſe ergeben. Hier ſei zunächſt hervor— 
gehoben, daß man durch einen Auftrag oder dergleichen dazu ermächtigt werden kann, 
die Briefe des Auftraggebers zu öffnen. Co kann der Hausgenoſſe den Hausgenoſſen, 
der Vorgeſetzte den Untergebenen, der Chef den Angeſtellten zur Eröffnung von Briefen 
ermächtigen. In allen derartigen Fallen ijt der Beauftragte zur Offnung befugt, er 
handelt ja nur als Stellvertreter des Adreſſaten. Es gibt auch Stellvertretung 
ohne ausdrücklichen Auftrag, Stellvertretung von Geſetzes wegen, und auch ein ſolcher 
Stellvertreter ijt zur Brieferbffnung befugt. "So darf z. B. der Vorſitzende eines Vereins 
oder einer Körperſchaft die an den Verein oder die Körperſchaft gerichteten Briefe 
öffnen. Dem Stellvertreter ſteht der Rachfolger im Rechte gleich: der Erbe darf 
die Briefe des verſtorbenen Erblaſſers, der Erwerber eines Handelsgeſchäfts die an 
die Firma gerichteten Briefe öffnen. 

Die Fälle der letzten Gruppe, der wir uns jetzt zuwenden wollen, gehören 
ſämtlich dem Familienleben an. Das Recht der Brieferöffnung kann nämlich auch aus 
dem perſönlichen Verhältniſſe der beiden Beteiligten, aus der Wutoritat des einen 
gegenüber dem anderen entſpringen. Die Erziehungsgewalt, welche den Eltern zuſteht, 
gibt ihnen das Recht und die Pflicht, die Korreſpondenz des Kindes zu überwachen, 
ſeine Briefe zu öffnen und zu leſen. Das Geſetz hebt dieſe Befugnis zwar nicht 
beſonders hervor, aber ſie folgt einfach aus der Natur der Sache. Die Eltern müſſen 
ſich fortdauernd über den Verkehr, die Neigungen und Beſchäftigungen des Kindes 
unterrichten, und es muß ihnen deshalb freiſtehen, die Briefe des Kindes zu offnen. 


200 Darf ber Ehemann bie Briefe feiner Frau dffnen? 


Das gilt ſowohl fiir die Briefe, welche an das Kind gerichtet werden, wie fiir die- 
jenigen, welcbe das Kind an andere Perſonen ſchreibt. Cine Einſchränkung fann diefe 
Befugnis freilich dadurch erfabren, dak der minderjabrige Sohn oder die Tochter 
bereits cin öffentliches Amt befleidben; dann diirfen die Eltern natürlich nur ſolche 
Briefe erdffnen, welche zweifellos nicht Amtsbriefe find. — Den Cltern ijt der 
Vormund vom Geſetze gleichgeitellt, auc) ev hat das Recht und die Pflicht der 
Erziehung feines Mündels, und deshalb ijt auc ibm die Befugnis zur Brieferöffnung 
zuzuſprechen. Aber auch allen fonftigen Erziehern werden wir dieſe Befugnis zu— 
erfennen müſſen; auch fie müſſen die Korreſpondenz ibrer Zöglinge frei überwachen fonnen. 
Wir erachten desbalb die Leiter von Penfionen und ähnlichen Anjtalten für befugt, 
die Briefe der ihnen zur Erziehung iibergebenen Perfonen zu öffnen. Nur der Briefe 
wechſel der Ziglinge mit ihren eigenen Eltern oder Vormiindern ijt davon aus: 
genommen. 

In allen dieſen Fällen iſt es die Erziehungsgewalt, die Autorität des Erziehers 
gegenüber dem Minderjährigen, die Das Recht zur Briefkontrolle begriindet. Die 
Erziehungsgewalt erreicht ihr geſetzliches Ende mit der Volljährigkeit des Zöglings, 
regelmäßig alſo mit der Vollendung des 21. Lebensjahres. Sie endigt dagegen nicht 
mit dem Ausſcheiden des Minderjährigen aus dem elterlichen Haushalt. Das Aus— 
ſcheiden fiihrt uur in einem Falle ſchon vor der Volljährigkeit bes Kindes zur 
Beendigung der Erjiehungsgewalt: wenn cine minderjährige Tochter beiratet.) Das 
Erzichungsrecht der Cltern hort aljo ftets mit der Verheiratung der Tochter auf. Tritt 
nun etiva der Ehemann der Todjter an die Stelle der Eltern? Gebt anf ibn die 
Erziehungsgewalt ber? — Nein! Das Biirgerliche Geſetzbuch erfennt nirgends ein 
Erziehungsrecht des Chemannes gegeniiber der Ehefrau an. Cin folches Recht würde 
fic) auch wunderlich genug ausnehmen; man braudt ſich nur vorzuftellen, dap 
der Mann feine Fran jum Bwede ber Erziehung in cine Beſſerungsanſtalt geben 
diirfte! 

Wenn aber der Mann nicht der Erzieher der Frau ijt, fo bat er auch nicht die 
Berechtigung, ihre Korreſpondenz zu überwachen und ibre Briefe yu öffnen. Das ijt 
cine Schlußfolgerung, die ebenſo flar wie einfach ijt. Und dod) gibt es cine grofe 
Anzahl von Yuriften, welche dem Chemanne die Befugnis juerfernen, die Briefe der 
Frau zu Hffnen und zu lefen, und fie erftreden diefe Befugnis nicht bloß auf alle 
Briefe, welche die Ehefrau empfingt, fondern auch auf alle Briefe, welche fie dritten 
Perfonen ſchreibt. Sie gründen das Recht des Mannes zwar nicht auf ein Erziehungs— 
recht, wohl aber auf das vom Geſetz gewollte Nbergewicdht des Mannes in der Che. 
Deshalh ift es aud) nur cin Recht des Manned, nicht etwa cin gegenfeitiqes Recht 
der Chegatten. Wls Vertreter diefer Anſicht nennen wir die Kriminalijten Blum, 
von Kirchmann, Franz und Hugo Meyer und Schwarze, denen ſich in neuefter 
Beit aud Delius angefehloijen bat.2) Cine mibere Begriindung geben diefe Schrift: 
fteller nict; das bat aber Profeffor Kobler in feinem Aufſatze über „Das Recht an 
Briefen” (1893) getan, auf den wir ſpäter noch ju fprechen fommen. 

') Bergl. § 1633 des Biirg. Gefekbuchs. Wir bemerfen dazu, dak die Frauen mit 16 Jahren 
heiratsfähig werden, wabrend bie Manner nicht vor der Volljabrigteit heiraten dürſen. Deswegen 
beſchäftigt fic § 1633 nur mit ben Töchtern. 

*) WS Herausgeber der 14. Muflage des verbreiteten Kommentars jum Strafgeſetzbuche von 
Dppenboff (1901), beim § 299. 


Darf der Chemann bie Briefe feiner Frau sffnen? 201 


Wenn wir die Richtiqfeit diefer Anficht, die fich auf das Rechtsverhältnis zwiſchen 
Mann und Frau ftiigt, nachpriifen wollen, müſſen wir das fogenannte perjintiche 
Cherecht des Bürgerlichen Geſetzbuchs näher betradsten. Cs fommen für unjer Thema 
nur die §$ 1353 und 1354 in Betracht, in erfter Reihe § 1354. Er bat folgenden 
Wortlaut: 

Dem Manne ftebt die Enticheidung in allen das gemeinfchajtliche Leben 
betreffenden Angelegenbeiten ju; er beſtimmt insbefondere Wohnort und 
Wohnung. 

Die Frau iſt nicht verpflichtet, der Entſcheidung des Mannes Folge zu 
leiſten, wenn ſich die Entſcheidung als Mißbrauch ſeines Rechtes darſtellt. 

Daß dieſe Beſtimmung des Geſetzes dem Manne ein Übergewicht über die Frau 
verleiht, daß danach der Mann in allen das gemeinſchaftliche Leben betreffenden An— 
gelegenheiten das letzte Wort hat, iſt ſicher; unſicher aber iſt, welche einzelnen Angelegen— 
heiten unter dieſe Beſtimmung fallen. Das Geſetz führt als Beiſpiel die Wahl des 
Wohnorts und der Wohnung an, überläßt es aber im übrigen der Wiſſenſchaft und 
dem Richter, feſtzuſtellen, ob eine Angelegenheit das gemeinſchaftliche Leben der Eheleute 
betrifft oder nicht. Wollen wir entſcheiden, wie weit das Beſtimmungsrecht des Mannes 
reicht, ſo müſſen wir dem Willen des Geſetzgebers tiefer nachſpüren und aus der Ent— 
ſtehungsgeſchichte des Paragraphen zu ermitteln ſuchen, welche einzelnen Angelegenheiten 
gemeint ſind. Dort finden wir in der Tat die nötige Aufklärung. 

An der Reichstagskommiſſion, welche über den Entwurf beriet, fand der § 1354 
ſtarken Widerſpruch. Einige Mitglieder verlangten die Streichung des Paragraphen, 
weil er die Ehe zu einem Hörigkeitsverhältnis für die Frau geſtalte, während man die 
volle Gleichberechtigung beider Teile in der Ehe feſtſtellen müſſe. Die Mehrheit der 
Kommiſſionsmitglieder war aber der Anſicht, daß der Mann das natürliche Haupt der 
Ehe ſei und daß die Frau ſich bei Meinungsverſchiedenheiten ihm unterordnen müſſe, 
weil ſonſt die Familienbande gelockert würden. Der Paragraph wurde alſo nicht 
geſtrichen. Bet der Beratung im Plenum des Reichstags wurde aber der Widerſpruch 
pon neuem rege. Die Abgeordneten Traeger und Ridert traten in längeren Reden 
fiir Die Streichung des § 1354 ein, und die Sosialdemofraten ftellten fogar den Antrag, 
die volle Gleichberechtigung der Ehefrau ausdriidlich im Gejege auszuſprechen.,) Namens 
der Reichsregierung trat ihnen Gebheimrat Prof. Bland als Verteidiger des § 1354 
entgegen. Seine Ausfibrungen find von der größten Wichtigfeit, weil er der Haupt— 
redaftor ded Biirgerliden Gefeghuchs, auperdem aber der fpesielle Bearbeiter des 
Familienrechts gewefen ijt. Wand bat damals folgendes ausgefiibrt: 

Die Auffaffung, dak der § 1354 eine Vorherrſchaft des Manned in der Che 
begritnde, ijt nicht richtig. Sum vollen Veritindnis de3 § 1354 mup der § 1353 
herangesogen werden, deſſen erjter Abjag lautet: 

Die Chegatten find einander zur ebelichen Lebensgemeinſchaft ver— 
pflichtet. 

Hier iſt der grundlegende Satz des ganzen perſönlichen Eherechts ausgeſprochen: 
die Eheleute ſollen ihre Lebensgemeinſchaft ſo einrichten, wie es die rechte eheliche 


) Der Bund deutſcher Frauenvereine ſchlug in ſeiner Petition an den Reichstag vor, bem § 1854 
folgende Faffung gu geben: ,, Qn den bas gemeinidhaftlide Leben bhetreffenden Angelegenbeiten entſcheidet 
gegenfeitiges Ubereinlommen.“ 


202 Darf der Ebemann bie Briefe feiner Frau öffnen? 


Geſinnung erfordert. Das Geſetz beftimmt alfo nicht, dah der Mann in der Che mebr 
qu fagen bat als die Frau, fondern beſtimmt muir, daß jeder der Chegatten von jeiner 
Selbſtändigkeit foviel zu opfern hat, al das Wefen und das Ynterefje der Che erfordert. 
Nach diejem Pringip find alle ſchwereren Ronflifte der Chegatten gu löſen; find fie 
unlisbar, fo bleibt als legter Ausweg nur die Scheidung übrig. Das Gefeg erfennt 
alſo ſtillſchweigend die grundſätzliche Gleichberechtigung beider Ehegatten an. Die Vor- 
ſchrift, welche der § 1354 gibt, bat mit diefer PBringipienfrage nichts ju tun; fle hat 
nur die taujendfaltigen Fragen des täglichen Lebens im Auge, die doch entfdieden 
werden miifjen, wenn die Cheleute cine wirtſchaftliche Gemeinſchaft führen follen. Gerade 
deshalb, weil beide Chegatten gleichberechtigt find, muff das Gefes beftimmen, was bei 
Meinungsverfdiedenheiten in diefen Fragen gefdeben ſoll. Es handelt ſich aljo mir 
um Fragen des praftifeen Leben, wie die Wahl der Wohnung und des Wobnorts. 
Fernere Beifpiele bilden die Fragen, wie das gemeinjdaftliche Leben einzurichten ijt, 
in welchem Zimmer gewobnt, um welde Zeit gegeffen werden foll, — alles duferliche, 
an ſich gleichgiltige Dinge, welche das innere Weſen der Che nicht beriibren. Hier 
fol nun die Meinung de3 Ehemannes mafgebend jein, weil das der natürlichen Wuf- 
fafjung entipricht. 

Damit haben wir die Anficht Plands und den wabren Sinn des § 1354 wieder: 
gegeben, und wir wiſſen jest, Daf die Worte ,,alle das gemeinſchaftliche Leben betreffenden 
Angelegenbeiten” ſich nur auf ſolche Angelegenbeiten beziehen, welche ſich aus der 
äußerlichen, praktiſchen Lebensfithrung ergeben. Es ijt ganz verfeblt, aus § 1354 
eine eheherrliche Gewalt oder ebeberrlide Vormundſchaft berjuleiten. Die Frau des 
Biirgerlichen Gefeghuchs fteht als gleicbberechtigte Perjinlicfeit neben dem Manne, 
fie ijt nicht weniger miindig, als er eS ijt. Ferner betrifft der § 1354 nur folde 
Angelegenbeiten, welche beide Chegatten gleichermaßen angeben, alfo reine Che: 
angelegenbeiten. Weiter reicht dad Beſtimmungsrecht des Mannes nicht. Mus dem 
§ 1354 fann deshalb eine Befugnis des Mannes, dic Briefe der Frau zu eröffnen, 
nicht entnonunen werden. Der Mann kann nicht fagen: die Frage, ob id) die Briefe 
meiner Frau öffnen darf oder nicht, entſcheide ic) Dabin, dak ich mir dieſes Recht 
sufpreche. Denn die Rorrefponden; der Chefrau ift Feine dads gemeinſchaftliche Leben 
betreffende Ungelegenbeit, — fo wenig wie die Des Mannes. Man wird dagegen ein: 
wenden, daß ſich der Briefweehfel inunerhin auf gemeinfchaftliche Angelegenbeiten im 
Sinne des § 1354 beziehen könne. Diefer Cimwand ijt aber nicht fticbaltig, weil 
der Briefwedfel felbjt durch feinen Inhalt noch nicht cine gemeinſchaftliche Angelegenbheit 
wird: das Norrefpondieren als folded iſt cine eigene WAngelegenbeit jedes Che: 
qatten, Das Brieferdffnungsrecht des Mannes würde alfo einen Cingriff in das 
Sndividualredt der Frau bedeuten, eine VBevormundung, die ihre perfſönliche Würde 
verlebt. 

Kohler freilich meint in feinem bereits genannten Auffag, der Mann miiffe 
Cinblic in alle Besiehungen der Frau haben, er habe das Recht, alle das Cheleben 
ftérenden Cinfliiffe absuwenden, er fei der Wabhrer der Würde des Haufes und ibn 
treffe 8, wenn die Chre des Haufed einen Makel erfabre. Deshalb dürfe der Mann 
bie Briefe der Frau öffnen. Wir aber meinen, daß die vow Robler aufgefibrten 
Cigenfcbaften und Redte gerade fo gut der Frau wie dem Manne jufommen, dag die 
Frau nicht weniger als der Mann die Ehre und Würde des Haufes yu vertreten hat. 
Much fonft gibt Kobler hier merkwürdige Anſchauungen yum Velten, Rach feiner Anſicht 


Darf der Ehemann die Briefe feiner Frau Sffnen? 2038 


darf nämlich der Mann Briefe an die Frau einfach fiir jich behalten, wenn er glaubt, 
daß fie zur Mitteilung an die Frau nicht geeignet find; ex braucht ihr nur mitzuteilen, 
daß er auf die Briefe Befchlag gelegt babe. Hat der Chemann Grund yum Verdadt 
der Untreue, fo darf er die Briefe der Frau fogar ſtillſchweigend zurückbehalten, um 
fie im Scheidungsfalle als Beweismittel yu verwerten. Die Frau bat ibrerfeits fein 
Derartiges Kontrollredt gegen den Mann, auch nicht fir den Fall, dag fie quten Grund 
zum Verdacht de3 Chebruchs hat. Denn das ware „ein ſchwerer Cingriff in die dem 
Ehemann jujtebende Autoritat und Obmacht“!! Auch ein Durchwiiblen der Schränke, 
die Der Mann aus Verfeben unverſchloſſen lick, wire nach Kobler cin ſchwerer Frevel 
der Frau, und das Gericht muß nad) feiner Anjicht einen auf ſolche Weiſe erlangten 
Brief als Beweismittel ablehnen!! Danach darf alfo der Mann dem Chebruch der 
Frau rückſichtslos nachfpitren, die Frau aber dem Chebruch des Manned nicht, — 
denn der Mann ift ja „der Wabrer der Wiirde des Hauſes“! — Wie man folche 
Ungerechtiggeiten heute nod fiir Recht ausgeben kann, ijt geradezu unverſtändlich. 


* ¥ 
* 


Mus § 1354 des Bürgerl. Geſetzbuchs Lift ſich alſo die Befugnis des Ehemannes 
sur Bricferdffnung nicht berleiter. Man fann aber verfucht fein, fie auf den zweiten 
in Frage fommenden Paragraphen zu ftiigen, auf den Sag des § 1353: ,, Die Chegatten 
find ecinander zur ehelichen Lebensgemeinſchaft verpflidtet.” Nach diefer Vorſchrift 
müſſen die Ehegatien alle diejenigen Pflichten gegeneinander erfiillen, welche die edhte 
und recite She erfordert. Zu diefen Pflichten gehört zweifellos auch die vollſte 
gegenfeitige Aufrichtigkeit; das bedarf feines Beweiſes. Man fann nun daran denen, 
aus der Pflicht der Ehefrau zur Aufrichtigkeit das Recht des Mannes zur Brieferöffnung 
berjuleiten. Tut man das, fo muß man fiir alle Fille auch dev Frau das Rect geben, 
die Briefe des Manned ju Hffnen; denn die Verpflichtung zur WAufrichtigheit beftebt auc 
fiir den Mann. Wir find aber anderer Meinung. Aus der Pflicht des einen zur 
Aufrichtiqteit folgt noch nicht das Recht des anderen zur Brieferdffmmg. Rann aud) 
jeder Chegatte verlangen, daß ihm der andere alle fiir ibn widhtigen Angelegenheiten 
mitteilt, fo darf er dieſe Mitteilung dod) nicht durch Gewaltmaßregeln erjwingen. 
Die cigenmachtige Offnung der Bricfe des anderen Chegatten wäre cine Geiwaltmapregel, 
Die im Widerſpruch mit der perſönlichen Achtung fteht, auf welche die Ebegatten gegen: 
feitiq Anfpruch baben. Colche Mafregeln find geradezu geeignet, das Bertrauen und 
die innere Gemeinſchaft zu vernichten. 

Man kann ſagen, wo der Mann die Briefe der Frau gegen ihren Willen öffnet, 
da iſt der eheliche Friede bereits geſtört, da lebt man nicht mehr in der rechten 
Ehegemeinſchaft. Je mehr ſich aber Eheleute einander entfremden, deſto weniger iſt 
das Offnen von Briefen zu rechtfertigen. Wo die volle innere Lebensgemeinſchaft 
nicht mehr vorhanden ijt, da entfallen die ſittlichen Pflichten des § 1353, alfo 
auch die Pflicht zur Aufrichtigkeit. Tritt noch die Aufhebung der äußerlichen 
Gemeinſchaft hinzu, trennen ſich die Eheleute auch räumlich, ſo hört das Brief— 
eroffnungsrecht ganz gewiß auf. Und doch kommen gerade in dieſen Fallen Vergehen 
des Mannes gegen § 299 des Strafgeſetzbuchs am häufigſten vor. Die Frau bat den 
Mann verlajen, aber ihre Briefe werden weiter in der Ehewohnung abgegeben; da tt 
die Verfuchung fiir den Mann, die Briefe yu erbrechen und fic) auf dieſem Wege 


204 Darf der Ehemann die Briefe feiner Frau öffnen? 


viclleicht Beweismaterial gegen die Frau gu verſchaffen, befonders groß. Selbſt unfere 
Gegner geben zu, daß der Mann bei diefer Saclage das Briefgeheimnis verletzt und 
beftraft werden muß. 

Es fpredien noch andere Griinde gegen den Verſuch, das Brieferdffnungsrecht 
aus § 1353 des Biirgerl. Geſetzbuchs bherjuleiten. Die Pflicht yur Aufrichtigheit ijt 
nicht fo zu verſtehen, daß jeder Ehegatte bis in die kleinſten Kleinigkeiten offen fein 
miifte, daß er keine einzige Angelegenbeit, feinen einzigen Gedanten fiir fid) bebalten 
dürfte. Man darf die fittlichen Pflichten nicht tiberfpannen. Zwei Cheleute find immer 
nod) zwei felbjtitandige Menſchen, fie werden durch die Che nicht yu einer einzigen 
Perjon. Jeder Chegatte behält eine Menge eigenen Fühlens, Denfens und CErlebens 
zurück, aud) wenn er fics dent anderen mit voller Seele hingibt: es gibt nicht nur 
materielles, fondern aud) ſeeliſches Vorbehaltsgut, und diefes Vorbebaltsqut wird um 
fo groper fein, je verfcbiedener das Paar nad Herfunft, Erziehung und Erfabrung ijt. 
Vor dieſen Tatjaden des wirflichen Lebens muß die Pflicht zur Wufrichtigfeit 
Halt machen, und infoweit mug natiirlich auch das Briefgebeimnis unter Cheleuten 
geſchützt fein. 

Nod eine weitere, ſehr wichtige Erwägung ſpricht gegen das Brieferdffnungsrecht 
des Chegatten, die Erwagung, dak nicht nur Gebeimniffe der Chegatten, fondern oft 
aud: Gebeimnijje anderer Perfonen im Spiele find. Es ift nichts Seltenes, dah 
ein Mann dem Chemann, eine Frau der Chefrau Mitteilungen macht, Gedanfen und 
Tatjaden anvertaut, die nicht fiir den anderen Ehegatten beftimmt find. Wir brauden 
beijpielsiveife nur an Chrenhandel beim Manne, an Frauenangelegenbeiten bei der Frau 
ju denfen. Gibt man in diefen Fallen dem anderen Ehegatten das Recht der Brief: 
erdffnung, fo greift man gefegwidrig in das Briefgebeimnis dritter Perjonen ein. 
Eigentlich müßte ſchon Ddieje eine Nberlegung geniigen, um unfere Anjicht, daß der 
Mann die Briefe feiner Frau nicht öffnen darf, yu rechtfertigen. 

Noch ſicherer wird dieſes Ergebnis, wenn wir die Haufigen Faille ins Auge fafjen, 
wo einer der EChegatten ein Amt befleidet oder einen Beruf ausiibt, welde yur Ver— 
ſchwiegenheit verpflicten. Wo bleibt die Schweigepflicht des Staatsbeamten, wenn die 
Chefrau feine Briefe öffnen darf? Wo bleibt die Pflicht des Rechtsanwalts, de3 
Notars, des Arztes, de3 Apothefers und der Hebamme und ibrer Gebilfen, die ibnen 
anvertrauten Brivatgebeimnijje der Klienten und Patienten zu verjdweigen, wenn die- 
Ehefrau oder der Ehemann deren Briefe öffnen dürfen? Man bedenfe nur, dah diefe 
Perfonen wegen Offenbarung folder Privatgebeimnijfe in Strafe genommen werden 
finnen! Nad der herrfchenden Anficht ift es Der Ehefrau allerdings unterfagt, die 
Briefe des Mannes ju eröffnen, und damit wird diefer Teil der Falle erledigt; foll 
aber fiir die Hebamme und die Arztin etwas anderes gelten? Oder fiir die gablreichen 
Gebilfinnen der Rechtsanwalte und Apothefer? Für diefe Fälle müſſen auch unfere Geqner 
sugeben, dah der Chemann das Recht yur Brieferöffnung nicht haben darf, und diefe 
Ausſchließung muß ſich auf alle Briefe der Frau erftreden; denn der Aupenfeite des 
Briefes fann man es faſt niemals anjeben, ob er cin beruflicher oder privater Brief 
ijt. Unfere Gegner feben in diefen Fallen nur Ausnabmen vom Pringip; wir aber 
feben darin eine neue und febr kräftige Beſtätigung der Anficht, dak fein Ehegatte die 
Briefe des anderen eigenmächtig öffnen darf. 


* * 
* 


Darf ber Chemann bie Briefe feiner Frau Sffnen? F 205 


Wir find am Ende unferer Unterjucdung. Sie hat uns gezeigt, daß der Ehemann 
das Briefgebeimunis feiner Frau nicht weniger gu achten hat als jede andere Perſon. 
Auch er wird, wenn er das Briefgeheimnis verletzt, gemäß § 299 des Strafgeſetzbuchs 
beftraft, wenn es die Ehefrau beantragt.') Natiirlich find folche Anträge felten, folange 
die Eheleute zuſammen leben; die meijten Strafantrage diejer Art ftammen von Ehe— 
frauen, die getrennt von ibrem Manne leben. Das geſetzliche Pringip erfabrt übrigens 
aud eine gewiſſe Einſchränkung: jeder Chegatte ift als befugt yur Eröffnung eiliger 
Briefe des anderen Chegatten zu erachten, wenn legterer ſchwer krank oder auf längere 
Beit verreift ijt; er bandelt dabei ale Vertreter des Adreſſaten in deſſen eigenem 
Intereſſe. Jn der Praris wird es auc nocd andere Fille geben, wo der Richter 
nach den befonderen Umſtänden ded Falles die Brieferöffnung fiir erlaubt und gerecht— 
fertigt anfeben fann; aber dieje Falle ändern nichts an bem Prinzip, welches wir als 
den wabren Willen des Geſetzes ermittelt baben. 

Werfen wir ſchließlich noch einen Blid auf das ausländiſche Rect, fo finden 
wit nur cin einjiges Gefegbuch, das den Ehemann ausodriidlich yur Brieferöffnung 
ermiachtigt; es ijt das fpanifde Strafgefegbud (art. 512). Jn Frankreich gibt es 
nod) fein Strafgefes gegen die Verlepung des Briefgebeimniffes durch Privatperjonen; 
die bürgerlichen Gerichte aber fteben auf dem Standpuntt, daf der Ehemann den Brief: 
wedfel der Frau fontrollieren und die Briefe Hffnen darf. Das hangt wohl mit der 
befonderen Auffajfung zuſammen, die die Franjofen von der Stellung ber Chefran 
haben; es walten bier Ddiejelben riidftandigen Anfchauungen, die bet uns Robler 
vertritt. In England ijt cin folded Privileg des Chemannes nicht anerfannt; Kohler 
lieft es falfchlid) aus der Post office Act von 1891 heraus. Jn Italien endlich ijt 
die Rechtslage diefelbe wie bei uns. Der art. 159 des codice penale beginnt vie 
unſer § 299 mit ben Worten: chiunque apre indebitamente una lettera etc., und 
fagt auch nicht, wer eigentlich) indebitamente (unbefugt) bandelt. Deshalb fireiten fid 
auch dort die Qurijten dariiber, ob der Ehemann die Briefe feiner Frau öffnen darf 
oder nicht. Wabrend 3. B. Pincherli die Frage bejabt, hat ſich Giannini (Archivio 
giuridico Bo. 47, S. 620) obne Einſchränkung ju der von uns vertretenen Anſicht 
befannt; ob ibm die italienifcben Gerichte gefolgt find, baben wir leider nicht feſt— 
ftellen fénnen. , 
—— an 

1) Erfreulicherweife hat fic auch ber Oberreichsanwalt Olshaufen, ber angefebenfte Interpret 
des Strafgeſetzbuchs, in ber neueften Auflage feines Kommentars (1901) auf diefen Standpuntt geftellt, 
fo daß cine Wandlung in ber herrſchenden Rechtsanſchauung gu erwarten ftebt. 





206 


Jn neuer Spiegelung. 


W. Fred. 


Raddrud yerboten. —ñNin ⸗ 


pad bin nicht Mutter, habe keine Mutter, 

bin fein Geſchwiſter, babe fein Gefchwifter, 

lieg’ vor der Tir und bin bod nicht der Wachhund, 
ic red’ und ftebe dod) nicht Rede, lebe 

und lebe nicht, bab’ langed Saar und fiible 

doch nichts von bem, mas Weiber, beift es, fühlen . .“ 


KR verlafjener, in der Tiefe der Brujt verjengter Menſch kreiſcht febrill auf... . 
v5 Hamletiſch' Schidjal ijt einer Frau beſchieden geweſen. Taufendfach verſtärkt, 
verſchärft durch niedrigite Demütigung, durch vollfte Einſamkeit tragt cin Weib in fid 
des Dinenpringen Rachepflicht und Rachelujt. Das Kind fiillt der cine Gedanke, Blut 
mit Blut zu fiibnen, der Jungfrau löſt die Scam, die Schleier, die fonft der Welt 
Schreden bold verbiillen, eine grauſe Vorjtellung: das Richtbeil yu ſchwingen. Und 
wenn eine Hoffnung nad einem Menſchen auffeimt, wenn Liebe zu Schweſter und 
Bruder quillt — fo ijt auch ſolcher Sehnſucht Ziel nur gellende Race, Blutdurjt, ein 
Taumel graufamfter Vergeltung. Das Haupt ijt ausgebrannt, die Seele ift verzehrt, 
aus einem jungen Weib bat die Kraft fremder Triebe cine Crinve gemacht, cine gierige 
Mänade, cin wildes Tier, das cine Luft nur beherrſcht, cin Zukunftswunſch zerfreſſen 
hat: den Mord am Vater foll der Tod der Mutter und des Bublen aufwägen. Des 
Weibes Schidjal ijt ibr fremd; fie bat erlebt, wie Kinder ihre Miitter haſſen, verachten, 
in elenden Tod hegen; fie fann nicht wünſchen, daß ibrem Schoß eine beilige 
Frucht erwadfe, cin neues Leben fich von ihrem löſe, das ibrem doch auf ewige Zeit 
gu Luft und Leid verbunden iſt .. .. Diefe kräftigſte Melodie tint nicht im Obr 
Elektras. Die Kindespflicht hat ihr die Mutterfebnfucht aus dem Herzen geriffen. 
Die zarte, warme Schweſter Chryfothemis ift voll von diefer Weisheit, diefer Sehnſucht. 
Einen geliebten Mann will fie, und fei’s ein armer Knecht. Die Laft werdenden Lebens 
will fie fpiiren; ſchwer tragen und ſchmerzlich gebdren; die lang verbaltene Mutterluſt 
endlich ausſtrömen laſſen, „aus ſchweren Briiften Rinder faugen”. Reich werden, wie 
fie bisher allju lange Zeit arm war. Reich wie nur Mütter find — arm wie nur einjame, 
abjterbende Pflänzchen. Neben Elektra wuchs die Chryſothemis im gleichen Schickſal, 
zu fo abgründig wverfciedener Art. Die Vergangenheit yu ſühnen iſt Elektra auf der 
Welt; und ibre verdorrten Arme find zu ſchwach yur Tat. Sie fann fie nur aus: 
ftreden nad Oreft, dem Bruder, der vollbringt, wonach fie lechzt. Wn ibr vorbei aber 
wuchs die kleine Schweſter, der feine Heldengröße, feine Ubermacht heroiſcher Gefiible 
die Brujt fprengt, die Feine aufs duferfte geſpannten Nerven, aber wache, verlangende 
Sinne hat, und begebrt die Bufunft, des Weibes Schidfal. Und wir, in neuen Gefiibls- 


In neuer Spiegelung. 207 


freifen erwachſene Menfchen, erfeben die Tragif de antifen Mythos mit taufendfaltigem 
Schmerz, in quialendjter Erfchiitterung gerade durch dieſes Gegenfpiel und Gegenbild, 
durch dieſes neue Moment, das der antifen Faffung fremd, der Götterſage nie eigen 
geweſen ijt. 

Darum ift die „Elektra“ de Wiener Kiinjtlers Hugo von Oofmannsthal') 
eine neue Dichtung, fo neu wie Goethes Aphigenie, wie irgend eines ewigen Stoffed neue 
Durchdringung eben fein Fann. Die Scenenfolge mag da und dort dem Sophofles 
genommen fein. Das, was allein ciner Dichtung die Form und das BWefen gibt: 
die Gruppierung, der Untergrund von Stimmungen und Gefiiblen, aus denen die 
Geſchehniſſe erwachfen, ijt frei von aller antifen Art. Denn der Sinn der 
Dichtung — antifer Seele weit fremder als unferer — ijt die bange Frage: Müſſen 
wit die Vergangenheit fortzeugen laſſen, müſſen wir unfrudtbar bleiben, der Zukunft 
verſchloſſen? Rinnen wir nicht aus dem Finftern ins Helle ſchreiten, der anderen, 
die wir geftern und ebedem waren, Ungliid vergeffen und alle Rache fein laffen? 
Der Weiber Amt ift neujufniipfen . . . 

Wie fic) die Menſchen unter der Fault des übermächtigen Schickſals eriveijen, 
zeigt die Tragödie. Menſchen, anne, nervife, gepeiticdte Menſchen find die Geftalten 
der Hofmannsthalfchen Cleftra; der Götter und Halbgötter Reich ijt zermorſcht, 
jerflattert. Und indes Elektras grauenvolle Krankheit, ibre irre Ceele uns peinigt, 
indes Klytaimneſtras Unjeligheit uns in der abfcbeulichjten, untrenen Gattenmbrderin 
die arme Geplagte verfpiiren Lift, und die endliche Sühne Cleftras Leste Cnergien in 
einen twiijten Tanz zuſammenpeitſcht — iwebt von der Frucstbarfeit der Chryſothemis zu 
uns ein ftarfer, voller Duft der Menfeblichfeit. Und um fo graufer erleben wir 
die Tragödie. 

„— — — & ich fterbe, 
will ich auch leben! Rinder will ic) haben, 
bevor mein Leib verwellt, und war's ein Bauer 
bem fie mich geben, Kinder will ich ibm 
gebiren und mit meinem Leib fie wärmen 
in falten Nächten, wenn ber Sturm bie Hiitte 
zuſammenſchüttelt . . .” 

„— — Dit Meffern 
grabt Tag um Tag in dein und mein Geſicht 
fein Mal und draufjen geht die Sonne auf 
und ab, und Frauen, die ich ſchlank gefannt bab’, 
find ſchwer von Segen, mühen fic) gum Brunnen 
und beben faum ben Gimer, und auf cinmal 
find fie entbunden ibrer Laft und fommen 
jum Brunnen wieder und aus ihnen felber — 
rinnt ſüßer Tranf und faugend hangt ein Leben 
an ibnen, und die Rinder werden groß — 
und immer figen wir bier auf der Stange 
wie angebangte Vogel, toenden links 
und rechts ben Ropf und nicmand fommt, fein Bruder, 
tein Bote von dem Bruder, nicht der Bote 
von einem Boten, nichts! Biel lieber tot, 
ala [eben und nicht (eben. Rein, ich bin 
ein Weib und will cin Weiberſchickſal.“ 


) Die Buchausgabe: Bei S. Fiſcher, Berlin 1903, 


208 Sn never Spiegelung. 


— — — , Cin Weib und will ein Weiberjcidjal”; das ijt der neue Ton. 
In dieſen prachtvollen Berjen ijt der Riinjtler Hugo von Hofmannsthal ein eigener 
und voller Dichter geworden. Die verdorrte Eleftra, ein gebegtes, wilde} Tier und 
Chrvjothemis, in der alles nad Fruchtbarkeit, nach neuer Zufunft drängt — das it 
die neue Spiegelung, die der ewige Stoff von der Mütter Sünde, dem fortyeugenden 
Verbrechen, der tragiſchen Schuld bis ins ferne Gefcblecht erhalten bat. 

(Hier muß angemerft werden, dak im „Kleinen Theater” yu Berlin, dem wir 
die endliche Lofung vom gleichgiltigen Theaterfpiel mehr oder weniger zu danfen 
haben, Frau Evfoldt und Fraulein Höflich dieſe beide Frauen mit einer Kraft und 
Gripe geftaltet haben, dak feine Seele unerſchüttert bleiben fonnte.) 


* * 
* 

Das neue Trauerfpiel Gerhart Hauptmanns „Roſe Bernd“) zeigt Gleiten, 
Kämpfen, Irren, Zerſchellen und Ermatten einer armen Magd. Sie wird ſündig, es 
ijt ihr Schidjal fiindiq ju werden. Man kann keinen anflagen, daß fie es ward, aud 
jie nicht. Oder man muh fie alle Verbrecher heißen, die dieſes friſche Rind ins 
Straucheln brachten und allein liefen und demiitigten und in Wirrjale führten, denen ibr 
gerqualter Leib und ibre zage Seele nicht Wideritand balten fonnten; und man muß 
jie felber ſchelten, ſie eine Dirne und ein ſchwaches Geſchöpf und cine Kindesmörderin heißen, 
die Dod) nur wie alle um fie den Trieben nicht wideriteben Eonnte, den Gewalten der 
swingenden Natur. Die wirklich practvolle Geredhtigheit, mit der Gerbart Hauptmann 
den Menſchen ſeines Schaufpiels Fruchthares und Hemmendes, Starfes und Schwaches 
zuteilte, ſodaß man fie alle begreift und feinen einzelnen als Böſewicht und Schuld— 
triger bezeichnen fann, — ift mir denn auch das Schönſte an dieſer Dichtung, die 
leider auch diesmal ſchlackenhaft und unficher, noch nicht yur Fille und Reife gedieben, 
aus des Dichters Hand ins Bühnenhaus getragen wurde. 

y dia fellde vielleicht dod ane Mutter ban...” fo bricht es aus Rofe Bernd 
hervor, die allein im Unglück ftebt trop mancer Liebe, die fic ihr juneigt. Der 
Vater ijt ihr fern, in pietiſtiſch frömmelnder Enge begrenzt; der Bräutigam fceint der 
natiirliche Feind des Madchens, die einem anderen Mann gebirt hat; der Verführer, 
der Geliebte ijt unfrei, und fie trennt fic von ibm, um ibrem Kinde cinen Vater ju 
geben; einer gütigen Frau, die belfen will, fann fie fich nicht offen hingeben, denn 
die ijt des Geliebten Chefrau. Und eine Mutter hat fie nicht, die nun ſelbſt Mutter 
werden foll. 

Die Rofe Bernd ijt ein herzhaftes, ſchönes, kräftiges und braves Mädel geweſen, 
und lange bat es fie nicht angefodten, daß ibr die Manner immer iiber den 
Weg gelaufen find und ihrer jungen Kraft nachgeſtellt haben. Bis dann die Liebe 
auffuntelte, und Wald, Wiefe, Weidenbujd und Sonnenſtrahl Seuge der Zärtlichkeit 
wurden, die fie mit Chriftian Flamm vereinte. Sie lieben fich, aber fie können nicht 
zueinander; denn Flamm, der Wohlhabende unter den Landproletariern, yu denen Roſe 
qebort, bat daheim eine franfe, gebrechliche Frau ſitzen, dev er äußerlich wie innertich 
fiirs Leben werbunden ift und die vom Rollftubl aus durch Vretter feben fann, Flug 
und gut ift, die milde Weife diefes Menſchenkreiſes. Sie bats erfabren, wie das mit 
Mannern und Weibern ijt, die vom Geſchlechte gebebt werden, und fie, deren Sinne 


') Die Buchausgabe: Bei S. Fiſcher, Berlin 1903. 


Yn neuer Spiegelung. : 209 


längſt in Milde umgebogen find, fennt die eine Triebfraft des Lebens, die uns 
geſchaffen bat und uns ju Schöpfern macht. Sie bitte belfen können . . . Aber 
Roſe ijt einem gierigen Mann ins Neg geqangen, der ibre Liebfchaft entdedt bat, der 
mit Enthiillung drobt. Und Roſe will fic retten, den Vater fdonen, dem Kinde, 
das wächſt, Unterfeblupf geben. Man halt immer cinen Arm in die Hobe, will was 
aus dem Feuer retten, da brechen fie cinent alle Knochen entzwei — das ijt Roſe 
Bernd's Geſchick. Sie gebt yu Stredmann, um ibn zu faufen und bat fic) dod) nicht 
losqefauft. Der hat Blut geledt; ijt eiferſüchtig, jähzornig, gereizt, fein falter Gund, 
fondern ciner, Der die Weiber verachtet und fic, weil er fle braucht. Darum als 
einmal die Sonne heiß fibers Feld brennt und alle Fruchtbarfeit in die ſchwüle Luft 
drängt, ftofen die Gewalten aneinander, Stredmann bedringt Roſe, der Bräutigam 
und der Vater kommen hinzu, eine Keilerei entfteht, dem Brautigam jtopt Stredmann 
ein Muge aus und geht weg, die Roſe ſchmähend: „Frovolk, die mit aller Welt a 
Gejtede hat . . .” 

Nun iſt's um Rofe Bernd geſchehen. Sie weiß nicht aus, nods cin. Die Frau, 
Die fic Dem Einen aus der Fiille ibrer Liebe gegeben hat, vom Andern ſich widerwillig 
und von rober Gewalt hat nehmen laſſen, ijt jest preisgegeben. Der Bater hat 
qeflagt, ibre Ehre fei verlegt. Und Stredmann tritt, um im Bereich juridiſcher 
Wirklichkeit zu bleiben, den Wahrheitsbeweis an. Flamm fagt unter Cid die Wabrbeit, 
aud) Stredmann, nur Roſe Bernd wird meineidig. Cie litgt nunmebr 346 und fred, 
liigt, leugnet alles. Sie läßt fic nicht mehr belfen. Cin wüſter Zorn, driuende 
Wut fiber alles und alle fiillt fic, erftict fie. Als ihr Bewuftfein noc wads war, 
wollte fie dem Rinde leben; mun aber ijt fie wirr und weiß nur Cines: „Ich boa 
mich geſchaamt“. Fran Flanun will belfen, retten, aber Rofe geht auf die Strafe 
Unter dem Weidenbaum eriviirgt fie das Rind, dem fle das Leben gibt. Dann 
kommt fie beim, elend, gehetzt, birt den Vater, der fie verſtößt, den Bräutigam, der 
jie bei fics bebalten, mit ſich nehmen will, den Gendarmen, der die Anklage wegen 
des Meineides bringt, und wahnſinnig in ihrer Wut, niederbrechend wie cin Stück Wild, 
ſchreit ſie ihr Verbrechen heraus. „Das Madel, was muß die gelitten ban. . .” 
ftebt zum Beſchluſſe da. 

Eine Kindesmörderin ijt Nofe Bernd. Der Stoff ijt alt. Bor Goethe und nach 
Goethe, immer wieder ijt an ibm dad Beitgefiibl, die moraliſche und philoſophiſche 
Kraft einer Generation gepriift worden. Die Spiegelung, die das Begebnis bei 
Hauptmann gefunden bat, ijt niet allzu ſcharf. Halb Abſicht, halb dramatiſche Unficher- 
beit geben da die Griinde. Roſe Bernd verlangt vor allem unſer vorwurfsloſes 
Mitleid, das erhalt fie auch durch die Erfchiitterung, die der letzte WEt bewirft. Aber 
es Feimt in uns nicht, weil wir die befondere und gerechte Ethik diefer Roſe Bernd 
feben und annebmen, auch nicht, weil wir in ibr das willenloſe Opfer frember Schuld 
entdecfen könnten, fondern nur darum, weil wir nicht mebr gewillt find, ſchwere menſchliche 
Tragif moraliſch ju werten, und die Qual vor der Tat uns mehr angeht und ergreift, 
als die Tat und ibre fozinle Bedeutung felbjt. 

Das gehetzte Weib, dem man das Recht ihrer Mutterſchaft nicht laffen will — das 
ift Die Kindesmörderin, die Hauptmann binjtellt. Die große Chrfurdt vor dem Kinde, die 
Selbftverfiindlichfeit des griften Menfchenwunders (... Wunders, tro’ Haeckel und aller 
naturwiſſenſchaftlichen Klarheit), das jind dic Momente, deren Abweſenheit in unjerem 
Dafein Roje Bernd verwirrt, in Liige, Trug und Mord hetzt. „Heer du uff mich! — 

14 


210 Warenhaus- Pathologie. 


Freu did)! Ma foll fics freu'n ujf fet Rind” . . . fagt Frau Flamm; „nu, Mädel 
s' iS dod) a Glid, was du haſt! Fer a Weib gibt’s fee greferes! Halt du’s fefte!” 
Das find aud) hier wiederum dic ſtärkſten Sage der Dichtung, jene Sige, die den 
Grundton abgezogen von jeder theatralifchen Begebenheit und Scenenwirkſamkeit geben. 

(G3 muf aud) hier wiederum angemerft werden, dah dem Dichter fiir die Frauen- 
rolle cine twunderbare Kraft verjtattet war. Aber die Lebmann als Roſe Bernd nehme 
ich nicht als Schaufpiclerin; da freute man ſich und Litt mit einer Natur, deren 
Exiſtenz 3u fpiiren eine Erſchütterung bedeutet.) 


* * 
* 


Mus ſeltſam weiten Fernen fommen die beiden Dramatifer, Hofmannsthal und 
Hauptmann zuſammen und treffen fic in dem einen LebenSmoment, das ſtärkſtes, 
fructbarjtes und bei Jedem cigenjtes Motiv der Dichtung ijt. Hauptmann, vom 
Naturalismus umjponnen, oft gefejfelt, oft möchte man fagen: quälend belajtet; 
Hofmannsthal, der ſich an allen Kulturen emporgeranft bat — diesmal bat fic) in 
beiden Seelen ewiges Lebensfcbidjal derart gefpiegelt, daß fie beide als Tiefites und 
Innerlichſtes erfannten: Das Weibesfchicfal ijt Empfangen, Warmen, Gebären und 
Leiden. Hier fegt das Leben cin, bier hebt es fich, hier werden Naturen gebroden, 
bier iſt des Daſeins Wendung. 


—N 


Wapenhaus · Pathologie. 


Dr. Fri Alechtner. 


Nachdruck verboten. — — 


usbeutung der Frau! Das bezeichnet Zola in ſeinem Meiſterroman „Au 

X bonheur des dames“ als das Prinzip jener großen Warenhäuſer, die in 
Coe den Legten Jahrzehnten in Paris entſtanden find und von dort ihren Sieges— 
zug durch die ganze Welt angetreten’ haben. Das moderne Warenhaus in feiner 
hichiten Form ijt cin Meiſterwerk der Organijation. Wiles ijt darauf angelegt, die 
Frau anjuloden, fie in Verfuchung zu führen; alle Wünſche nach Bebaglichfeit und 
Luxus, alle Snitinfte der Koketterie follen in ibr erwedt und erregt werden. 

Und die ſenſitive Natur der Frau, ihr ftark ausgepragtes Schönheitsgefühl, ibr 
Hang wu Pus und Schmuck macht fie weniger widerſtandsfähig gegen die Verfiibrung, 
die auf Schritt und Tritt ibr begeqnet. Der Sutritt zu den Warenhaujern ſteht 
jedermann frei; man fann in ibnen ſpazieren geben wie auf den bffentlichen Promenaden; 
ja, man darf nicht nur im Anblick diefer Reichtiimer fehwelgen, man darf die aus- 
geſtellten Gegenjtinde — yum qrofen Teil wenigjtens — in Die Hand nebmen, fie 
befiiblen, und das alles reizt die Begierde nach ihrem Beis. Cine weitere Verlodung 
hat das franzdfifde Warenhaus in dem Syſtem der freien Riidgabe gefaufter Gegen- 
ſtände geſchaffen. Wie mance Frau, die fonjt ftandhaft geblicben ware, erliegt dadurch 
der Verfuchung; hat fie doch den Troſt, die Waren wieder zurückgeben ju können, 
wenn fie Neue iiber Den Rauf empfinden follte. 

Uber die Käuferin muß auch feftgebalten werden in den Räumen, die fie ein- 
mal betreten. Daher will das Warenbaus ibr gewiffermafen ein zweites Heim 


Warenhaus: Pathologie. 211 


bieten, ſchöner und lururidfer als das ibrige. Ait fle müde und abgefpannt durch 
das Umberwandern, fo laden Erfriſchungsräume, Leſe- und Schreibzimmer, zauberiſche 
Wintergdrten yur Rube und Erbholung ein. 

So ijt es denn fein Wunder, dah gar mance Frau, berauſcht von der Fiille 
deſſen, was fie fiebt, was fic ihr darbietet, ihr die Hände entgegenjujtreden ſcheint — 
ſich von ibrer Begierde hinreißen läßt und kauft, immer wieder kauft, weit fiber ibre 
Mittel binaus. 

Es wird nur wenige Frauen geben, die bei einem Befuche des Warenhauſes 
niemalS den einen oder anderen Artikel mit gefauft baben, deſſen Anſchaffung von 
vornherein garnicht in ibrer Abjicht gelegen hatte. Bola hat in einer ausgezeichneten 
Szene feines Romans ausgefiihrt, wie eine Frau das Warenhaus betritt mit dem 
fejten Vorjas, nur ein Schnürband ju faufen, und wie fie dann, bingerifjen von der 
Pracht der Auslagen, beraujeht von der ganjen Atmosphare des Warenbaujes, in 
finnlofer Leidenſchaft alles jufammenfauft, was ibre Begierde im Augenblick reizt: 
geltidte Handſchuhe, Sebleifen, einen Sonnenſchirm, Unterride, Cervietten, Vorhänge, 
cine Lampe, drei Schilfmatten, einen Mantel fiir 110 Franks, ein Rorjett, Pelz— 
manjdetten, ruſſiſche Spitzen, Elfenbeinknöpfe, einen emaillierten Streichholzkaſten, 
ſeidene Mauschen und ein Arbeitstiſchchen. — 

Für dieſe Madame Marty iſt der Beſuch des Warenhauſes ein Bedürfnis wie 
für andere der Beſuch der Kirche; ſie würde krank werden, wenn ſie nicht regelmäßig, 
täglich hingehen könnte. Sie vernachläſſigt ihr Hausweſen, ruiniert ihren Mann, der 
Profeſſor iſt und ſich abquälen muß, um durch immer neve Nebenarbeit ihr die Mittel 
zu verſchaffen, ihrer unerſättlichen Begierde zu genügen. Noch kauft ſie alles, aber 
eines Tages, wenn ihre Mittel erſchöpft fein werden, dann wird wohl das traurige 
Ende bei ihr fein: Der Diebjtabl. 

Und aud den Diebftabl im Warenhauſe bat Zola uns vorgefiihrt. Nicht in der 
gewöhnlichen Form, wie er alle Tage in den Zeitungen uns begegnet; nein, feine 
Diebin ijt cine vornebme Dame der erjten Geſellſchaftskreiſe, ihr Mann ein bober 
Staatsheamter. Diefe Madame de Boves ijt von einem wahren Spigenfieber ergriffen. 
Berge der feinjten, dujftigiten Spigen (apt fie fic vorlegen, um darin zu wühlen, das 
ijt ihr höchſter Genuß; und in ibrer wabnfinnigen Leidenſchaft ftieblt fie eines Tages, 
obwobl fie nod genug Geld beſitzt, um zu faufen. Ihre fosiale Stellung ſchützt jie 
davor, mit dem Strafrichter in Beriihrung ju fommen; jie muß, wie ſchon viele andere 
Damen der vornehmiten Kreiſe vor ibr, einen Schein unterſchreiben, in dem fie yugibt, 
cinen Spitzendiebſtahl verubt zu haben; dann darſ fie frei das Warenhaus verlajjen. 

Mancher Lefer wird glauben, daß es fich bierbet nur um Ausgeburten dichteriſcher 
Phantaſie bandelt. Wie follte cine Frau aus diefen Kreiſen durch ihre Leidenſchaft fich fo weit 
hinreißen laſſen, daß fie fo ganz ibre Selbſtbeherrſchuug verliert, jo villig taub wird gegen 
alle Mabnungen des Gewiſſens! Und dod find es feine dichteriſchen Nbertreibungen, 
traurige Wabrbeit ijt es, die uns da entrollt wird. Je mebr die Warenhaufer wuchſen 
und ſich vervollfommneten in der Pracht ibrer Auslagen, defto größer wurde die Sabl 
der Diebjtible, die in ihnen veriibt werden. Und was das allgemeine Intereſſe an 
dieſen Warenhbausdiebftiblen ganz; befonders wachgerufen bat, ijt die Tatſache, daß 
dieſe Diebinnen febr oft zu den woblhabenden, nicht felten fogar ju den reichen 
Geſellſchaftskreiſen gehören. 

Können dieſe Frauen — denn um Frauen handelt es ſich faſt ausſchließlich bei dieſen 
Diebſtählen — als gewöhnliche Diebinnen angeſehen und verurteilt werden? Hat man es 
hier nicht vielleicht mit einer Krankheit zu tun, oder mit einer Abart der Kleptomanie, der 
die von ihr Befallenen widerſtandslos unterworfen ſind? Dieſe Fragen mußten ſich 
notwendigerweiſe dem Strafrichter aufdrängen, umſomehr als die Zahl dieſer Verbrechen 
fortdauernd wuchs. Heut vergeht kaum ein Tag, an dem nicht eine der Pariſer 
Strafkammern eine des Diebſtahls im Bon Marché, Louvre, oder Printemps angeklagte 
Frau zu verurteilen hätte. 

Einen bedeutſamen Beitrag zur Löſung der Frage nach der Verantwortlichkeit 
dieſer Diebinnen bietet eine. vor kurzem in deutſcher Nberfegung von Alfred H. Fried er— 

14* 


212 Marenhaus: Pathologie. 


ſchienene Schrift des Chefarzte3 vom St. Annen-Aſyl in Paris, Dr. Paul Dubuiffon , Die 
Warenhausdiebinnen.” (Verlag von Hermann Seemann, Nachf. Leipzig, 1904. 181 S. 
Preis 2 M.) Als Sachverjtindiger des Seine-Tribunals hatte der Verfaſſer Gelegenbeit, 
eine grofe Anzahl diejer Frauen auf ibren Gefundheitszujtand ju unterſuchen. Diefe 
Beobachtungen bilden die Grundlage feines Werfes, das nicht nur fiir Arzte und 
Richter, fondern auch fiir die Allgemeinheit von größtem Intereſſe fein dürfte. 

Dubuiffon fpricdt von einem befonderen Warenhaus-Rauſch, der Magazinitis, 
der dieſe Frauen befallen hat und ihnen die Kraft raubt, den Verjuchungen yu wider— 
jteben, die ihnen im Warenhauje bereitet werden. Aber nicht alle Frauen find in 
Gefabr, von diejer Magazinitis befallen yu werden; ein befonders nervifes Temperament 
ijt die Vorausſetzung dafür. Alle diefe Diebinnen find nach Dubuiffons Anſicht frank, 
unjurechnungsfabig bis ju einem gewijjen Grade, können daber aud) nicht zur vollen 
Verantwortung ibrer Tat gezogen werden. Auf Grund von 120 Beobactungen ijt 
er zu Diejem Ergebnis gelangt; 29 davon, typiſche Fille, teilt er in feiner Schrift mit. 

Nur in 9 Fallen hat er einen charafterifierenden Krankheitszuſtand nicht ent: 
deden fonnen; die übrigen 111 Perjonen weijen geijtige Störungen auf, hervorgerufen 
durch RKranfbeiten des Geiftes oder Rirpers. Schwere Geijtesfrantheiten (Paralyſe, 
Irrſinn) waren in 11 Fallen zu fonjftatieren, Geiſtesſchwäche und Geiftesverwirrung 
in 22. Das größte Kontingent yu den Warenhausdiebinnen aber ftellen die Neu— 
rajtheniferinnen (26 Falle) und die Hvfteriferinnen (37 Faille). Mit deren Studium 
bat fic) Dubuijjon denn aud ganz bejonders beſchäftigt, umfomebr, da dieje Krank: 
heiten die größten Schwierigkeiten fiir die ärztliche und juriſtiſche Beurteilung bieten. 

So große Verfchiedenheiten die beobachteten Faille im eingelnen aufiweijen, eine 
Reihe gemeinfamer Merfmale fonnte doch bei allen diefen Diebinnen aufgefunden 
werden. Cie bejinden ſich faſt ſämtlich in guten Verhältniſſen; fie ſtehlen an keinem 
andern Orte als in den großen Warenhäuſern; die geſtohlenen Gegenſtände haben oft 
gar keinen Wert für ſie oder fehlen ihnen nicht; ſie befleißigen ſich in der Regel eines 
unumwundenen Geſtändniſſes, ja ſie beeilen ſich ſogar, auch frühere Diebſtähle zu 
enthüllen und ſelbſt die Schlupfwinkel anzugeben, in denen ſie das Geſtohlene verſteckt 
haben. Die entwendeten Gegenſtände ſind meiſt in dunklen Gängen, in Schränken, 
die niemals geöffnet werden, ja ſogar im Innern von Polſtermöbeln, worin man ſie 
eingenäht hat, verborgen; ſie ſind meiſt unbenutzt, ja unberührt, tragen ſogar noch die 
Preisetikette des Geſchäfts. Vor Gericht haben alle dieſe Frauen nur ben einen Ge— 
danfen, fic) Dagegen zu webren, dah fie wie gewöhnliche Diebinnen bebandelt werden. 
Sie wollen ſich deſſen, was ſie taten, nicht bewußt geweſen ſein, und ſie gebrauchen 
alle die gleiche Entſchuldigung: Es kam wie ein Rauſch über mich — ich verlor 
den Kopf. 

Viele zeigen eine merkwürdige Reſignation, ja ſogar eine Art Erleichterung. Sie 
erzählen, daß die Warenhäuſer auf die Dauer eine Plage für ſie wurden, und ſie 
ſind glücklich, endlich von dieſer Qual erlöſt zu ſein, wenn es ihnen vielleicht auch 
teuer ju ſtehen kommt. Andere wieder find verzweifelt, daß fie nun nicht mehr in die 
Warenhäuſer werden gehen können, die bisher ihr ganzes Leben erfüllten. 

Intereſſant ſind auch die Enthüllungen, die ſie über ihre Empfindungen vor und 
im Augenblick des Diebſtahls machen. Faſt alle beſchreiben die auf ſie ausgeübte 
Wirkung als eine Art Rauſch, der auf einzelne ſofort wirkt, ſo daß dieſe ſchon beim 
erſten Beſuch des Warenhauſes ſtehlen, während andere, die Mehrzahl, die verhängnis— 
volle Wirkung des Giftes erſt nach Wochen, nach Monaten verſpüren, nachdem ſie 
gewiſſermaßen täglich eine neue Doſis zu ſich genommen haben. 

Der Diebitabl ſelbſt ijt fiir die meiſten ein Genuß; jie empfinden cin nicht zu 
beſchreibendes Gefühl der Freude dabei und ſind glücklich, etwas, ſei es auch noch 
ſo unſcheinbar, weggenommen zu haben, ohne es zu bezahlen. Und für viele bedeutet 
der erſte Diebſtahl eine totale Veränderung, man könnte ſagen, den Anfang eines 
neuen Lebens. Die Wirtſchaft, der Gatte, die Kinder, alles tritt in den Hintergrund; 
ſie haben nur noch den einen Gedanken, in das Warenhaus zu gehen und dort zu 
ſtehlen. Gewiß werden viele von den heftigſten Gewiſſensbiſſen gepeinigt, oft ſo ſehr, 


Warenhaus: Pathologie. 213 


daß fie feinen rubigen Schlaf mehr finden finnen; aber der Drang, das Bediirfnis, 
den Diebjtabl zu wiederbolen, ijt fo unwiderſtehlich, daß fie nach kürzerem oder 
langerem Zögern immer wieder das Warenbaus auffuchen und dort fteblen. 

So handelt es fic) bei diefen Frauen meift um rückfällige Diebinnen, fofern fie 
nicht ſchon bei dem erften Verſuch ertappt werden, twas jedoch die Ausnahme bildet. 
Denn fie zeigen meiſt eine Vorficht, eine Schlaubeit bei der Ausiibung der Diebſtähle, 
die aud) einem berufsmapigen Spighuben alle Ehre machen würde. 

Viele flagen die Warenhäuſer an, dah fle die Urfache ihres Verderbens feien. 
Aud) Dubuifjon, ebenfo wie Zola, ftellt fic auf diefen Standpunft. Bei dieſer kunſt— 
vollen Organijation, wo alles fo wunderbar darauf angelegt ijt, die Frau anjuloden, 
ijt nichts gefdeben, um fie von dem Verbrechen zurückzuhalten, fo fiibrt Dubuijjon 
aus. Und er weiſt ferner darauf bin, wie das Gewimmel der Kaäufer, die Freibeit, 
nad Herzenslujt in den Lagern herumwühlen ju diirfen, und die ungeniigende Beauf- 
fichbtiqung den Diebjtabl begiinitigen, ja geradezu berausfordern jum Raub. „Gerade 
die Warenhbausdiebinnen”, heißt e3 an ciner Stelle, „ſind im Augenblicke der Tat in 
einem ſolchen Sujtande der UÜberreiztheit, daß irgend eine Erwägung moraliſcher 
Natur keinen Einfluß auf fie ausüben fann.” Nur von der Erfcbeinung eines Auf— 
febers verjpricht er ficd eine Wirfung auf diefe Kranken. Uber dieſe Auffeber miiften 
uniformiert, durch bejondere Abzeichen fenntlich fein und nicht, wie es heut geſchieht, 
ji) unerfannt im Publifum bewegen. 

Ob die Einführung uniformierter Auffeber cine wirkſame Befimpfung der Dieb- 
fttible bedentete, erfcbeint mir doch al febr sweifelbaft. Heute weif man nidt, ob 
der Rachbar jur Rechten oder Linken nicht vielleicht cin Aufſeher ijt, und gerade diefer 
im Gebheimen geübte Nberwadungadienjt bietet dem Warenhaufe einen viel größeren 
Shug gegen Diebſtähle. Waren die Auffeher uniformiert, fo batten es die Diebinnen 
nach meiner Auffaſſung eber leichter alS heut; fie wiirden einfach den Augenblid ab- 
warten, in dem der BVeamte den Rücken gefebrt, und waren dann viel ficherer vor 
Entdedung als heut. Denn an jedem Orte fann dod) ein folder Wachter nicht fein, 
iiberall fann er feine Augen nicht haben, es miifte denn fein, dah fiir jeden Käufer 
cin befonderer Aufpaſſer vorhanden ware, der ibn auf Schritt und Tritt zu be: 
gleiten bitte. 

Es wiirde von höchſtem Intereſſe fein, feftzujtellen, ob und in welchem Umfange 
aud in den deutſchen Warenhäuſern, fpesiell in Berlin, Frauen der befjeren Geſell— 
ſchaftskreiſe bei den Diebſtählen beteiliqt find und wie folche Fille feitens der Aryte 
und Richter beurteilt werden. Bielleicht giebt die bedeutjame Schrift von Dubuijjon 
die Anrequng zu einer ähnlichen Studie über unfere heimiſchen Verhältniſſe. 


) Wir bringen die diefem Artifel gu grunde liegende Studie von Dubuijjon bier zur Beſprechung, 
nicht nur, weil fie cine pſychiatriſch intereffante Erſcheinung beleuctet, jondern auch, weil fie auf den 
fulturellen Nabrboden diefer Erſcheinung cin Licht wirft. Denn — die pathologifehe Anlage all der 
Frauen, die Dubuiffon vorfiibrt, zugegeben — wir baben gelernt, in dem Verbrechen neben folden 
Difpofitionen aud die fosialen Berbhaltniffe als Faltoren anguerfennen, aus denen fich die feltenere oder 
ree Welegenheit zur Verſuchung, die größere oder geringere Widerftandsfabigteit dagegen ergibt. 
Dieſe kriminaliſtiſche Muffaffung wird bier von der einzelnen pathologifd veranlagten Frau die 
Aufmertfamfeit auf die Taufende richten, denen — und es gibt leider ja aud) bet uns genug ſolche 
Frauen — das Warenbaus tatſächlich cin Lebensintereffe werden fonnte, und aus deren Reiben ſich 
dieſe „Diebinnen“ refrutieren. Sie wird nicht das Raffinement des Warenhauſes verantwortlich machen, 
ſondern die, die Schuld an den undisziplinierten Inſtinkten der Frauen haben, auf die das Warenhaus 
begreiflicherweiſe in dieſer Form einwirkt. So leitet die Studie wieder einmal auf die Mißſtände der 
Erziehung bin, die die Frauen nicht über die kindiſchen Begierden hinausbebt, denen die Warenhaus— 
diebinnen erliegen. Richt beim Warenhaus, das aus der modernen Entwicklung großſtädtiſchen Lebens 
mit Notwendigkeit hervorgewachſen iſt, wird man eine Schuld ſuchen, ſondern bei der landläufigen 
Oberſlächlichleit der Mädchenerziehung, die dads „Kommiſſionen machen“ zu einem förmlichen Sport 
auch bei unſeren deutſchen Großſtadtdamen werden läßt. Die Red. 


oem 


214 


Vie Pastorstochter. 


Bon 


Rarin Mimatlis. 
Autovifierte Uberfegung aus dem Danifchen von M. Back. 


Raqhdruc verboten. 


Da. Prediger wohnte auf der Heide, | gutem Stand gu bewabren, die Wirtſchafts— 
bort, wo die mit Erika betwadjenen Hügel 


ſich wie Berge erheben, und wo die Schafe 
tagelang obne Führer umberlaujen. 


und die Leute in der Gemeinde bielten felten 
Heftgelage, niemals aber tricben fie Unfug. 

Gin Tag nad) dem anderen glitt ebenmäßig 
dabin; wohl gab es unter den Dorfbewohnern 
folche, bie Einſchnitte in die Habnenbalfen 
madten, um die Beit ju mefjen, die Mehrzahl 
überließ eS jedoch dem Herrgott, die Rechnung 
qu fiibren. — Der Sommer fam und ging, 
der Winter verrann, wie es eben fein follte. 

Bon ben Höhen der Diinen erblidte man 
nur Heide, aus der die Rirdtiirme rund 
berum am Horizont wie Nadelſpitzen hervor— 
guckten. 

Meilenweit war es bis zu der nächſten 
Gemeinde. 

Der Paſtor hatte einmal — wann und 
warum wußte niemand — das Exempel ſeines 
Lebens abgeſchloſſen und ſich nach dem Facit 
eingerichtet. 

Seine Arbeit war ſtill und zähe wie die 
der Heide, die vieler Blumen bedarf, um im 
Abendſonnenſchein zu leuchten; eins war indes 
ſicher, der Paſtor lebte nicht um ſich ſelbſt zu 
pflegen und um Mammon zu ſammeln. 

Er hatte ſeine Schafe und ſeine Streiſen 
weißen Ackerlandes; den Hof umgaben vier 
Scheunen und Ställe, die bebten und krachten, 
wenn der Sturm fie packte. 


Weil er nun iiberlegte, dak nad ihm 


gerätſchaften auszubeſſern, bie Hede um ben 
blumenarmen Garten ju beſchneiden und die 


Gemeinde mit Opfern und Gaben in gewohnter 
Baume fand man nidt in ber Gegend, | 


Ordnung zu halten. 

Sein Rock war fadenſcheinig und blank, 
ſein Kragen aber, den ſeine Tochter Malene 
wuſch und glättete, glänzte weiß wie die 


Kalkwand ber Kirche. 








möglicherweiſe ein Prediger mit einer zahl⸗ 
ganzen Heere weißer und grauer Wollen kam, 


reichen Familie kommen könne, erſchien es ihm 
als eine Pflicht, 


den Hof und die Felder in 


Wenn der Paſtor draußen war, um wider— 
ſpenſtige Schafe, ſowohl ſeine eigenen als 
die ſeiner Gemeindelinder, auf der Heide zu 
fangen, oder wenn er beim Stechen des Torfs 
in dem Eulenmoor behilflich war oder wenn 
er jeden Abend beim Sonnenuntergang „ſeine 
Kinder“ beſuchte, von Sören Vanefed auf 
dem Goldhofe an bis zu Anders Laus in der 
Fuchshöhle, dann ſaß Malene bei ihrer 
Näherei oder beſchäftigte ſich mit Hausarbeit 
im Pfarrhofe. 

Die Zeit verrann, die Nadel wurde gebraucht, 
die Wäſche in Lauge gerieben, Hemdenleinwand 
und Lakendrillich gewoben, auf die Bleiche 
getragen. Zeit gehörte dazu, um die Schafe 
zu ſcheren, die Schafe ins Freie zu treiben — 
Zeit, Zeit. Seit ihrem zwölften Jahre als 
die Mutter ſtarb, war Malene zu einem 
ſchlanken und großen Madden herangewachſen, 
und mit jedem Jahre legte der Prediger ein 
neues Joch auf ihre Schultern. Die hielten aber. 

Malene nähte nicht immer in der Süd— 
ſtube, wo der Wind ſich ſelten hören ließ. 
Sie liebte es, nach allen Himmelsrichtungen 
zu ziehen, nach Weſten, wenn die Sonne ſank, 
nach Norden, von wo der Wind mit einem 


nach Oſten, wenn ihr zum Weinen zu Mute 


Die Paftorstodter, 


war; ba ftand die Sonne auf, von ba fam | 


ber neue Tag, nad dem fie fich allabendlid 
febnte, von bem fie jede Nacht traumte, Wenn 
bie zarten Morgentwolfen, leidt und rot tvie 
Blumen am Wegesrand hinter dem Reid des 
Heidelandes emporftiegen, wenn die Wolfen 
ibr ftil und langſam entgegenſchwebten, fam 
es ibr vor, als bridten fie Verbheifungen 
einer guten Botſchaft. Darum liebte fie die 
Morgendimmerung, und auf ibrer Strohmatrage 
liegend, fonnte fie vom Schwarzen ing Graue 
und vom weißlich Gelben ind goldig Rote 
bineinftarren — ja, bis in die Connenfugel 
und das fie umgebende Strablengewebe. 

Im Sommer fiel der Tan auf die Heide, 
ber ben gelben Ginfter benegte; auf dem Dace 
bes Haufes wuchs Sittergras mit Tauperlen 
in jedem Spely. Sm Winter aber lag überall 
ber weiße Reif, dann wurde die Heide ein 
Bleihplay, auf dem cin Streifen Leinwand 
neben dem andern lag. 

Malene hatte die kleinen Lammer gem 
und folgte ibren Spriingen zwiſchen den Diinen, 
wenn fie blifend und fdmeidelnd der Mutter 
nadjprangen. Es fam ibr vor, als fei ihre 
Welt groper und freier ald die, in der fie lebte. 

Dak ibre Augen vom Wind und vom 
emfigen Nähen rotrandrig, daß ihre Finger 
pon ber groben Urbeit frumm wurden, dad 
beachtete Malene nicht. Sie brauchte feinen 
Epiegel. Die braunen, jfelbjtgefponnenen, 
gewebten und genähten Reider ſaßen, wie ed 
ſich am beſten machte. Sie waren ſich gleich, 
wie die Jahre, die verrannen. 

Nicht das Verlangen nach Tanz und Spiel 
und munteren Hebden brachte fie gum Seufzen 
und [odte ihr Tranen in die Mugen, — nein, 
es war etwas anderes, das fie entbebrte, fie 
fand nicht Worte, es zu beſchreiben. 

Das gewöhnliche Tageswerl führte ſie 
ohne Anſpruch auf Anerkennung aus, und für 
die Arbeit, die ſie in ihrer freien Zeit ver— 
richtete, hatte der Vater immer dieſelben Worte: 
„Es iſt gut, Malene.“ 

So ſprach er, wenn ſie nach einem Sturm 
das Dach auf dem Hauſe zuband oder wenn 
ſie die Glocken läutete. Das ſagte er, wenn 
ſie ihm eine Hemdenſtickerei, und wenn ſie ihm 
den Webſtuhl mit einem Winteranzuge für ihn 
zeigte. 











215 


Die Mutter hatte ihr etwas Franzöſiſch 
und Deutſch beigebracht, ſo gut, wie ſie es 
ſelbſt fonnte, und der Unterricht war ber Tochter 
nie aus dem Sinn gefommen, wie bas mit 
vielen Erinnerungen und vielleicht mit Sorgen 
geideben war. Stundenlang fonnte fic fid 
im Ronjugieren und Deflinieren fiben oder die 
fleinen Fabeln, die fie damals gelernt hatte, 
immer wieder berfagen. 

Gin Gefühl fagte ibr: ,, Das ift ein goldener 
Schlüſſel, den du an einem Schnürchen auf 
der Bruſt tragft, verliere ihn nidt, der fann 
dir Königreiche erſchließen.“ Der Schlüſſel 
roſtete, ſie hielt ihn aber feſt. 

Die Regale des Pfarrers ſtanden voll— 
gepackt mit Büchern der heiligen Glaubens— 
lehre. Ganz oben im oberſten Fach lagen 


lleine bide Bande franzöſiſcher Klaſſiker. Malene 


verſuchte ſie zu leſen, und das machte ihr ſo— 
wohl Mühe als Freude. Der Vater ſah es 
eines Tages und ſagte: „Laß die Bücher, 
Malene, es taugt nichts, fie gu leſen.“ 

Von dem Augenblick an, rührte Malene 
fie nicht an. Sie lagen da wie ſüße ver— 
botene Früchte. 

An den Weihnachts- und Oſterfeiertagen 
wurde Malene qu den am wenigſten ver— 
armten Familien der Gemeinde gebeten. Dann 
zog fie ſich aber in ſich zurück, wie die Wunder: 
lichſte unter den Wunderlichen. Knechte und 
Madchen hatten gemeinſam Spott und Heimlich— 
feiten, Mann und Frau teilten ſchlechte und 
gute Sabre, einer tougte von ben Städten im 
Djten, ein anberer bon den Städten im Weften 
ju erzählen. Wie taubjtumm und blind ſaß 
Malene da, und ber Prediger fagte: ,, Meine 
Todter paßt am beſten yur Hausarbeit, da ijt 
fie tüchtig.“ 

Als ganz fleines Madden pflegte fie auf 
einer Fußbank zu den Füßen der Mutter ju 
figen, die nicht miide wurde, ihre Fragen gu 
beantiporten; bad Bankden fdleppte fie mit 
babin, wo bie Mutter ging. Diefe fpann, 
webte und nabte. 

„Es find Betttiider fiir deine Ausſteuer, 


Malene.” 


Und eS wurde Malene begreiflid gemacht, 
was Ausfteuer und Hochzeit zu bedeuten batten. 
Nad) dem Tode der Mutter wurden viele 
Betttücher gefunden, die alle mit Malenes 


216 


Namen gezeichnet waren. Malene nahm die 
Erbſchaft auf. Cie webte die feinfte Leinwand 
pon gleichmäßigen, runden Flachsfäden, die 
mit Hohlfaum und erhöhten Namen genaht 
wurde. Hemben, Nachtjaden und tweite Ride 
wurden in die Ausſteuerliſte 
Sie webte rot- und weißgeſtreiften Swillid, 
fie webte Beug gum Brautfleid, weid und 
blanf wie Blumenblatter. , 

Die Kiſte, in der died alles Plas hatte, 
wurde bis gum Mande gefiillt, mit grofer 
Miibe der Dedel zugemacht und der 
Schlüſſel umgedreht. 

Malene war jest nidt weit von ben 
Dreifigen; fie merfte es felbft daran, dah fie 
miibe wurde, wenn fie nad den Schafen lief. 
Eines Tages fagte der Vater gu ihr: „Jetzt 
bift du ein altes Madden, Malene, fiir unfern 
Herrgott indes bift bu nod) gut genug.” 

Alt ober jung — dem hatte Malene 
feinen Gedanfen gefdenft; in den Worten des 
Paters aber [ag etwas wie Schuld und 
Schande. 

Wenn ſie in der Kirche unter der Kanzel 
ſaß, von der herab der Vater einfach und ſchlicht 
redete, wurde es ihr oft ſchwer, den Sinn 
zum Gebet zu ſammeln. 

„Denle an die, welche, verwilderten Vögeln 
gleich, ohne Dach über dem Kopf, ohne 
Glauben im Herzen umherſtreifen — —“ 

Malene ſah durch die Fenſterſcheiben; 
draußen flogen die wilden Vögel über die 
Heide hinweg, fo weit fie fliegen fonnten. 
Sie hatte ihren Cwigfeitsglauben verfauft, 
um wie diefe Vogel hintweggetragen gu werden. 
Doc fie war gu ſchwer, um fliegen, und gu 
träge, um flieben gu fonnen. — — — 

Bis zur Hauptlandftrake war es tweit, und 
ba der Prediger den Weg, ber dabin fiibrte, 
rein balten twollte, eqgte er denſelben, lief 
ibn twaljen, badte das Heidefraut ab und 
fcaufelte im Winter den Schnee felbjt weg. 
Malene mukte ihm dabei helfen und ibre 
Rrafte reichten yu der Arbeit oft beffer aus als 
feine. 

Niemand in ber Gemeinde gab fich folde 
Miibe mit feinem Hof und Aniwefen hieß es, 
bod, des Pfarrers Malene war ja ein 
wunderliches Geſchöpf, fie fannte fein größeres 
Rergniigen als fic) absuarbeiten, 


hineingepackt. 





Die Paſtorstochter. 


Damit keine Zeit verloren gehe, wenn 
jemand einen Auftrag an den Prediger hatte, 
bielt diefer es fiir feine Pflicht, bei Schnee— 
wetter den Pfad gleich in Ordnung ju bringen; 
an einem folden Wintertage war es, bah der 
Pjarrer an einem Ende des Weges ftand und 
ben Schnee fortfdaufelte, Malene an bem 
anderen. Sie follten fics begegnen. Sie 
fonnte ihn nicht feben, denn das Schneegeſtöber 
jagte ihr blendende Wolfen entgegen. Hier 
fag der Weg rein und glatt, dort fammelte 
der Schnee ſich in fubboben Haufen. Emſig 
fubr ſie fort gu arbeiten, bod) war es ibr, als 
wenn die Mitte bes Weges gar nicht fame. 
Ober follte der Vater von feiner Arbeit ge- 
gangen fein? Als fie ibn endlich fand, lag 
er quer fiber bem Pfad und war nabe daran, 
vom Ednee gang bebdedt ju fein. Dalene 
trug ibn nad bem Pfarrhofe; darauf watete 
fie anbderthalb Meilen nad dem Arzt. Cine 
fürchterliche Lähmung hatte ibn gu Boden 
geworfen. Malene wadhte Tag und Nacht. 
Lange ftand ber Webftubl unbenust, Staub 
fangend, ba. Der Wind frak, twas er 
fonnte, an Dad und Schornſtein. Die 
Schafe erfubren nur fiimmerlide Verforgung; 
mit genauer Rot erreidjte fie es, ihnen bas 
Futter ausjuteilen und im Stall ausgumiften, 
dap fie nicht in Unreinlicdfeit verfamen. 

Nad) dem Winter fam dad Friibjabr. Der 
Vater war uud blieb labm, die Sprache hatte 
er aber in feiner Getwalt, und da er nicht 
mebr gu ben euten in der Gemeinde geben 
fonnte, famen fie gu ibm. Cr mufte Hilfe 
baben. 

Der Pfarrgebilfe fam, 

Malene richtete zwei Zimmer fiir den Kaplan 


_ tin, der Arvid Erifjen hieß. Sie kochte Suppe 


und dedte ben Tijd, denn der Wugenbli¢ war 
gekommen, dak fie ibn empfangen follte. 

Er war ſchmächtig und blond, mehr fab 
fie nicht, und er fprad in einem eigentiimlid 
fanften Ton, fo bah fie plötzlich über ihre 
eigene grobe Stimme erſchrak und gu flüſtern 
begann. Der junge, fursfidtige Mann hielt 
fie fiir das Dienftmadden, und Malene lies 
ibn in bem Glauben und balf ibm den Roffer 
und die Kiſte in die zwei Kammern tragen; 
die nad Siiden und nad Often hatte fie ibm 


| gegeben. 


Die Paſtorstochter. 217 


Mach Tif, als es ibm klar getworbden, 
wer fie war, redeten fie ein Weilchen zu— 
fammen. 

Che der Sommer erſchien, war er mit ben 
Verhaltnifjen eines jeden in der Gemeinde be— 
fannt und ging von Morgen bis Abend aus, 
um Hilfe gu bringen, wo man deren bedurfte. 

Er hatte ein Harmonium mitgenommen, 
auf bem er jeden Abend geiftliche Lierer fpiclte; 
bann ſaß Malene ſtill laufdend in einer Ede; 
oft weinte fie. Wenn er innebielt, ging fie in 
bie Küche binaus, um das Abendbrot ber: 
guftellen, und der junge Raplan begann mit 
dem Prediger gu plaudern. 

» Dalene ijt ein gutes Madden,” fagte der 
Paftor an einem folden Abend. 

„Ihre Tochter ift ein Engel, nur bas Mort 
pat fiir fie,” antwortete Arvid Criffen. 

Die Tir ging auf. Malene trat berein. 
Cie hatte die Worte gehört. 

An bem Abend hatte fie zwanzig eigen— 
willige Schafe tummeln fonnen, obne miide 
gu werden. 

Wis der Paftor yu Bett getragen worden, 
und Griffen in fein Stübchen gegangen war, 
ſaß Malene in der Wobhnftube vor dem Har: 
monium. Cie beugte fic berab und küßte die 
Tajten, die feine Finger berührt batten. 

Mit einem Licht in der Hand ſchlich fie 
nad bem Boden hinauf, sffnete die Musfteuer- 
fifte und warf aus derfelben durdeinander 
heraus bie weiße Leintwand, den roten Zwillich, 
bas weide, glatte Seug gum Brautfleid. Cie 
blidte auf ben Haufen bin, als ware es eine 
fonnenbefdbienene, bliibende Wiefe, und das 
Herz flopfte fo, dah fie die Hand an die Bruft 
drücken mufte. 

Gin Zugwind blies das Licht aus, und 
Kälte beſchlich ſie; und die Dunlelheit driidte 
fie wie cine Ahnung von Corge. Tappend 
fuchte fie die Sachen wieder zuſammen, verbarg 
fie, ſchloß die Rifte und ging darauf jur 
Rube. 

Yin folgenden Tage war fie fiinfunddreifig 
Sabre alt geworden. 

„Ja, Malene ift nun ein altes Madchen, 
aber cin guted, altes Mädchen,“ fagte der 
Paftor. 

Arvid Criffen fiigte hingu: , Wenn Fraulein 


Malene auch fünfzig Jahre würde, ſo würde 











ſie nie alt für mich ſein. Sie ſind mir wie 
eine Schweſter, und mir vielleicht noch mehr 
als eine richtige Schweſter geweſen!“ 

Als er gegangen war, rief der Vater 
Malene zu ſich. 

„Die Hoffnung beſchämt niemand, Malene, 
vergiß aber nicht, dir ſelbſt zu ſagen, daß du 
ein altes Mädchen biſt, und die jungen finden 
am leichteſten den Weg zum Brautſchemel. 
Die Myrten wachſen für die Jugend, und der 
Chriſtdorn fiir die Alten!“ 

Malene nahm ſich vor, die Worte zu 
beherzigen. Doch, die Zeit reichte nicht aus. 
Am Tage gab ſie ſich frohen, beglückenden 
Gedanklen bin, und wenn fie ſich dann am 
Abend der ſchlimmen Worte erinnern wollte, 
dann ſchlief fie cin und träumte, bak Arvid 
ſagte: „Für mid find Cie jung, Dalene!” 

Gr war ¢3 auc, der die frangififden 
Bücher vom Biiderbrett herunterholte, wogegen 
der Paſtor jest nichts cinguiwenden batte. 

Malene las und vergaß dabei faft, daß 
bie Heide meilenweit ihr Haus umgab — und 
fie vergaß beinabe aud) ju naben. Sie befam 
Luft, cin blaues Kleid ju befigen, und madte 
fic) auf nad der Stadt, um Blau jum Farben 
zu bolen. 

Wie cine Rornblume twurde das Kleid und 
Malene nähte Weiß in den Halsausſchnitt 
und in die Armel und fdmiidte die Taille 
mit einer alten, fang aufgebobenen, filbernen 
Spange. 

„Malene,“ fagte ber Kaplan, „Sie feben 
gang jung aus in dem Kleid, gehen Sie dod) 
immer damit!” 

Unb Malene hing die braunen Kleider fort 
und ging mit bem blauen. 

Später mute fie aus dem feinen Stoff bes 
Prautfleides cin Trauerfleid naben, denn der 
Vater ftarb ben nächſten Commer. 

Am Sterbelager verfpradh Arvid Griffen 
dem alten Prediger, niemals feine Todhter 
verlafjen ju wollen, ihr ein Bruder ju fein, 
fo lange er [ebte. 

Mls fie in den Trauertagen Guirlanden 
von Heidefraut und Kränze von Chriftdorn 
wand, fam Arvid herein und küßte fie auf die 
Stirne. 

peage dub gu mir, wir find ja nun 
Bruder und Schweſter!“ 


218 


Da war es ihr, als ob der falte Tod 
felber ihr ind Obr fliifterte: Die Myrten 
wachſen ffir die Jungen, der Chriftdorn fiir 
bie Alten; und fie beugte fid) herab und 
weinte. 

Gin neues Leben ging fiir Malene auf. 
Arvid Griffen wurde proviforijd fiir bas Amt 
beftimmt, bis die Ernennung eintreffen würde; 
fowobl er alg Malene faben ¢8 als abgemacht 
an, daß er bie Stelle erbielt. 

Eines Abends ging Malene vom Pfarrhofe 
heraus. Cie hatte das Bediirfnis, ins Freie 
gu geben, dod) biitete fie fic, in die Nähe 
eines Hauſes oder des Dorjes gu fommen. 
Die Sonne fab fie glühend rot untergeben, 


und fie blieb nocd draufen, als die Sterne des | 


Himmels ibr fdon lange entgegenfunfelten. 
Da fam Rube und Klarheit fiber fie; da fam, 
was fommen follte.  Heruntergedriidt und 
erſtickk mußte jeder Gedante werden, der fid 
voller Sebnfudt yu Arvid gewandt hatte, 
Sede Hoffnung, die im Brautfleide ber Zukunft 
entgegen geflogen war, mußte ju Boden ge- 
ſchlagen werden. 

Gin Schloß, hod und hehr wie die Wolken: 
burgen der Morgenrite follte beruntergerifjen, 
ber Erde gleidgemadt, und cine Hiitte follte 
an Stelle bes Schloſſes erbaut werden. 

Bei jedem Schritt, den fie tat, trug 
Malene einen Stein gum Bau der Hiitte. 
Nicht Gattin, 
Schweſter, nicht Gaittin. 





Die Paſtorstochter. 


von Fenſter zu Fenſter gehen und mit einem 
nach der Ferne blutenden Herzen in die Wolken 
ſtarren. Frei follte er fommen und geben... 
und fommen. 

Malene hatte ein mütterliches Erbe von 
taujend Kronen, auferdem die Rinfen . . . 
Bom 12. bis gum 37. Jahre. Im Rechnen war 
fie fein Meifter. Tauſend oder zweitauſend — 
Arvid follte dafiir reifen. Wenn er weg war, 
wollte fie bie Simmer ordnen, fo wie er es 
wünſchen modte. 

Cie ging tweiter und weiter, wo fie nie 
fritber gegangen war. Gie fam ju einem 
Bad, tiber den cine Briide führte. Da war 
eine Landftrafe mit dbuftenden Baumen an 
den Ceiten; Eleine, gitternde Windſtöße lichen 
bas Lidt dann und wann aufbliben. Cine 


| Wolfenfdict nad ber anderen wid, und bie 





| darin. 
nein, fondern Schweſter — 


Gr hatte es verjprodjen, fie nicht gu wer: 


laffen, und daß er fein Verſprechen halten 
würde, das wußte fie. Bon jest an alfo 
follte dies Heim die fidere Zufluchtsſtätte der 
beiden Geſchwiſter fein. Cr follte fein Ver— 
fpreden nicht bereuen, nein, nicht bereuen. 
Während fie da fo allein in der Nacht 
und laut vor fic) binfpredbend ging, fam es 
biipfend und wandernd an fie beran wie Irr— 
lichter, die bunbdert fleine nafeweife Fragen 
ftellten und hundert gute, unerprobte Ratidlage 


gaben, und dann das ſchwarzverſchleierte Gefolge 


ber angftvollen Corgen — — — 


War fie fähig, die frifdhe, lebende Hoffnung | 
gu begraben? Wear fie ſicher, dap die Schwejter | 


nidt den Bruder daran hindern würde, bas 


Leben ju leben? War fie deffen fo ſicher? 
| Sdultern ſäße und fie ſtöhnen ließe. 


Sa, fie war ed. Gr follte nicht, wie fo oft, 


Sonne ging auf. Co weit das Auge reidte, 
war das Aderland, die Grabenranbder ein 
wiegendes, ſchaukelndes Blumengewirr, Haufer 
mit Garten davor und cin Wald — — — 
Baumfrone neben Baumfrone bis yu dunflen 
Dächern, die ſich fiber eine ſchwarze Erde 
ausbreiteten. 

Malene griff ſich an die Stirn — — es 
war doch kein Traum? Sie pflückte und 
pfliidte Korn, Blumen und taubenetzte Gräſer, 
fie ging guriid an ben Bac und fpiegelte fid 
Sie war es. Dann fegte fie fid) an 
das Ufer, lächelte den Fiſchen gu, die zwiſchen 
Steinen und Wafjerpflangen hindurchglitten, 
lächelte jum anderen Ufer biniiber, lächelte, 
lachte und — — weinte. 

Sie kriegte Luſt, ins Waſſer zu treten, — 
die ſchwarzen Trauerkleider abzulegen und 
ganz hinaus zu gehen — ganz hinaus. Da 


| war es aber wieder da, dad kalte Flüſtern: 





Vergiß es nie, dir felbft yu fagen, du biſt cin 
altes Madden. 

Malene wurde plötzlich müde; fie febnte 
ſich nur danach, fic) im Hauje drinnen auf 
ber Heide gu verbergen. Und fie twandie fid 
fort von bem bliihenden Land — — — 

Bald berithrte der Fug die Fafern des 
Heidefrauts und den rotlirnigen Sand — die 
Heide umſchloß fie wieder. 

Sdhleppend wurde ihr Gang. Es fam 
Malene vor, alS wenn das Alter auf ihren 


Die Paſtorstochter. 


Sie friimmte ihren Fuk im Stroh des 
Holzſchuhes, um feft aufjutreten. 

Und Arvid — — er hatte weder gu eſſen 
nod zu trinfen befommen. ie kämpfte gegen 
Schlaf und Erſchöpfung und firengte fic an, 
alg ob fie ſich einen Weg durch den Wald 
babnen müßte. 

Wenn Arvid fie jest entbehren würde, 
wenn er von cinem Simmer ing andere, ibren 
Namen rufend, ging, wenn er auf die 
Diinen binausliej, um nach ihr zu fpaben, 
wenn er fuden follte, bis er ibre Spur 
fand? — — — 

Unwillkürlich fputeten die Beine fic; in 
ſchnellem Lauf über Heidefraut und Heide: 
wurjeln eilten fie dahin; Arvids wegen müßte 
der Weg gekürzt werden, 

Wenn er aber hinausgegangen tare, um 
qu ſuchen, dann miiften feine Gedanfen dod 


vielleicht Licbevoller bei ihr weilen als die 
eines Bruders bei der Schweſte — — — 


Malene ſank in die Rnie. 

Gin unebner, dunkler, 
betwegender Punkt wurde ibr 
qctricben — — fie hatte ihn erfannt, es 
war Arvid. Cie wollte cin Vaterunſer 
beten, das Gebet, das ſchon monatelang nidt 
mebr auf ihren Lippen geweſen 
Gedanten verirrten ſich — fie betete: am 
dritten Tage auferſtanden von den Toten, 
aufgefabren gen Himmel, von dannen 
fommen wird ju ridten die Lebendigen und 
die Toten! — — Obgleidh fie ibre eigenen 
Worte nicht hörte, wiederbolte fie fie doc, 
bis Arvid auf fie gugelaujen fam, 


— 


„Ich bin im Kirchturm hinaufgeſtiegen, um 


nach dir zu ſehen, Malene,“ ſagte er, „mir 


war ganz angſt um meine kleine Schweſter 
Wenn ber Webſtuhl oder das 


geworden. 
Harmonium davongelaufen wäre, ſo wäre es 
ebenſo natürlich geweſen — du gehörſt zu den 
Stuben!“ 

Malene fügte hinzu: „Und zur Arbeit.“ 


Arvid wollte aber nicht für Malenes Geld | 


reifen. Gr reijte fiir fein Gebalt und rictete 
fic) auf eine Ferienzeit bon drei Monaten ein. 


Die Crnennung jum Pfarramt erbielt er als | 
| die Welt, das waren aber aud) Menfden, und 


ein letztes „Glück zur Reije!” 
Malene fubr zwei Meilen mit dem Frade: 


fih vorwärts⸗ 
entgegen⸗ 


er 


die 





als die ſtillen Gegenden der Heide. 


ſuchen. 


219 


wagen, um ſo lange wie möglich bei ihm zu 
fein; darauf ging fie zurück 

„Alles, wad id erlebe und weiß, ſchreibe 
id dir, Malene, dann ijt es, als wenn du mit 
auf der Reije warejt. Sa, wäreſt bu nur mit! 
Es ijt ſchwer, dic) entbebren zu müſſen, liebe 
Schweſter — —“ So jtand im erjten Brief 
gu Tefen, den Malene fury banad in der Hand 
bielt. Cie las ibn in feiner Stube gegen 
Siiden, fie las ibn in der Rammer gegen 
Dften, Weften und Norden, fie [as ibn auf 
der Heide, bis die Sonne bas Papier rot 
farbte, und brinnen im Stall bei bem franfen 
Schaf. 

Malene ſchrieb aber nicht wieder. Sie 
fonnte die Cage nicht ordentlich zuſammen— 
fügen. Draußen im Sandgraben aber ſaß ſie 
und ritzte mit einem roſtigen Nagel viele Wörter 
in den Sand, die bald wieder verwiſcht wurden. 

Ein andermal ſchrieb er: „Wie ſchön iſt 
nur die Welt, Malene! Es iſt, als ob die 
Sonne mir ganz ins Herz hineinſcheine. Tag 
und Nacht kommen und gehen, meine Freude 
geht aber nicht von mir. Malene, liebe 
Schweſter, wir wollen immer zuſammenhalten, 
nicht wahr? Glaube mir, mitunter ſehne ich 
mid aud nad den ſtillen Pfaden der Heide, 
nad bem Wege, der nad der Rirche fiibrt, 
nad den Mannern und Frauen, die diefe 
Nad dir febne ich mid aud, dod 
die Sehnſucht iſt obne Unrube und Rein. 
Dich, dad weiß ich, werde ich finden, wo wir 
ung trennten. Walene, Malene, wirſt du mid 
fennen, wenn id) fomme, wirſt du meinen 
Jubel verfteben?” — 

Ganz langſam las ſie den Brief. In ihrem 
Herzen gab es keinen Widerklang der in ſeinen 
Briefen ſich äußernden Freude. 

Sie mußte der grünen Felder, der Rain— 
blumen und bes kleinen Baches gedenfen — 
ja, die Welt da draußen war gewiß reider 
Ronnie 
man ihm das veriibeln, wenn die Welt ibn 


| Lodte, und er gar nicht wieder fame? Malene 





fuchte die Hiigel auf, ftarrte nad Often und 
fonnte ibre Niedergefdlagenbeit nicht bezwingen. 

Die Welt, die Welt, — das waren Walder 
und Berge, Seen und tiefe Taler mit Blumen, 


Menſchen waren es, denen ibre Angſt jest galt. 


220 


Ginen ganzen Monat hörte fie nichts von 
ibm; dad waren fiir fie die längſten Tage, die 
fie erlebt hatte, und nur das Harmonium balj 
ibr darüber hinweg. Deden Abend ging fie 
einen langen Weg, um den Brieftrager ju 
treffen, Der griigend, obne bie Tafdhe gu rithren, 
an ibr voritberfdritt. Wenn fie nachhauſe ge- 
fommen twar, fegte fie fid) an das Harmonium 
und rief, obne cine Melodie zu ſuchen, einzelne 
Tine bervor; fie wollte nur den Klang im 
Dbre haben. Wiirde ex gum Winter wieder 
ba figen und die alten, fanften Lieder ſpielen, 
während fie aus bem ſchneeweißen Leinen den 
Predigerfragen fiir ibn guredtfdnitt und 
jaltete? — — — — 

Dann meldete er feine Ankunft. 

Malene madhte die Nacht gum Tage, um 
alles erreiden gu können, was fie wollte. 
Cie reinigte, pugte und fdmiidte bas Haus 
wie ju einer Feier, Die Gardinen hingen weiß 
im dämmrigen Oktoberlicht; Erifagweige wurden 
in die Vaſen geſteckt und Erinnerungskränze 
für die Familienbilder geflochten. Ein Lamm 
wurde geſchlachtet, mit Cal; und Butter be— 
reitet und an einem Pudding lich es Malene 
nidt feblen. Cin Heft follte es fein. Sie 
bedte ben Tijd fiir ben Bruder und die 
Schweſter und fleidete fic) in das fornblumen: 
blaue Rleid. 


Jetzt Hielt fie ihn bei der Hand. Die 
Welt hatte ihn ibr nicht genommen. Cie 


hirte feine Ctimme, wenn fie aud anfangs 
nicht feine Worte vernahm. Sie zog ihn bin: 
ein und ſchloß bie Tür hinter ibnen gu. Der 
Friede, der fie erfiillte, war fo ſicher wie der 
Friede Des Todes. 

Sie ſpeiſten zuſammen, und Arvid erzählte, 


während er ſich in den feſtlich hergerichteten 


Stuben umherſah. Dann ſetzte er ſich ans 
Harmonium und ſang. 

Malene wollte die Lampe anzünden, denn 
es war ſchon längſt dunkel geworden, Arvid 
bat fie, nod) zu warten. 

„Setze did) zu mir, Schweſter, wir zwei 
wollen von der Zukunft reden.“ Sie ſetzte 
ſich. Eine neue Ahnung durchfuhr fie. 

„Wir wollen uns nie trennen, du Liebe, 
nicht wahr?“ 





Die Paſtorstochter. 


Sie antwortete nicht, doch er verſtand fie. 
„Malene, warum meinſt du, daß id) die grofe, 
larmende Welt ſchöner fand als unfere ftille 
Heide? WAntworte mir!” 

Sie antiwortete nidt, denn da war etivas, 
das ibe nidt flar war. 

„Malene, ich fand ja bad Glück draugen. 
Berftebft du mid jetzt? Ich wollte es nicht 
ſchreiben. Ich wollte ſelbſt Zeuge deiner 
Freude fein. Dente dir, Schweſter, id) habe 
ein junges Wefen gefunden, das das Leben 
mit uns beiden bier in diefer Stille teilen 
will — — wenn bu es fo willſt, Malene, — 
und id weif es, du willſt es. Warum fpridft 
du nidt ?” 

Langfam, twie einer nad dem andern aud: 
geftopene Seufzer lichen die Worte fid im 
bunfeln hören: 

„Willſt du did verbeiraten? Kommt fie 
— — hierber?” 

„Ja, fobald du fie empfangen willft — 
— und dann, Schweſter, Hilfft du ibr, ibre 
Ausfteuer gu nähen und tüchtig zu werden, 
nicht wabr?” Er zog fie an fid. „Gieb mir 
einen Rup, du Liebe, nnd fage mir, daß du 
did) mit mir freuft.” Und er küßte Malene. 

Es dauerte cin Weilchen, ebe fie die Worte 
fagen fonnte, bie er gu hören begebrte. 

Später am Abend, als fie an einem Tifd- 
tud) faumte, fragte fie: 

» Sie ift wobl jung, Arvid?“ 

„Ja, Schweſterchen, fie ijt fo jung, dah 
bu gut ihre Mutter fein fonnteft.” 

Am nächſten Morgen, als Arvid ing 
Bimmer trat, lag auf Tifd und Stiiblen 
aufgeftapelt alle grauweiße Leinetwand, die 
Malene und Malenes Mutter gewebt und ge: 
nabt batten. 

„Sieh ber, Arvib, das ijt fiir dich und fic, 
bas ift meine Brautgabe. Sie iſt fo jung, 
fie foll nicht rote Mugen und harte Finger 
friegen. Sch bin ja alt, ich werde dir aber 
beljen, ifr dad Leben leicht zu machen.“ 

Arvid fonnte nidt Worte genug finden, 
um Walene ju oben. 

Malene aber ging weit hinaus auf die 
Diinen und verbarg ihr tränennaſſes Geſicht in 
ber barten Heide. 


We ee 


221 


Dorwegische Prauen als Wahler und Stadtverordnete. 


Bon 


Raja Geelmuyden. 


Autorifierte Überſetzung aus der norwegifden Seitſchrift Det ny Aarhundrede 
von Jda Anders. 


—ñNi 


Radbrud verboten. 


nfolge des Geſezes vom 29. Mai 1901 find norwegiſche Frauen über 25 Jahre, 

F die entiweder felbjt oder durch Gütergemeinſchaft mit dem Chegatten Steuern fiir 

ein Ginfommen von 400 Kronen in den Stadten, 300 Kronen auf dem Lande bezablt 
haben, ſtimmberechtigt und bei den Stadtverordnetenwablen wablbar. 

Mls dieſe Gejegesvorlage im norwegifden Storthing angenommen wurde, fam 
dies ficherlicy Den meiſten iiberrafdend. Die Laubeit, die ftets im Parlament dieſer 
Sache gegentiber gu Tage getreten war — trop aller ſchönen Verſprechungen von 
feiten der Linfen —, hatte ſchon längſt den Frauen hinſichtlich des Verſtändniſſes der 
Politifer fiir ibre Forderungen jede Illuſion geraubt; und das Geſetz wäre auch died- 
mal nicht zur Wirklichfeit geworden, wenn nicht eine Anzahl Konfervativer die Vorlage 
unterſtützt batten, einzelne aus wirflichem Gerechtigkeitsgefühl, andere, weil fie ibnen 
cin Gegengewicht gegen die Wirfungen des gleichzeitig angenommenen allgemeinen 
Stimmredhts fiir Manner zu bedeuten ſchien. 

Raum war indefjfen das Geſetz yur Tatfache geworden, als es die Frauen yu 
fiiblen befamen, daß fie einen bisher ungeabnten Wert befommen batten. Sie 
reprafentierten ja nun jede cine Stimme und waren eine Macht geworden, mit der 

erechnet werden mußte. Alle Parteien nabmen fich ibrer fiebevoll an und wollten 
et auf den rechten Weg leiten — um von dem Zuwachs zur Wählermaſſe foviel wie 
möglich yu profitieren. Die Linke erinnerte die Frauen daran, was fie der Fortſchritts— 
parter ſchuldeten, die fics ibrer Sache jtets angenommen hätte. — Die Rechte fprach 
ſchöne und woblgejeste Worte von dem milden und wobltuenden Einfluß der Frau 
im Laufe der Seiten und verfpracd fic viel von ihrer redlichen Gefinnung — die den 
Herren doch ziemlich lange entbehrlich geweſen war. Alle waren fie fo ungefähr darin 
cinig, „das neue Element im dffentlichen Leben willfommen ju heißen“. 

Es icigte ſich jedod) bald, dag die Frauen ſelbſt beſſer vorbereitet waren, als 
man bitte glauben follen, und Lujt batten, die Sache ſelbſt in die Hand zu nehmen. 
Man fonnte ſich nicht lange befinnen, da die Stadtverordnetenwablen ſchon jum 
Herbjt ſtattfinden follten. Im ganzen Lande wurden von den Frauenbewequngs- und 
Stimmeredts-Vereinen Verjammlungen und Vortrage angefiindigt zur Aufklärung der 
Frauen über ihre neuen Rechte und die ſich daraus ergebenden Pflichten. Dieſe 
Verfammlungen, die meijt erdriidend zahlreich bejucht waren, erregten, danf den aus— 
gezeichneten Rednerinnen, über die wir fo glitclic) find ju verfiigen, großes Intereſſe. 
Selbjt die Frauen, die fic der Stimmredtsfrage gegenitber vorher gleidgiltig, ja 
ablebnend verbalten batten, wurden nunmehr von Eifer ergriffen zu belebren und 
belehrt gu werden, und wo man aud jufammenfam, gab eS eine eifrige Diskuſſion. 

Viele der felbjtdndiger denfenden Frauen verfpiirten wenig Luft, ſich ohne weiteres 
alg Schwan; irgend einer der fiir die Wahlen einexerzierten politijden Parteien 
anzuhängen. Cie meinten, dak man dadurch weiter nichts erreicte, als die Stimmen— 
zahl —* Parteien zu vermehren, dak man fein „neues Clement” in das öffentliche 
Yeben bringen witrde — was da wobl gebraucht werden fonnte. Für alle jene Frauen war 
es cine willfommene Nachricht, daß der ,, Verein fiir Frauenftinunredt in Krijtiania” in 


222 Norwegiſche Frauen als Wahler und Stadtocrordnete. 


einer Verſammlung beſchloſſen hatte, in einem Aufruf den Frauen erjtens den bedings- 
loſen Anſchluß an eine der politijden Parteien yu widerraten und zweitens eine eigene 
unpolitifde und programmloje Wählerliſte aufyujtellen, fiir die man tüchtige und ange: 
jebenen Manner und Frauen obne Rückſicht anf ibre politiſche Farbe fuchen wollte. 
Etwas fpater wurde cin Arbeitsausſchuß von 20 Mitgliedern — ausfdblieplicy Frauen — 
eingefest, um eine ſolche Liſte auszuarbeiten. 

Dieſer Beſchluß erregte um fo größere Mufmerfjamfeit, alS zu dem Vorftande und 
den Mitgliedern des genannten Vereins auger der im ganjen Lande twoblbefannten 
Frau Ragna Nielfen die meijten der Frauen gehörten, welche die öffentliche Meinung 
in der Hauptitadt als die erſten bezeichnete, die in die Konmmunalverivaltung gewablt werden 
milgten, (follte man nun einmal Frauen haben, fo wollte man natürlich gern 
folche, die etivads bedeuteten,) Frauen von der Rechten und der Linfen, die die 
verſchiedenen Parteifiihrer gebojft batten, auf ihre Liſten zu bekommen. Dieſe 
Selbjtindigteit fam deshalh febr ungelegen und wurde fofort von den Führern und 
Preßorganen der Parteien angegriffen und verhöhnt zunächſt allerdings verbaltnis- 
mäßig milde und vorſichtig, indem man den Gedanten, ein Zuſammengehen der Parteien 
in der Kommunalverwaltung yu verſuchen, ideal, wenn aud) undurchführbar fand. 


In einer vom Verein „Wohl des Haujes” einberufenen Maſſenverſammlung 
wurde der Gedanke des Vereins für Frauenſtimmrecht in einem einleitenden Vortrag 
von Frau Ragna Nielſen klar und präzis dargelegt. Sie zeigte, wie das in den letzten 
Jahren entſtandene Programmweſen — oder Unweſen — ſich herausgebildet habe. 
Es galt ſtets neue Mittel zu finden, um einer Partei Stimmen und dadurch den 
Rarteifiibrern Macht und Anſehen zu ſchaffen — fo fam man darauf, lauter Einzel— 
forderungen aufzuſtellen, immer mehr, ein ganzes Programm, das leichtgläubigen 
Wählern in die Augen ſtechen und fie auf den Leim locken konnte. — In der Politik 
find Parteien cin notwendiges bel; dod) in einer Kommunalverwaltung find fie 
unnötig, da kommt es nicht Darauf an, was man über die Unionspolitif denft, fondern 
ob man Tüchtigkeit und Einſicht in den Sachen befigt, die cin fiir allemal zu den 
Aufgaben der Kommune gebiren: Straßen- und Ranalifationsiwejen, Kirchen und 
Schulen einer Stadt und vor allem ibr ökonomiſches Gedeiben haben dasfelbe Anterefje 
fiir Steuerjabler der Rechten wie der Linfen. Es fei wohl miglich, dah die Frauen, 
die es nod nicht gelernt baben, fied cine Mrt Moral für das private und cine andere 
fiir Das öffentliche Leben yu alten, für allerlet Dinge in der Kommunalverwaltung ein 
Auge bitten, die Männern entgeben. Es könnte auch in ihrem bejonderen Intereſſe 
liegen, im Laufe der Beit dies und jenes anjuregen. Aber wollten fie jest ſchon 
beginnen, ſich von den längſt cingearbeiteten, feſtgeſchloſſenen Mannerorganijationen 
verſchlingen zu lajjen, fo wiirden ibre felbjtandigen Anſchauungen und Meimungen bald 
vernichtet und in dem blind und taub machenden Parteiintereſſe ertränkt werden. 
Wozu die Vortragende alle Frauen auffordern wollte, war ſelbſt zu denken und zu 
wiblen, ebe fie ſich an eine Partei banden. 

Gin anderer von den großen Frauenvereinen tadelte urd feine Vorſitzende, Staats- 
ritin Quam, dieſe Taltif in ftarfen Worten. Es wurde innerhalb dieſes Vereines 
den Frauen vorgebalten, daß fie nur dure die Parteien boffen fonnten, etwas zu 
erreichen, und dag fie innerbalb Ddiefer Partcien arbeiten müßten, um ibre ſpeziellen 
Intereſſen und Anſichten geltend zu machen. Die Vorjigende qlaubte auch nicht, dah 
die Frauen ſchon jetzt die Cinjicht und Erfabrung batten, und ebenfowenig, dah fie 
die erforderlichen Geldmittel haben fonnten, um mit ciner eigenen Wablarbeit in 
diejer kurzen Seit ein Refultat zu erzielen.!) 

Der Gedanke, dak Frauen für unpolitiſche Kommunalwahlen arbeiten ſollten, war 
indefjen aufgeworfen und wurde an manchen Orten auſgenommen. In Bergen wollten 





') Es fei hierbei bemerft, daß bas Arbeitskomitee ded Vereins fiir Frauenſtimmrecht durch cine 
vernünftig durchgeführte Olonomie imſtande war, ſich mit den kleinen Beiträgen zu behelfen, die die 
Mitglieder des Vereins ſpendeten. Seine Wahlarbeit foftet der Summe, die eine der großen 
politiſchen Parteien brauchte. 


Norwegifde Frauen alS Wabler und Stadtverorbdnete. 223 


ſich ebenſo wie in Rriftiania die bejten Vertreterinnen der Frauen nicht an die Partei- 
programme binden. Später madten fics unabbangige Manner und Frauen dort 
jujammen ans Werf, eine unpolitijde Wablerlifte aufzuſtellen. Trotz manches Miß— 
geſchicks und trogdem die Arbeit allzu ſpät begonnen wurde, gelang es aud) eine folche 
qujtande zu bringen und fie bei der Wahl reprajentieren zu laſſen. — Jn Krijtiansjand 
jammelten ſich eine ganze Anjabl Frauen um eine fogenannte ,,private’ unpolitiſche 
Lijte — einen Mifddsettel, der Ramen von den Wablerlijten der übrigen Parteien 
enthielt. An den meijten Orten wurde jedoch die Adee wieder aufgegeben, teils weil 
man die Seit yu fur; fand — auch wobl weil der Mut feblte, die Arbeit fiir etwas 
fo Neues ju beginnen. Es war bequemer, ſich an die fertigen, eingearbeiteten Parteien 
zu wenden und dieſe zu bewegen, die Frauen, die man wünſchte, auf ibre Lijten zu ſetzen. 

Im Laufe des Sommers und Herbjtes brachte Fraulein Gina Krogs Zeitſchrift 
„Nylände“ cine Reibe ausgezeichneter Artifel tiber Kommunalwahlen und -Angelegen- 
beiten, worin u. a. das Wahlgeſetz und das fomplizierte Wahlſyſtem entwirrt und 
anſchaulich erflart wurde. Dieſe Artikel wurden eifrig ftudiert von alt und jung — 
aud von Mannern, Es jeigte fic) nämlich, daß die meijten von Ddiefen, went ibre 
Frauen in ibrem friſchen Cifer die Herren und Gebieter um Aufklärung über diefen 
oder jenen Punft fragten, vielfach die lieblichſte Unwiſſenheit verrieten. , Was foll id 
mir den Kopf über fo etwas jerbrechen” fagte cin woblbefannter alter Biedermann, 
„dazu habe id) eine Barteileitung, — dah fie fiir mic denkt!“ — Dah die Partei- 
führer wirklich dazu da waren, zu denken — und zwar in ibrer eigenen Rictnng, in 
Deren Intereſſe fie ſtrupellos alles auslegten — das merften die unparteiiſchen unter 
den Frauen aud bald; fie faben, daß fie ſich auf ſich felbjt verlaſſen mußten, und fie 
gingen gründlich zu Werke. Aufflarende Vortrage wurden gebalten, und an mehreren 
Orten errictete man vor der Wahl eigene Ausfunftbureaus zur Anleitung in den 
rein praftifden Fragen. Dah jie es hierbei gewijfenbaft vermieden, irgend jemand in 
feiner Meinung zu beeinfluſſen, wurde tiberall anerfannt. 

Su dem Mage, wie die Wohl fich näherte und die Parteiagitation die sibliche 
Steigerung erfubr, verfcharften fic auch die Angriffe gegen die „Frauenliſte“ in Kriftiania 
wie gegen die unpolitiſchen Lijten überhaupt, die man vermutlic als cine Folge de3 
Aujftretens der Frauen betradtet. Von den Frauen der Rechten wie der Linfen wurden 
Majjenverfammlungen einberufen, in denen eS den Subdrerinnen als ibre beiligite und 
einzige Pflicht vorgebalten wurde, mit der Partet zu ftimmen, die die Verſammlung 
einberujen hatte, — oder jedenfalls, wenn es garnicht anders ginge, mit der Gegen- 
partet zu ftimmen, aber um Gottes Willen nicht mit den „Unpolitiſchen“ oder den 
„Frauen“, die mim trop ihrer Friedfertigkeit die gefährlichſten von allen geworden 
waren. — Worin ihre Gefabrlichfeit bejtand, erfubr man nidt fo genau. 

Die Frauen der Rechten batten in Kriftiania und Drontheim Manner gewablt 
als ibre Wortfiibrer, im iibrigen bielt man fic in der Regel an feine eigenen weiblicen 
Rednerinnen. 

Das Arbeitsfomitee des Vereins fiir Frauenftimmredt (da3 auf Grund feiner 
Mitgliederzabl popular das ,,3wanjigerfomitee” oder die „Zwanzigfrauen“ genannt 
wurde) arbeitete inzwiſchen ruhig weiter, obne fich von Propheseiungen anfechten zu 
laſſen, daß es keinen einzigen Mann von Bedeutung auf feine Lijte und nicht genug 
Stimmen befommen würde, um cinen einjigen Vertreter durchzuſetzen. Es ließ ſich 
auch nicht durch direkte Anerbietungen verlocken, „Stimmen zu gewinnen,“ indem es 
Kompromiſſe mit anderen Vereinen einging. Sein ſtandig wiederhölter Grundſatz war: 
„Wir arbeiten für das, was wir recht finden; wir wollen weder agitieren, noch uns 
auf Verhandlungen einlaſſen. Erreichen wir diesmal nichts, beginnen wir das nächſte 
Mal von neuem“. Diefem Grundſatz blieb es die ganje Zeit treu, trogdem die 
Verſuchung, auf alle die uniwigigen Angriffe eine fcbarfe Antwort zu geben, oft recht 
jtarf war — um fo mebr, als dem Romitee die beften und geübteſten Streitfrafte 
unter Den Frauen angebirten. 

Trogdem von Anfang an die Abjicht des Komitees klar genug auseinandergefest 
worden war, bradten die Zeitungen ftets verhüllt oder ausgefproden ſpöttiſche Fragen, 


224 Norwegiſche Frauen al Wahler und Stabtverordnete. 


twas die ,, Damen” eigentlid) mit ibrer Urbeit zu erreiden gedächten — Fragen, 
die immerfort wiederholt wurden, ob man fie aud nod) fo klar beantwortete. Durch 
dies Vorgehen der Preſſe batten ſich in bezug auf die unpolitifche Liſte die Begriffe 
verwirrt, — was wohl auch beabjictigt gewefen war. Einzelne glaubten, fie jollte 
ausſchließlich Frauen zur Wahl aufſtellen — andere, man wolle lauter farblofe Perjonen 
finden, foldse, die gar feinen Standpunft batten! Ciner Aufforderuug zufolge bielt dann 
die Vorjigende des Vereins fiir Frauenftimmredt, Frl. Anne Holſen einen öffentlichen 
Vortrag über die unpolitifde Lijte der Frauen und deren Swed — fo Flar, ſachlich 
und formvollendet, daß er felbjt die Anerkennung der Gegner gewann. Er erregte 
nicht wenig Auffeben und wurde am folgenden Tage als Beilage zu „Verdens Gang” 
qedrudt. Diefes Blatt hatte fich die ganze Zeit — im Gegenfas au anderen politiſchen 
Zeitungen — gegeniiber dem Beſchluß und der Arbeit des Vereins fiir Frauenftimmredt 
jebr wohlwollend verhalten und feine Spalten den Anhängern des unpolitijeben Programms 
zur Verfiigung gejtellt, — wovon jedod nur in geringem Maße Gebraud gemacht 
wurde, da die Frauen, wie ſchon erwähnt, pringipiell feine Agitation treiben wollten. 

Als ſämtliche Wablerliften verdffentlidbt wurden, zeigte es fich jum allgemeinen 
Erjtaunen, dak die der Frauen eine ganze Reibe woblbefannter und angejebener Dinner: 
namen enthielt, dDarunter einjelne, an die fic die politiſchen Parteien vergebens gewandt 
batten. Daß fie die beſten weiblichen Reprajentanten aufwies, wußte man ja vorber. 
Mun befamen die Parteien ernſtlich Angſt, Stimmen zu verlieren, und das gröbſte 
Gefchiig wurde aufgefabren. Qn den legten Tagen vor der Wahl und am Wabltage 
felbjt enthielten die Seitungen die heftigſten Aufrufe, fic) vor der fogenannten unpolitijden 
Frauenliſte zu biiten, diefem ,,reifenden Wolf” (jie wurde wirklich in „Aftenpoſten“ 
fo benannt), die von der Linken alS Handlanger einer verichtlichen Rechten bezeichnet 
wurde, wibrend die Rechte fie diijter und drobend „weiter“ nichts als eine masfierte 
Vinfenlijte nannte. Das half. Trog der vielen unerwarteten Veweife von Sympathie, 
die den Frauen bei ibrer Arbeit guteil geworden waren, nicht zum wenigiten feitens 
der Männer, erbielt die Liſte bei der Wahl nur zwei Reprijentanten, freilich zwei 
feiner bejten weiblichen Politifer, namlicd) Frau Ragna Nielſen und Fel. Anne Holfen. 
Stellvertreter wurden zwei Der anderen Frauen, die man bei der Wahl durchzubringen 
gehofft batte. Inſofern wurde das Refultat von allen Frauen, mit welder Partei fie 
auch geftimmt batten, freudig begriift; aber es wurde lebbaft bedauert, daß Feiner der 
ausgezeichneten Männer, die auf der Lijte geftanden haben, gewählt worden war. 

Das Entgegengejeste ereiqnete fic) in Tromsd, wo eine Bartei, die fic) ,,die 
unabhängige Linke” nannte, die Frauen bewogen batte, cine Wablerlijte aufzuſtellen und 
zu unterzeichnen, von Der Dann bei der Wahl alle Frauennamen geſtrichen wurden, fo 
daß nur Manner bineinfamen. 

Dberhaupt zeigte eS ſich, daß die Linke im ganzen Lande febr häufig die Frauen 
aus ihren Liſten geltriden hatte, was ſowohl Eritaunen wie CEntriijtung erregte. In 
mebreren Städten fam nicht eine einzige Frau auf die Lifte der Linfen, trogdem 
man fid) allgemein dariiber flar war, wie tüchtig und fiir das dffentliche Leben brauchbar 
gerade Die Dort aufgefiihrten Frauen waren. Der ſchlimmſte Schlag war, daß in der 
Hauptitadt felbjt fic das gleiche Schaufpiel zutrug. Freilich batten bier ſowohl Rechte 
wie Yinke infolge der Conderlijte der Frauen teilweije neue und nnerprobte Frauen: 
namen auf ibre Lijten ſetzen müſſen; die der Linken enthielt jedoch ein paar qute 
Namen, und das riidfichtslofe und unerklärliche Streichen erregte große Crbitterung 
gegen die Partei. 

Die Rechte war durchgehends Hiflicher gegen ibre Damen, Der große Trop 
ebrbarer Ronjervativer änderte nidts an jeinen Yijten, man verſchlang fie ganz, mit 
Frauen und allem — aber fie batten auch meift nette, gebildete Damen befommen, 
die niemals grofen Lärm gemadt batten und an denen feiner Anſtoß nehmen fonnte. 

Die Frauen machten bei der Stadtverordnetenwabl im Jahre 1901 etwas über 
1/, der Wählermaſſe aus, Unter 633 487 Stimmberedhtiqten waren 231 064 Frauen. 
Von diefen waren 18971 perſönlich Steuerjablende, etwas iiber die Hälfte auf dem 
Lande, der Reft in den Stadten. 


Norwegifde Frauen als Wabler und Stadtverordnete. 225 


Die Wablbeteiliqung war bei den Frauen auf dem Lande an den meijten Orten 
ſpärlich, durchſchnittlich nur 4,9 Prozent. Das Intereſſe war gering; auf dem Lande 
ijt man ja gern geneigt, alles Neue mit Miftrauen su betrachten. An gegen '/, der 
Bezirke wurden gar keine Stinunen von den Frauen abgegeben. 

Jn den Städten war die Beteiligung meiſt ganz qut, durchſchnittlich 48 Prozent 
(von Mannern ftimmten in den Städten durchjebnittlich 57 Prozent). In vielen Fleineren 
Stidten war die Beteiligung der jtimmbereddtigten Frauen nocd weit ſtärker, bis zu 
80—90 Prozent, in einzelnen größeren Orten dagegen ziemlich dürftig. 

Von den gewäblten 12428 Re— 
prifentanten waren 98 Frauen, davon 86 
in zuſammen 27 Städten und nur 12 
in den Landdiftriften. Jn einer Stadt 
(Kriftiansjand) wurden 7 Frauen, in 
5 Städten je 6, in Den iibrigen von 
6—1 Frau gewablt. An 33 Stadten 
wählte man keine weiblichen Stadtver— 
ordneten. Zu Stellvertretern wurden 
160 Frauen gewählt, davon 105 in den 
Städten und 55 auf dem Lande. 

Die Frauen ſtehen in der öffentlichen 
Wablſtatiſtik mit eigenen Liſten nur in 
Kriſtiania und einem einzelnen Kirchſpiel 
aufgeführt, wo ſie jedoch zu wenig Stimmen 
erbielten, um einen Repräſentanten durch— 
sujegen. Indeſſen hatten, wie ſchon erwähnt, 
Frauen allein ſowohl die Liſte der „un— 
abhangigen Linken“ in Tromsö und die 
private unpolitiſche Liſte in Kriſtiansſand 
unterzeichnet. 

Dieſer letzteren war es vermutlich zu 
verdanken, daß in Kriſtiansſand die größte frau Ragna Nielſen. 

Anzahl weiblicher Repräſentanten gewählt (Aus: Det ny Aarhundrede.) 
wurden, trogdem die dortigen Frauen fic 

mir ſpärlich beteiligten. Wan hatte dort auch cinige Sozialiſten auf der unpolitifdren 
Liſte aufgefiibrt, etwas, was man fonjt vermicd. 

Die Frauen Krijtianias batten ibre Lijte „die unpolitiſche Liſte“ genannt. Dies 
mufte im letzten Augenblick gqedindert werden, da der Wablvorjtand es geſetzwidrig 
jand, die Lijte mit cinem WAdjeftiv zu bezeichnen, weshalb der Name in ,,Vijte des 
Vereins fiir Frauenſtimmrecht“ abgeindert wurde. Dies machten ſich die Geqner 
natürlich augenblidlicy gu muge, die Die Sache jo auslegten, als ob Die Viste fiir nicht 
unpolitiſch genug befunden worden fei! In Bergen erbob man feinen Cimwand gegen 
die Bezeichnung unpolitiſche Lijte. 

Durchſchnittlich ſtimmten freilics die Frauen dDiesmal mit ibren Parteien, oder 
richtiger mit den Parteien, zu denen ſich ihre wahlgewohnte, männliche Umgebung zählte. 
Es ijt ja immer nur eine Minderzahl imſtande, über öffentliche Angelegenheiten und 
Perſonen ihre eigene Meinung ſich zu bilden, und die emſige Agitation der Parteien 
tut auc im letzten Augenblick das Ihre, um das Stimmpieh in die alten Reihen zu 
treiben. Dodd batten Frauen, die im übrigen mit politiſchen PBarteien ſtimmten, in 
ganz, grofer Ausdehnung von dem Rechte der Namensüberführung Gebrauch gemadt, 
um fiir Die Frauennamen der anderen Vijten zu ftimmen, wenn dieſe eine befonders 
ſammelnde Kraft batten. Dies war auch der Grund, weshalh die weiblichen Namen 
auf der unpolitifden Liſte in Nrijtiania mebr Stimmen erbielten als die männlichen. 

Die Rechte erbielt an den meijten Orten die qrofe Majoritdt bei den Wahlen, 
was man nicht zum wenigiten Der Beteiligung der Frauen verdanfen yu müſſen qlaubte, 
Nonfervative Spiefbiirger, denen weibliches Stimmrecht ein paar Monate zuvor ein 

15 





226 Norwegiſche Frauen ale Wahler und Stadtverordnete. 


Greuel und cine Widerwärtigkeit gewefen war, fpazierten nun kreuzvergnügt yur Wahl— 
urne in Begleitung ihrer Chebalften, die, ob fie nun wollten oder nicht, helfen follten, den 
fürchterlichen Sozialiſten Schranken yu ſetzen. Die Sosialijten und ibr Tradten nach 
des Nächſten Gut waren nämlich das Sehredbild, das die Ronverfativen überall auf— 
ftellten, um irrende Seclen auf den ficheren Weq zu bringen. — Die Reitungen der 
Rechten waren, nachdem der Ausfall der Wahl befannt geworden, auch äußerſt galant 
gegen die Damen und dankten fiir die gute Hilfe. Das Entgegengeſetzte war bei den 
Blittern der Linfen der Fall. So gab „Dagbladet“ in Kriſtiania ausſchließlich den 
Frauen Schuld an dem fitr die Partet ungünſtigen Ausfall und tröſtete fic und feine 
Leſer damit, dak bei den Storthingsiwablen, wo die Frauen nicht dabei waren, febon 
alles gut geben follte! 

An einzelnen Orten des Wejtlandes, wo die Nachwirkungen der pietiſtiſchen 
Bewegung nod) ju verjpiiren find, unterliefen es die Frauen der WArbeiterflajjen aus 
religidfen Griinden faft durchweg, ihre Stimmen abzugeben. 

Was die Frauen der Sozialiſten anbelangt, fo ijt zu bemerfen, daß fie fic 
iiberall der Zuſammenarbeit mit ben anderen Frauen entyoqen und nur mit ibrer Partei 
arbeiten wollten. Diefe brachte übrigens trog aller Propheseiungen nirgends eine 
ſtarke Vertretung durch. 

Frägt man, ob ſchon jest von der Beteiligung der Frauen am öffentlichen Leben 
einige Wirkung yu verfpiiren fei, fo muß die Antwort unbedingt ja lauten. Nicht ge- 
rade in dem Sinne, daß irgend eine Frau bisher cine Revolution in den Kommunal— 
verwaltungen herbeigeführt oder (vielleicht mit ciner einzigen Ausnahme) weſentliche 
Neuerungen angeregt hätte, die nicht ebenfo qut Dinner batten vorbringen können. 
An vielen Orten verbhalten fie ſich vorläufig noc paffiv, da fie meinen, daß fie in 
rein formeller Hinjicht viel yu lernen haben. Jn Bergen balten die Frauen vor jeder 
Magiſtratsſitzung private Verjanuntungen ab, wo fie dann die vorliegenden Sachen zur 
gegenfeitigen Aufklärung und Belebrung durchgehen. Cine Stadtverordnete in einer 
der größeren Städte ſchreibt: „Was ich in den Beratungen vor allen Dingen gelernt 
babe, ijt, ju febweigen; denn die dort übliche Redfeligkeit iſt über alle Grenzen ab— 
ſcheulich. Reine Frau hat fic) nod in diefem Punkt verfiindigt; deshalb birt man 
uns an, wenn wir einmal etwas fagen.“ 

An ciner Landgemeinde — Cidsvold — wo eine befonders tüchtige Frau in der 
Kommunalverwaltung jist, war diefe in cin Komitee von fiinf Mitgliedern gewählt 
worden, das über mehrere Entwürfe fiir cine Straßenlinie zu entſcheiden hatte. Ob— 
wobl fie im Komitee mit ibrer Meimung gang allein blieb, erbielt fie in der Kreis: 
verwaltung nad einer lebhaften Debatte zwei Drittel der Stimmen fir „ihre“ Linie — 
ein recht bemerkenswertes Refultat anf dem Lande. 

An Krijtiania mit feiner verhältnismäßig diirftigen weiblichen Reprajentation — 
nur 6 von 84 (2 Rechte, 2 unpolitiſche und 2 CSojialiften) ijt man fo gliidlid, in 
Frau Ragna Nielfen cine Stadtverordnete zu befiken, deren energifde Perſönlichkeit 
und unermüdliche Arbeitskraft ſchon längſt von allen Parteien anerfannt und geſchätzt 
worden ijt. Cie wird auc) ftarf in Anſpruch genommen, und ibr flarer, praftifcher 
Bic und ibre unerfdrodene Kritik üben ſchon jest einen merfliden Cinflug aus — 
nicht jum wenigiten in ökonomiſchen Fragen, wo fie cine Breſche in das gewobnte 
Syſtem geleqt bat, von Ofonomie yu reden, ftatt fie praktiſch im Detail durchzu— 
fiibren. Ihre Kritif u. a. des koſtbaren Syſtems der fommunalen Mittelfdulen und 
ihr Nachweis von deffen Ronfequenzen hat große Aufmerkſamkeit und felbitverftdndlich 
in einzelnen Abteilungen viel Veritimmung erregt, nach dem febr üblichen Prinzip, dah 
freilich in der öffentlichen Verwaltung gefpart werden mug, fo im Unbejtimmten, 
Groen und Ganzen genommen — aber die Sparjamfeit bat fics hübſch von den Ge- 
bieten fern zu balten, Die meine cigenen perſönlichen Intereſſen berühren! 

Aber die hauptſächliche Wirkung weiblicen Stimmrechts liegt doch in anderen 
Dingen: An dem qroferen Refpeft, der nun der Arbeit der Frauen und ibren perſön— 
licen Meinungen entgeqengebracht wird, ſpeziell in den Rreifen, wo es vorber undenk— 
bar war, ibnen irgendwelchen ſpeziellen Einfluß cinjurdumen und wo im ganjen alles, 


Ronfeffionalismus und Frauenbeiwegung. 227 


was zur „Frauenfrage“ gehörte, wie Das rote Tuch war. Jn freier denfenden Kreijen 
find ja norwegiſche Frauen ſchon feit vielen Jahren als die ebenbiirtiqen und gleich— 
geftellten Arbeitsgefabrten der Manner angefeben worden — jedenfall in der Theorie; 
in der weiteren Ausdehnung, in der die Frauen nun zu allerband Wmtern, mit und 
ohne Gebalt, gewählt werden, wo ibre bejonderen Fabigfeiten und Anlagen zu ihrem 
Recht kommen; und nicht zum wenigſten im dem Riidbalt, den es den vielen richtig 
Denfenden aber Verzagten unter den Frauen gibt, wenn fle feben, daß eine von den 
Ihren fic nun öffentlich ausſprechen und fiir die Auffaſſung ibres Geſchlechtes von 
manchen fozialen und moraliſchen Verhältniſſen kämpfen fann, wo diefe Auffaſſung von 
der iiblichen und angenommenen abweicht — allerdings auch ferner, obne gehört zu 
werden, aber dod) obne den Hohn und Spott ju erregen, dem vorber die fogenannten 
Weiberanſichten faft immer begegneten. 

In Schule und Armentvefen, in Vormundſchaftsſachen und Krankenhaus-Aufſicht, 
in alle miglichen Romitee’s und Kommiſſionen — fogar in Regqulierungsfommiffionen 
bat man nun Frauen gewählt, und von feiner Seite birt man andere als befriedigte 
Urteile fiber die gemeinfame Arbeit der beiden Geſchlechter. 

In einer Verſammlung in Drammen fagte cine Bortragende vor der Wabl: 
„Wir fommen jum öffentlichen Leben mit unferen einfacen Begriffen von Rect und 
Unrecht. Schämen wir uns diefes unferes naiven Standpunftes nicht.“ —. Die 
Hoffnung, die man begte, daß die Frauen nach ihrem Gewiſſen urteilen wiirden, quer 
durch alle Parteirückſichten hindurch, fcbeint bis jest Feine trügeriſche gewefen su fein; 
jedenfallS nicht in beyug auf die Frauen, die eine Uberzeugung haben. Und wir 
qlauben nicht, daß es jemand bereut oder bedauert, fie in das öffentliche Leben hin— 
cingelaffen zu haben. 


“GE 


Konfessionalismus und Brauenbewegung. 


@ertrud Baumer. 


RNaddrud verboten. 


Yor furjem ijt ein katholiſcher Frauenbund gegriindet worden. Er foll neben 
A einer planmäßigen Sujammenfajjung der Vereinstätigkeit katholiſcher Frauen 
£2) den Swed haben, „die katholiſchen Frauen in die gegenwartiq das Frauengeſchlecht 
bewegenden Fragen einzuführen und ibnen ju ermöglichen, an einer Löſung derfelben 
im Sinne der chriſtlichen Weltanſchauung erfolgreich mitzuwirken.“ Sum Borjtand 
gehören u. a. die Frauen befannter Zentrumsabgeordneter, Bachem und Trimborn. 
Wer die mafgebende fatholifche Preſſe in ihrer Stellung yur Frauenfrage wabrend 
der legten Sabre beobachtet hat, wird fich fagen, daß es yu einer ſolchen Gründung 
fommen mußte. In der Entitehung cines im Cinne der Frauenbewegung fortfcbritt- 
lichen Eatholifdben Organs „Die chriſtliche Frau” war ein folder Zuſammenſchluß 
ſchon vorbereitet. Die Charitastage batten ſchon vorber der Frauenfrage einen Teil 
ihrer Verbandlungen gewidmet, in den Stimmen aus Maria Laach tauchte fie auf, 
und die Kölniſche Volkszeitung hat ibe feit längerer Zeit ein vorurteilsfreies Intereſſe 
geſchenkt. Es ijt gar keine Frage, dah die Frauenbewegung in bezug auf einzelne 
praktiſche Aufgaben fosialer Woblfabrtspflege ſchon der fatholifchen Vereinstätigkeit 


15* 


228 Ronjeffionalismus und Frauenbewegung. 


manches verdanft, und dak fie von dem katholiſchen Frauenbund in diefer Hinſicht 
manche Forderung erwarten darf. Hat fie deshalb Grund, fic) diefer neuen Organifation 
zu freuen? 

Als diefe Frage bei der Griindung des evangeliſchen Frauenbundes aufgeworfen 
wurde, haben mafgebende Stimmen aus der fogenannten „bürgerlichen“ Frauen: 
bewegqung fie obne weitered bejabt. Man hat es als einen Sieg der Sache begriift, 
dah Frauen, in deren Weltanichauung fic der Gedanke der Frauenbewegung zunächſt 
nicht cinfiigen wollte, fic) dod) der zwingenden Macht der Tatſachen ſchließlich er- 
gaben, und man bat fic) mit Befriediqgung gefagt, daß unfere Bewegung nun ganze 
Rreije ergreifen würde, zu denen die interfonfeffionelle Frauenbewegung feinen Weg 
gefunden bitte. Sur Griindung des fatholifehen Frauenbundes hat fich die bürgerliche 
Frauenbewegung bis jest noc wenig gedubert, doch wollte man die einzelnen 
befragen, fo twiirde man ficher febr viel weniger unbedingte Zuſtimmung finden. Und 
dod) wire es cinfeitig, zu verkennen, daß der Gewinn fiir die Frauenbewegung bier 
derfelbe ift wie dort. In beiden OCrganifationen iſt die Vertretung der Frauen: 
bewegung an eine Bedingung gefniipft. Man will fie mit den Gedanfen ciner be: 
ſtimmten Weltanſchauung durchdringen und in gewiſſem Sinne den praktiſchen Zielen 
dieſer Weltanſchauung dienſtbar machen. Wenn vom Geſichtspunkt der Frauen— 
bewegung aus der erſten Gründung im allgemeinen mehr Sympathie entgegengebracht 
wird als der zweiten, ſo hat das ſeinen Grund ſicherlich darin, daß man in der Welt— 
anſchauung als ſolcher auf der einen Seite engere Schranken für die Entfaltung der 
Frauenbewegung ſieht, als auf der anderen, und daß man den Willen und die Macht, 
konfeſſionelle Zwecke in den Vordergrund zu ſtellen, auf der einen Seite höher ein— 
ſchätzt als auf der anderen. 

Darum iſt jetzt erſt, bei der Gründung des katholiſchen Frauenbundes, in der 
liberalen Preſſe die Klage über die konfeſſionelle Spaltung, die auf immer neuen 
Gebieten unſeres Volkslebens zu tage tritt, laut geworden. Ich meine, die Trieriſche 
Landeszeitung hat nicht ganz unrecht, wenn ſie dem entgegenhält, daß von ſolchen 
Klagen bei Gründung des evangeliſchen Frauenbundes nicht die Rede geweſen fei, 
trotzdem er dad Prinzip des Konfeſſionalismus in die Frauenbewegung eingeführt 
habe. Und ich meine, auch für uns iſt die Frage nicht die: Frommt uns ein 
evangeliſcher Frauenbund, oder frommt uns ein katholiſcher Frauenbund, ſondern die 
prinzipielle: wie ſtellen wir uns überhaupt zu konfeſſionellen Organiſationen in unſerer 
Bewegung? 

Da wird alſo vor allem das Arqument zu betrachten fein, daß die Ideen 
unjerer Bewegung durch die Fonfejjionellen Vereine in Kreiſe getragen werden, an die 
fonjt nicht heranzukommen wire. In anderen Worten heißt das: daß die Wutoritit 
der fonfeffionellen Cinfleidung cine Werbefraft entfaltet, die dem Gedanken der Frauen: 
bewegung an fich fiir die betreffenden Kreiſe nicht innewobnen würde; die Ctifette 
diefer oder jener Ronfeffion ijt cine Art Freipaß yum Einzug in Gebiete, in denen 
die Frauenbewegung fonft als Nontrebande gilt; die Ronfeffionalitit der Frauen— 
bewegung ijt cin braudbares und wirkfames taktiſches Mittel yu ihrer Verbreitung. 
Selbſtverſtändlich fann diefer Geſichtspunkt nur von folden geltend gemacht werden, 
die religidjen Nberseugungen feinen befonderen Wert heilegen. Wem fie ein inneres 
Heiligtum find, der wird fie nicht dazu erniedrigen wollen, in diefer Weife als Mittel 
zum Swed zu dienen. Das hieße doch, um ein Bild Jean Pauls yu gebrauchen, 


Ronfeffionalismus und Frauenbewegung. 229 


mit Szeptern nach Fritchten werfen. Alſo mur die „Frauenrechtlerin“, der ibre Gade 
liber jedem anderen Intereſſe fiebt, fonnte eines mit ſolchen Mitteln erfochtenen Sieges 
fic) freuen. Wher arch fie miifte fidd Fragen, ob mit dicfen Anbangern, fiir die cine 
Sade erft durch die Sanftion diefer oder jener Autorität annebmbar wird, ein wir: 
licher innerer Fortſchritt zu verzeichnen ift, ob folche Menſchen zur Frauenbewegung in 
ein fejtes und Flares Verhältnis treten finnen, tvenn man fie nur auf einem Umweg 
dafür gewinnen fonnte. Natürlich wird durd die Erweiterung ibres Propaganda: 
gebietes die Frauenbewegung auch diefen oder jenen erreichen, der nicht einer aus- 
driidlichen Sanktion, fondern nur einer Gelegenbeit, cines äußeren Anſtoßes bedurfte, 
um aus jfelbjtindiger innerer Nberjeugung fiir fie eingutreten und zu arbeiten. Und 
viele Mitarbeiterinnen im deutſch-evangeliſchen Frauenbund find ein Beweis dafiir, 
daß durch Ddiefe Vermehrung der Propaganda: und AUrbeitsgelegenheiten für unfere 
Sache ihr tatſächlich wertvolle Krafte gewonnen find. Im ganjen aber ijt auc vom 
Geſichtspunkt der Frauenbewegung aus Konjfeffionalitat als taktiſches Mittel ein zwei— 
ſchneidiges Schwert. 

Auch noch aus anderen Gründen als dem angeführten. Vor allen Dingen um 
der Zerſplitterung der Kräfte willen. Schon jetzt haben wir in manchen Städten 
einen Zweigverein der interkonfeſſionellen Frauenbewegung neben einem ſolchen des 
evangeliſchen Frauenbundes. Die praktiſchen lokalen Aufgaben, die der Frauen— 
bewegung obliegen, find aber dod) tatſächlich die gleichen, ob cin konfeſſioneller oder 
ein interfonfefjioneller Verein fie angreift. Man braucht nur die Vereinsberichte, die 
Tagesordnungen der Generalverfammlungen, die Petittonen 2¢. aus beiden Lagern ju 
verqleiden, um dieſe durchgehende Nbereinftimmung zu konſtatieren. So ſchafft man 
an vielen Orten zwei zeit- und kraftraubende Apparate für dieſelben Funktionen. Zu 
ſolcher Verſchwendung von Kraft fehlt es uns wirklich an leiſtungsfähigen Perſönlich— 
keiten. Ob überdies aus dieſem Nebeneinander gleicher Beſtrebungen ſich cine Konkurrenz— 
ſtimmung ergibt oder nicht, iſt lediglich eine Frage des Taktes der Vorfigenden. Dah 
der evangeliſche Frauenbund und dic interkonfeſſionelle Frauenbewegung nach Kräften 
an dem Prinzip des „Getrennt marſchieren — vereint ſchlagen“ feſtgehalten haben, 
iſt ein perſönliches Verdienſt der Leitungen. Wir dürfen uns nicht darüber täuſchen: 
je mehr konfeſſionelle Zweigvereine neben denen der unabhängigen Frauenbewegung 
an den einzelnen Orten entſtehen, um ſo größer wird die Reibungsfläche. Und es 
könnte wohl einmal ſein, daß der gute Wille der Leitung auf beiden Seiten nicht 
immer über Differenzen hinweghülfe. Jedenfalls wird das um ſo ſchwerer, wenn nun 
neben dem evangeliſchen und dem interkonfeſſionellen ein katholiſcher Frauenverein in 
derſelben Stadt entſteht. Damit wird die Einheitlichkeit in der Bewegung einfach 
unmöglich, denn es iſt kaum denkbar, daß der evangeliſche und der katholiſche Verein 
auch nur „vereint ſchlagen“. Die Macht des einen, des konfeſſionellen Prinzips, das 
dieſe Vereine verfolgen, wird ſich in dieſem Fall zweifellos ſtärker erweiſen, als der 
beiden gemeinſame Zweck: die Frauenſache. 

Und nun betrachten wir die ganze Frage in noch größerem Zuſammenhang, in 
ihrer Bedeutung fiir unſer nationales Leben. Die politiſche Preſſe bat mit Rect in 
der Begriindung eines deutſch-katholiſchen Frauenbundes cin politiſch bedeutungsvolles 
Ereiqnis gejeben. Auf Schritt und Tritt ſehen wir unſer politijdes Leben unbeilvoll 
beeinflugt dure den immer weiter auseinanderflaffenden Gegenſatz der Konſeſſionen. 
Wir wachſen yu zwei Völkern auseinander, die fics immer weniger verſtehen. Jede 


230 Ronfeffionaligmus und Frauenbeivegung. 


Rulturfrage — von der Reform der Mädchenſchule bis zur lex Heinze — wird eine 
Machtfrage, wird entichieden durd einen Rampf oder einen Kompromiß zwiſchen zwei 
feindliden Lagern. Die Durchfiibrung der Weltpolitif, die Wahrung der Machtjtellung 
nad augen muß erkämpft werden durch ein Paktieren in der inneren Politif, dad den 
Gegenſatz immer augenfilliger fonftatiert. ES ijt geradezu eine der brennendften Fragen 
unferer nationalen Entwidlung, ob es gelingt, diefem wachſenden fonfeffionellen Zwie— 
fpalt Ginbalt ju tun. Jedes neue Gebiet, auf dem die fonfeffionellen Fahnen auf: 
gepflanzt werden, bedeutet eine Verſchärfung des Konflikts. Jede Musdehnung des Arbeits- 
feldes, auf dem Angehörige der verſchiedenen Ronfeffionen, unbeſchadet ihrer religidfjen 
Tberjengungen, fic) zu gemeinjamer Rulturarbeit die Gand reichen lernen, ift in 
nationalem Sinn ein unfebagbarer Gewinn. Das, meine ich, mup fiir jeden national 
empfindenden und politiſch lar febenden Menſchen bei allen Sonderbeltrebungen, 
qleichgiltiq anf welchem Gebiet, der leitende Gefichtspunft fein. Und mir ſcheint, es 
finnte einem modern denfenden Menſchen nicht ſchwer fein, diefen Gefichtspuntt 
fejtzubalten. Unfer geiſtiges Leben hat die Weltanfdauung des einjelnen fo 
individualifiert, daff es febwerer und ſchwerer wird, die Nberzeugungen vieler durch 
cin uniformes Befenntnis wirklich rein und jutreffend auszudrücken. Wher indem wir 
uns fo voneinander trennten, baben wir jugleich gelernt, fremde Anſchauungen als 
etwas individuell Gerechtigtes zu verfteben und yu achten, und die UÜbereinſtimmung 
in der Weltanfchauung nicht als conditio sine qua non fiir jede Art gemeinjamer 
Arbeit anzuſehen. 

Auch die Frauenbewegung hat Lis vor wenigen Jahren diefen Standpuntt feſt— 
qebalten. Sie bat Frauen der verichiedenften geiſtigen Richtungen, ſolche, die auf 
pojitivem fonfeffionellen Standpunft fteben, und freier denfende vereinigt, weil fie fic 
fagte: e& gibt feine evangelifden und feine fatholijcben Siele in der Frauenbewegung, 
fondern nur das cine gemeinfame Biel: den Frauen den Einfluß auf die Kultur zu 
verſchaffen, den fie bei voller Entfaltung ihrer geiſtigen Perſönlichkeit anszuüben ver— 
michten. Wie der einzelne dieſes Ziel mit feinen religiöſen Nberzeuqungen verknüpft, 
kann ibm iiberlaffen bleiben; an fic) liegt in bem Streben danad nichts, das mit den 
Grundlagen irgend eines Befenntniffes in Widerfprucd ftiinde, oder da8 aus einem 
religibfen Befenntnis heraus befonders fornuiliert werden müßte. Ob ich als evangeliſche 
Frau gegen Die ftaatliche Reglementierung des Lajters oder fiir die Zulaſſung yum 
Univerfitdtsjtudium kämpfe, oder von irgend einem anderen Standpuntt aug, iſt ſachlich 
ganz gleichgiltiq, und tweder in Frauenlöhnen, noch in Arbeiterinnenfchuggefesen, nod 
in Vereinsredtsparagraphen laffen fic die Unterfchiede eines katholiſchen oder evan— 
gelifchen oder fonft cines philofophifden Credo ausdrücken. Diefe Einſicht bat die 
deutſche Arbeiterbewegung in ibrer allerjiingiten Cntwidlung bewiefen. Jn der Frauenz 
bewegung iit fie bis vor wenigen Jabren maßgebend gewefen. 

Nun hat fich eine fonfeffionelle Abfonderung auch auf dieſem Gebiet vollyogen. 
Die ganz felbjtverftdndlice Ronfequeng eines evangeliiden Frauenbundes iſt ein 
katholiſcher geworden. Ganz obne Schuld an diefer Gejtaltung der Dinge mag die 
interfonfeffionelle Frauenbewegung nicht fein. Es iſt vielleicht hier und da auf Ver- 
fammiungen und in der Preſſe von einzelnen ibrer Vertveterinnen einmal cine 
Außerung getan, die die Toleranz nach rechts — die den Menſchen meijt fo viel 
ſchwerer fällt, als die Toleranz nach linfs — vermiffen lich. Cie ift aber meines 
Wiffens — icy denke befonders an eine Auperung auf dem Dresdener Frauentag — 


Konfeffionalismus und Frauenbewegung. 231 


aud nicht obne Zurückweiſung geblieben. Keinesfalls aber fann man fagen, dah 
die Frauenbewegung pofitiv fonfefjionellen Frauen ein Zujammengeben mit ibr une 
möglich gemacht hatte. 

Alſo nicht die Erfabrung, dap man in der bürgerlichen Frauenbewwequng in 
ſeinen Uberzeugungen verlegt iwerde, fondern nur der pofitive Wunſch, auc auf 
dieſem Gebict unter ſich“ ju fein, mit den Bielen der Frauenbewegung zugleich die 
Intereſſen dieſes oder jenes Befenntniffes zu verfolgen, bat yu den fonjeffionellen 
Gründungen gefiibrt. Einen perfinlicden Vorwurf fann man natürlich niemandem 
daraus machen, wenn es ihm als cine Gewwiffenspilidt erſcheint, überall, bet jeder 
Betätigung im wirtſchaftlichen und fozialen Leben, fiir feine religidjen Mberzeugungen 
zu wirken. Ob dieſer Gewiſſenspflicht nicht ebenfo geniigt werden könnte, 
wenn man innerhalb einer Organiſation, die alle umfaßt, ſeine Anſchauung vertritt, 
wenn man die Andersdenkenden ſucht, ſtatt ſich von ihnen abzuſchließen, iſt eine 
Frage, die auch nur individuell beantwortet werden kann. Auch ſoll nicht der geringſte 
Zweifel in die Leiſtungen einer konfeſſionellen Organiſation geſetzt werden. Aber das 
iſt keine Frage: im Intereſſe unſeres nationalen Lebens ſind die konfeſſionellen Organi— 
ſationen der Frauenbewegung zu bedauern, denn bei noch fo freundſchaftlicher Stellung 
der Leitungen untereinander entziehen ſie Hunderten von einzelnen Frauen die Gelegen— 
heit, ſich in dauernder gemeinſamer Arbeit kennen und verſtehen zu lernen. Und wie 
können wir z. B. an ein paritätiſch organiſiertes Unterrichtsweſen denken, wenn wir 
nicht einmal auf einem Gebiet, wie das der Frauenbewegung, einen paritätiſchen 
Standpunkt feſtzuhalten vermögen? 

Man wird fragen, was ſoll dieſe Erörterung jetzt, da die Sache doch nun 
einmal geſchehen iſt? Ich glaube, daß es gerade, weil ſie geſchehen iſt, um ſo not— 
wendiger iſt, die Bedenken und Gefahren dieſer Sonderung dauernd und feſt im Auge 
zu behalten, um fie auch nach der konfeſſionellen Trennung nad Kräften zu verhüten. 
Die interkonfeſſionelle Frauenbewegung ſollte dafür ſorgen, daß nicht die Religion für 
ſie in dem Sinne zur „Privatſache“ wird wie bei den Sozialdemokraten, ſie ſollte den 
paritätiſchen Standpunkt konſequenter als jene, allen Richtungen gegenüber, feſthalten, 
damit fie immer fähig bleibt, auch poſitiv konfeſſionelle Anhänger der einen oder anderen 
Richtung aufzunehmen. Und die fonfeffionellen Bereine follten fics immer jabhlreichere 
Berührungspunkte mit der bitrgerlichen Frauenbewegung — vor allem durd Anſchluß 
an den Bund deutfcher Frauenvereine — ſchaffen. Die gelegentlide Befchidung der 
Vereinsverfammlungen durch eingelne Delegierte geniigt niet, wm die Mitglieder 
in weitem Umfang miteinander in Fühlung yu bringen. Vor allem aber meine ich, 
jollte an Orten, wo die Möglichkeit einer parititifden Organifation der Frauen- 
bewegung bejteht — wo fie fic) vielleicht ſchon praktiſch bewährt bat — von 
fonfeffionellen Griindungen abgefehen werden. Im Intereſſe der Frauenfache und im 
Intereſſe unferer gefamten nationalen Entwicklung wird man von der fonfeffionellen 
Frauenbewegung diefe Suriidhaltung verlangen diirfen, 

Um fo mebr, als feine wirklich tief und feft begründete religidfe Weltanſchauung 
dadurd) verlieren Fann, daß fie WAndersdenfenden gegenitber das Cinende fucht. 
Denn es bleibt doch wabr: 

„Was ift bad Heiligite? Das, was beut und ewig die Geifter, 
Tiefer und tiefer gefühlt, immer nur einiger made.” 


— — ——2n2 — — 


282 


Professor Carla Wenckebach. 


Radhdrud verboten. 


Als bet der erjten Generalverfammlung des 
Allgemeinen deutſchen Lebrerinnenvereins 
in Friedricroda 1891 die deutſchen Lebhrerinnen 
in ihrer Gefamtbeit beqannen, fiir Frauenbildung 
und Mädchenſchulweſen neue Bahnen zu fuchen, 
jand ſich zufällig eine Nollegin zu ibnen, die 
in fremden Landen auf ſolchen neuen Bahnen 
jebon cin Stück Weges zurückgelegt hatte: es 
war Profeſſor Carla Wendebach vom Wellesley 
College in Maſſachuſetts. Wer fie Damals 
kennen lernte, fühlte an der Kraft und. der 
energiſchen Friſche ibrer Perſönlichkeit, daß ibe 
Lebenswerk im fernen Weſten dem deutſchen 
Namen und den deutſchen Frauen Ehre mache, 
und ſie ſelbſt hat mit herzlicher Freude und 
lebendiger Teilnahme den Fortſchritt der Be— 
wegung verfolgt, deren Anfang ſie damals in 
Friedrichroda geſehen hat. So gebühren ihr, 
die Ende des vorigen Jahres aus ihrem voll 
erfüllten Arbeitskreis abgerufen wurde, auch von 
unſerer Seite einige Worte dankbaren Gedenkens. 
Sie war nach einer mehrjährigen Lehrerinnen— 
tätigkeit in Belgien, Schottland und Rußland nach New Yorf gekommen. Dort 
hatte die Leiterin einer Der bedeutendſten amerikaniſchen Frauen-Univerſitäten, Wellesley 
College, an einem Vortragscyklus, den fie veranſtaltete, teilgenommen und fie ſofort 
fiir Die deutſche Fakultät ihres College gewonnen. 1883 trat Carla Wenckebach 
als Yebrerin fiir Deutſch im Wellesley College cin und ſtieg bis jum Jahre 1893 
zu dem Range eines orbdentlichen Profeffors auf. Unter ibrer Leitung hat ſich die 
deutſche Fakultät fo glücklich entwidelt, daf fie jegt yu den größten des ganjen 
College gebirt. 

Ihr verdanft das College aud die Begründung der Abteilung fiir Pädagogik. 
MS fie in das College eintrat, war es Sitte, daß die Lebrerinnen freiwillige Bibel: 
ftunden mit den Sebiilerinnen abbielten. Da Carla Wendebach ſich zur Erteilung 
Diefer Stunden nicht fähig fiiblte, bot fie an, ftatt dejjen einen pädagogiſchen Kurſus 
zu balten, Das wurde Dann der Anfang zu einer befonderen Wbteilung für 
Pädagogik. 

Was ſie als Perſönlichkeit dem College geweſen iſt, das ſpiegelt ſich lebendig 
in den Worten, mit denen ihre Schülerinnen der Trauer um ihren Tod Ausdruck 
gaben: wir empfangen aus der Charakteriſtik, die ſie in den warmen Nachrufen des 
Wellesley Magazine erfährt, den lebhafteſten Eindruck davon, daß es die ſpezifiſch 
deutſchen Seiten ihres Weſens waren, die ſie dort ſo anziehend machten. Ihre 
wiſſenſchaftliche Arbeit im College und ihre Perſönlichkeit gingen in einander auf 
und wurden zuſammen zu einem lebendigen Zeugnis deutſchen Geiſtes und deutſcher 
Kultur. 





Profefjor Carla Wendebad. 233 


Sie bat weitverbreitete Bieber yur Cinfiibrung in das Studium des Deutſchen 
geſchrieben. Sie bat Ausgaben deutſcher Klaſſiker und eine Sammlung deutſcher Lyrik 
veranſtaltet. Mit Begeiſterung ſprechen die Amerikanerinnen von der Art, wie ſie 
ihnen das Weſen deutſcher Märchendichtung und Heldenſage verſtändlich gemacht, wie 
fie ibnen Wagners Dichtung und Muſik erſchloſſen habe, und dieſe Begeiſterung im 
Lande des Dollar iſt gewiß ein ſtarker Beweis für die Kraft der Perſoͤnlichkeit, die 
ſie zu wecken verſtand. „Sie verſtand es,“ heißt es mit Bezug auf ihren Unterricht, 
pitt Den Schülerinnen die Uberzeugung zu ‘erweden, daß die Arbeit, die fie von thnen 
verlangte, der Miihe wert fei. Sie empfingen viel mebr als techniſche Schulung, neue 
Tore der Erfenntnis wurden ibnen erſchloſſen, und fie wurden in eine größere Welt 
geführt. Mit welcher VBegeifterung veriveilte fie bet den alteren Dramen, bei der Fille 
mittelalterlicher Dichtung, Dem Reichtum der Nibelungenfage! Wie trug fie dieſe 
gewaltigen Stoffe in unfer modernes Leben, wenn fie fiber ibre Daritellung in 
Wagners Dichtung und Muſik ſprach. Sie hatte die Tiefe und Griindlichfeit, die 
ihrem deutſchen Stamm cigentiimlich ift, und die Begeiſterung, die nur feltenen Menſchen 
geſchenkt ijt.” 

Diefes ganz Perſönliche — da8 tritt auch in all den iby gewidmeten Nachrufen 
am lebbafteiten bervor, das beherrſcht Me Erinnerungen der Sebiilerinnen an dag, 
was fie ibnen gewefen ijt. Man fiiblte fics als Mitglied der deutſchen Abteilung unter 
dem Einfluß eines ftarfen, fortreifenden Enthuſiasmus, durch den alle Schonbeit und 
Areude des Studiums in dDoppeltem Glanz leuchtete. Man riet in Wellesley College 
Den new eintretenden Schiilerinnen, zuerſt einmal Deutch ju treiben because you 
get so much out of it.“ , Wir waren perſönlich ungebeuer ſtolz auf die deuiſche 
Abteilung,“ heißt es weiterhin, „es war da alles ſo wirklich und ſo lebendig, ſo reich 
und ſo voll weiter Gedanken und Anregungen und Kraftquellen für uns. Jedem in 
der Welt konnten wir ſie zeigen und ſagen: Das iſt unübertroffen. Denn es gibt 
eine Art Arbeit, die ihr eigenes Gepräge einer Vortrefflichkeit trägt, die nicht an 
etwas anderem gemeſſen werden kaun.“ „Wir ſegnen Dich,“ heißt es in einem 
anderen Nachruf, „denn unter dem Druck aller Mühe und Sorge und Erſchöpfung 
bewahrteſt Du das Herz eines Kindes, eine unverwüſtliche Lebensenergie, einen friſchen 
einfachen Glauben an die Güte und Schönheit des Lebens. Du konnteſt jede Freude 
an Natur und Geſelligkeit tief genießen. Familienbande, die nationalen Traditionen, 
der Weihnachtsbaum waren Dir teuer. Niemals verlorſt Du den Sinn für die 
Grenzen des Lebens — für das Wunderbare und das Geheimnis, das unſer Daſein 
umhüllt.“ Ein deutſches Leben — mitten in einer Welt anderer Gefühlsweiſe und 
anderer Werte, das ſich ſelbſt treu einen tiefen Eindruck ſeiner Eigenart in ſeiner 
Umgebung zu geben vermochte — das empfinden wir auch aus dieſen Worten. 

Ein friſcher Humor, der Carla Wenckebach, „den kleinen Bismarck“, wie man 
fie nannte, in allem „College fun“ cine Rolle ſpielen ließ, unermüdliche Tatkraft, 
die Klarheit und Feſtigkeit, mit der fie die Abteilung zur Ehre des College leitete, 
waren die glücklichſte Erganzung der weichen und gemütvollen Züge ihres deutſchen 
Weſens und ſicherten ihnen erſt eigentlich ihre Wirkung. 

So iſt ſie in jedem Sinne für uns eine Pionierin geweſen: für deutſche Kultur 
in dem fremden Lande, und für deutſche Frauenarbeit auf einem Gebiet, das in 
der Heimat noch lange unzugänglich blieb, als es ihr die Fremde erſchloß. Daß ſie 
ihren in ſo mancher Hinſicht bedeutſamen und verantwortungsreichen Poſten ſo 
ausfüllte, dürfen auch wir ihr von Herzen danken. B. I. 


ν. 


234 


Vie neuen Radierungen von Kathe Kollwitz. 


Anna I. Plehn. 


Nadbrud verboten. — 


Als Kathe Kollwitz ihre letzte Radierung plante — das Blatt repräſentiert 

A mit einer Fülle von Vorſtudien ein ganzes Jahr intenſiver Arbeit — da wollte 

ſie es in die Bauernkrieg-Folge einreihen. Es ſollte dargeſtellt werden, wie 

die ſchwarze Anna am Abend des unglücklichen Kampftages ihren Knaben begräbt. 

Die ſchwarze Anna iſt eine hiſtoriſche Perſönlichkeit, die in jenen unruhigen Zeiten 

anfeuernd vor dem Zuge der Aufſtändiſchen herzulaufen pflegte, ganz wie Blatt 4 des 

Radiereyklus fie zeigt. Die Idee der Begräbnisſcene ijt nur in einigen Zeichnungen 

behandelt worden, und ſie hat mehrere Entwicklungsſtadien durchgemacht. Solche 

Wandlungen pflegen beſonders gut über das Künſtlerwollen zu unterrichten, wenn man 
die verſchiedenen Phaſen miteinander vergleicht. 

Zuerſt ſollte die Frau auf nächtlichem Feld das Grab ſchaufeln beim Schein 
einer Laterne, mit der ſie ihr Kiud unter den übrigen Gefallenen geſucht haben mochte. 
Die Leiche ruhte mit hochaufgeſtütztem Oberkörper im Vordergrunde. Damals war 
noch an eine Ausführung als farbige Lithographie gedacht, und ein nächtlich dunkles 
Blau war auserſehen, dem Blatt auch koloriſtiſche Eigenſchaften zu geben. Man ſieht, 
die Auffaſſungsweiſe war eine ganz ähnliche wie bei dem Webercyklus. Wie dort 
war durch einen hiſtoriſch möglichen Moment an das wirkliche Geſchehen angeknüpft. 
Die Stimmung vom Anfang- und Schlußblatt jener Folge wäre hier in einem ver— 
einigt worden. Die einſame Trauer der Mutter neben der kleinen Leiche im Bett 
und das Bergen der Gefallenen in Reihen in der engen Weberſtube. Auch bei der 
Beſtattungsſeene hätte man noch die Quelle empfunden, aus der die Vorſtellung 
ſtammte, wie dort Hauptmanns Drama, fo bier eine geſchichtliche Nberlieferung. 

Bei det Arbeit aber wuchs die Teilnabme an dem gefdilderten Jammer fiber 
das Nachfühlen eines Heinen Einzelſchickſals hinaus. Der Gegenitand wurde ertweitert 
und dod) auch wieder beſchränkt. Es war nicht mehr das ungliidlice Weib, die mit 
dem einzigen Liebesbeſitz ihres armen Lebens jugleid) auch die betrogene Hoffnung 
ibrer Genoffen begräbt, fondern es bedeutete nun die Verkörperung de3 Mutterſchmerzes 
felbjt, deſſen Darjtellung jede Erinnerung an cine wirkliche Begebenbeit beeintradtigen 
und verfleinern mupte. Die Frau mufte gang allein fein mit der Leide. Reine Um— 
gebung irgend welder Art, fein Gerät wie Spaten und Laterne, vor allem aud) 
nidt cin farbiger Ton, der einen Anflug von deforativem Reiz in die Herbigkeit 
der künſtleriſchen Mittel gebracht hatte. Auch nicht mehr Mutter und Rind neben 
einander, fo dah der Blick abwedfelnd von cinem yum anderen ginge, fondern beide in 
cine einjige Gruppe verſchlungen. So entijtand die jweite Auffajjung: eine am 
Boden ſitzende Geftalt, dic das Kind leidbenfchaftlich mit den Armen umfdlingt. 
Es war aber nod) nicht das Leste Stadium. 

In der Zeit, als ibre Arbeit dieje Wendung genommen hatte, ſprach die 
Riinjtlerin  sfter mit tiefer Bewegung von der Pieta Michel Angelos, jener Gruppe 


Die neuen Radierungen von Kathe Kollwitz. 235 


von Maria mit dem Sohn, der durch feinen Tod gleichfam wieder zum Kinde — fiir 
feine Mutter jum Kinde — geworden ijt, Der männliche Körper mufte in den 
Maßen nun ein Bedeutendes ju Hein angenommen werden, um der figenden Frau fo 
im Schoße lieqen ju fonnen. Cine von den Kühnheiten, die das Genie fics öfter er- 
laubt, obne daß man es auf den erjten Blid auc nur bemerft. Wenn Kathe Kollwitz 
dieſes Werk als die erbabenfte und wohl als cine unerreichbare Löſung dieſer nie— 
erſchöpften Aufgabe bezeichnete, fo mag davon in ibrer Phantaſie infofern cine 
Spur juriidgeblieben fein, alS bet der endlichen Vollendung ibrer legten Arbeit eine 
Beurteilerin nicht ohne Feinbeit fagen fonnte, dah gewiſſermaßen ein Wettſtreit mit einer 
plaſtiſchen Auffaſſung in der Zeichnung bemerfbar fei. Bon einer Beeinflujjung der 
Empjindung fann aber gar feine Rede fein. Es (apt fich fein ſchärferer Gegenfag yu 
der gelaſſenen Hobeit von Michel Angelos Gruppe denfen wie die duferite Riidfichts- 
lofigteit der Leidenſchaft, welche die Zeichnerin haben wollte und ſchließlich erreidte. 
Wenn man an frithere Beifpiele der Runjtgefchichte dent, fo diirfte man eber als 
bei Micel Angelo bei Giovanni Pijano einen verwandten Sdunerjausdrud finden. 

Um dies letzte Mak von Ausdruck zu erreichen, entſchloß fich die Künſtlerin 
endlich, alles auszuſcheiden, was noc irgendwie an die Wirklichfeit erinnern könnte, 
und fie zeichnete nicht mur den Knaben, fondern auch die Mutter nad. . 

Ich glaube nicht, das viele dies Blatt fehen werden, ohne daß ihnen zuerſt ein 
heftiger Schreck durch die Glieder fährt. Ich felbjt dachte, als id) die erſte Skizze in 
Kathe Kollwitz's Arbeitsraum fab, einen Mugenblid: nein, das iſt unmöglich — und im 
zweiten: das bat die Furchtbarkeit des Lebens, dem man fic trop Sträubens fiigt. 
Das ift Raferei, wie fic die nod lebenden Glieder um die erjtarrten verfnoten zu 
einer Umarmung, an der jeder Nerv und jede Hautſtelle ibren Anteil haben wollen, 
da fie nur fo fiiblen, dah fiir jegt nod da ijt, was ibnen entriffen werden ſoll. Dasſelbe 
fagt der faft wütende Ruf, in dem fich ein verzerrtes Antlitz gegen den erfalteten 
Körper preft. Nichts ift von der Leiche zu feben als das ſchlaff herunterhängende 
zarte Gejicht und die langen Haare, die das Herabfallen nod ftarfer betonen. Neben 
diefem Aufhören jedes lebendigen Willens die unheimliche Energie, mit der Arme und 
Beine der verpweifelten Mutter an den Leib — wenn es nur anginge in ibn binein — 
prefien wollen, was Fleiſch und Blut von ibm felber ijt. Hier bat ein weiblicer 
Riinftler ausgedriidt, was cine männliche Phantajie mie gejdaut hatte, was der 
Mann vermutlid faum nachfiblen wird und was mur eine Frau, die Mutter ift, und 
Momente des Zitterns um ein Kind felber in ganzer Gewalt durclebte, vor ſich feben 
fonnte mit folder Leibhaftigkeit. 


« 
* 


Es ift nicht jum erſten Mal, dak Kathe Kollwitz Verticfung de3 Wusdruds durch 
eine duferfte Vereinfadung und durch Verbannung alles Beiwerks fucht. Im Weber: 
coflus waren nod) Situationen ju ſchildern, das Milieu mute erflart werden. Die 
Webeſtühle und allerlei diirftiger Hausrat werden, fo wenig fic) auch die Künſtlerin 
bei folchen Außerlichkeiten aufhalt, dem Lurus ded eifernen Parftors beim Fabrifanten 
gegenitbergeftellt. Auch beim „Tanz um die Guillotine’ ift die jteile Häuſerreihe mit 
ibrem Fenjter und Rahmenwerk Gegenitand einer eingehenden Beobadtung. Auch find 
die verfdiedenen Gruppen oder Cinjelfiquren, wenn auch dicht aneinandergeriidt, dod 
jede fiir fics charafterijiert und yur Geltung gebradt. Diefe Sonderung nimmt ab 
bei Dem zuerſt gearbeiteten Blatt des Bauernfrieges. Bm Zufammenhang der Folge 


236 Die neuen Radbierungen von Kathe Kollwitz. 


joll eS die Nummer 3 fiibren. Der vorwartsdringende Bug der Aufſtändiſchen ijt 
als ſchwarze Maſſe zuſammengeſchloſſen, man gewabrt hauptſächlich ein Wogen von 
Köpfen, aus dem fics ein paar Arme mit einem wilden Pathos dunfel in den bellen 
Himmel hineinftreden. Der einzelne verſchwindet zu Gunften des Ausdruds der 
Maffenempfindung. Aber felbft hier ift dem Detail der als Waffen getragenen Senfen 
und Drefdflegel viel Aufmerkſamkeit gewidmet, und fie find zu einer auferordentlicd 
wirffamen Unterftiigung der Aufwartsbewegung verwendet. Auch ijt durch die Burgen 
im Hintergrund fogar eine landſchaftliche Lofalandeutung gegeben, worin died Blatt 
gegeniiber allen übrigen einzig daftebt. 

Much diefe Situation, wie fie ihr Vorſpiel in dem Marſch der Weber hatte, 
fand ihre Vollendung in einer abermaligen Bebandlung, die im vorigen Jahr entftand. 

Da war aus dem ftarfen Schreiten ein ungeftiimes Vorwärtsſtürzen geworden. 
Keine Cingelbeit löſt fic Hier aus der gufammengeballten Maffe. Reine Waffe, fein 
Fabnentucd ijt ſichtbar. Vorgebeugte Köpfe, geftredte Leiber und vorgreifende Arme, 
alle haben nur cine einzige Richtung, und der maleriſche Ton, welcher die ganze Bild- 
fläche beherrſcht, (aft diefe Raſenden in eins verſchwimmen mit der Andeutung vom 
Terrain deS Hintergrundes. Wan weif nicht, wo der Zug aufhörte, wo die Crd- 
ſchollen beginnen, und wo fic) cin Ropf, cin Arm einzeln kräftig plaſtiſch heraushebt, 
da hängt er dod fo eng mit dem Haufen zuſammen, daß diefer wie cin enormes, 
vielgliedriges Ungetüm erſcheint. Cine ftarfe Vereinfadung des Sebens, unterſtützt 
durch cine maleriſche Auffaſſung von Licht und Schatten, wird bier yu einer villig 
ungeswungenen Symbolik, wie fie dem Realismus am angemeffeniten ijt. 

Die Künſtlerin bat ſich fonit anderer Mittel bedient, um dic Gefühlswelt ſichtbar 
ins Reich der Tatſachen hineinragen zu laſſen. Schon in ibrem erjten Werk langte 
die Knochenhand des Todes mitten in die mutige Nüchternheit ibrer Wirklichfeits- 
ſchilderung. Dann febrte dasfelbe Symbol in dem Gretchenbilde wieder. Es erſchien 
wie durch cine Augentäuſchung der Cinnenden, jtatt des eigenen Spiegelbildes im 
Wafer, wo es die umjfajjende Gebärde wiederbolte, mit der dies cinfame Weib des 
nod Ungeborenen denft. In dem Spiegel unter ſich jiebt fie aber das kleine Wejen 
vor fic), wie es der Tod in gute Hut nimmt. Auch neben die allerftarfjten 
Schilderungen des Erdenelends, zwiſchen die beiden Gruppen, denen nur die Wabl 
zwiſchen Dem Strid oder der Schande bleibt (die Sertretenen), ftellte dic Künſtlerin ein 
ſymboliſches Bild: Den Mann der Zufunft, der auf das Schwert gejtiigt, die Hand 
gum Schwur in die Seitenwunde des toten Heilands legt. Die ibrer eigenen Art am 
wenighten entſprechende Darjtelung der Kiinjtlerin. 

Und noch cinmal wurde der Verſuch gewagt, cin Phantafiebild körperhaft mitten 
unter Die Wefen der Wirklicdkeit au ftellen. Uber dem Sug der Emporten in der erjten 
Haffung des Bauernfrieges ſchwebt als Alleqorie des Aufruhrs ein mänadenhaftes Weib 
in der Luft, deren Fadel dic Burgen der Unterdriider entziindet. Wenn fie aud, 
durch einen blaſſen Aquatinta-Ton angedeutet, gegen die dunkle Energie der in feften 
Strichen tadierten Mäaännerſchar ſchemenhaft juriidtritt, fo iſt doch ibr Norper in Linie 
und Ausdrud jo kühn lebendig, daß fie die Entſtehung aus derjelben Phantaſie deutlich 
anjcigt, die ibrer ganzen Art nach in dem irdiſch Tatſächlichen allein völlig zu bauje ijt. 

Es ſcheint nicht, dah die Künſtlerin yu folchen Mitteln wieder zurückgreifen wird. 
Sie waren, wie ich qlaube, die legten Spuren von der Beeinflujjung, die Klingers 
mächtiger Stift bet den meijten Zeichnern feiner Zeit zurückgelaſſen bat. Blickt man auf 


Dig neuen Radterungen von Kathe Kollwitz. 237 


die ſpätere Faſſung der Aufſtändiſchen, ſo ijt aller Spuf verſchwunden. Die Ber: 
forperung der Aufreijung, der Anfeuerung, ijt allerdings wieder eine Frau, aber fie 
ſchreitet mun mit feſtem Sebritt der Bande voran, eben als die ſchwarze Anna, von 
der die Quellenfehriften jener Tage zu berichten haben, Und obgleich bier nichts Un- 
mögliches vorgebt, obgleich jede Figur und jeder Strich mit der ſtrengſten Wirflichfeits: 
treue vereinbar ijt, fo wirkt die ungeftiime Wut dieſes Vorwärtsſtürmens dämoniſcher 
alg die Allegorie der urjpriinglichen Gejtaltung. 

Dasfelbe gilt von der neuen Schilderung des Mutterſchmerzes, deren Kühnheit 
vielleicht manche nicht folgen und der fie darum cine andere Deutung geben werden, 
die aber in der Kraft ibres Ausdrucks jedenfalls zum Symbol defien wurde, was der 
Beichnerin als höchſter Grad der Verzweiflung gilt. 

Neben diefen Werken, dic alle des Lebens Not und den leidenſchaftlichen Kampf 
gegen fie gum Inhalt haben, geben einige Arbeiten ber, in denen eine Freude am 
Lichten und Lieblicber jum Wusdrud fommt. Die Seichmung nach einem wie im 
Schlafe dalicgenden Knaben, ein ganzes Blatt mit Skizzen nad dem gleichen zarten 
Mädchenköpfchen (es iſt dasfelbe, welched in feiner Anmut fo rührend aus der Ver: 
zweiflungsſcene der Sertretenen beraushlidt), ein Frauenaft in Riidenanjict, der fic 
als lithographiſche Seidmung von einem prächtig grünen Hintergrund abbebt, das alles 
find Seugen von einem unbeswingliden Berlangen, das die Künſtlerin nach einer 
belleren Welt siebt. Abr mitfühlendes Herz muß fir jeden Schmerz einen Ausdruck 
finden, aber inter dicfem Leid ſteht der ſehnſüchtige Wunſch nach Schönheit und Glück. 
Wer weiß, ob wir nicht in naber Seit durch diefelbe Hand auch Glück und Stolz der Mutter 
verkörpern feben. 

Machdem id) jolange davon gejproden habe, wie fic died künſtleriſche Ceelen- 
leben in dem Geftalten und Gefcbeben der cingelnen Werke abſchildert, wende ich mid 
nin ohne Mufenthalt zur Betrachtung der Ausdrucksmittel, die vielleicht mehr wie alles 
andere die Veranlaſſung wurden zu der imponterenden Anordnung, welche man den 
Werfen diefer Frau in der graphiſchen Ausſtellung der Berliner Seseffion foeben 
gegeben bat. Es ift fo viel davon die Rede, daß man es den Frauen ſchwer mace, 
ibre Leijtungen nad Verdienjt yur Geltung yu bringen, dah es nur billig ijt, geqebenen 
Falls freudig feftyuftellen, wenn ein weibliches Talent von mannliden Rollegen 
vorurteilslos und neidlos an den Platz geftellt wird, der ibm gebührt. Und das 
iit bier durch) dic Kommiſſion dieſer Riinjtlervereinigung in vollem Maße geſchehen. 
Vielleicht it diefer Crt und diefer Sirfel gegenwärtig in Deutſchland der einzige Plas, 
wo jo etwas geſchieht. Ich vermute nad dem, was mir vom Auslande belannt ijt, 
daß ein Derartiqes Vorgeben auch dort nirgends feinesaleichen finden wiirde. Wan 
giebt ciner Frau in einer Veranſtaltung, fiir die man im Aufnehmen ſehr wähleriſch 
war, cine Hauptwand und dant, wie ich ſchäße, mehr Mauerfläche als irgend einem 
Künſtler des Inlandes. Damit iit eine weife Einſicht in den wabren Vorteil der Ge: 
jamtbeit bewiefen, die nur gewinnen fann, wenn eine folche Nraft ausgiebig vertreten 
ift. Das muß recht nachdrücklich betont und anerfannt werden. 

Worin beftehen min eigentlich diefe Ausdcudsmittel, die fo imponieren? Bon 
Jahr yu Jahr bat die Sicherheit von Gand und CStift zugenommen. Die grofen, 
freien Bilge mit der Roble auf farbigem Papier, dem Lieblingsmaterial, werden 
beredter, indem ſie zugleich vereingelter, fparjamer daſtehen. Dieſe raftlos wiederbolten 
Studien zu irgend einer Bewegung, die von der Kompoſition gefordert wird, fesen 


238 Bum gegenwartigen Stand ber Coeducation in ben Bereinigten Staaten, 


einen ausgefprochenen Proteft jenem geldufigen Impreſſionismus entgegen, der fo oft 
das charafterijde Wefen der Dinge vernachläſſigt. Es ijt bier nicht der Ort, die Be- 
rechtigung und die Verdienfte de3 Impreſſionismus nachzuweiſen, die ihm obne Zweifel 
zugeſprochen werden müſſen. Darum ijt er aber keineswegs bejtimmt, jener hingeben- 
den Vertiefung ein fiir allemal ein Ende yu madsen, die Den befonderen Rubm grade 
dev deutſchen Zeichner von jeber darjtellte. Nach diefer Richtung neigt das Streben 
von Kathe Kollwitz, wie denn Klarheit und Cindringlidfeit Grundeigenfdaften ihrer 
künſtleriſchen Perjinlichfeit find. Diefelben Eigenſchaften fucht fie auc) mit den wider: 
jtrebenden Werkzeugen auf Kupfertafel und Steinplatte durchzuſetzen wie mit den filg: 
ſamen Mittelu von Kohle und Federzeichuung. Der Sinn fiir das Maleriſche, der 
dem Element der Empfindung am intimſten entſpricht, zog fie neuerdings zu jener 
Technif, die fic eines weichen Atzgrundes bedient, um breite Tonmaſſen auf da3 Papier 
zu bringen und der Abjtufung von Licht und Schatten die reichſten Möglichkeiten zu 
qewabren, In dem Umfange, wie wir fie bier angewendet feben, werden fie nods 
nicht haufig gebraucht. Die Radierung erbalt fo etwas von der Weichbeit der Schab— 
funjt, obne doch fo ftarf in die Dunfelbeit geben gu müſſen. Aber auch innerbalb 
diefer malerifcen Tine — wir haben ſchon gejeben, wie fie künſtleriſch verwertet 
werden — bleibt die Rlarbeit in dev Ergriindung und Durchführung de3 Weſentlichen 
jeder Form das unverriidbare Siel dieſer Arbeiten. Wie fie der Empfindung die 
Nberjeugungsfabigkeit gibt, jo erfreut fie das Auge durd den Anblid von ſicher 
geſchauten Weltbildern mehr als durd da8, was landläufig „Schönheit“ genannt wird. 


Off 


Sum gegenwartigen Sfand der Cocducafion in den 
Vereinigten Staaten. 


Martha Striny. 






Raddrud verboten. 


Ach evinnere mich aus meiner Rindbeit einer Seit, wo man morgens mit feinem 
a* Bruder und deſſen Freund eintrachtiglich in dieſelbe Schule ging. Das war 
Sauf dem Lande, aber aud) als wir bald darauf in cine große Stadt zogen, 
wurde das nicht anders. Links ſaßen die Jungen und rechts die Mädchen, und ein 
Lehrer unterrichtete die hoffnungsvolle Schar. Die Jungen lernten meiſt ſchlechter und 
kriegten mehr Haue; bei den Madchen aber war Sdiwagbaftigfeit das Hauptlaſter, 
wegen defjen es zuweilen cine Abjchrift oder eins auf die Hand gab. Auf dem Spiel: 
bofe lief man die Yungens fiir fich fpielen und vergniigte fic mit den Geſchlechts— 
qenoffinnen, und nur wenn der Lebrer cinmal eine Partie ,, Wilder Mann” oder cine 
winterliche Rutſchpartie auf glatten Abhängen orgqanifierte, rannte man mit den Knaben 
unt die Wette oder torfelte am Ende des Rutiches fameradfchaftlichjt übereinander. 
Suveilen gewann man einen Freund unter den Jungens, der einen vor den gefürchteten 
pwilden” unter feinen Stammesbrüdern befchiigte und einem bet den Rechenaufgaben 
half. Dak eine folche Freundfebaft unter Umſtänden tiefere Abſichten barg und der 
Gedanke eines ſpäteren ebelichen Sufammenlebens als Mann und Frau nicht immer 
ganz ausgefdieden wurde, will ich nicht verbeblen, ich habe dafiir fogar einen objeftiven 
Beweis in cinem Ausjprud) meiner jiingeren Schwejter. Als fie ihre Schullanfbabn 


Sum gegenwartigen Stand der Coeducation in den Vereinigten Staaten. 239 


mit Dem Stagigen Befuch der unteriten Volksſchulklaſſe glorreich erdffnet hatte, über— 
raſchte ſie eines Tages beim Nachbaujefommen meine Mutter mit der Erklärung: 
„Mama, ich bab’ es mir fiberlegt; alle die fommen, weiſe ich ab, ich nebme nur den 
Erich.“ Solch fefte Bande hatte ein achttägiger Schulbefuch bereits zwiſchen ibr und 
befagtem Erich getniipft. 

Dann fam der Freund aufs Gymnaſium und man jelbit auf die ,, bdbere 
Töchterſchule“. Nun gab ed zwei geteilte Welten, die Jungens- und die Mädchenſchule. 
Die Jungensſchule war natürlich bei weitem die interejfantefte. Was gab es da fiir 
originelle Perfintichfeiten unter den Lehrern, deren Cigenbeiten von den Briidern 
unzablige Male dargeftellt, ftets denfelben grofen Heiterfeitserfolg batten. Su welden 
Kühnheiten veritieg man fic da nicht in den Pauſen vor den Stunden! Dagegen 
fonnten unfere Erzählungen gar nicdt auffommen. Was fiir berrliche Bücher brachten 
die Brüder erſt aus ibrer Schule mit! Bon der Ciszeit und vom Höhlenbären, und 
Romane von Dabn, Chers und Freytag; das alles durfte man mitlefen, wogegen der 
Bruder höchſt felten in die unjeren, von denen ic gar feine Erinnerung babe, einen 
Bie yu tun gerubte. Mit ſcheuer Ehrfurcht ſah man, wie fie fic in Latein, Griechiſch 
und Mathematif vertieften, wovon man ,nichts verſtand“; auch Gefchichte fonnten fte 
ſehr viel befjer; nur im Franjdjifcben war man ihnen iiber und befam zuweilen aud 
den ebrenden Auftrag, den deutſchen Aufſatz in bezug auf Stil und Febler nachzufeben. 
Kamen dann die Zeugniſſe, ſo hatte man meiſt das beſſere, das aber nicht recht zur 
Geltung kam; es wurde einem bedeutet, daß bei den Jungens „gut“ ſchon das Aller: 
höchſte und etwas rieſig Rerdien(tvolles ſeiß „ſehr gut” gabe es bei ibnen gar nicht. 
Damit war das ſchöne Zeugnis entwertet, und man flüchtete fic sur Mutter; ibe 
licher Blick gab einem die Verjicherung, dak fie fich über das Töchterſchulzeu nis eben 
jo ſehr freute wie über das Gymmafialzeugnis, aber auch ihr war eine gewiſſe höhere 
Ehrfurcht vor dem lesteren ſchließlich aot anjumerfen, die man denn aud am Ende 
bei ſich felbft im tiefiten Buſen gerechtfertigt fand. 

Hatte man alſo dieſes Knabenleben noch teilen können, wenn man in dem 
günſtigen Falle war, einen Bruder zu beſitzen, ſo hatte man nach dieſer Zeit, wenn 
der Bruder von ſeinen Berufsſtudien hingenommen wurde, keinen Teil mehr an ſeinem 
Geiſtesleben. Der junge Mann wurde eine terra incognita, und man hatte das 
dunkle Gefühl, daß er, wenn man ihm in der Geſellſchaft begegnete, nicht ſein eigent— 
liches Weſen zur Schau trage. Man ahnte eine ganze Welt voll eigenartiger Intereſſen 
und Erlebniſſe, von der den Frauen nur einzelnes mitgeteilt wurde; teils waren dieſe, 
wie die jungen Leute in Momenten ſchonungsloſer Wahrheitsliebe verſicherten, ,,;u gut“ 
dazu, und dann „fehlte ibnen das Verjtindnis”. 

Die ſchädlichen Folgen diefes Trennungsſyſtems find uns heute bereits unmittelbar 
jum Bewuftfein gefommen. Es bat zwei einander fremde Welten geſchaffen: die Welt 
des Mannes, in der die Frau als ftdrendes Element empfunden wird, verfucht fie fie 
je zu betreten, und die Welt der Frau, in deren Enge fic der Mann nicht einmal 
mebr verfegen fann, 

So jebr ung diefe Entfremdung der Geſchlechter als ein Nbel fühlbar geworden 
ijt, jo ijt es uns doch nod nicht fo allgemein yum Bewußtſein getommen, dah ibre 
Wurzel in einem verkehrten Erziehungsprinzip zu ſuchen iſt. Noch immer hören 
wir auf dem Gebiet der Erziehung die Loſung einer einſeitigen Geſchlechtskultur: 
hie Verſtand, hie Gefühl; und fowohl das Knabengymnaſium als auc die „höhere 

Töchterſchule“ ſind in ihrer Einſeitigkeit die Produkte dieſes Strebens. Man bat, 
mit Helene Lange zu reden, ') Die von der Natur gegebene und daher auch ſchwerlid⸗ 
je verlierbare Verſchiedenheit weit über die Grenzen des von der Natur Gewollten 
hinaus geſteigert. „Iſt etwa,“ heißt es da, „der bei uns heute vielfach herrſchende 
Zuſtand ein naturgewollter, daß Mann und Frau zwei verſchiedene Sprachen reden, 
daß ihn nur noch Tatſachen, ſie nur noch Perſonen und die damit zuſammenhängenden 
Gefühlskreiſe intereſſieren? Sollte nicht vielmehr,“ ſo fahrt die Verfaſſerin fort, „eine 


9) |, Grundfragen der Mädchenſchulreform“ in der ,, Frau”, April 1903, S. 389, 


240 Bum gegenwärtigen Stand der Coeducation in den Vereinigten Staaten. 


verniinftige Schulbildung alles tun, um die ſchon durch fo mance andere Cinrichtung 
unſeres geſellſchaftlichen Lebens gefirderte Ovpertrophie des Gefiibls bet den Frauen 
zurückzubilden zur natiirlichen und zweckmäßigen Stärke?“ 

Dieſe Frage verſetzt uns mitten hinein in den großen Kreis der Erziehungs— 
probleme, deren Löſung das 19. Jahrhundert dem 20. als nächſte Aufgabe hinter— 
laſſen und die dieſes auf allen Seiten mit dem Gefühl vollſter Verantwortlichkeit 
ergriffen hat. Wir arbeiten an einer Reform der Mädchenbildung; zunächſt am 
Ausbau der höheren Mädchenſchule. Wir haben jüngſt die erſten ſtädtiſchen Mädchen— 
gymnaſien ins Leben treten ſehen. Im allgemeinen wagen wir der Frau ihr Anrecht 
auf Teilnahme am höchſten Bildungsſchatz der Nation nicht mehr abzuſtreiten. Im 
Verlauf einer naturnotwendigen Entwicklung haben wir uns fogar genötigt geſehen, 
wir wußten ſelbſt nicht wie es kam, noch eine alte ſcheinbar von der Sittlichkeit 
gebotene Grenze zwiſchen den Geſchlechtern einzureißen: in allen unſeren Univerſitäten 
ſitzen die lernbegierigen Frauen mitten unter den Studenten. 

Dieſer Neuerung hat ſich vor allem die ältere Generation der in den Lehrſtühlen 
Sitzenden und der Regierenden noch nicht gefügt. Einer der älteſten und beſten Meiſter 
der Berliner Univerſität mit einem feinen und ritterlichen und durch hiſtoriſche Studien 
geweiteten Sinn für die Frau und ibre Geifteshildung, unterzog fic) der Mühe eines 
befonderen Übungskurſes fiir die Frauen, weil es fein Gefiibl verlegte, ſie unter den 
Studenten yu jeben. Die Ammatrifulation wird den Frauen verjagt, weil man in 
Diefer Hinficht auf die Lehrenden feinen Drud ausüben will. Hingegen die jiingere 
Generation denft anders. Die jiingeren Dojenten kommen den Frauen am meijten 
entgegen und treffen obne weiteres den natiirlichen Ton gegen fie, den viele jo ſchwer 
finden. Am Schreckgeſpenſt der Frauenuniverfitdt ſcheinen wir glücklich vorbeiqefommen 
ju fein. Damit ijt die Cocducation, die gemeinfame Erziehung der Geſchlechter, der 
wit pringipiell nod feindlich gegentiberfteben, auf der höchſten Stufe des Unterrichts— 
wejens obne weiteres etabliert. Und da wir auf dem Lande und. in Fleineren Stadten,. 
iiberall da, wo praftifche Griinde mitiprecden, auch nod) Knaben und Madchen in eine 
qemeinfame Volksſchule fcbiden, fo wird auch bier nod) vielfach dag zu Beginn diefes 
Aufſatzes gezeichnete Idyll de3 Zuſammenlebens fich wiederholen. 

Aber im Prinzip ſind wir gegen Coeducation. Wir dulden ſie eben da, wo 
wir kein Geld zu ſeparaten Schulen haben, aber wo wir über die nötigen Mittel ver— 
fügen, da verwirklichen wir ſchleunigſt das erſtrebenswerte Ideal einer beſonderen 
Mädchenſchule. Auf dem Gebiet des höheren Unterrichts kennen wir nur, wie vorhin 
ausgeführt, ſtrengſte Trennung der Geſchlechter. Wir können eine Töchterſchule 
unmöglich errichten in einer Straße, wo ein Knabengymnaſium iſt, und begegnen ſich 
dieſe beiden einmal auf einem Ausfluge auf verſchiedenen Waldwegen in der Richtung 
auf dasſelbe Ziel, wie ic) mich eines ſolchen Falls noch aus meiner Schulzeit ſehr 
lebhaft erinnere, ſo räumt nach längerem Kriegsrat in gehöriger Entfernung eine der 
beiden Parteien, vermutlich die ſchwächere, das Feld, und überläßt dem Gegner das 
Wirtshaus ſamt Bier und Butterbrot, um die gefährdete Moral zu retten. 

Da wir nun aber, wie die Errichtung der Mädchengymnaſien beweiſt, das Vor— 
urteil überwunden haben, als ſeien für den Aufbau der weiblichen Pſyche aus dem 
allgemeinen Wiſſensſtoff beſondere und vorſichtig verdünnte Präparate nötig, da wir dadurch 
die Wiederannäherung der Geſchlechter auf der Baſis gemeinſamen Geiſteslebens wieder 
begonnen haben, ſollten wir ſie nicht auch in derſelben Schule zuſammenbringen und 
ſomit auch in den Entwicklungsjahren Coeducation an die Stelle der getrennten Er— 
ziehung treten laſſen? Hat dieſe Einrichtung neben der Vereinfachung der Frage der 
Mädchenbildung nicht auch einen Vorteil in der Einwirkung der Geſchlechter aufeinander? 
Für zwei deutſche Staaten ijt die Löſung der Frage bereits praktiſch verſucht: in 
Baden beſuchen die Madchen in ciner Reibe von Stadten dic Gymnaſien und Ober: 
realjdulen der Rnaben. Wiirttemberg ijt in vereingelten Fallen diefem Beifpiel 
gefolgt.!) 





') Tabelle VIL im Handbuch der Frauenbewegung, III. Teil, S. 128 Ff. 


Sum gegenwärtigen Stand ber Cocbucation in ben Bereinigten Staaten. 241 


Es iit fiir uns Deutſche lehrreich, yur Betrachtung diejer Frage cinen Blid auf 
die, neuere Entwicklung der Coeducation in den Vereinigten Staaten zu werfen, die in 
dieſer Beziehung das reichſte Beobachtungsmaterial bieten, da ſie dort ſeit mehr als 
50 Jabren zu den ſtehenden Einrichtungen im Schulleben gehört, obwohl ſie noch 
nicht ganz widerſpruchslos herrſcht. Die Möglichkeit einer genauen Einſicht in dieſes Gebiet 
gewährt der letzte offizielle Bericht über das Erziehungsweſen der Union, der 1902 
erſchienen iſt.!) 

Im allgemeinen iſt in der Union die gemeinſame Erziehung das charakteriſtiſche 
Kennzeichen der öffentlichen Schulen, doch iſt ſie auch in den Privatſchulen in 
bemerkenswertem Grade vertreten. Sie beherrſcht das ganze Elementarſchulweſen 
(elementary and secondary schools)); natürlich gibt es ab und zu cine getrennte 
Schule, die zufälliger Umſtände, befcbranfter Räumlichkeit u. ſ. w. wegen diefen 
Charatter erhalten bat oder cin Oberbleibfel ijt aus der Beit, wo die eriten 
Schritte im öffentlichen Schulweſen vorſichtig mit dem Rnabenunterridt gemadt 
yourden. 

In bezug auf die höheren Schulen aber ijt das Prinzip nicht fo unangefochten, 
obwohl es auch bier, dem praftifcben Sinn des Amerikaners entſprechend, bedeutend 
iiberwiegt. Eine tabellariſch verwertete Umfrage durch alle 45 Staaten dev Union 
erqab im Jahre 1902, dak in 28 diejer Staaten nur gemeinfame Schulen vorbanden 
jind, doch baben auch die übrigen mehr gemeinſame Schulen als getrennte, fo 
daß von 628 Städten 587 durchaus coeducational find, alſo ca. 93 Prozent. Ber: 
glichen mit der vor 10 Jahren veröffentlichten Statijtif find ſeitdem drei der dort 
mit getrennten Schulen verzeichneten Städte zur Coeducation uͤbergegangen; ein Rück— 
gang von Coeducation zur Trennung der Gefdblediter ijt in keinem einzigen Fall ju 
verzeichnen.) Die Amerifanerin wird aljo praftije in der Zeit des heranwachſenden 
Alters, wo bei uns die ſtrengſte Trennung herrſcht, bis zum Ubergang auf die 
Univerjitat oder eine Berufsſchule mit dem Knaben nicht nur in gleicher Weife, 
fondern aud) gemeinfam unterrichtet. 

Auf dem Gebiet des Univerfitatsunterridts (wobei man im Auge balten 
mup, daß dic amerikaniſche Univerfitit wie die engliſche das legte Schuljahr eines 
deutſchen Gymnaſiums einſchließt) beftebt hiſtoriſcher Entwicklung zufolge aud nod 
getrennter neben gemeinſamem Unterricht. Da der erſte Andrang der amerikaniſchen 
Frauen zu Den Univerſitätsſtudien in cine Zeit fiel, wo gegen Coeducation beſonders 
in den älteren Oſtſtaaten noch ein ſtarkes Vorurteil herrſchte, ſo entſtanden beſondere 
Frauenhochſchulen und ſogenannte Annere zu den beſten älteren Landesuniverſitäten, 
während die neneren Staatsuniverſitäten des Weſtens ausnahmslos von ihrer Gründung 
an für beide Geſchlechter beſtimmt ſind. Doch da die Tendenz zur Coeducation ent— 
ſprechend dem demokratiſchen Geiſt der Nation ſchließlich auch cine Menge der alteren 
Univerjititen ibre Bforten den Frauen zu öffnen sang, fo tiberwog jebr bald auch 
bier Die Sabl der Leiden Geſchlechter qemeinjamen Bildungsanſtalten. Indeſſen 
erfreuen ſich auch die meiſt durch großartige Schenkungen prächtig ausgeſtatteten 
Frauenhochſchulen, die durchſchnittlich zugleich Internate ſind, ſo großer Beliebtheit, 
daß ihre Zahl auf 145 geſtiegen iſt neben 344 gemeinſamen Univerſitaten doch 
ſtehen von dieſen 145 nur 13 auf derſelben Höhe wie die größeren Landes— 
univerſitäten. 


) Report of the Commissioner of Education for the Year 19000 1901. Washington 1902. 

2) Siebe Handbuch ber Frauenbewegung, Teil UL, wo es S. 446 in dem Bericht der Amerifancrin 
Dr phil. Jane Sherjer über die Fraucnbilbung in den Verciniqten Staaten heißt: „Die Erziehung beider 
Geſchlechter tit fo untrennbar mitcinander verfniipyt, daß wir unmöglich — namentlich bei der Elementar— 
ſchule — vom Madchenunterricht als von etivad yom Knabenunterricht Abweidenden fprechen lönnen.“ Und 
Anmerfung vdajelbft: „NAnaben und Mädchen find nicht nur in demfelben Naum zuſammen, es fisen 
aud nicht bie Knaben auf der einen und dic Mädchen auf der anderen Seite, fonderm fie ſitzen bunt 
durcheinander, wie es der Lehrer beſtimmt, der oft findet, Daf die Knaben fic beffer betragen, wenn 
fie neben cinem kleinen Madden fiten. Nur auf dem Spiclplag find fic voneinander getrennt, da dic 
Spiele ber Knaben oft fiir die Mäbchen zu ungeftiim find,“ 

4) Sergi. auch Handbuch der Frauenbewegung a. a. O. S. 441. 

1h 





242 Bum gegenwirtigen Stand ber Cochucation in den Bereinigten Staaten. 


Auch bier nun verscichnet der neueſte Bericht die bemerfenswerte Tatſache eines 
qriperen Fortſchritts der Cocducation: 


1880 waren coeducational 2 2. 2. . . 51,3 Prozent 
1890, , — — 65,5 , 
1900 find 7 it C= oy, pegs 3s: * 


Ob dieſe ſtarke Ausbreitung der Coeducation ſich mehr aus praktiſchen Bedürfniſſen 
herleitet oder ob fie einem Prinzip entſpricht, das lehrt cine Durchſicht der zahlreichen 
Meinungsäußerungen von Lehrern, Profeſſoren, Schulinſpektoren und Schulräten, 
Geiſtlichen und Arzten und hervorragenden Männern und Frauen des Landes, die auf 
die Umfragen verſchiedener Schulverwaltungen eingelaufen und dent offiziellen Bericht 
beigefiigt find. Diefe ftellen vor allem dem Gerechtigfeitsfinn des WAmerifaners ein 
ſchönes Zeugnis aus, da auch dev entichicdenjte Geqner der Cocducation nicht daran 
denft, der Frau das Recht auf höhere Bildung itberbaupt zu veriveigern. Es wird 
iiberall ausdrücklich betont, daß dic Frauen ebenfo wie dic Manner Anfpruch auf die 
bejte Bildung baben und der Staat ihnen diefelbe in keinem Falle verweigern dürfe. 
In den meiſten Fallen ergab ſich dabei Coeducation als das Natürliche, abgejeben 
davon, dah nicht jede Stadt in der Lage war, gleich zwei höhere Schulen einjurichten. 
Dicjer Standpunft des Natiirlichen wird auch viel betont. Das Familienleben fegt 
die Geſchlechter in die innigite Berührung, das Leben beſtimmt fie fiireinander, wozu 
dieſen Zuſammenhang durch eine feindliche Trenmung unterbreden? Daneben werden, 
hauptſächlich durch die Argumente der Gegner angeregt, auch pojitive Vorteile dieſes 
Syſtems ſehr ſtark ins Feld geführt. Faſt einſtimmig wird betont, daß die Lernluſt 
zunehme und die gemiſchten Klaſſen einen höheren Durchſchnitt der Leiſtungen erzielten. 
Dieſes Zeugnis ſtellt u. a. auch Präſident Adams, der Rektor der Cornell Univerſity, den 
Frauen aus, Die Haltung ſolcher gemiſchten Klaſſen wird gerühmt und der gute Einfluß, 
den die Geſchlechter aufeinander ausüben, wie insbeſondere die Gegenwart der Mädchen 
dazu beiträgt, die Knaben gefügiger und eifriger zu machen und ihnen zeitig eine 
geſunde Zurückhaltung auferlegt. Daher denn auch einige meinen, daß der ganze oder 
größere Vorteil des gemiſchten Syſtems auf ſeiten der Knaben ſei. Andere aber 
rühmen auch, daß ſich wie bei den Jungen „less rowdyism“ und „more earnestness“, 
jo bei den Mädchen „less unladylike conduet' und „fewer escapades zeigen, 
als wenn fie unter ſich find. Die Serualitdt wird nad vielen Zeugniſſen durch die 
Gewohnheit gemeinfamer Arbeit und genauere Kenntnis von einander in den Hinter- 
qrund gedringt, und mit welder freien Natürlichkeit und ſchönen Kameradſchaftlichkeit 
der amerifanifebe junge Mann init dem gleichaltrigen Mädchen yu verfebren weiß, fann 
man ja im Verkehr mit Amerifanern immer wieder als nicht abjuleugnende Frucht 
Diefer freieren Erziehung wabrnehmen. Im allgemeinen wird die Frage als feiner 
Diskuſſion mehr bedürftig betrachtet, und vielfach kommen aus dem Westen Antworten, 
die Die Frage, ob getrennte Erziehung oder Coeducation vorzuziehen fei, abſurd finden. 
Cine Antwort aus Milwaukee fagt 3. B. 8. Juni 1890: „Ihre Frage kommt uns 
Yeuten in Wisconfin ungefabr fo vor, wie wenn man fragen wollte, ob Frauen und 
Manner und Knaben und Madchen in der Kirche in denjelben Banfen ſitzen ditrfen. 
Die Coeducation ijt bei uns fo durchweg und fo lang im Gebrauch, dah wir 
Mithe haben, uns die Folgen ciner Rückkehr zu dem alten Flojterlichen Syſtem 
vorzuſtellen.“ 

Indeſſen ſind unter den Befragten auch einige, zwar ſehr in der Minderzahl, 
die ſich als Gegner der Coeducation bekennen, wie ja auch einige der größten Städte, 
u. a. New York und Boſton, in der Praxis eine vorſichtige Zurückhaltung bewabrt 
haben. In New NYork ijt das Verhältnis der Geſamtzahl der High Schools yu denen 
mit Eoeducation wie 12:7, in Brooflyn wie 6:3, in Bofton wie 12:7. Fir 
Rew York mit feiner ftarf gemiſchten Bevslferung, die noc ſtetig durch die Einwanderung 
an fremden Clementen nicht immer der beſten Art zunimmt, ift der Grund foleber 
Trennung obne weiteres Flar und wirkt in den bevölkerten Teilen der City fogar 
auf die Elementarſchulen. Anders Boſton. Ter dortige Suftand fallt um fo mebr 


Rum geaenwartigen Stand der Cocducation tn den Rereinigten Staaten. 243 


ind Gewicht, als die alte Sentrale der Neu-Englandſtaaten die älteſte geiſtige Rultur 
beſitzt und ſtolz ift auf iby blühendes Erziehungsweſen. 
Boſton hatte 1902 


3 high schools fiir Rnaben 
2» Fe „Maädchen 
7 „beide Geſchlechter. 


Yon den grammar schools, die das 5. und 6. Schuljahr unſerer Volksſchule 
umfajjen, waren 
12 ausſchließlich für Rnaben 
12 S „Mädchen 
34 für beide Geſchlechter gemeinſam. 

Alle Schulen der Vorſtädte Boſtons ſind wiederum coeducational. 

Dieſe Klaſſifizierung gewann eine beſondere Bedeutung, da ſie vom Vorſitzenden des 
United States Bureau of Education 1885 im Circular of Information als nach— 
abmenswert empfoblen wurde. Hier heift es): „Dieſes Syſtem (6 gemiſchte Schulen 
niederer Ordnung und 4 qetrennte Schulen höherer Ordnung, eine mit alten Sprachen 
und cine obne ſolche fiir jedes Der Geſchlechter) fann als der Normaltypus des 
höheren Schulweſens bexeichnet werden. Es ſtimmt fiberein mit der Cinvidtung 
des Sekundärunterrichts in den Landern, die im Erziehungsweſen am weiteſten vor: 
qejcbritten find, wo die Geſchlechter getrennte Schulen beſuchen und befondere Knaben— 
ſchulen mit und obne alte Sprachen befteben, deren reprajentative Typen das deutſche 
Gymnaſium und die Realfdule find. Sparſamkeitsrückſichten werden in fleinen 
Städten diefe Spesialtfierung verbindern. An den größeren Städten aber ijt der 
Fortſchritt nach diefer Richtung ſchon bedeutend, und die Gefdrichte de3 Unterricht— 
weſens berechtigt zu Der Vorausſage, daß jie fich in Dem Mae ausbreiten wird, als 
alle Einwohner veriteben fernen, was das Bejte iit fiir die Erziehung ibrer Kinder.” 

1890) mut wurde von der Boſtoner Schulbebbrde ein befonderes Komitee be- 
aujtragt, im Hinblid anf bevorftehende Neugründungen von Schulen die Frage der 
Coeducation zu unterjuchen. 

Das Komitee aber war in der Majorität fiir Coeducation. Es erflirte, wie 
der jebige Zuſtand geworbden fei, den es als -fundamentalen Mißgriff bezeichnete und 
ſtützte die gemeinfame Erziehung mit einer Menge ethiſcher Gründe. Die von ibm 
veranjtaltete Umfrage unter Sachkundigen batte 565 Verteidiger der Cocducation gegen 
291 Geqner ergeben. Bon 254 Lebrern, die fic als Geqner yeigten (gegen 422 
waren charakteriſtiſcherweiſe 122 nur an Mädchenſchulen, 109 nur an Knabenſchulen 
und nur die übrigen 23 in gemiſchten Schulen tatig. 

Sov ſcheint auch hier cine weitere Befeftiqung des Prinzips der getrennten Schule 
jo gut wie ausgeſchloſſen. 

Die Griinde, die vow den Gegnern der Coeducation ing Feld gefiibrt werden, 
jind siemlich diefelben, wie man fie bei uns in den Erörterungen über dieje Frage 
gehört bat. Die Beobachtungen, die andere in bezug auf die gute Haltung der ge: 
mifebten Klaſſen gemacht haben wollen, werden von einzelnen bejtritten. Sie finden 
die Disziplin in der gemiſchten Schule ſchwerer, wobei ibnen denn jtets entgegnet 
wird, daß das Syſtem allerdings nur tüchtige Lehrer vorausſetze und in diejer Be: 
ziehung ein gutes Kriterium für den Lehrer bilde. Ferner fürchten die Gegner, daß 
die Leiſtungen der Knabenſchulen durch die Mädchen beeinträchtigt werden, inſofern 
von dieſen körperlicher Veranlagung halber nicht dieſelbe Regelmäßigkeit des Schul— 
beſuchs erwartet werden könne wie von den Knaben. Aber darauf wird entgegnet, 
daß erſtlich die Natur nicht von jedem Mädchen cine gleiche Schönung verlange und 
durchſchnittlich auch die Knabenſchulen nicht regelmäßiger beſucht ſeien; ein Unterſchied 
fei hier nirgends aufgefallen, und gelegentliche Lücken würden durch die ſchnellere Auf— 
faſſung der Madden leicht ergänzt. Die geringere phyſiſche Leiftungsfabigkeit der 

) Report S. 1251. 

16* 


244 Bum gegenwartigen Stand der Coeducation in den Vercinigten Staaten, 


Frau wird überhaupt oft angefiihrt, und es feblt nicht an einjelnen Ctimmen, die in 
einer geiſtigen Ausbildung der Mädchen, die der der Rnaben gleichkommt, eine Gefabr 
fiir die Fortpflanjung der Nation erblicen. Sebr richtig bemerft dazu Dr. ©. E. White, 
cin Mitglied der oberen Sehulbehirden, im ,,National Teacher” Juni 1872:") «Bo 
ijt dieſe durchſchnittliche phyſiſche Grenye der geiſtigen Leiſtungsfähigkeit der Frau? 
So weit unjere niederen, biberen und höchſten Schulen in Betracht fommen, bat fic 
diefe Grenze bis jest nods nicht ziehen laſſen. Auf dieſen Gebieten arbeitet ſie mit 
derſelben Leichtigkeit wie ihr Bruder, und ebenſo gut, wenn auc) nicht genau in der 
qleichen Art.“ Und Thomas Wentworth DHigginf on, einer der befannteften 
Schriftſteller der amerikaniſchen Nation und von Anfang an ein warmer Freund der 
Frauenſache, macht mit Recht einen ſolchen Gegner aufmerkſam auf die guten Folgen, 
die die Erziehung zu reqelinafiger Urbeit auf den Organismus der Frau ausiibe. 
Verjchiedene fiir das Frauenftudium interefjierte Bereine haben Umfragen iiber den 
Geſundheitszuſtand der Madden in den Colleges angeftellt, und ibn, wo es miglich 
war, vergleichen laſſen mit dem unbeſchäftigter Schweſtern, wie man es auch in England 
qetan bat, und das Ergebnis war durchaus befriedigend.2) Der Hinweis auf die 
jchadlicien. Folgen geijtiger Nberanjtrengung bat natürlich unter den Arzten viele 
Anhänger; eS finden fich aber auch Gutadhten von ärztlicher Hand, die den geradesu 
wobltitigen Einfluß geregelter geiftiger Arbeit gebührend betonen. 

Gin wichtiges Gegenarqument aber ift natiirlich wie bei uns die gefährdete 
Moral, wobei denn aud) begreiflicherweiſe die perſönlichen Erfahrungen (auf die 
‘ibrigens nur cine Minderzahl ſich ſiützt) den ſtärkſten Gegenfas zueinander bilden. 
Einer der Begutadtenden war felbjt ,coeducated” und ijt völlig überzeugt, dak der 
freie Verkebr der Gefchlechter fiir beide Gefabren birgt. Die Anhanger find genau 
yom Gegenteil überzeugt. Go fagt Dr. W. T. Harris in einem Bericht über die 
Sehulen von St. Louis:4) „Ich babe gefunden, dah in den gemifditen Schulen das 
Seruelle in den Hintergrund trat, wabrend dasfelbe durd) die getrennte Schule geradezu 
entwidelt wird.” Dabei wird wiederbolt cin Wort Jean Pauls jitiert: „Um Scham— 
gefühl yu erjiehen, wiirde ich raten, die Gefeblechter sufammen gu ergieben, denn zwei 
Rnaben werden zwölf Madchen oder zwei Madchen zwölf Knaben rein erhalten mitten 
zwiſchen Winken, Anfpielungen und Unanjtandigfeiten, bloß durch den Inſtinkt, der der 
natiirliden Scham vorangebt. Aber ich ftebe fiir nichts in einer Schule, wo Mädchen 
allein find und nod) weniger, wenn es Knaben find.” 

Endlich das Hauptargument: die Verfchiedenbeit der Anlage und der Beſtimmung 
macht aud cine verſchiedenartige Erziehung nötig. Wie aber ſchon erwabnt, ijt man 
fic) darüber ziemlich einig, dah die heutige Frau diefelbe Bildung braucht wie der 
Mann, und dah der verſchiedenartige geijtige Aufbau ſich wie in der Körperwelt 
aus den qleichen Nahrungsſtoffen vollzieht. Nur die Art und Weife, wie dieſe Stoffe 
an den Geiſt herangebracht werden, ſoll eine andere ſein beim Mädchen wie beim 
Knaben. Es wird aber hier einfach durch eine Fortfegung des vorberqebenden 
Arguments widerlegt: warum follen nicht verſchieden qeartete Geijter aus derſelben 
Lehr: und Einwirkungsmethode eine verjchiedenartige Cimvirfung empfangen? Raft 
jede Familie ijt eine Illuſtration der Tatfache, daß verſchiedene Menſchen von derfelben 
Umgebung und denjelben Umſtänden verſchieden beeinflugt werden. Man fonnte 
hinzufügen, daß ja aud) Die Knaben und Mädchen untereinander nicht gleich find und 
bet aller Berückſichtigung der Jndividualitat niemand cine jpesielle Lebrmethode fiir 
jeden einzelnen verlangen wird. Hier wirkt auch die verſchiedene Judividualitit 
det Lebrenden ausgleichend, wobei zu bedenfen ijt, dah in der Union die Frauen 
auf allen Stufen des Unterrichts bis in Die Univerfititen hinein ebenfo wie die 
Manner vertreten find. Endlich läßt ja auch gerade das amerifanifde Syſtem, wie 
vielfach hervorgehboben wird, der Auswahl in den einzelnen Lehrfächern reichſten 





) Report S. 1248. 
*) Vergl. Report, Tabelle S. 1280. 
3) Report S. 1241. 





wv 








Sum gegenwartigen Stand der Cocducation in den Vereinigten Staaten. 245 


Syiclraum, fo dak nicht alle diefelben Lehritunden mitnebmen, fondern des öfteren 
cine Teilung yu verſchiedenartiger Beſchäftigung eintreten fann, 

Es ijt dies cin Eleiner Auszug aus den Gutachten. Natürlich legen wir nicht 
allen diefen Gutachten und tabellarifcben Tberjichten unbedingte Beweisfraft bei. Viele 
von ihnen entitammen einem befchrintten Geſichtskreis und verraten deutlich ibren 
Welegenbeitscharatter, und der Yndividualitat iſt in der Beurteilung gleider Vorgange 
hier Der weitejte Spiclraum gelaſſen. Aber ſie geben doch einen Einblick, wie weit 
man drüben das Problem aäusgeſchöpft bat und liefern den unanfedstbaren Beweis, 
daß die Coeducation hier in der Tat im Unterrichtsweſen ſo ſtarke Wurzeln geſchlagen 
hat, daß ſie den charakteriſtiſchen Zug desſelben abgibt. 

Wir können uns natürlich nicht zumuten, eine Inſtitution von ſo weitreichender 
Bedeutung einfach zu übernehmen. Tatſächlich war dem Amerikaner bei dem Aufbau 
ſeiner neuen Kultur die Coeducation in vielen Fällen das natürlich Gegebene. Wir 
aber haben ein feſt fundiertes und ausgeführtes Schulſyſtem mit ausgeſprochenem 
Trennungsdarafter. Dort bereitete der demofratijde Geijt der Nation die Gleich- 
ftellung der Frau vor; wir aber fiirchten als Ariftofraten eine yu ftarfe Nivellierung. 
Wir baben fo lange in der Idee gelebt, daß unfere ideale Weiblichfeit nur durch 
Abwendung vom Leben und durch Bebiitun por dem rauben Alltag gedeiben 
finne, dah wir von der Miſchung der Geſchlechter die feinite Blüte der Weiblichfeit 
vernictet zu feben fürchten. Wir haben durch die übertriebene Trennung der 
Geſchlechter eine ſolche Atmoſphäre unnatiirlicher Sexualität erjeugt, dah wir nicht 
anders können, als von der Aufhebung dieſer Trennung die ſchlimmſten moraliſchen 
Folgen erwarten. 


Aber wir haben ja die gefürchtete Coeducation ſchon, ehe wir ſie ſanktioniert 
haben, und die ſchlimmen Folgen find ausgeblieben. In der eigenen Erfahrung 
finden wir unſer Leben bereichert, wo immer wir es mit dem anderen Geſchlecht teilen 
fonnten. Es war das notwendige Element zu tieferer und allſeitiger Erfaſſung des 
Menſchlichen, und ein deutliches Gefühl des Verluſtes — von beiden Seiten oft aus— 
geſprochen — begleitete die Trennung. Nun brauchen wir neue Bildungsanſtalten 
für die Mädchen, um der nach langem Kampfe erkannten Notwendigkeit einer gleich 
gründlichen Bildung des weiblichen Geſchlechts zu folgen: —*z Gymnaſien. 

In vielen Fällen begegnet ihre Errichtung bei gutem Willen unuberwindlichen finanziellen 
—— Vom Staat, der ſich gewoͤhnt hat, ſeinen Unterrichtsetat fait aus— 
ſchließlich für die Knabenjdulen aufzuwenden, ijt fobald nichts yu erwarten, und unferer 
privaten Ynitiative jtellen ſich nicht ungezählte Millionen zur Verfiigung wie im Lande 
des Dollars. Hier ware die Eröffnung der betreffenden Knabenſchulen fiir dic 
Madchen gerade in Eleineren Stadten das einfachſte Auskunftsmittel. Hier könnten wir 
uns ein Vorbild nebmen am Gerechtigkeitsgefübl des Amerikaners, der allen Kindern 
feines Landes die gleiche qute Erziehung geſichert feben will und dem Kinder Söhne und 
Tichter bedeutet. Und auch an feinem vorurteilslofen und mutigen Nutürlichkeitsſinn. 
Vielleicht daß wir dann, durch Erfahrung belehrt, einſahen, daß die gemeinſame 
Erziehung nichts Widernatürliches ijt, ſondern unter Umſtänden die Keime einer frucht— 
baren Erneuerung unſeres geſellſchaftlichen Lebens auf natürlicher Grundlage in 
ſich ſchließt. 





246 





Naddrud mit Quellenangabe erlaubt. 


* Gine Stellenvermittelung fiir Frauen und 
Madden, dic in fosialer Hilfsarbeit ausgebildet 
find, baben die Madchen: und Frauengruppen fiir 
ſoziale Hilfsarbeit in Berlin cingerichtet. Sie find 
in der Lage Anftalten und Bereinen Damen nad: 
zuweiſen, die, ausgebildet in den ſozialen Gruppen, 
vermöge ibrer praktiſchen und theoretifden ſozialen 
Kenntnijffe fic) beſonders dazu ciqnen, befoldete 
Berufsitellungen als foziale Sefretirinnen, Lite: 
tinnen von Rinbderborten u. a. anzunehmen. 
Meldungen von Valanzen find an die Vorfigende, 
Fraulein Alice Salomon, Friedrid Wilbelmitr. 7 
zu richten. 

Nur ſolchen Damen werden Stellen vermittelt, 
die in den Gruppen ausgebildet ſind. Meldungen 
anderer Bewerberinnen bleiben unberitdficdtigt. 


*Infolge einer Petition des Dresdener Zweig: 
vereins der Juternationalen Föderation iſt ein 
Hffentliches Haus in Mittweida ſeitens ded ſächſiſchen 
Minifteriums bes Innern aufgehoben worden. 


* Die Qmmatrifulation ordnungsmifig vor: 
gebildeter Frauen foll, nach in ber Preſſe ver- 
breiteten Nacridten, in Strakburg bevorfteben. 


* Die tedjnifdje Hochſchule in Karlsrube 
immatrifuliert rite vorgebildete Stubdentinnen wie 
die badifeben Univerfititen. 


*An der Univerjitit Berlin find im Winter: 
femefter 546 Hörerinnen cingefebrieben. 


*Weibliche Gewerbeinfpeftion. Qn Wiirttem: 
berg ift eine zweite Aſſiſtentin der Gewerbeinfpettion 
angeftellt worden. Die Zahl der bisber angeftellten 
weiblichen Gewerbein{pettorinnen, bezw. Wi fiftentinnen 
verteilt fic) auf die Bundesſtaaten wie  folgt: 
Preufen 3, Heffen 2, Bayern 2, Baden 1, Hamburg 





1, Reuß j. &. 1, Wiirttemberg 2, Altenburg 1, | 


Bremen 1, Weimar 1, Coburg:Gotha 1, Sachſen 
4 Bertrauensperjonen. 
* Gine Schnlärztin bat ber Magiſtrat von 


Charlottenburg anjuftellen beſchloſſen. Es ift dies 
das erftemal in Deutſchland, daß cine Schulärztin 


berufen wird, Der Magiftrat von Berlin lehnte 
lürzlich babin gehende Petitionen der Berliner 
Yebrerinnenvereine ab. 


* Zur Rojtiimfrage der weibliden Biihnen- 
mitglieder. Die crite Affentliche Situng ded 
Deutſchen Bühnenvereins hat vor kurzem im 
grofen Saale des Köoniglichen Schauſpielhauſes 
in Berlin ftattgefunden. Das Hauptintereffe der 
Verhandlungen crjtredte fic) auf die Frage der 
Vieferung hiſtoriſcher Koſtüme an Theatern, ſowohl 
an Hoftheatern, deren einige ſchon feit Qabren ibren 
weiblichen Mitaliedern dieſe Vergiinftigung gewähren, 
wie aud an Stadt: und Privattheatern. Qn 
Herrn Intendanten Claar (Frankfurt a. Main) 
erſtand ein warmer Verteidiger und Fürſprecher 
der ſchwebenden Frage, die „im Prinzip“ ja 
nun geloft ware, deren definitive CEntideidung 
jedoch durch Antrag des Direltorial Ausſchuſſes bis 
gum Sabre 1907 vertagt worden ijt. Die Brejje 
bat in anerfennendwerter Weife die Beftrebungen 
der Deutſchen Biibnengenoffenfehaft, der in erfter 
Linie die Aufſtellung jener Forderung gu danfen 
ijt, unterjtiigt, und wird dieſes verſchiedenen 
Zuſicherungen gufolge auch ferner tun, fo daß aller 
Borausfidt nad in abjebbarer Seit an allen 
Theatern den weiblichen Mitglicdern, ebenfo wie 
den Herren das hiſtoriſche Koſtüm geliefert werden 
muß, und fomit cine Mufbefferung der Cinfommens: 
verbaltniffe der Schaufpielerinnen berbeigefiibrt wird. 


* Die Lohnverhaltnifje der Rellnerinnen 
famen filrglich in der bayriſchen Kammer jur Be: 
ſprechung. Die Regierung wurde erſucht, im Hof: 
briubaus mit gutem Beifpiel voran gu geben und 
die Nellnerinnen fo zu befolden, daß man ifnen 
dann bas demoralifierende Trinfgeldnebinen ver: 
bieten fonne. Bet dem Finanzminiſter ſchien nicht 
viel Neigung zur Beriidfictigung der beredtigten 
Anregungen gu herrſchen. 

Armenpflegerinnen anzuſtellen, beſchloß die 


Stadtverordnetenſitzung in Solingen. An der 
Erweiterung der Frauenarbeit in ber kommunalen 


Bur Frauenbeiwegung. 


Armenpflege find iiberhaupt, dank der cifrigen 
Tatigheit ded rheiniſch⸗weſtfäliſchen Frauenverbandes, 
die Rbeinfande in gang bervorragendem Maße 
beteiligt. 


* Die Gewahrung des aftiven Landtags- 
wahlredjts an felbjtindige bayriſche Frauen ijt 
feitend des Rechtsanwalts Dr, Blättner beim 
Landtag beantragt worden. Der Petent halt unter 
ben gegebenen Berbiltnijfen zunächſt nur diefe 
Form des Frauenwabhlredts — mit der Cin 
ſchränkung, daß die Stimmabgabe durd einen 
minnlicen Stellvertreter erfolgt — fiir zeitgemäß, 
befennt fich aber prinjipicll fiir gleiches Wablredt 
fiir Manner und Frauen, Qn der Begriindung 
der Retition wurden bejonders die Steuerleiftungen 
der Fraucn an den Staat als Grundlage ftaats: 
biirgerlider Rechte betont. Cine andere, von 
Mainnern und Frauen unterzeichnete Petition 
fordert dasſelbe ohne die Einſchränkung in bejug 
auf die Stimmabgabe. Man darf auf den Erfolg 
begierig fein. 


* Gine Fetition jum Arbeiteriunenfdus be- 
abſichtigt bie Gefell{chaft fiir fojiale Reform dem 
Bundesrat einzureichen. Es bandelt fic um 
Regelung der Arbeitszeit für erwachſene Urbeiterinnen 
in Fabrifen nach folgenden Gefichtépuntten: 


1, bie nach § 137 Abſ. 2 der Gewerbeordnung 
guliiffige tägliche Arbeitszeit foll von 11 auf 
10 Stunden berabgefest werden, wenn notig mit 
ber Mafigabe, daß nad Ablauf von zwei Jahren, 
nad Rundmadung des betreffenden Geſetzes, dic 
Arbeitszeit auf 10'/., nach weiteren zwei Jahren 
auf 10 Stunden herabgeſetzt wird; 2. die nad 
$137 Abſ. 3 a. a. O. zu gewabrende Mittags: 
paufe pon 1 Stunde foll auf 1'). Stunden ver- 
{angert werden; die Cinbaltung ciner 1 ftiindigen 
Mittagspaufe ift jedoch dann geftattet, wenn die 
Mehrheit der in den eingelnen Betrieben be: 
ſchaftigten Arbeiter in geheimer Abſtimmung dies 
beantragt; 3, der Arbeitsſchluß am Sonnabend 
und an den Borabenden der Fefttage wird auf 
fpateftens 4°), Ubr nachmittags verlegt; 4. die 
Beſchaftigung von Wöchnerinnen foll vor Ablauf 
von jes Woden nad ibrer Niederfunft über 
houpt nicht und wabrend der folgenden zwei 
Wochen mur dann geftattet werden, wenn das 
Beugnis cineds approbierten Argtes died für zu— 
lajfig ertlart. 


* Stimmredjt von Frauen in der General: 
verfammiung einer Attieugeſellſchaft. (Urteil 
bes Reichsgerichts vom 23, Mai 1903.) Rach 
dem gegenwärtig geltenden Alktienrechte fann 
die Veftimmung, daß Witwen der WAftionare, wenn 
fie im Beſitz ciner Wetie find, das perſönliche 
Stimmredt verfagt und fie auf die Crnennung 
von Bevollmächtigten angewielen feien, als rechts— 
giiltiq und wirkſam nicht angefcben werden, Sie 
ift mit $ 242 bes Handelsgelegbuches, welcher jeder 
Aktie das Stimmrecht gewabrt, unvereinbar, Cine 





Unterſcheidung, je nachdem der Aftionér cin Mann. 


247 


oder cine Frau ijt, ift auc mit den Grundſätzen 
ded Biirgerlichen Geſetzbuchs, welded hinſichtlich 
der Geſchäftsfähigleit zwiſchen männlichen und 
weiblichen Perſonen keinen Unterſchied macht, nicht 
in Einklang zu bringen. Cin Swang zur Aus: 
übung der Stimmberechtigung durch Bevollmächtigte 
ijt nicht. mehr zuläſſig, und es gilt bas auch fiir 
Uttiengefellfaaften, welche vor demi 1. Januar 1900 
entftanden find. Gine ftatutarifde Beftimmung 
babin, daß cin Wltionar, welder ſein Stimmrecht 
nicht perſönlich ausiiben will, alo Bevollmächtigten 
nur einen Altionär wablen fann, fallt unter die 
Bedingungen, welde auch jest nocd mit rechtlicher 
Wirkung aufgeftellt werden können und alle Aktionäre 
gleichmaͤßig trifft. Wegen Nichtzulaſſung ded Be: 
vollmächtigten einer Witwe, der übrigens nicht 
Uftionar war, wurden die Beſchlüſſe ciner General: 
verſammlung fiir ungiltig erflairt, indem ange: 
nommen wurde, es laſſe fich nicht beurteilen, 
welchen Crfola es gebabt bitte, wenn dem Be: 
vollmachtiaten erflart worden ware, feine Muftrag: 
qeberin Fonne ſelbſt ihr Stimmredt ausüben. 
(3. Wochenſchr., Yq. 32, S. 204.) 


* Wn der philojophifden Fafultat in Wien 
promovierten drei Frauen; demnächſt werden die 
erften vier Ubiturientinnen auch den mediziniſchen 
Doftorgrad erwerben. 


* Zum Arbeiterinnenſchutz find in der Schweiz 
neue Beftimmungen erfaffen worden, die gwar an 
bem I] ftiindigen Marimalarbeitstag fiir Frauen 
fefthalten, aber im iibrigen zeitgemäße Reformen 
bringen. Beſonders die Ausdehnung des Arbeite: 
rinnenfduges auf Lobhnarbeiterinnen in nicht 
fabrifartigen Betrieben ijt cine febr erfreuliche 
Neuerung. 


* Die Einführung des ſtaatsbürgerlichen 
Wahlrechts fiir Frauen wurde vom norwegifden 
Storthing abgelehnt. 


Weibliche Arzte im Staats: und Gemeinde—⸗ 
dienſte in Schweden. Die ſchwediſche Regierung 
bat am 11. d. Mts. cine Verordnung erlaſſen, wo: 
nad) unverbeiratcte weiblicbe Arzte mit demfelben 
Recht wie männliche Anftcllung erhalten fonnen 
alg: Arzte an den Bezirkslazaretten, Kranken— 
haufern, Hoſpitälern, als Gifenbabn: und Ge: 
fängnisärzte, im Dienft der Kommune (jedoch nicht 
al Stadtarst), alS Wjfijtenten det Univerſitäten, 
fur; alle derartigen Stellungen erbalten können 
mit Ausnahme ciniger Stellen als Provingial:, 
Stadt: und Militärarzt, fowie Oberaryt an 
Hofpitalern und Arrenanftalten. Sobald cine im 
Amt befindlide Arztin ſich verbeiratet, geht fie 
ibreS Amtes verlujtig. (Soz. Prar.) 


* Die Zulaſſung zur Advofatur, die Holland 
den Frauen kürzlich gewährt hat, ift in England 
abgelehnt worden, Miß Cave hatte vor kurzem 
Aufnabme in cinen der Quriftenverbinde — die 


248 


Grays Gun — als notwendigen Schritt yur Su: 
faffung zur Abdvofatur verlangt, und jie war mit 
dem Hinweis auf ihr Geſchlecht abgewiefen 
worden. Der Lord Kanzler, der Lord Oberricter 
und fünf Hichter hörten ibre Berufung gegen diefe 
Entſcheidung und lehnten fie ab, da fie einen 
Präzedenzfall yu ihren Gunften anfiihren tonne. 


* Der Verfud) ciner Mutterſchaftsverſicherung 
ijt in Bolton von privater Seite gemacht worden. 
Es hat fich dort eine Gefellichaft fiir Mutterſchafts⸗ 
verfiderung gebildet. Gegen Cingablung fleiner 
monatlider Prämien erhalten die Frauen bet Ent: 
bindung von einem [ebenden Kinde von der Ge: 
felljchaft cine Summe von 100 bis 500 Dollars 
ausbezahlt. Die Verſicherungsgeſellſchaft ijt cin 
gejdaftliches Unternehmen, doc find die Leitenden 
Stellen durchweg unbefoldet. Die Auszahlung 
betragt bei einer monatlicben Pramie von 3 Dollars 
nad mindeſtens fiinfmonatlicer regelmafiger Cin: 
zahlung 200 Dollars, nad) minbdeftens eljmonat: 
lider Cinjablung 300 Dollars, nad mindeftens 
dreiundzwanzigmonatlicher Einzahlung 500 Dollars. 


* Jn Nenfeeland wird cinmal wieder über 
bie Verleibung des paſſiven politiſchen Wabhlredts 
an die Frauen verbandelt. Cin dabin gebender 


Untrag wird von dem Abgeordneten Wac Rab | 


eingebracht. 


*Totenſchau. Cine ber wenigen aus der 
älteſten Generation der deuticben Frauenbewegung, 
Franziska Ammermiller, ijt im 87. Lebens⸗ 


Verſammlungen und Vereine. 


jahre geſtorben. Ihr verdankt die Frauenbewegung 
in Württemberg ihre erſten Anfänge. Mit lebendigem 
Verſtändnis ergriff fie die Anregung, die 1875 
durd cine Wanderverſammlung des Allgemeinen 
deutſchen Frauenvereins in Stuttgart zu den 
württembergiſchen Frauen getragen wurde, und 
18 Jahre hindurch hat ſie als Vorſitzende des 
damals gegründeten „Schwäbiſchen Frauenvereins“ 
fiir die praftifde und ideelle Förderung der Frauen: 
bewegung gearbeitet. Auch nachdem fie ben Vorſitz 
niedergelegt batte, hat ihr reged Qntereffe den 
Fortſchritt der Frauenſache in ibrer engeren Heimat 
und braugen im größeren Baterlande bealeitet. 
Wer die Gefcichte der deutſchen Fraugnbetwequng 
und ibre Entwidlungsbedingungen fennt und weiß, 
was dic rubige praftifde Pionierarbeit ihrer erften 
Vertreterinnen fiir fie bedeutet, der wird auch diefer 
erften Urbeiterin fiir unfere Sade cin danfbares 


| Gedenfen bewahren. — 


Mus ähnlicher fegenSreicher lokaler Titigteit 
wurde Adelheide Schmidt, die Borfigende des 
Frauenbildungsvereins in Gotha, abgerufen. Unter 
ibrer Leitung ijt der Verein „einer der bedeutungé: 
vollften Faltoren der inneren Entwickelung der 
Stadt” geworden; die Cinrichtung eines Volls— 
findergartens, einer Fortbildungsſchule waren praf: 
tiſche Refultate feiner Arbeit. Dreiftig Jahre 
hindurch bat der Verein zugleich die Gedanken und 
Biele der Frauenbewegung in Gotha vertreten und 
ift dem Allgemeinen deutſchen Frauenverein, defen 
Rweigverein er ift, in lebendiger Wechſelwirkung 
der Arbeit und der Ideen verbunden geweſen. 


—— 


Versammlungen und Vereine. 


Der Yuteruationale Franeufongre# 190-4. 


Mit der am 2 November unter Leitung von 
Frau Hedwig Heyl ftattaebabten fonftituierenden 
Berjammlung des Berliner Lofalfomitees fiir den 
Anternationalen Fraucnfongref des Bundes deutſcher 
Frauenvereine find die umfaffenden lofalen Bor: 
bereitunggarbeiten in Angriff genommen. Die 
{ofale Arbeit ift auf 7 Gruppen, unter Leitung je 
eines Borftandmitaliedes des Lofalfomitecs, verteilt: 
Reprijentation, Uusftellungen, Abzeichen 2c. (Frau 
Elifabeth Kaſelowsky); Vreſſe, Anformationsbureau, 
Poft 2c. (Frau Eliza Ichenhäuſer); Gefelliqe Ver: 
anjtaltungen, Empfänge 2. (Frl. Marg. Frieden: 
thal); Sebenswilrdigtciten, Theater 2. (Fri. Anna 
Papprig); Freiquartiere, Berpileaung im Kongreß— 
lofal der Bhilbarmonie 2c. (Frl. Alice Salomon); 
Kaffe (Frau Wengel-Hedmann); Kongreßhandbuch 
(Frau Hedwig Hep. Das ganze Lolalfomitce fest 





zur Mitarbeit bereit erflart baben. Im Lauf des 
Winters wird, umt die Arbetten zu zentraliſieren, 
cin eigenes Bureau gemictct werden, von dem aus 
die Leitung dieſes Fomplizierten (ofalen Apparateds 
erfolgen foll. 

Mit der CEinteilung und Feſtſtellung ded 
Kongreßprogramms, ber Wufftellung der Redner— 
liften, der Cinladung der Rednevinnen, dem 
Arrangement der Sigungen und Sffentlichen Ver— 
ſammlungen x. tc. tft der Bundesvorftand als 
Organifationsfomitee gegenwärtig cifrig beſchäftigt. 
Im allgemeinen dient ibm dabei die vorzügliche 
Organijation des Londoner Qnternationalen Frauen: 
longreſſes von 1899 als Grunbdlage; doch batten 
die deutſchen Bundesdelegierten bei dieſer Gelegen: 
heit neben vielem Nachahmenswerten aud manches 
als unpraftijd erfannt; es werden daher ver: 
ſchiedene UÜbelſtande, die in London nicht gu ver: 


fi) aus je einer Bertreterin der 25 Berliner 
Bundesvercine fowie aus eta 100 Cinjelperjonen 
zuſammen, die vom Bundesvorftand cingeladen, fic 


— 


meiden waren, in Berlin in Wegfall fommen. 
Zunächſt wird die ſtörende gleichzeitige Tagung von 
Kongreß und Generalverſammlung des luter- 


VBerſammlungen und Bercine. 


national Council of Women, die gerade den 
offigicllen Vertreterinnen der verſchiedenen Rational: 
verbande die Betciliqgung an den Kongreßſihungen 
vielfach unmöglich machte und dem Rongref da: 
durch die Befannt{dajt mancher interefjanten Per: 
fonlichteit vorenthielt, durch cin bequemereds und 
natiirlicheres Racheinander erjest werden, da be: 
fanntlich die Generalverſammlung ded I. C. W. 
vom 8. bis 11., der Kongreß vom 12, bis 18, Juni 
ftattfindet. 

Gin iweiterer Borgug vor London dürfte dic 
Sentralijation in bezug auf das Kongreflofal jein. 
Wabrend dort die Sigungen in 3 bis 4 ver: 
ſchiedenen, gum Teil weit auseinander liegenden 
ſtädtiſchen Gebauden abgebalten wurden, wird fic 
in Berlin alled unter einem Dach, in den fiir die 
ganze Kongreßzeit gemicteten Räumen der Phil— 
harmonie abſpielen. Dieſer größeren auferen 
Einheitlichleit wird auch die innere inſoweit ent: 
ſprechen, als der Bundesvorſtand, um jeder Ser: 
jplitterung und Aberladung des Programms vor: 
zubeugen, die 4 Arbeitsfettionen des Kongreſſes 
(1. Frauenbildung; 2. Frauenerwerb und Beruſe; 
3. Soziale Cinrichbtungen und Beftrebungen; 
4. Die Stellung der Frau im privaten und dffent: 
lichen Hecht), auf dicjeniqen Gebiete befdbrintt bat, 
bie fiir die durch die Frauenbewegung angeftrebten 
Veriinderungen in den Rechten und Pflichten der 
frau in Betracht tommen. 


Die 4 Seftionen werden gleidjeitiq an den 6 - 


aufeinander folgenden Vormittagen vom 13. bis 





249 


mebrere ihrer fiibrenden, dem Namen nad aud in 
Deutſchland woblbefannten Perſönlichkeiten in 
Berlin vertreten ſein. — Alles in allem ſcheinen 
dic Auſpizien fiir den Kongreß bis jest nad jeder 
Richtung giinftia. Hoffentlich lohnt auch der Er— 
folg die viele Mühe und Arbeit, die dafür noch in 
den nächſten Monaten zu leiſten ſein wird! 





Der Verein Frauenwohl Nürnberg 


feierte am 26. November ſein 10jähriges Beſtehen. 
Wenn es von irgend einem unſerer Frauenvereine 
gilt, daß er einen Faltor im Leben ſeiner Stadt 
bedeutet, ſo von ihm. Das von ihm errichtete 
Wöochnerinnenheim, dic Frauenarbeitsſchule, die 
funfigewerblichen Werfftitten, die Auslunftſtelle, 
wiſſenſchaftliche Fortbildungskurſe fiir Frauen, alle 
diefe Unftalten baten ſchon Taufenden von Frauen 
gedient, fei es durch fosiale Fiirforge und Hilfe, 
fei es durch praftijde, künſtleriſche und geiftige 
Schulung. Sie haben gum Teil auch vorbildlich 
auf andere Städte gewirtt, wie der Verein Frauen: 
wobl denn iiberbaupt, entweder durch  direfte 
Anitiative oder durch mittelbare Anregung auch 
auferbalb feines cigenen UArbeitsfeldes Frauen: 
befirebungen mannigfachſter Art forderte. So ver: 
dantt z. B auch der Verein weiblider faufmannifder 
Angeftellten ihm feine Entſtehung. — So bedeutet 
die Feier des 10jährigen Bejtebens einen Rücklick 


auf wirtliche, fruchtbare Erfolge, die zugleich cine 


18 Suni ihre jedermann zugänglichen Sitzungen 


abhalten und jeden Tag ein anderes Spezialgebiet 


behandeln. Dieſe Sitzungen ſollen zur Hälfte der 
Erſtattung von längeren und kürzeren Referaten, 
zur anderen Hälfte der freien Diskuſſion gewidmet 
ſein. An den Nachmittagen reſp. Abenden finden 
allgemeine Verſammlungen im großen Phil— 
harmonieſaale ſtatt, in denen allgemein wichtige 
und altuelle Fragen der internationalen Frauen— 
bewegung zur Erörterung gelangen ſollen. So 
wird u. a. die Frauenſtimmrechtsbewegung nicht 
nur im Rahmen der betreffenden Seftion (Stellung 
ber Frau im privaten und öffentlichen Recht), 
jondern auch in einer diefer grofen Verſammlungen 
bebandelt werden, und gwar werden Vertretcrinnen 
der Beweaung aus allen Landern über die bis— 
berigen Erfolge, aud) fiber die praftifden Nefultate 
deS Fraucnftimmeredts beridten. Cine andere 
Abendverſammlung ift file Berichte über den Stand 
der Fraucnbewegung im den Kulturlandern, cine 
fiir die Befprechung ped Themas „Frauenlöhne“ 
in Ausſicht genommen, cin Abend mit dem Thema 
» der Einfluß der felbftandigen Frauenperſönlichkeit 
auf Wijfenfebaft und Kunſt“ wird neue intereffante 
Mefichtspuntte und Ausblicke auf die Sutunit 
geben, uſw. 

Nad den vorliegenden perſönlichen Mitteilungen 
und Seitungsberichten gibt fic) ilberall, felbjt in 
Wuftralien und Neufeeland, ein grofies Antereffe 
der Frauenwelt fiir den Kongreß fund, dad cine 
ebenjo zahlreiche, wenn nicht nod zahlreichere Be: 
teiligung wie in London erwarten läßt. Ganj 
befonders entwideln die amerilaniſchen Gefinnungs: 
genoffinnen cine lebhafte Propaganda fiir den 
Kongreß, und es werden neben ben europäiſchen 





Ländern vor allem die Vereinigten Staaten durch 


Gewahr für neue Fortſchritte in ſich tragen. 
Die Feſtrede des Arf. Vr. phil. Kipfmüller, die 
cinen Überblick iiber die Arbeit des Bereins gab, 
zeigte, auf wie feftem Grunde dic Hoffnung ftebt, 
der die Borfigende, Ar. Helene von Forfter, in 
ibrem Brolog Ausdrud gab: 

Benn wir Langit dain, 

Wire jenen fie, die nad uns fommen werden, 

Ten Bodin geben, Orin fie kräftig wurzeln. 


Treibende Ardfte wird fie ihnen tweefen, 
Tamit fie wachſen tennen, fact und fret 





Berein fiir Bodenreform. 


Im Verein mit ſeiner Frauengruppe hat der Bund 
der Bodenreformer in Berlin cin vollswirtſchaft 


| liches Seminar cingericdtet, deffen zweiter Cyklus 


am 16. Januar beginnen wird. Die Borlefungen 
finden jeden Sonnabend 8'/, Uhr abends in der 
Yandwirtidaltliden Hochſchule ftatt und find Mit: 
glicdern fret, Gajten, Damen und Herren, gegen 
2 Marl Gebiibren fiir den ganzen Kurſus ju 
gänglich. Für Fraucn, die ja nod immer allju 


| felten Gelegenbeit haben, fic volkswirtſchaftlich 


und = politijd gus betdtigen,  fonnen dieſe 
Nbungsabende alS beſonders wichtig gelten. 
Wie freudig die Gelegenheit ergriffen wird, dieſem 
Mangel abzuhelfen, zeigt der ſtetig wachſende 
Zudrang yu dem Seminar, ſodaß der größte Hör— 
ſaal der Hochſchule notwendig wurde, der für die 
200 und mehr Suborer noch immer nicht ganz 
ausreicht. Der Cyklus dieſes Winters wird Agrar— 
politit sum Thema haben. Es find Referate in 
Ausficht genommen, die den Gegenftand von den 
verſchiedenſten Seiten beleuchten. Jedem Referat 
folgt eine Disluſſion. 


+€13+—__— 





„Menſchen“. Charatterftudien von Ellen Kew. 


S. Fifer, Verlag, Berlin. (Geb. Mart 4.—, 
geb. Mark 5.—.) Qn der Deutung und Darftellung 
litterarifder Perjontichleiten liegt die Stärke der 
ſchriftſtelleriſchen Tätigkeit von Ellen Rey, mebr 
als in der theoretiſchen Behandlung ſoziologiſcher 
Fragen. Deshalb ijt diefer neue Band cin ganz 
reiner Genuf. Er fpricht über Almquiſt, als iiber 
Schwedens ,,modernften Dichter“ und über Eliza: 
beth Browning und Robert Browning. Seon in 
der erften Sammlung ihrer Eſſays bat Ellen Kev 
in dem „Abend auf dem Jagdſchloß“ ihre tiefe 
Borliche fiir Almquiſt ausgeſprochen. Modernſte 
lünſtleriſche Anſchauungen zeigt uns ihre Inter— 
pretation bei dem vor hundert Jahren geborenen 
Dichter. 
traditionellen Grenzen zwiſchen den dichteriſchen 
Gattungen vernichtet und jeden Inhalt in ſein 
eigenes, aus den verſchiedenſten Elementen des 
tkünſtleriſchen Ausdrucks gewähltes Gewand hüllt, 
ift ſchon Almaquifts künſtleriſches Streben. Wie 


| beritbergefommen, 


Dieſer Monismus der Form, der alle | 


aus dem Weſen des Menfeben und aus feinen | 


Scidjalen fic feine Weltbetrachtung und dic 
Ridtung ſeines künſtleriſchen Wollens entfaltet, 


das zeigt Ellen Key in ibrer tief fcbauenden und | 


darum fo ficher und fein vereinfadenden Weiſe. 
In dem noc reicheren Aufſatz über die Brotwnings 
ijt befonders dad intimfte Problem, das Verbaltnis 
ber beiden Menſchen gu cinander, die Bezichungen 
zwiſchen Kiinftlertum und Erotik, mit der groften 
Meiſterſchaft bebandelt. Die Anmerfungen ver: 
mifite man gern. Sie find fiir Ellen Key's mebr 
Hinftlerifde als wiffenfebaftlide Bebandlung ded 
Eſſays ftilwidrig und ftdrend. 


Pantheon: Ausgabe’, Bd. X. Grillparger. 
Des Meeres und der Liebe Wellen. (An Leder ged. 
2,50 Mart.) Bo. Xl. Goethe, Fauſt I. (An 
Leder geb. 3M.) S. Fiſcher, Verlag, Berlin. 
Die in feltener Feinbeit ausgeftatteten Bändchen 
ftellen der deutſchen Buchkunſt cin erfreuliced 
Beugnis aus. Möchte mur ibre Verbreitung den 
bicher nod recht anſpruchsloſen Geſchmack ded 
deutſchen Leſepublilums in ebenfo erfreulicher 
Weiſe erweiſen. Dem Grillparzerbandchen iſt pas 
Geleitwort von Hugo von Hoffmannsthal cine 
ſchöne und ftimmungsvolle Cinleitung. 
bat Pniowers Cinfiibrung philologiſche Belebrung 
mit enthufiaftiider Paraphraſe geſchmackvoll ver: 
tnüpft. Die Tertrevifion — in beiden Banden 
von Pniower — ift ſorgfältig. Damit licgt die 
Bantheon Ausgabe ded Fauft vollitindig vor. Der 
erfte Vand erſchien fon vor ciniger Beit, gleich— 


— 





Im Fauft | 


falls mit ciner Einleitung von Pniower, und mit 
einem Gocthe Bildnis nach cinem 1791 gefertigten 
Rupferftid) von Lips. Die beiden Bändchen der 
Fault Uusgabe diirften fiir den Biicherfreund cin 
erlejener Beſitz fein. 


„Die Komödie anf Krouborg“. Erzählung 
von Sophus Bauditz. (Leipzig, Fr. Wilh. 
Grunow.) Das eigenartige Bändchen mit den 
feinen, ſtimmungsvollen Zeichnungen führt uns in 
das Jahr 1586 zurück, wo engliſche Komödianten 
vor König Frederif dem Zweiten von Dänemark 
auf Kronborg fpielten. Mit ibnen ift ein junger Mann 
den der Vorname Will und 
allerband andere vom Berfafier gegebene Winke 
den Lefer bald als William Shakelpeare erfennen 
laſſen. Er erlebt im ftiflen Kloſter bei Kronborg, 
was fic nachber in feinen Dramen  geftaltet. 
Ophelia und Falftaff, der Schauplatz zur Hamlet: 
tragödie und Anflinge aus Romeo und Qulie find 
geſchickt in die Erzahlung veriwoben, die an und 
fiir fich ſchon ibren Reiz durd die Echtheit der 
Yofalfirbung ausübt. 


„Die belgifde Malerei“ von Ridard 
| Muther. (Mit 32 Bollbildern.) S. Fifcher, 





| wird. 


Verlag. Berlin W. (geb. 6 Markl.) Der geift: 
reiche Aſthetiler gibt cine weniger auf hiſtoriſchen 
Studien alS auf feinfinnigem, geſchultem Seben 
berubende fnappe Darftelluna der Entwidlung der 
belgifcen Runft im 19. Jahrhundert. Wit der 
befannten viftuoien Treffſicherheit charafterifiert, 
ziehen die Zeitabſchnitte und ibre Trager an uns 
voriiber, bier und da itberragt von ciner einſam 
cigene Wege febreitenden Geftalt, wie Wierg oder 
Meunier. Jn ſorgfältig ausgefiihrten Illuſtrationen 
find genug Stichproben gcacben, um die Dar: 
ſtellung verſtändlich gu madden. Das Bud ijt 
mit ganz befonderer Feinheit ausgeftattet. 


„Ein ſchlichtes Herz’. Bon Guftave 
Flaubert. Deutſche Ubertragung von Ernſt 
Hardt. Inſel Verlag. Leipzig 1904. In der 
befannien ſchönen Ausftattung des Inſel Verlags 
erſcheinen drei Novellen — außer der Titelnovelle 
die „Sage von Sankt Julianus“ und „Herodias“ 
— in einer feinfühligen Uberfegung, die den fo 
ſchwer wiedergugebenden Nuancen der modernen 
franzöſiſchen Erzählkunſt in feltenem Mae gerecht 
So diirfte dieje Meine Sammlung in der 
Tat geeignet fein, deutſche Lefer an die feine Kunſt 
Flauberts herangufubren. 


Bücherſchau. 


„Augelika Kauffmann“. Bon Eduard 
Engels, Verlag von Velhagen u. Afafing, Biele: 
feld u. Leipzig. (Preis 3 Marl.) Das febr hübſch 
ausgeſtattete Bandden, das in gut ausgefiibrten 
Kunſtdrucken auch cin paar Bilder feiner Heldin 
reproduziert, gehört ciner gréferen Sammlung an, 
bie Hanns von Sobeltis unter dem Gejamttitel 
Frauenleben“ verdffentliobt. Die Sammtung um: 
fait frappe, dem Verſtändnis breiterer Kreiſe der 


Gebildeten angepafte Biographien hervorragender — 


Frauen aus Geſchichte, Litteratur und Runt. 


Eduard Engels bat mit feiner lebendigen, geſchict 


und eindrucksvoll injcenierenden Darſtellungsweiſe 
feinem Stoff eine febr gefiillige und aniprecbende 
Form gegeben, die dem eleganten kleinen Buch cine 
freundliche Aufnahme ſichern wird. 


„Shakespeare-Brevier“ von H. Siegfried, — 
Verlag Schuſter A Löffler, Berlin 1903. 
Goethe⸗, Schopenhauer⸗, Gottfried Reller-Brevier 
läßt ber Herausgeber cin Shakespeare Brevier 
folgen. Ich bin ein Feind ſolcher Sammelſurien, 
wo ein kleiner Geiſt einen uͤbermächtigen aud: 
ſchlachtet. Der Faulheit unſerer „Gebildeten“, 
Shalespeare nicht zu leſen, wird damit Vorſchub 
geleiſtet. Was der große Brite an Lebensweisheit 
bietet, genießt man viel lieber im Zuſammenhang. 
Wozu die Werfe auf ſolche Sprüche und Sentenzen 
bin filtrieren? Es wird nur die Entfremoung von 
arofer Kunſt in diefem Unternehmen ſyſtematiſch 
betrieben, Citatenjigern, die es bei der Abfaſſung 
ibrer Aufſätze nötig baben, werden fic über das 
Biidhlein freuen und es baufig benugen mit dem 
fieblichen Bermert: „Shalespeare fagt .. .” 

Dr. Hegener. 


„Balladen und Schwänle“, von Oskar 
Wiener. J C. C. Bruns Verlag. Minden 1905. 
Der Ton ift ſchon aut und ſicher getroffen, der in 
feiner burfebifofen Weiſe etwas lebbaft und prickelnd 
nad Urt und Ausprud wirkt. Dieſes Urwüchſige 
in ber Behandlung des Vorwurfs ficert der Samn: 


(ung auch den Erfolg, fo wenig cigene dichteriſche 


Noten immerhin angeſchlagen find. Witunter fühlt 
man den Apparat zu deutlich, der die Balladen: 
fiquren lebendig balten foll, und dieſes Erkünſtelte 
wirft Mibmend. Geſchloſſen in der Stimmung, reif 
in den Mitteln, dieſe Stimmung gu erreichen, find 
— jedes in ſeiner Art — „Das Aronenlied“ und 
„Der Preis". Prächtig der inneren Geſtaltung 
nach iſt „Das Geſindel“. Da geſtaltet der Dichter 
in bent einſachen Vorgang cin Schickſal, das der 


Dem » 
ihrer neuen Ausſtattung den Anſprüchen einer 


251 


wartigen Stand der photoaraphifden Technik und 
cinen fiir ben Laien gewiß oft nod überraſchenden 
Einblick in die lünſtleriſche Durchbildung, ju der 
die photograpbiide Kunſt in dem legten Jahrzehnt 
gclangt iſt. Es ift deshalb auch fiir ſolche, die 
nicht Fachleute ſind, außerordentlich intereſſant. 


Böcklin⸗Mappe herausgegeben vom Kunſtwart. 
Neue Ausgabe mit Tonunterdruck. München. 
Georg D. W. Calliveh. Kunſtwartverlag. (Preis 
1,50 Marl.) Die Mappe enthält ſechs Runithlatter 
in ciner filr den billigen Preis überraſchend guten 
Musfubrung. Der Tonunterdrud gibt den Bildern 


' gine leichte Farbigkeit, durch die fie cine ftarfere 








cine Taq dem andern jutragt, bas von Wnbeginn | 


war und in Sufunft fern wird. Mir daucht, dee 
Künſtler weiß beffer zu plaubern, ale zu dichten; 
beſſer feuilletoniſtiſch als balladenhaft zu geſtalten. 
Seine Schwänte muten darum auch flüſſiger und 
natürlicher an, R. 


„CameraKunſt“. Cine internationale Samm: 
lung von Kunſt⸗Photographien der Reuzeit. Unter 
Mitwirkung ven Wri’ Loeſcher herangacgeben 
von Ernſt Qubl, Hamburg. Witt 80 Res 
produftionen nad hervorragenden Munit: Photo 
graphien und tertlicben Beiträgen tm: und aud: 
ländiſcher Fachſchriftſteller. (Preis 4,50 Mark, in 
Wangleinen:Ginban’ 5,50 Mark.) 
fowobl hinſichtlich der bildlichen als ber textlichen 
Beitrige cine gute UÜberſicht über den gegen 


Ter Band bieret | 


Stimmungswirkung erbalten, als im blofen Schwarz⸗ 
Weiß⸗Druck. Bejonders dem ,,Heiligen Hain” und 
„Dichtung und Malerei“ fommet dieſe Tonung zu 
ſtatten. Wit den hingugefiigten knappen Erläute⸗ 
rungen dürfte die Böcklin- Mappe des Kunſtwart in 


wilrdigen Populariſation unſerer Meiſter in vor: 
trejflicher Weiſe geniigen. 

Auch auf die neue Folge der Meiſterbilder ſei 
an dieſer Stelle nochmals hingewieſen. (Pr. pro 
Wart 0,25 Wark) Sie bringen „Das Konzert“ 
pon Gerard Terbord, „Gilles“ und „Die Cine 
ſchiſung nad Cotbere von Watteau, die „Fluß— 
landſchaft“ von Malbert Cuyp, , Die Infantin 
Maria Terefa” von Belasquey, den , Mann mit 
ber Melle" von Qan van Evd, das „Haäarlemer 
Holz“ von Hobbena, die , Verfuchung oes Heiligen 
Antonine” von David Teniers d. Ja die „Heilige 
Barbara” von Hans Holbein b BW, de 
„Kuh bet der Tränke“ von Willet, die „Apo— 
kalyptiſchen Heiter” von Dürer und die „HPeilige 
Juſtina“ von Moretto. — In ben auf den 
Umſchlag gedructen tertlicben Erläuterungen wird 
jedes Mal das Hauptlachlicke aus deme Leben bes 
Künſtlers cinfad und klar erzählt. Die Repro: 
buttionen — 3. T. ebenfallé mit Tonunterdrud 
— leiſten durchweg mit ben beſcheidenen Witteln 
iiberrajdend Gutes, jo dah ihnen nur weiteſte Ber: 
breitung gewünſcht werden fann. 


„Steruſchuuppen“.. Für die Jugend und ibre 
Freunde, Herausgegeben von Heiner. Mofer, 
Bilder von Gertrub’ Kohrt. Verlag Gebr. 


Rünzli, Zürich Miinden. Preis des Heftes 1 Mark. 
Das kleine Bilberbudy mit Tertbeitragen von 
Paula Debmel, Ridard Zoozmann u. a. iit 
tein gan; fo glücklicher Griff wie Knecht Rupredt 
ober Sugendland, ſowohl in den Bildern als im 
Tert. Neben gut Gelungenem, wie 3. B. dem Bilde 
vont Sommer, finden ſich doch aud Narifaturen, 
die ſich an dem heiligen ſachlichen Ernſt, mit dem 
cin Rud an cin Bilderbuch herangebt, geradezu 
verjiindigen, indent fie einen Dem Kinde gegeniiber 
unverantwortlichen Ton feden Scherzes anjeblagen. 
Bilder, wie bas oer losgelaſſenen Teufel, gehören 
nicht in cin Kinderbuch. 


„Schwätſchen fiir Kinder“ von CErnit 
Mreibolf, (Schafſtein, Coln.) Der geniale Jugend 
künſtler bietet wieder cin paar Blatter feiner 
Hinberbilder und Heime. Sie zeigen die gewobnte 
feine Anpaſſung an des Kindes Urt zu feben und 
die pbhyfiognomiide Kunſt der „Wieſenzwerge“. 
Manz beſonders gelungen iſt diesmal dads Vorſatz— 
blatt in Farbe und Zeichnung. 


252 Bücherſchau 


„Jugendland“ cin Buch fiir die junge Welt 
und ibre Freunde. Herausgegeben von Heinrich 
Mofer und Ulrich Kollbrunner Verlag von 
Gebr. Miinsli. Zürich und München (Band IL, 
fiir die reifere Jugend beftimmt). Cin Jugendbuch, 
an bdeffen Lerten u. a. Ilſe Frapan, Detlev von 
Liliencron, an deſſen fiinitlerifder Wusftattung vor 
allem Schmidhammer, aber aud RKubnert, Franz 
Hoch mitgearbeitet baben, ijt cine der erfreulichften 
Erſcheinungen — vielleicht die erfreulichſte — in 
der Jugendlitteratur des Jahres. Ganj bejonders 
ift es qu begritfien, daf mit dem Sugendfand ein 
Bilderbuch höheren Stils gefchaffen ift, daß dic 
bisherige Liide vom Kinderbuch jur grofen Kunſt 
in befter Weiſe ausfüllt. Es ijt fiir Rnaben und 
Madden von 9—LO Jahren an aufs wärmſte gu 
empfehlen. 


„Kinderwelt“ Erzählungen und Skizzen aus 
neueren deutſchen Dichtern ausgewählt vom Ham— 
burger Jugendſchriftenausſchuß. Leipzig, Berlag 
von Ernſt Wunderlich. Leipzig. 1904. Die 
Sammlung, in der Helene Böhlau, Detlev 
von Liliencron, Charlotte Niefe, Helene 
Voigt u. a. vertreten find, bietet fiir grofere 
Scultinder eine vorzügliche Auswahl moderner 
Novelliftit und zeigt dic Tiitigteit der Hamburger 
im beften Licht. 


Im Verlag von Hermann Beyer u. Söhne, 
Langenfalja erfchienen cine Neibe von Jugend— 
febriften, die den alten Babnen de3 Bilberbuches 
in night immer unanfechtbarer Weife folgen: 

Die Gänſehirtin,“ cin Marden von Harry 
Wünſcher mit Bilbern von Aug. Plinke. 

„Kindertage in Luft und Plage’ Tert von 
Helene Binder, Bilder von Auguſt Plinte. 

„Der Heine Ro ans Kiautſchon“ Bilder unt 
Terte. Marte Meurer. 


. — Anjeigen, 


| Perfonen und Begebenbeiten, 


„Schwänzelpeter und Schlumpellieſe“ Tert 
von Otto Weddigen, Wilber von Auguſt 
Plinkle. 

„Des Moarx ſtüuftlerreiſe“ mit ſechs Bilbern 
von Proj. E. Hartel. 


„KRtunterbunt im Jahresrund“ Berfe von 


Helene Binder, Bilber von Aug. Plinfe. — 


Qn Bildern und Berfen eigen dieſe Bücher 
mit wenig Ausnahmen die fabrifmapige Flachheit, 
von der wir unfere Sugendlitteratur gern 
befreien möchten. Gin vornebmer pädagogiſcher 
Verlag von Hermann Bever ware wobl berufen, 
die Jugendſchriftenbewegung auf ibren neuen Babnen 
zu begleiten und zu fordern. 


In demjelben Verlag ericdienen ,,Rene Wald- 
mãrchen“, „Oberförſters Mieze“, „Kätchen und 
ihre Freunde“, drei Bücher von Marta Freddi— 
Clauſius. Sie enthalten zum Teil Erzählungen 
aus dem eigenen Leben der Berfaſſerin und ſind 
in der Tendenz geſund und gut gemeint, wenn man 
aud unſeren heranwachſenden Madchen lieber etwas 
lraftigere Koſt vorſetzen möchte. 


„Taubeuflug“. Roman von Luch von Heben— 
tanj-Racmpfer. Minden. Allgemeine Verlags— 
Geſellſchaft m. b. H. „Auch im Bolfe regte eS 
ſich. Der Schulzwang mit Lehrern, die nicht alle 
chriſtlich geſinnt, der Militärdienſt im den großen 
Stadten, tte bie Jugend nur gu bald dem 
heimiſchen Katholizismus entfremdet und der Lebre 
jfalſcher Propheten bie Wege geebnet“ (S. 41) — 
— — — das eine Probe fiir die Tendeng ded 
über 400 engbedructe Seiten umfaffenden Romans. 
Aſthetiſch betrachtet ijt er cin Gewirr von allerlei 
in dem weder 


| Kompofition nod Charatterijtif, nod) ſchließlich die 
Sprache auf künſtleriſchem Niveau ftebt. 


Absolut bestes Mundwasser der Welt! 


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ift ein aude —— — Hausmittel zur Krditiqung fir Qranfe und Wefonvalessenten und bewährt ie wa Ase i als 
wi. 75 


gegeben u, 


253 


gehirt gu den am leictelten verdaulichen, die Zaͤhne nigh an jl Files 
nritteln, welche bei Blutarmut (Bleichſucht) zc 
wird mit grohem Grfolge gegen Rbachitis (fonenaunte enalifche 
unterftiigt wefentliQ Sie Rnodenbtldung bei Kindern. 


. Derorditet werden. FL D102 
ransheit) 


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H. v. Declers Verlag. G. Schene, 
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außer allen fertigen Gegenſtänden 
als Koſtüme, Paletots, Hilite, 
Bluſen, Rocke, Morgenröcke, Mati 
nᷣes, Jupons rc. vorzugliche Quali⸗· 
taten in warzen Stoffen zu allen | 
Preiſen. Die Firma wird jeit mehr 
als BO Jabren von ibrem Begriin: 
der geleitet und bietet daber die 
Marantie für prompte und zuver— 
laffige Ausführung ber Aufträge. 

Es find in lester Zeit baufig 
Reklamationen iiber  veripitete 
Lieferungen bet der Firma cin: 
gegangen, dic ſich immer dabin 
aufflarten, daß dic betreffenden 
Herridaften nicht in Otto Webers 
Trauermagazin, deffen Bertaufs: 
raume fic) durch mebrere Etagen 
hinziehen, ſondern in einem kleinen 
Trauerladen, der unweit dieſer 
Firma ein kleines Parterre Lokal 
umfaßt, gekauft haben. Es wird 
daher gebeten, auf die Haus: 
nummer 35 und die Firma „Otto 
Webers Trauermagazin“ zu achten. 





Criginalrezept. — Weife 
Hitben, 6 Perfonen. Zu— 
bereitungszeit 1 Stunde. Die 
Rüben werden von der diden 
Scale befreit, in Streifchen ge: 





{ebnitten und in focendem Salz— 
wafer 20 Minuten gefoddt, damit 
fie von ihrer Scarfe verlieren. 
Nun lift man cim quteds Stiid 
Butter heif werden, dämpft darin 
eine jeingeſchnittene Zwiebel, giebt 
die Rüben hinein, ſtreut Salz 
darüber und läßt fie unter öfterem 
Umwenden andünſten, bis ſie eine 
hellgelbe Farbe haben, dann gießt 
man Fleiſchbruhe zu und '/, Stunde 
vor dem Anrichten bindet man 
mit einem kleinem Eßlöſſel an: 
gerührtem Mehl. Beim Anrichten 
fügt man zur Verfeinerung und Be— 
lommlichkeit des Gerichtes 1 Eß 
löffel Maggi⸗Würze bei. A. u. R. 


Apothefen und größe 


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der Zeit. 


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Das Buch dient 
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denen, «die, 


hinaus corwidrtawollend, 
den Zeichen lev Zeit mnversichtlich 
gegeniiberatchen, 


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254 





Bekanntmachung. 


An der hieſigen ſtädtiſchen 
Handels⸗ und Gewerbeſchule wird 
die Stelle einer 


fciterin 
der Maddenabteilung 


gum 1, April 1904 frei. 

Die Anftellung erfolgt zu— 
nächſt auf Probe. Das Anfangs 
qebalt betragt 2400 Mark! und 
fteigt nad) der enbdgiltigen, auf 
Lebenszeit erfolgenden Anftellung 
in Swifdenraumen von 3 zu 
3 Jahren um je 200 Mark auf 
3000 Markt. Auherdem wird 
nad der endgiltigen Anſtellung 
cin Wohnungsgeld-Zuſchuß von 
B00 Mark gesablt. 

Die Stelleninbaberin erwirbt 
Rubegehalts - Berecdhtiqung nad 
Mafgabe der fiir Staatsbeamte 
geltenden Vorſchriften. 

Melbungen mit Lebenslauf und 
beglaubigten Zeugnis Abſchriften 
find bis zum 10. Dezember d. 2. 
an uns cingureicen, 

Austunft über Urt und Umfang 
ber dienſtlichen Pflichten d. Leiterin 
wird der Direftor der Schule 
Herr Stille auf Wunſch erteilen. 


Guelen, d. 26. November 1903. 
Der Magiftrat. 


Auejug aue dem 
Stellenverm —— 
deo Allgemeinen drutſchen 

Lehrerinnenvercins. 
Sentralleituna: 
Berlin W. 57, Culmitrafie 5 pt. 


1, File cine Privatſchule in Heſſen⸗ 
Naffau wird gu Ofterm 1904 cine 
file bébere oder Bolfefhulen gepriifte 
Lebrerin fur den Elementarunterricht 
geſucht. 80) «Kinder, Anaben und 
Madchen. Anfangsachalt 1000 Wart; 
angenepme Stellung. 








2. Gin Penfionat am Gary fudt 


pum 1. Nanuar oder Oftern 1904 eine 
wiſſenſchaftlich geprilfte, 20—~0 jabrige 
Yebrerin file den ſprach⸗ und wiſſen⸗ 
foaftlicdben Unterricht. Engliſch und Fran⸗ 
pofiich im Ausland Gebalt 800 Wart, 
falls Mavierunterridt 
fann, 1000 Wart. 

3. Eine beftrenommicrte Privatſchule 


in grofer Stadt Mittel deutſchlands fudt | 


zum 1. 4 «14 eine wiſſenſchaſtlich 
geprüfte ebrerin fiir die Mitielftufe 
und ben franjofifden Unterricht, Fran⸗ 
adfif tm Ausland. Gebalt 1400 Mart, 
ſteigend 016 1800 Wark, Nad fefter 
Anftelung Ginfaunf in Penfionstaffe, 


Mlaffenftirte 15—20 Sdhiiler; Stunden 
gabl 22—24 widentlic. 





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Silo. Medaille. Neue Kurſe: Anf Jan, April, Quli Ott, Penhon im Haufe. 


Kassel, rang: Frovel-Seminar 


(vormals im Comeniushause). 


Staatlid tongejfionterteds Seminar jur Nudbilrung von Todtern der gebilbeten 
Stande (16—36 Sabres gu Erzieberinnen in der Famuie und Leiterinnen von Kindere 
adrten, vorten und anderen Arbeitsſeldern der Dtafonie. Nabereds durch bie Leiterin 
Hanna Mecke ober det Borjigenden des Nuratoriums: Weneralfup. Pleitier in Kassel. 


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Aufnahmebedingung: Die abgeſchloſſene Bildung der loklaſſ. höheren 
DTochterſchule. Aufnahmeprufung. 


Swed der Antdalt: Grundliche theoret.prakt. Musbilbung f. angefehene, 
gutbefoldete faufm. Etellungen, fowie wirtſchaftl. u. foziale Selbfrindigteit. 


Kehraang 2idhrig: a) Särntliche theoret. und pratt. kaufm. Fader einſchl. 
Birtſchafts⸗ u. Betriebslebre, Gelde, Rredite, Bantwejen, Handeldgeographie zc. 
b) Spraden. co) Allgemein bildende Fächer: Muffay, deutſche, frangdfifehe, engl. 
Stenographie zc. 


Must, Damen twird in guten Familien paffende Unterfunft vermittelt. 
Auskunft, Profpelt, Jabresbericht durch Direltor Kepe, Rlapperbof 29, 
Der Direltor. Das Auratorium. 








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tin Bud fic Manner und Frauen, Vergeiratete und Ledige, alt und jung von 
Johannes Wiiller. 
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Dag beite, reiffle umd ticiite iiber die Fraueufrage, die Svan in und 
auger der Che nnd iiber die Srauendemegung, wae ic je gelesen. 
Prof. Simmer im ,,Sranendientt™. 


Der Verlag der Griinen Satter in Leipsig. 


4. Cine Schule in grbfterer Stadt | 
Norddeuthidhlands fucde gum 1. 4 1906 
cine wiſſenſchaftlich geprufte Lebrerin 


tm Alter von 22—35 Jabren far | 
Mittele und Obertlaſſen. Schiilerjahl | 
ca 25; Stundenzahl 22 wöchentlich. 


@ebalt 1200 Mart. 

6. Cine Nuratoriumjdule im der | 
Prigniy fudt um 1. 4. 1904 eine 
Lebrerin mit abgelegter eder beabſich igter 
Vorftebecrinnenprilfung. 50 Scbiilerinnen | 
in 4 Slaffen. Stundenzaht 16 bis 
20 widentlic); Gebalt 1500 Mark, freie | 
Bobnung und Heuung. 

6. Cine Familenidule in der 
Mart Branvenburg ſucht gu Oftern 1906 
cine wiſſenſcha ſtlich gepriifte Lehrerin. 
10 Ainder aller Altersſtufen find in allen 
Fachern einer boberen Tochterſchule gu 
untercubten, Stundenzahl 24 wochent⸗ 
lid. Gebalt 1200 Mart. 

7. Gine bbbere Privatſchule in der 
Proving Sachſen ift yum 3, 4. 1904 oder 
friver yu verfanuien, die einzige am Ort. 
40 Minoer in 3 Klafien, 8 Jabrgange. 
Aaufpreis 1500 MW, eventuell mwewiger. 

8. Gine Madoden Mittelſchule in 
Refifalen fucht au Ofterm 1904 eine in 
Klaſſenunterricht ecfabrene, wiſſen ſchaſtlich 
geprufte, 25—S0jdbrige Lebrerin. Unter: 
ridtafdder: Religion, Deuthh, Geſchichte 
Geograpbie in Rlaffe Il, eventucll 
Franzofiſch oder Rechnen in Mlaffe IT 
oper auf tieferen Stuſen. Alaſſenſtärte 
ca 30 Madden von 14—16 Jabren. 
Stunbengatl 24 wochentlich. Echalt 


1500 Wart, fteigend bié 1800 Bart. 


Meldungen erbeten an de Sentrale 
der Stellenvermittlung: 
Culmftrafe 5 pt. 


Berlin W. 67, 








Diefer Nummer liegt cin 
Profpelt der Firma: 

fh. Griebens Verlag 

(£. Fernan), 
Leipsig. 

bei, den wir befonders gu be | 
achten bitten. 
(See ie ee — ⸗— 





| gibt Penfion fite 2,60 INE bis 4,560 WNL. 


Anjcigen. 


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Berantwortlich fiir bie Redattion: Gelene Lange, Berlin. — Verlag: W. Woeſer Vuchhandlung, Berlin 8. — Deud: W. Roeſer Buchdruderei, Berlin 8. 


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aVh ay ae Februar 1904 282 


ee 11. Jahrg, res 



















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Herausgegeben BS 8 






Verlag: 
W. Moeſer Sudhaudiung. 
Berlin S 


bon 


Maelene Cange.- 


Vie Suche nach dem freien Weib. 


Eine Epifode aus der Saint-Simonijtifdhen Bewegung. 


Zon 


Dr Georg Miſch. 
Radhbrud verboten. — — 


m Beginn des 12, Jahrhunderts ſah man einen Laien, genannt Tanchelm, der 
von den Inſeln Seelands gekommen war, mit ungewöhnlichem Erfolge unter 
dem Volk von Flandern und der Markgrafſchaft Antwerpen predigen und Anhang 
gewinnen. Der Kern ſeiner myſtiſchen Lehren iſt ſehr ſchwer feſtzuſtellen, ſeine ſozialen 
Forderungen, ſein Kampf gegen den Zehnten, auch wohl ſeine freie Moral mochten 
ihm die vielen Adepten zuführen. Faſt alle Hiſtoriker haben in ihm einen Vorläufer 
Johanns von Leyden und der Wiedertäufer geſehen. Er erklärte die Klöſter für 
Bordelle, das von den Prieſtern bereitete Altarſakrament für nichtig: aus den Ver— 
dienſten und der Heiligkeit des Miniſters erſtehe die Kraft der Sakramente, und die 
Kirche ſei nur bei ihm und den Seinigen; da er die Fülle des heiligen Geiſtes 
empfunden habe, ſei er ebenſo Gott wie Chriſtus. Er bildete eine Gilde von zwölf 
erleſenen Männern, welche die zwölf Apoſtel darſtellten, eine Frau lebte mit ihnen 
als die Jungfrau Maria, und eines Tages ließ er ſich vor der Menge des Volkes, 
dem er predigte, ein Bild der heiligen Jungfrau bringen und verlobte ſich mit ihr. 
Von Brügge ausgewieſen, fand er in Antwerpen günſtigen Boden, und ſein Anhang 
wurde ſo groß, daß kein Fürſt ihm entgegenzutreten wagte. Im Jahre 1124 oder 
1125 wurde er von einem Geiſtlichen erſchlagen. 


* * 
* 


17 


258 Die Suche nad bem freien Weib. 


Gs gibt aud cine naturaliſtiſche Myſtik, und die Motive, von denen dad 
menfeblide Dichter und Denken in feinesivegs febranfenlofer Fille zehrt, kehren auch 
in Dem 19. Jahrhundert in neuer Gewandung wieder. 

Die naturaliftifde Geijtesrichtung ijt heute eine erſte Macht in dem Leben der 
Kulturvilfer, nicht nur als Philoſophie, fondern auc al Religion. Einen 
poſitiviſtiſchen Gotteddienit fann man, wenn aud nicht in deutſchen Landen, fo dod 
in Franfreid) und England befuchen, in Schweden oder Amerika, wo die Errichtung 
der Republi Brajilien anno 1879 ein Werk der Pofitivijten qewefen ijt. Conntags 
11 Ubr 15 Minuten findet man die humanitäre Sefte in ihrer Kapelle vereinigt zum 
Rult der Menfehbeit, deffen genaue Seremonien nod) Auguſte Comte aufftellte: ,,Liebe 
als Prinzip, Ordnung als Grundlage, Fortſchritt als Siel, Leben fiir den Mitmenſchen 
und fiir den grofen Taq”, fo beginnt der Anruf der Gemeinde, und in Gebet, Vor: 
fefung und Predigt erſcheinen die neuen myſtiſchen Symbole als bewußte religidfe 
Fiktionen: Das einzig reale ,Grofe Weſen“, die Menſchheit, „der große Fetiſch“, die 
Erde und der Raum als „das grofe Milieu”. 

Die Urfpriinge diejer Bewegung filbren suriid in die grope Zeit der Aushildung 
der mathematijden Naturwiſſenſchaft, deren zugehöriger philoſophiſcher Ausdruck der 
Naturalismus oder Pofitivismus ijt; in dem Frankreich der d'Alembert und Turgot 
und der friiberen Enzyklopädie wurde der ftrenge Standpunkt de3 engeren, franzöſiſchen 
Pofitivismus formuliert, der die Philofophie als eine Generalijation der fort: 
ſchreitenden Naturwiſſenſchaft faßte, und in einer fontinuierliden von philoſophiſcher 
Beſinnung begleiteten wiffenfebaftlicden Bewegung war der von Descartes her vor- 
bildliche franzöſiſche Geift der abjtraften Freibeit und rationalen Gejtaltung enthalten, 
Der in dev großen Revolution jeine Triumphe feierte. 

Diefer franzöſiſche Geift mit feinem Glauben an die Abftraftionen läßt ſich in 
jeinem fontinuierlichen Wirken bis in die Adeale der Frauenemanjipation verfolgen; 
er war wirffam in der grofen naturwiſſenſchaftlichen Bewegung, welche, mit der 
Pbvyfiologie bis an die Grenze der Wiſſenſchaft vom Menſchen vorgedrungen, ſich in 
der Hevolutionsseit an die Schbpfung einer ,fozialen Phyſik“ beqab; er war wirffam 
in Condorcet und in den Arbeiten der moraliſch-politiſchen Klaſſe de3 Inſtitut de 
France, welche Gefeggeber, Philoſophen, Rechtsgelehrte yur tationalen Heorganijation 
der Geſellſchaft aufriey, war wirkſam binter den Mauern der neugegriindeten Ecole 
polytednique, deren Schüler, zur Fiinftigen Leitung der Gefellfchaft berufen, in ibrer Logit 
der Ubftraftionen cinen phantaſtiſchen Enthuſiasmus und cine Religion von Brüderlichkeit, 
Aſſoziation, Hierarchie entwidelten. Saint-Simon und feine Schule fo gut als Comte 
haben bier ibre feften Wurzeln. Saint-Simon, auf deſſen Perſönlichkeit ſchließlich all dieſe 
ſozialen Projefte zurückführen, zeigt im Bilde die zügelloſe Ausſchreitung des abjtratten 
wiſſenſchaftlichen Geiftes, aus der auch das Ideal ded freien Weibes hervorgegangen ift. 

Unter den ftreng wiſſenſchaftlichen Köpfen, die ibn umgaben, dieſen Matbematifern 
und Raturforfdern, ijt Caint-Simon ein Menſch, weldem alle Methode und Kritif, 
jede Ronjentration ju ftrenger, gründlicher Arbeit fernliegt. Wie er nach einem wilden 
Xeben, das ibn nad) Amerika trieb, um am Unabbangigteitsfampfe teiljunehmen, dann 
ibn durch aller Herren Lander fiihrte, mit grofen Brojeften, Randle yu bauen und 
einen indiſchen Mufftand als Gegenftiic des amerifanifden zu organifieren, bid er 
ſchließlich in Dem Frankreich der Revolution vor Spefulationen mit den Nationalgiitern 
nicht zurückſchreckte, und nad) dieſen Lebens-,,Erperimenten”, wie er eS nennt, endlich 


Die Suche nad bem freien Weib. 269 


in der Wiffenfdaft den Stoff fiir feine Genialitat fucht, ijt er von dem Willen 
beberrjdt, irgend etwas gany Gropes aufjufiibren. Um den Status der Wiſſenſchaft 
aufjunebmen und die erforderliche grofe Leiftung, die er vollbringen wird, feſtzuſtellen, 
begibt er fic) unter die Naturforfder, und auf glanjenden Banketten, wo er die 
Profefforen auch der polvtechnifeben Schule um fics verfammelt, fudt er in Geſpräch 
und Dishuffion die Wiſſenſchaft an der Quelle zu erfaffen. Es läßt fic nachweiſen, 
wie in dieſem Berfebr der ganje Zufammenbang von Sagen, Ydealen und Forderungen, 
den die naturwiſſenſchaftlich-poſitiviſtiſche Bewegung erarbeitet hatte, auf Gaint-Simon 
überging. Immerfort gären fie nun in feinem Ropfe. Wie er die PBratention bat, 
der weltumivendende Pbilojoph des 19. Jabrhundert3 ju fein, zur Löſung der größten 
Probleme berufen, erqreift er fogleich die höchſte Adee, an deren Verwirklichung ſoeben 
die grofe Unterrichtsreform arbeitete: ſpſtematiſche Reorganifation der Geſellſchaft, 
bafiert auf dem Zuſammenhang der pofitiven Wiſſenſchaften, Erhebung der pojitiven 
Wijfenfchaften zur leitenden Macht in der Geſellſchaft. Wie der Aufruf yur Löſung 
diefer Aufgabe fics durd all feine Schriften hindurchzieht, erbalt fein unjtites Denfen 
eine gewijje Einheit. Die Aufgaben lagen vor ifm, und immer nen fest er an, fie 
zu löſen, und erflirt, nun wirklich reif yu fein, nun endlich die Wahrheit gefunden 
zu haben. Er gründet Zeitſchriften, zieht junge Gelebrte wie Auguſtin Thierry und 
Augufte Comte zur Mitarbeit beran, er appelliert immer wieder an die erſten Forjder, 
fendet ibnen feine Programme und Entwiirfe, fie mögen beſſern und vollſtändig machen, 
er plant eine europäiſche Organifation der wiſſenſchaftlichen Arbeit, die großen Werte 
ausjzufiibren: — was er felbft wirklich leiftet, fort fiber die pompöſe Ankündigung 
wenig binaus, und alles ijt Fragment. Aber er ijt eine außerordentlich lebendige 
Perfonlicfeit, ein Agitator mit großer Macht über andere Menſchen. 

Die legste Phaje in Saint-Simons Denfen war durch das „Neue Chriſtentum“ 
bezeichnet, und bald nach feinem Tode war die prieſterliche Genoſſenſchaft organifiert, 
welche Die neue diesſeitige Moral ins Leben überzuführen beftimmt war. Comte 
batte fic) von Saint-Simon losgeſagt, als diefer zu diveften praftijden Reform: 
projeften tiberging. Die wiſſenſchaftliche Erfenntnis der Geſellſchaft und die darauf 
zu bauende Moral febien ibm die nächſte unerlafliche Mufgabe: „mit der weltlichen 
Reorganifation beginnen, das ijt die umgefebrte Welt, ijt buchftablich der Pflug vor 
dem Cebfen.” Die Saint-Simoniften haben doch mit ihren praktiſchen Reform: 
projeften feqenvoll gewirtt; Crrictung von Kreditinſtituten, Eiſenbahnen, großen 
öffentlichen Arbeiten ijt iby Berdienft, und der Suez-Kanal ijt ein Werf, deſſen Adee 
auf diefe Kreiſe zurückführt. Das war freilich erjt, nachdem fie auf die Utopien ibrer 
Jugend verzichtet batten, Es ijt befannt, dah auch die Emanzipationsbeitrebungen 
der Frau ibrem Programm angebsrten und von ibnen her dem ,,jungen Deutſchland“ 
vermittelt find: es war die originale Idee des Saint-Simoniſtiſchen Hoheprieſters 
Enfantin, daß erit die Erſcheinung des „freien Weibes“, der ,,Femme-Messie“, 
die Bollendung der neuen Moral und Geſellſchaft ermbglichen werde. Der gefchicht 
lice Uberblick bat fic verlobnt, wenn nunmehr deutlicd wird, daß dieſes Adeal des 
freien Weibes cin letzter Musdrud desſelben abitraften Geiftes iit, der von der all: 
gemeinen Idee rationaler Gejtaltung big in die pofitiviftifche Myſtik wirkfam war. 
Und nun mag die theatralijdde Komödie vom freien Weib beginnen. Beftrebungen, 
Die heutyutage wieder bei uns als neu und modern ſich breit machen, erfcbeinen bier 
in ihrem gefcbichtlichen Spiegelbilde als längſt dageweſene Pofe. 

17* 


260 Die Sue nad dem freten Weib. 


Die Saint-Simonijtijche Theofratie war organifiert. Silvefter 1829 war die 
abfolute oberjte Gewalt in die Hinde der beiden Oobepriefter Bayard und Enfantin 
geleqt worden, mit einem Friedensfug war, in Nachahbmung der urchriſtlichen Ge- 
meinde, die Feierlichteit geſchloſſen worden. Cine Hierarchie, gefondert nach den Ge: 
feblechtern, war aufgeridjtet: auf die beiden ,, Biter”, welche nach autoritativem Prinzip 
einem jeden feine Stelle amwiefen, folate ein engereds „Kollegium“, und auf einen 
zweiten Grad die Majje der Neophyten; innerhalb jeden Grades nannte man fic 
Bruder, fonft Vater oder Sohn, und Enfantin dugzte feine ſämtlichen Kinder” und 
hat ibnen nie mit Geld, Rat, tätiger Verwendung auriidgebalten. Man fpottete wobl 
iiber die ,Briefter von Memphis”, und Benjamin Conjtant zählte die Geifeln ber, 
die , von oben kommen“: Schnee, Hagel, Blig.... „Sie vergeffen das Licht,” 
entgegnete Bazard. 

Die Frauenfrage war gleich die erjte grofe Angelegenheit, die bei der Felt: 
ftellung des moralijchen Dogma die Gemeinde in Aufrequng fepte und zu fprengen 
drobte. Saint-Simon jpricht in feinen Schriften nirgends von den Frauen; aber fein 
legter getreuer Freund iiberlieferte feine Worte: „Das foziale Andividuum, das ijt 
Mann und Weib.” Enfantin nabm den Gedanfen auf. Die Emanjipation der Frau 
war als das notivendige Romplement der Emanjzipation des Proletariat gegeben, 
Unterricht und Unabbingigfeit fir fie gefordert; nun follte in der neuen Gefellfcbaft 
jede Funktion durd ein ,, Baar” erfiillt werden, und aus „Paaren“ von Priejter und 
Priejterin der künftige Klerus ſich yujammenfegen. Wie die alle den Richtungen ge: 
meinjame Formel lautete: aus der Geſchichte die Erfenntnis der Sufunft und von ibr 
aus die Beſtimmung der Gegentwart, fo erfchien in der offisiellen Zeitſchrift, dem 
„Organiſator“, durch die Typen marfiert, der Syllogismus: der Mann gedenft der 
Vergangenheit — die Frau abnt die Sufunft — das Paar fieht die Gegenwart. Die 
Vorjtellung blieh zunächſt nod) in den Schranken der katholiſchen Moralitat: „eine 
Wolfe von Weihrauch“ follte Priejter und Priefterin trennen, und als ein junger 
Anhänger ein geliebtes Madchen zur Frau begebrte, verbot ibm Vater Enfantin die 
Che: es gezieme fich nicht, daß einer der Begründer der neuen Religion dieſe ver— 
altete foziale Form adoptiere: „Prieſter und Priefterin find ehelos aus Notwendigfeit 
und Wahl; aus Not, um die Bindung an die Familie yu vermeiden, aus Wahl, weil 
die Menſchheit ibre Familie ijt.” Und der junge Märtyrer versichtete und wandte fich 
an Den Klerus der Zufunft: „Ihr feid rein wie die Engel, und die Liebe der Engel 
allein ijt euch befannt.” 

Die haldige Bekehrung zur freien Liebe Fam wie hei Bebel durch die fcbonungs- 
loſe Logit des Theoretifer’. Der allmächtige „Vater“ follte auf die Kinder mit allen 
Mitten wirken finnen, das Fleiſch war heilig wie dev Geift, fo war den Oberen, 
Mann und Weib, der gefcblechtliche Verkehr mit den anderen zu geſtatten. Auch die 
pſychologiſche Begründung feblte nicht: eS gäbe jtetige Naturen und folche, die der 
Abwechslung bedurften: Othello und Don Duan; in der Che finden nur die Stetigqen 
einſeitige Berückſichtigung; das Priejterpaar aber babe an beiden Naturen teil, während 
jie einander leidenfchaftlich lieben, lieben Prieſter und Priefterin auch ibre Untergebenen 
und dürfen es ibnen, gumal im Moment der Beidte, geigen . . . „Ich kenne,“ ſchreibt 
Enfantin ſeiner Mutter, „gewiſſe Lebenslagen, wo ic) meine Frau allein fiir fabig 
halten wilrde, einem meiner Söhne in Saint-Cimon Gliid, Gejundbeit, Leben ju 
geben.” 


Die Suche nad dem freien Weib, 261 


Es waren vielleicht die leidenfchaftlichiten Crirterungen, die je über dieſe Fragen 
gefiibrt worden find, als im Sommer 1831 die Aufftellungen Enfantins im Kollegium 
sur Entſcheidung ftanden; der Hoheprieſter hatte an feinem Genoffen, dem Realpolitifer 
Bazard, feinen Gegner, und nun fiibrten fle — nad langen, gebeimen Kontroverſen — 
in einer drei Monate langen, ganze Nächte durchdauernden Disfuffion ibren Zweikampf 
vor dem nächſten Grade männlicher und weiblicher Anbanger auf. Cine bis yur 
Krankhaftigkeit gejteigerte Erregung bemächtigte fics der Verjammlung, Ekſtaſe und 
Propheseiung war nichts Seltenes, die neue Nhung, dah jeder, von den Bitern an, 
cine Lebensbeichte in diefen Sitzungen ablegen mufte, fteigerte die Temperatur. 
Zwiſchen den feindlicen Gruppen ftand Comte jich fammelnd, Sainte-Beuve jaudernd, 
VBeranger mit dem Gedanfen an feinen Gefang der Verviidten. Das Ende war ein 
Schlaganfall Bazards und das Shisma — „er ijt vom Blige getroffen worden,” 
ſagte Enfantin: fo disfutierten fie bis an die Schivelle des Todes. 

Aber aud der Sieger Enjantin felbft war ju der Einſicht gekommen, daß feine 
Aufftellungen nocd unfertig waren; fo follte vorläufig die alfe Yebensweife beibebalten 
werden und als Ausdrud des proviforifcen Zuftandes die Hierarchie fiir die weibliden 
Adepten aufgeboben werden: aus den Reihen der Frauen felbit wird der Meſſias 
erjteben, dad ,,freie Weib”, die ,, Mutter”, die Femme-Messie, die durch ihre Vereinigung 
mit dem Vater das höchſte Paar, ,Le Couple Prétre* bilden und die Regeln der 
neuen’ Moral endgiiltig feitjegen wird. Die Suche nach dem freien Weib war die 
nidfte Aufgabe. 

Das freie Weih — der Gedanke war merkwürdig genug, und es war unrecht 
und unnötig, dab das noch herrſchende Geriicht ein mißverſtändliches, sweideutiges 
Spiel mit dem Worte Freibeit hineinmengte. Cine fluge, kühne, aufrichtige Frau, die 
nachgedacht bat über das Los ihrer „Schweſtern“, ibre Bediirfniffe fennt, ibre Fähig— 
feiten, in die der Mann nie völlig eindringt, ergriindet bat, fie foll fommen und 
rildbaltlos Beichte ablegen, das Gebeimnis ihres moralifchen, intelleftucllen und phyſiſchen 
Wejens ausliefern und fo die unentbebhrlicen Elemente bieten fiir die Erklärung der 
Rechte und Pflichten der Frau. Nicht viel fiber ein Jahrzehnt war es her, dap 
Caint-Simon, als der bedeutendjte Mann feiner Seit, an Madame de Staél, als 
die bedeutendjte Frau geſchrieben hatte, fie folle ibm belfen, der Menſchheit 
ihren neuen Meſſias zu ſchenken; die Dame, in der Geſellſchaft ihres Geliebten, lachte 
und antwortete nicht auf die Einladung. Wn ihren Pla fehien dann George Cand 
berufen: ibre erſten Romane famen, als der Saint-Simonismus gerade das meifte 
Auffeben machte, fie war offenbar von der Schule beinflupt, es Hang wie cin Empörungs-— 
feret gegen die Allmacht de3 Mannes, und man madte auch einen direkten Verſuch, diefe 
Lelia filr die Doftrin zu gewinnen; es war vergebliche Mühe, und wvollends fant die 
Enttäuſchung, als Ende der Mer Jahre ibre mit dngftlider Spannung erwarteten Memwiren 
erſchienen und nicht? weniger brachten, denn eine riidbaltlofe Beichte der Frau. 

Inzwiſchen hatte Enfantin in dem klöſterlich geregelten Leben, das er in Menil- 
montant mit 40 erwablten Apoſteln in fymbolifd yur Schau geftellter Arbeit fiibrte, 
ein neues Schulkoſtüm erfunden, das der Sebnfucht nach der Mutter Ausdrud gab. 
Ru der weifen Hofe, dem violetten Rod und der zum jteten Gedenfen an da3 Bediirfnis 
briiderlicher Hilfe rückwärts zujufndpfenden Weſte — weiß die Liebe, violett der Glaube, 
tot die Arbeit — gebirte cine Halsfette aus Rhomben, Zirkeln, Triangeln als religidfen 
Symbolen; fie ſchloß in einer Halbfugel mit der Aufſchrift „der Vater“: an dem Tage, 


262 Die Suche nad dem freien Weib. 


wo man die Mutter finde, follte die Kugel vervollftindigt werden. Dann fam die 
unvermeidlice Unklage wegen Verlegung des Vereinsgeſetzes und der öffentlichen Sitten. 
In dem großen Moment, vor den Gefchworenen, erklärte Cnfantin: , Wir hoffen alle, 
dah cine Frau fommen wird, Meffias ihres Gejchlechts, welche die Welt von der 
Projtitution befreien foll, wie Jeſus fie von der Sflaverei erlöſt hat. Diefer meffia- 
niſchen Frau bin ich ein Vorläufer, ich weif es; ich bin fiir fie, was Johannes fir 
Sefus war. Da ijt all mein Leben, da ijt das Band all meiner Handlungen, fie find 
logiſch verkettet, denn fie fliefen alle aus meinem Glauben an die Frauen.“ Cr hatte 
doch bereits eine Dame, Julie Fonfernot, eine Republifanerin aus der Julirevolution, 
die fic) zur ,, Mutter” angeboten hatte, zurückgewieſen. Und von feiten feiner Schiiler 
tief man ibm zu: ,,Sie wird ju euch fommen, von Bewunderung ergriffen fiir ever 
Genie, cure Ausdauer, eure Hobe Gefinnung; fie wird zu euch kommen im Cölibat, 
in der Niedrigkeit, in der Armut, im Schmerz, in der Wüſte; denn fie ift Chriftin, 
Und fie wird euch erweden jur Che, jur Familie, yu Reichtum, Erhöhung, zur 
Freude, zur Welt; denn fie ijt Heidin . . .” 

Sie fam nicht. Und nun follte er auf ein langes Jabr ins Gefängnis Sainte: 
Pélagie! Cr wandte fics im Gebet an Gott, febrieb fiiglidy aud ben langen Erguß 
nieder und nannte ibn: L'Attente. Es ijt ein genugfam bedeutendes Dofument, um 
auszugsweiſe Mitteilung yu verdienen; in all’ der Verſchwommenheit und melodrama: 
tijden Aufputzung gelangen doch bier auch berechtigte Gedanfen und Wünſche, wie 
die Befreiung von Projtitution, Ehebruch uſw, in wirkfamer Form zu enthuſiaſtiſchem 
Nusdrud. 


@rofer Gott! ich babe deinen Willen erfüllt, ich harre auf dein neues Wort... Ich barre... 
Du hatteſt mics geſchaffen verlangend nad deinen Freuden, nad deinem Ruhm; mitten in ciner Welt 
eiſeslalt vor Atheismus, hatteſt du auf mic alle Strablen deiner Liebe gelentt, meine Seele bat gegliibt, 
doch noch ift fie nicht erlofden, und ich barre . 

Ich habe deinen Willen erfüllt, ich babe gebordt, du bift yufrieden mit mir, ich fühle es: ih 
fille es in dem Glauben der Hinder, die mich umgeben und in dem Hah der Menfehen, die mich guriid: 
ftofen, aber dein Wort der Liebe fagt es mir nocd nicht, ich harre und horche. Ich barre, und die fife 
Stimme, die du mir verheißen haſt, fie ſchweigt! Wie diefes Schweigen meine Seele drückt! Und dob 
dant icp dir, o mein Gott . . . denn du batteft dich mir geſchenkt in der Fülle ber Gnade, auf bah du 
burd deinen Gobn cin Seichen gäbeſt, daß cS Deine Tochter bére. 

Deine Tochter! Bater, ich Habe gefproden, und fie kommt nod nit, aber fie bat mich gebdrt; 
nicht, fo ift es? Ich Habe geſprochen mit allen Kräften meines Lebens, ich habe nichts vergeffen von den 
Gaben, die bu mir gejdbentt, alles, auch bie Liebe meiner Mutter, babe ich dir aufgeopfert: Bater, ou 
wirft fie mir wiedergeben, 

Herren, Harren! Was fie tun mag yu diefer Stunde? So flange ift’s, daß ich fie liebe! Sag’ mir, 
mein Gott, fag’ mir, ob fie mich auch ſchon liebt, fag’ es mir, id) werde die Kraft baben, gu barren, fag’ 
init nur, ob fie nocd) etwas fordert von mir, du weift es, ich bin bereit, befiehl. 

lind dieſe Rinder, bie deine Gilte mir gegeben bat, Bater! ... Gite leiden, denn unter ben 
Menfden haſt du fie auserwablt ale Menſchen voller Liebe und Sehnſucht, fie leiden, denn die Apoftel 
ber Befrciung deiner Töchter können nicht lange leben, beraubt der Hälfte ihres Lebens; ſie leiden, und 
doch, ſchau bin auf fie, ihre Geduld barrt, daß id) dich bitte und du mich erhöreſt. — — — 

Habe ich dod) nod) nidjt genug getan, auf daß fie uns liebe? Kann fie nod zweifeln an unferer 
Liebe für das Bolt und fiir fie? O ja, ich fühle eS, du baft meinem Wort alle Kraft gegeben, die dein 
Wort im Menſchen hat; aber du bift nicht nur Wort. — Welten! Welten! ihr lebt dad Leben meines 
Motteds! Erde, wie fin du Gift! Du, du mußt mich hören und fehen, gu Menſchen nur babe ich 
no gefproden, Menſchen nur mid geacigt. Mächtiger, ftarfer Gott! Gott der Tatfraft und ded Muted, 
bie Erde, auch fie ſpricht dein Wort, und ich bore fie, wie fie mir ruft: Wo tft dein Beweis yon 
Mut und Kraft? Yoh fenne dich nicht. Menſch, weißt du, wie die Menſchen meinen Schoß aufreifien, 


Die Suche nad) dem freien Weib. 263 


mid) trinfen mit ihrem Schweiß, auf daß ich fie gouge und nabre? Bift du Proletarier? — Menſch, 
weift du, wie id mit einem Mantel von Stein die Menſchen bedede, die Gold in meinen Eingeweiden 
fucben? Haft du meinen Leib gerfprengt? — Menſch, weißt du, wie die Menſchen mich febmiiden und 
ſchön machen mit Stadten und Wäldern und Ernten? Haft dui gebaut, gepflangt, geſät? — Menſch, 
weißt du did) zu bemachtigen der Kraft, die ben Raum erfiillt, weiß du fie au Lenfen und. fie mir 
zurückzugeben, verftarft dDurd die deine, um mein Leben gu nähren und mich mächtiger gu machen und 
reicher? Biſt du Volk? — Nein? — Nunwohl, ich kenne dich nicht’. 

Mächtiger, ftarter Gott, Gott ber Tatfraft und bes Muted, fie wird mich fennen! Du baft nicht 
gewollt, daß auf meinem Körper von Mindheit an robe Arbeit afte, bu baft mic nicht alé Proletarier 
geſchaffen, aber du baft mich gum Menſchen gemacht, bu haft mir dein Leben gegeben in Kraft und Mut, 
denn ic) habe deine Liebe. Sie wird mid) Fennen. 

Ja, Vater, ich habe nod nicht genug getan fiir den Ruhm deines Namens . . . Deine Todter 
fennt mic) nicht! Ich fann vorübergehen an tbr, und thr Blick haftet nidt an mir; man fann mich nennen 
bor ihe, und ibe Herz ſchlägt nicht ſchneller. Mächtiger ftarfer Gott, du baft deine auserwiblten Söhne, 
denen du file Sabrbunderte dad Schidfal der Welt anvertrauteft, auf barte Proben geftellt; Mofes in 
der Wilfte, Sefus an einem Kreuz, Mahomed inmitten der Kampfe, Saint:Simon im Clend.. . Aber, 
Vater, einer von ihnen bat es unternommen, die Frau gu erretten aus ibrer Hörigkeit und fie mit ibr 
zu vereinen durch bas freie Band deiner göttlichen Liebe, keiner von ibnen ift wahrhaft geliebt worden 
von ihr, feiner bat fie fo geliebt wie ich fie Liebe, feiner bat deinen Namen befannt in der Liebesd: 
leidenſchaft, die mir Leben gibt. 

. . « Gott der Giite und’ Wahrheit, du, der du mich auserwählt haſt, daß ich Proftitution und 
Ebebrud vertilge aus der Mitte deiner Söhne und Töchter, babe ich nicht genugiam bewieſen, dap du 
mir die Kraft verlieben hatteft, die über die egoiftifchen Wffelte ber Herren triumpbiert, umd den Freimut, 
ber die ehrgeizige Aralift ber Sflaven zuſchanden werden (aft? Ich habe Tranen, heife Tranen gefeben 
in ben Mugen von Mannern, die nie geweint batten, da ich in deinem Ramen gebot, die Ketten der Frau 
zu brechen; und ich babe gefeben, wie bie Mugen von Frauen troden wurden und nicht mehr weinen 

‘fonnten, da ich bie Feſſeln löſte, an die fie fic) gewöhnt batten... Bater, ich habe dich gefegnet in 
meiner Ginfamfeit, aber id diirfte nun nad deinem Segen, dod ich bin cubig, teh barre, meine unge: 
duldige Hand wird night Verwirrung ſchaffen und dic Schneide deiner Berheifung erraffen wollen; ich 
weif, daß du fie erfitllft mit cinem Liebestrank, ic) will barren, dod} mid) dürſtet febr. 

Vater, ich Hage nicht. Haft du mir dod) Kinder aegeben! Jn deiner Gite haſt du mid) glück— 
licher gemadt als Sefum! Sie find meine Kinder und nicht meine Schiller, ich werde nicht gu bir ſprechen: 
Bater, warum haſt du mich verlajfen? Sie lieben mich, ic) werde barren... Mein Glaube lebt, ih 
werde barren.” 


Während Enfantin die unfreiwillige Muße in Sainte-Pélagie dazu benugte, um 
bie Saint-Simoniftifden Dofumente zuſammenzuſtellen und abjebreiben zu laſſen und 
jo die Archive vorjubereiten, die von dem menſchlichen Geſchlecht einſt fo eifrig würden 
zu Rate gezogen werden, wirkte draußen feine Erfindung vom freien Weib in cinem 
poſſenhaften Rachjpiel fort. 

Für das Jahr 1833, als der achtzehnten Hundertjahres-Wiederkehr von Chrifti 
Todesjabr, hatte ex cin großes Ereignis prophezeit; natürlich mußte dad die Erſcheinung 
des weiblichen Meſſias fein, und die neuefte Wendung, die ein Ingenieur und „Mit— 
glied des Kollegiums erjter Klaſſe“ fand, war entfprechend die, da in dem Orient 
die Befreierin gefunden werden miiffe: „Unſere Ahnen haben das Kreuz genommen, 
um dad Grab Criſti su befreien, (aft und einen Kreuzzug wunternebmen, um die Frou 
aus ibrem Grabe zu befreien . . . Mutter, dein bin ich! Dein durchdringender Blid 
wird unter den ftrengen Falten meines Geſichts mühelos das unfagbare Verlangen, ju 
lieben und geliebt zu fein, entdeden, und deine Hand, ſanft und leife, beriibrt meine 
Stirn und glittet die Furden, die das Leiden grub.” Die ,Kompanie der Frau” 
(Les Compagnons de la Femme) war bald gebildet, Enfantin gab aus feinem Ge: 
fangnid den Segen und gebot eine autokratiſche Dissiplin, ftrenges CHlibat und religidfe 


264 Die Suche nad bem freien Weib, 


Nbungen, früh ju Chren der Mutter, abends zu Chren des Vaters. Verſchiedene 
Broſchüren erfcienen in Loon mit dem Titel: 1833 oder das Jahr der Mutter. 

Die zwölf Ritter der Frau beſaßen Idealismus genug, um fic bei ibren frappen 
Geldmitteln als Erntearbeiter und Matrofen bis nad) Ronftantinopel durchzuſchlagen. 
Die Türken, denen der Verrückte heilig ijt, refpeftierten die Franzöſiſch redenden Fremden 
in ibrem wunderlichen Koſtüm; fie grüßten feinen Mann, aber vor jedem Weib ent: 
blößten fie das Haupt, und die Legende beridhtet, daß fie niederfnieten. Sultan Mahmoud 
lich fie feftnefnen, aber er gab ibnen bald die Freibheit wieder, als er die von ihnen 
aufgefebte Darlegung ihrer Pringipien fich hatte verdolmetfdren laſſen: „Saint-Simon, 
Enfantin der höchſte Vater. Gott Vater und Mutter; die Frau dem Maine gleicd; 
die Kunſt der Induſtrie gleich; fiinftiqes Leben, Seelenwanderung; Feiner von uns ijt 
Gott, aber Gott ijt in uns; das goldene Seitalter liegt nicht binter uns, wie die 
Dichter fagten, fondern vor uns. An dem Tage, wo das freie Weib fpricht, werden 
die Himmel fid) auftun, und wir werden Gott in jeiner GHerrlichfeit ſchauen.“ Nach 
weiteren Srrfabrten, aud nad Rupland und Smyrna, wo Lady Stanhope eine Rolle 
frielte, wantte denn dod) die Zuverſicht, in einem Harem die Offenbarung der Frauen— 
feele au finden. Die Mifjion löſte ficd auf, und die meijten gingen nad Egypten, wo 
Enjantin, aus der Haft erlöſt, mit Arbeiten fiir den Suez-Kanal begann. 

Das freie Weib beſtand nod eine Zeitlang in Paris fort als Titel einer un- 
regelmafig erſcheinenden Zeitſchrift, welche die Saint-Simoniſtiſche Frauengruppe 
gegründet hatte. Hier erſt vollzog ſich — von Frauen aus! — der volle Fortgang 
zur libertiniſtiſchen Richtung; Enfantins Unterſcheidung von ſtetigen und unſteten 
Naturen wurde verworfen, weil es keine ſteten Naturen gäbe, und es hieß da einmal: 
„Ruhm auch den Frauen, welche ihrem Freiheitsinſtinkt folgend, den Weg unſerer 
Emanzipation geebnet haben! Welches auch immer die Ausſchweifungen ſein mögen, 
zu der ihre Schwäche fie hinreißen fonnte, und wenn fie in Kot untertauchten — ihr 
Name wird eines Tages gefeguet werden.“ 

Solange die Saint-Simoniſten ſich verſammelt haben, ftand ein leerer Seffel als 
Symbol zu feiten deS Baters, und auf dem großen Portrait, das Léon Cogniot von 
Enfantin gemalt bat, ijt der Priefter in vollem Koſtüm vor einem Si’ mit zwei Plätzen 
dargeftellt: er zeigt mit Prophetengebarde auf den leeren Plag, zum Reichen, dak er 
deS freien Weibes barrt. WS in den achtundvierziger Tagen die deutſche Frauen: 
bewegung fics auf die wirtſchaftlichen und fojialen Ynterejjen, auf den Kampf um 
Arbeit und biirgerliche Pflichten gründete, jtellten ſich ibre Vertreterinnen, wie Louije 
Ctto= Peters, bewußt in ſcharfen Gegenfag zu der Saint - Simonijtifcben Richtung. 
Wer dem Weibe feine freie Entfaltung und feinen Anteil an der Kulturarbeit der 
menſchlichen Geſellſchaft fichern will, wird die Forderungen, dic er fiir die ,, Emamipation” 
aufftellen michte, nur auf die Beobadhtungen griinden können, welche die gefchichtliche 
Erfabrung über Cigenart, Umfang und Grenjen des weiblichen Könnens liefert. Unfere 
kurze Grfabrung reicht dazu kaum aus. Es war ein Wabngebilde, der Glaube, dah 
cin „freies“ Weib die Bedürfniſſe und Fabigfeiten, das „Geheimnis“ der Frauenfeele 
durch einen einfachen ecinmaligen Vorgang von Sichbewußtmachen würde offenbaren 
können. Aber der Gedanke, daß der Frau eine eigentümliche, nur aus dem Bezirk 
ihrer Erfahrungen feſtſtellbare Funktion in der Geſellſchaft gebührt, iſt von dauerndem 
Wert: inſofern bringt die Komödie vom freien Weib, wie alle gute Komödie, die 
Wirklichkeit des Lebens zum Vorſchein. 

—— —ñ— — 


26h 


— Pipdus. ae 


Bon 
Dr Edgar Alfred Regener. 


RNaddrud verboten. 


nm dem Bekanntwerden mit dem Maler Fidus wird ¢3 vielen fo gegangen fein 

wie mir. Gelegentlicde Arbeiten in der Zeitſchrift „Sphinx“, Beitrage im 
„Simpliciſſimus“ zu jener Zeit, da dieſe Wochenfebrift nod nicht den ausgefproden 
ſatiriſchen Charafter von heute trug, und dann vor allem die Studienblitter aus der 
„Jugend“ madten auf ihn aufmerfiam und regten die Teilnabme fiir fein Schaffen an. 
Allerlei dunkle Berichte über feine abjonderliden Bekleidungspringipien wurden uns von 
München zugetragen. Es wurde gelacht und gefpottet über ibn wie fiber feinen Lebrer 
Diefenbad. Das Menfehliche an ibm gab mebr Stoff gum Reden als das Künſtleriſche. 
Als damals der jest faſt überall befannte Kinderfries erſchien mit dem etwas Langatmigen 
Titel „Das wiedergefundene Paradies, das iſt das Leben in Übereinſtimmung mit der 
Natur“ und dann auch der ſiebzig Meter lange Fries „Kindermuſik“, erregte die 
wunderbar friſche Behandlung des nackten Kinderkörpers mit Recht Staunen und Ent— 
zücken. Man konnte wohl ungefähr eine Deutung und einen Begriff von der Fidusſchen 
Kunſt ahnen; ein feſtes Urteil zu bilden war aber erſchwert, da die genannten Arbeiten 
nicht das Werk eines einzelnen waren, ſondern Meiſter und Schüler, Diefenbach und 
Fidus, gemeinſam es entwarfen und ausführten. Da Fidus mit ſeinen Zeichnungen 
und Gemälden ſehr ſelten auf Ausſtellungen zu treffen war, hielt es ſchwer, ihm in ſeiner 
Kunſt näher zu kommen. Was wir von ihm als Buchſchmuck kennen lernten, ſchadete 
ihm mit wenigen Ausnahmen in der Beurteilung mehr als gut war. Von hier geht 
auch die Bewertung ſeiner künſtleriſchen Perſönlichkeit als Backfiſchzeichner aus, als 
Stiliſt des Süßlichen und Weichlichen. Ein flüchtiger Blick in Maximilian Berns 
Anthologie „Für junge Herzen“ (Verlag Wertheim) gibt uns genugſam Kunde von 
der Berechtigung ſolches Syruches. Cs mußte dem Künſtler einmal daran liegen, dieſe 
etwas bitter beiſchmeckenden Bezeichnungen zu entkräften, und wiederum, was die 
natürliche Folge davon iſt, dem Publikum, dem Kunſtfreunde, dem Liebhaber wie dem 
Fachmann einen größeren Einblick in ſeine Kunſt zu gewähren. Dafür ſind nun zwei 
Veröffentlichungen beſtimmt, die ſich ergänzen können und wohl auc wollten. Es find 
dies zwei Fidus-Mappen, die, unter Leitung des Künſtlers herausgegeben, zehn, reſpektive 
elf ganzſeitige Tafeln in ein- und mehrfarbiger Lichtdruck-Reproduktion enthalten, und 
zwar betitelt ſich die eine Mappe „Naturkinder“, die andere „Tänze“. Dem Beſucher 
der vorjährigen großen Berliner Kunſtausſtellung am Lehrter Bahnhof werden die 
Mappen bekannt ſein, zu denen die Originale, wenigſtens der Cyklus „Walzer“, ſich im 
gleichen Raum befanden. Von beſonderem Kunſtwert iſt neben dieſen Mappen die 
Darbietung von Wilhelm Spohr: „Fidus“.) Dieſer Prachtband wurde im Tert mit 
weit fiber 200 Darſtellungen nach Originalen des Künſtlers, mit 27 ganzſeitigen Kunſt— 


) Die beiden Mappen wie Spohrs „Fidus“ find bei J. C. C. Bruns-Minden erſchienen. 


266 Fidus. 


blättern als Beilagen im Dreifarben-Lichtdruck, Lichtdruck und Chromo-Phototypie 
ausgeſtattet. Es iſt ſicherlich zum genauen Verſtehen der Fidusſchen Kunſt ein in ſeiner 
Wirkung nicht zu unterſchätzender Beitrag. Um ſo mehr, da Wilhelm Spohr dem 
Suchenden ein verſtändnisvoller Führer iſt. 

Sn der Darſtellung des duferen Lebens des Künſtlers folge ich den Angaben des 
Spobriden Buches. An dev Charafterijierung feiner Kunſt ſtütze ich mich nur auf 
Die fichere Renntnis der Originalwerfe des Künſtlers, yu deren Bergegemmartiqung in 
der Erinnerung mir allerdings das Bildermaterial jenes Buches treffliche Dienſte leiſtet. 

Hugs Hippener, der unter feinem biirgerlichen Namen weniger befannt ijt als 
unter feinent Riinftlernamen Fidus, oder vielmebhr nur unter dieſem der Zabl feiner Ver— 
ebrer und Verächter befannt it, wurde am 8. Oftober 1868 in Lübeck geboren. Sein 
Sater betrieb das Handwerk der Ruderbaderei, bei Dem aud) damals ſchon mancherlei 
auf Form und Farbe des Gebäckes in feinen verſchiedenſten Arten gegeben wurde. 
Man fann vielleidht annebmen, daß bter und da das viaterliche Gewerbe bei dem Jungen 
Vorjtellungen und Gedanfen im Nachahmungstriebe ausldjte, deren Anregungen feiner 
lebhaften Phantaſie ſpäter zum Borteil gereidten. Cin frühzeitig eintretendes Leiden, 
das ifn an die Stube felfelte, binderte ibn am Umgange mit Altersgenoſſen und zwang 
ibn, an die Stelle tobender Tätigkeit jtilles Sinnen und Grübeln yu ſetzen. Dabei 
wanbdte er feine Aufmerkſamkeit zumeiſt dem menſchlichen Körper gu, deſſen Feinbeiten 
und Verſchwiegenheiten im Spiel der Muskeln er durch Abtalten feines cigenen Körpers 
bald beherrſchte. 18'/, Jahre alt bezog der junge Höppener, nachdem er durch einen 
fiinfjabrigen Zeichenunterricht in der Schülerklaſſe der Lübecker Gewerbeſchule feinem 


Talent eine ſichere Schulung gegeben hatte, die damals beſtehende Vorſchule der 


Münchener Wfademie. Hier lernte er den Maler Carl Wilhelm Diefenbach kennen 
und begeijterte fid) an den Ideen, die jener alS Tatfacen in das Leben überſetzen 
wollte. An der Cindde Höllriegelsgereuthe bei München lebte die Fleine Gemeinde, die 
fic um Diefenbach als ibre Meiſter geſchart hatte; bier erbielt auch Höppener feinen 
Beinamen Fidus, ,der Getreue“. Auf die Dauer fand er in diefem Sufammenteben 
feine Befriedigung, bejonders ſchmerzte es ibn, in fo geringem Mae yum cigenen 
künſtleriſchen Schaffen zu gelangen. Zudem löſte er ſich doc) ſchon innerlidd von dem 
ganzen Kreiſe und den dort herrſchenden Tendenzen. Fidus ſelbſt äußert ſich darüber 
wie folgt:“ „Ich verdanke dieſem Einſiedler die ſtärkſten äſthetiſchen Anregungen. Denn 
er lebte damals einigermaßen das ſchöne Bild, das ich mir vorher nur als Zukunfts— 
entfaltung ausgemalt hatte. Später ſah ich cin, daß die bleibende künſtleriſche 
Darſtellung einer Idee wichtiger iſt, als deren unbedingte Übertragung in die äußeren 
vergänglichen Lebensformen.“ Die Kenntnis des nackten menſchlichen Körpers vertiefte 
ſich dem ringenden Künſtler in der Zeit ſeines Aufenthaltes in Höllriegelsgereuthe, wo 
die Frage der Bekleidung wenig Sorge verurſachte, ungemein. Vom Sommer 1889 
ab beſuchte er, nachdem er ſich von Diefenbach getrennt hatte, wieder die Münchener 
Akademie, bis er drei Jahre ſpäter nach Berlin überſiedelte. Von hier aus nimmt die 
Fülle ſeiner Zeichnungen und Gemälde ihren Anfang, die ihn über die anfangs aus 
materiellen Gründen gepflegten Buchſchmuck-Lieferungen hinaus zu großen, tiefen 
Schöpfungen führte, denen er Kraft und Reichtum ſeiner Mannesjahre widmet. Fidus 
lebt jetzt in der Schweiz, wohin ihn die Realiſierung ſeiner Tempelkunſtgedanken führte. 

Es iſt eine ſtete Steigerung zu eigenſtem Stil und eigenſter Formenſprache, die 
wir in der Entwicklung von Fidus' Künſtlerſchaft wahrnehmen. Aus der akademiſchen 





Fidus. 267 


Manier, Schwarz und Weiß in Licht und Schatten gegeneinander zur Wirkung kommen 
zu laſſen, aus den ſubtilſten Stricheleien und den leiſe gewiſchten Partien heraus wachſen 
die perſönlichen Linienäußerungen, in deren Einfachheit und Sicherheit Farbe und Glanz, 
Hell und Dunkel und das lebhafte Zueinander von Duft und Leben beſchloſſen liegt. 
Was der junge Künſtler vordem einer Vielheit, einer Strichmenge überließ, durch die 
das Werk als ein Wille und Gewolltes ſprach, das führt er heute, reifer im Erfaſſen 
des Vorwurfs und herriſcher im Verfügen über die anzuwendenden Mittel, zurück auf 
die Blendungen und die Sprechfähigkeit einer einzigen Linie. Dazu geſellt ſich in den 
früheren Jahren ein Beugen und Biegen im Ausdruck, dem ein klares Ziel fehlt, dem 
in Bangen und Ahnen eines Zweckes die Kraft fehlt, Dämmerungen zu erhellen und 
Nebel zu zerſtreuen und an ihre Stelle ein Gewiſſes zu ſetzen. 

Fidus iſt nicht dev einſeitige Aktzeichner, als den man ibn hier und da verſchrien 
hat. Aus den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts ſtammt ſo manches 
Portrait von reifer Vollendung. Der Menſch nicht dargeſtellt als cin Typus, deſſen 
Mame X oder Y) fein könnte, ſondern das Individuum, die Perſönlichkeit. Darum 
vermeiden ſeine Studien das Schmeichelnde retouchierender Maler, welche die Natur ſtets 
nach eigenen Prinzipien ummodeln, um einen Schlager, eine Reklame ihres Könnens zu 
geben, Glaänzende Fracks, blitzende Orden, ſauber gefettete Haare oder die entſprechende 
Glatze, ſchöne „natürliche“ Geſichtsfarbe und all die kleinen und großen Erfüllungen 
eines „guten“ Porträts. Ganz anders Fidus. Er vermeidet alle ſchreienden Farben, 
umgeht techniſche Verblüffungen und führt alles Drum und Dran auf eine Formel der 
Einfachheit zurück, die nun aber voll und ganz mit dem Weſen des dargeſtellten 
Menſchen übereinſtimmt. Er ſucht Beziehnungen zwiſchen dem inneren und äußeren 
Menſchen zu einer Geſtalt der Wirklichkeit, zu Leben und Bewegung. 

Seine Farbentechnik kommt vor allem in ſeinen Landſchaften zum Ausdruck. 
Hier gibt er Tönungen von wunderbarer Intimität und Feinbeit. Was ijt das z. B. 
fiir ein eigentümliches fables Yeuchten, das fiber dem nordiſchen Fjord liegt. Auf den 
Relfen iſt es naß vom Tau des Morgens. Noch ijt die Conne nicht bervor, aber 
ein atemftilles Erwarten bricht aus den gigantiſch aujfgetiirmten Wolfenmajfen, deren 
Graublau ſich nach ſtärkeren Nuancen ſehnt. Die wenig aus der Mitte des Wafers 
ragenden Klippen debnen jie nod) obne Traum und Wiſſen vom Tage, wabrend faum 
merfliche Wellen um das Geftade febludern und gluckſen. Das Dämmerdunkel, das 
Die Herne in einen weifliden Nebel hüllt und den Borderqrund wie mit weichen 
Schleiern dect, ift von felten feiner Tongebung. Es hält ſchwer, fic aus der 
Reproduftion dieſes Bildes, das fics in dem Spohrſchen Buche befindet, eine Vor: 
jtellung von der Wirkung des Originals ju maden. Ganj eigenartige Farbemvirfungen 
jprechen auch aus Bildern wie ,, Viviana”, „Vorabend“, der ſtark verzeichneten ,, Frau 
pom Meere”, aus den Skizzen feiner Tempelfunitbejtrebungen. 

Es ijt eine befannte Tatſache, daß Fidus feine Gejtalten zum größten Teil 
nadt Ddarjtellt. Diefe Cigenart wurde hin und wieder zu beimlich reizendem Sinnes— 
lizel ausgebeutet. Damit wurde denn auch ſolchen Urteilen der Boden bereitet wie 
dieſem, daß die Fidusſche Kunſt pervers ſei. Die Grenze der Empfindungen des 
Geheiligten und Entweihten iſt ſo äußerſt fein gezogen, daß der Wille zum Verſtändnis 
dieſer Feinbeit fern von einer ungeſunden Prüderie ſtehen muß. Der nackte Menſch 
iſt ein Problem für den Betrachter, deſſen Zweifel durch eine ruhige Sicherheit und 
beruhigte Gewißheit über das Erotiſche hinausgehoben ſind. Es iſt ein Genießen ohne 


268 Fidus. 


Gier und Wolluſt, ein feines Vibrieren leiſeſter, ſeeliſcher Reize, die ſich treffen in dem 
einen großen Zweck und Ziel der Reinheit, um deſſen Löſung und Klärung die Menſch— 
heit lebt und glüht. Es erfordert keine Abtötung der Sinne, kein neutrales, 
ungeſchlechtiges Weſen, ſondern verlangt ein äußerſt regſames Spiel der Sinne, doch 
ſo, daß ihr Walten und Schaffen nicht an der Oberfläche des Dargeſtellten haftet, 
ſondern es durchdringt bis zur Tiefe. Unſer Blick foll nicht an der Geſchmeidigkeit 
oder an der Härte der Linie, die je nach dem Vorwurf wechſelt, in lüſternem Brüten 
hängen bleiben, es wäre eine Profanation alles Künſtleriſchen. Wir ſollen ſie als 
Mittel zum Zweck betrachten, ſollen ihrer Sprache lauſchen und aufhorchen, welche 
Verkündigung uns offenbar wird. Fidus hat mit jedem Strich ſeines Griffels etwas 
zu ſagen, er will mit jeder Linie ein Stück Seele geben, etwas, was den plaſtiſchen 
Ausdruck des Gefühls ausmacht. Ein paar in die Höhe gereckte, im Beten verkrampfte 
Hände raunen von einer Verzweiflung, der ſelbſt der entgötterte Himmel keine Tröſtung 
mehr gewährt. Den gewaltigſten Schmerz ſtellt er nicht durch cin verzerrtes, von 
Tränen überſchwemmtes Antlitz dar; die Rechte ſchließt, feſt aufgepreßt, die Augen 
und deckt das Geſicht zum großen Teil, während der Kopf in den Nacken gezogen 
iſt und die Linke in eigentümlich unbeherrſchter Gebärde in die Luft greift. Dazu 
muß der Körper nackt fein. Das Spiel der Nackenmuskeln muß frei liegen, wm in 
feinem willenlofen Rrampf zu ergreifen. Der Chavafter, die Gemütsſtimmung des 
Menſchen ſpricht nicht allein aus der Durchbildung des unbefleideten Gefichts, 3 
fpricht aus der ganjen Geftalt, und die Gefichtaziige erfabren durch die — wenn id 
fo fagen darf — Phyſiognomie der nadten Glieder die wirkſame Unterſtützung. 
Sobald wir einmal von Ddiefer Seite aus unfere Betradtung geleitet baben und zu 
einem Ergebnis gefommen find, wird uns cine unter der Vorausfehung des Nadten 
qebildete Darfiellung nur als Kunſtwerk erſcheinen und nur nach feinem Formen- und 
Sdeengebalte Geltung gewinnen. Dies yu erkennen und dies zu, würdigen, dazu gehört 
auc) hier Ernſt und Eifer iwie bei jedem Stück Welt, das in Erfcheinung tritt. 
Fidus' ganzes Wirken hat einen grofen Endzweck. Ceine langjährigen UArbeiten 
find immer neue Studien yu dem immer umfajienderen Werf, das in der Tempelkunſt 
feine Ausdeutung erhalten ſoll. Dieſe Kunſt fucht „dem Volke Antwort yu geben auf 
feine beiligiten, gebeimjten und deshalb allgemeiniten Fragen”. Diefe Antwort will 
fie geben in einer innigen Bereiniqung von Malerei, Muſik, Dichtkunſt, Plaſtik und 
Baufunjt, fur; in allen Riinften, die ſich einem einzigen Pringip unterzuordnen haben 
und alle ihre Werte ausgeben in diefem einen Wollen. Jn heiligen Hainen follen 
ſchön geſchmückte Tempel ervicstet werden, die den Göttern geweiht find, die unfer 
Leben beftimmen; in denen den Leidenfehaften Altäre errichtet werden, wo Menſchen— 
feelen dic Brande fchiiren mit ibrem eigenen Herzblut. Da foll der Tempel der Erde 
enthalten die Sale der Liebe und des Ehrgeizes, der Lujt und der Sebnfucht, die 
Hallen des Wijfens, der Gefiihle und der Ergebung, aus der Rammer de3 Schweigens 
fiibrt dad Dunfle gu dem Rundbau des Heiligtums, dem Wlerheiligften. Da ift ein 
Tempel dem Lucifer geweibt, während cin anderes Heiligtum „Der weiße Tempel“ 
oder „Der Dracentempel” ijt, Man könnte von den Andachtaftatten einer „gemein— 
religidjen” Kunſt fpreden, da die Heiligtiimer ibren inneren Schmuck in Sinnbildern 
ethalten, die Bezug baben auf dic Ausgeftaltung einer folchen Gemeinreligion, die 
eines Hanged gum Heidniſch-myſtiſchen nicht enthebrt. Bei diefen Entwürfen, die ein 
ſicheres architektoniſches Formgefühl und baumeijterliches Geſchick bei ſtarker Anlehnung 


Von Frauen und iiber Frauen. é 269 


an ägyptiſche Motive (des Tempels gu Edfu 3. B.) befunden, nimmt uns ivieder die 
Farbe gefangen, die in meijterhafter Weije behandelt ift. 

Diejem Tempeltraum zu Glück und Genuß dichtete Fidus die heiligen Offen- 
barungen einer ſchmerzvollen Menſchwerdung. Es trieb in, die Frage nad) der 
Weltjeele, ihrer Macht und ibrem Wirfen in jeiner Weife gu deuten. Die Gewalt 
feiner Phantaſie tragt Leben, Sinnen und Handeln in den weichen Wfforden einer 
unbesiweifelten Gewifbeit in die tote Umgebung, lodt Seele aus dem Unbefeclten und 
fiebt die Welt als cin ewig new fich gebärendes Wefen an. Seine Weltanſchauung, 
die buddhiſtiſche Elemente vereiniqt mit den poetiſchen Reisen mittelalterlicer Natur: 
philofophen — 4. B. Giordano Bruno, mit vielfacen Ausdeutungen und Criveiterungen 
ſeines Strebens bis auf die Gegenwart — bringt in der Tempelfunjt einen Faktor 
in Anſatz, der die Bedeutung feiner Kunſt und der darin geftalteten Joce in dem Mage 
erweitert, daß fie eine religibfe Befriedigung gewährt mit all den in ihr rubenden 
Erldjungen und Befreiungen. Das ijt Nabrung und Sättigung der fudsenden Seele. 
Gine jtille Anjel der Romantik in unferer gärenden Zeit unausgeglicener Rulturideate. 
Fidus jucht in feiner Weife die Probleme gu löſen. Was er gibt ijt Sele und was 
ex gejtalten will in Sufunft, ijt das Kunſtwerk, in dem die Seele ibre Empfingnis 
feiert. Die Seele ded einjgelnen und der Allgemeinheit. Und hierin feblichten fic 
alle Rampfe. . .. 

—— — Ee 


Von Ppauen und übep Ppauen. 


Die zärtlichen Muttergefühle immer auf dem Präſentierteller, als pidce de résistance in der 
Argumentation gegen die Frauenbewegung, iſt aufdringlich, abſtoßend. Wie man in ſeinem Kämmerlein 
betet, ſo liebe man daheim ſein Kindchen. Aber ich ſehe keinen Grund, Gefühle, die einen ſo reichen 
Lohn ſchon in ſich ſelbſt tragen, als ungeheure, Ehrfurcht gebietende Qualitäten an die große Glode 
zu hängen, Heiligenſcheine dafür als Dutzendware auf den Markt zu werfen, auch für Stirnen, hinter 
denen nie eines Gedankes Glut geſtrahlt, nie ein Funke von Edelſinn auch nur geglimmt hat. Mir iſt 
dieſes Protzen mit der Mutterliebe widrig. Frauen können ihren Kindern die zärtlichſten Gefühle 
weihen, und fic) anderen Rindern, ja, der ganzen übrigen Menſchheit gegenüber herze und gemütlos er— 
weiſen. Dad wäre die echte Mutter, die allen Kindern hold ift. 

Viele Frauen haben vielleicht feine andern Vorzüge, aber gar eine; fie können vielleicht nicht 
cinmal kochen; da bleibt ibnen doc) immer nod die Mutterliche. Die foftet feine Arbeit, wird nicht 
erworben, ift von felbft da, und je beftiger fle da ijt, umſomehr rückt fie die Mutter in cine verklärende 
Beleuchtung. 

Die Mutterliebe entbehrt der Idealität, die man ihr zuſpricht, wenn es mir auch fern liegt, zu 
leugnen, daß es eine Mutterliebe gibt, die rührend und ergreifend iſt, eine Liebe, die immer tröſtet, 
immer verzeiht, die immer gibt, niemals nimmt, die ſelbſt an dem entgleiſten Kinde, da’ am Pranger 
der Menſchheit ſteht, in unverbrüchlicher Treue fefthiilt. 

Qn Romanen fommen diefe Mütter nocd häufiger vor als im Leben. 

* 

Nicht der Raturinſtinkt ſcheint mir der Grundpfeiler der menſchlichen Mutterliebe, eher iſt es das 
Shaffer und Wirken an dem Kinde. Die Mutter fühlt ſich als das Schickſal des Heinen hilfloſen Ge— 
ſchöpfes, dad iby anvertraut wurde, wobei allerdings die Borftellung, dah es ihe eigenes Fleiſch und 
Blut ift, mitwirkt, Die Borftellung, fage ich, — nicht die Tatſache. 


Hedwig Dohm. 


(Mus ,,Die Mütter“. S. Fifeher, Verlag, Berlin.) 


aOR 


270 


Vie Sdrtnersirau. 


Cyriel Buyle. 


Autorifierte Mberfegung aus dem Holländiſchen von Rhea Sternberg. 


Nachdruck verboten. 


S. hieß Bhilomene, aber man nannte 
fie bas Beeldefen. Nicht ettwa weil fie fo 
bildhübſch getwejen ware, fondern weil fie mit 


t 


ibrer bageren, unbebdeutenden, Eleinen Geftalt | 


und mit bem fanften, fdmergvollen, blaffen 
Gefidt an ein hölzernes Heiligenbildchen er- 
innerte. 

Sie war die Frau des Gärtners auf dem 
großen Schloß und hatte drei Kinder, zwei 
Mädchen und einen Knaben. Im Park, ein 


da er nur ein armer Tagelöhner geweſen war. 
Sie hatten einen kleinen Gemüſe- und Blumen— 
garten und ein Stückchen Ackerland, auf dem 
fie Kartoffeln und Rüben pflanzten, ſoviel 
ſie für ihre eigenen Bedürfniſſe und für den 
Unterhalt der beiden Ziegen und zahlreichen 
Kaninchen gebrauchten. Auch Hühner nnd 
Tauben hielten ſie ſich, die mit ihren bunten 


Farben und ihrem lauten Gackern und Girren 


wenig ſeitwärts von dem prächtigen, eiſernen 


Gitter mit den vergoldeten Stäben, lag ihr 
ſauberes, hübſches Häuschen in der Nähe der 
Pferdeſtälle und Remiſen, halb verſteckt hinter 
ftatilichen alten Buchen und Rhododendron: 
ſträuchern. 

Während ihr Mann den ganzen Tag in 
den Gemüſegärten, im Park und in den Treib— 
häuſern beſchäftigt war, batte fie fiir bas 
Hauswefen gu forgen. Die beiden Madden 


gingen taglidh in das jiemlid) weit entfernte | 


Dorf zur Schule; nur der fleine Junge blieb 
nod) bei ihr gu Haufe. 

Sie fühlten fic gliidlid) in ihrer Yage. 
Zwar mubte Theofiel ſchwer arbeiten; denn 
auf dem grofen Schloß war eigentlich Arbeit 
genug fiir einen zweiten Gartner. Uber davon 
wollte ber Here Baron durchaus nichts hören, 


und e3 gelang Theofiel durd ununterbrodjene, | 


äußerſte Wnftrengung all feiner Kräfte, die 


übermäßig ſchwere Aufgabe zur Zufriedenbeit | 


jeines Herrn ju erfüllen. Sonſt batten fie 


in der Tat über ihr Los nicht yu Hagen. Sie 
brauchten feine Miete zu bejablen, und 


Theofiel werdiente bedeutend mebr als friiber, 


— — — — 


den ſonnigen Platz vor der Tür belebten. 
Doch ein Schatten trübte dieſes beſcheidene 
Glück; ein unbeſtimmtes, quälendes Gefühl der 
Abhängigleit, der Unfreiheit drückte fie oft 
nieder, etwas, das keiner von beiden aus— 
zudrücken vermochte, das aber ſchwer auf ihrem 
niederen Daſein zu laſten ſchien; unſichtbar 
ſank es aus den hohen, grauen Tiirmen des 
Schloſſes, aus den feierlichen, düſteren Baum: 
maſſen ded Parks auf fie herab. Das Schloß 
und feine ganje ſtattliche Umgebung flößte 
ihnen ſtets cine auferordentliche, ja ängſtliche 
Chrjurdt cin. Klein und nichtig wie ihr 
armfeliges Häuschen neben dem mächtigen 
Bau fühlten fie felbjt ſich neben feinen reiden, 
pornebmen Bewohnern. Im Sommer be: 
fonders, wenn ba alles voll Leben und Be- 
wegung war, wenn die prächtigen, glangenden 
Wagen über den knirſchenden Kies fubren, 
wenn eS auf ber Terraſſe vor dem Haufe von 
bell gefleideten, fröhlich fdwagenden und 
lachenden Damen und Herren twimmelte, wenn 
zweimal täglich, zum Lund und jum Diner, 
die ſchwere Gartenglode lautete, twenn die 
fpiclenden Kinder jauchsten und lärmten, die 
Diencr und Gouvernanten hin und wieder 


Die Gartnerdfrau. 


liefen — dann bielt eine unbeftimmte, be- 
flemmende Angſt fie villig gefangen. Theofiel 
war dann vom frithen Morgen bis zum 
fpaten Abend unſichtbar, er war in ben 
Gemiifegarten und Treibhäuſern vollauf be— 
ſchäftigt. Beeldeken aber traute ſich nicht einen 
Schritt über den Platz vor dem Hauſe hinaus; 
hier war ſie durch hohe Bäume gegen ein— 
dringende Blicke vom Schloſſe her geſchützt; 
hier ermahnte ſie angſtvoll ihre Kinder, keine 
lauten Spiele zu ſpielen, und ehe noch der 
Abend dämmerte, trieb ſie die Hühner in den 
Verſchlag, damit ihr Gackern nicht die Auf— 
merffamfcit ber Herrſchaften erwecke. 

Nur im Winter atmeten ſie freier, dann 
kam Ruhe und Friede über ihr Gemüt. Dann 
blieb das Schloß gu, und fie waren Allein— 
berrfcher auf der grofen Befigung. Der 
Mann braudte ſich nidt unaufhörlich zu 
qualen und zu plagen, und man fab dad 
dürre, kleine Beeldefen manchmal in dem ver: 
laffenen arf auf den breiten Riegwegen 
jwifden den dunflen, kahlen Riefenbaumen 
fpajieren geben. Sinnend ftarrte fie dann 
wohl nad dem grofen Schloß, das fie nod 
niemalé betreten hatte. Sie träumte von ciner 
unbefannten, tiberwaltigenden Pracht unter 
den boben Kuppeln und Türmen, binter den 
feft geſchloſſenen grauen Fenſterläden und den 
alter, mit Gfeu betwadfenen Mauern. O, 
wie gern batte fie’s einmal von innen gejeben, 
um ju erfabren, was es denn eigentlid auf 
ſich hatte mit ihrer beimliden Angſt vor der 
barin vermuteten, gebeimnisvoll verborgenen 
Macht. Aber das ging nidt, denn es beftand 
ein ftrenges, unerbittlides Verbot: weber fie 
nod ibr Mann durfte je das Schloß betreten, 
Sie waren nur die Gartnersleute, mit dem 
Schloſſe felbft batten fie nichts zu tun; das 
lebte neben ibnen fein eigenes Leben, von 
bem ibren getrennt; im Gommer [uftig und 
lachend, im Winter fteif und falt in fein 
undurddringlides Gebeimnis gehüllt. Wie 
eine ewige Drohung fürchteten fie dieſe 
unbefannte Allmacht, die ihre Ceelen bedriicte, 
alé wäre ibr eigenes Leben hinter den riejenz 


haften Mauern heimlich eingefdblofjen, als | 








finne jeden Mugenblid ein unerwarteter Betebl 


daraus bhervorgeben und unwiderruflich fiber 
ihr Los bejtimmen. 


271 


Wabrend der [angen Winterabende pflegten 
fie, wenn die Kinder gu Bett gegangen waren, 
neben dem fladernden Herdfener gu figen; er 
mit der Picife im Munde, fie die Hinde im 
Schoß gefaltet. Nachdenklich fchauten fie dann 
in die rotgliibenden Flammen, laufdten dem 
Wind, der ächzend und ſtöhnend durd die 
boben Baume und um ibr einfames Häuschen 
fubr, und fpraden weitſchweiſig über dad 
Schloß mit feinen gablreihen Sommergäſten, 
mit feiner twinterliden Verlaffenbeit und Rube 
und iiber ibr eigened, ftilled, niederes, fleißiges 
Leben. Gie redeten nidt in flaren Worten 
pon dem inftinftiven, beangftiqenden Gefühl, 
unter dem fie fo febr litten; dod fie abnten 
es gegenfeitiq aus ben tragen, fargen Worten, 
mit denen fie cinander gu ermutigen fudhien. 

„Nichts beffered fann der Menſch im Leben 
tun, als ſtets feine Pflicht gu erfiillen,” meinte 
Theofiel gan; allgemein, und Beeldefen nite 
juftimmend mit bem Ropfe und fiigte bingu, 
daß fie vor allem ihre Hoffnung und ibr 
Vertrauen auf Gottes Giite und Gnade fete. 


„Ich tue alles, was mein Herr mir befieble, 
und felbjt wenn er mir nidts befieblt, arbeite 
und forge icp fiir ibn, foviel id) nur kann,“ 
fprad er. Und Geeldefen antivortete: 

„Und id tue mein Beftes, um niemand 
durch mein Verſchulden ju argern und hoffe, 
daß ber liebe Gott uns belohbnen wird, dap 
wir mit unjern Rindern in Glück und Frieden 
leben lönnen bis ju dem Augenblid, da es 
jum Scheiden fommt.” 

Wunderbares Mofterium! . Es war, 
alg ob dieſe Naturmenfden in ihren barmlofen, 
einfaltigen Seelen etwas Unvermeidlides 
fommen fiiblten und bon einem ängſtlichen, 
bilflofen Bemühen erfillt waren, ihrem Geſchick 
zu entgeben. 


* * 
* 


Es war Ende März, ein böſer Tag mit 
ununterbrochenem Regen und eiſigem Wind. 
Trotzdem hatte Theofiel unaufhörlich gearbeitet, 
geſät, gepflanzt, gedüngt; denn ängſtliche Sorge 
erfüllte ihn bei bem Gedanlen, daß er in 
dieſem Jahr, nach dem langen, rauhen Winter, 
mit ſeinen frühen Gemüſen und Früchten arg 
im Rückſtand war. Wm Abend fam er völlig 
erſchöpft von der LUberanjtrengung, und von 


272 
ber burdbringenden feuchten Ralte am ganjen 


ſchien er ein alter Mann geworben ju fein, 
befjen Kräfte auf einmal verbraudht waren; er 
bielt den Rücken gefriimmt, die hohlen Wangen 
waren afdfabl, ein Ausdruck fdeuer Furdt 
lag in den ftumpfen, traurigen, tief in die 
bunfeln Hiblen gefunfenen Augen. Er modte 
nits efjen, nur heißen Süßholztee trank er 
im Überfluß, fiinf, ſechs große Taffen nad: 
einanber; ſchaudernd ſaß er in fic verſunlen 


Die GirtnerSfrau. 


' nod gefproden, nod getrunfen bat. Sie lief 
Korper gitternd nach Haufe zurück. Gang plötzlich hinaus, ohne Grund, ohne Swed, fam wieder 
| juriid, ſah nach bem Herd, ob das Feuer aud 





am Feuer, während bas entfeste Beeldefen in — 


aller Gile mit einem Krug fodenden Waſſers 
fein Bett warmte. Sie fprad ihm Mut und 
Troft gu und lief wie gebest bin und ber, von 
ber Küche in bie Stube und wieder zurück. 

„Es wird nichts fein, nur eine ftarfe Er— 
faltung, bie fommt von dem Wetter,” meinte 
fic. „Ein paar Tage rubig und warm im 
Bett bleiben, viel heißen Süßholztee trinfen, 
gehörig ſchwitzen, und alles ift wieder in 
Ordnung.“ 

Aber anſtatt dap es beſſer wurde, belam 
er ſchon am zweiten Tage qualvolle Schmerzen 
im Hals und in der Seite, und plötzlich wurde 
der Zuſtand ſo ernſt, daß man eilig einen 
Arzt und Paſtor rufen mußte. 

Der Paſtor kam noch gerade zur rechten 
Beit, um ibm die Sterbefaframente yu geben, 
aber al der Doftor fam, war es ſchon ju 
ſpät ... Plötzlich, nad) einem furgen, beftigen 
Pieberanfall war er geftorben, in ibren Armen 
geftorben. Wild war er in feinem Bett empor- 
gejprungen, batte fic mit beiden Handen an 
den Hals gegriffen, als twolle er da cine 
wiirgende Rlaue wegreifen ... dann ein rauber 
Serei, ein frampfartiges Verjerren ded Geſichts, 
ein wildes Ausſchlagen der Arme, und leblos 
mit dem Kopf auf den Bettrand fdlagend, 
war er zurückgeſtürzt in die Riffen ... alles 
war voriiber .. . 


Beeldefens überwältigender Schmerz duperte | 


fih zunächſt in einem Nichtbegreifen. Tot... 
fo plislid) tot, wo er im Augenblid zuvor 
nod gefproden, nod eben feine Tajje Tee 
qetrunfen bat ... nein, nein, fie fapte es 
nicht, fie glaubte es nicht... er war nicht 
tot, er rubte nur, er ſchlief nur ... der Doftor 
irrte fid), der fannte ibn ja nicht fo, wie fie 
ibn fannte, der wußte ja nicht, dab er eben 


* — 


dem Tode. 








ſchlafen, 


brannte, ob der Tee auch nicht kalt würde. 
Denn er war nicht tot, er ſchlief nur, er würde 
vielleicht gleich wieder aufwachen und zu trinfen 
verlangen. Und es ſchien ihr gang merfwiirdig, 
bak die Kinder fo vergiveifelt iveinten und 
ſchluchzten, und dak der Doktor mit fo trauriger 
Miene auf fie gulam, um ihr banale Troft- 
worte zu fagen; -denn ihr Mann war dod 
nicht tot... man ftirbt nidt fo plötzlich, dads 
dauert eine Weile, man ruft, man [eidet, man 
ſchreit, man fampft Tage und Nächte lang mit 
Sterben ...! nein, nein, fterben 
ijt etwas anderes, etwas ganj, ganz andered . . . 

„Ach ja, Mutterden, es ift febr traurig, 
ſehr traurig, und ic babe großes Mitleid 
mit Ihnen; aber dagegen ijt nun nichts mebr 
ju maden, und Cie müſſen fic) bemiiben, 
es mit Vernunft au tragen,” hörte fie ben 
Doftor fagen. „Ich gebe nun wieder weg, 
Frauchen, denn bier gibt’s fiir mid nichts 
mebr ju tun. Rann id Donen vielleicht im 
Dorf cinen Dienft ertweifen, es beim Paftor 
melden und beim Schulzen?“ 

Da dämmerte langſam in ihrer Seele das 
Verſtändnis fiir die ungliidjelige Wahrheit; 
ein furchtbares Bittern fcbiittelte ihren arm: 
feligen, fleinen Körper; wild blidte fie auf 
ihre weinenden Kinder und in das betriibte 
Gefidht des Doktors, und plötzlich begriff fie, 
begriff, bab er tot war. . 

Unter Trinen, Schluchzen und Hände— 
ringen verrann Stunde um Stunde; fie war 
ftumm und ftarr, gelabmt vor Verzweiflung, 
zerſchmettert von bem entfeblichen Leid. Und 
dod) ftellte die niidterne Wirllichkeit ihre 
natürlichen Forderungen: arbeiten, eſſen, trinfen, 
die unerbittlide Fortſetzung des 


' tagliden Lebens, 


Beeldefen hatte einen verbeivateten Bruder 
und eine verivitivete Schwägerin, die Schweſter 
ihres feligen Manned. Beide wobnten in 
benadbarten Dörfern, und Reinildele, die 
altefte Tochter, teilte ibnen die  traurige 
Nachricht mit: 

Lieber Onfel und liebe Tante! 

Ich ergreije die Heder, um euch die traurige 

Mitteilung ju madden, daß Vater geftern 


Die Gartnersfrau. 273 


plötzlich geftorben ift. Er war nur einige 
Lage franf, aber wir bofften, bak es wieder 
befjer werden follte; dod plötzlich fonnte er 
nicht mebr atmen und fein Wort mehr fprechen, 
Ler Herr Paſtor fam nod zur rechten Beit, 


um ihm die legte Olung yu geben, aber ald | 


der Herr Doktor fam, war Vater fdon tot. 
Wir find ſehr betriibt, lieber Onfel und liebe 
Tante, und hoffen, dah ibr jum Begrabnis 


fommen werdet, das iibermorgen um '/,10 | 


fein fol. Jn Mutters Namen, 


Eure anbanglide Nichte 
Reinildefe van Dalen. 
Aud an den Baron ſchrieb fie: 


Herr Baron! 

Sch ergreife die Feder, um Ihnen von 
Mutter cin Rompliment ju beftellen mit der 
Mitteilung, bak Vater geftern plötzlich geftorben 
ift. Wir find febr betriibt, und Mutter bofft, 
bap fte Cie bald feben wird, um von Shnen 
au hören, was fie nun in ibrer traurigen 
Lage yu erwwarten bat. Das Begrabnis von 
Sater foll iibermorgen um 1,10 mit einer 
gefungenen Meſſe in der Parochiallirche ftatt= 


finden. Ihre untertdnige 
Reinildefe van Dalen. 


Im Ramen von Mutter. 


Um Tage ber Beerdigung famen Beels — 


defend Bruder und Schwägerin des Morgens 
mit dem erften Suge an. Die Frau twar 
tie? traurig und tweinte bitterlidh; dex Mann, 
mebr tiberrafdt als betiimmert, fragte mit 
läſtiger Ausdauer nad allerlei Cingelbeiten: 
wie denn das Unglück ſo plötzlich gekommen 
ſei, warum man nicht fo oder fo gehandelt, 
warum man ihn nicht früher benachrichtigt 
habe. Dann wollte er den Sarg ſehen, in 
dem der Schwager bereits lag, und da er ſelbſt 
Schreiner von Beruf war, betrachtete er das 
Holz und die Arbeit mit kritiſchem Blick; er 
hatte hier und da zu tadeln und war vollends 
entrüſtet, als ihm Beeldeken auf ſeine Frage 
ſchluchzend antwortete, was fie dafür bezahlt 
habe. 

„Was, 36 Fred. für ſolch 'ne Kiſte von 
Sarg! Beim Himmel, ſolche Särge möcht' 
id aud fiir 36 Fres. machen, nur ein Jahr 








hauschen. 


36 Fres. per Sarg, pah!“, und er gab 
dem rotgefärbten Holzkaſten einen verächtlichen 
Stoß. 

Dann kam eine andere wichtige Sache zur 
Sprache: was ſollte nun aus Beeldeken und 
den drei Kindern werden? Der Bruder fragte 
ſie, ob ſie etwas geſpart hätten. 

„Etwas, aber wenig; das Leben iſt ſo 
teuer,” ſchluchzte fie. 

„Hier wirft du dod feinesfalle bleiben 
finnen,“ ſagte ber Bruber, 

Aber die Schwägerin meinte, Theofiel habe 


ſo lange Sabre fleifiq und treu feine Arbeit 


getan, daß der Herr Baron dod wohl Mitleid 
mit feiner armen Witwe und feinen Kindern 
haben würde. 

„Mitleid ſchon,“ anttvortete der peffimiftifde 
Bruder, „doch 's ift ſchlimm, dak man fiir 
Mitleid fein Butterbrot faufen fann. Alles 
was der Baron fiir fie tun wird, hängt nur 
von feiner Güte ab.” 

Dagegen fonnte die Schwägerin nidts 
ſagen, und bas arme Beeldefen fiiblte ſchwerer 
als je die Allmacht des großen Schloſſes, das 
bereits das Leben ihres Mannes gum Opfer 
gejorbdert hatte, und von dem nun aud ibre 
und ibrer Rinder Zukunft abbing. 

Wabrend fie fo redeten, hörten fie draußen 
plötzlich den Ries unter den Rädern eines fic 
nabernden Wagens knirſchen, und gleich darauf 
hielt ein gldngendes Coupé vor dem Garten: 
Der Diener fprang vom Bod, 
Gffnete die Tir und half dem Herrn Baron 
beim Ausfteigen, Nur mit Wnftrengung fam 
der große, ſchwerfällige Mann aud dem Wagen; 
fein Geficht mit den bervorftehenden, waſſer— 
blauen Augen, von einem grauen Badenbart 
umrabmt, war duntelrot geworben. Er ächzte 
faut, als er endlich draufen ftand und gab 
jeinem Kutſcher in franzöſiſcher Sprache einen 
Befehl. Mit der Peitſche grüßend, lieh diefer 
darauf die Pferde im Sehritt nad dem Schloſſe 
geben. Dann fam der Baron fteifbeinig, ſchwer 
auf den ftarfen Stod mit der grogen, filbernen 


Krücke gejtiipt, auf das Gartenbausdhen ju, 
deſſen Tür der Sebreiner bereits ebrerbietig 


geöffnet bielt. 
Mun ftanden fie alle drei mitten in der 


niederen, dunfeln, kleinen Küche, die beiden 


lang, vom 1, Januar bis gum 31. Degember. | Frauen heftig ſchluchzend, der Bruder mit einer 


18 


— 


274 


niedergeſchlagenen Gelegenheitsmiene, alle ſehr 
geehrt durch den vornehmen Beſuch. 


Die Gärtnersfrau. 


„Ja, Herr Baron, dabei bleibt es, Herr 
Baron, und noch vielen Dank für Ihre Güte, 


„Wünſche euch allen guten Morgen,” fagte | Here Baron,” ſprachen fie abwechſelnd, während 


ber Baron mit feiner fetten, ſchweren Stimme. 


Refpeftooll erwiderten fie alle drei feinen Gruß 
mit einem ,guten Morgen, Herr Baron’. | 


Dann ftammelte er einige leere Troftworte, 
bei benen die Frauen nod heftiger ſchluchzten, 
und ging gleid) barnad auf ben Swed feines 
Beſuches über. Cr fragte Beeldefen, wags fie 
nun ju tun gebdenfe. Dod da die ungliidlide 
fleine Frau nicht fabig war, ibm eine Antwort 
zu geben, trat der Bruder fiir fie ein und 
fagte bemiitig, daß fie bereits davon gefproden 
batten, dod ſchwer einen Entſchluß faſſen 
finnten, ebe fie wilften, was der Herr Baron 
fiber fie beſtimmt babe. Sich ftébnend auf 
einen Stubl niederlafjend, ben der Bruder ihm 
angeboten hatte, fagte ber Baron: 

„Ich babe mit meiner Frau dariiber ge- 
fproden, und wir baben folgendes beſchloſſen: 
Theofiels Frau mag auf dem Schloſſe bleiben, 
wenn fie will, aber niet in diefem Hause, wo 
ih einen anbdern Gartner bineinfeben muß. 
Wenn fie bleiben will, muß fie in dad fleine 
Häuschen an der andern Seite des Parkes 
ziehen, wo früher der alte Forſtwärter gewohnt 
hat. Cie braucht keine Miete zu bezahlen, 
aber ſie muß auf dem Hof oder im 
Schloß arbeiten, wenn wir ihre Hilfe ge— 
brauchen.“ 

Die beiden Frauen blieben ſchweigſam und 
unbeweglich, doch der Bruder nickte wiederholt 
zuſtimmend mit dem Kopf. 

„Sehr wohl, Herr Baron, ſehr wohl. Wir 
find Ihnen ſehr danfbar, Herr Baron. Haſt 
du gebirt, Filemiene, twas der Herr Baron 
geſagt bat?” 

Beeldefen ricdtete ihr verweintes Geficht 
ein wenig auf und danfte dem Baron mit 
faſt unverftinbdlidem, 


Ende machen follte, 

„Alſo bleibt'’s dabei, nicht wabr?” ſchloß 
ber Baron, der fand, dah fein Befucd nun 
lange genug gedauert batte. 
erbob er fic von feinem Stuhl. 
alle ...“ 


J* 


„Adieu denn 


Hanglofem Stottern. 
Und aud) die Schwägerin dankte und ſchnaubte 
fid dann vernebmlich die Nafe, was dem | 
Ausbruch ibres Kummers augenſcheinlich ein 


Mit Anſtrengung 











der Schreiner den Edelmann aus der Tür 
geleitete. 

Mls er wieder ing Zimmer trat, wieder— 
bolte er nodmals, bak er bie Handlungsiveife 
bes Barons febr ſchön und edelmiitig finde, 
und daß man nun obne Aufſchub Anorbnungen 
fiir Filemienes fernereds Leben treffen müſſe. 
Was follte fie fortan beginnen, um ausjufommen? 
Sie befam wie früher ,frete Wohnung, und 
dad twar febr ſchön, febr viel; aber im fibtigen 
wiirden ihre Einnabmen wohl fo beſchränlt 
fein, daß fie unmiglic fiir fic) und ihre drei 
Rinder forgen fonnte. Darum fdlug der 
Bruder vor, dah er und die Schwagerin je ein 
Rind gu ſich nebmen follten; dafür brauchte 
Filemiene feinen Cent zu bezahlen; die Kinder 
würden fic, fotweit fie fonnten, nützlich maden 
und fo ibren Unterbalt felbft verdienen. 

Die Schwagerin ftimmte dem fofort gu, 
aber Beeldeken erfebraf bei den Worten 
ihres Bruders. O Goit, ihre Kinder, ibre 
armen Rinder! Daran hatte fie nod nicht 
gedacht, bah fie zulünftig nicht im ftande fein 
wiirde, alle drei Kinder im Haufe gu bebalten; 
aber nun wurde fie ſich deſſen plötzlich bewußt, 
uun fühlte ſie auch, daß es nicht anders ging, 
und ergeben beugte ſie das Haupt unter dieſem 
unerwarteten neuen Schlage, fo vollig vernichtet 
in ihrem Schmerz, daß ſie für ihren Bruder 
und ihre Schwägerin nicht einmal ein Wort 
des Dankes fand. So forderte dieſes allmächtige 
Schloß immer mehr Opfer von ihr, es verſchlang 
nacheinander all die ſchwachen Kräfte ihres 
traurigen Lebens, und ſie war ihm wehrlos 
preisgegeben . . 

„Nimm du die zweite, ich twill die altefte 
nebmen, und den Jungen wollen wir ihr laſſen,“ 
ſprach der Bruder yur Schwägerin, ohne Beel- 
defens Rat eingubolen. Und erjt als die 
Schwägerin fic mit feinem Vorſchlag einver- 
ftanden erflart hatte, fragte er der Form wegen 
aud die Schwefter, ob es nad ibrem Sinne fei. 

Gin Geräuſch von ſich nabernden, ge- 
dämpften Stinunen und Sebritten wurde hör— 
bar, und vom fernen Rirdturm begannen die 
Gloden gu lauten. Die Nachbarn und Freunde 
des Verjtorbenen famen mit einer Bahre, um 


Die @artnersfrau. 


ben Toten abgubolen und nad bem Kirchhof 
zu bringen. Sie klopften an die Tilr und 
traten ftill herein; ¢8 waren ibrer adht, die 
ben Sarg abwedfelnd auf ben Schultern tragen 
wollten. Wie batten fie ihre Conntagsride 
angelegt, und die braunrot gebrannten runjeligen 
Gefichter waren friſch rafiert. Ciner von ibnen 
tat die übliche Frage: 

„Frauchen, ift es mit Ihrem Willen, dag 
bie Leidhe aus dem Haus fommt?” 

Und als das troftlos jujammengefauerte 
Beeldefen ſchluchzend bejaht hatte, führte der 
Bruder fie in die Sdhlafftube, wo fie unter 
ſcharrenden Schritien ben Sarg emporhoben, 
um ibn draußen auf die Bahre yu feben. Dann 
breiteten fie die Armen-Leichendecke darüber; 
fie war aus verblidenem griinem Cammet, 
mit einem verfdoffenen goldenen Kreuz und 
Franſen verziert. Schwer hoben vier Manner 
die Laſt auf ihre Schultern und ſchritten damit 
über den knirſchenden Kiesweg jum Schloß— 
gitter, gefolgt von dem Bruder, der Schwägerin 
und den andern vier Männern, welche die 
erſten nachher ablöſen ſollten. Auch einige 
Nachbarsfrauen gingen mit, in lange ſchwarze 
Mäntel gehüllt, das ſchwarze Gebetbuch mit 
dem kupfernen Schloß in den gefalteten Händen. 
Die Kinder, für dieſen Tag zu einer Nachbarin 
gegeben, waren nicht zu ſehen. Als der lang⸗ 
ſame Zug, hinter den hohen Buchen hervor— 
tretend, vom Schloſſe aus in Sicht war, ſtand 
der Herr Baron gerade oben auf der Treppe, 
im Begriff in das Haus zu gehen. Er wandte 
ſich um, und gewohnheitsgemäß zog er den 
Hut vor dem Sarge. Die Leute aber glaubten, 


daß er ſie grüße, und mit einem ſcheuen, 


ſchrägen Blick nach dem Schloſſe nahmen ſie 
alle tief ibre Miigen ab. Der Baron bemerkte 
es nicht einmal, denn fcbon batte er die Tür 
geöffnet und war in das Annere bes Hauſes 
qetreten, wibrend der Zug — ein fleines, 
ſchwarzes, trauerndes Häuflein Menſchen — 
unter ben boben Bäumen an dem monumentalen 
Gitter entlang verſchwand. 

Nun mupte Beeldefen nod die traurigen 
letzten Entſchlüſſe ausſühren. Sie zog in die 
armſelige, baufällige, ſeit Jahren unbewohnte 
Hütte des Forſtwärters am äußerſten Ende 
des Parls und ſollte ſich dann auch gleich von 
ihren beiden Madden trennen. Die Kinder 








| Wilddiebe und Mörder. 


275 


wußten bereits von ihrem Schickſal und fanden 
ſich ſchnell darein; ſie hatten noch keine rechte 
Vorſtellung davon, wie traurig ihr Los war; 
fie wußten nod nicht, was es heißt, bas Haus 
der Mutter zu verlaſſen. So folgten ſie dieſer 
eines Morgens ruhig und willig, nachdem ſie 
mit vielen Küſſen und Liebkoſungen von dem 
fleinen Bruder Baſiellen Abſchied genommen 
hatten. 

Sie wurden von dem Ohm und ſeiner Frau 
ſehr freundlich empfangen. Aber ein unruhiges 
Leben herrſchte in ſeinem Hauſe, lärmende 
Kinder, Geſellen und Burſchen, Käufer gingen 
ein und aus, und Beeldeken hatte ſogleich den 
Eindruck, daß ihre Reinildeke bier viel gu arbeiten 
haben würde. Doch das hatte ihr Bruder ihr 
ja im voraus angedeutet, und ſie war ihm 
trotzdem dankbar, daß er ihr dieſe Unterſtützung 
gewährte. Nachdem ſie alle zuſammen in der 
dunleln, kleinen Küche Kaffee getrunken batten, 
nahm ſie ohne viel Tränen von ihrer älteſten 
Tochter Abſchied, um die zweite, Leontientje, 
zur Schwägerin zu bringen. 

War es bei ihrem Bruder unruhig und 
laut, ſo ſchien dagegen hier eine behagliche 
Ruhe zu herrſchen. Sie war Plätterin, und 
ihr ganzes Häuschen ſah ſo nett und luſtig 
aus, die kleinen Zimmer waren ſo hell, ſo 
reinlich und duftend von all dem friſch ge— 
waſchenen und geplätteten, glänzend weißen 
Linnen. [ber dem Hauſe des Bruders [ag 
etwas ernſt Schwerfälliges, womit Reinildekes 
mageres, ein wenig ſteiſes Geſichtchen ganz 
gut harmonierte; und auch hier fühlte Beel— 
deken eine gewiſſe Übereinſtimmung zwiſchen 
dem friſchen Weiß und dem ſonnigen Lachen 
ded blonden Leontientje mit den hellblauen, 
ſtrahlenden Augen. Auch von ihrem zweiten 
Kinde nahm ſie ohne große Rührung Abſchied, 
und einſam kehrte ſie in der Abenddämmerung 
zurück in ihre armſelige Hütte am Waldesrande, 
wo fie fortan mit Baſielken allein hauſen 
follte. 

Schwer fonnte fie ſich guerft daran ge- 
wihnen. Wie fie fich nachts in dem entlegenen 
Hausen fürchtete, wenn der Sturm heulend 
und flagend durd ben Wald tobte und die 
mächtigen Baume wie Steden febiittelte; das 
waren fo recht die Nächte fiir Verbrecher, fiir 
Wenn der Abend 

18* 





276 


hereinbrach, traute fie fid) nidjt mebr vor bad 
Haus; ängſtlich ftand fie bei verſchloſſener 
Tür mit Bajielfen an dem vielteiligen, fleinen 
Fenſter, blidte nach den ſchwankenden, ſchwarzen 
Tannenkronen und ſchaute der wilden Jagd 
der Wolfen ju,‘ die wie flüchtige Schatten den 
filbernen Mond bald verdedten und bald wieder 
frei gaben und das Firmament yu einem wüſten 
Chaos madten. In folden Stunden mufte 
fie beſtändig an ihren verftorbenen Mann 
denfen, der nun im fiiblen Grabe lag, an 
ihren Kummer und an den Tod. Erſt nad 
einer angen, verzweifelten Beit ſöhnte fie ſich 
ergeben mit dem Leben aus und fiigte ſich in 
das Unabänderliche. 

Der Friibling war gefommen und mit ibm 
die erquidende Lebensfriſche, der muntere Gejang 
der Vogel, die Herrlichfeit der erſten Blatter 
und Blüten. Und Beeldefen ging binaus, um 
mit Spaten und Hade das Stiidden Land gu 
bearbeiten, das zwiſchen dem Part und ibrer 
Hiitte lag, und Bafielfen, ibr fleiner Liebling, 
der Sonnenſtrahl ihres Lebens, half ibr 
dabei. 

Sie hatte ihn fo lieb, fo lieb! Das war 
etivas, twas fie jest jum erjtenmal fo innig 
fiiblte, etwas, twas fie nicht mit Worten aus: 
driiden fonnte. Oft liebfofte fie ihn, wie fie es 
nie mit einem ibrer andern Kinder getan hatte, 
und wie es aud bei Leuten ibres Standes 
nicht der Braud ijt; fie küßte und herzte ibn 
leidenfcbaftlih, Trinen der Rührung in den 
Augen, als wolle fie ibn gegen unbefannte 
Gefahren beſchützen, die ibn und damit auch fie 
bedroben fonnten. Und fie dankte dem Himmel, 
daß er fie vor weiterem Unbeil betwabrt, dak 
bas geiwaltige, gefürchtete Schlof ibr wenigitens 
ibn nod) gelajjen hatte. 

Ihre größte Sorge war ibre materielle 
Lage. Sie batte nun zwar freie Wohnung 
und cin Stiidden Land, auf dem fie ein wenig 
Rartoffeln und Gemiife pflangte, aber das war 
aud) fo giemlid) alles. Ab und zu batte fie 
ein paar Stunden des Tages bei dem neuen 
Gartner oder bei dem Pächter der Meierei das 
Unfraut auszujäten; dod fiir die Dauer ge- 
niigte dieſe geringe Einnahme nicht fiir ibren 
und Bafielfens Unterbalt. 

Sie war alfo febr erfreut, als der Pachter 
des Meierhofes fie eines Morgens fragte, ob 


Die Gärtnersfrau. 


fie ihm ibren Jungen nicht als Kubbirt geben 
wolle; er follte monatlich 8 Fr. verdienen und 
bei ihr im Hauſe bleiben. Cie mufte ibn 
dann allerding3 aus der Schule nehmen, die 
er nun ſchon befudte; aber das betradtete fie 
al ein geringes Hindernis, umſomehr alé es 
ja nur während der Sommermonate war. So 
gab fie gern ibre Suftimmung, und fdon am 
nidjten Morgen trieb Bafielfen die ſchönen, 
buntfledigen Kühe auf die Weide hinter dem 
Tannenivald. Gerührt und aud ein wenig 
ängſtlich fom Beeldefen, um nad ibm ju 
feben. 

„Biſt aud nidt bange, Sunge?” fragte fie 
halb lachend und dod) mit Trinen der Rührung 
in ben Augen. 

„Aber gar nicht, Mutter,” antivortete das 
Bürſchchen freudeftrablend und dreiſt mit leud= 
tenden Bliden. Wie ein Zwerg unter Riefen 
ftand er neben den rubig grajenden Kühen, 
ließ hoch iiber ihrem bunten Riiden feine lange 
Peitſche fnallen und fang iibermiitig die Hirten= 
weife mit dem weithin fdallenden Alahoe! 
Alaboe! Alahoe! Wie ein Echo gaben es aus 
einiger Ferne andere Hirten zurück. 

Da lachte die Mutter berubigt und beimabe 
ſtolz. Wie flint und geſchickt ihr Junge war, 
alg ob er dieſes Amt ſchon feit Jahren aus: 
jibe. Und fie ging am fonnigen Waldesrand 
ein Stiié mit ihm entlang in der durch— 
dringenden Milch- und Mofdusluft, welche 
die friedliden Tiere ausſtrömten. Die guten, 
von angen, weißen Wimpern befdatteten Mugen 
balb geſchloſſen, graften fie mit der Langen, 
rauben Zunge und der feudten, ftumpfen 
Schnauze die furzen, friſch betauten Grashalme, 
bie flaumigen, runden wilden Kleeblätter, die 
leuchtend weißen Mapliebden und die glangend 
gelben Butterblumen ab, indem fie ein ein: 
toniges Geräuſch verurjadten, wie von einer 
rhythmiſch fic bewegenden, mabenden Senfe. 
Hin und wieder blidte die cine oder andere fiir 
cinen Moment empor, ohne ibr Kauen zu 
unterbrechen, fanft blifend, mit der Spite ibrer 
rauben Sunge die feudte Nafe beledend oder 
mit einem tragen Wedeln ihrer langen Schwanz⸗ 
quajte die Fliegen von den Schenleln forts 
jagend. — Bon dem dunfeln Hintergrund des 
Waldes hoben fich die fajtig goldgelben Streifen 
bliihenden Klees und die in unabjebbare Fernen 


Die Gartnersfrau. 


fid) debnenden frudtbaren Felder mit ihrem 
weddfelvollen, leuchtenden Grin in lieblichem 
Farbenſpiel ab. arte Friiblingsbliiten er: 
füllten die Lujt mit ſüßem Woblgerud, und 
fröhlich fcbmetterten die Lerchen ihre luſtigen 
Vieder jum ftrablenden Himmelszelt empor. 


* * 
* 


Nun war das Schloß auch wieder bewohnt. 
Die jablreihen Familienmitglieder mit den 
vielen Rindern waren wieder da; aber aud 
pon Fremden wimmelte es, die taglid in 
pridtigen Wagen famen und gingen. Alle 





Augenblick ertdnte der Ruf ber Glode; galonierte | 


Diener, Kutſcher in Livree, Hausmiadden in 
ſchwarzen Kleidern und weißen Schürzen cilten 
bin und ber. 


Beeldefen, die jest viel weiter vom Schloſſe 
entfernt twobnte, merfte nicht mebr viel von | 


all der Unrube; aber trogdem fühlte fie wieder, 
wie in friiberen Commern, eine unbejtimmte, 


driidende Laft auf ibrer Seele. Wieder meinte | 


fie, nicht frei atmen und [eben gu können; und 
dieſe Furcht war mit einem feltjamen Reig der 
Neugier gemiſcht, wenn fie daran badte, dah 
fie nun twobl etwas mebr von dem Schloſſe 
fennen lernen würde, da fie ja nach der Ab— 





machung mit dem Herm Baron vielleicht bald — 


zur Arbeit hinberufen werden würde. 


Das geſchah denn aud. Eines Morgens 


ſah ſie eins der Mädchen vom Schloſſe ſich 
ihrer Hütte nähern, während ſie, auf der 
feuchten Erbe lauernd, damit beſchäftigt war, 
ihr kleines Kartoffelfeld pom Untraut zu befreien. 
Als das Mädchen nahe genug war, um von 
ihr gehört zu werden, blieb ſie am Rande des 
Feldes ſtehen, damit ſie ihre zierlichen Schuhe 
nicht mit Erde beſchmutze und rief: 


„Filemiene, die gnädige Frau läßt dir ſagen, 
bak bu heute ing Schloß fommen mußt; wir 
| betrinf’ mid ja,” antwortete Beeldefen, ängſt⸗ 


haben ein groped Diner, und du follft ab- 
wafden belfen!” 

„Im Schloß?!“ ricf Beeldelen, dic bei der 
Nachricht erſchrak. 

„Natürlich,“ 
Pferdeſtall dinieren ſie 
fommen ?“ 

„Ja,“ antwortete Beeldefen auiftebend. 


nicht. Wirſt du 





lachte das Madden, ,im | 


Köchin. 


277 


friſierten, blonden Haar, dem eng anliegenden, 
ſchwarzen Kleid und der glänzend weißen 
Schürze erſchien ſie hübſch und elegant wie 
eine junge Dame. 

Beeldefen ging fofort ins Haus, um andere 
Rleiber anzuziehen; dann verriegelte fie ibre 
Tür und eilte nad dem Schloß. Aber che fie 
ed erreicht batte, begegnete fie unerwartet binter 
cinem Rhododendron: Gebiifh der gangen er— 
faucbten Scar der Familie und der Gaijte, 
die in dem Part fpajieren gingen. Erſchrocken 
fubr fie zuſammen, grüßte ſcheu, wurde fener: 
rot und ſchlug haſtig einen krummen Seitenweg 
ein; ſie fühlte ſich in ihrer Niedrigkeit völlig 
vernichtet von dem überwältigenden Anblick all 
der farbenprächtigen Toiletten. Mit einem 
großen Umweg gelangte ſie endlich an die 
Rückſeite des Schloſſes und war froh in dem 
Gedanken, daß fie body nun wenigſtens nicht 
gleich ihrer Herrſchaft unter die Augen zu treten 
brauchte. 

„Sieh, ſieh, da biſt du ja ſchon,“ rief ihr 
die dide Köchin von der Küchenſchwelle aus 
entgegen. „Nun, fommit gerad’ zur Zeit, wir 
wollen ejjen; fomm’ nur rein.“ 

Schüchtern trat Beeldefen naber. O, twas 
fiir eine ſchöne, grofe Küche! Und wie leder 
es bier nad) Saucen und Speiſen rod! Welde 
Bequemlidfeit fiir alles! Was fiir ein herr— 
lider, grofer Herd! Und all’ die unjabligen, 
golden und filbern glangenden Töpfe, Schüſſeln 
und Pannen, wie fle fie nocd nie gefeben 
batte, und von deren Anwendung fie fid gar 
feine Borftellung maden fonnte! Bor Be: 
wunderung und Ehrfurcht ſchlug fie die Hande 
zuſammen. 

„Das iſt hier 'n Reichtum, was?“ rief die 
„Na, ſetz' dich man erſt und trink 
'n Gläschen Port, das macht Appetit.“ 

„Ach nein, nein, das wag' ich nicht, ich 


lich das Glas zurückweiſend, das die Köchin 
ihr einfdentte. 

„Ach was, mußt dich hier nicht genieren,“ 
drang die Köchin in ſie und ſtellte das gefüllte 


Glas auf dic Ede eines großen, weißen Tiſches 


Und ſchon war das Madchen fort; fie hatte 


neben Beeldefen. 
„Aber id) bin ficher danach betrunfen,” 
jitterte Beeldefen, indem fie nur nippte, „ich 


gar flinfe Bewegungen, und mit dem forgfiltig | fühl's ſchon; es figt mir ſchon im Kopf.” 


278 


Das Madden lief jum Herd und fcbiirte | 


bas Feuer an. Lachend und ſcherzend famen 


mit lauten Schritten der Kutſcher und cin | 


Diener herein. 

„Iſt alles fertig, Marie?” rief der erftere, 
,wir haben Hunger.” Dann faben fie das 
Beeldefen und griiften fie. „Ach guten Tag, 
Filemiene, wie geht's; fommft auch mal ber 
'n bißchen helfen?“ 


Und ohne eine Antwort 


abzuwarten, ging der Kutſcher an den Schrank, 


in dem die Flaſche Portwein ſtand, und 


ſchenkte fid) hintereinander zwei grope Glas | 


poll cin. 
„Oho, oho! Biſt wohl nicht recht gefdeit!” 
rief Die Köchin ihm drobend gu. 


„Was, follen wir nidt mal 'n Glasden | 


binter die Binde gießen!“ ſcherzte er, und die 
Flaſche bem Diener gebend, der feinem Beiſpiel 
folgte, lief er gur Rodin, ſchlug feinen Arm 
um ihre Hüfte und gab ibr einen fdallenden 
Rub. 

Dod wütend ſtieß fie ihn fort, rig mit 


Gewalt dem Diener die Flafche aus der Hand | 
Abwaſchtiſch in der ſchönen, grofen Nebenküche 


und verſchloß fie im Schrank. 





„Wenn ihr nicht verntinftig feid, befommt | 


ihr gar nichts, das merft eud! Und nun holla, 
fest euch, wir wollen efjen. Berdammt! .. . 
muff ic erſt wieder nad den Mädels oben 
flingeln! Holla! Franz, klingel' mal! Nie find 
fie aur Beit da, die Faullenger!” 

Beeldelen blidte ſcheu aus ängſtlichen, er: 
febrodenen Mugen. Wie fonnten fie es wagen, 
fo laut und refpeftlos zu reden in diefem 


ſtolzen Schloß, wo ihr alles fo getwaltig im: | 


ponierte! Und plötzlich dachte fie mit tiefer 
Trauer an ibren feligen Mann, der ja auc 
fein ganged Leben lang folde tice Ehrfurcht 
por bem Schloſſe gebabt hatte wie fie. 

Die Madden famen herunter und festen 
fid an den Tiſch. 
nod mebr betroffen von dem groben Geſprächs— 
ton und all dem Häßlichen, dag fie miteinander 
redeten. Die Köchin war bejonders boshaft, 
ſpit und fcbarf gegen das blonde Hausmadden, 
welches Beeldefen am Worgen gerufen batte, 
und bem der Kutſcher augenſcheinlich ben Hof 
machte. Uber vollends entſetzt war fie, als 
die Leute über thre Herrſchaft und deren afte 
ſprachen. Sie ward dunlelrot vor Schrech, 
lonnte nicht weiter eſſen, fo gut es auch ſchmeckte 


Und nun war Beeldelen 


Die Gartnerdfrau, 


und ſah fortwährend angftvoll nad der Tür, 
als ob fie jeden Augenblick fürchtete, den Herm 
Baron oder bie gnadige Frau Baronin in 
bellem Zorn auf der Schwelle erſcheinen ju 
feben. Die andern bemerften ibre Angſt und 
lachten fie aug. 

„Du bift wobl bange, was?” fragte der 
Kutſcher. 

„Ich hab' ſolche Angſt, daß der Herr oder 
die gnädige Frau kommen kann,“ antwortete ſie. 

Da brachen ſie alle in ein ſchallendes 
Lachen aus. 

„Ach, das möcht' ich mal erleben,“ rief die 
Köchin, die Fäuſte in die Hüften ſtützend. 

„Die gnädige Frau fommt nie in die 
Küche,“ erflarte das blonde Madden dem 
Beeldeken. 

Aber dieſe war nicht zu beruhigen; ſie 
fonnte es nicht begreifen, dah eine gnädige 
Frau nie in ihre Küche kommen ſollte. — Ws 


ſie «mit bem Eſſen fertig waren, ftanden fie 


auf und gingen alle wieder an ihre Urbeit; 
aud Beeldefen wurde gleich ihr Was am 


angetviefen, 

Bald rief die Glode gum Diner der Herr= 
fchaften, und nun begann in der Küche ein 
wüſter Larm; Teller und Gläſer flirrten, bajtige 
Schritte famen und gingen, Flajden wurden 
puffend entforft; Madchen und Diener lachten 
und fcberjten, immer mit gewagten Anfpiclungen 
auf die Herrſchaften, und dazwiſchen Hang ab 
und ju ein beiferer Ruf oder ein furjer, derber 
Fluch der Köchin. Beeldefen ftand zitternd an 
ibrem Abwaſchlaſten, ibre Wangen glitbten von 
bem Glisden Wein, das fie getrunfen hatte, 
und von bem beigen Wafjerdampf, der fie wie 
ein Nebel umhüllte. Sie war fo aufgeregt, 
jo erfcbroden und entſetzt, dak fie bem Weinen 
nabe tar. 

» Die Sorte fann efjen, was? Ich wunder' 
mid) blof, daß fie nicht platen!” rief die 
Köchin, als ſie ihr wieder cinen Haufen Geſchirt 
zum Abwaſchen bradte. Und plötzlich zog fie 
Beeldeken am Ärmel: 

„Komm mit, mußt dic mal bie Bande 
anfeben; fie ſitzen balb nadt am Tiſch!“ 

„Ach, wo denfit Du bin, Das tag’ ich nicht, 
bas wag’ id nicht!” eiferte Beeldefen da: 
gegen. 


Die Gartnerdfrau. 


„Ja, ja; fomm nur mit, form, kannſt fie 
feben, obne dag ſie's merfen.” Und mit 
Gewalt fajt gog fie fie mit fid) fort durch 
einen breiten, weif marmornen Gang nad 
bem grofen, marmornen Beftibul voll Blumen 
und Blatipflangen, von wo fie unbemerft durd 
eine Glastiir in den Eßſaal ſehen fonnten. 
Sih ganz flein madend, ſah das gitternde 
Beeldefen in dem pradtigen, hohen, großen 
Raum die langen, [ebhaft ſchwatzenden, bunten 
Reiben der Gajte an den märchenhaft gefdmiidten 
Tiſchen fiten; die Herren alle im ſchwarzen 
Frag mit weißer Binde, die Damen von 
Juwelen ftrablend, die blonden oder dunfeln, 
kunſtvoll frifierten Köpfe mit Blumen geſchmückt 
— aber nadt, nadt, nadt, die größere Halfte 
des Oberfirpers nadt, mit bloßem Hals und 
blofen Armen, mit bloßen Schultern und 
blopem Rücken, alled nat, leudtend nadi, als 
bitten fie auf halbem Wege aufgehört fid 
anzukleiden. 

„Ach Herr Jeſus, Herr Jeſus! Die haben 
ja fein Hemd an!” rief Beeldefen, und ſchlug 
entfest die Hinde gufammen. Und plötlich 
rannte fie fort, vor Aufregung beftig ſchluchzend, 
wabrend die Rodin in lautes Laden ausbrach. 

Cie hatte feine Ehrfurdht mehr vor dem 
Schloſſe. Nun fie endlich wußte, twas da 
binter ben ſtolzen Mauern und Türmen 
geſchah, empfand fie cine furchthare Enttäuſchung 
gemiſcht mit einem Gefiibl bitteren Verdruſſes 
und Bebdauerns, dap fie das alles nicht diel 


fritber gewußt babe. O, wenn fie nun bedadte, | 
der Hirten müde geworden und hatte andere 


daß barum ihr geliebter Mann geftorben war, 
geftorben, teil er fiir diefe ſchamlos nadten 
Frauen und dieje aufgedunfenen diden Dinner 
ſich fiber feine Kräfte gequalt und geplagt 
bat; wenn fie daran dachte, daß man darum 
ibr ibre gelicbten Kinder genommen, fie aus 
ihrem Hauſe vertrieben hatte — dann fiiblte 
fie, wie graufam, wie bart und ungeredt das 
alles war. Gie waren die Dpfer ihrer Chr- 
lichfeit und Ergebenheit geworden, fie waren 
unverdient geftraft tworbden fiir all ibre Giite 
und Bravbeit, während dic Diener, Knechte 
und Mägde bier, die ihre Herrſchaft hinter 
ibrem Rücken verfpotteten, beleidigten und 
beftablen, in Wobhljtand und Überfluß im 
Schloſſe leben durſten. Die haben niemals 
Refpeft vor dem Schloſſe gebabt, die beherridten 


279 


| e8 durch ibren Haß und ihre heimliche 
Verachtung, durch ihre beſtändige verftedte 
Feindſeligkeit. Und das arme, ſchwache Beel- 
defen beneidete ihren verwegenen Spott, obne 
daß fie es wagte, es ihnen nachzumachen. 
Denn obgleich ihre Ehrfurcht geſchwunden war, 
konnte fie ſich dod) von jener unbeſtimmten 
Furcht nicht frei machen, daß das mächtige 
Schloß ihr noch viel Kummer und Leid bringen 


könne. 


* * 
* 


Bafielfen war wie gewöhnlich mit feinen 
Kühen auj die Weide gegangen. Es war nun 
| vollends Sommer geworden, alles griinte und 

bliibte in voller Pracht; die Vogel jubilierten 
in den Baumen; buntfarbige Sdmetterlinge 
idwebten über ſüß duftenden Blumen; wie 
die Wellen eines twogenden Meeres neigten 
fic) die ſchwanken Halme unter der Lajt der 
goldenen, ſchwer gefüllten Ahren, und das 
iippige Laub des dichten, tiefen Waldes fpendete 
Schatten und Schutz gegen die Glut der 
Sonne, Wie fchin das alles war, twie frifh 
und erquidend! Langſam und twoblgemut 
ſchlenderte Bafielfen neben feinen Kühen einber; 
cr hatte bas ſchmutzig graue Hemdchen auf 
ber Bruſt offen gelaſſen; die fajt weifblonden 
Haare und bas braun gebrannte Geficht 
ſchützte keine Miike, die blofen Füße fein 
Schuh. Dod belle Lebensfreude blitzte aus 
feinen Mugen, und in luftigen Tönen ſchmetterte 
er fie in bie Welt binaus. Er twar des „Alahoe!“ 





Klänge gefunden: den liebliden Gefang der 





Lerche abinte er nach, das Girren der Tauben, 
das Krähen des Habnes, das Schleifen der 
Senje, das Bellen des Hundes. Das lebtere 
amiifierte ihn ganz befonders, denn fein Bellen 
pflegte regelmäßig von einem Hunde beantivortet 
ju werden, den er dann ftets bald binter den 
Zweigen der Erlengebüſche gewahrte. Es war 
Picky, eines der Hündchen vom Schloß, ein 
rot und weiß gefleckter Terrier, der auch heute 
wieder mit Mademoiſelle Iſabelle, dem zarten 
Enkelkind des Barons, und deſſen Gouvernante 
ſpazieren ging. 

Da dachte ſich Baſiellen einen Spaß aus. 
Als er ſie am Wieſenrand hinter den Erlen 
ſich nähern ſah, kauerte er ſich ſchnell, vorſichtig 








280 


und ftill unter die herabhängenden Zweige, 
und in dem Moment, als das Kind mit dem 
Fräulein und dem Hund vorbeifam, fprang 
er plötzlich bellend und wie ein Hund auf 
allen Wieren [aujend bervor. Das Rind und 
die Gouvernante fubren erſchrocken zur Seite, 
wibrend Picy mit wiitendem Gellaff auf ibn 
losfdnaubte. Das Eleine Madden aber floh 
wie befefjen, beulend und febreiend, als babe 
man einen Mordanſchlag gegen fie verübt, nad 
dem Schloß zurück, gefolgt von der Gouvernante, 
die fic) vergebens bemithte, es eingubolen. 
Der Terrier lief ihnen nad, und ftarr vor 
Angft, Tranen in den Augen, ftand Bafielfen 
allein auf der Wiefe bei den Kühen, die 
rubig weiter graften und faum einmal auf: 
qeblidt batten... 

Beeldefen war auf ibrem Stiidden Ader 
‘bei der Urbeit, als fie, mechaniſch aufſchauend, 
den Baron auf fic) gufommen fab. Cin 
inftinftiver Schreck bemadtigte fich ihrer, denn 
er fam niemals bierber; und als fie mit bem 
ſchüchternen, fliichtigen Blid, den fie auf ibn 
qu werfen gewagt batte, bemerfte, wie rot und 
wütend er ausfab, war fie vollends betroffen. 
Er ging fo ſchnell, wie es fein ſchwerfälliger, 
fteifer Körper erlaubte, bei jedem Schritt den 
jtiigenden Stod in die Erbe ftemmend, und 
während das entſetzte Beeldefen fic nod 
fragte, ob fie es wirflid) tar, die er in feinem 
Sorn fuchte, birte fie plötzlich feine raube 
Stimme: 

, oe, fomm mal ber, du!’ und unbeweglid 
ftand er auf dem Grasweg, fie gebieterifd mit 
feinem Stod berbeiwinfend. 

Sie fprang empor, fcbiittelte haſtig die 
feudte Erde von den Händen und Kleidern 
und lief mit glutrotem Geficht zu ihm bin. 

„Was wiinfden der Herr Baron?“ 

„Du baft die Wabl!” ſchrie er, zitternd 


por Wut, „entweder fcidjt du augenblidlid | 


deinen rüden Bengel fort, oder du gebjt | 


ſelbſt!“ 

Alle Farbe war aus ihren hageren Wangen 
gewichen, mit ſtumpfem, ſtarrem Blick, vor 
Schreden keines Wortes mächtig, ſtand fie wie 
angewurzelt da. 

„Dieſe Range; dieſe abſcheuliche, gemeine 
Range! Er hat Mademoiſelle Iſabella beinahe 


i 





Die Garinersfrau. 


bir Beit, ihn fortgubringen. Haft du mid 
verftanden? Wenn er innerhalb dieſer zwei 
Stunden nidt guttwillig weg ift, jage ih did 
felbft fort!” 

„Es ift gut, Herr Baron, ic twerde ibn 


-wegbringen,” anttwortete Beeldefen medanifd, 


mit faſt unborbarer Ctimme. Ihr ganjer, 
armfeliger Körper bebte, dide Tränen ftanden 
ibr in den Augen. „Aber twas hat er denn 
getan, Herr Baron, id fann mir nicht denfen, 
was da gefdeben fein muß ...“ 

„Er bat Mademoifelle Iſabella erſchreckt, 
ſage ich dir ja, hat ſich hinter dem Erlengebüſch 
verftedt und iſt dann plötzlich, bellend wie 
ein Hund, vorgeſprungen, als ſie mit der 
Gouvernante ganz nah bei ihm war. Das 
Kind hat vor Schreck faſt den Verſtand verloren; 
wir fürchteten, daß es uns in Krämpfe 
fiele. Ach dieſer Schlingel, dieſer verdammte 
Schlingel! Es iſt ſein Glück, daß er mir 
nicht unter die Finger gekommen iſt, ich hätte 
ihn mit meinem Stock zu ſchanden gehauen!“ 

„Ach Herr Jeſus, Herr Jeſus, was ſind 
das für Sachen!“ jammerte Beeldeken, die 
Hände ringend, während der Baron ſich drohend 
umſah, als wolle er den Schuldigen entdecken. 
Dann wiederholte er noch einmal ſeinen 
unwiderruflichen Befehl: 

„Innerhalb zwei Stunden iſt er fort, oder 
du gehſt ſelbſt,“ und ohne Gruß ging er ins 
Schloß zurück. Seine hagern Beine zitterten 
von der übermächtigen Anſtrengung, die 
Schultern hatte er ſteif emporgezogen, der dicke 
Hals leuchtete dunkelrot unter dem Rande 
des gelben Strohhuts. 

Beeldefen aber ſtand nod immer auf 
derfelben Stelle, alg wäre fie ihrer Cinne 
nicht mächtig. Endlich verſchwand fie, medanifd 
vorwärts fdreitend, auf dem Wege nad der 
Meierei, um nun auc ibren lesten Troft, ihren 
eingigen, geliebten Jungen fortzugeben. Sie 
fiirctete, dap es bewegte Szenen geben 
finnte, fiirdtete fid) beſonders vor ibrer eigenen 
Schwäche und Riibrung und beſchloß, mit 
Aujbietung ibrer ganjen Cnergie ihm die 
Wahrheit vorjuenthalten und ibm feine Vorwürfe 
ju maden. 

„Baſielken“ fpradh fie, alg das Rind mit 
ben Kühen nad dem Meierhof juriidfam, „du 


yu Lode erjdredt! Zwei Stunden gebe id | jolljt nod heute Nachmittag mit mir nad 


*8 


Die Gartnersfrau. 


Vameloare gehen, mal Reinildefe guten Tag 
fagen.” 


Der Ernft der Lage hatte ihr pliglid | 


einen mutigen, tapferen Entſchluß eingegeben. 
Fort mute er, bagegen war nicdts yu tun; 
felbft weggeben fonnte fie nidjt, das ftand 
für fie gleid) mit betteln geben. Cie wollte 
ibn aljfo yu ihrem Bruder bringen, wo ja 
aud ſchon ibre älteſte Todjter war; inftandig 
wollte fie ibn bitten, daß er aud nod 
Bafielfen ju fic) nehmen modte, und ware es 
aud nur fiir ben Augenblick, bis man etwas 
fiir ibn gefunden atte. 

„Komm,“ fprad fie, den kleinen Burſchen 
an bie Hand nebmend. Das fonjt fo muntere 
Bafielfen war tie} niedergefhlagen und mit 
dem Vorſchlag augenſcheinlich nicht einverftanden. 
Dech ſie ging mit ihm zu dem Meier, der 
ihre Bitte, ihn fiir den Nachmittag freizugeben, 
fofort exfüllte. Abends, nad ibrer Riidfebr, 
wollte fie dann dem Meier alles erzählen. 

Sie zog ihrem Liebling die Conntagsfleider 
an und nabm die Alltagsſachen in einem kleinen 
Pafet unter den Arm, dod fo, dap fie ed 
ihm foviel wie möglich verbarg, indem fie ibm 
bie andere Hand reichte. Schweigend und 
ſchnell gingen fie fiber frumme Canbdivege, 
bald im Schatten hoher Pappeln, bald über 
freie, fonnige Felder. Cie litten unter der 
warmen Conne, nod mebr aber unter dem 





unausgefprodencn Dru ibres ſchweren Gemiits. | 


In ibrem Schweigen fag eine heimlide Angſt, 
bie Beeldefen gewaltſam vorwarts zu treiben 


fdien, fo daß der Eleine Rerl ab und zu 


laufen mufte, um mit ibren baftigen Schritten 
mitjufommen. Cr fiiblte febr wohl, dag er 
diefen Weg nicht gum Vergniigen madte, dah 
derjelbe in einem gebeimnisvollen Sujammen- 
bang ftand mit feiner Miſſetat von heute früh; 
inftinftiy empfand er es, je länger defto 
driidender, wenn aud) feine Mutter fein Wort 
davon erwähnte. 


ber Mutter umflammert, wie in einem ftummen 
Flehen um ibren Schub. 

Beeldefen hielt fid) mit Anftrengung ibrer 
ganzen Kraft mutig und ftarf. Dod als fie 
bas Dorf erreidten, wurde fie pliglid von einer 
madtigen Bewegung ergriffen; eine ungeſtüm 


Gr fragte fie aud) nidt; | 
aber in der bangen Borabnung, dak ibm cin | 
Unbeil drohe, bielt er krampfhaft die Finger | 








281 


emporquellende Zärtlichleit fiir ihr liebes, 
artiges Jungchen durchzuckte ihr Herz bei dem 
Gedanken an die nahe bevorſtehende Trennung, 
und zitternd drückte ſie ſein Händchen feſter. 
Ach nein, ſie konnte ihn nicht hergeben, ſie 
fonnte es nicht! Cie wollte Lieber betteln 
geben, lieber im Elend flerben! Cin Schluchzen 
ſchnürte ibr die Reble zuſammen, ihr Scbritt 
wurde unjider und ſchwankend, und fdon 
madte fie eine Bewegung, als wollte fie 
umfebren, flieben mit ihrem Kinde, als plötzlich 
dict binter ibrem Riiden eine Tür aujgeriffen 
wurde, und eine fdrille Stimme rief: 

„He, Filemiene . . . wo fommt ihr denn 
heee 
Sie wandte ſich erſchrocken um und erkannte 
ihren Bruder, der, hier im Hauſe arbeitend, ſie 
vom Fenſter aus geſehen hatte. Da fühlte 
ſie plötzlich eine Schwäche im ganzen Körper 
und hatte nicht den Mut umzukehren. 

„Ach, du biſt's,“ ſagte ſie mechaniſch, und 
zunächſt den Zweck ihres Beſuches verbergend, 
fügte ſie hinzu: „wir wollten mal ſehen, wie's 
Reinildele geht.“ 

„O gut, ſehr gut, ſie iſt hier ſehr zufrieden,“ 
prahlte der Bruder, „und wie ſteht's mit dem 
Burſchen hier?“ lachte er, Baſielken unter das 
Kinn faſſend. „Wartet 'n bißchen, id geh' 
mit euch.“ 

Er ging ſchnell zurück in das Haus, gab 
den Geſellen, die nun allein weiter arbeiten 
ſollten, einige Anweiſungen, fam gleich wieder 
und brachte die beiden unter eifrigem Schwatzen 
in ſeine Wohnung. Als ſie eintraten, ſahen 
fie Reinildefe, hinter dem Ladentiſch ſtehend, 
mit einem Käufer verhandeln. 

„Ach Herr Jeſus, Mutter und Baſiellken! 
Wie kommt ihr hierher!“ rief das Mädchen 
und wurde dunkelrot. 

Und gleich kam auch die Schwägerin aus 
der Küche herzu, vor Überraſchung die Hände 
zuſammenſchlagend. 

„Filemiene und der Jung'! Seid ihr auch 
mal da? Kommt rein und ſetzt euch, ihr müßt 
Kaffee trinken.“ 

Sie führte fie cin paar Stufen hinunter 
in die dunkle Küche neben dem Laden und 
begann nun eifrig umberjulaufen, das Feuer 
anfadend, Butterftullen ſchneidend, Kaffee 


_mablend, und dabei beftindig ſchwatzend und 


bers Die Gartnersfrau. 


jaar, wobrend ihr Mann mit jufriedenem 
‘ofien aot bebaglidem Schnalzen feine Pfeife 
Und fie muften Saffee trinfen, 
netitaeid fie fein Vergniigen daran batten, 
Aaueſten blieb bas Brot in ber Keble fteden, 
mn Seelelen befam trog alles Bittens von 
‘Neuter und Schwägerin nidt einen Biffen, 
me einmal ein Stückchen Kuchen binunter, 
set fle Gberlegte fortivdbrend, ob und wie fie 
te (etud) anbringen follte. 

M6 und gu fam aud Reinildefe herein, 
ater immer nur auf einen Augenblick, obne 
cabrg mit ihrer Mutter reden ju können, denn 
mimter twieder ging die Rlingel der Ladentiir. 
Huh die Söhne de8 Haujes famen, zwei 
plumpe, grobe, fünfzehnjährige Burfden, die 
mrt ihrem ſchwarzen Haar, der gelben Gefidts- 


PSL ikeiAees 


farbe, dem grofen, gewöhnlichen Mund und — 
ten häßlichen Augen beide der Mutter febr | 


abhnlich waren. Nach Art der Schreiner trugen 
fie grauleinene Sittel und Schürzen. Plump 
ladend griiften fie Tante und Better und 
fingen dann gleid) an, unmäßig zu effen; obne 
ein Wort gu reden, ftopiten fie fich ununter- 
broden gewaltige Stiiden Brot in den Mund 
und tranfen baju Laut fcbliirfend den beigen 
Raffee aus riefenhaften Töpfen. Qn ſtolzem 
Woblgefallen lächelnd fahen die Eltern ibnen 
ju und freuten fic) ibrer Stärke und Tüchtig— 
Feit, Als fie mit ihrer reichlichen Mahlzeit 
fertig twaren, klopfte ber Ohm Bafielfen ladend 





auf die Schulter und fagte, er folle mal mit | 
wohl, daß ihnen daran lag, ihre Todter ju 


jeinen Jungens in die Berfftatt geben und 
jeben, was fie ba machten. Wber Bafielfen 
fiirebtete fich und flammerte ſich twieder an die 
Hand der Mutter, die er eben erſt losgelaſſen 
batte. 

» kein, nein. . . nicht allein . . . ich Hab’ 
Angſt, Mutter muß mitgeben . . .” 

Der Ohm und die Sungen lachten ibn aus. 

„Was, Angft in die Werfftatt gu geben? 
Haba, ijt das 'n Küken!“ und fie wollten ibn 
gewaltſam mit fortzieben. Aber der Kleine 
begann ju weinen, und felbft feine Mutter 
fonnte ibn nicht bewegen, mit den beiden 
Burfdien allein gu geben. Erſt als er fab, 
dah fie ihnen folgte, lich er fic) dazu über— 
reden, und aud dann nod twiderjtrebend. 

Sn der Werkftatt ein paar Sebritte binter 





den Jungen zuriidbleibend, fammelte Beeldefen | 


| Weigerung cin wenig zu mildern. 


endlid) ibren ganjen Dut, um ben twabren 
Bwed ihres Beſuches zur Sprade zu 
bringen. 

„Ach, birt mal, Siez und Urzula, ih muß 
euch ſchnell etwas ſagen, da wir gerade allein 
ſind,“ und mit ängſtlichem, dumpfem, gehetztem 


Ton erzählte ſie von dem traurigen Vorfall. 


„Sakerlot, Salerlot,“ fiel ihr ber Bruder 
ein paarmal ins Wort, bedenklich den Kopf 
ſchüttelnd, „und was willſt du nun mit ihm 
tun?“ fragte er, als ſie ihre Erzählung be— 
endet hatte. 

„Ach, ich hab' gedacht, daß ihr ihn vielleicht 
für ein Weilchen nehmen könnt,“ antwortete 
ſie demütig und erſtickte einen Seufzer. 

Da kraute ſich der Mann heftig den Kopf 
und verzog das Geſicht, während die Frau 
erſchrocken ausrief: 

„Ach du meine Güte!“ 

„'s iſt nicht möglich, nicht möglich, wir 
haben keinen Platz,“ ſagte er endlich, „unſer 
Häuschen iſt gu llein, jeder Winkel ſchon be— 
fest.” 

„Ich fann ja Reinildefe wieder mitnebmen, “ 
wart das jitternde Beeldefen ſchüchtern cin. 
Aber heftig wiefen die beiden Cheleute diefen 
Rorfdlag ab. 

„Ach, two denlſt du bin, fie ift bier fo gut 
aufgehboben und fo jufrieden, und fie lernt bier 
bas Geſchäft. Später fann fie fic) vielleidt 
felbjt mal ‘nen Laden aufmachen.“ 

Und plötzlich begriff die arme Frau febr 


behalten, tweil fie Rugen von ibr batten, und 
nicht Bafielfen, der ihnen mehr Lajt als Hilfe 
fein würde. 

„Geh' doch mal gu Mie-Threſe, die bat 
Plag vie Menge,” meinte der Bruder. Und 
ba ibr feine Wahl mehr blieb, beſchloß fie, 
feinen Rat yu befolgen und den Jungen nad 
int: Maria=-Arpoela zu bringen, wo die 
Schweſter ihres feligen Mannes wobnte. 

Sie ging mit Baſielken in die Küche zurück, 
wo Bruder und Schwägerin ihr mit viel 
Freundlichkeit nochmals Trank und Speiſe auf— 
zudrängen ſuchten, um fo ihre hartherzige 
Doch ſie 
lehnte alles ab, und nach kurzem, baftigen 
Abſchied von Reinildefe, die wieder mit Kaufern 
im Laden ſtand, gingen fie fort. 


Die Gartnersfrau. 


Die Sonne ftand bod am Himmel und 
brannte heiß auf fie bernieder, wabrend fie 
zwiſchen baumlofen, wallenden Rornfeldern 
babinfebritten, Dod) das maleriſche Dörfchen, 
dad fie bald erreichten, [ag im lühlen Schatten; 
und gleid) am Gingang dedfelben, an einer 
RKriimmung des Wegs, ftand Mie = Threfens 
Haus. Es gewährte einen gar freundliden 
Anblid mit feinen weißgetünchten Mauern, 
den altertiimlicben, gemalten Blumen lings 
des Giebels, den griinen Fenfterladen, dem 


grellroten Ziegeldach und den ſchaltigen vier 





283 


„Ach bu lieber Gott, foll id ihn denn 
gleid) fo unter fremde Menfchen geben!” ſeufzte 
Beeldefen unter Tranen. 

„Was willft du anders machen?” antivortete 
MiesThrefe. „Ich habe fiir did) getan, was 
ih fonnte, als ich Leontientje yu mir nabm; 
aber Mannsvolf fann id hier wicht gebrauden, 
fag’ id) dir. Alſo ſchnell, fomm mit, daß twir 


ibn nod) treffen.“ 


alten, pradjtigen Linden ju beiden Seiten der | 


bogenfirmigen fleinen Tür. 
ftanden weit offen, und ſchon vom Wege aus 
fab die Mutter ihr Leontientje, die mit 
bodroten Wangen an dem leuchtend tweifen 
Plattifd mitten in dem bellen Zimmer fteben. 
Der ganje Naum war angejiillt mit blendend 
weifer Wajde, die tiberall umberbing und -lag, 
und auf welche die leiſe ſich wiegenden Linden: 
blatter in fraujen, grünen Licht: und Schatten: 
ſpielen wunderlide Spitzenmuſter zu werfen 
ſchienen. 

Als ſie ſich dem offenen Fenſter näherten, 
ſah Leontientje auf, und mit einem Freuden— 


Die Fenſter 


Und fie zog Beeldelen mit ſich hinter das 
Haus durch einen Heinen Garten, deſſen Tür 
auf das Wirtshaus bhinausfiibrte. Bafielfen 
hatte, während er mit der Schweſter vor der 
Tiir fpielte, ihr ſchnelles Verſchwinden nicht 


| bemerft. Die arme Mlutter aber erfannte aud 





ſchrei feste fie ihr WMatteifen nieder und fam | 


berausgeflogen. Aud Tante Mie-Threfe war 
fofort ba, mit einem großen runden Kaffeetopf 
fam fie aus dem Hinterbaufe, und aud) fie 
war freudig überraſcht, fie da fo unertwartet ju 
feben. Bafielfen, jest viel weniger ängſtlich 
und mißtrauiſch, ließ ſich von der fröhlichen, 
lachenden Schweſter mit nach draußen unter 
bie duftenden Linden führen, und Beelbefen 
nabm baftig die Gelegenheit wabr, nun aud 
ibrer Schwägerin die traurige Tatface gu 
erzählen. 

„Mannsleute kann ich hier nicht gebrauchen, 
das iſt unmöglich, er würde uns unſere Wäſche 
verſchmutzen,“ antivortete Mie⸗Threſe mit be— 
dächtigem Kopfſchütteln und einem ſehr be— 
ſtimmten Ausdruck in den großen, blauen 
Augen. „Aber ich weiß zufällig einen guten 
Poſten für ihn; der Bauer Walle, für den wir 
alles waſchen und plätten, ſucht einen Kubhirten. 
Vor noch nicht zehn Minuten war er hier im 





hier, wie zuvor bei dem Bruder, daß man 
Leontientje gern behielt, um ſie auszunützen, 
daß man fic aber hütete, ibren fleinen Jungen 
ju nebmen, der nod zu nichts zu gebrauden war. 

„Er ijt nod da, ich hör' ibn ſchon,“ fagte 
Mies Threfe, als fie fidh dem Wirtshaus 
niberten. Durd eine Hintertiir und cinen 
ſchmalen Gang gelangten fie ind Gajtgimmer; 
gleih beim Gintreten ſah Beeldefen einen 
Mann, cine WArt Riefen mit blauem Kittel und 
langer Peitide am Schanltiſch fteben, in 
larmendem Gefprad mit einer Frau, die ihn 
bediente. Als die beiden Frauen näher traten, 
brebte er fich um und fam ladend auf fie ju, 
cin tropfendes Glas Jenever in der Hand. 
Beeldefen fubr faft erſchrocken zurück vor diefem 
grofen, diden Mann mit bem roten Gefidt, 
den wäſſerigen Glogaugen und dem fabbernden 
Tabalsmund. 

„Haha, lommſt auch'n Gläschen trinlen?“ 
ſchrie er Mie-Threſe entgegen. „Womit kann 
id did) traltieren?“ 

„Ich komm' dir'n Rubbirt bringen,”  rief 
fie laut, als fpradje fie mit cinem Tauben. 

„Wen denn, bas Frauden da?“ lachte 
der Bauer, auf Beeldelen zeigend. 

„Ihren Sobn.” 

„Was?“ fragte er, feine bide, blaurote 


; Hand tridterjormig ans Obr legend. 


„Ihren Sobn, fag’ ich,” ſchrie Mie: Threfe. 
„Ach fo! ... ift er aud fein Dieb?” 
fragte er nun plötzlich ernſt, mit wichtiger 


Haus, und es foll mic wundern, tenn er | Miene. 


nidt nod binten im Fuchs ſitzt. 
mit, wir wollen felbft nadjeben.” 


Romn’ 


| 


„Biſt wobl nidt Mug! Er ijt ber Sobn 
meiner Schwagerin,” rief Mie: Threfe entriifter. 


284 


Und fie erflarte dem entfegten Beeldefen 
ſchnell, daß der vorige Hirt wegen Diebftabls 
weggeſchickt worden war. 

„Na, denn iſt's gut, er foll kommen,“ 
beſchloß der Bauer. 

„Willſt ibn feben? er ijt bier,” fragte 
Mie-Threfe. 

Beeldefen jitterte am ganzen Körper und 
warf ein, daß ibr Junge nod gar nichts davon 
verſtände. Dod) darum fiimmerte fic der 
Bauer abjolut nicht. Der Junge follte nur 
am nidften Morgen fommen, dann würde er 
ibn ja feben. Gr leerte fein Glas und beftellte 
nod eins. 
Frauen, fie mußten aud cin Gläschen annebmen, 
Unis oder Pfeffermünz, wie es ihnen beliebte, 
um auf gegenfeitige Geſundheit zu trinfen. 
Darauf ließ er fie geben. 

„Ach, ſag's ibm nod) nicht, wart? nod 
ein bifeben, nachher will ich's ihm  felbft 
fagen,” flebte Beeldefen, während fie durd 
das Gärtchen wieder zurück gingen. 

„Aber er mug es doch wiſſen,“ meinte 
Mie⸗Threſe. 

„Ja,“ ſeufzte Beeldeken, „aber nicht jetzt 
gleich, und laß mich's ſagen. Ach Gott, 
ach Gott, er wird ſich totweinen, wenn er's 
hört.“ 

Sie gingen wieder ins Haus, in das 
freundliche weiße Zimmer, wo die Kinder ſchon 
auf fie warteten. Leontientje plättete; Bafielfen 
aber war wieder argwöhniſch geworden und 
ſchaute mit ängſtlichen Blicken nach der offenen 
Hintertür. Als er ſeine Mutter ſah, lief er 
auf ſie zu und ergriff ihre Hand. 
ſich und mußten wieder Kaffee trinken, obgleich 
Beeldeken verſicherte, daß ſie den bereits bei 
ihrem Bruder bekommen hätten. 
wieder nichts eſſen, ihre Kehle war 
zugeſchnürt von trauriger Bewegung. 


wie 
Der 


Kleine aber, müde und hungrig, hieb ordentlich 


in die dicken Butterſtullen ein, die auf einer 
Ecke des weißen Tiſches inmitten der vier 
großen Kaffeetöpfe aufgehäuft waren. Doch 
Mutters Hand ließ er nicht los, und während 
fie über allerlei ſprachen, merfte Beeldelen 
plötzlich, daß ihr Junge auf ſeinem Stuhl 
eingeſchlafen war. Ach, das war ein Ausweg! 


Sie machte ihrer Schwägerin ein Zeichen und 


flüſterte: 


⸗ * 


Dann drang er in die beiden 





Dic Gärtnersfrau. 


„Er ſchläft. Willſt du ihn bis morgen 
hier behalten? Ich werde jetzt nach Hauſe 
gehen.“ 

Mie-Threſe machte erſt cine Bewegung, 
als wollte ſie es ablehnen. 

„Ach bitte, bitte, tu's doch,“ flehte Beel— 
defen ſchluchzend, „behalt ibn nur die eine 
eingige Nacht, und bring’ ihn morgen jum 
Bauern, Das ift alles, um was id did 
bitte.“ 

Da nidte Mie-Threſe bejabend. Leontientje, 
bie von dem ganjen Borfall nichts abnte, 
machte groge, erftaunte Mugen. Langfam jog 
Beeldefen ihre Hand zurück, aber er erwachte 
halb und bielt ihren Beigefinger noc in der 
Heinen gejdlofjenen Fauſt. Cie blieben alle 
dabei totenftill, mit ftarr auf ibn geridteten 
PBliden. Cein Köpfchen fiel feitwarts auf die 


‘linfe Scbulter, ber Mund öffnete ſich balb; er 
ſchlief wieder rubig. Cin Wagen fubr rajfelnd 


porbei, dod) er erwachte nidt. Da twand 
Beeldefen fangfam ihren Finger aus feiner 
Fauſt, die balb geöffnet aufs Knie zurückfiel. 


Sie ſtand auf und ſchritt leiſe hinaus, den 


traurigen Blick auf ihr Rind gerichtet. Unbeweg- 





Sie fegten | 


Sie fonnte | 





4 


lid) bliecben Mie-Threſe und Lcontientje ſitzen. 

„Auf ſpäter, und ſchreib' mir bald, tie 
alles abgelaufen ijt,” fliifterte Beeldefen mit 
unterdriidtem Schluchzen. 

Mie-Threfe nidte gelafjen; Leontientje aber 
wurde dunfelrot, und dide Tranen famen ibr 
in die Mugen, die fonft ftets jo heiter und 
jonnenflar twaren. 

„Scht!“ mabnte fireng die Dante, und 
bas Madden beherrſchte fid) mit aller Willens- 
fraft. 

Das arme Beeldefen ftand an der Tiir; 
aud thr bageres Geficht war feuerrot geworden, 
und die ftumpfen, traurigen Mugen twaren mit 
Tränen gefüllt. Noch einmal fab fie ibn an, 
wie er bewegungslos ſchräg auf feinem Stuhl 
jaf, während die grünlichen, gitternden Schatten 
der Lindenblatter auf feinem Geſichtchen 
fpielten; und plötzlich durchzuckte fie die 
Vorjtelung, dak ihr Rind tot fei, und dak 
all died blendende Weiß, das ibn wie ein 
Leichentuch umgab, ibn bald gang verbiillen 
würde. 

Sie biß ſich auf die Lippen, daß ſie 
bluteten und lief hinaus. Ein letztes Mal 


Die GirtnerSfrau, 


nod fab fie von draupen durd bas offene 
Fenſter binein. Er hatte ſich nicht geriibrt, 
feft und rubig fcblief er. 
ibn ftil an, den Seigefinger 
gefdlofjenen Mund, und Leontientjes liebes 
Geficht war in ftille Tranen gebadet. Dann 
winfte fie mit der Hand cin letztes Lebewohl 
und floh ... 


* * 
* 


Es war fpat, als fie wieder in dad Schloß 
guriid fam; ſcharf und düſter boben fic die 
boben Tiirme und die ſchweren Baumfronen 
pon dem dunfeln Horizont ab, der im Weſten 
nod rötlich leuchtete. 

Was nun? Wohin nun? Ihr einfames 
Häuschen flößte ihr jest cin unfagbares Grauen 
ein; fie ging binein, lief aber gleich wieder 
ing Freie, als jage fie eine fremde Gewalt 
hinaus . . . 

Es war Nacht geworden, eine berrliche, 
ſtill feierlide, fare Commernadt. Die 
Nachtigallen fangen ihre ſüßen febnenden 
Weifen, träumeriſch jirpten die Grillen im 
Grafe, und bod fiber den dunfeln Waldern 
ftand am funfelnden Sternenbimmel die ftille 
Mondficel in rötliches Licht getaudt, wie cin 
in Blut getranftes Schwert. 

D, wobin, wobin nun? Biellos twanderte 
fie durd) die Dunfelheit, und plötzlich ftand 
fie an der binteren Schloßmauer, wo Azalien 
und Jasminbüſche betiubenden Duft aus: 
ftrimten, Da ftand fie vor dem Feinde, der 
ihr alles genommen hatte, ibren Wann, ibre 


Kinder, ihren Wobljtand; da lag das mächtige 


Ungebeuer, dad fie ihr ganged Leben lang fo 
febr gefiirdtet hatte, diefer Riefe mit all den 
Ruppeln und Tiirmen, und fie ftand daneben 


Die Tante blidte | 
auf dem | 


| 


groß und mächtig werden 











in ihrer Nichtigleit, wie ein niederer Wurm, 
ohnmächtig in ihrem Schmerz und ihrem Haß. fortſetzen würde ... 


285 


O, wie ſie ihn plötzlich anſchwellen, ihn 
fühlte, dieſen 
Haß, in ihrem kleinen, ſchwachen, un— 
beholfenen Körper. Wie brauſte er in ihr 
auf mit wildem, ſtürmiſchem Rachedurſt, 
während ſie nun an ihr letztes, ſchweres Opfer 
dachte, während ſie daran dachte, daß ſie nun 
alles verloren hatte, weil da oben ein Mann 
herrſchte, mächtiger als alles Recht und alle 
Liebe, allmächtig wie ein grauſamer, unerbittlich 
unbarmherziger Tyrann! Ein wildes Stöhnen 
entrang ſich ihrer Bruſt, und machtlos hob ſie 
die geballten ſchwachen Fäuſte gegen ihren 
Feind empor. Ach, wenn ſie nur könnte, 
wenn ſie nur könnte! Denn nun, wo 
ſie alles, alles verloren hatte, war ihre 
Furcht vor dem Schloſſe geſchwunden; nun 
würde auch ſie wagen, es voll Verachtung 
zu ſchmähen, es zu beleidigen und heraus zu 
fordern, wie die Köchin, die Diener und der 
Kutſcher eS taten. Aber die waren ftarf, und 
fie war ſchwach; das Schloß fonnte ohne jene 
nicht beſtehen, dod) fie war bier entbebrlicd; 
von ihren Qaunen bing es ab, flein und 
niedrig wurde es vor ibnen, dod fiir fie 
blieb es der Rieje, auf fie, deren es nicht 
bedurjte, fah es von feiner Höhe herab wie 
auf ein nublojes Getwiirm, das im Ctaube 
kriecht. 

Und über ihre Ohnmacht ſeufzend, wandte 
fie ſich ab; fie fühlte ſich plötzlich wieder fo 


klein, fo ſchwach und clend, vollends erſchöpft 


nad dem mächtig aufbraufenden Zorn. Nieder— 
gedriidt und iibertounden ſchwankte fie zurück 
nad ibrer verlafjenen, einſamen Hiitte am 
Waldesrand, die fie ja wobl nod als cine 
große, gnadige Wobltat ibres Herrn betradten 
mußte, und in der fie morgen wieder — nun 
ganz allein — den rauhen Kampf ums Leben 





Wie epzicht das Haus fir das soziale heben? 


Bon 
Helene vou Foriter. 


(2 a Raddrud verboten. 






er im Reflerionsivinfel ftebt und mit beobadtenden Augen binausfdaut in 
Vv das Weben und Wirken der Beit, alte Lebensformen zu neuen ſich umformen, 
auf alten, zertrümmerten Anſchauungen neue ſich aufbauen und fic ausgeſtalten ſieht, 
wer erkennt, wie viel Lebenskraft und Lebensenergie einzelner bei dieſer Ausgeſtaltung 
Verwertung findet, der wird in ſich den kräftigen Anſtoß fühlen, den dieſe Beobachtungs— 
weiſe ſeinem Tun und Handeln gibt. Richt als ein Untätiger wird er abſeits ſtehen 
können, ſondern es als eine zwingende und heilige Notwendigkeit empfinden, hier, wo 
alle Kräfte ſich regen, auch ſeine Kraft einzuſetzen, um bei der Fundamentarbeit für 
dieſes Neue Mithelfender zu fein, und ware es aud nur, um ju dem Zukunftsausbau 
ein Sandforn herbei zu tragen. Er wird mit Ernjt fic) fragen nach der Urt, wie feine 
Arbeit von feinem Können ans zu leijten ijt, und er wird nach den Grundſätzen 
forjden, nach denen fie geleijtet werden muß, foll fie iiberbaupt firdernd und frucht— 
bringend fein. 

Welches nun wären dieſe Grundſätze? 

Von allen den Fragen, die gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts auf: 
geworfen, erdrtert und ungelijt in dieſes Jahrhundert mit übernommen wurden, ift 
die brennendjte und umfajjendfte, eine Frage, die heiß umftritten, nad) deren Löſungs— 
möglichkeiten mit der größten Leidenfchaftlichfeit gejudt wurde, und die doch ihrer 
Löſung am fernjten fteht, die große foziale Frage. Sie ijt jo ſtark in den Border: 
qrund getreten, beberrfcbt fo ſehr alle Richtungen und alle Parteien, und die Gemiiter 
jo vieler, die berufen und ſo vieler, die nicht berufen find, daß fie ſchon unferem 
Sabrhundert Die Prägung gab und daß eS bereits in feinen Eritlingsjabren von 
fiibrenden Geijtern als das foziale Jahrhundert von feinen Vorgdngern unterfebieden 
wurde. 

Die foziale Frage. Beititrimungen laufen in iby zuſammen, aus der Zeit 
gebobene Denfiverte find in ibr lebendig. Aus ihr wird das Neue aufquellen, das 
unter Der Sonne der Menſchenliebe blühen und grok werden foll; aus ihr beraus 
werden die Grundfaige erivachjen, nad denen alle Arbeit yum Wohle der Gefamt: 
menſchheit und yur Forderung jenes Neuen geleijtet wird. Und jeder an diefer Frage 
unternommene Lifungsverjud wird das Herbeitragen eines Steinchens zur Feſtigung 
Der zyklopiſchen Grundpfeiler bedeuten, die das Neue tragen ſollen. Wenn wir 
an das Werden des Neuen, als an ein Umbilden, Umformen, an ein Unoverten alter 
Anſchauungen denen, wenn wir nidt glauben, daß durch Zerſtören erreicht werden 
fann, was pofitiven Unftrengungen verfagt bleibt, wenn wir auf Grund diefer 


Wie erzieht bas Haus fiir das foaiale Leben? 287 


Gedanfen uns fragen, wo mit jenen Löſungsverſuchen am ebejten eingufegen ware, 
wird die Antwort lauten: anf dem Gebiet der Erziehung. Und wenn die Frau, dite 
ibren Blick auf das Haus gerichtet Halt als auf einen Plas, den fie beherrſcht, eine 
Wollende ijt, die es jene Verfuche yu machen drangt, fo wird ibr das Haus als die 
Statte erſcheinen, auf der nad Löſungsmöglichkeiten in erjter Linie zu forſchen fet. 
Damit wird fie über die Art ibrer Arbeit fich flav werden. 

Nun ijt aber gerade, foweit man bei dem Auflegen fozialreformatorifder Plane 
und bei der Erörterung fosialreformatorijder Gedanten auf die Erziehung juritdgriff, 
der faute Ruf nad Verftaatlichung der ganzen Erziehung entitanden. Alſo nicht das 
Haus ijt als der Play angeſehen worden, der den fruchtbaren Boden zur Pflangung 
und Pflege neuer Ideenkeime abgeben finnte, fondern der Wunſch nach Lostrennung 
des Zöglings von Haus und Familie it gréper und dringender geworden. Zu unter: 
juchen, inwieweit dad Lautwerden dieſes Rufs durch hiſtoriſche und pplitiſche Zeit— 
verhältniſſe bedingt ward, oder wie er bei Betrachtung trauriger Mißſtände geweckt 
wurde, würde zu weit führen. Es hieße auch zu ſehr in Einzelheiten ſich verlieren, 
wollten wir die Ausſprüche pädagogiſcher Autoritäten wie Wilhelm von Humboldt, 
Schleiermacher, Herbart u. a. gegen die Staatserziehung ausführlich bier zitieren. 
Nur die eine Tatſache möchten wir hervorheben, daß allein bei Anerkennung der 
abſoluten Notwendigkeit einer Umgeſtaltung von außen nach innen von einer breiteren 
Ausdehnung einer ſtaatlichen Erziehungsmacht das Heil erwartet werden kann. Wer 
an eine Reformierungsarbeit von innen nach außen denkt, wird dieſe Macht eher 
beſchränkt als ausgedehnt wiſſen wollen. 


Bei der heutigen Geſtaltung des Staates und bei den Nutzwerten, die nod fiir 
ibn in Betracht fommen, fann er nicht die Regijter fiir die Einzeltöne ziehen, aus 
denen Die Klänge yu ſpäteren Harmonien fic) jujammenjegen werden. „Der Staat blict 
nicht auf das Innere.“ „Er braucht Soldaten, Beamte und dergleichen“, fagt Herbart, 
„und priift jeden auf feine Leijtungsfabigfeit. Der Schwachere tritt ifm vor dem 
Starferen zurück; die Mängel des einen werden ihm durd) die Vorzüge des andern 
erjebt.” Anders die Familie. Jn dem engen Kreis, den fie beberrfeht, bei dem Cinflug, 
Dem fie Dem einen auf den andern ermöglicht, bei der Niidjichtnabme, die fie von dem 
einen fiir den andern fordert, bet den Grenzbeſtimmungen, die fie treffen mug, damit 
nicht das Recht des einen an dem Recht des andern fic ſtoße, muh eS fiir fie direkt 
Selbjterbaltung bedeuten, wenn fie auf die Pflege der feinen Geſinnungen binvirft, 
aus denen heraus ſich allein foziale Neformen geftalten können. Freilich bei einer 
realiſtiſchen Auffaſſung diefer Selbjterhaltung werden nur die wirtſchaftlichen Nugwerte 
in Betracht kommen, da3 Aufgreifen günſtiger Gelegenbeiten zur Erhöhung des 
materiellen Bejiges, cin Streben, das in vielen Fallen geradezu ju einem Crftiden der 
fozialen Empfindungen führen müßte. Es birgt in fic) die Lodung über alles Ver— 
niinftige binauszugeben und großgezogen und unterſtützt durch erzieheriſche Maßnahmen 
kann es auf die Beziehungen der Familienmitglieder untereinander verderblich und ver— 
nichtend einwirken. Damit wird es für den Weſenskern der Familie nicht als ein 
Wachstum förderndes ſondern viel eher als ein zerſtörendes Element angeſehen werden 
müſſen. So tritt die idealiſtiſche Auffaſſung, dah fiir dieſen Weſenskern die Kräftigungs— 
mittel auf ſittlichem Gebiet in erſter Linie zu ſuchen ſeien, in den Vordergrund. 


* * 
~ 


al 


288 Wie erzieht bas Haus fiir dad foziale Leben? 


Was heißt mun fozial erziehen? Es heißt im Cinjelnen ein feines Gerechtigkeits— 
gefühl erweden, das die Grundlage zu ſpäterer fosialer Gejinnung bilden mug, es 
heift ,unter der Sonnenwärme der Menfebenliebe den fozialen Geijt pflegen und yur 
Erjtarfung bringen“. Dah bei dieſem Vorgehen in erjter Linie der fleinere Kreis der 
Familie fic) yu dem größeren, den das Haus bedeutet, ertweitert, liegt in der Natur 
der Sache. Inwieweit aber Fann cine nach diefen Prinzipien geleitete Erziehung des 
Cinjelnen cine Erziebung fiir dad foziale Leben genannt werden? Hier wird wieder 
die realijtijche Auffaſſung der idealiſtiſchen entgegeniteben. 

Im Lichte der realiſtiſchen hieße fiir das foziale Leben erziehen, auf die dort fich 
weitenden Tatigfeitsfelder nur als Eroberungsgebiete hinweiſen, geeignet, den Plas, den 
der Einzelne bebaupten muß, durch Mehrbeſitz yu vergrößern. Es hieße auf die Sümpfe, 
die in der breiten Offentlichkeit ſich dehnen, nur den Blick lenken, um auf die Gefahren, 
die ſie bieten, aufmerkſam zu machen, es hieße auf die Grenzpfähle, hinter denen das 
Recht anderer liegt, nur hinzeigen, ſo weit es die Klugheit gebietet, die da lehrt, daß 
es für den Einzelnen günſtiger iſt, ſie im gegebenen Moment geſchickt zu über— 
ſpringen. 

Im Licht einer idealiſtiſchen Auffaſſung aber hieße es, die Tätigkeitsfelder 
betrachten lehren mit dem Wunſch, auf ihnen mit Arbeit und Fleiß für die All— 
gemeinheit den Boden zu verbeſſern, es hieße die Sümpfe zeigen, um die Kraft zu 
erwecken, die es einzuſetzen gilt um ſie auszutrocknen, es hieße auf die Grenzpfähle, 
die das Recht anderer ſchützen, deuten, damit der heranwachſende Menſch in ihnen 
unüberſteigliche Schranken erkennen lernt. 

Nur die idealiſtiſche Auffaſſung kann uns bier beſchäftigen, weil wir das „für 
das ſoziale Leben Erziehen“ doch faſſen wollen als ein „zum Beſten des ſozialen 
Lebens“ Erziehen. In wieweit kann nun die Einzelperſönlichkeit zum Beſten des 
ſozialen Lebens, d. h. zur Förderung des Wohles der Geſamtheit beitragen? Nicht 
nur in ſoweit fie Kenntniſſe und Fertigkeiten fiir die Kulturarbeit einfegen kann, ſondern 
in erjter Yinie durch den fittlichen Wert, den dieſe Kenntniſſe und Fertigteiten durch 
eine ideale und vornehme Geſinnung erbalten. Diejen fittlicden Wert yu aeben, ift 
das Haus der gebotene Plog. Aus der Stellung der Hausgenoſſen zu einander, aus 
dem Verhältnis ibrer Rechte zu ibren Pflichten, aus der wechſelſeitigen Auffaſſung der 
von ibnen volljogenen Arbeit, fann fiir des Haujes jugendliche Mitglieder cine Fiille 
yon Vorbildlichem und von Lebrreichem entnommen werden. Betracdtet man aus 
ſozialpädagogiſchem Gefichtswinkel den Kreis der Erſcheinungen, die das Haus beherrſcht, 
jo ergeben ſich eine Reibe von Forderungen, die fiir alle häusliche Crjiehungsarbeit 
Die Richtung geben follten. 

/ Wedt in den Rindern,” möchten wir allen zurufen, die in folcher Wrbeit fteben, 
„das warme Gefühl fiir den Nächſten, lehrt fie Ernſt machen mit dem Grundfage der 
Nächſtenliebe. Führt fie mitten binein in das Reich der Adeen der Zukunft, lapt fie 
an dieſen großen deen und Plänen ſich begeiftern, und febeut nicht davor zurück, 
daß dieſe Ideen Euch einmal unbequem werden, die geſellſchaftliche Stellung der 
Familie gefährden, Stunden, die euer Kind vielleicht euch widmen würde, rauben 
könnten, oder das Kind mitfortreißen werden auf Bahnen, da ihr ihm nicht zu folgen 
vermögt. Bedenkt, auch Chriſtus hat zu ſeiner Mutter geſagt, als er ſeine großen 
Wege ging: jWeib, was habe ich mit dir yu ſchaffen‘, und Maria nahm es hin mit 
einem ſanften Herzen. Laßt, wenn Cure Kinder yu den Befigenden gebdren, nie das 


—— 


Wie ergieht bas Haus fiir bas foziale Leben? 289 


Triumphgefühl de3 Beffergeftellten in ihnen auffommen, lebrt jie, wie viel größer ibre 
Menſchenpflichten werden, find fie an einen Platz geftellt, der ihnen die Erfüllung 
diefer Pflichten leicht madt. Schätzet Knaben und Madchen gleich und zeigt ibnen, 
daß ihr in ibnen, wenn aud nicht gleicartige, fo dod) qleichwertiqe Menſchen erfennt, 
Laßt fie beide die gleiche Ausbildung geniefen, d. b. diejeniqe Aushiidung, die ihre 
Fähigkeiten erheiſchen. Führt ibnen aus allen Standen des Volfes Spielgenofjen ju, 
und Lebrt fie die Sprache des Volkes yu verſtehen. 

Erjieht fie zu gefunden und ftarfen Menſchen. Wabrt fie vor dem Genuß ded 
Alkohols und macht fie auf deffen ſchädliche Folgen aufmertfam. Erzieht fie su fittlich 
reinen Menſchen. Es wird euch nicht fojwer werden, wenn ihr Knaben und Madden 
gleichſchäzt. Der Knabe, der da Madchen im Hauſe wahrhaft ebren lernt, wird es 
auger dem Hauſe nicht entwiirdigen. Es wird euch nicht ſchwer werden, wenn ihr fie 
in der richtiqen Art belehrt, wenn ibr in ibnen das äſthetiſche Gefühl fo ftarf macht, 
dag jie das Unfittliche als etwas Häßliches empfinden, wenn ibe den Knaben zu rechter 
Beit und in der rechten Weife auf dic große Verpflichtung aufmerfjam macht, . die er 
der Menſchheit gegeniiber hat. 

Erzieht die Kinder gu cinfacen Sitten. Lehrt fie die praktiſchen Renntniffe, die 
ibnen Das Haus nur zu geben vermag, und lehrt fie richtig. Weet in ihnen die echte 
vaterlindijde Gejinnung, indem ibr ibnen fagt, dab die Pflichten gegen das Vaterland 
Darin beftehen, daß man feinem Volfe niigt, dak man die Klaſſengegenſätze, die Bildungs— 
gegenſätze zu mildern beftrebt iſt. Lehrt fie das RKleid des Arbeiters nicht mit Miß— 
achtung betrachten, und lehrt fie die Arbeit lieben und ebren in jeder Form. Lebrt 
fie dad rechte Wobhltun, das Anfpruch auf Dank nicht begleiten darf. Lehrt fie, dah 
es mit Taft und Zartſinn ausgeiibt werden muß. Wedt in ihnen nicht die Furcht 
und die Scheu vor dem Verfonmmenen und Clenden, fondern ruft in ibnen das Mitleid 
wads, aber nicht jenes Mitleid, das Verzweiflung ſchafft und tatenlos macht, fondern 
das Mitleid, das yur Hilfe drängt und die Tat gebiert. Lehrt fie das alles in der 
friſchen, friblichen Weife, wie fie der Aufblick yu Qdealen giebt! Friih muh died 
grofe Biel der hauslichen Erziehung ins Auge gefaßt werden. Die Fleiniten und ſcheinbar 
geringfiigigiten Dinge können Schritte zu ihm hin oder von ihm weg bedeuten, 

Wedanfenlos appelliert der Erzieher haufig genug an den Egoismus des Rindes, 
um es ju becinfluffen. Kleinen, eſſensunluſtigen Kindern pflegt man, um fie jum Effen 
anjuregen, mit Anfpielung auf cin anderes MitglicdD des Hauſes immer wieder vorzu— 
fagen: „Nein, die Suppe gebdrt nicht dem und dem, die gehört dem Kindchen ganz 
allein!” oder man ftellt ihm die Spieltiere um den Teller und ſchlägt danacd unter 
dent Ausruf: ,, Mein, nein, das Kätzchen, das Hündchen bekommt garnidts! Das gebsrt 
alles dem Rind’; ſchon dieſe ſcheinbar unwichtigen Vorgänge find geeignet, in dem 
Heinen Weſen ſelbſtſüchtige Triebe yu weden. Das Erziblen und das Beloben feiner 
fleinen Ausſprüche und Leiftungen in feiner Gegenwart ſtärkt dieje Triebe. Dad be— 
liebte ,,;um Schein fojten”, wenn das Kind von feinen Eßwaren an andere abgeben 
will, ein Scheinmanöver, Das das Kind natiirlich raſch durchſchaut, gibt ibm die erften 
pagen Vorftellungen dariiber, dak man durch Geben vom Cigenen fein Opfer von ibm 
fordern will, und dah Verzicht auf eigenen Genuß nicht ernſtlich von ihm verlangt 
wird. So lernt es oberflächlich und gedanfenlos geben. 

Das Befprechen der Febler von im Hauje verfehrenden Perfonen, der Fleinen 
Siinden der Spielgenojfen des Kindes, oder der Mängel der Dienſtboten des Haufes 

19 


ro Wie ergicht daS Haus fiir bad fogiale Leben? 


in feiner Gegenwart fegt den Grund ju häßlichen Vorurteilen, mit denen belajtet ed 
{pater feinen Mitmenſchen entgegen tritt. Ich fenne Eltern, die vor ihren Kindern 
das Wort „Dienſtboten“ oder das Cammeliwort ,Leute” tiberhaupt nicht gebraudhen, 
fonder vor ibren Mitarbeitern fprechen. 

Standesunterſchiede fennt das Kind nicht, wenn wir ibm nicht eigens den Blick 
dafür ſchaärfen, und cs wei aud nichts von jenen Standesvorurteilen, wenn wir fie 
nicht künſtlich in ihm wachrufen. Hüten wir uns, fie in die jungen Seelen zu legen. 
Wilde und häßliche Triebe fprojjen, wo fie wirfen. Klaſſenhaß und Maſſenhaß gärt 
auf an allen Enbden, weil fie in der heranwachſenden Generation ſchon lebendig find. 
Und dod werden nur dann, wenn fie fich mildern, die tiefen Riſſe ſich gu ſchließen 
beginnen, die zwiſchen den einzelnen Volksſchichten klaffen. Mißächtliche Bemerfungen 
liber den Angehörigen einer anderen Klaſſe, wegwerfende Außerungen über Schlecht— 
gekleidete des Arbeiterſtandes und im gegenſätzlichen Fall höhniſche, ſpottende, böſe 
Worte über Angehörige der oberen Klaſſen genügen, dieſe Standesvorurteile wach— 
zurufen. 

Die in den Schulbüchern allenthalben vorkommenden kleinen Geſchichten, in denen 
Standesunterſchiede beſonders hervorgehoben werden, Schilderungen, die den Sinn für 
das Wohltun wecken ſollen, ziehen jene Vorurteile künſtlich groß. Sie ſollten aus 
den Leſebüchern verbannt werden. Des Kindes Seele reagiert fein, wohl viel feiner, 
als wir im allgemeinen annehmen. Sie erfaßt das Klaſſenbewußtſein, das den 
Schilderungen ſolches geſpreizten Edelmuts zu Grunde liegt und macht es ſich unbewußt 
zu eigen. 

Um es vor Uberhebung zu wahren, lehre man dad Rind Bitte und Danke ſagen 
zu jedermann ohne Unterſchied der Perſon. An kleinen Tiergeſchichten werde es ihm 
anſchaulich gemacht, wie eine gute Behandlung beſſernd auf ſcheinbar ſchlimme Fehler 
einwirken kann. So werde ibm 3. B. erzählt, wie cine Rage ihre Naſchhaftigkeit 
dadurch verlor, daß ſie regelmäßig und gut gefüttert wurde, wie ihre Falſchheit keine 
Falſchheit geweſen, ſondern nur Scheu und Angſt vor Menſchen, die ſie quälten, ſtießen 
und verfolgten, wie ſie bei braven Kindern ein gutes, treues Tier geworden uſw. 
Dadurch wird es auf Entwicklungsmöglichkeiten aufmerffam. Auch alle jene Tier— 
ſchilderungen, die mit fertigen Urteilen enden wie: Die Katze iſt falſch! Der Eſel iſt 
ein faules Tier! Der Ochſe iſt dumm! Das Schwein ijt ſchmutzig! ſollten aus den 
Schulleſebüchern der Schulen ausgeſchaltet werden. 

Sehr früh fei das Kind in praktiſchen Fertigkeiten, wie ſie das Haus am beſten 
gibt, unterwieſen. 

Das Mädchen lerne ſchon im früheſten Kindesalter putzen, fegen, waſchen, bügeln, 
und wenn es heranwächſt, kleine Kinder pflegen, auch wenn dieſe nicht im Hauſe find. 
Der Rnabe lerne mit Hammer, Beil und Sage, mit Bobrer, Feile und NKleijter um— 
gehen; aber aud) das Mädchen übe fic) in dieſen fleinen Handfertigfeiten, wabrend 
der Rnabe lernen mug, e3 nicht als eine Schande anjufeben, wenn er einmal ein 
Simmer kehren foll oder cinen Fleden auf dem Boden aufwaſchen. Das CErlernen 
dieſer fleinen Fertigkeiten, dieſer praktiſchen Arbeiten ermöglicht nicht nur im Leben 
cin leichteres Sichzurechtfinden, es befabigt aud) ſpäter zu ſozialer Hilfstatigfeit, be— 
wahrt vor der Unterſchätzung der arbeitenden Klaſſen und leitet nicht auf den be— 
quemen Ausweg, eine Arbeit, die man nicht ausführen kann, gering zu achten und den, 
der ſie leiſtet, von oben herab anzuſehen. Die Abneigung der Kinder vor Kranken, 


Wie ergicbt bas Gaus fiir das foziale Leben? 291 


das Grauen vor einer Wunde belfe man ihnen frühzeitig überwinden mit Milde und 
Geduld und lehre fie, wenn Blut flieft, beifpringen und verbinden. 

Auf die Urmut fet das Kind früh hingewiefen, aber nicht mit der Bemerfung, dah 
jie der Schlechtigfeit Gefabrtin fei, fondern mit dem Beftreben, ibm klar zu machen, 
wie viel fittlide Gripe fic febr oft mit ibr eint. Much im Bettler lerne es den 
Menſchen achten, das gibt ibm fpadter die Kraft, bas Gute, das Wabhre, das im edeliten 
Sinn Reinmenfcbliche aus feinem Nebenmenſchen hervorzulocken und fich durch Schlechtes 
und Häßliches nicht abftofen, nicht ſchrecken, nicht verbittern zu laſſen; das trägt ifm 
fruchtbare, (ebenfpendende Gefinnungen ju. Im Wobltun lerne das Kind, wenn auch 
ein ſchwieriges, fo doch ein glückſchaffendes Tun erfennen, dad heimlich und leife geübt 
werden muß, um andere nicht zu verlegen. 

Wie die Runde von einer ftarfen erzieheriſchen Tat mutet eS und an, was uns von 
dem Philofophen und Padagogen Lazarus erzählt wird. „Die bejte Schule der Wohl: 
titigfeit war ibm das Elternhaus. Als einſt jein Vater, ein unermüdlicher Anwalt 
ber Bediirftigen, einem armen Fifder gu einem neuen Rod verbelfen wollte, lies er 
fid) denfelben auf den eigenen Leib machen, damit der künftige Befiger dem Schneider 
verborgen bliebe. Dann fchidte er ſeinen Gobn in die nur mit einem Drücker 
verſchließbare Wohnung des Fifchers, während diefer auf dem Mark war. „So 
deutlich,” bericdtet Lazarus, „als ob es geftern geſchehen, erinnere ich mich, dah id 
das lebhafte Gefiihl, mit welchem ic den Heimweg guriidfegte, als einen Vorgeſchmack 
der ewigen Seligfeit betrachtete.” 

Mt es nicht qut, den Rindern folche Seligfeiten zu ſchaffen? 

Das Mitempfinden der Kinder, ihre Hilfsbereitſchaft werde gewedt im Hinweis 
auf dic traurigen Erſcheinungen, wie wir fie in den Gefunfenen, den Verfommenen 
und gan; Glenden feben; und es werde in ihnen gewedt mit Gedanten, wie fie aus 
dem Dichterwort hervorgeben: 

„Es zehrt an aller Mark der Sünde flammend Feuer, 
Gin jeder ift verſchuldet jeder Tat 

Und trägt auf feiner Seele ungebeuer, 

Was jeder je an Sdhulb und Frevel tat.” 

Unfere Leſebücher führen immer nods cine Reibe von Geſchichten, aus denen eine 
harte und phariſäiſche Auffaſſung von Schuld und Clend fpridt. Cin Meines Madchen, 
erjogen in fojialen Gedanfen, befam als Thema des jiveiten Schulaufſatzes cine 
Gefchichte zu erzählen, in der die Trene eines Hundes dadurch bewieſen wurde, dah er 
feine Herrin durch Gebel anf den unter ihrem Bette verftedten Dieb aufmerkſam 
madte. Mit diefem Gebell rief er Leute herbei, die den Dieh erſchlugen. Als die 
Kleine bis su dem Dieb gefommen war, erflarte jie mit Tranen in den Augen: ,,Den 
leq’ ich nicht drunter.” Bon ihrer Mutter befragt, warum fie das nidt ſchreiben 
wolle, fagte fie: „Weil cin Dieb doch etwas fo Trauriges ijt; jeine Eltern baben ibm 
doch nicht gefagt, wie er es befjer madsen foll. Er bat vielleicht Gunger gebabt, da 
hatte man ibm etwas zu ejjen geben follen, aber man darf ibn doch nicht mit Knüppeln 
totſchlagen.“ Hatte das Kind nicht ein richtiges Cmpfinden? 

Nicht an Feinheit der Seele wird der jugendliche Menſch einbüßen, der durd) 
die raube Soule der WirklichFeit gebt, aber er wird an tiefen, grofen und ftarfen 
Empfindungen gewinnen, die allein das Leben lebenswert machen. Er bat die Wabrheit 
gefchaut, er wird nicht vor ihr zurückſchrecken, er wird nach ibe ſuchen und forſchen, 

19* 


292 Wie erzieht das Haus fiir bas ſoziale Leben? 


wird an ibr fic ſtählen und in ibr handeln lernen, und er wird 3u einem fraftvoll 
Schaffenden erwachfen, der durch feine Arbeit Werte fiir bas foziale Leben berbeitragt. 
Er wird diefe Arbeit achten und lieben lernen, wird fie als fein beſtes Teil erfennen, 
wird fiiblen, wie fie ibm Kraft gibt und feine Kraft erhält. Sozialpädagogik und 
individualiſtiſche Erziehung find hier Rreife, die fich beriibren, denn für fich gewinnt 
an fittlichen Begriffen, fiir fic) gewinnt an Vertiefung de3 religivdfen Gefiibles, wer 
den fozialen Geift in fic) lebendig werden, wer fic) von ibm durddringen Lift. Für 
fic) gewinnt an äſthetiſchen Cmpfindungen, wer fich durch grofe Ideen und Gedanfen 
begeiftern Lat, fiir ſich gewinnt an Glück, wer den Glauben an das Ideale in fics 
großwachſen fühlt. 

Wer Augen hat zu ſehen und Ohren hat zu hören, der vernimmt, wie an den 
Mauern des Hauſes das ſoziale Leben brandet. Er ſieht, wie dort die Menge ſich 
drängt und ſchiebt. Er ſieht, wie die, die in den vorderſten Reihen ſtehen, ängſtlich 
ſich mühen, ihren Platz zu hüten, denn vor ihnen dehnt ſich die breite Straße; ſie 
atmen die freie Luft, ſie blicken empor zu den Menſchheitshöhen. Aber er ſieht auch 
die rückwärts Stehenden ſchieben und ſtoßen und drängen, er ſieht ihre bleichen 
Geſichter ſehnend erhoben, er verſteht, wie auch ſie jenen Weitblick gewinnen möchten, 
wie auch ſie ſich ſehnen nach dem friſchen Luſtzug, wie auch ſie an die breite Straße 
wollen, und er ſieht im Schieben und Drängen manch einen niedergetreten und 
andere über ihn hinwegſchreiten, er hört die Untertöne des Schmerzes, das Wimmern 
der Elenden. 

Aus dem Hauſe nun ſollen die Samariter und Samariterinnen hinausziehen, 
um auf die Wunden am Menſchheitskörper die Finger zu legen, aber nicht um 
ſie weiter aufzureißen, ſondern um ſie ſorgſam zu unterſuchen und vorſichtig zu pflegen, 
bis ſie heilen. Das Haus ſoll der Tempel werden, von dem die Prieſter und 
Prieſterinnen ausgehen, die den ſozialen Frieden predigen. 

Die Forderung einer ſozialen Erziehung iſt nicht neu. Sie iſt von einer Reihe 
von Pädagogen gepredigt worden. Aber man iſt noch weit davon entfernt, ihre 
Erfüllung als das Biel der erzieheriſchen Tätigkeit im Hauſe aufzufaſſen, und es ijt 
noch nicht ins Volksbewußtſein gedrungen, daß ſie von allen Forderungen auf dem 
erzieheriſchen Gebiet die herrſchende ſein müßte. Wäre ſie das, ſo wäre unſere 
Bewegung nicht entſtanden. Das feine Gerechtigkeitsgefühl, das den keimfähigen Boden 
gibt für ſoziale Empfindungen und ſoziales Handeln, hätte es nicht geduldet, 
daß dem einen Teil der Menſchheit die Entwicklung all’ ſeiner Fähigkeiten auf jede 
Weiſe ermöglicht wird, während man bei dem andern das Sehnen darnach künſtlich 
zum Verkümmern brachte. Die Sittlichkeitsbegriffe, die auf jenem keimfähigen Boden 
erwachſen mußten, ſie hätten die doppelte Moral nicht aufkommen laſſen, ſie hätten 
das ſoziale Gewiſſen geſchärft und hätten der Anſchauung zum Siege verholfen, daß 
nur auf einem ſittlich reinen Grund, den beide Eltern dem Sein des Kindes geben, 
ein ſittlich wahrhaft hochſtehender Menſch erwachſen kann, und daß auch ſeeliſche und 
und geiſtige Vererbungsmöglichkeiten neben den körperlichen auf den ehernen Tafeln ein— 
geſchrieben ſind, auf denen die Vererbungsgeſetze ſtehen. Den Vorzug, den die Frau 
genießt, dadurch daß jie zur Mutter berufen ijt, hatte man ganz anders zu werten 
verſtanden. Man hätte erkannt, daß ſie durch ihre weibliche Eigenart, durch ihre 
Leidenskundigkeit vor allem befähigt iſt, die feinen Linien des Verſtehens zwiſchen den 
einzelnen Volksſchichten zu ziehen, daß ſie auserwählt und berufen iſt, durch ihre 


Des Kohlenzeitalters Anfang und Ende. 298 


Erjiehungsarbeit Arbeit fiir die Allgemeinbeit yu leiſten und dah fie diefe Arbeit leijten 
mug, wenn die Probleme der Gegenwart fic) nicht immer tiefer und tiefer verwirren 
jollen. Wie hatte man fics gemiibt, ihre Gigenart immer feiner auszugeſtalten, fie ju 
ciner ſittlich und geiſtig ſelbſtändigen Perſönlichkeit erjtarfen ju laffen. Man hitte 
ibr nicht den geiftigen und körperlichen Zwang angetan, der fie auf cine niedere Stufe 
der Entwidlung berabgedriidt. Für die Beichen der Reit hatte man ibr Veritandnis 
gewedt. Das Leben hatte man fie bis in feine feinjten Regungen veriteben gelebrt; 
man bitte vor ibr das Tor gedffnet, das auf die breite Straße führt und bitte nicht 
ibren febnenden Ruf: , Macht dod) das Tor auf, macht es dod) auf,” folange unerbirt 
verballen laſſen. 

Aber andere Zeiten dämmern herauf. 

Man bheginnt die Britde gu feblagen, die dic Kluft zwiſchen der rauhen Wirklichkeit 
und dem geträumten Land der Zukunft überſpannen foll. 

Die erjten Pfable, die fie tragen follen, find fdon eingerammt. Der Hammer 
dröhnt, ein fingender Klang ſchwirrt durd die Welt. Das ift der Ton, der auf die 
Diſſonanzen, die rings um uns auffchrillen, wirken wird, bid fie fic löſen in feine 
wobltuende Harmonien einft in einer fernen reichen Zufunft! 


woes 


Ves Kohlenzeitalters Anfang und ende. 


Paul Srhetfler. 


Pe Nachdrud verboten. pow eee 

a kl 

“A atuntergangarropteaeonnge, vor Ddreiz, jweihundert Jahren nod vielbeliebt 
~ und gliubig bingenommen, — die aufgeflarte Menſchheit von heute traut 


ee ibnen nicht mebr. Als Wettermeijter Falb, der kürzlich erſt Veritorbene, vor vier 
Sabren einen ſolchen Weltuntergang anfagte, einen naturwiffenfdaftlich frijierten fogar 
— die Erde follte am 13. November 1899 mit einem der drei Tempelfden Rometen 
sufammenjtofen und von dem Anprall in Stiide geben, — da madhten felbft die 
frefulativften amerikaniſchen Ronfeftionaire mur mäßige Geſchäfte mit ibren Anpreiſungen 
engelweißer Gewänder, in denen die Gliubigen das Weltende wiirdig erwarten follten. 
Tiber die Möglichkeit oder richtiger Unmiglichfeit einer mehr oder weniger nabe be: 
voritebenden, alles Leben auf Erden ertitenden Abkühlung de3 Sonnenballs bat ung 
vor fünfzig Jahren ſchon Helmbolg berubigt. Wenn auch die Sonnentemperatur, wie 
neuerdings berednet worden, nur 7000—10000° betragen foll und durch die fort: 
geſetzte gewaltige Warmeausitrablung eine jährliche Abkühlung um 29° erfabren 
müßte, fo bewirft die fortidreitende Zujammenjiehung der Sonnenmaſſe andererfeits 
eine entipredbende Temperaturerbihung, fo dah unfer lebenerhaltendes Taggeftirn nod) 
mindejtens 4 Millionen Jahre in der gegenwartigen Starke weiter ftrablen und viel- 
leicht erjt in 30 Millionen Qabren auf dem Punkte angelangt fein wird, den er— 


294 Des Koblengeitalters Anfang und Ende. 


fittenen Warmeverluft nicht mebr einholen zu finnen. Wenn aber erjt nach 
30 Millionen Jahren der kritiſche Reitpunft eintritt, da, nad) Dubois-Reymonds 
draſtiſchem Wusfpruche, ,,der legte Esfimo trauernd am Aquator beim Scheine einer 
Tranlampe friert,” fo braucht uns Menſchen von heute und auch von morgen und 
tibermorgen das wirflich nicht gu fiimmern; im Hinblick auf eine ſolche Fleine Ewig— 
feit mag getroft das berüchtigte ,aprés nous le déluge* gelten. 

Anders ifts ſchon, wenn ein Raturforfder wie der engliſche Chemifer Wiliam 
Crookes die Befürchtung ausſpricht, daß die Menſchheit dem Verhungern nabe fei. 
Schon jetzt reichen die Erträgniſſe aller getreidebauenden Länder nicht mehr aus, um 
den Bedarf an Weizenbrot zu beſtreiten. Der Fehlbetrag konnte bis zum Jahre 1895 
noch durch die Vorräte der früheren überreichlichen Ernten gedeckt werden. Aber 
ſchon 1897 genügten dieſe zum Erſatz des Defizits von rund 145 Millionen Hekto— 
litern nicht mehr, es fehlten daran 37 Millionen Hektoliter, und ſo mußten 
6'/, Millionen Menſchen bereits hungrig bleiben. Wir müßten, meinte Crookes, ent— 
weder durch erhöhte künſtliche Dungung den Ertrag der 163 Millionen Ader Weizen— 
boden der Erde entſprechend ſteigern, wozu aber die vorhandenen Vorräte an 
Natronſalpeter nicht ausreichen würden, ſo daß wir auf Mittel bedacht ſein müßten, 
ihn künſtlich aus dem in unerſchöpflicher Fülle in der Luft vorhandenen Stickſtoff 
mittels Elektrizität herzuſtellen, oder aber wir müßten daran gehen, die Produktions— 
fähigkeit der Tropen fiir uns nutzbar zu machen, fei es durch Getreidebau, der nod) 
auf ungeheuren Flächen dort möglich wäre, ſei es durch den Anbau von Früchten, 
die, wie die Banane, derartig ertragreich ſind, daß ein Acker Bananen z. B. 133 nal 
fo viel Nährſtoff liefert wie ein gleich großes Weizenfeld. 

Der Untenruf des engliſchen Gelebrten, den dieſer auf der 1898er Yabres- 
verſammlung britiſcher Naturforfder erſchallen lies, ift ziemlich eindruckslos verballt. 
Vielleicht ſagte man ſich mit Recht, daß die Zunahme der Broteſſer nicht für alle 
Zeiten in demſelben raſchen Tempo erfolgen würde wie in den letzten dreißig Jahren, 
in denen ſie ſich faſt um das Doppelte vermehrten; daß mit der Grenze, die der Er— 
tragsfähigkeit der Erde geſteckt wäre, auch dem Anwachſen der Menſchheit ein natür— 
liches Ziel geſetzt ſein würde. 

Schwerer als die große Welthungersnot droht der künftigen Menſchheit die 
Kohlennot. Und zwar nicht die Kohlennot, die wir jetzt ſchon allwinterlich erleben 
durch Preistreibungen, Syndikate, Unternehmerringe und Grubenarbeiterſtreiks, und 
der wir mit einem Schlage entgehen könnten, wenn wir uns zur Verſtaatlichung der 
Kohlenbergwerke entſchlöſſen, ſondern die richtige „Weltkohlennot“, die Erſchöpfung 
aller irgend zugänglichen Steinkohlenlager der Erde, das völlige Verſiegen dieſer 
Bodenſchätze infolge der unglaublichen Verſchwendung, die wir mit ihrem Verbrauche 
betreiben. Immer zahlreicher werden die Stimmen ernſter Forſcher und praktiſcher 
Fachleute, daß wir, wenn auch noch nicht ſo bald, ſo doch immerhin in abſehbarer 
Zeit die letzte Tonne Steinkoble werden verbrannt haben. Und dann? Alle die Vor— 
ſchlaäge, die bisher gemacht worden find fiir den Fall, daß dereinſt das Ende der Stein— 
foblen da fein würde, laufen darauf binaus, in einer grogartigen Nutzbarmachung 
der mechaniſchen Naturkräfte, namentlich der natürlichen Waſſerſtürze, Erſatz zu 
ſchaffen, wenn es nicht etwa einer ſpäteren Zukunft gelingen ſollte, die Sonnenwärme 
direkt in Arbeit umzuſetzen, ein Verfahren, das jährlich einhalbmillionenmal ſoviel 
Energie fiir die Menſchheit verfügbar machen würde, als die Kohlenproduktion der 


Des Roblenseitalters Anfang und Ende. 295 


ganzen Erde. Iſt doch die Energiemenge, die der Erde als Sonnenwärme jugefiibrt 
wird, jo groß, Daf fie hinreichen würde, in einer Stunde einen die Erde umgebenden 
Wajfermantel von 2, cm Dide yum Sieden ju erhigen, oder in einem Jabre cine 
die Erde einhüllende Eisſchicht von 35 m Hobe yu ſchmelzen. Und dabei gelangt von 
der ganzen, der Sonne entitrablenden Warmemenge nur der pweitaufendmillionite Teil 
sur Erde, alled iibrige gebt in den Weltenraum hinaus. Aber auch das Arbeits— 
vermögen, das in den atmoſphäriſchen Niederfchlagen jtedt, ift cin fo refpeftables, dap 
es Die verbrannten Roblenftoffmengen auf unabfebbare Zeit zu erfegen vermöchte. 
Prof. Heuleaur feast es auf 100000 Millionen Pferdeſtärken; und wird biervon 
nur der tauſendſte Teil fiir die mechaniſchen Betriebe gerettet, fo finnen wir der Kohlen 
gern enthebren. 

Dap eS mit der Koblenherrlichfeit cinmal cin Ende nehmen witrde, müßte man 
ſich eigentlich ſchon nad dem naturpbilofopbifden Grundfage fagen, wonad nur das 
obne Ende ijt, was aud feinen Anfang gebabt. Der Anfang des modernen Stein: 
foblenverbrauchs, der bald zur ffrupellofen Vergeudung ausartete, liegt aber erjt ein 
Jahrhundert juriid, denn er beqann genau mit der Erfindung der Dampfmaſchine. Bis 
dabin war die Verwendung der „ſchwarzen Diamanten”, wie Maurus Jofai die 
Steinfoble genannt bat, eine fo fparjame gewefen, dab wobl nod in Sabrhundert- 
taujenden oder gar Qabrmillionen die vorbandenen Vorräte nicht ju erſchöpfen fein 
wiirden. Aus dem Funde cines OCrnamentbruchjtiides von Cannelfoble an der 
ſchottiſchen Küſte will der engliſche Geologe Lyell die Bekanntſchaft des Menſchen mit 
der Noble auf etwa 5000 Jabre ſchätzen. Der Menſch der Steingeit fcbeint in Eng: 
fand ſchon einen primitiven Roblenberghau betrieben ju haben, der fich natürlich auf 
die oberjten zutage tretenden Schichten beſchränkte. Theophrajt, der im 4. Jahrhundert 
v. Chr. lebte, erwabnt die Koble als ein von den Schmieden und Erzgießern ge- 
ſchätztes Brennmaterial, das namentlich in den Bergwerfen von Bena gewonnen 
werde, aber auch in der griechiſchen Landſchaft Elis und im fernen Ligurien. Bis 
ing 3. Jahrhundert v. Chr. foll der Gebrauch der Steintoblen bei den Chinejen nach- 
weisbar fein. Marco Polo, der beriibmte Reijende des Mittelalters, fand die Ber- 
wertung der „ſchwarzen Steine” als Brenmmaterial im Reiche der Mitte ſchon ganz 
allgemein vor; das war alfo im 13. chrijtlicben Qabrhundert. Die erfte hiſtoriſch 
suverlaffige Eriwabnung der Noble haben wir in der Chronif der Abtei von Peter: 
borough aus dem Jahre 852, worin berichtet wird, dak ein Lehnsmann diefes 
Kloſters vervflichtet worden fei, den Minden u. a. andy 60 Ladungen Hol, und 
12 Yadungen Koble jabrlich zu liefern. Im 13. Jabrbundert war die Koble von 
Neweajtle bereits HandelSartifel, und Anfang des 14. muß ibre Anwendung auch in 
Yondon ſchon allgemein geweſen fein, denn Gegner der Steinfoblenfeuerung festen 
beim Parlament cinen Antrag durd, König Eduard I. gum Verbot der Benutzung 
von Koblen fiir London und feine Vorſtädte yu veranlaſſen. Sm Jabre 1306 erließ 
der König auc tatſächlich cin folches Berbot, weil die Birger den fchwefligen 
Raud und Gerud nicht vertragen mochten.“ Raum zwanzig Jahre fpdter wurden 
die „Seekohlen von Newcaſtle“ freilich wieder in der Hauptſtadt und fogar im König— 
lichen Palaſte qebrannt, obgleich fics die Frauen Londons verfdworen Hatten, feine 
Speiſen yu ejjen, die fiber Steinfoblenfeuer bereitet waren. Das Verbot wurde faft 
drei Jahrhunderte fpater von der Königin Clijabeth zeitweiſe wiederholt. Jn Paris 
verſchmähten noch vor zweihundert Jahren die befferen Roche die Kohlenfeuerung. 


296 Des Kohlenzeitalters Anfang und Ende. 


Und die Frauen widerftrebten ibr, weil fie vom Kohlendunſt eine ſchädliche Wirkung 
auf den Teint befiirdteten. 

Sn Deutfehland ijt febr früh Torf gebrannt worden. Denn ſchon Plinius er: 
zählt von den Chaufen im heutigen Oldenburg: ,,Sie bolen mit ibren Handen aus 
der Tiefe der Sümpfe Erde herauf, trodnen und verbrennen fie, um ihre Speijen ju 
bereiten und ihre von der Kälte erftarrten Glieder yu erwarmen.” Bon der Torf- 
verwendung bis zur Nutzbarmachung der in Deutſchland gerade vielfach jutage- 
tretenden Flötze war wobl nur ein fleiner Schritt. Die wendiſchen Corben febeinen 
die Swidauer Koble im 10. Jabrbundert bereits funjtgeredht abgebaut zu baben. Aud 
den Zwickauern wollte cine Poligeiverordnung von 1348 die Steinkohlenfeuerung ver- 
bieten, weil fie die Luft verpefte. Aus jener Zeit ftammen auch die friibeften Nach— 
riditen fiber den Rohlenberghau im Ruhrgebiet; der im Saarbeden hat erſt 1529 und 
der jcblejifche erjt fury vor dem dreißigjährigen Rriege begonnen. Jn Böhmen wurde 
1550 Ddie erjte Braunfohlengrube und 1580 das erjte Steinfohlenbergwert eröffnet. 
Belgien Hat feine reichen Kohlenſchätze fdon im 11. Jahrhundert abzubauen be— 
gonnen. Jn London hatte fic) um 1700 der Roblenverbraud gegen da3 Jabr 1600 
verzehnfacht. 

Aber erſt mit der Erfindung der Dampfmaſchine, alſo ſeit Beginn des 19. Jahr— 
hunderts, iſt der Kohlenkonſum zu der Höhe geſtiegen, von der wir ſobald wie 
möglich wieder werden herabgehen müſſen, wollen wir nicht in wenigen Jahrhunderten 
mit unſerm Reichtum abgewirtſchaftet haben. Noch der franzöſiſche Sozialiſt Fourier 
(1772—-1837) hatte, als er ganz richtig cine neue Zeit heraufkommen fab, die neue 
Kräfte zur Bewältigung des fteiqenden Gitterverfehrs notwendig machte, auf die kurioſe 
Idee verfallen miijjen, Löwen und Walfiſche zu drefiieren, um ſtärkere Sugtiere ju 
Lande und yu Waſſer ju haben als Pferde, Ramecle und dergl. Heute treiben wir 
mittels der Steinfoble Dampfmaſchinen bis yu 50 000 Pferdeſtärken. 

Wie ſehr die Dampfmafdine und die ins Rieſige wachſende Cijenindujtrie von 
vornherein mit der Roble aufräumte, geht daraus bervor, dak ſchon 1831 in England 
die Frage auftaucte, wie lange die vorbandenen Vorräte wohl ausreichen wiirden. 
Und eine dDamals eingeſetzte Kommiffion berechnete den Rohlenreichtum Grofbritanniens 
auf 148 Billionen Rilo, Im Jahre 1901 wurde er nur nod auf 90 Villionen 
geſchätzt. Allein in den letzten zehn Jahren hat die engliſche Roblenforderung cine 
Steigerung um fait 63.000 Nillionen Kilo erfabren und 1902 die Hobe von mebr 
al$ 227 Millionen Tonnen A 1000 Rilo erreidit. In Deutſchland ijt es mit der 
Steigerung des Kohlenverbrauchs nicht viel anders geweſen: in den lebten zehn Jahren 
vermebrte er fics um 451/, Progent, nimlich von 73852600 auf 107436000 Tonnen. 
Und fo in der ganjen Welt. Hatte 1800 die Weltproduftion an Kohle erſt 
12 Millionen Tonnen betragen, fo hundert Qabre jpiter, 1899, — bereits 
720,6 Millionen. Mit der Maſſe Steinfoblen, die wir jährlich der Erde entnehmen, 
finnten wir 40 Rubiffilometer Wafer vom Cispunkt bis jum Siedepunkt erbigen. 
Und verteilten wir diefe Warmemenge gleichmäßig auf alle Menſchen der Erde, deren 
man 1900 rund 1611 Millionen zählte, jo trdfe auf jeden einjelnen jo viel Warme, 
daß er tiglid 67 Liter Waſſer von O° yum Sieden bringen könnte. Nahezu ein 
Drittel dieſes ganzen Koblenquantums wird heute von den Vereinigte Staaten Nord: 
amerifas geliefert, von Gropbritannien das zweite, kleinere Drittel, ein halbes Drittel 
yon Deutſchland. Auf diefe drei größten Roblenproduzenten entjallen fayt 80 Prozent 


DeS Koblengeitalters Anfang und Ende. 297 


aller gefirderten Roble. Aber während Nordamerifa erſt angefangen bat, in fo groß— 
artigem Maßſtabe an dem unbeimlichen Wettrennen in der Vergeudung feiner Boden: 
ſchätze teilzunehmen, und wohl nod ein Jabrtaufend und Langer mit feinen mebr als 
500000 Quadratkilometern Kohlenfelder reicht, geben die engliſchen, die nur 
23 000 Quadrattilometer Ausdehnung baben, nad einer neuerlichen Berechnung feitens 
der Society of Arts bereits in 200 Jahren ibrer Erſchöpfung entgegen. Und fo 
groß ijt die Beſorgnis jenfeits des Nanals, daß im Qanuar 1902 abermals eine 
wiſſenſchaftliche Kommiſſion von der britiſchen Regierung zur Feititellung der verfüg— 
baren Kohlenſchätze cingejegt worden ijt, deren Berechnungen nod ausfteben. Hat 
dod) der franzöſiſche Geologe Eduard Lozé kürzlich erſt angegeben, dah der konkurrenz— 
fabige Kohlenbergbau in England fogar ſchon mit dem Jabre 1950 fein Ende erreicht, 
wenngleich die Ausbentefabigkeit nad feiner Anſicht auch noch 375 Jabre vorbilt. 
File Deutſchland bat der Oberbergrat R. Naſſe 1893 eine umfaffende Berechnung an- 
gejtellt und gefunden, daß wirtſchaftlich, alſo die Förderkoſten dedend, nocd 
112 Milliarden Tonnen Kohle bet uns anjteben. Und gwar giebt er fiir die voraus— 
ſichtliche Erſchöpfung folgende Jabre an: 1990, alfo nod in dieſem Jahrhundert, 
Königreich Sachjen; bundert Sabre ſpäter, nämlich 2090, das Wurmgebiet; 2140 
Niederſchleſien; 2385 bas Rubrgebiet, 2647 Oberſchleſien, welche legteren beiden mit 
ibten 50 bezw. 45 Milliarden Tonnen den weitaus größten Anteil am deutſchen 
Roblenbeftande haben; am ſpäteſten, erſt 2763, das Caargebiet mit feinen 
10 Milliarden Tonnen. Etwas giinitiqer fallt eine Beredmung des Bergrats 
Schulz aus, der 1899 die Erſchöpfung des Rubrbedens erjt auf das Jahr 3100 an- 
fegte und das oberſchleſiſche Kohlenbecken fogar als „unerſchöpflich nach unſeren Be- 
qriffen” beseichnete. 

Jedenfalls gebt aus alledem bervor, daß fiir Curopa wenigitens, und fpesiell 
fiir Das bisher größte europäiſche Noblenland, Grogbritannien, in immerhin abjebbarer 
Friſt das „Zeitalter der Verbrennung“, wie der Tilbinger Profeffor Clemens Winkler 
kürzlich die Spanne Menſchheitsgeſchichte genannt hat, die fic) der Steinfoble bedienen 
durfte, beendet fein wiirde, wenn nicht der Vorrat der außereuropäiſchen Lander, namentlic 
Chinas mit feinen meiſt nod unerſchloſſenen 600000 Quadratfilometern Roblenfelder, aber 
auch Sibiriens und Afrikas jenes Ende noch um ein bis zwei Jabrtaufende binausfebdbe. 
Swar der beriihmte engliſche Phyſiker Lord Kelvin bat gemeint, ein ſolches Ende 
fonne es iiberbaupt nicht geben, denn es aebe garnidt foviel Cauerjtof in ber Crd: 
atmoſphäre, um alle vorbandene Roble yu verbrennen. Wir würden daber eber als 
an Erſchöpfung der Koblenvorrite an Sauerjtoffmangel jugrunde geben, alfo erjtiden. 
Ja, wenn wir in der bisherigen Weife in der Verbrennung von Kohle fortſchritten, 
wiirde dieſer Beitpunft, da der Atmoſphärenſauerſtoff verbraucht und die Menſchheit 
elend den Erftidungstod ſterben müßte, bereits in 400 Jahren eintreten. Nun, dann 
batten wir erjt recht allen Grund, den maßloſen Verbraud an Kohle einzuſchränken, 
aug dem vor bundert Jabren begonnenen ,,3eitalter der Verbrennung” wns möglichſt 
wieder zurückzuflüchten in jene Beriode, da die Steinfoble nod nicht der fajt aus- 
ſchließliche Wärme- und Krajftipender war. 

Und darin bilft uns ja ſchon jest in großartigſter Weife die Wunderfraft der 
Elektrizität, zu deren Erzeugung wir nichts weniger als auf die Energie der Stein: 
foble angewiejen find: wo ein Wafferlauf ijt mit ftarfem Gefalle, läßt ſich Cleftrisitat 
billiger erjyeugen als dure Verbrennung von Kohle. Jn Jtalien werden beute ſchon 


298 Des Koblengeitalters Anfang und Ende. 


von den 650000 Pferdeſtärken, mit denen die Mafdinen des Landes arbeiten, 
300 00Q dem Wafer entnommen und nur 350000 den Dampfmaſchinen mit Kohlen— 
feuerung. Ungenugt hat 03 nod iiber fajt 3 Millionen Pferdekräfte zu verfiigen. In 
Amerifa ift man fortſchreitend darauf bedacht, die großartigen Waſſerfälle de3 Landes 
elektriſch auszunutzen. Die Schweiz, Frankreich, Sfandinavien haben nod) ungesablte 
nicht genugte WafferErafte sur Verfügung. Deutſchland ijt darin mit am fdbledsteften 
daran. 

Umſomehr follten wir anfangen, mit unferen Kohlenſchätzen fparjam yu wirt— 
ſchaften, mit denen wir vor allen europäiſchen Staaten cinen bedeutenden Vorjprung 
haben, ſodaß, wenn wegen de3 cingetretenen Roblenmangels der Weltverfehr und die 
Weltinduftrie Langit von England 3. B. fort und nod) Amerifa und China biniiber- 
gewandert fein mag, Deutſchland immer noch im Wettbewerbe der Völker mitſprechen 
finnte. Im Fleinen ſchon wäre yu beginnen: Sündigt man dod, wie Prof. Winkler 
ausfibrt, bereits in Haus und Küche in haarſträubendſter Weife an dem fojtharen 
Gut: an den ganz, zweckmäßig konſtruierten eifernen Regulieröfen öffnet man die 
Türen völlig zwecklos, ruiniert oft ſchon bei der eritmaligen Benugung die Verſchlüſſe 
und jagt fo den größten Teil der darin entividelten Warme jum Schornſtein binaus 
ing Freie. 

Unvergleichlich bedeutender freilics, al8 ſolche Verſchwendung aus Leichtſinn iſt 
diejenige, die wir vorläufig noch begehen müſſen, notgedrungen, weil unſere Technik 
noch fo unvollkommen ijt. Werden doch in unſeren Dampfmaſchinen, Lokomotiven uſw. 
kaum 15 Prozent, meiſt ſogar nur 10 Prozent von der Energie der darin zum Ver— 
brennen gebrachten Kohle in mechaniſche Arbeit umgeſetzt. Erſt ganz neuerdings iſt 
es dem Charlottenburger Profeſſor Joffe gelungen, eine „Abwärmekraftmaſchine“ zu 
konſtruieren, bei der durch Ausnutzung des Auspuff- oder „Abdampfes“ bis zu 
40 Prozent der verwendeten Kohle zur Kraftleiſtung herangezogen werden. Auch an 
die rationelle Ausnutzung der Hochofengaſe wird man gehen müſſen. Der Franzoſe 
Guſtave Gin hat berechnet, daß dadurch allein auch waſſerarme Länder ſchon mit 
waſſerreichen würden konkurrieren können. Prof. Winkler bezeichnet es geradezu als 
ein Gebot der höheren ſittlichen Vernunft, der zweckloſen Vergeudung foſſiler Kohle 
mit aller Kraft entgegenzutreten. Je länger ein Land das Ende ſeiner Kohlenvorräte 
wird hinausſchieben können, ſei es durch zweckmäßigere Ausnutzung der Verbrennungs- 
wärme, fei es durch Erſchließung anderer Energiequellen, um fo länger wird es 
ſeinen wirtſchaftlichen Riedergang aufhalten, der unweigerlich eintreten muß, wenn es 
mit ſeinen Kohlenvorräten ausgewirtſchaftet hat; denn die Kultur zieht der Kohle 
nad, Und wenn dann auch an anderer Stelle neue gewaltige Induſtrieſtätten auf— 
blühen, in China, in Afrika, den Steinkohlenländern der Zukunft — das alte Europa 
wird abgeblüht haben, wie die Wälder der grauen Urzeit, die einſt ſeine ſträflich ver— 
ſchwendeten Kohlenſchätze ſchufen. Es ſei denn, daß in Italien und Skandinavien, der 
ſüdlichen und nördlichen Halbinſel, die unerſchöpflichen Waſſerkräfte auch für unſern 
Kontinent neue und ſchönere, weil rauch- und dunſtfreie Kulturmittelpunkte geſchaffen 
haben werden. Der Kohle, aus der wir allzuſchlecht genutzte Kräfte zogen, mag der— 
einſt das Ende bereitet ſein, im fallenden und ſteigenden Waſſer haben wir ſie immer 


wieder neu. 
Goma er 


— Prauenlohne —— 


Von 


Rlice Salomon. 


Raddrud verboten. 


r bomas Hood fcildert das Los einer Naberin in feinem Lied vom Hemde mit 
den Worten: 


2 
mid 


„Schaffen — Schaffen — Schaffer — 

* Und ber Lobn? Gin Wafferbumpen, 
Gine Kruſte Brot, cin Bett ven Strob, 
Dort das morſche Dad) — und Lumpen! 
Gin alter Tiſch, ein zerbrochner Stubl, 
Sonſt nidts auf Gottes Welt! 
Cine Wand fo bar — 's tit ein Troft fogar, 
Wenn mein Schatten mur drauf fallt.” 


Dieje Worte können nod heut als Gleichnis fiir die Entlobnung der 
meiften Frauen dienen. Welchen Erwerbszweig auch die Cingelne erwablen mag — 
wenn fie nicht zu den wenigen Glücklichen gehört, die fiir eine Ausnahmeſtellun 
auseriwablt find, jo pflegt fich ihr Lohn fo niedrig zu balten, daß fie zwar vielfad 
die nacten Exiſtenzbedürfniſſe befriedigen, aber fic) nicht ein menſchenwürdiges, ſorgloſes 
Dafein ſchaffen fann. Wenn ein franjdfifcher Sebriftiteller die Lage der arbeitenden 
Frauen Franfreichs im einem Werk geſchildert hat, dem er den Titel ,,Frauenlibne — 
Frauenelend“ gab, jo fiunte man mit gutem Recht dieſen ſelben Titel über cine 
Schilderung der Lage der arbeitenden Frauen in der ganzen Welt fegen. Wabrend 
es gan; undenfbar erfebeint, von Männerlöhnen ſchlechthin yu fyrechen, irgend einen 
gemeinjamen Gefichtspunft zu finden, unter dem ein ſolches Thema bebandelt werden 
finnte, zeigen Die Löhne der Frauen in den verſchiedenſten Berufsſphären die traurige 
Gemeinfamfeit eines fo auffallenden Tiefftandes, dah ſich uns die Pflicht aufdrängt, 
nad den Urfachen diefer Tatfache zu forſchen und Mittel yur Befeitiqung zu fuchen. 

Die fcblechte Cntlohming der Frauenarbeit — fei es Fabrik: oder Heimarbeit, 
fei es Die Leijtung der HandelSangeftellten oder dev Lebrerin — ijt unter zwei 
Geſichtspunkten zu wiirdigen. Es ijt cinerfeits zu unterſuchen, ob die Entlohnung der 
meiften Frauen ausreicht, wm den Unterhalt in ſtandesgemäßer Weife, d. h. dem 
gewobnten Rlajfenbedarf entſprechend zu decken; und es ijt ferner in Betracht 
zu ziehen, ob die Frauen für qleide Yeiftungen gleichen Lohn wie die Manner 


empfangen. Beide Fragen müſſen — das ift das Refultat aller auf diejem Gebiet 
vorliegenden Arbeiten — mit Ausnabme weniger Berufsgruppen entſchieden verneint 
werden. 


Zunächſt ſoll die Tatſache, daß die Entlohnung der Frauenarbeit meiſt nicht 
hinreicht, um die Grundlage der Exiſtenz abzugeben, um einen vollen Entgelt für den 
Einſatz der Arbeitskraft zu gewähren, etwas näher beleuchtet werden. Die wirtſchaftliche 
Ungeheuerlichkeit, daß eine große Gruppe von Arbeitern für längere Zeit die volle 
Arbeitskraft an Arbeitgeber verkauft, ohne dafür einen Preis zu bekommen, der die 
Koſten der Erhaltung der Arbeitskraft vollſtändig deckt, dieſe Ungeheuerlichkeit wird 
bei den arbeitenden Frauen täglich von neuem zur Wahrheit. Das eherne Lohngeſetz 
würde — ſofern es überhaupt Geltung hätte — an den arbeitenden Frauen zu 
Schanden werden; denn es kann kein Zweifel darüber herrſchen, daß der Lohn eines 
großen Teils der arbeitenden Frauen ſich dauernd unter dem Exiſtenzminimum halt, 


300 ‘ Frauenlöhne. 


Wo man die Bilanz der Ausgaben und Einnahmen zieht, überall zeigt ſich ein Defizit, 
auch wenn die Ausgaben auf das ſparſamſte und knappeſte berechnet werden. 

Dieſes Mißverhältnis iſt nur dadurch zu erklären, daß ein großer Teil der 
arbeitenden Frauen nicht ausſchließlich auf das Einkommen aus ihrer Arbeit augewieſen 
iſt, und daß die anderen, die bei dieſer Lebensweiſe zu Grunde gehen müſſen, durch 
immer nachdrängende Scharen täglich erſetzt werden. Wer nur einen Zuſchuß zum 
Familieneinkommen zu verdienen braucht, wie viele Hausfrauen und Haustöchter, der 
wird durch den niedrigen Lohn ſelbſt nicht jo ſehr geſchädigt, wie er andere ſchädigt. 
Aber die alleinſtehende erwerbende Frau trifft ein hartes Los. Ihr Leben bedeutet 
entbebren und entſagen, ſorgen und mühen, kämpfen und darben. Es gehört die 
größte Kunſt einer im Rechnen und Sparen begabten Frau dazu, um im Budget einer 
großſtädtiſchen Arbeiterin das Soll und das Haben auszugleichen. Und die klaffende 
Lücke, die trotz aller Bemühungen bleibt, das Manko auf der Seite des Habens, das 
jede zuverläſſige Berechnung der Wirtſchaftsführung einer ſolchen Arbeiterin zeigt, das 
wird beſtätigt durch die früh alternden, elend ausſehenden, ſchlecht ernährten Frauen— 
geſtalten, denen wir in den Fabrikvierteln der Städte begegnen. Sie findet ihren 
Ausdruck in den zahlreichen Erkrankungen an Bleichſucht, an Magenleiden, an 
sr eh a deren Urjace häufig in der Unterernährung der arbeitenden Frauen ju 
ſuchen ijt. 

Das Criftengminimum einer großſtädtiſchen AWrbeiterin wird von Dr Wilbrandt’) 
auf 600 Maré jährlich berechnet; das Cinfommen bleibt dauernd in den meiſten 
Branchen — fiir die jüngeren Arbeiterinnen in allen — dahinter zurück. Der durch— 
ſchnittliche Wochenverdienjt einer Wrbeiterin in der Berliner Papierinduftrie betragt 
10 Mark, der Mannheimer Fabrifarbeiterinnen 8 Marf, der badifden Zigarren— 
arbeiterinnen 7!/,—10 Marf. Naberinnen in Berliner Wajehefabrifen ftehen ſich auf 
9—10 Marf, NKnopfloch-Gandarbeiterinnen auf 6—7'/, Mark. Im allgemeinen fann 
man einen Sabresverdienft von durchſchnittlich 500 Mark feititellen; ex ſchwankt zumeiſt 
zwiſchen 400-—600 Marf. Dammit joll nicht gejagt fein, daß höhere Verdienſte nicht 
vorfommen, aber diefe Zablen find durch einzelne Ausnabmefaille von höheren Löhnen 
nicht ju widerlegen. Höhere Löhne kommen teils in einigen Gewerben vor, die einen 
befonderen Kräfteaufwand oder die befonders ſchwierige gelernte Arbeit erfordern wie 
in der Pldtterei, der Buchdrucerei, oder in Berufen, in denen der Sudrang der 
Urbeiterinnen cin febr geringer, zeitweiſe ungeniigender ift, wie im Dienfthotenberuf. 
Hier muß die Aufgabe der Freibeit, die von den Madchen gefordert wird, mit einem 
im Verhältnis yur Entlohnung anderer Frauen hohen Arbeitsentgelt aufgewogen 
werden. Aber diejen günſtigen Ausnahmefällen ſtehen andere gegeniiber, die Löhne 
weit unter dem Durchſchnitt aufweiſen. Bon oberſchleſiſchen Bergarbeiterinnen wird 
berichtet, daß ihr Jahresverdienſt auf 300 Maré yu berechnen fei, und in eingelnen Teilen 
Niederbaverns follen die Löhne der Fabrifarbeiterinnen nocd niedriger fteben. 

Aber weit trauriger liegen die Lohnverhältniſſe ſchließlich bei den meiſten Heim: 
arbeiterinnen, namentlich in der Konfektions-Induſtrie. Sie bleiben mit ihrem Einkommen 
meiſt unt 30 Prozent und mehr hinter dem Exiſtenzminimum zurück; und de Frauen, 
die ſolchen Erwerb ergreifen, um nicht nur den eigenen, ſondern auch den Unterhalt 
fiir Angehörige zu verdienen, ſehen ſich dabei ſchmählich enttäuſcht. Cs liegen gerade 
hierüber amtliche Erhebungen und Preisberechnungen vor. Sie ſind oft angeführt 
worden, haben immer von Neuem Stiirme der Entrüſtung und Außerungen tiefſten 
Mitleids hervorgerufen. Aber cine Befferung bat fie noc niet erzielen laſſen. 
ES it nur an die Erhebungen des Reichsamts des Innern vom Yabre L887 zu er: 
innern, Deren Mitteilungen über Die Lohnhöhe noch immer zutreffend find, was durch 
Angaben des „Konfektionär“ aus Den letzten Jahren beſtätigt wird. Cs wurden — 
um nur wenige Beiſpiele anzuführen — für die Anfertigung eines Dutzend Manſchetten 
0,60—1,10 Mark, für ein Dutzend Kragen O,50—0,80 Warf, fiir ein Dutzend mit 
der Hand gefertiqte Knopflöcher 0,10 Maré gezahlt. In dev Crfurter Mäntelkonfektion 


) Handbud der Frauenbewegung. Teil IV. 


Frauenlöhne. 301 


überſteigt der Durchſchnittslohn der Arbeiterinnen ſelten 6 Maré wöchentlich. Damen- 
hemden werden nach neueren Angaben mit 1,25—2,00 Mark pro Dutzend, Wirtſchafts— 
ſchürzen mit 0,60—0,75 Mark pro Dutzend bezahlt. 

Wer kann die Tragödien ermeſſen, von denen dieſe Zahlen reden! Wer kann die 
Not und das Elend begreifen, das ſie umſchließen; die hoffnungsloſe Verzweiflung — 
aber auch all die Wut und Erbitterung, die ſolche Arbeitsverhältniſſe hervorrufen 
müſſen. „Wer es vermöchte, nur ein Leben nachzuempfinden, wie es tauſendfach 
gelebt wird“ — ſo ſagt Oda Olberg in ihrer Abhandlung über das Elend in der 
Konfektionsinduſtrie — „ein Leben, von deſſen Elend die trockenen Worte ‚5 Mark 
Wochenlohn‘ etwas ahnen laſſen; wer im Stande wäre, dieſem innerlich Nacherlebten 
Ausdruck ju verleihen, der hätte wohl fiir neue Begriffe neue Worte zu ſchaffen. 
Viele würden ihn leſen; aber vielleicht würde ihn niemand verſtehen; denn es gibt 
Dinge, die man nicht im behaglichen Salon mit ſattem Magen nachempfinden kann.“ 


Wenn man dieſe Lohnziffern ins Auge faßt, erſcheint es erklärlich, daß den 
meiſten alleinſtehenden Arbeiterinnen ein Mittageſſen für 30 Pfennig in den Volksküchen 
zu teuer iſt. Wilbrandt führt das Budget einer Arbeiterin aus der Berliner Wäſche— 
induſtrie an, die 450 Mark jährlich verdient und für Schlafſtelle und Ernährung 
jährlich 412,75 Mark ausgibt, wobei alles aufs ſparſamſte beſchafft wird. Es bleiben 
demnach für Kleidung, Wäſche und alle übrigen Lebensbedürfniſſe — und die Arbeiterin 
hat geiſtige Bedürfniſſe ebenſogut wie die Frau aus anderen Kreiſen, oder ſollte 
wenigſtens die Möglichkeit haben, ſie zu entwickeln und zu pflegen — 37,25 Mark 
jährlich, ein Betrag, der ſie geradezu auf andre Einkommensquellen hinweiſt. Es 
liegen denn auch viele Außerungen männlicher Arbeiter darüber vor, die die Lebens— 
weiſe der Kolleginnen als abſolut ungenügend bezeichnen. Frau Gnauck führt in ihrer 
bekannten Arbeit über die Arbeiterinnen in der Berliner Papierinduſtrie die Außerung 
an: „Die Arbeiterinnen leben faſt nur von Kaffee und Kakao; abends kochen ſie 
Gemüſe und Kaffee oder was vom Mittag übrig bleibt. Die Nahrung würde einen 
Mann in 8 Tagen arbeitsunfähig machen.“ 

Zuſammenfaſſend kann man daher die Frage, ob der Lohn der Arbeiterinnen im 
allgemeinen fo hoch ijt, dah fie von ihrem Erwerb leben finnen, ohne verfiimmern 
und verfommen zu miifien, mit derjelben Bejtimmtbeit verneinen, mit der fie fiir den 
alleinjtebenden WArbeiter zu bejaben ijt. ') 

Damit ijt aber der zweite Gejichtspunft, unter dem die Entlobnungsfrage yu 
betrachten ijt, beriihrt: die Frage nach der Gleichheit oder Ungleichbeit der Löhne 
bei gleichen Yeiftungen von Mann und Frau. Dit es vom wirtſchaftlichen und 
menſchlichen Standpunkt aus aufs tiefſte yu beflagen, wenn Frauen trop des Cinfages 
ibrer ganzen ArbeitSfraft Feinen vollen Unterbalt aus ihrer Arbeit ziehen, fo tritt bei 
der Forderung cines gleicen Lohnes fir gleiche Leijtung vor allem das Pringip der 
Gerechtigkeit hervor. Das Ausfprechen diefer Forderung allein befagt fon, dah 
Die Bewertung der Manner: und Frauenarbeit eine verfdiedene zu fein pfleqt. Und 
in der Tat ijt auch nicht zu verfennen, da die Frauen — wenn auch ibre Leijtungen 
und Verricdtungen nur felten denen ihrer mannlichen Ronfurrenten ganz gleicartig 
jind — nach einem befonderen niedrigeren Maßſtab bezahlt werden.2) Solange es 
cine Frauenbewegung gibt, bat fie denn auch die Forderung nad gleichem Lohn bei 
qleicher Yeijtung fiir Mann und Frau auf iby Programm gejest, und in Deutſchland 
war ¢3 der Allgemeine Deutſche Frauenverein, der auch auf diefem Gebiet ſchon vor 
20 Jahren juerjt die Sonde einſetzte. Aber der Gedanfe, von dem man fich dabei 
leiten lich, war ausſchließlich der der Gerechtigkeit, wie denn überhaupt alle auf 
die Frauenbewegung besiiglicen Fragen zunächſt mehr unter diefem Gefichtspuntt 
bebandelt wurden und bebandelt werden mußten. Man verlangte Gleichberechtigung 
in der Aushildung und Ausübung aller Berufe, Gleichberechtiqung vor dem Geſetz 


1) Wilbrandt a. a. O. 
2) Joh verweife bierfiir auf cine cingehende Unterfuchung iiber die Unterſchiede bei der Bezahlung 
von Manners und Fraucnarbeit und iiber deren Urfachen, die ich in ciniger Reit veriffentlicen werde. 


302 Frauenlöhne. 


und dem Staat, und man glaubte, all ſolche Forderungen durchzuſetzen, wenn man 
den Glauben an ihre Gerechtigkeit verbreitete. Aber in Bezug auf die Gleichheit des 
Lohnes konnte das nicht zutreffend ſein. Dieſer fonnte nicht — wie die Frauen der 
vorigen Generation glaubten — durch einen Druck auf die Fabrikanten durchgeſetzt 
werden; denn auf dem Arbeitsmarkt herrſchen nicht die Ideen der Gerechtigkeit, ſondern 
die des wirtſchaftlichen Vorteils. 

Und der wirtſchaftliche Vorteil bedingte, daß die Arbeitgeber die billigſte Arbeit 
nahmen, die ſie fanden; daß ſie billige Arbeit nahmen, wo ſie ſie fanden; und die 
Frauenarbeit bot ſich ihnen tatſächlich — das kann keinem Zweifel unterliegen — immer 
billiger dar als gleichwertige männliche Arbeit. So hat denn — brutal geſprochen — 
gerade die Billigkeit der Frau ihr Eingang auf dem Arbeitsmarkt verſchafft. Die 
Frau wurde auf dem Arbeitsmarkt zu einer gefährlichen Konkurrentin des Mannes, 
nicht etwa nur bei Arbeiten, für die ſie geeigneter oder ebenſo geeignet war, ſondern auch 
in Gruben und Bergwerken, auf Bauten und in Hüttenwerken, weil ſie den Mann 
unterbot, weil ſie als Lohndrückerin auftrat. Deshalb muß die Forderung nach gleichem 
Lohn für gleiche Leiſtung, die wir aufrecht erhalten, in erſter Linie unſeren eigenen 
Gejchlechtsgenoffinnen qelten. Unjer Bemühen muh darauf gerichtet fein, in unferen 
eigenen Reiben die Urfachen zu befeitigen, die zu einer ungleichen Entlohnung von 
Mann und Frau, zur niedrigen Lohnforderung der Frauen fuͤhren. 

Wenn man die kurze Vergangenheit der Frau auf dem Arbeitsmarkt verfolgt, 
ſo iſt es leicht zu erklären, daß ſie mit geringerem Lohn als der Mann vorlieb nahm, 
ihre Forderungen niedriger ſtellte. Jahrhunderte lang haben die Frauen nur im 
Rahmen des Hauſes geſchafft; ein Lohnverhältnis, das in Geld ausgedrückt wurde, 
blieb den meiſten fremd, und die iſolierten, in Millionen von Einzelhaushaltungen ver— 
ſtreuten Frauen fanden keine Gelegenheit, ihr Solidaritätsgefühl zu entwickeln, das 
gemeinſame Intereſſe mit ihren Arbeitsgenoſſinnen in andren Haushaltungen zu er— 
faſſen. Sie waren gewohnt zu arbeiten, und oft ſchwere, anſtrengende und aufreibende 
Arbeit zu tun; aber ſie verrichteten die Arbeit aus Liebe zu ihren Angehörigen, aus 
Pflicht; vielleicht auch, weil ſie nur darin ihre Exiſtenz fanden. Aber ſie taten 
es niemals für Geld; die Arbeit der Hausfrau wird bis auf den heutigen Tag nicht 
bezahlt, ſie wird in Folge deſſen auch gering bewertet. Die meiſten Frauen bleiben in 
ihren perſönlichen Bedürfniſſen durchaus abhängig von ihrem Mann, der ſich nicht unr 
ſelbſt als ihren Ernährer anſieht, ſondern auch häufig von Frauen als ſolcher be— 
trachtet wird, auch wo gar keine Veranlaſſung dazu vorliegt. Was Wunder denn, daß 
die Frauen, als die bittre Not einer ſchweren Zeit ſie zur Erwerbsarbeit drängte, ihre 
Arbeitskraft niedrig einzuſchätzen und ſie für jeden Preis herzugeben bereit waren. 

Die unbezahlte und unbewertete Arbeit der Hausfrau, die geringe Ein— 
ſchätzung ihrer Arbeitskraft war es auf der einen Seite, die die Frauen zu niedrigen 
Lohnforderungen veranlaßte. Auf der anderen Seite der erbitterte Koönkurrenzkampf 
— nicht nur zwiſchen Mann und Frau, ſondern auch zwiſchen Frauen untereinander — 
Der durch die wirtſchaftlichen Umwälzungen des letzten Jahrhunderts herbeigeführt 
wurde. Der Kampf um die nadte Exiſtenz, der auf dem Arbeitsmarkt ausgefochten 
wurde, er notigte die Frauen, zu Hungerlöhnen ju arbeiten, um ibre Kinder nicht 
verhungern zu laſſen. 

Aber ebenſo wichtig wie dieſe beiden Urſachen, ebenſo ausſchlaggebend für ihre 
niedrigen Lohnforderungen und für die niedrigen Preisbewilligungen, die man ihnen 
bot, war die Tatſache, daß die Frauen zunächſt nur als ungelernte Arbeitskräfte 
auf den Markt traten. Als die Maſchine die Muskelkraft der Männer vielfach ent— 
behrlich gemacht hatte, ſpannte die Induſtrie Frauen und Kinder in ihren Dienſt. 
Und ähnlich lag es in anderen Berufsarten. Den Eintritt in das kaufmänniſche 
Gewerbe, in den Staatsdienſt, in den Poſt- und Bahnbetrieb erlangten die Frauen in 
einer Zeit der fortſchreitenden Arbeitszerlegung, die die Heranziehung von wenig oder 
gar nicht vorgebildeten Kräften möglich machte. Auch zu Lehrerinnen an öffentlichen 
Schulen wurden Frauen zuerſt berufen, nicht weil man an ihre beſondere Eignung 
glaubte, ſondern weil es an männlichen Bewerbern fehlte und man daher mit ſchlechter 


— 





Frauenlöhne. 303 


vorgebildeten Lehrfraften — und das waren die Frauen damals — vorlieb nehbmen 
mufte. Uberall batten die Frauen deshalb den lesten Platz einzunehmen, die niedrigite 
und jeblechter beyablte Arbeit zu thun, denn fiir beſſere gelang es iiberall, die bejjer 
vorgebildeten Männer gu gewinnen. 


* * 
* 


Unter dieſem Zeichen traten die Frauen in die Erwerbsarbeit ein, und nur, 
wo es den Frauen gelungen iſt, die Vorbildung eines ganzen Standes zu beſſern, 
das Können auf ein Niveau zu heben, das dem der Männer um nichts nachſteht, da haben 
ſie auch ihre Gehälter und ihre Löhne den männlichen anzunähern vermocht. Die 
Beiſpiele hierfür ſind noch vereinzelt. In erſter Linie iſt der deutſche Lehrerinnen— 
ſtand zu nennen, der ſeine glänzende Berufsorganiſation dafür nutzbar machte, um die 
Anforderungen an die Mitglieder des Standes immer höher zu ſtellen. Wenn im 
Allgemeinen die Lehrerin in ihrem Wiſſen und Können hinter dem männlichen Kollegen nicht 
zurückbleibt, ſo iſt es darauf zurückzuführen, daß durch die Initiative der Lehrerinnen 
die Prüfungsanforderungen für die Frauen immer höhere wurden. Nur auf Grund 
ihrer Leiſtungen fonnten die Frauen Gehaltsaufbeſſerungen durchſetzen, wie fie 
beifpielsweife das Leste preußiſche Lebrerbefoldungsgefey den Frauen gebracht bat. 

Unter den weiblichen Handelsangejtellten ijt es nur den Bureauarbeiterinnen 
in wenigen Städten möglich gewefen, ähnlich giinftige Gebaltsverbaltnijje auf Grund 
quter Ausbildung gu erlangen, Sn Cöln, Miinehen, Frankfurt foll ibre Lage eine fo 
erfreuliche qeworbden fein. In der Induſtrie find e3 vor allem die T ertila rbeiterinnen 
in Lancaſhire, die ganz dieſelbe Arbeit wie die Manner tun, die ſich fiir ihre Arbeit 
ebenſo ſchulen, fie mit demfelben Berufsernſt erfaſſen, die mit den Mannern organiſiert 
ſind und den gleichen Lohn wie dieſe erringen. 

Im allgemeinen iſt die Ausbildung der Frauen für ihre Erwerbsarbeit eine 
viel geringere als die der Männer. Der junge Kaufmann lernt drei bis vier Jahre, 
die Buchhalterin oft nur drei Monate, und auch in der Induſtrie iſt die Frauenarbeit 
in viel größerem Umfang als die männliche Arbeit eine ungelernte zu nennen. Die 
Arbeiterin in einer Kartonfabrik lernt in wenigen Tagen eine beſtimmte Art Kartons 
anfertigen; ſie iſt daher in viel ſtärkerem Maße als der gelernte Buchbinder, der in 
jedem Betrieb unterkommen kann, von ihrem Arbeitgeber abhängig. Sie ſteigt nicht 
im Lohn und iſt gegenüber jedem Verſuch, ihr Einkommen zu kuͤrzen, widerſtands⸗ 
unfahig. Denn ſie kann nicht leicht andere Arbeit finden, während ſie für den Arbeit— 
geber, wie alle wenig gelernten Arbeitstrafte, jeden Augenblick zu erjegen ijt. Daher ift 
fie nur felten im Stande, mit ibren Arbeitsqenofiinnen kräftige Organijationen zu 
bilden, die ebenfo wie die Berufsvereine der Manner bibere Löhne durchfegen finnen. 
Der Dilettantismus, der durch die ungeniigende Lehrzeit der meiſten Frauen erzeugt 
wird, wirkt eben auf die Auffaſſung des Berufs, auf die Stellung der Frau im 
PBerufsteben und auf ibre Bezahlung. Cr entwertet nicht nur die Arbeit der Frauen, 
Die tatſachlich untergeordnete Arbeit leiſten, ſondern unter ſeinem Odium haben auch 
die Frauen zu leiden, die dasſelbe leiſten wie ein Mann. Sie müſſen ſich mit ihren 
Lohnanſprüchen denen ihrer Konkurrentinnen anpaſſen, wenn fie nicht durch deren 
Angebot verdrängt werden wollen. Die Löhne werden eben durch Angebot und Nady: 
frage auf dem Arbeitsmarft nicht der individuellen Leijftung, fondern dem Können, dem 
Wert der fonfurrierenden Gruppe angepaft. 

* * 
* 

Es bleibt daber cine der wichtigſten Aufgqaben der Frauenbewegung, das Niveau 
der ganzen Frauenarbeit zu beben, fiir eine beffere Aushildung der Frauen jum 
Beruf Sorge yu tragen. Dem haben aber bisher mehr innere als äußere Schwierig: 
feiten im Wege geftanden. Das Gros der Frauen, das in die Eriverbsarbeit hineingebt, 
rechnet nicht damit, den vollen Unterbalt verdienen zu miijjen. Während man fiir den 
Rnaben fajt immer nach einem Berufe fucht, der ibn einjt in den Stand jegen foll, 
eine Familie zu erhalten, fucht man für das Madchen eine Titigfeit, die es ibm 


304 Frauenlöhne. 


ermöglicht, die Toilettenausgaben zu beſtreiten, womöglich den Eltern ein Koſtgeld zu 
zahlen, und ebenſo bemühen ſich die erwerbſuchenden Ehefrauen häufig nur, einen Zuſchuß 
zum Familieneinkommen, nicht den vollen Individualbedarf zu verdienen. Die Tatſache, 
daß ein großer Prozentſatz der arbeitenden Mädchen jung aus dem Beruf ausſcheidet 
(das Durchſchnittsalter der Berliner Handelsgehilfin beträgt 21 Jahre), läßt in allen 
Klaſſen eine intenſive Abneigung — der Eltern wie der Madchen — gegen cine längere 
Lehrzeit entſtehen. Man ſcheut ſich, für die Lehrjahre einer Tochter Geld zu opfern, 
deſſen Zinsertrag nicht gewiß erſcheint. Iſt in Arbeiterkreiſen für den Knaben eine 
dreijährige Lehrzeit nicht zu lang, iſt die Erhaltung des Knaben in dieſen Jahren 
nicht zu teuer, ſo laſſen die Eltern ſich dabei von der Gewißheit leiten, daß dieſer 
Sohn während ſeines ganzen Lebens auf den Beruf geſtellt ſein wird. 

Die Opfer, die man auf dieſe Weiſe für den Sohn bringt, werden als viel— 
verſprechende Kapitalsanlage angeſehen, da man den Sohn für die Gründung und 
Verſorgung einer eigenen Familie ausrüſten will, Bei der Tochter liegen aber die 
Dinge ganz anders. Auch fiir fie pflegen die Eltern eine. Familiengrindung im Auge 
zu baben und zu erhoffen. Aber diefe pfleqt fiir Das Madchen nicht auf ibrer Criverbs- 
arbeit zu beruben, fondern, im Gegenteil, fie — wenn aud nicht j immer auf die Dauer — 
davon zu befreien. Und jebr ähnlich fieht man die Dinge in biirgerlicen Rreifen an. 
Im Hinblick auf dieſe Zutunftsbofnungen erſcheint den Eltern meiſt eine lange Lehrzeit 
für Töchter unrentabel. Das Mädchen ſoll ſo ſchnell wie möglich einen Verdienſt 
finden, nicht einen Beruf ergreiſen, und das drückt der ganzen Frauenarbeit den 
Stempel des Dilettantifden, Proviſoriſchen, Zufälligen auf und ſchraubt die Löhne auf 
einem niedrigen Niveau feft. 

Mit diefer Auffaſſung mug gebrocen werden, wenn die Frauenarbeit yu höherem 
wirtſchaftlichem Wert gefiibrt, wenn ibr eine Bezahlung gefichert werden foll, die den 
Frauen cine menſchenwürdige Exiſtenz gewibrt, und die fic bei gleichen Leiftungen 
den Mannerldbnen anpaft. 

Wie die Urſachen der feblechten Besahlung zu befeitigen find, die in lester 
Yinie in dem unentiidelten Stadium der Frauenberufsarbeit, in der dilettantiſchen 
Auffafiung des Berufslebens und der ungeniigenden Ausbildung der Frauen ju fucen 
find, dafür laſſen fic) verſchiedene Wege vorseichnen. 

Vielleicht würde in einer Gefellfchaftsordnung, in der die Berufstitigkeit der 
Arau im felben Umfang iiblich ijt wie die Des Wannes, in welder innerhalb der 
Familie beide Gatten zu gleichen Teilen fiir den Unterbhalt beiſteuern, die niedrige 
und ungleiche Entlohnung der Frau verſchwinden. Denn unter folder Rechts- 
verfaffung und Wirtſchaftsordnung müßte die Frau ebenfo wie der Mann yu 
einem Beruf erjogen werden; fie miifte denfelben Bedarf als Grundlage der Preis- 
forderung einjefen wie Der Mann; fie wiirde in höherem Alter im Beruf tätig 
fein und daber etwa dieſelbe Fabigfeit wie der Mann erlangen, bis auf geringe 
Unterfchicde, die fic aus der mangelnden Nontinuitdt der FAraucnarbeit, wielleicht 
aud aus der geringeren Diusfelfraft ergeben müßten. Die Frau eines ſolchen 
Sufunftsftaats würde aller Vorausſicht nach ebenfo wie der Mann bezahlt werden. 
Aber dieje radifale Ldfung der Frage fann von allen denen nicht acceptiert werden, 
die Die Erziehungsaufgaben dem Gaufe, das Kind der Familie erhalten wollen, und 
die an einer Wertſchätzung aud folcer Aufgaben feitbalten, die nicht dem Geld- 
erwerb dienen, die nicht einer dden, mechaniſchen Gleichmacheret der Geſchlechter zu— 
ftreben, fondern nach einer organiſchen bejjeren Vertetlung der Arbeit fucken. Cie 
kann vor allem aber denen nicht geniigen, die in der ganzen bisberigen Entwicklung 
der Menſchheit die Richtung auf cine organiſche, weſensgemäße Differenzierung der 
Arbeit erbliden, die zu höherer Kultur zu fiibren ſcheint. Die Anbanger diefer 
Richtung können cine Lofung der Lohnfrage mur durch Umwandlungen der Anſchauungen 
iiber Stellung und Aufgaben der Frau erboffen. Cie können nur wünſchen, dag die 
Uberzeugung Platz greift, dak Frauen ebenſo wie Männer fiir einen Beruf erjzogen 
und tüchtig gemacht werden müſſen, gleichviel, ob fie ibn Dauernd in vollem Umfang 
oder ob fie ibn iiberbaupt ausiiben werden. 


— 


— — 


Behördliche Ynfonfequengen. 305 


Es mug in den Frauen die Liebe zur Arbeit gepfleqt werden, die Berufstreue 
und Berufshingabe, damit jie während der Dauer ihrer Berufsarbeit den ganzen 
Menfeben einfeben und aud) den vollen Unterbhalt fiir cinen Menſchen beanſpruchen 
finnen. Dann nur fonnen die Frauen zu höheren Stufen dev Leiftungsfabigkeit 
emporflimmen, der Unterſchied zwiſchen Manner: und Frauenlöhnen, foweit er fid 
aus der unqualifizierten und weniger wertvollen Frauenarbeit ergibt, wird verſchwinden, 
und nut thm der Lobndrud, den heut die arbeitenden Frauen auf alle Urbeiterfateqorien 
ausüben, ju ibrem eignen und de3 ganzen Volkes Schaden. 

Wir mülſſen alfo fiir den gleichen Lohn, den wir fordern, die gleiche Arbeit wie 
der Mann cinjegen, d. h. nicht nur dieſelbe GefchidlichEeit, fondern diefelbe Ausdauer, 
Regelmäßigkeit, Oingabe und Berufstreue. Dann erjt wird die ErwerbSarbeit der 
Frau aus einem Ubel zu einem Segen fiir dad Wirtfchaftsleben werden; dann wird 
Die Fraucnarbeit vordringen, wo fie qeeiqneter als Mannerarbeit tft, nicht weil fie 
billiqer ijt, und wo heut ein wüſter Konkurrenzkampf zwiſchen Mann und Frau den 
Arbeitsmartt beherrfeht, da werden Manner und Frauen gemeinſam den Kampf um 
die Verbeſſerung ibrer Arbeitshedingungen führen. 


= 08 fie 


Behordliche Inkonsequenzen. 


Son 
Helene Tange. 


Nachdruck mit Quellenangabe erlaubt. — —— 


m Jahre 1893 hat das preußiſche Unterrichtsminiſterium der erſten Gymnaſial— 

anſtalt fiir Mädchen die Konzeſſion erteilt. Am Jahre 1895 hat dasſelbe 
Miniſterium die erſten Abiturientinnen zur Reifeprüfung zugelaſſen. Seitdem ſind neben 
mehreren privaten drei ſtädtiſche Gymnaſialanſtalten durch das preußiſche Unterrichts— 
miniſterium genehmigt worden. 

Im Jahre 1894 wurde ſeitens des preußiſchen Unterrichtsminiſteriums mit dankens— 
wertem Nachdruck die Anſchauung vertreten, daß für den Unterricht der Mädchen auch 
in den Oberklaſſen der höheren Mädchenſchulen Lehrerinnen in höherem Maße als bis— 
her heranzuziehen ſeien. Im Jahre 1899 wurde dieſe Anſchauung unter noch ſtärkerer 
Betonung des erziehlichen Wertes der Lehrerin in den Oberklaſſen von neuem entſchieden 
ausgeſprochen. 

An den neugegründeten ſechsſtufigen Gymnaſialanſtalten können nun aber 
Lehrerinnen auf Anordnung des Miniſters nur bis zur Unterſekunda unterrichten. Dieſe 
Anordnung iſt durchaus berechtigt, denn das preußiſche Oberlehrerinnenexamen gibt 
keinerlei Befähigung zum Unterricht auf der Oberſtufe von Mädchengymnaſien. 

Was iſt nun zu tun, um der ſo entſchieden ausgeſprochenen Anſicht des Unter— 
richtsminiſteriums, daß „es unnatürlich wäre, die Erziehung heranwachſender Mädchen 
ausſchließlich oder auch nur überwiegend in die Hände von Männern ju legen,” auch 
in dem neuen Zweige des weiblichen Unterrichtsweſens Geltung zu verſchaffen? Was 
iſt zu tun, um auch den Gymnaſiaſtinnen die Erziehung zu „edler Weiblichkeit“ zu 
ſichern, die der Erlaß von 1894 durch die Tätigkeit der Lehrerinnen erreichen will? 

Offenbar gibt es nur ein Mittel: die Zulaſſung der Frauen zu der Prüfung, 
die Dem Lehrer das Gymnaſium erſchließt, zum Examen pro facultate docendi. 
Dieſe Zulaſſung liegt ja an ſich ſchon in der Konſequenz der Entwicklung, die im 
20 


306 Behördliche Anfonfequenjen. 


sabre 1893 beginnt und deren Hauptdaten hier refapituliert wurden. Sachſen, Bayern 
und Baden haben diefe Konſequenz daber auch gezogen. 

Die vom preußiſchen Unterrichtsminijterium genehmigten Gymnafialanjtalten baben 
inzwiſchen auch ſchon viele Schiilerinnen entlafjen, die mit Genehmigung de3 Unterrichts: 
minijteriums die Reifepriifung bejtanden und ibre Studien gan; in der Weije der 
männlichen Studenten abfolviert haben. Man follte annebmen, daß das Miniſteriun 
mit Rückſicht auf den im Widerfpruc mit feinen Anſchauungen bejtebenden Lebrevinnen: 
mangel an den Mädchengymnaſialanſtalten jede Kandidatin fiir das Gramen pro facultate 
docendi freudig begritfen und ihr allen nur möglichen Vorſchub leiften wiirde. Sa, 
Die Begiinftiqung folder Wfpirantinnen durch Ausſetzung von Regierungsftipendien 
witrde angefichts des im Augenblick fo dringenden Bedürfniſſes niemand überraſchen. 

Was geſchieht aber? 

Im Januar des Jahres 1903 reichte cine rite vorgebildete Studentin ihre 
Bewerbung um Zulaſſung zum Cramen pro facultate docendi ein. Sieben Monate 
darauf, Ende Auguſt desfelben Jahres, erbielt fie die mit der Lange des verfloſſenen 
Zeitraums in feltjamem Gegenfag ftebende lakoniſche Antivort, daß ibre Sulaffung 
mit den beftebenden Verwaltungsgrundfaken unvereinbar fei. Da ihr inzwiſchen 
feitenS eines preußiſchen Mädchengymnaſiums cine Stelle angeboten war, die an dic 
Bedingung diejes Examens gefniipft war, fo batte fie ſchon im Juni eine zweite 
Cingabe unter Hinweis auf den fpesiellen dringlichen Fall gemacht. Auf diefe zweite 
Cingabe feHlt noch heute (20. Januar 1904) die Antwort. Der Auguſtbeſcheid tut 
deS zweiten Geſuchs feine Erwähnung. Das betreffende Gymnaſium bat inzwiſchen 
cine Hollinderin und eine Ofterreicherin angeftellt. 

Fragt man nad den Griinden diefes mehr als feltjamen Verfahrens, fo bleibt 
einem nur eine einzige Erflarung: das in Preußen bereits beftehende Oberlehrerinnen- 
eramen foll nicht durch cin höheres wiſſenſchaftliches Cramen entivertet werden, 

Mit diefer preußiſchen Cherlehrerinnenbildung hat es feine eigene Bewandtnis. 
Sie ijt nicht Fifeh noch Fleiſch. Zunächſt wird cin drei Jahre umfaſſender ſeminariſtiſcher 
Bildungsgang durchgemacht. Dann folgen mebrere Jahre unterrictlicer Praxis. 
Aus diefer beift es ſodann fic) wieder losmachen, um cin dreijähriges wiſſenſchaftliches 
Studium durchzuführen. Fajt alle, die diefen Weg geben mußten, haben die mit 
keinem andern Eramen in dieſer Weife verbundenen inneren und äußeren Schwierigkeiten 
empfunden. Von 104 Oberlebrerinnen, die befragt wurden, erflarten fic) nur 7 
unbedingt cinveritanden mit dem jetzigen Studiengang.') Wher fei dem, wie ihm wolle, 
jedenfalla erfennt das Minijterium ſelbſt an, dah die auf diefe Weife vorgebildeten 
Oberlebrerinnen fiir die Obherflafjen der Mädchengymnaſien nicht geniigen. Wie ijt es 
alſo möglich, die Ronfequen; ju umgehen, daß das Examen pro facultate docendi 
den Frauen freigegeben werden muß? 

In einem kürzlich auf einer Frauenverſammlung von ciner Dame gebaltenen 
„Herrentoaſt“ bie es: „Der deutſche Mann ift ein vorzüglicher Pädagoge. Wie viel 
Geduld — bat er uns nicht febon gelebrt.” Ach kann nicht umbin, diefe pädagogiſche 
Fähigkeit dem preußiſchen Unterrichtsminiſterinum in ganz befonderem Maße zuzuerkennen. 

1) Die betreffende Erhebung wurde von der Seftion fiir höhere Schulen des Allgemeinen deutſchen 


Lebrerinnenvereins veranſtaltet. Bergl. die fiber diefen ganzen Gegenjtand vorzüglich ortenticrende 
„Denlſchrift über den Stand der Oberlehrerinnenfrage” von Anna Marie Riftow, Oberlebrerin. 


—_—— -»8:3+-— —— 


— 





Die Photographiſche Lehranjtalt des 
Vettevercins zu Berlin. 


Durd den Umzug des Lettevercins in fein 
neues Gebaude. bat vor allem die Photographiſche 
Lebranftalt cine Ausdehnung und Vervolllommnung 
ibrer Cinrichtungen erfabren finnen, die fie den 
bejten Fachſchulen der Manner an die Seite 
ftellt. Sic ftebt unter der Leitung ded Direftors 
D. Shulg-Hende. Wir geben nachitebend das 
Wichtigſte fiber die allgemecinen Cinrictungen des 
Lebrgangs x2. Näheres ergeben die von der 
Regiftratur des Lettehaufes, Berlin W., Biltoria: 
Luiſeplatz yu erbittenden Profpefte. 


Die Photographifche Lebranftalt bezweckt cine 
Ausbilbung ihrer Schiilerinnen fiir alle Zweige 
der photographiſchen Praxis, einſchließlich auch der: 
jenigen Berufszweige, welde fic) der Bhotograpbie 
als Hilfsmittel bedienen. 

In erfter Linie erftredt fic) der Unterrict auf 
die verfdicdenen Aufnabme: und Ropierverfabren, 
fowie Retuſche auf fiinftlerifeber Grundlage, gu 
deren Vorbereitung der erforderlicde Seichenunterricdt 
ebenfallS erteilt wird. 

Der Unterricht fiir Anfangerinnen erftredt ſich 
im allgemeinen auf einen cineinbalbjabrigen Kursus, 
dod) fonnen folche Scbhiilerinnen, die ſchon in der 
Praxis tatiq waren, oder auf anderweitigem Wege 
geniigende photographiſche Borfenntniffe erlangt 
haben, nad) cingebolter erforderlicher Zuſtimmung 
ded Direftors von der Verpflichtung des eineinhalb- 
jabrigen Beſuches der Anftalt befreit werden. 

Sit nur die Erlernung beftimmter Berfabren 
beabjichtigt, fo fann durch den Direftor Dispenjation 
von der vorgefebenen Unterrichtszeit erfolgen; der 
Unterricht findet dann in einer mit dieſem ju 
vereinbarenden Stundenzahl ſtatt. 

Im Anſchluß an die erlangte allgemeine photo: 
graphiſche Ausbildung findet in dem dritten Halb— 
jahre der Unterricht in einzelnen Spezialfächern 
ſtatt, wie im Auszeichnen von Vergrößerungen und 
Herſtellen derſelben, in der mechaniſchen Retuſche 
mit der Lufteſtompe, air brush, ſowie auf beſonderen 
Wunfsh in den fogenannten photomechaniſchen Ver: 
fabren, in der Herftellung von Drudplatten fiir 
Flad:, Hod: und Tiefdrud. Rach mindeftend cin: 
einbalbjabrigem Beſuche wird den Sebiilerinnen 
auf Wunſch ein auf ibre erlernten Fertigleiten 
cingebendes Seugnis, bei kürzerem Mufentbalt in 


es 


* 
— 3 “iN 
Veo 
| der Anftalt nur cin einfaches Beſuchszeugnis erteilt, 
jedoch ift die Ausftellung des Seugnifjes davon ab- 


hangia, daß die Schülerin die gejamten, von ibr 
gefertigten Arbeiten 14 Tage vor Schluß ihres 


Sehuljabres dem Direftor einreicht. Der Direftor 
ift berechtigt, cinen Teil der von der Schiilerin 
wahrend des Unterridtsjabres angefertigten Zeich—⸗ 
nungen und Bilder nach Auswahl bis cin balbes 
Jahr nad dem Abgange der Schülerin gu Aus— 
ſtellungs zwecken zurüchzubehalten. 

Zur Erläuterung des Vorſtehenden und zur 
Erleichterung bei Auswahl eines beſtimmten Zweiges 
des photographiſchen Beruſes ſei das Folgende 
erwabnt. Es bat ſich nad dem nunmehr zwölf⸗ 
jabrigen Beſtehen der Anſtalt herausgeſtellt, daß 
der Eintritt in die Praxis denjenigen Schülerinnen 
leicht wurde, welche ſich nicht nur einem beſtimmten 
Zweige der Photographie gewidmet, ſondern ihr 
Augenmerf auf cine moglichft allgemeine Ausbildung 
gericjtet batten. Mus dieſem Grunde wurde auch 
febr bald feitend der Leitung der Anjftalt eine cin: 
jeitige Ausbildung von Retouceurinnen aufgegeben, 
da nur die groferen Ateliers Hilfstrafte fiir dieſen 
Zweig allein engagieren, bier aber aud) Anforde- 
rungen geftellt werden, die cine mehrjabrige Praxis 
vorausfesen und welche Schulerinnen nad cin: 
cinbalbjabrigem Unterricht geniigend zu erfiillen 
nod) nicht im ftande find, wabrend der Eleinere 
Photograph, der oft nur cine HilfSfraft engagieren 
fann, Wert darauf legt, dah dieſe ihm bei allen 
vorfommenden Arbeiten mit yur Hand geben fann, 
Hieraus ergibt fic) von felbft die Zweckmäßigleit 


eines ſich auf die wichtigſten photographiſchen 
Berfahren erftredenden Unterrichts, ſowie der Vorteil, 


der in der Annahme einer Stellung vorerſt in 
einem kleineren Atelier liegt, wie ſie allen unſeren 
Schülerinnen bei der Entlaſſung cmpfoblen wird. 
Aud die Annabme ciner Volontärſtellung auf kurze 
Beit ift nach bem Berlafjen der Anftalt febr an: 
suraten, da der Bolontarin cine größere Bewegungs— 
freibeit im pbhotographifden Betricbe geftattet ift 
und fie bierdurd ſich um fo fdjneller in die Praxis 
cinarbeiten wird. 

Reuerdings ift in den Lehrplan aud) Unterricht 
in ber Reprodultionéretufde, fog. Kunſtretuſche“, 
derjenigen Retuſche aufgenommen worden, welche 
als wichtigſtes Hilfemittel bei Herftellung photo: 
mechaniſcher Drudplatten dient. Sur CErlernung 
dieſer Retuſche iſt ebenfalls cin cincinbalbjabriger 
Kurfus erforderlich mit der Mafgabe, daß im erften 
Semefter cine allgemein photographifche Musbildung 
ftattfindet und das folgende volle Jahr zur Er: 
fernung der Reprodulktionsretuſche verwandt wird. 
Bei Aufnabme in dieſen Kurſus iit ein erhöhtes 


20* 


308 


zeichneriſches Können der Aufzunehmenden Voraus- 
ſetzung. 


| 


Die Ausfichten, welche fich ben in die Braris | 


cintretenden Schiilerinnen nad den gemachten Er: 
fabrungen bieten, find folgende: ,Gebilfinnen 
fiir alles“ und Retufdeurinnen erbalten cin 
monatliches Gebalt von ca. 60 bis 150 Mart, 


oder bei freier Station, wie vielfach iiblich, ca. 20 | 


bis 50 Mark, wobet die kleineren Zahlen das 
durchſchnittlich empfangene Anfangsgebalt aus: 
briiden. — Das Gebalt der Empfangsdamen 
wird der Regel nad höher bemefjen, ſchon desbalb, 
weil erbobte Anſprüche an die Toilette geftellt 
werden, Dod) wird bier bet der Anſtellung in erfter 
Linie auf bas Außere und Sprachfenntniffe gefeben. 
— Den Kopiererinnen pflegt cin Gebalt von 
50 bis 100 Marf monatlich jugeftanden zu werden, 
bad bei 


fiir „Reproduktionsretuſche“ erbalten cin 
wefentlich höheres Gebalt. Bisher betrug dads 
Anfangsgehalt durchſchnittlich 80 Mark, 
wurde nach kurzer Zeit ein weſentlich höheres 
Gehalt, bis 120 Mart gezahlt. 

Uber die Cinteilung des Unterrimts- 
ftoffes orientiert folgender Blan. 

Pbotographifde Ubungen: Aufnabmen auf 
Trodenplatten ev. auch naſſen Platten, von Büſten, 
RKunftgegenftiinden, Zeichnungen, Druden und dem 
febenden Modell; BPofitivverfabren (Kopierprojeh 
auf Eiweiß, Celloidins, Bigmentpapier, ſelbſt— 


freier Station die entfpredende Bers — 
minderung wie oben erfährt. — Retufdeurinnen | 


jedoch 








gefertigtem und käuflichem Platinpapier), Licht: 


paudsiibungen, Herſtellung von 
famera, Gummibdrud. Qin dritten Halbjabre Ver— 
groferung auf Bromfilberpapier bei fiinftlichem 
Licht, Nbung in der Herſtellung photomedanifder 
Drudplatten, Lichtdruck, Photograviire. 
Erperimentaldemic: Cinfibrung 
Chemie, furse Beſprechung der widhtigeren chemiſchen 
Clemente und der fiir die photographiſchen Prozeſſe 
wichtigſten Berbindung derfelben. Im Ll. Teile 
Beſprechung der photographiichen Prozeſſe. 
Photographifde Optit und Kunitlebre: 
Belpredung der photographiſchen Objefte und 
Apparate. Crorterung des Einfluſſes der Stellung 


Diapofitiven, | 
Sfioptitonbildern und Vergrößerungen in der Solar: , 





Bur Frauenbewegung. 


und Neig<ung des Apparates yum aufzunehmenden 
Objett. Nber Stellung und Beleuchtung. 

Zeichnen nad dem (ebenden Modell ujw: 
Teile des menfdlichen Körpers (Teile ded Geſichts. 
ganjer Kopf, Hinde, Füße), theoretiſche Er— 
lauterungen der PBroportionen des menſchlichen 
Rirpers, Zeichnen in diefem Sinne. Zeichnen 
nad bem lebenden Modell, Gewand: und Halb- 
altzeichnen. 

Gipszeichnen: Nad einfachen Ornamenten, 
nad Gipsabgüſſen des menſchlichen Körpers, mit 
Bevorzugung des Kopfes, der Hande und Füße. 

Porträtſtudien: Kopfzeichnen nad dem 
lebenden Modell, Zeichnen auf photographiſcher 
Unterlage. 

Perſpektive ujw: Die Grundzüge der Per— 
jpeftive im Hinblick auf die photographiſche Auf— 
nabime. 

Retufde: Materialfenntnis. Gleichmäßig— 
maden unrubiger Flächen auf Saly-, Eiweiß- und 
Gelloidinpapier mit Eiweiß und Gummifarben. 
Retuſche Eleinerer photographifeber Bilder bis yur 
RKabinettgrife auf Ciweif, Sala, Platin-,, Chlor: 
filbergelatine- und Bromfilbergelatine- Papier. Ree 
tuſche von Negativen, desgleicden von Vergroferungen. 

Reproduftionsretufde: Abungen mit der 
Lufteftompe und dem air brush: Apparat. Be— 
arbeitung von pofitiven Papierbildern, Ausdeden 
und Bearbeitung von Negativen gum Swede der 
Reproduktion. 

Aquarellieren und Obermalen: Aqua: 
rellieren nach Borlagen, Qbermalen von Photo 
graphien in Yajur: und Dedfarben. 

Buchführung: Einfache und photographiſche 
Buchfuhrung. 

Das Honorar file den anderthalbjabrigen 
Mefamtfurfus beträgt 300 M. Dazu kommen aber 


noch ziemlich erhebliche Koſten für Material, Ober 
in die 


die Bedingungen bei Teilnahme an einzelnen 
Kurſen und von Amateurinnen vergleiche den 
Proſpekt. Als Vorbildung wird in der Regel die 
einer voll ausgeſtalteten höheren Mädchenſchule 
verlangt. Die Anmeldung erfolgt bet dem Direktor. 
Sprechſtunden wochentäglich mit Ausnahme des 
Mittwoch und Sonnabend von 12—1 Uhr im 
photographifcben Yaboratoriunt ded Lettehauſes. 


~ 


Zur Frauenbewegung. 


Raddrud mit Quellenangabe erlaubt. 


* Die Realgymnaſialkurſe in Breslau follen jest 
nad dem Mufter von Schöneberg und Charlotten: 
burg im eine der höheren Mädchenſchule ange 
gliederte 6 ftufige Realqumnafialanjtalt verwandelt 
werden. Cine in derfelben Weiſe organijierte 
Anſtalt wird in Danzig begriimdet werden. 


* MIS erjter weiblicher Doftorand promovierte 
in Strafburg Frl. Eliſe Gütſchow an der 
philoſophiſchen Fakultät. — Qn Heidelberg pro: 
movierte Frl. Annie Mittelftacdt an der philo— 
ſophiſchen Falultät, und zwar in den Fächern 
Geſchichte, Deutſch, Nationalökonomie. 


| 





* Gine weiblidke Hilfstraft fiir die Gewerbe- 
infpeftion bat Anhalt anzuſtellen beſchloſſen. 


* Sur Rojftiimfrage der Schauſpielerinnen. 
Der Direltor des Deutſchen Theaters zu Berlin, 


| Serr Dr Otto Brahm, bat fied auf Anregung der 


Deutſchen Biihnengenoffenfchaft bin cinveritanden 
erflart, fiir die an feiner Bühne ftattfindende Crit: 
auffiibrung ded Fuldaſchen Schauipiels , Novella 
dAndrea* nicht nur wie bisher den Chordamen 
und Bertreterinnen fleinerer Nollen die hiſtoriſchen 
Stoftiime zu liefern, fondern zugleich auch nod 
allen in dieſem Stück beſchaäftigten Darftellerinnen. 


Bur Fraucnbewegung. 


Direftor Brahm gehört nit jum Deutfeben 
Bühnenverein, fiir deffen Mitglieder die Lieferung 
hiſtoriſcher Koſtüume an die Darftellerinnen in 
cinigen Qabren Gefey wird. Um fo erfreulicer 
ijt ſeine dankeswerte Snitiative in diefer wichtigen 
rage. 


Die deutſche Franenbewegung 
und dic Arbeiterinuen in Crimmitfdan. 


Die Ereignifje in Crimmitidau haben die 
beutiche Frauenbewegung im doppelter Hinficht be: 
rilbrt. Sie haben über ca 3000 arbeitende Frauen 
cine Not gebradt, vor der alle Parteirückſichten 
und Bedenfen zurücktreten jollten. Und andererfeits 
ricfen fie die Deutiche Fraucnbewegung auf, fiir cine 
Forderung einzuſtehen, die fie ſelbſt feit Jahren 
immer wieder vertreten bat: den Sehnitundentag 
fiir alle Fabrifarbeiterinnen. Unb wabrlich find 
gerade die Crimmitſchauer Berbaltniffe dazu an: 
getan, die ſoziale Notwendigtcit dieſer Forderung bell 
gu beleuchten. Den LebenSlauf einer Crimmitſchauer 
Urbeiterin ſchildert Wlice Galomon in der 
„Sozialen Praxis’ auf Grund eigener perſönlicher 
Nacforfdungen folgendermafen: 


Vom 12. bis 14. Qabr haben jie als Halbzeitler 
in der Fabrik gearbeitet, denn damals war die 
Rinderarbeit nod) erlaubt und üblich. Dann baben 
fie bie Fabrifarbeit in vollem Umfang aufgenommen, 
obne nad der erbeiratung irgend cine Unter: 
brechung zu machen. Die Manner verdienten als 
Farbereiarbeiter oder dergleichen etwa 14 Mart, 
die Frauen als Auslegerin Y Mart, als Druffiererin 
10 Mark Gejpart hatte man vor der Hochzeit 
nits, da Eltern zu unterftiifen waren. Cinige 
mupten die Einrichtung auf Abjablung nebmen, und 
dafiir mufte die Frau arbeiten. Als dads erjte 
Kind yur Welt fam, fonnte der Verdienft der Frau 
gar nicht mebr entbebrt werden, jo wurde das Rind 
ju Grofeltern oder anderen Berwandten getan und 
4 Mark wöchentlich dafür bejablt. Nach Haus 
fommen Ddiefe Kinder in den erften Lebendsjahren 
faum, aud) Sonntags nicht, da die Frauen meift 
der Unficht find, daß die Ungleichmäßigkeit der 
Verpflegung den Kindern ſchadet. Vielleicht find 
fie auch felbjt ber Kinderpflege gu febr entwöhnt. 
Als bas aweite Kind fam, wurde auc dieſes fort: 
gegeben. Nun werden 7 Marl pro Wore fiir 
beide Kinder gezahlt. Mein Cinwand, daß dabei 
ja nur 2—3 Mark vom Lobn der Frau eriibrigt 
werden, die fie vielleicht durch beffere Berforgung 
bes Haushalts cinbringen fonnte, wurde damit 
zurückgewieſen, daß der Überſchuß doch cin größerer 
fet, Da die Kinder gu Haus doch auch etwas koſten 
würden. Wenn mehr Kinder fommen, wird die 
Fabritarbeit meift der Not gehorchend“ aufgegeben. 


„Meine Frau fann nicht arbeiten,” fagte mir ein | 


Weber mit 20-22 Marf Wodentobn, „wir baben 
ſechs Kinder, da rentiert es fic) nicht.“ 
Die Verſorgung der Kinder durch die Mutter 


oder durch Fremde ift in Crimmitſchau ausidlieflicd 
| ift fiir Deutſchland fpruchreif, wie die Bericdte 


cin Rechenerempel. Cine Frau mit zwei Kindern 


j 





809 


Grofmutter, bet der fie frither in Siebe waren, 
geftorben, tagdiiber gu ihrer Schwejter. Diefe habe 
drei Eleine Kinder. Da fomme das Fortgeben ver 
Kinder gu teucr, und fie arbeite deshalb yu Haufe 
fiir bie Fabrif und verdiene fich noc) etwas durch 
Beaufſichtigung frember Kinder. Sie gable der 
Schwefter dafiir 1,50 Marl pro Wore. Cine 
andere Frau, die nur ein Mind von 10 Qabren bat, 
fieht dieſes Kind höchſtens cinmal jährlich, ba ed 
mebrere Stunden von Crimmiticdau entfernt bei 
ibren Cltern untergebract ift. Sie zahlt dafür 
3 Mart wöchentlich. Diefe Beifpiele laſſen fic 
beliebig vermebren; fie find typiſch. Die meiften 
Arbeiterinnen finnen ſich gar feine andere Ber: 
ſorgungsmöglichkeit fiir ihre Kinder vorftellen. Sie 
kennen es nicht anders. 

Die Forderung des Zehnſtundentags für die 
Frauen, die auf Grund dieſer Verhältniſſe geſtellt 
iſt und im Mittelpunkt des Crimmitſchauer Kampfes 
ſtand, zu unterſtützen, haben deshalb eine Reihe von 
bürgerlichen Frauen für ihre Pflicht gehalten. Sie 
haben ihrer Stellung zu dieſer Forderung in einem 
Aufruf Ausdruck gegeben, der außerdem zu 
Sammlungen für die Arbeiterinnen aufforderte. 
Unterzeichnet war der Aufruf von Alice Salomon, 
Berlin. Helene Lange, Halenfee-Berlin. Marie 
Stritt, Dresden. Minna Cauer, Berlin. 
Anna Simfon, Breslau. Anna Papprig, 
Berlin. Elifabeth Jaffé-Richthofen, Dr. 
phil., Heidelberg. Elſe Liibers, Berlin. Qn 
den Kreiſen der deutſchen Frauenbewegung bat 
dieſe Aufforderung auch ein Edo gefunden. Aus 
allen Teilen Deutſchlands find Beitrage eingelaufen. 
Anfang Januar fand, durch Wlice Salomon, 
Elfe Lüders und Charlotte Engel-Reimers 
cinberufen, eine Verſammlung in Berlin ftatt, in 
der von Alice Salomon, Elſe LiiderS und Herm 
Redatteur Weinhaufen die Berbaltniffe in Crim: 
mitfhau und die Folgen des Kampfes fiir die 
Urbeiterverhaltniffe des Ortes und fiir die deutſche 
Induſtrie beleuchtet wurden. Die Verſammlung 
nahm folqende Refolution an: 

„Die Verjammlung erklärt ihre volle Sympatbie 
mit der Forderung der Crimmitſchauer Tertilarbeiter 
um Berkürzung der Arbeitszeit, fie Halt dieſe 
Forderung doppelt berechtigt in ciner Snduftrie und 
an einem Ort, in dem ein erheblicher Prozentſatz 
weiblicher Arbeiter, namentlic) auch verbeirateter 
Frauen beſchäftigt find. Die Verſammlung protestiert 
gegen die Stellungnabme ber Behdrden in dicfem 
Kampf, welche die Gegenſätze nur verſchärft bat, 
und bedauert die ablebnende Haltung der Arbeit— 
geber gegenitber allen Cinigungsveriucen. An 
Reichstag und Bundesrat richtet die Verſammlung 
die Forderung, mit möglichſter Beſchleunigung ben 
Marimalarbeitstag von zehn Stunden fiir die 
Fabrifarbeiterinnen durch Reichsgeſetz feftyulegen; 
die Forderung wird von nambaften Sozialpoli— 
tifern aller Richtungen feit langem vertreten und 


fagte mir, fie arbeite in der Fabrit und ſchicke die der Gewerbeauffichtsbeamten fiir 1902 flar be: 
Kinder, fert fie ſchulpflichtig feiem und ſeit die weiſen.“ 


310 


Leider ift infolge der befonderen RKonftellation 
unferer wirtſchaftlichen mit unſern politifden Ber: 
haltniffen in dem Crimmitſchauer Konflikt mehr und 
mebr die Machtfrage in ben Vordergrund getreten. 
Wn die Stelle der fachlicen Frage: fiir oder wider 
den Zehnſtundentag — um die es fich handelte, ift 
eine politifde geſchoben worden: filr oder wider 
die Sojialdemotratic. Die deutſche Frauenbewegung 
follte fie) in ihrer Stellungnahme nicht durch dieſe 
Verſchiebung ded Geſichtspunltes irre machen laſſen, 
um fo weniger al fiir die Arbeiterinnen in Crim: 
mitſchau felbjt der Gefichtspuntt des Klaſſenkampfes 
binter dem Wunſch nach ciner wirklichen Erleidterung 
ihres Loſes, wie ed fcheint, guriidgetreten ift. Wlice 
Salomon ſchildert ihren Cindrud in der fozialen 
Praxis: 

Die Frauen balten an ihrer Forderung nach 
Arbeitszeitverlürzung mit unbeſchreiblicher Zahigkeit 
feſt. Vor allem fordern fie dic Verlaängerung der 
Mittagspauſe auf 1'/. Stunden, die bei den 
immerbin beträchtlichen Entfernungen des Ortes 
abjolut notig erſcheint. „Wir geben nicht wieder 
in bie Fabrif, bis unS das nicht bewilliat wird’, 
das fann man faft von allen Frauen hören. 
» Wenn die Fabrifantenfrauen nur cinmal fpiiren 
würden, wie einem des Abends heim Heimweg die 





Knie jittern, dann würden fie ibren Männern 


fagen, daß 11 Stunden gu viel tft,” fagte mir 
eine Urbeiterin. Die Frauen laſſen fic anſcheinend 
von Madtiragen, von dem Gedanten des Klaſſen— 
fampfes viel weniger beeinfluffen, alg von den 
rein materiellen jForderungen. Das ift fiir fie 
das M und O des Kampfes, dafiir wollen fie 
zuſammenhalten und darben, 

Der Standpuntt, der das Intereſſe der Familie, 
ded Kindes, des Haufed in den Bordergrund ftellt, 
follte jest, nachdem der Kampf mit ber Niederlage 


treten werden, bei der die Berantiwortlicleit fiir 
die geiftige und materielle Gefundbeit des gangen 
Boles liegt, und die über die Parteien binweg dieſe 
Verantwortlichkeit yu erfiillen hat. Der Reichstag 
follte die Ginfiibrung des Zehnſtundentages für 


Zur Fraucnbewegung. 


in Gleichftellung mit den ,Perfonen, die von Unzucht 
leben", wahlrechtslos bleiben follten, das lommunale 
Wahlreht erhalten. Bedingung des Wablrechts 
bleibt allerdings Steuerleiftung, aber fo, daß den 
Ehefrauen die Steuerzahlung ihres Mannes ju 
gute geredinet wird. Bei der Berhandfung er: 
tlirte ber Minifter des Inneren, daß er fic 
dieſen von 15 Liberalen beantragten Abanderungen 
deS Entwurfs anſchließen könne, er befürchte aber, 
daß dadurch der Sache im Landsthing Schwierig— 
keiten bereitet würden. 


*Aber die Zulaſſung von Frauen zu Staats- 
ämtern bat die norwegiſche Regierung dem Stor: 
thing einen Geſetzentwurf gugeben laſſen. Der 
Entiwurf, der auf Grundlage der Gutadten der 
eingelnen Minifterien ausgearbeitet worden ijt, 
erweitert gwar den weiblichen Wirkungskreis, be— 
zeichnet aber zugleich die Arbeitsgebicte, von denen 
die Frauen auch fürderhin ausgeſchloſſen bleiben 
follen, Offenes Feld erhält die norwegiſche Frauen: 
welt in der Rechtſprechung. Schon bisher amtieren 
auf Grund einer Verfaſſungsbeſtimmung Frauen 
als Beifiger, fortan foll ibnen aud) der Richter: 
beruf gedffnet werden. Ebenſo werden fie ſich im 
hoberen Lehrfache betatigen fonnen, mit Ausnabme 
in der theologiſchen Fafultit. Das Gutadcdten der 
Biſchöfe weift den Gedanten einer Zulaſſung von 
Frauen gu Kirchenämtern rundweg ab. Die Biſchöfe 
erflaren, die Befesung kirchlicher Stellungen mit 
weibliden Kräften widerftreite fowohl dem Worte 
Gottes, wie dem Augsburgiſchen Befenntniffe und 
der kirchlichen Aberlieferung. Außerdem find Frauen 


natürlich im Reffort des Kriegsminiſteriums aus— 


ber Urbeiter geendet bat, durch die Inſtanz vers geſchloſſen und aus internationalen Griinden von 


der RKonfulatslaufbahn. 


Sie find aud) nidt zu— 
gelaſſen zum Amt der Minifter, Stiftsamtmanner 
(den deutſchen Oberprifiventen entſprechend), ferner 


zum Polizeidienft, den Direftorenpoften im Land— 
| ftrafen-, Kanab, Hafens und Leuchtturmivejen, in 


alle Frauen: Fabrifarbeit in Ausſicht ftellen, damit — 


die ungebeuren Opfer und Einbußen, die der 
Kampf beiden Parteien auferleat bat, wenigitens 
einigermafen aufgewogen werden durd einen 
notivendigen und ſegensreichen ſozialpolitiſchen 
Fortſchritt. 


* Das kommnnale Frauenwahlrecht in Dane- 
marf, Das Follething hat, iiber die Vorſchläge des 
Regicrungsentiwurfs hinausgebend, bei der zweiten 
Lefung bes Geſetzentwurfs yur Reform des lommu— 
nalen Wahlrechts cinftimmig, bet Stimmentbhaltung 
der Konfervativen und ciniger Moderater und 
Liberaler, beſchloſſen, daß auch dienende Perfonen 
(Dienftboten, Knechte und Magde) und verbheiratete 
Frauen, die befanntlich nach dem Regierungsvorſchlag 


den Bergwerfen und in den Gefängniſſen und 
Irrenhäuſern, foweit diefe auger weiblichen auch 
minnlide Inſaſſen haben. Einen Unterfeied 
zwiſchen verbeirateten und unverbeirateten Frauen 
macht der Geſetzentwurf nicht. Die Regierung ift 
in Bezug auf verbeiratete Frauen der Anſicht, daß 
cine jede felbft gu beurteifen habe, ob fie ibre 
Pflichten als Gattin und Mutter mit der UÜber— 
nabme eines Staatsamtes in Cinflang bringen 
lönne. 


*Die Zulaſſung zur Advokatur, bie der 
Miß Cave ſeitens der Barristers of the Middle 
Temple kürzlich verweigert wurde, wird demnächſt 
nod) von anderen engliſchen Juriſtinnen gu erreichen 
verfucdt werden. Bekanntlich ift es in England 


Berfammlungen und Vereine. 


notwenbdig, daf der die Univerfitiit verlaſſende Juriſt 
qu feiner weiteren Ausbildung in einen juriftifden 
Verband aufgenommen wird. An diefe Aufnahme 
ift die Zulaſſung gum Eramen und damit auc zur 
Advolatur gebunden. Es tft mun nicht aus 
geſchloſſen, daß irgend ein anderes jurijtifdes 
Syndikat die Frauen pulaft. In nächſter eit 
will fic) Miß Panthurft mit dem gleiden Gefud 
an die Benders von Lincoln’s Jun wenden. Jn 
England swiederbolt ſich jest im der Jurisprudenz, 
was fic) vor cin paar Jahrzehnten im der Medizin 
zutrug, we auch fein Synbdifat bie Frauen gulaffen 
wollte. Wher fo wie damalé werden auch jest die 
Schranlen ſchließlich fallen müſſen. 


* Jn dic Prufnugslommiſſion der Univerſität 
Aberdeen wurde als erſtes weibliche3 Mitglied 
Miß Gane Forbes gewablt. 


* Ginen Precis von 60 O00 Fred. (den größeren 
Teil ded Ofirispreifes) verlich der Ausſchuß ded 
Synditats ber Parifer Preffe an Mme. Curie zur 
Fortichung ihrer Radium Forſchungen. 


* Stubdierte Frauen in Nuflaud. Dic Guts- 
beſitzerin Sapolsli von Sapolje (Gouv. Rjaſan) 
bat kürzlich in Mosfau bas Eramen als Pathe: 
matiferin glänzend beftanden. Bis jet hatte 





311 


fich in Rufland noc niemals eine Dame ciner 
matbhematifden Briifung unterzogen. Die Blatter 
treten lebhaft dafür ein, daß Frau Sapolsti, bie 
fie cine zweite Sonja Kowalewsky nennen, in 
Rupland eine UAnftellung erbalte. — In Odeffa 
ftarb vor einige Tagen Sophie Perejaßlawzewa, 
cine Naturforſcherin, die eine Reihe wertvoller 
Arbeiten verdffentlidt bat. Sie wurde als Todter 
eines Oberſten in Kursk geboren, befudte in den 
bOer Jahren das bortige Mädchengymnaſium und 
febte dann, mit botanifden, anatomifden und 
zoologiſchen Studien beſchäftigt, einige Beit in 
Charfow. Darauf ftudierte fie in Zürich Natur: 
wiffenfdaft und promovierte dort gum Dr phil. 
Rach Rußland guriidgefebrt, twurde fie mit ber 
Veitung der Zoologiſchen Station in Sebaftopol 
beauftragt. Dieſen Poſten bekleidete die Verftorbene 
zwölf Jahre, fiedelte dann nad Odeſſa itber und 
war ſpäter in Neapel mit zoologiſchen Forſchungen 
beſchäftigt, wohin jie von der Moskauer Ratur- 
forſchergeſellſchaft geſandt wurde. 


*Frauen als Geſchworene. Am Kindergerichts— 
bof von Chitago ſaßen kürzlich zum erſtenmal 
ſechs Frauen als Geſchworene gu Gericht. Es 
handelte ſich um bie Frage der UÜberführung eines 
Kindes in eine Beſſerungsanſtalt. 


—— ö 


Versammlungen und Vereine. 


Juternationaler Frauenkongreß 1904. 
Die Arbeit der Seltionen iſt vorläufig nach fol— 
gendem Programm feſigeſetzt: 
1, Seftion fiir Srauenbildung. 


Vorſitzende: Frl. Helene Lange; ftellvertretende 
Porfigende: Frl. Gertrud Baumer. 
Montag, ben 13. Juni: 

Die Bilbung der Frau fiir ibren Mutterberuf. 
Hausliche Erziehung. Kindergarten. 


Dienstag, den 14. Juni: 


Die Bildung der Madden durch die Vollsſchule. 


Gemeinſame Erziehung der Geſchlechter. Einheits— 
ſchule. 
Mitwoch, bern 15. Suni: 

Die Aufgaben der Mädchenfortbildungsſchule. Die 
Vollsbildungsbeſtrebungen fiir Frauen. 
Ponnerstag, den 16 Suni: 

Mädchenbildung (Höhere Mädchenſchule, 
Gymnaſium uſw). 
Freitag, den 17. Juni: 

Das Univerſitätsſtudium der Frauen. 

Sonnabend, den 18. Juni: 


Hohere 





Il. Settion für Srauenerwerb und -Bernfe. 
Vorſitzende: Fri. Alice Salomon, ſtellvertretende 
Vorſitzende: Frl. Elſe Luders. 
Montag, ben 13. Juni: 
Landwirtſchaft und häusliche Dienfte. 
Dienstag, den 14. Juni: 

Die Frau in Gewerbe und Induſtrie. 
Mittwod, den 15. Suni: 

Die Frau in Sandel und Verkehr. 
DonnerStag, den 16. Quni: 

Soziale Fraucnberufe. 

Freitag, ben 17. Suni: 
Wiſſenſchaftliche Frauenberufe. 
Sonnabend, den 18. Suni: 
Künſtleriſche Frauenberufe. 


III. Settion fiir foziale Cinrichtungen und 
Beſtrebungen. 


Vorſitzende: Frau Anna Edinger; ſtellvertretende 


Die Beteiligung der Frauen am Unterrichtsweſen: 
a) als Sebrerinnen,; b) an der Unterrichtsverwaltung. 


Norfigende;: Frau Katharina Sdeven, 
Montag, den 13. Juni: 
Armenpflege, Hranfens und Hefonvalescenten: 
Fürſorge. 

DPienstag, den 14. uni: 

Fürſorge fiir Kinder und Jugendliche. 


312 


Mittwod, ben 15. Juni: ; 
Beftrebungen zur Hebung ber Sittlichkeit. 
Donnerstag, den 16 Juni: 
Gefangenenfiirforge. Alkoholbelämpfung. 
Freitag, ben 17. Juni: 
Berufsorganijationen, Arbeits: und Stellen: 
vermittelung. 

Sonnabend, den 18. Juni: 
Verſchiedene Wohlfahrtsbeſtrebungen; Rechtsſchutz 
ſtellen für Frauen; Klubs; Heime uſw. 


IV. Settion fiir die rechtliche Stellung der Srau. 
Vorſihende: Freiin Olga von Beſchwitzz ſtell— 
vertretende Vorſitzende: Frl. Dr Gottheiner. 
Montag, den 13. Juni: 


ber he im allgemeinen; b) Eheliches Giiterredt. 
Dienstag, den 14. Suni: 

Die zivilrechtliche Stellung der Frau. a) Elterliche 
@ewalt; b) Stellung der unehelichen Mutter und 
ihres Rindes; c) Vormundſchaft. 
Mittwod, den 15. Juni: 

Die Frau im Wereingredt und in der ſozialen 
Gejegqebung. 

DonnerStag, den 16. Juni: 

Frauen in fommumalen Amtern. a) in der offent: 





Bücherſchau. 


des betreffenden Arbeitsgebietes geführt werden. 
Mitteilungen hierüber wie aud über die Tages— 
ordnung ber 5 in Wusficht genommenen grofen 
Bffentliden Propaganda-Berfammlungen fonnen erft 
ſpäter erfolgen. Ober die Rednerinnen gu den 
cingelnen Themen fann erft Genaued feſtgeſetzt 
werben, wenn auf ſämtliche nad dem Ausland er: 
gangene Cinladungen Antworten eingelaufen find. 





Der Zentralverband sur Belampfung 
bes Alfoholismus 


| veranftaltet in ber Wore nach Oftern 1904 (5. bis 
| 10. April) in Berlin „Wiſſenſchaftliche Kurfe yum 


| Studium des Alkoholismus.“ 
Die zivilrechtliche Stellung der Frau. a) Wirfungen | 





lidjen Armen: und Waiſenpflege; b) in den ſtädtiſchen 


Sdulbeputationen. 
Freitag, ben 17. Juni: 
Das tommunale und kirchliche Wahlrecht ber Frau. 
Sonnabend, ben 18. Suni: 
Das politiſche Wahlrecht. 
Der Vorſitz in den von 9-1 Uhr Vormittags 
ftattfindenden öffentlichen Sektionsſitzungen wird 


Hervorragende Ge: 
lebrte find bereits als Bortragende gewonnen 
worden. Es wird iiber folgende Themen gelefen 
werden: 


Geſchichte ded Kampfes gegen den AL: 
foboliginus, Altohol und Vollswirtſchaft. 
Alkohol und Verbrechen. Wirkungen ded 
Alkohols auf die Nachkommenſchaft. Al— 
loholismus und Proſtitution. Der Alto: 
holismus und die UArbeiterfrage. Sebule 
und häusliche Erziehung im Kampf gegen 
den Alfobolismus. Die Cinwirkungen des 
Alfobols auf Körper und Geiſt. 


Manner und Frauen aller Stande, welche in 


amtlicher Stellung oder freier Wohlfahrtspflege auf 


dem Gebiete ſozialer Reform arbeiten und fic über 
den Feind unſeres VollStums unterrichten wollen, 


+ Werden hierdurch zur Teilnabme aufgefordert. 


jedeSmal von ciner anderen deutſchen Bertreterin - 


Teilnebmerfarte 6 Mart. 


Meldungen an Senatsprafident Dr von Strauß 
und Torney, Berlin W., Bayreutberftr. 40. 


=r 


— Biicherschau. — 


Neue Cyrik. 

„Der bet appa Cin Bud Schlußreime 
von Otto € 
Verlag. Hartleben, der Herausgeber von Angelus 
Silefius, hat in den Rbythmen bed Myſtikers 
ciqene Lebensiveisheit ausgedriidt. Die fnappe, 
abjebliefende, einfach ausſagende Urt dieſer Bier: 
zeilen, bie ber zuverſichtlichen und  unbeirrten 
Innerlichkeit bes Angelus Silcfius fo twundervoll 
entſpricht, fügt fics aud der refignierten Welt: 
betradtung des Mobdernen, der ſich mit dem Leben 
endgiltig auseinander gefest bat, dem kühlen Ab— 
urteilen bes Ariſtoklraten über die misera plebs, 
bem pointierten Wig des Satyrikers, der in allerlei 
ſchmutzige Tiefen ſchaute. Hartlebens halkyoniſche 
Verſe find inhaltlich geiſtvoll und fein, und dabei 
ein interefjantes artiſtiſches Crperiment. 

Yon den Gedidjten von Heinrich Seidel 
hat bie Cottafdbe Verlagshandlung eine Gefamt: 
ausgabe veranftaltet. In fait überreicher Fülle 
werden alle die kleinen Gelegenbeitégaben einer 


— 


gedichte. 
rich Hartleben. Berlin, S. Fiſcher, 





ſonnigen Wohnſtubenatmoſphäre darin ausſchüttet, 
Lieder und Spruchhaftes, Balladen und Gelegenhbeits— 
Die harmloſe Friſche der Empfindung, 
die freundliche Teilnabme fiir das Kleinſte der ALL 
taggumgebung, diefe Riige Seidelſcher Novelliſtit 
geben auc der Lyrik ibren Ton. Und dazu fomimt 
cin feines Formgefühl, das nicht gerade in kühner 
Cigenwilligteit, aber ficher vor Rerirrungen feinen 
Weg gebt. Vollsliedmäßiges klingt zuweilen rein 
und voll an. Unb die feine Parodie gerat dem 
Didter yon Leberecht Hühnchen befonders gut. 

Unter dem Titel „Und aber windct fid) cin 
Krauz“ bat Chriftian Worgenftern, der 
Uberſetzer von Ibſens Gedichten in der grofen 
deutſchen Ibſen Ausgabe, cine Sammlung Lyrika 
bei S. Fiſcher (Berlin) erſcheinen laſſen, die in 
Klang und Rhythmus von feinem muſilaliſchen 
Gefühl zeugen. Ein großer Formenreichtum in 
rhythmiſcher und ſprachlicher Hinſicht gibt die Mittel 
zu einem fubtil abgetonten Malen von Stimmungen 
mehr als gu elementarem Ausklingen groper Leiden: 
ſchaft. 


Biidherfdau. 


Neben Hem wenigen Guten fteht cine größere 
Menge des Dilettantenbaften und Talentlofen oder 
wenigftens Unreifen und Anfdngerbaften. Am 
Verlag von J. P. Bachem in Kolin erfeienen 
Gedichte von M. Herbert unter dem Titel „Ein— 
ſamkeiten“. eben einzelnem Gelungenen und 
Echtem drangt fic) Konventionelles und Geſchmack— 
loſes, gang befonders in ben religidjen Gedichten. 
Hober fteht dic Sammlung von Hedwig Brans: 
feld: „Erwachen“, im gleichen Berlage erſchienen, 
die in mandem Gedicht cin ſchönes Formgefühl 
und eigenartige Empfindung und Stimmungéstraft 
geigt, und ,,Bon MAiltag und Sonntag’ von 
Maja Matthey (Rerlag von Georg Heinrich 
Mever, Leipzig und Berlin), dad fraftigere Farben 
tragt und kühneren Musdrud findet, aber auch von 
Unficherem und gelegentlichen Mipgriffen in Wort 
und Form nicht fret ift. 


„Deniſe de Montmidi“. Roman von Georg 
Freiberr von Ompteda. Egon Fleiſchel u. Co. 
Berlin 1903. (Preis 5 Mark.) Cin Roman aus 
der grofien Welt bebandelt — man fonnte fagen 
eine Sariation des Themas der doppelten Moral, 
wenn der Ausdrud fiir die gang objeftive Auf— 
faffung und Darftellung Oimptedas nicht viel yu 
tendengidd ware. Er erzählt die Gefchichte ciner 
gedanlenloſen und findifeben, aber innerlich reinen 
und der Treue und Aufopferung fabigen jungen 
Ftanzöſin, die von ihrer Familie aus dem Kloſter 
weg an cinen leichtſinnigen jungen Lebemann ver: 
tn Be wird. Auf der Hochzeitsreiſe verfpielt er 
cin Vermögen, und in der erzwungenen Zurück— 
gezogenheit ſeines kleinen Gutes, auf deſſen eigene 
Bewirtſchaftung er nun ſeine Exiſtenz gründen muß, 
verſinkt er in die Roheit, über die ibn die Eleganz 
von Paris nur äußerlich erboben hatte. Denife, 
bie erft ehrlich und ftandbaft den von ibm ver: 
ſchuldeten Weebfel ibres Lebens mit ibm getragen 
bat, fiebt fic) von ibm vernadlaffigt, ja um einer 
qroben und ordinären Bauerndirne willen betrogen. 
Sie felbft (aft die Empirung dariiber und dic 
innere Ode ihres Lebens der Verſuchung erliegen, 
bie cin junger Guténadbar ihr im Spiel einer 
aleichfalls erzwungenen Langeweile bereitet. Was 
ihrem Gatten niemand ſonderlich übel nimmt, ja 
viel Entſchuldbareres als das, wird ihr als ein 
Verbrechen angerechnet. Der Gatte, der Geliebte, 
ihre Familie verſtoßt fie. Qn Paris auf ſich ſelbſt 
angewiefen, wird fie die Gelicbte eines älteren 
Mannes, auc in ihrer zweifelhaften ſozialen 
Stellung feine Geſunkene und Verlommene. Rach 
ſeinem Tode ſucht ſie, ein Opfer einer auf Lüge, 
gleißender Heuchelei und kalten Egoismus geſtellten 
Geſellſchaftsklaſſe, im Kloſter ihre Zuflucht. Dieſe 
Entwickelung macht die feine Erzählkunſt ded Ver— 
faffers bid in die Einzelheiten binein fpannend und 
fiberzeugend. Mit ſicherem Talt ift die Geftalt der 
Denife und ihr Schicjal gegen die fie verurtcilende 
Geſellſchaft fontraftiert, chne daß die Berteifung 
pon Licht und Schatten tendenziös wirft. 


Mathilde’, Beichnungen aus dem Leben 
einer armen Frau. Homan. „Aus GHiitten am 
Hange“. Kleine Erzählungen von Carl Haupt: 
mann. Minden. Georg D. W. Callwey. (Preis 
& Mark bezw. 3 Mark.) Es find beides Bücher, 
die abſeits fiegen von der Richtung, in der unfer 
moderner Noman, aud der naturaliftifede, ſich 


813 


bewegt. Etwas cigenartig Ringendes, Unfertiges 
fennjcichnet fie. Cine Ausdrucksfähigkeit, die fic 
bier dem gewaltigſten Geſchehen, dem feinften 
ſeeliſchen Erleben gewachſen zeigt, dort naiv und 
ungeſchickt nach primitiven Mitten greift, dann 
wieder wortreich, faft ſchwülſtig um die Ber: 
forperung der geſchauten Situationen ringt; fo rein 
und unmittelbar geſchauter Situationen, wie fie 
wenigen unferer Romane gu Grunde fliegen. Denn 
das ift das Schönſte in dieſen beiden Biidern: 
bie Ehrlichkeit des künſtleriſchen Sinnes, in dem 
dieſe Menſchenſchickſale fic) ſpiegeln. Es ift nicht 
bas bewußte Wirklichleitspathos, die oſtentative 
Wabrbheitsliebe des Naturalismus, fondern etwas 
unendlich viel Dbjeftiveres und Cinfacheres. Man 
fühlt fic verfucht, die Zeichnungen aus dem Leben 
einer armen Frau neben Clara Viebigs „Das 
tigliche Brot’ ju ftellen. Beide Romane begleiten 
den Weg ciner Frau, die in fdlichter und ein: 
fältiger Weiſe das Leben, das die ſcheinbar hilflos 
Preisgegebene in feine Wirbel reißt, tiberwindet. 
Wenn Clara Viebigs Darjtellung durch die techniſche 
Virtuofitdt jeneds kunſtmäßigen Naturalismus ibr 
Gepräge erhalt, ¢3 dabei aber vielleicht doc den 
Geftalten an individueller Innerlichkeit gebricht, ift 
bier der zunächſt fic) aufdrängende Eindruck cine 
merfwiirdige techniſche Harte und Herbigfeit, die 
fic) z. B. ſchon in den eigentiimlic) ſchwerfälligen 
Kapiteliiberfebriften dufert. Wher aus diefem ju: 
weilen ungelcidt drapierten Gewande ſchaut uns 
das Leben mit tiefen Mugen ſeltſam feſſelnd und 
bannend an, und die Wabrbeit berührt uns in 
diefer primitiven Ausdrudsform um fo zwingender. 
„Aus Hiitten am Hange“ ift eine Sammlung von 
Geſchichten aus bem Ricfengebirge, die, technifd 
uweilen abgerundeter als der Roman, durch die: 
elbe cindringliche Treue der Charafteriftif, eine 
wundervolle epiſche Plaſtik und zugleich cine eigen: 
artige StimmungStraft wirfen. 


Die „Hausbücherei“ der Deutſchen Didhter- 
Gedidjtuis: Stiftung ijt jocben mit drei Banden 
erdffnet worden. Bon allen Unternebmungen, die 
bem ,,billigen Buch” galten, der Aufgabe, die Meifter: 
werfe unferer Yiteratur jedem eingelnen in unferem 
Volk gu eigenem Beſitz darjubieten, hat die Deutſche 
Dichter: Medachinis-Stiftung ibre Wufgabe in der 
viclleitiaften und umſichtigſten Weife in Angriff 
genommen, Die erften drei Bande bieten dafiir 
cinen Beweis. Sie jeigen grofen, flaren, ſchönen 
Dru, der von der erften augenhygieniſchen Autorität 
Deutſchlands alS dburdaus zureichend anerfannt 
worden ift. Die Bilcher find auf gänzlich bolsfreiem, 
ſchönem Moderndrud-Biittenpapier bergeftellt, in 
einem Format — nicht su flein und nicht zu groß 
— das in einer gewöhnlichen Serrentajde Platz hat. 
Auch find ſämtliche Eremplare der 3 Bande, von 
denen übrigens jeder auch einzeln käuflich ift, feft 
und folide (init aufgedructemt Border: und Rücken— 
titel) in fogenanntes ,,Dermatoid” gebunden, cinen 
feinenartigen Stoff von ſchöner Farbe (Band 1 ijt 
rot qebunden, Band 2 grin, Band 3 gelbbraun), 
der bei all feinem ſchmucken Ausſehen dod die 
äußerſt angenehme Eigenſchaft bat, daß er laum 
Schmutz annimmt, wenn er aber doch durch ſehr 
ſtarlen Gebrauch der Bücher ſchmuhig geworden tit, 
ſich — mit Waſſer (meiſt ſchon ohne Seife) reinigen 
läßt. Das Dermatoid, deutſche Erfindung und 
deutſches Fabrifat, bat ſich in Bibliotheken und 


⸗ 


314 


fiir Einbände von Privatbüchern ſchon vielſeitig auf 
das Beſte bewährt. 

Den 1. Band der „Hausbücherei“ bildet Kleiſts 
„Michael Kohlhaas“. Das Buch ift von Dr 
Ernſt Schultze mit einer fnappen Cinleitung — ver: 
feben, die in einfacer und populärer Form den 
Dichter charatterifiert. Der Muünchener Maler Ernft 
Liebermann hat das Bud, das auferdem nod mit 
einem ſchönen Kleiſtbildnis geſchmüctt ift, mit 7 
prächtigen Bollbildern illuftriert. Trogodem betriigt 
der Preis fiir das gebundene Buch nur 90 Bjg. 
Den 2. Band bildet Goethes „Götz von Ber: 
lichingen“, mit dem ſchönen Goethebildnis von 
Lips (1791) und mit einer Cinleitung ded befannten 
Goetheforſchers Dr Wilhelm Bode. Das Buch 
foftet gebunden nur 80 Pfennige und ijt gewiß 
vielen willfonunen, die eine ſchöne und bandlice 
Sonderausgabe des ,, Gig" zu beſitzen wünſchen. 
Mud der 3. 
finden. Gr betitelt ſich „Deutſche Humoriſten“ und 
enthält 4 ausgewablte humoriſtiſche Erzählungen 
von Peter Roſegger, Wilhelm Raabe, Fritz Reuter. 
Ein unbegreiflicher Mißgriff iſt allerdings die 
5. Erzählung des Bandes, cine ganz platte Humoreste 
von Albert Roderic), die ſich an diefer Stelle felt: 
fam augnimmt. Bei ciner Stirfe yon 221 Seiten 
ift das Buch fiir den auferordentlich geringen Preis 
von 1 Mart käuflich. Findet es beim PBublifum 
die erwartete Aufnahme, fo follen weitere Bande 
ähnlichen Inhalts folgen. — Die 3 bisher erfebienenen 
Bande der „Hausbücherei“ eignen ſich ſowohl zu— 
ſammen als auch einzeln ganz beſonders zu Ge— 
ſchenken für Groß und Klein. Sie find ein fo 
giinftigeS Zeugnis fiir dad Unternehmen, dad fie 
geſchaffen, daß man ibnen nur von Herzen auch 


Band endlich diirfte viel Antlang’ 





diufern Erfolg, das heißt weitefte Berbreitung | 


wünſchen möchte. 


„Rahel, eit Bud des Andenfens fiir ihre 
Freuunde“. Bearbeitet und eingeleitet von 
Dr Hans Landsberg, Renaiſſance Bibliothek, 
2, Bo. Berlin, Verlag von Leonhard Simion Rj., 
1904. (Preis broſch. 3 Mark.) Der Band bictet 
cine mit Taft und Verſtändnis getroffene Auswahl 
aus ben drei Banden, in denen Varnhagen Rabels 
briefliche Beziehungen gu den Menſchen ibrer Beit 
zuſammenfaßte. Es ift durch die Reichbaltigteit 
des Dargebotenen wohl wert, an die Stelle der 
alten Musgabe gu treten, wenigſtens fiir den Laien, 
der fich in dieſes merlwürdig bewußt gelebte und darum 
jo unbarmonifd-intereffante Leben werticfen will. 


pLiebesbriefe eines engliſchen Mädchens“. 
Autorifierte Nbertragung. Erſchienen im Inſel— 
Verlag Leipzig, 1904. Das Motiv dieſes Brief: 
romans iff bad denkbar cinfachjte: Die Liebe eines 
Mädchens zu cinem Mann, der ihr durd) feine 
Mutier abjichtlic) entfrembdet wird. Und aud der 
Vollzug diejer geringen äußeren Handlung wird 
gar nicht dargeftellt, alles erſcheint nur als 
inneres Erlebnis. Aber nun erbliibt in dieſem 
ganz kleinen auperen Rahmen das ſeeliſche Leben 
in einer Fülle, einer Tiefe und Zartheit, die dieſe 
Briefe den ſchönſten Dolumenten weiblicher Crotit 
an die Seite ſtellt. Die Wberfesung wird den 
feinen Ritancen des Originals qerecht, wenn fie 
aud bier und da die friſche Naivetät des Ausdrucks 
nicht erreicht — vielleicht mit unſren Sprachmitteln 
iiberbaupt nicht erreichen fann, 


Bücherſchau. 


„Erinneruugen von Ludolf Urslen deat 
Jüugeren“. Roman von Ricarda Hud. Sechſte 
Auflage. J. G. Cottaſche Buchhandlung Rady. 
G. m. b. H. (Preis 4 Mark.) Dak von dieſem Buch, 
einem der beften Romane unferer Gegenwarts- 
literatur, einem fo guriidbaltenden, feinen und jtiflen 
Buch cine fechfte Auflage erſcheinen fann, ift cin 
quteS Zeichen fiir die literariſche Durchſchnitts— 
bildung. Som nod einmal cin Geleitwort gu geben, 
deffen bedarf es faum, es fei denn ber Wunſch, 
daß noc recht viele in feine golbene Tiefe binein: 
ſchauen lernen möchten. 


„Mißbrauchte Fraueutraft“ von Ellen Kev. 
2. Muflage 1904. S. Fiſcher. Verlag. (Preis 1 M., 
gebunden 2 Marl.) Die zweite Auflage der viel 
bejprocenen und viel ——— Broſchüre, mit 
der Ellen Key auch in Deutſchland zuerſt bekannt 
wurde, hat gegen die erſte keine Veränderungen 
erfahren. Auch wer ihrer Grundauffaſſung von 
den Aufgaben der Frauenbewegung, von dem Weſen 
der Frauenfrage nicht zuſtimmt, wird der Feinheit 
ſich freuen, mit der ſie ausſpricht, was in Kämpfen 
und Fragen um die „neuen Bahnen“ auch geſagt 
und durchdacht werden muß. 


Sämtliche Werke von Marie Eugenie delle 
Grazie. Zweiter Band. „Robespierre“, ein 
modernes Epos, 2. Teil. Berlag von Breitkopf 
und Hartel. Leipzig 1903. Nachdem der erſte Band 
der Ausgabe, der den erften Teil des Hobespierre 
entbiclt, bereits mit dem dritten, cinem RNovellen: 
band, zugleich erſchienen ift, liegt nun mit dem 
aweiten Band bas Epos abgefdlojjen vor. Wir 
weifen bier auf das Erfdeinen mur bin und werden 
jpater noc einmal auf die Dichterperfonlichfeit 
der Marie Eugenie delle Grazie im gangen eingeben. 


Die Befiegten’ von Ludwig Bauer. 
J. ©. C. Bruns Verlag, Minden 1903, „Kleine 
Tragddien der Zeit’, nennt der BVerfafjer feine 
Dialoge, die in ſcharfer Pragifierung Fragen der 
Gegenwart auf den Gebieten der Runjt und der 
Wiffenfehaft, des politijden und fogialen Lebens 
qu einem kleinen Kunſtwerk formulieren. Fort— 
ſchritt und Reaftion, Streben und ſchläfrige Gleich— 
giltigleit ſtehen ſich im Kampf der Meinungen 
gegenüber: Der Offizier, der das Duellweſen ober: 
flächlich verteidigt; der Prieſter, der ein Sklave 
des Dogmas und der Beſchränktheit geworden; der 
Yebrer, der die techniſche Aufgabe durch feine 
Praxis löſt, wie er aus Menſchen Maſchinen macht. 
Der Künſtler wie der Anwalt, die Gelichte wie 
die Dirne, der Arzt wie der Wriftofrat, fie alle, 
alle find die Befiegten, die das Leben jerbrad und 
in Trimmer ſchlug. Die UArbeiten Bauers find 
außerordentlich fcharf beobadjtet und mit diefer 
Schärſe auc) fonjipiert. Wan könnte bet ihnen 
von Kulturdofumenten der Moderne ſprechen, denn 
fie zeigen dic Unterftrdmungen auf, dDurd die das 
Getriebe der Geſellſchaft und biefer Weltkreiſe be- 
ſtimmt wird. Dr Regener. 


„Welt und Ich“, Dicdtungen von W. C. 
Gomoll. Berlag Gofe u. Teglaff. Berlin 1903. 
Yeife, durch die Unrube ded Lebens veridleierte 
Probleme der Welt und ihres Wirfens finden ibre 
Spiegelung und Wertung in den Reflerionen des 


Bücherſchau. 


Ich. Fragen, die aus Träumen ſich zur Wirklich— 
feit ringen und nod in ber Behandlung das Ge: 
ftaltlofe nicht abgeftreift haben. Die Mare Plaftit 
und rubige Reife feblt, die uns zeigt, daß der 
Künſtler a Slave des Stoffes, als fein Herrſcher 
in der Ausfiihrung ijt. Fein in der Wirhing find 
die Liebesgedichte, die jugendfriſch und voll ſtolzer 
Hingebung find; fein aud) die landfcbaftlichen 
Stimmungen, die mit weiden Tönen angegeben 
und bie und da verſchwommen find. Immerhin 
offenbart Gomoll cine Begabung, die in dauernder 
Selbſtzucht Trefilides erreiden wird. Der kühne 
Titel „Welt und Ich“ wird ſpäter auch cine tiefere 
Berechtigung finden, als er fie bet dem Crftlings- 
wert bes Berfajjers verdient. An die Aus— 
aeftaltung feineds Talented diirfen wir mit Sicerbeit 
glauben. Dr R. 


„Aus dem Sudjthanje’. Bon Hans Leu. 
Preis 2,50 Mark. Verlag von Aobannes Rade, 
Berlin W. 15. Die ,Multurprobleme der Gegen: 
wart” (herausgegeben von Leo Berg) bicten und 
in ihrem ficbenten Bande eine jener fozialen 
Studien, die uns in eine fremde Sphäre mit den 
Augen ved Erlebenden hineinſchauen laſſen. Der 
BVerfaffer bat befanntlich eines Meineids wegen, 
den er um einer Dame willen leiſten gu müſſen 
glaubte, mebrere Jahre Zuchthaus erhalten. Er 
ſchildert die Welt, die hinter ben Maucrn unferer 
Strafanftalten liegt, wie fie im dieſer Weife nocd 
nicht gefchildert worden iſt. Denn aud) der er: 
fabrenfte Fachmann, aud) der weitherzigſte Menſchen— 
freund fann die inneren Erlebniffe eines ,3ucbt- 
biuslers” nur abnen, niemals nacempfinden. Wenn 
bie jungere Kriminaliſtenſchule ben Grundfag ver- 
tritt, daß das Verbrechen eine Folge der fogialen 
Sujtinde ijt, wenn fie unferem Straffyftem die 
bejjernbe Kraft abfpridt und es von Grund aus 
fiir verfeblt halt, fo tft dies Buch im höchſten 
Grade geeignet, ihren Theorien cin überzeugendes 
Tatfacdenmaterial sur Stütze gu geben. Man möchte 
vielleicht wünſchen, der Berfajjer hatte der plaſtiſchen 
Rraft feiner cigenen Darjtellung mehr vertraut; 
die langen Reflerionen wirfen ftdrend. Jeder 
Tenfende muh fie felbft madden; ja, man wird 
fagen diirfen, daß dic Renntnisnabme von den 
Mraiueln der im Zuchthaus nod julaffigen Priigel: 
ftrafe, daß dic fic) auforangende Uberzeugung von 
der Nuglofigfeit und alle Energie lähmenden 
Wirfung unferer Strafmethoden griindlich geeignet 
ijt, feine Gemiitsrube zu ſtören. Und dafür fonnen 
wir dem Berfaffer dantbar fein. 


„Haundbuch fiir Lehrer und Lehrerinnen’’. 
Verlag von Theodor Hofmann in Leipzig 1903. 
Das von einer Reihe von Fachkräften herausgegebene 
Handbuch wird von Prof. ge tire Biegler mit 
einer fnappen und klaren Uberfidjt über die 
Geſchichte der Vollsſchule, ihre gegenwärtigen 
Entwicklungstendenzen und die Aufgaben des Lehrers 
ihnen gegenüber eröffnet. Es bietet fir alle das 
Beruſsleben betreffenden Angelegenheiten, ſowohl 
hinſichtlich der geſamten Unterrichtstätigkeit als 
aud) des außeren Dienftverhaltnifjes, der Fort: 
bilbung, Organijation ufw ſachlich ſorgfältige und 
febr vielfeitige Nachweiſe. Auch die beſondern 
Ungelegenheiten der Lehrerinnen find, wenn auch 
etwas fummarijder, berückſichtigt. Wenn man bin: 
fichtlicd der Anlage nocd einen Wunſch aufern 





315 


follte, fo ware es der, daß wenigſtens in kurzen, 
hauptſächlich bibliographiſchen Wngaben bei den 
einzelnen Abſchnitten auc dic außerpreußiſchen 
Staaten berückſichtigt würden. 


„Die große Stimme“. Novellen von Ida 
Boy-Ed. Stuttgart und Berlin, J. G. Cottaſche 
Buchhandlung Nachf. Gm. b. H. Bn ihrer ge: 
wandten Weiſe erzählt die Verfaſſerin von dieſem 
und jenem aus Menſchenherz und Menſchenleben. 
Den Vorzug dürfte man neben der ergreifenden 
Titelnovelle den lleinen Stizzen aus der nordiſchen 
Heimat geben: „Der Dorſdiplomat“ und „Ein 
Handel”. 


„Anweiſung zur felbjtindigen Bermigens- 
verwaltung fiir die alleinjtehende Frau.’ Bon 
Anna Mittelftaedt. Berlag von Carl Maver, 
Hannover und Berlin. Qn klarer und populdrer 
Form gibt die Verfaſſerin über die mit cigner 
Vermigensverwaltung zuſammenhängenden Fragen 
Austunft. Die Ausfiibrungen, die gut orientiert 
und dem Verſtändnis des Laien geſchickt angepaßt 
find, möchten vielen Frauen gute Dienjte leiſten 
fénnen, ſodaß ibnen eine möglichſt weite Berbreitung 
zu wünſchen iit. 


„Die kleine Fee’. Cine Geſchichte für Kinder 
von Sophie Hollier. Deutſch von M. Stöber. 
Ravensburg, Verlag von Otto Maier. Die freund- 
liche Heine Erzählung wird fider die Spannung 
und Teilnahbme der Kinder wachhalten und ift in 
ibrer Harmlojen Frifee warm gu empfeblen. 


„Kürſchuers Jahrbud 1904", Kalender, Mert: 
und Nachſchlagebuch fiir Jedermann. Berlin, Leipsig, 
Eiſenach. Hermann Hilger. Verlag. (Preis 1,50 Mart.) 
Das Kiiridner-Qabrbuch ijt durch feine ftoffliche 
Reichhaltigkeit, feine praktiſche Anordnung und den 
billigen Preis bereits fo gut eingeführt, daf auf 
bas Erſcheinen des neuen Jahrgangs nur bin 
gewieſen ju werden braudht. 


„Fraueukalender fiir 1904, Herausgegeben 
vom Deut/dh-evangelifden Frauenbunde. Verlag von 
Edwin Runge in Gr. Lichterfelde- Berlin. (Preis 
1 Mart.) Der Kalender enthalt außer dem üblichen 
RKalendermaterial cinen Nachweis von Frauenberufen, 
Mitteilungen über die Vereinstatigteit des Bundes, 
cin Verzeichnis feiner Mitglieder und Ortsgruppen 
und einen Aufſatz „Unſere Pringivien in der Frauen: 
frage”, ber allerdings der „bürgerlichen Frauen: 
bewegung” von einem cinfeitigen fonfeffionellen 
Geſichtspunlte aus wenig gerecht wird. 


„Die Tiere der Erde’, Von Dr BW. Marihall, 
Prof. fix Zoologie und vergleichende Anatomic 
an der Univerfitdt Leipzig. Stuttgart u. Leipsig, 
Deutſche BVerlagsanjtalt. Bon diefer volfstiimlicen 
Uberficht über die Naturgeſchichte der Tiere ijt 
jest dic 20. Lieferung erſchienen. Die Abbildungen 
des Prachtwerks — über taufend an der Zahl — 
jind ſämtlich nach dem Leben bhergeftellt. Bei der 
glänzenden Ausſtattung des Werks, das in 
5O Lieferungen vollftindig fein wird, ijt der Preis 
von 60 Pfennig pro Licferung nicht au hod. Das 
Werf diirfte ſich febr gum Geſchenkwert fiir die 
reifere Jugend cignen. 


316 Bücherſchau 


Vorleſebuch von Berthold Otto. Was das Kind 
der Mutter vorlieſt. Mütterfibel von Berthold 
Otte, cine Anleitung fiir Miitter, ibre Minder 
felbjt lefen yu (ebren. Berlag K. G. Th. Scheffer. 
Leipzig 1903. Bet der Anerfennung, die uns Berthold 
Oito längſt durch feine Schriften abgewonnen hat, 
nebmen wir jedes neu erſcheinende Werk dieſes Ver: 
faffers mit gefpannter Erwartung in die Hand. 
Much die beiden vorliegenden Biicher beweifen 
wiedcrum, daß twit es mit einem gan; bervor: 
ragenden Pabdbagogen ju tun haben. In beiden 
Schriften wendet er fich an die Mutter mit dem 
Vejtreben, diefelbe anjuleiten gu cinem zielbewußten 
MAusnugen der in ihr (ebenden erziehlichen Krafte. 
Sede auch nur einigermaßen intelligente Mutter 
witd mit Danfbarfeit den Anregungen folgen, die 
der Verfaffer yur Ermöglichung des „Gerneleſens“ 
bei jungen Kindern in feinem Vorleſebuch gibt. 
Mud wird der Mutter gezeigt, wie fie durch Be: 
nutzung der kindlichen Ausdrucksweiſe ein Ber: 
ſtändnis erreichen fann fiir befondere Borgange im 
Leben, in der Natur rx., bei deren Erläuterung fie 
bisher oft genug mutlos abbrechen mußte. Die 
Urt, wie der Berfaffer im Rabmen des nur 
32 Kapitel zablenden Vorleſebuches das Intereſſe 


des Kindes vom Puppenſpiel bis yum Nature | 


ereignis des feueripeienden Berges und bis 


sur Vedeutung der griechiſchen Sprache gu 
fteigern verjtebt, ift ein Rabinettdftiidden der 
Pridagogit. 


An der Miitterfibel frellt der Berfaffer in klarer 
fiir jede Mutter verftindlicher Weiſe die „begriff— 
liche Methode” des Lefenlebrens, wie er fie erdacbt 
und erprobt, bar. ES mag anfangs mance Mutter 


wunderlich anmuten, dic alten, vertrauten: a, ¢, i, | 


o, u und Genoſſen im Alphabet als: Offner, 
Driider, Quetſcher, Runder, Spier u. ſ. w. wieder: 
zufinden. Auch erſcheint die Möglichkeit fabelhaft, 
34 jährigen Kindern dieſe Beariffe plaufibel ju 
machen und darauf das ganze Gebäude des Leſen— 
lernens aufzurichten. Nach ſorgfältigem Durch— 
ſtudieren kann man jedoch die Methode nur warm 
empfehlen und dem Buche eine weite Verbreitung 
wünſchen. Schon im Intereſſe der eigenen miitter: 
lichen Fortbildung, denn mur wenige Mütter ditrften 
liber den Wert der Lautphyfiologie orientiert fein, 
und dod) ware, meines Erachtens, deren Kenntnis 





— Angeigen. 


| und Beherrſchung nicht nur ein widtiger Faltor 
beim Leſenlehren, fondern aud) bei anzuſtellenden 
Sprechitbungen mit undeutlich fprechenden Kindern. 
Es wird durch diefe Miitterfibel fomit der miitter- 
liche Geſichtskreis beträchtlich erweitert und fiderlich 
durch die iiberaus anſchauliche Urt der Unterweiſung 
mance Mutter gu dem Verſuche angeregt, das fo- 
eben felbft Gelernte lebrend gu verwerten. 


, Meyers Grofes Konverſations-Lexikon.“ 
Gin Nachſchlagewerl des allgemeinen Wiffens. 
Sechfte, ganzlich neubcarbeitete und vermebrte Auf- 
fage. Mehr als 148000 Artifel und Verweijungen 
auf über 18240 Seiten Tert mit mehr als 
11 000 Abbildungen, Karten und Plinen im Tert 
und auf iiber 1400 Illuſtrationstafeln (darunter 
etwa 190 Farbendrudtajeln und 300 felbftindige 
Rartenbeilagen) fowie 130 Tertbeifagen. 20 Bande 
in Halbleder gebunden gu je 10 Mark. Verlag 
des Bibliograpbhifden Inſtituts in Leipzig und 
Wien. Der foeben erjchienene V. Band von 
Mevers Großem Konverfations-Lerifon ijt trefflich 
geeignet, über alle Aragen, die fid in den 
alpbabetijden Grengen dieſes Bandes bewegen, 
fiber und flar Auskunft gu geben. Bor allem 
find es infolge der alpbabctifcben Anordnung die 
Materien der „Eleltrizität“ mit all ibren Unter: 
abteilen und ded „Eiſens“, deſſen Gewinnung, 
Produftion und Verwendung, fowie des „Eiſen— 
bahnweſens“, die in dicfem Band größern Naum 
cinnebmen und auch, wie die Natur der Sache es 
verlangt, cine reicbere Illuſtrierung erfordern, die 
Fadmann und Laien gleiches Intereſſe bietet. 
Aber auch die wirtſchaftlichen Teile des Cifenbabn: 
wefens find gang bervorragend dargeftellt und ver: 
dienen Geachtung, fowie die allgemein wirt— 
ſchaftlichen und rechtswiſſenſchaftlichen Artifel von 
allgemeinem Snterefje, ,,Cinfommen", wie „Ehe“, 
„Erbrecht“, „Eigentum“, „Enteignung“ uj, Bon 
den zahlreichen, ſpeziell naturwiſſenſchaftlichen 
Artikeln abgeſehen, fet vor allen hier auf die ge: 
ſchickte Darjtellung und prachtige Illuſtrierung der 
Artifel „Entwicklungsgeſchichte“ und „Embryo“ 
hingewieſen. Für jedes Wiſſensgebiet bringt das 


Buch cine klare, überſichtliche und gewandte Dar: 
ſtellung und bleibt auf keine Frage eine Antwort 
ſchuldig. 





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317 


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durch dic vielen beigegebenen 
Bilder und Mufter wirffam unter: 
ſtützt, fo daß das Werkchen als febr 
praktiſch empfoblen werden fann. 

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Methodif der Geographic’ von 
H. Prüll. Preis 8O Pf. Leipsig. 
Verlag von CErnft Wunderlid. 
Das Buch bietet cine Fiille von 
Anrequng und gibt fiir die Cin: 
fiibrung in dad Rartenlefen, die 
Begriindung der geographiſchen 
Tatſachen und Erſcheinungen u. 
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bas Hers eines Schweines werden 
jauber getwaiden, mit einem 
Yorbeerblatt, 1—2 Swiebeln, 
etwas Salz und einigen Pfeffer 
tornern in Wajjer 20—25 Minuten 
facht gelkocht. 
Leber und Herz famt einer Scheibe 
jetten Spee gröblich. Unterdefjen 
diinitet man 2 Loffel Mebl in 
etwas Butter bräunlich, verkocht 
dies mit einem Teil der Brühe, 
in der Leber und Herz gar gelocht 


wurden, fügt das gebadte Fleiſch 


dazu, läßt es gehörig durchlochen, 
gibt etwas Zitronenſaft und — 
wenn man es bat — '/, Glas 
Weißwein dazu, ſchmeckt nad 
Sal; ab und vollendet das Gericht 
mit 10—12 Tropfen Maggi's 
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in Handels ſachern 24 Stunden woöchentlich. 
Nad einem Jabr definitive Mnjtethung. 
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ſteigt bis 2700 Mart. 

2, Fur eine Ruratorium{tule im 
Regierungsbesic’ Bromberg werden yum 
1, 4, 04 cine Oberlebrerin oder Schul⸗ 
vorfteberin und cine wiffenfmaitiid ge⸗ 
priijte Xebrerin geſucht. Go Kinder 


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Stande (16—S5 Sabre) gu Erzieherinnen in der _paimilte und eiterinnen von Rinders 
garten, Horten und anderen Arbeitdfelbern ber Diakonie. Räheres durch die Leiterin 
Hanna Mecke ober ben Vorſihenden des Quratoriume: Generalfup. Pleitfer in Kassel. 


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Tohterfdule. Aufnabmeprilfung. 


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Autbefoldete —— Etellungen, 


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ſowie wirtſchaftl. u. ſoziale Selbſtändigkeit. 
Eehraang 2 jahri a) Samtliche theoret. und pratt. kaufm. Fader einſchl. 

Wirtidafts- u- triebélebre, Gelb, Rredits, Bankwejen, Handelégeograpbie rc. 


b) Sprachen. c) Aligemein bildende Fader: Aufſah, deutſche, framzoſiſche, engl. 
Stenographie 2. 


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far die 1. Rlaffe ciner hoheren Tichter- 
{cule vorbercitet werden. -Gebalt filr 
ble Vorſteberin 1600 Mart, Gebhalt fir 
bie Lebrerin 1000—1200 Wark. 


BS. Fur cine höhere Vrivatſchule in 
einer grofen Ctadt Norddeutſchlands 
wird gum 1. 4 OF cine evangelifde 
Oberlebrerin gefudt mit Beredtiqung fur 
Deut ch, Erdtunde oder Geſchichte refpeltive 
cine jreinde Sprache. Unterricht tft auf 
die Oberftufe und tm Seminar gu erteilen. 
24 Stunden wöchentlich. Anfangsgehalt 
2000 Mark, Penſtonsberechtigung 

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ſchule in ciner groößeren Stadt in Geffen 
wird zum 1 4. 04 cine wiſſenſchaftlich 
geprufte Lehrerin geſucht file Engliſch 
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alle anderen Faächer. 22—24 Stunden 
wochentlich. Gehalt 1400—1500 Mart. 


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6. File cin Inſtitut in Belgien wird 
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taglid) 1 Stunde Deutſche Ronverfation 
mit den Sculerinnen pflegt und 600 Mark 
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Verantwortlich fiir die Medattion: Helene Lange, Verlin. — Verlag: W. Moefer Vuchhandlung, Berlin 8. — Drud: W. Mocler Buddruderei, Seriins 


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& & 11. Jahrg. Heft 6 M BaPie ‘Marz 1904 od 









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Susan B. Anthony, 
die Seniorin der Prauenstimmpechtsbewegung. 


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\#» am a full and firm believer in the revelation that it is through woman 
—-, that the race is to be redeemed. And it is because of this faith that 
I ask for her immediate and unconditional emancipation from all political, 
industrial, social and religious subjection.“ 

Dieſe Worte bat Sujan B. Anthony viel tauſendmal geſprochen. In ihnen ijt 
ihr Lebenswerk gekennzeichnet und der Grund, aus dem es erwuchs. 

Seit fünfzig Jahren ſteht die nun Vierundachtzigjährige an der Spitze der 
amerikaniſchen Frauenbewegung. Ihre langjährige Freundin und Mitarbeiterin, mit 
der ihr Name während dieſer Zeit ſtets verbunden erſcheint, die glänzend begabte und 
tatkräftige Eliſabeth Cady Stanton, von der der erſte Anſtoß zur Organiſation der 
amerikaniſchen Frauen ausging, iſt 87 jährig im Oktober 1902 geſtorben. Suſan 
Anthonvs Blick aber rubt noc) immer klar und ſcharf auf dem Werk, dem ihr Leben 
qewidmet war, aud von dem ftilleren Heim in Rochefter (MN. Y.) aus, in dem ibre 
Schweſter Mary fiir häusliches Behagen forgt und ibre Freundin und Biographin, 
Ida Hujted Harper, ibre Arbeit teilt. 

Sufjan B. Anthony hat ibre Arbeit in der Frauenbewegung von jeher aus- 
jcblichlich auf die Crlangung des politiſchen Wablrechts fonjentriert. Wn dieſes feſteſte 
Bollwerk von allen legte fie von Anfang an mutiq die Sturmleitern an, und mit 
ciner durch feine Niederlage zu brechenden Ausdauer leitet fie nod) beute die Belagerung 
mit gewaltiq verſtärkten Angriffsſcharen. Schon wankt eS juweilen in feinen Grund: 
feſten. Cie wei, daß es eines Tages fallen muß, auc wenn ibre Augen den Sieg 
nicht mebr feben werden. 





21 


322 Sufan B. Anthonv, die Seniorin der Frauenftimmredtsbetwegung. 


Sufjan B. Anthony hat ftets die angreifbarite Pofition gewählt, ſtets in der 
vorderſten Reibe geftanden. Cine Kampferin für Wahrheit und Gerechtigkeit, für die 
es keine Menſchenfurcht gibt, die auch nie durch Liebenswiirdigteit gewinnen wollte, 
nie fiir Kompromiſſe ju baben war, bat fie wie keine andere im Kreuzfeuer der Ber- 
folqung geltanden, die den Vertretern dieſer unpopulärſten aller Forderungen der 
Frauen auch im Lande der Freiheit nicht erſpart geblieben iſt. Wenn heute deſſen— 
ungeachtet ihr Name von allen Seiten nur mit Achtung und Bewunderung genannt 
—* jo (apt das in der Tat auf eine wabrbhaft große und lautere Perfinlichfeit 
chliefen. 

Ihre Freunde haben es ſich angelegen ſein laſſen, noch zu Lebzeiten der „grand 
old woman einen umfaſſenden Bericht ibres Lebens und Wirkens sulfammensuitellen, 1) 
mit Benugung der großen Maſſe von Material, die fie felbft fiir diefen Zweck früh— 
zeitig gejammelt hatte. Durch die chronologiſche Ancinanderreihung der Tatſachen 
werden zwar die kraufen Haden des zufälligen Geſchicks nur gum geringiten Teil ent- 
wirrt; Dafiir ijt durch) reichliche Mitteilung von Briefen und Dofumenten aller Art ein 
mialichft vollſtändiger Einblick in die Geſchehniſſe ſelbſt geftattet. 


Betrachten wir eines der der Biographie beigegebenen Bilder aus den letzten 
Lebensjahren: eine ſtattliche Geſtalt, ſcharfe Züge, Augen, die ſcharf und prüfend 
geradeaus ſehen, um die ſchmalen Lippen ein Zug von unbeugſamer Energie, und doch 
liegt etwas Gütiges über dem Antlig, um das fich anfpruchslos das glatte, nun ganz 
weife Haar febmiegt. Wie fam dieſe Frau dazu, das friedliche Heim verlaffend, auf 
perſönliches Glück verzichtend, in dem ‘Ramp fiir das Frauenſtimmrecht ihre Lebens⸗ 
aufgabe zu ſehen? Wie hat ſie dieſen Kampf durchgeführt? Die Anfange der ge— 
ſamten amerikaniſchen Frauenbewegung, die vollſtändige Geſchichte des Frauenſtimm— 
rechts, ein Stück der politiſchen Entwidlung der Nation tiberhaupt entrollt fic) mit der 
Petrachtung dieſes Lebensganges. Ich will verfuchen, auf dieſem begrenjzten Raum 
die Hauptzüge desfelben gu ſtizzieren; ob es vielleicht gelingt, dabei auc etwas vom 
Weſen der dabhinter ftehenden Perſönlichkeit zu erfaſſen. 


Suſan B. Anthony entſtammt einer Quäkerfamilie. Damit war ſie in einen 
Kreis ernſter Menſchen geſtellt, charakteriſiert durch einen Geiſt der Arbeitſamkeit, der 
körperlichen und ſittlichen Reinheit, ſchlichter und opferbereiter Menſchenliebe, aber ſich 
vom politiſchen Treiben fernhaltend und lieber die „Stillen im Lande” darſtellend. 
In Suſan ſind alle dieſe charakteriſtiſchen Züge des Quäkers als Grundzüge des 
Charakters vorhanden, nur der letzte wird allmählich durch ein ſtärkeres Element in 
ſein Gegenteil umgebogen. In dieſer Gemeinſchaft genoſſen die Frauen eine größere 
Freiheit der Entwicklung und mehr Selbſtändigkeit als anderswo; die Gleichheit aller 
vor dem Angeſichte des Herrn gebot, auch den Frauen das Wort nicht zu entziehen, 
und Suſan zählte eine hochbegabte Predigerin zu ihren nächſten Verwandten. Viele 
Züge der Tochter zeigen ſich bereits in dem Vater; er erſcheint als ein kluger, äußerſt 
ſelbſtändiger, gerechter, freiheitlich denkender Mann, der niemals der Enge und 
Unduldſamkeit verfällt, die ſeine Glaubensbrüder zuweilen in religiöſen und moraliſchen 
Dingen an den Tag legen. Ein feiner Zug in ihm iſt die Achtung vor der 
Selbſtändigkeit ſeiner Kinder. Die Töchter erwäblen einen Beruf, ſobald fie erwachſen 
ſind, auch als die Familie noch im behaglichſten Wohlſtand lebt; Suſan und ihre 
Schweſter ſehen wir lange Zeit als schoolmistress“ auf dem Lande wirken. Als 
der Vater in eine bedrängte Lage gerät und Suſan von ihrem Verdienſt nach Hauſe 
ſchickt, ſtellt er geſchäftsmäßig für jede empfangene Summe einen Schein aus und 
zahlt in beſſeren Zeiten alles bis auf den letzten Heller zurück. Natürlich iſt er ein 
Temperenzler wie alle Quäker und ein Gegner der Sklaverei; wie vielen flüchtigen 
Sklaven haben nicht die mitleidigen Quäker in der Zeit der Verfolgung über die 
Grenze geholfen! Aus ihrer Mitte ging die abolitioniſtiſche Bewegung hervor, die ſich 





1) The Life and Work of Susan B. Anthony. By Ida Husted Harper. Indiana- 
polis. Kansas City. 1898. 2 vol. 


Sufjan B. Anthony, dic Seniorin der Frauenftimmredtsbeiwegung. 823 


zu ciner gewaltigen nationalen Kriſe auswuchs und in dem Biirgerfrieq von 1860 eine 
blutige, aber fleqreiche Löſung fand. Suſan's Vater ftebt den Anfangen diejer Bewegung 
nabe, die um Die dreißiger Jabre liegen. Die ſpäter fo beriihmt gqewordenen Führer 
der Abolitionijten William Lloyd Garrijon, Wendell Philipps, Barker Pillsbury, 
H. W. Channing; Frederid Douglaß, der, felbjt cin Schwarzer, fiir feine ſchwarzen 
Briider kämpft, febren in feinem Farmbaus bei Rocheſter (MN. Y.) cin. Mit diefen 
und andern Bertretern der grofen Reformfragen de3 Tages kommt Suſan frith in 
Veriibrung, und birt bier alle brennenden Fragen des politiſchen Lebens erdrtern. 
Alle diefe Manner und Frauen treten damals aus der Gemeinſchaft der Quäker aus, 
weil die tatkräftige Menſchenliebe in ibnen jtirfer ijt alS der Hang yum Quietismus. 
So bot der jungen Sufjan das Vaterhaus die Vorbereitung yur tiinftigen Yaufbabn. 
Von Anfang an lernt fie, über den engen Kreis ihres Lebens hinausſpähen und die 
Intereſſen der Gejamtbeit empfinden; fie bat in bedeutenden Perſönlichkeiten ein 
Vorbild ſelbſtloſer Hingabe an Menjchheitsaufgaben. Sie beſaß ſcharfen Berjtand, 
Mut, Drang nach Tatigfeit. Rein Wunder, dah ihr der Kreis des Schullebens bald zu 
eng wird; fie febnt ſich nach größeren Aufgaben, will mithelfen im Kampf gegen die 
blofgelegten Schäden des Gemeinwejens. Cie bat das Glück gebabt, in ibrem Vater 
einen warmen Freund dieſer Bejtrebungen zu finden; auch als fic ibre Arbeit aus- 
ſchließlich der Frauenfache zuwandte, iff man iby im Vaterhaus ſtets mit Verftandnis 
qefolgt und bat fie in jeder Weiſe geſtützt. Darin hat fie es befonders gut gebabt, 
wenn wit bedenfen, wie oft der ftrebenden Frau ibre Selbjtindigfeit das Vaterhaus 
fojtet. Suſan bat ftets mit innigiter Liebe an diefem Elternbaus gebangen, und oft 
Elingt in jtiirmifcben Zeiten des Kampfes das Heimiveh nach feinem Frieden durch 


ibre Briefe. 
7 — * 


Ihre erfte öffentliche Tätigkeit gehört der Mäßigkeitsbewegung, in der fid 
zwiſchen 1840 und 1850 die Frauen als Daughters of Temperance“ jur Mitarbeit 
vereinigt batten, da die Manner fie nicht als Rednerinnen juliefen und  tiberbaupt 
gegen jedes öffentliche Auftreten von Frauen ein ftarfes Vorurteil herrſchte. Bereits 1849 
aber verjucht fic) Suſan in ibrer Gefellfchaft in öffentlicher Rede. „Wer foll das 
qrofe Werk der Reform betreiben?” fragt fie. ,,Sollten das nicht die Frauen tun, die 
ja am meiften yu leiden baben unter den Ranken diefed febredlichen Feindes?“ Sie 
ermabnt die Frauen: Laßt uns tun, was in unferen Kräften ſteht, to harmonize 
and happify our social system“. 

Das Gefiihl ſozialer Verantwortlicfeit ijt aljo bei ibr bereits in vollem Mage 
entwidelt; die Sonderaufgaben der Frau fucht fie darjuftellen. Auch die Notwendigfeit 
von Frauenbilfe gegen die Unjittlicbfeit wird bier bereits betont. Bald bat Sufjan 
B. Anthony eine leitendDe Stelle innerhalb diefer Organiſation. Cie beſucht auch 
regelmapig die Verſammlungen der Abolitionijten, die das ſcharfe Geſetz gegen die 
flitchtenden Sflaven von 1850 damals in gewaltige Errequng fegte, aus der das 
Yojungsivort Der immediate and unconditional emancipation* emporjtieg. Cie 
ſchließt Freundſchaft mit den Frauen diejer Bewegung, der allfeitiq verebrten Quaferin 
Lucretia Mott, der vielverfolgten Rednerin in der Sflavenfrage Abby Kelly Fojter u. a., 
Die alle an leitender Stelle in der Frauenbewegqung wiederjufinden find. Gleichzeitig 
dDringen Damals die Nachrichten yu ibr von der erjten Frauenverjammlung in Seneca 
Falls, die E. Cady Stanton 1849 cinberufen bat, um die Frauen zur Wahrnehmung 
ibrer Rechte aufyufordern. Ihre Eltern und Geſchwiſter haben die radifalen 
Refolutionen dieſer erjten Tagung mitunterzeichnet. Cie lieft den Bericht der im 
folgenden Jahr in Maffachufetts abgebaltenen erſten größeren Frauenverjammlungen. 
Die Frauen, Me als Fiibrerinnen damals auftraten, batten als Mitarbeiterinnen in 
der Antiſklavereibewegung perſönlich die Erfabrung ibrer unfreien Stellung madden 
müſſen; man hatte in den Verſammlungen der Männer ibre Anerfennung als Delegierte 
verwweigert und in jum Teil ſtürmiſchen Szenen ibnen das Recht der Rede  beftritten. 
Auch die unfreie rechtliche Stellung der Frau, der das damals geltende English 

21* 


324 Sufjan B. Anthony, die Seniorin der Frauenſtimmrechtsbewegung. 


Common Law keine rechtlich ſelbſtändige Crifteny juerfannte, die weder Verfügungs 
redt iiber ihr Vermögen noch ibre Kinder beſaß, war in einer Menge Falle yu Tage 
qetreten und viel erörtert. Diefe Urfachen der Erhebung waren Sufjan B. Anthony 
natiirlich nicht fremd. Auch hatte fie als Lebrerin bereits perjinlich erfabren, wie 
viel weniger die Frauenarbeit galt als die Mannerarbeit. Daf fie mit den Beſchlüſſen 
dieſer Verfammlungen ſympathiſierte, iſt ſelbſtverſtändlich. Aber für die Forderung 
des Stimmrechts, die E. Cady Stanton in Seneca Falls nur unter Proteſt durch— 
geſetzt hatte, die in den Maſſachuſettsverſammlungen aber bereits an erſter Stelle 
ſteht, hat ſie noch nichts übrig. Denn die Quäker enthielten ſich des Stimmrechts 
wie jeder politiſchen Handlung. Die Einſicht in die Bedeutung des Stimmrechts 
aber wurde ihr ſehr bald, als ihre öffentliche und ſich raſch erweiternde Wirk— 
ſamkeit in der Temperenzbewegung auf dieſelben Schranken ſtieß, die die in der 
Antiſklavereibewegung arbeitenden Frauen zur Deklarierung der „Frauenrechte“ 
getrieben hatte. 

Als ſie und andere Frauen als Delegierte der „Daughters of Temperance“ 
an einer Verſammlung der „Sons of Temperance” teilnehmen, und Miß Anthony 
ſich gum Wort meldet, wird fie von dem Vorſitzenden belebrt, dak die „Schweſtern“ 
nicht eingeladen worden find, um mitzureden, fondern um zuzuhören und zu lernen. 
Und gleich zeigt ficd bier die angeborene Selbſtändigkeit ibrer Natur und die Energie 
des Handelns, die fle ftets gefennzeicnet haben. Cie verläßt mit einigen Frauen die 
Verſammlung und beruft jogleic eine befondere Verjanumlung der Frauen, in der fie 
den Zuſammenſchluß aller an der Temperenzſache arbeitenden Frauen ju einer State 
Temperance Society anregt und durchführt. Als fie felbjt im nächſten Jahr als 
Delegierte diefer Gefelljchayt an der Men’s State Temperance Society teilnimmt, 
wird ibr nach ſtürmiſchen Szenen unter bejonderer Oppofition der Geiſtlichkeit als 
Beſchluß der Verfammlung iibermittelt: „daß die Frauen nicht als Delegierte an— 
erfannt werden könnten, da die Sitte gegen die öffentliche Teilnahme der Frauen an 
Diefen Dingen fei.” Der Borwurf der ,,Uniweiblichfeit”, die Mabnung, in dem ,,von 
Gott der Frau beftimmten Wirkungsfreije” zu bleiben, erſchallen aud) bier. Nod) 
jtdrfer wiederholt fic) diefe Ausfdbliehung der Frauen auf der World's Temperance 
Convention in New York 1853. Zu diefen Erfabrungen kommt die Einſicht in die 
Unfabigfeit der Frauen, irgendwie beftimmend auf die Gejeggebung cinguwirfen. Um 
cin Gefes gegen die Trunkjudt yu erlangen, hatte Sufjan B. Anthony gebolfen, eine 
Ketition von 28 000 Unterſchriften wor die Legislatur ju bringen. Sie bleibt un— 
beachtet, und einer der gegnerijden Redner ſagt: „Wer jind die, die dies Geſetz ver- 
langen? Nur Frauen und Kinder”. Bald darauf wobnt fie ibrer erften Frauenredhts- 
verſammlung in Syracufe (N. Y.) bet, wo das Stimmrecht im Mittelpunkt der 
Crirterung ſteht. Die dortigen Ausführungen werden entfdeidend fiir fie. „Das 
Gefühl der gänzlichen Hilflojigheit, die died Ausgeſchloſſenſein von jeder legalen 
Vertretung mit jich fiibrt, fam über fie mit zermalmender Gewalt. Die erfte qroge 
Urjache dex Ungerechtigfeit, unter der die Frau litt, wurde ihr Flar enthiillt, und fie 
begriff wie niemals vorber, daß jede Geſellſchaftsklaſſe, die ihre geſetzliche Ver— 
tretung gezwungener Weiſe einer anderen Klaſſe überlaſſen muß, ohne weiteres im 
Nachteil iſt.“ 

So gelangt auch fie yu der Mberjeugung, daß nur das Stimmrecht der Frau 
in der Geſellſchaft die Anerkennung ibrer Tatigfeit und Einfluß auf die Geftaltung 
derſelben yu geben imftande fei. Die friih qefniipfte Freundfdaft mit Mrs. Stanton, 
die die Forderung des Stimmredts von Anfang an als den eingigen Weg radifaler 
Selbjthilfe bezeichnet hatte, hilft diefe Uberzeugung befeſtigen. 

Man darf, um das Zwingende diefes Schluſſes yu verſtehen, nicht vergeffen, dab 
das allgemeine Stimmrecht in der Tat in den Vereiniqten Staaten in ganz anderem 
Umfange wie bei uns die ausſchlaggebende Macht bildet. Die Majorititen regieren, 
und fie zu erlangen ijt Lediglich cin Werk der größeren Machtmittel und der ſtärkeren 
Parteiorganifation. Man denfe an die unglaublichen Agitationsmittel, yu denen felbjt 
Die höchſten Beamten des Staates hinunterjteigen, die unwiirdigen Mittel, mit denen 


Sufjan B. Anthony, dic Seniorin der Frauenjtimmredtsbewegung. 325 


die Maſſe der politi unmiindigen Wahler gewonnen wird. Hier ijt der Raum yur 
Entfaltung de3 roheſten Parteieqoismus gegeben. Angeſichts diefer Zuſtände verlange 
man von der felbjtindigdenfenden Amerifanerin, die auc) ibr Teil vom Unabhängigkeits— 
finn der Vater geerbt hat, daß fie ihre Rechte geniigend durch den Mann vertreten 
finde, gegeniiber einer Reibe von Tatſachen, die das Gegenteil beweifen! 





Sufan B. Anthony. 


Nun lag e3 im Charakter von Sufjan B. Anthony begriindet, dap, nachdem fie 
einmal zu der Erfenntnis von der ſchwerwiegenden Bedeutung des Stimmrechts gelangt 
war, fie auch alle Kraft einzig an die Erlangung diefes Grundrechts fest, das alle 
anderen Rechte in ſich ſchließt. Jeder andere Weg iſt ein Umweg. Die Wrt an die 
Wurzel! Der fiihle, rein praktiſche Veritand des WAmerifaners, dem die Ofonomie der 
Mittel Hauptgrundfag ift, feine zähe Konſequenz, feine agreffive Kampfluſt, treten jest 
in dev ſchlichten Quaterin hervor und machen aus ibr, die nur reiner Drang ju helfen 
sum Werke treibt und die urjpriinglic) jeder politifeben Handling abgeneigt it, die uns 
beugjame Vorkämpferin fiir das Stimmrecht der Frau. 


326 Sufjan B. Anthony, die Seniorin der Frauenſtimmrechtsbewegung. 

Ihre erfte fpesielle Tatigkeit gilt der Reform des ehelichen Giiterrechts in ibrem 
Heimatsftaat New Yorf. Denn fie macht auf ibren Agitationsreijen die Erfabrung, 
dak die pekuniäre Abhängigkeit der Frau — der verbheirateten Frau ftand nicht einmal 
die Verfiigung über ihren perſönlichen Erwerb zu, — das erfte Hindernis ibrer 
Vefreiung bhildet. Die Art, wie fie in den zehn Jahren vor dem Bürgerkrieg in diefer 
Sache au Werke geht, zeigt ibre organiſatoriſchen Fähigkeiten gleid) in bobem Mae 
entiwidelt. In bined Beziehung war die Urbeit in der Temperenzbewegung eine gute 
Vorſchule gewefen. Cie beruft ſogleich 1854 in Albany, dem Sik der Legislatur 
pon New Yorf, cine State Suffrage Convention ein, und erhält von dem bier ge- 
bildeten Komitee den Wuftrag, eine Petition zur Reform de3 ebelichen Güterrechts vor 
die Legislatur ju bringen. Cie gebt in ibrer Vaterftadt felbjt von Haus zu Haus, 
um Unterfebriften zu ſammeln. Im folgenden Jahre wird der Legislatur cine Petition 
mit 10 000 Unterſchriften vorgelegt, nachdem Miß Anthony durd) 14 tigige allabendliche 
Verjammlungen in Wlhany, durch Prepberichte, durch Flugblätter die Gemiiter über 
die Frage in Bewegung gejest hatte. Cie felbjt erhalt die Erlaubnis, die Petition 
por der gu ibrer Priifung beftellten Kommiſſion der Legislatur zu verteidigen. Die völlige 
Erfolgloſigkeit ihrer Bemühung feblagt ibren Mut nicht nieder. Am Gegenteil: fiir 
die folgenden Sabre wird die Propaganda diefer Frage foftematifiert. Als General: 
agentin iibernimmt Sujan B. Anthony die ganze Arbeit. Cine Reibe von Rednern 
wird ausgejandt durd ben ganzen Staat, die Gründung von Stimmrechtsvereinen 
angeregt und Taufende von Unterfebriften gefanumelt. Jährlich wird die Legislatur 
mit Retitionen beſtürmt, und Miß Anthony forgt dafiir, daß eine befonders wirkſame Rede 
von Mrs. Stanton auf dem Pult eines jeden Mitglieds des hohen Hauſes liegt. Das 
Vereinskomitee hat ihr diefe WArbeit tibertragen, aber iby feinen Dollar überwieſen zur 
Peftreitung ber Ausqaben. So nimmt fie auch die finanjielle Verantwortung gan; 
auf ibre eigenen Schultern. Wo Subffription und Cintrittsgelder verfagen, müſſen 
ibre eigenen Erſparniſſe berbalten; wo dieje nicht reichen, wendet fie fich nicht verqebens 
an die viiterliche Hilfe. Hätte fie je gezögert, bis die Mittel bereit lagen, fo würde 
der größte Teil der Arbeit ungetan geblieben jein. Sie felbjt begiebt fich im Januar 1854 
allein auf eine viermonatliche Vortragsreiſe durch den ganjen Staat New Yorf, mit 
50 Shilling in der Taſche. Cine ſolche Tour war damals mit den größten Miibjalen 
verfniipft. Viele Stadte und Dörfer zu erreichen waren tagelange CSeblittenfabrten in 
Kälte und Schneeſturm nötig. Oft fand ſich nur ein einziges Wirtshaus mit aller- 
primitiviter Verpflegung; nichts yu fagen von dem Widerjtand oder der Gleichgiltigkeit 
des Publifums, die zu befiegen der größere moraliſche Mut erforderlich war. Solcher 
Agitation unterziebt fie fic) Jabr fiir Jahr, zuweilen im Verein mit den Rednern des 
Anti-Sklavereibundes, der fie aud) gelegentlic) als Rednerin mit einem fleinen Gebalt 
engagiert. Cie bereitet regelmäßig jeden Frühhling und Herbjt eine Verſammlung in 
Albany vor. Cie ift gegenwärtig bei jeder der jährlichen Diskuſſionen ibrer Petition 
im Senat, wo die mit fo viel Mühſal besablte Petition sum Gegenjtand woblfeiler 
Heiterfeit gemacht wird ober der Referent fie verdächtigt als Ausflug ciner Geſinnung, 
die „die Ehe und die gejamte moralijde Grundlage unjeres Staatslebens zu unter: 
qraben drobt.” Aber nach LOjabriger Arbeit wird die Vorlage 1860 angenommen, 
Die der Frau das Recht über ihren, Erwerb zuſpricht, fie von der Vormundſchaft des 
Gatten in allen gefesliden Handlungen befreit und ihr gleiches Necht auf die Kinder 
zugeſteht. 

Mit dieſer erſten Arbeit in der Frauenfrage verbindet ſie eine gleich rührige 
Agitation in der Sklavenfrage; auch die Abolitioniſten übertragen ihr gern die Organi— 
ſation der Verſammlungen, und zählen ſie unter ihre beſten Mitarbeiter. Sie beſaß 
keine eigentlich redneriſchen Gaben, und vor beſſeren Rednern zog ſie ſich gern zurück. 
Wenn ihr aber die beſtellten Redner im letzten Moment abſagten, ſo trat ſie unbedenklich 
für ſie ein, und ihre ſchlichten Darlegungen ſchöpften ihre Wirkungskraft aus der Feſtigkeit 
der Überzeugung, der ſie entſtammten. Die Not zwang fie, auf dies mächtigſte aller 
Agitationsmittel nicht yu verzichten; nie wollte fie fiir ibve Perſon Cindrucd machen. Bei 
Verjammlungen nabm fie ftets den unangenehmiten und undantbarjten Teil auf fich, alles 


Suſan B. Anthony, bie Seniorin der Frauenſtimmrechtsbewegung. 327 


Geſchäftliche lag ftets auf ibr, fiir alle often mußte fie auffommen. Hatte fie aber 
qtitdlic alle Zuhörer verjammelt, alle Redner bereit und Mrs. Stanton im Prafidenten- 
ſtuhl, fo jegte fie ſich zufrieden an den Tiſch der Sefretdrin und freute fich, wenn 
Mrs. Stanton mit zündenden Worten die Verſammlung bewegte. 

Bei diefer Arbeit in der Sklaven: und Frauenfrage fand aber Sufjan B. Unthony 
noch Seit, auf anderen Gebieten, wo fie die Frauen vernachläſſigt fab, gebunden von 
der eigenen Mutloſigkeit, den sindenden Funten hineinzuwerfen. So war es ibr lange 
aufgefallen, daß die Lebrerinnen in den Lehrervereinen, obwohl meiſt zahlreicher als 
die Manner, nie das Wort ergriffen und ibre Sonderintereffen vertraten, obwohl fie 
ebenfogut sablende Mitglieder waren wie diele. Ergötzlich ijt die Gelchichte, wie Miß 
Anthony, nachdem fie zwei Tage lang mit den andern Frauen. ftumm den Verhandlungen 
einer ſolchen Verſammlung gefolgt iſt, ſich plötzlich zum Wort meldet. „Eine Bombe hätte 
keinen größeren Effekt bervorbringen können. Sum erjtenmate wurde. eine Frauenjtimme 
in den Lebrerverfammlungen gebirt. Es folgten einige Augenblicke gefpannter Stille. 
Nachdem der Vorſitzende ſich von der erjten Beſtürzung erholt hatte, frug er febr 
höflich: „Was wünſcht die Dame?” „Ich bitte um das Wort sum Gegenftand der 
Debatte”, erwiderte Miß Anthony ruhig, obwohl auch ihr das Herz klopfte. Sich zu den 
Männern wendend, die in den Vorderreihen ſaßen, frug er: „Was beſchließt die Ver: 
jammbung 2 „Ich beantrage, dak fie gehört wird’, jagte einer; ein anderer unter: 
ſtützte died, und es folgte cine halbſtündige Debatte, wahtend der Miß Anthony ſtehen blieb. 
Zuletzt wurde abgeſtimmt, nur unter den Männern, und eine kleine Majorität entſchied, 
daß ſie ſprechen ſollte. Miß Anthony ſagte ihre paar Worte und ſetzte ſich. Beim Hinaus— 
geben aber zogen fich viele der Lebrerinnen von ibe zurück und ſagten: vaben 
Sie je fo etwas geſehen? Ich ſchämte mich für mein Geſchlecht“. Einige wenige 
aber ſagten ihr anerkennende Worte: „Von jest an werden wir uns zu Gehör 
bringen.“ 

Am folgenden Morgen eröffnete der Vorſitzende die Verſammlung mit den 
Worten: „Ich bin gefragt worden, warum die Damen nicht zum Reden aufgefordert 
werden und nicht in die Komitees gewählt ſind. Ich antworte: Seht dieſen 
prächtigen Saal. Seht dieſen Pfeiler, ſein Fußgeſtell, ſeinen Schaft, den herrlich 
krönenden Schmuck des Kapitäls, wo jeder Teil an ſeinem Platz yur Stärke und 
Schönheit des Ganzen beiträgt. Sollte ich dies prächtige Schmuckwerk von ſeiner 
Höhe zu dem Schmutz des Fußgeſtells hinunterziehen laſſen? Niemals.“ 

Zum Erſtaunen dieſes Herrn aber und aller Gleichdenkenden wurden an dieſem 
Tage von den Frauen zwei Reſolutionen eingebracht, des Inhalts, ,,1. die Verſammlung 
mige das Rect der weiblichen Mitglieder, an den Beratungen der Körperſchaft teil 
zunehmen, anerfennen. 2. fie möge, da die Lebrerinnen ſehr ungeniigend bejzablt 
wiirden, nach dem Grundfag, daß das Gebalt nur nad der WArbeitsleijtung zu 
beftimmen fei, die Befeitiqgung diejes Übelſtandes ins Auge faſſen.“ 

Nady einem vergeblichen Verſuch, diefe Reſolutionen zu unterdritden, famen 
jie zur Debatte und wurden zum Erjtaunen des Vorjigenden einſtimmig an— 
genommen. 

Unterdeſſen hatte ſich der politiſche Himmel mehr und mehr verdüſtert. Die 
Sklavenfrage drohte die Nation in zwei Teile zu ſpalten. Alle Intereſſen waren ihr 
zugewandt; ſo war für die Frauenfrage wenig zu tun, und die Frauen ſelbſt ſtellten 
alle Kräfte in den Dienſt der verſchwiſterten Bewegung. Die Anti Sklavereigeſellſchaft 
von New YorE übertrug Suſan B. Anthony die Or -qanifation der im ganzen Staat 
ab; ubaltenden Verfanimlungen. Viele weichen in diefen Tagen der Gefabr ſcheu vor 
det drohenden Haltung der Gegner zurück; man best den Lobel auf die Verſammlungen 
der Abolitivnijten, die fics durch die Polizei vor den Steinwürfen der Menge ſchüben 
müſſen. Miß Anthony feblt es nie an Mut. Als 1859 der kühne Bandenfiibrer 
John Brown, der unverſönlichſte Feind der Sklavenhalter, gqefangen und zum Tode 
verurteilt worden war, halt fie in Rocheſter, ihrer Vaterftadt, fiir ibn cine öffentliche 
Gedächtnisſsfeier. 


328 Sujan B. Anthony, die Seniorin der Frauenſtimmrechtsbewegung. 


Auch wabrend des Biirgerfrieges rubte Miß Anthony nicht. Bon ibr im 
Verein mit Mrs. Stanton ging der Aufruf aus zur Bildung einer .Women’s Loyal 
League“, um fiir ,fofortige und unbefdranfte Gmanjipation” des Sflaven yu arbeiten. 
In einer ihrer zu diejem Swed gebaltenen Reden beift es: „Man fpridt davon 
gu der Union juriidjufebren, wie fie vorber war. Wir verlangen etwas Beſſeres. 
Die jebige Ronjtitution bat die Norditaaten gezwungen, die Sflaveret zu befchiigen. 
Mir durften denen nicht belfen, die nach Freibeit tangen; wir muften den Bedriider 
unterjtiigen. Die Manner, die dieje Geſetze gaben, haben die Frauen mitſchuldig 
gemacht. Jetzt aber muß die Frau die Erzieherin der Menſchheit werden.“ Die 
Loyal League beſchließt mit einer Millionenpetition für die Emanzipation der Sklaven 
den Abolitionijten yu Hilfe zu fommen. Den ganzen beifen Commer de3 
Sabres 1864 bindurd it Miß Anthony im Bureau des Vereins im Cooper Anititute N.Y. 
gu finden, Briefe und Flugblitter zu Tauſenden verfdidend, Redner ausfendend, alle 
Krafte dienjtbar machend, Wittel jur Beſtreitung der Ausgaben erfindend. Bei einem 
ſehnſüchtigen Verlangen nach Ausruhen in dem geliebten Vaterhaus halt fie der 
Gedanfe der Pflicht aufrecht und bas Vorbild ibres Vaters: ,, eden Tag wird mir 
Raters Bediirfnis nach Gerechtigleit für jedes menſchliche Weſen, für den niedrigſten 
Schwarzen ebenſo gut wie fiir den höchſtgeſtellten Weißen, zur tieferen Wabrheit, und 
mein Gebet iſt, ihm eine würdige Tochter ſein zu dürfen.“ Die eingereichte Petition 
pon 400 000 Unterſchriften bot den Abolitioniſten einen kräftigen Rückhalt, und das 
13. Amendement zur Konſtitution bob die Sklaverei fiir das ganze Gebiet der Union auf. 


* x 
* 


Aber trog all diefer Betätigung zeigt ung erit die Zeit nad 1865 Sufjan B. Anthony 
auf dem Schauplatz ibrer gigentlidsen Tatigfeit; erit in den folgenden durch die Frage 
deS Negerſtimmrechts bervorgerufenen Verfaſſungskämpfen wird die Frauenjtimmredts- 
frage eine politifche Frage. Die Frauen batten fic) bis jest mit den Abolitionijten 
ſolidariſch gefiihlt: die Verfaſſung jtellte fie durd den Ausſchluß vom Stimmrecht auf 
eine Stufe mit dem Neger und Ddicjelbe Berufung auf die allgemeinen Menſchenrechte 
unterſtützte ihre Forderung einer parlamentariſchen Vertretung. Nachdem aber dic 
Aufhebung der Stlaverei erreicht war, und das nächſte Siel der ebemaligen Abolitio- 
nijten die Erlangung des Stimmrechts fiir den Schwaryen wurde, fanden dieſe es 
fliiger, Das Regeritimmredt von der unpopuldren Sache des Frauenitimmredsts zu 
trennen, um jenes nicht zu gefährden. Noch mehr aber: die ehemaligen Freunde 
wurden zu Widerſachern, indem das von ihnen vorgeſchlagene 14. Amendement das 
bisher in der Konſtitution nicht vorhandene Wort ,males einfilgte, und damit dem 
Frauenftimmredt zugleich einen Riegel vorſchob. Miß Anthonys wader Blic erjab 
die Gefabr, wabrend fie nocd fiir das Negerſtimmrecht wirkend im Felde ſtand. Sie 
eilt zu Mrs. Stanton, ein Komitee wird gebildet, ein Aufruf erlaſſen. Cine Equal 
Rights Association wird organijiert, mit der Aufgabe, vom Kongreß die Gewabrung 
des Frauenjtimmredts zugleich mit dem Negeritimmredt ju fordern. Miß Anthony 
war ‘unermiiblidh. Diefe Zeit ijt eine Der ſchwerſten ihres ganzen Lebens, da aud) die 
ehemaligen Freunde fic wider fie febren unter dem Vorwurf, dak der Egoismus der 
Frauen die Sache der Freiheit verderbe; dies ſei die Stunde des Negers, wo es den 
Frauen zu warten gezieme. Unter ſo viel abratenden Stimmen, denen auch die feſte 
Mrs. Stanton fiir den Augenblick erliegen fann, bleibt fie unerſchütterlich in ibrer Nber- 
zeugung, daß die Gewährung des NRegeritimmredts obne die des Frauenſtimmrechts 
ben ſtärkſten Schlag fiir die Frauenſache bedeuten würde; indem der Maſſe-der Wabler 

2 Millionen Stimmen jugefiigt wiirden, die als aus ‘ber ungebildetiten Volksſchicht 
ftammend bet jeder allqemeinen Abjtimmuang ſicherlich gegen das Frauenwablredt auf— 
treten würden. Aber alle Anſtrengungen waren vergebens. 1868 wurde das 14. Amen— 
dement angenommen, und damit das Wahlrecht ausdrücklich auf jeden „männlichen 
Bürger“ beſchränkt. Auch Kanſas, wo im April 1867 eine Frauenſtimmrechtsvorlage 
zum erſtenmale der allgemeinen Abſtimmung unterbreitet wurde, ging wegen Mangel 


Sufan B. Anthony, die Seniorin der Frauenſtimmrechtsbewegung. 329 


an Unterjtiigung verloren. Miß Anthony und Mrs. Stanton batten alle Kräfte auf 
den bedrohten Punkt gerichtet und wiederum felbjt die Redetour durch den Staat an: 
qetreten, um Stimmen gu werben. Das war fiir den neugegriindeten Staat Kanſas in 
jenen Seiten noc eine gan; andere Aufgabe als fiir die fultivierten Oftjtaaten. „Der 
rofte Teil der Wege mußte in Planwagen gemacht werden, durd) Ströme und baum- 
oſe Prärien; oft verlor man bei eintretender Duntelbeit die ſchmale Wegfpur. Wir 
fcbliefen in Blodhaufern, und unfere Mablyeiten bejtanden aus Dörrfleiſch, eingemadtem 
Gemüſe und gefauertem Brot, und das Getranf war felechtes Waffer. Das 
ſchlimmſte waren die nächtlichen Quälereien, verurfacht durch cine Art Inſekt, dad die 
Baumwollenpflanze beherbergt“. Cin andermal ſchreibt Miß Anthony: „Es ijt fajt un- 
möglich, bier ein ordentlices Verſammlungslokal zu befommen; und die Schriften 
treffen nie rechtzeitiq ein. Wir fprechen in Schulbdujern, Scheunen, Sägemühlen, 
Holsbauerhiitten mit Bretterplanten als Siken und Laternen als Beleuchtung, aber die 
Yeute kommen 20 Meilen weit, um zu hören, und unfere Flugſchriften werden wabr- 
haft verſchlungen.“ 

Auf diefem Feldjuge zog fic) Miß Anthony eine ſtarke Gegnerſchaft zu, die eine 
jabrelange Spaltung unter den Vertretern des Frauenſtimmrechts verurjadte und ibre 
Sache fiir lange Beit ſtark disfreditiert bat. 


Damals bereits ift es ihr Flar geworden, daß die Frauen, wenn fie etwas 
erreichen wollen, fic) an eine der grofen Parteien anſchließen müſſen. Das war aber 
leichter gejagt wie getan, denn welchen Einfluß batten die vom Stimmrecht aus— 
geſchloſſenen Frauen in die Wagſchale zu werfen? Nichts als ibre agitatorijde 
Arbeit. Diefe daber fo wirffam wie möglich gu machen, war Mik Anthonys Haupt: 
beftreben. Auf dem Kanſasfeldzuge nun bot fic den Frauen unerwartet Hilfe von 
demokratiſcher Seite, die die Arbeit der Frauen gegen das von republifanijder Seite 
befiirwortete Negerſtimmrecht auszujpielen gedachte. Da die republifanijde Partei, 
in der die ehemaligen Abolitionijten aufgeqangen waren, jede Unterjtiigung des Frauen: 
ſtimmrechts ſchroff verweigert hatte, fo nabm Miß Anthony kurz entſchloſſen die dar: 
qebotene Hilfe an. Mrs. Stanton jtimmte gu. Die tibrigen Frauen aber waren 
entriiftet iiber died Biindnis mit den ebemaligen Sflavenbaltern. Miß Anthony aber 
ijt trop aller Anfeindung dieſem Utilitdtsgrundjagy ftets treu geblieben: „wer fiir das 
Arauenwablrecht ijt, bat meine Stimme; nach feinen fonftigen Nberyeugungen frage 
ich nicht.” 

Von diefer Partei erbielt fie auch die Mittel, einen fang gebegten Lieblingsplan 
auszuführen, nämlich cin Parteiorgan zu gründen. So fonnte jie das Jahr 1867 
trop Verlujten und Niederlagen als glückliches bezeichnen: „Das Jahr geht yu Cnde, 
feines ift je beffer ausgefiillt worden mit ernjter und wirkſamer Arbeit; in Kanjas 
9000 Stimmen fiir unfere Sache abgegeben (neben 10 000 fiir das Negerſtimmrecht) 
und eine Zeitung begriindet. Die Revolution (fo betitelte fie charafterijtifcher Weife 
das neue Organ) heiſcht Arbeit, Arbeit! Mutig voran denn im neuen Jahr.“ 


In der Tat kommt jest fiir diefe unermüdliche Arbeiterin die Beit des ſchwerſten 
Kampfes. In iby Tagebuch febreibt fie am 1. Januar 1868: ,, Alle die alten Freunde, 
mit faum einer Ausnahme find iiberjeugt, daß wir im Unrecht find. Nur die Zeit 
fann es lebren. Ich aber glaube, da wir das Rechte getan haben, und daß es uns 
endlid) gelingen mug.” Dies find aud) die Jabre der größten Verfolqung. Die große 
Scar der Anhangerinnen der Frauenbewegung fondert ſich feindlich von ibr und 
Mrs. Stanton und den wenigen Getreuen als den „Radikalen“ und veriveigern nach 
Auflöſung der Equal Rights Association den Beitritt yu der new gu gqriindenden 
Woman Suffrage Association, wenn dieſe beiden Frauen an der Spike bleiben. 
Von da an gibt es zwei getrennte qrofe Stimmrechtsvereine, die National Woman Suffrage 
Association unter Führung von Clifabeth Cady Stanton und Sufjan B. Anthony mit 
dem Sig in New Yorf und die American W. S. A. unter der Leitung von Lucy 
Stone mit Sik in Boſton. Die Erbitterung gebt fo weit, dah fein anderer Frauen: 
lub in dem Hauſe tagen will, wo ſich die Redaftion der , Revolution” befindet, 


830 Sufjan B. Anthony, die Seniorin der Frauenſtimmrechtsbewegung. 


obwohl es von der Bejigerin ertra fiir die Frauenvereine errichtet war, und die Redaftion 
muß verlegt werden. Anderthalb Jahre lang erflettert nun Sufjan B. Anthony täglich ein 
halbeS Dugend mal die fieben Treppen jum Redaftionslofal, zu ihren andern Arbeiten 
Die dornenvolle Mufgabe der Herausgabe cines politijcen Blattes auf ſich nebmend, 
das von allen Seiten angefeindet wird und ftets mit finangtellen Schwierigkeiten zu 
kämpfen bat. Obwohl fie und Mes. Stanton ihre Arbeit faft umſonſt geben, ijt das 
Blatt nicht zu halten, da die demokratiſchen Freunde fics außer ftande zeigen, ibre 
Verpflichtungen ju erfüllen und Kapital nicht aufjutreiben ijt. Nady heroiſchem Kampf 
muß ſich Sufjan B. Anthony in das Unvermeidliche fiigen. Was ¢8 ihr foftete, zeigen 
die Worte in einem Brief: , Wenn ich nur jterben könnte und dadurch ebrenvoll zurück— 
treten, ich tate es gern; aber lebend fcbeitern yu müſſen, es würde zu ſchrecklich fein.“ 
Machdent fie die ganze Zeit über jeden Dollar, den fie verdient und von Freunden 
erbalten hatte, fiir das Blatt aufgewendet, blieben iby nad) der Aufgabe desfelben nods 
10 000 Dollar Schulden. Diefe Schuld yu tilgen, von der ibr perſönlich nicht ein Dollar 
zu gute gefommen war, war das Biel ibrer Arbeit in den nächſten Jahren. Rach 
ſechs arbeitsvollen Jahren fann fle dann febreiben: „ich kann der Welt wieder ins Auge 
blicten; ich febulde niemand mebr was.” 

Natürlich vermehrt dies öffentliche Hervortreten aud die Angriffe der Preffe, die 
ſich ftets mit Borliebe an ibre Perſon beften, als die nie um Gunit wirbt, nie durd 
Viebensiwiirdigkcit beftechen will, nie um die Wirfung ibrer Rede befiimmert ijt, wenn 
es um die Wabrbheit geht, gerade und Har und ſchoönungslos ibre Uierzeugung aus- 
ſpricht. Laſſen fic weniger „weibliche“ Eigenſchaften denfen? Dazu die äußerſte 
Schlichtheit der Erſcheinung, das nicht unſchöne, aber ſcharf gezeichnete Antlitz, der 
Umſtand, daß ſie unverheiratet bleibt, alles muß dazu dienen, ſie dem wohlfeilen 
Spott der Menge preiszugeben. 

Was dieſe Angriffe noch vermehrt, iſt der Umſtand, daß ſich Suſan B. Anthony 
auf dem eingeſchlagenen Weg immer mehr ins rein politiſche Lager getrieben ſieht. 
Nach der Annahme eines 14. und 15. Amendements, das dem Neger das Stimmrecht 
und alle übrigen Bürgerrechte garantiert, richtet ihre Schar ihr Augenmerk auf die 
Erlangung eines 16. Amendements zu gunſten des Frauenſtimmrechts. Suſan B. Anthonv 
wählte mie immer. dieſen kürzeſten Weg, da Erfahrung in Kanſas gelehrt hatte, dag, 
wenn fie fic) an die Regierungen der Einzelſtaaten wandte, die Vorlage ſtets an der 
notivendigen Ratififation durch allgemeine Volksabſtimmung fdeitern würde. 


Da feben wir fie mit Mrs. Stanton den CSigungsfaal ciner demokratiſchen 
Verſammlung betreten, wo ihr Memorial um Aufnahme des Frauenitinunredts in das 
Parteiprogramm unter Witzen und Gelächter verlefen wird, iby Name mit einem wabren 
Höllenlärm begrüßt, ibre Worte zu vbfcinen Wißen umgedeutet werden. In den 
Seitungen wird die Szene nod nad Kräften ausgeſchmückt. Wenn man fics dabei 
cinen Moment vergegenwärtigt, aus welchen Uberzeugungen beraus dieſe ernite und 
opfermutige Frau ſolche Forderungen ftellte, dah bier qelitten wurde um der Geredtigkeit 
willen, um in den Worten ihres Kinderglaubens yu reden, fo wird die ganze Roheit 
dieſer Szene offenbar, die fiir Miß Anthony ſich unzählige Male wiederbolt hat. 
“it es ein Wunder, dak aud: jie zuweilen müde wird? , Warum nur”, beift es im 
Tagebuch, „muß ic) immer auf der raubejten Seite des Lebens ftehen? Warum fann 
id) nicht aud) mich entſchuldigend vor dem unangenebmen und viel zu febweren Kampf 
zurückweichen? Ich weiß es nicht, aber nad Tagen wie der gejtrige, finft mir fait 
Der Mut. Dann aber fallt es mir cin, dah die Verbeifung nur bei denen ift, dite 
ausbalten bis ans Ende — und ich made mir Mut, weiter vorwärts zu geben.” 
Gewiß, ibre Stimmung war bitter qeworden; die Enttäuſchung an den Freunden, mit 
denen fie 20 Jabre lang um die gemeinjame Sache gekämpft batte, batte ibr zu tiefe 
Wunden gefdlagen; auch der Ton ihres BWlattes war nicht gerade auf Verſöhnlichkeit 
qeitinunt geweſen. Erfahrung batte die harte Einſicht gelebrt, daß „die Frauen allein 
ſtehen“ müſſen. Schonungslos ging fle vor gegen alle Halbbeit und allen Dilettantts- 
mus: The fact is, J am not fit to deal with anybody who is not terribly 


Sufan B. Anthony, dic Seniorin der Frauenftimmredtsbewegung. 331 


in earnest.“ Nie aber wird fie ungerecht, erwidert fie Ungriff mit Angriff, fteigt 
fie zu perſönlicher Feindſchaft herab. Die Cache ijt alles. Diingeren Helferinnen 
ſchreibt fie: ,ladet alle Verantwortung auf mich ab, laßt fie ibven Hobn an mir aus— 
laſſen, idy bins gewohnt und mittlerweile fajt wetterhart qeworden.” Und nie zeigt jie 
e$ vor der Offentlichfeit, wenn ihr der Mut finfen will, Vor andern ift fic immer zuverſichtlich 
und bereit, finfende Ooffmingen yu ftiigen. Und eS feblt auch nicht ganz an freund— 
licen Stimimen, die beffere Zeiten verfiinden. Da ijt ihre bejte Helferin und Mit: 
arbeiterin, Divs. Stanton, die ftets mit ibr eines Sinnes ijt. Und wenn die unerbit- 
lide Sufan auch oft cin unbequemer Mahner war fiir die nachgiebigere Mrs. Stanton, 
der eS zuweilen ſchien, als ditrfte die Gorge fiir einen Haushalt und 12 Kinder von 
Diefer und jener Rede, von diefer und jener Verſammlung dispenfieren, fo ijt doch die 
Freundſchaft der beiden Frauen dadurch mur fejter und fruchtbarer geworden. Wenn fie 
um ſich ſchaut, fiebt fie die Frauenface mächtig gewachſen, aus der Iſolierung beraus- 
gehoben, neue Gebiete befegend, und die neu eröffneten Bahnen höherer Ausbildung liefern 
eine fich ftets mebrende Schar von Helferinnen. Boreingenommene von diejer Scar 
wandeln fich in Freunde, wenn fie Sufjan B. Anthony fennen gelernt haben. Damals 
febreibt cine von dieſen: „Ich babe Miß Anthony diefe 8 Tage lang ftudiert, und Leute 
aefprodien, die feit 20 Jahren ibre intimen Befaunten ſind, und alle jtimmen darin 
iiberein: ſie ijt eine Frau von unbefteclicher Integrität. An Selbjtlofigkeit und Giite 
bat fie kaum ibresgleichen, und ibre Energie und Arbeitsfraft findet eine Grenze nur 
an ibver phyſiſchen Kraft, die zuweilen bewunderungswürdig iſt. Die Nichtigkeit ibres 
Urteils läßt ſich zuweilen anzweifeln, nie aber die Lauterfeit ibrer Motive, noc ihre 
Treue geqen ibre Freunde.” Und ¢3 ijt nötig, dah fle Unterjtitgung findet, denn es 
folgt nod) eine Beit ſchweren Rampfes. 


Se mebr fics die Wellen der Bewegung ausbreiten, befonders in den jungen 
Weftitanten cin giinitiges Feld findend, je gewaltiger wird das Arbeitsfeld. Miß 
Anthony halt alle Faden der Bewegung in der Hand, unterſtützt die neu fich bildenden 
BVereine mit Rat und Tat, jendet Geld, kommt perſönlich, wo der Erfolg ciner 
Stimmredtsvorlage auf dem Spiele ftebt, und verteilt ihre Nednerinnen wie ein 
geübter Feldherr tiber den Staat. 

Cie und Virs. Stanton machen von da an alljährlich ausgedehnte Vortragstouren 
durd) die meiſten Oſt- und Weftitaaten. In jedem Staat, wo eine Stimmrechts— 
vorlage zur Abſtimmung gelangt, und das gefchieht feit 1870 häufig, erjebeinen fie 
perſönlich. 

Die Mühſeligkeiten ſolcher Reiſen mag ſich vorſtellen, wer je in unkultivierten 
Ländern von ſolcher Ausdehnung gereiſt iſt! Das ſchlimmſte iſt im den Weſtſtaaten 
die Feindſchaft der liquor-dealers, die ſich ans den roheſten Elementen der Bevölkerung 
zuſammenſetzen und den Frauen entgegenarbeiten, weil Ddieje die Mäßigkeitsbewegung 
unterftiigen. Es fommt vor, dak Sujan VB. Anthony drei Monate lang allnächtlich in 
einem anderen Bett ſchläft, zuweilen auch ohne ein ſolches, an den meijten Tagen 
Nachmittags und WAbends fprechend. Cie wird weit befannt, und einzelne Seitungen 
fangen an, die Kraft und logiſche Schärfe ihrer Darlegungen anerkennend zu befprechen. 
Als jie Huf erlangt hat, unterninunt fie ſolche Vortragstouren im Auftrag der damals 
eingerichteten ,,Lecturing Bureaus*, eine Art Agenturen fiir die Ausſendung von 
Nednern jeder Art, und zuweilen werfen diele Touren einen hübſchen Verdienyt ab, 
den fle aber bet dem nächſten Stimmrechtsfeldjug unfeblbar wieder zuſetzt. 

Gin sweites wichtiges Feld ibrer Tatigkeit hildet die Belagerung des Kongreſſes 
in Der Bundeshauptitadt Wajbington, um das 16. Amendement ju erlangen, an dem 
Die Löſung der Frauenſtimmrechtsfrage hängt. In jedem Jahre wird eine Petition 
eingebradt. Unzählige Male haben Miß Anthony ſelbſt und die beſten Nednerinnen 
mit ibe Die Petition vor der Legislatur verteidigt. Su jeder Eröffnung des Kongreſſes 
cilt fie nach Waſhington und ſucht perſönlichen Sugang zu den Abgeordneten. Bei 
jeder Abſtimmung iſt fie anf der Tribiine und merkt fic) Freund und Feind. Cie 
befragt die mit Nein Abſtimmenden brieflich um ibre Gründe; eine treffende Rede 


332 Sufjan B. Anthony, die Seniorin der Fraucnjtimmredtsbewegung. 


zu Gunjten der Vorlage fendet fie fogleich vervielfaltigt in alle Welt; Gegner mit 
ſchwachen Griinden miiffen fic) in Verfammlungen und in der Preſſe ibre fcharfe 
Kritif gefallen laſſen. WS fic 1880 die beiden Stimmrechtsgeſellſchaften vereinigt 
haben, betreibt fie die Errichtung eines ftindigen Komitees in Wajhington. Sie 
erreicht ¢8, dak aud) im Kongreß die Angelegenbheit des Frauenftinunredts einer 
bejonderen Rommiffion iibertragen wird. Sie wird in den Strafen von Waſhington 
eine populäre Figur. Den ſäumigen Senatoren, die etwa ein Verfprecien nicht 
gebalten haben, wird ſchwül, wenn fie Mif Anthonys hohe Geftalt auf ſich zukommen 
ſehen, und bat einer nicht Stand gebalten, jo findet er fie ficer am Ausgang jum 
Verhör bereit auf ibn warten. Zui jedem Sebhritt, den der Kongreß im Gaus von 
30 Jahren in der Frauenjade getan bat, ftebt fie in Beziehung. Um diefe ibre 
Tätigkeit in ihren eigenen Worten zu refumieren: „Es wird ſchwer jein, eine Stadt 
in den Nord- und Weſtſtaaten zu finden, wo ich nicht gefproden habe, und auch in 
vielen Städten des Südens habe icy geredet. Seit 45 Jahren ftehe ich auf der 
Rednertribiine; die Zahl meiner Reden it unmöglich angugeben; es würden wabr- 
ſcheinlich im Durchſchnitt 75—100 auf jedeS Jahr fallen. Seit 1869 babe ich vor 
jedem Komitee des Kongreſſes gefprocen und unzählige Male vor unferer New PYork 
Legislatur.“ 

Auf einem dritten Feld verſucht Miß Anthony in den ſiebziger Jahren eine Zeitlang 
ihr Ziel zu erreichen: in den Gerichtshöfen. Denn das 14. Amendement, zu gunſten des 
Negers gemacht, erklärte alle in den Vereinigten Staaten Geborenen oder naturaliſierten 
Perſonen für Bürger derſelben, und verbot, ihre Privilegien und Freiheiten durch 
irgend welche Geſetze zu verkürzen. 

Unter Berufung auf dies Amendement verſuchten die Frauen, bei den Wahlen 
mitzuſtimmen, um von den Gerichtshöfen die Frage entſcheiden zu laſſen, ob mit der 
Wahlentziehung nicht eben eine ſolche Verkürzung der Frauen in ihren Privilegien als 
Bürger eingetreten ſei. Auch bier ging Miß Anthony als Märtyrerin voran, ließ ſich 
wegen widerrechtlicher Beteiligung an den Wahlen in Anklagezuſtand verſetzen, hatte 
die Genugtuung, die Sache durch mehrere Gerichtshöfe zu ziehen und nach allen Seiten 
erörtert zu ſehen und ließ ſich zu einer großen Geldſtrafe verurteilen, die ſie nie 
bezahlte. 

Auch mit der Steuerverweigerung ging ſie voran, eine Maßregel, die aber bald 
als unausführbar aufgegeben werden mußte. 

Ihr viertes großes Arbeitsgebiet war die ſtets wachſende Vereinstätigkeit. Sie 
ließ kein Jahr ohne eine Verſammlung der National Society vorübergehen, traf alle 
Vorbereitungen und wußte Stimmung zu machen inmitten allgemeiner Mutloſigkeit. 
Nberall nahm fie den unangenehmſten Teil der Aufgabe, die geſchäftliche Leitung auf 
jis. Wenn fie aber alles vorbereitet und die Berjammlung eröffnet hatte, ftieq fie 
pon der Rednertribiine berab, um Mrs. Stanton den Bins Der Vorjigenden einzu— 
räumen, den fie ſelbſt beharrlich verweigerte, und erft angenommen bat, als Mrs. Stantons 
Play 1892 leer wurde. Sie wadste dariiber, dah das Programm innegebalten wurde 
und wenn unwichtige Tagesfragen die Aufmerkſamkeit vom Hauptpuntt abzulenken 
drobten, war fie ftets Ddiejenige, Die auf die cine Aufgabe hinwies, in der alle andern 
aufgingen. In der Organifation war fie uniibertrefflich. Bon ibr ging aud) die Idee 
aus, Beziehungen ju den Frauenvereinen der übrigen Kulturländer ju ſuchen und einen 
Welthund der Frauen zu begründen. Auf einer Reiſe nad England wurde mit den 
dortigen Filbrerinnen der Plan befproden und 1888 der International Council of 
Women ing Leben gerufen, deffen erjter Tagung Sufjan B. Anthony in dem Frauen: 
weltkongreß bei Gelegenbeit der Ausjtellung in Chicago eine fo glänzende Vertretung 
fichern Half, und dejien 3. Tagung wir im Juni diefes Jabres in Berlin erleben 


werden. 1) 
* * 
* 


1) Wir haben geariindete Hoffnung, fie bet dieſer Gelegenbeit bier zu feben und fpreden ju 
boren: „J shall be very happy, ſchreibt fie der Herausgeberin diejer Seitidrift ,to be with you, 


— 


Sufjan B. Anthony, die Seniorin der Frauenſtimmrechtsbewegung. 333 


Und nods immer ijt diefer kurſoriſche Bericht iiher das Lebenswerf diefer Frau 
nicht vollſtändig. In Erkenntnis der gefchichtlichen Bedeutung der Bewegung, in der 
jie geſtanden, erfaft fie die Notwendigkeit, die Gefchichte diefer Bewegung zuſammen— 
suftellen. Cin ungebeures Material, Zeitungen, Programme, Flugblatter, Briefe, Tage- 
biicher, bat fie gefammelt. Mrs. Stanton muß trop Sträubens an die Redaktion des 
Werkes. Auch die finanjiellen Schwierigkeiten der Veröffentlichung waren nicht gering. 
Auch diefes Unternehmen hat ibve unbefieghare Energie gu Ende gebracht; drei große 
Bande dev History of Woman Suffrage erjchienen 1881—1887, der vierte ijt unter 
ibrer Leitung foeben vollendet worden.!) 

Man freut ſich der Erfahrung, dag einer ſolch unvergleichlichen Hingabe, wie fie 
bier geübt wurde, aud) der dupere Erfolg ſchließlich nicht ausblieb, und Sufjan B. Anthony 
in den ibe ganzes Leben lang fejtgebaltenen Hoffnungen nicht getdujet wurde. Cie 
fab ihre Sade fic) aus der Verachtung erbeben zu ernfthafter Beadtung in den 
Legislaturen und im Publikum. Kein Jahr vergebt jest, wo nicht im Kongreß und 
in den Legislaturen mehrerer Staaten Frauenjtimmeredtsvorlagen disfutiert werden. 
Vier Staaten haben den Frauen das politiſche Wahlrecht erteilt; in faft allen tibrigen 
befigen fie irgend eine eingefchranttere Form des Stimmrechts. Die fiibrenden Oftitaaten, 
New Yorf und Majfachujetts, baben fich der Bewegung nicht anger verſchließen können. 
Die Frauen der höchſten Stände, die ſich lange ferngebalten batten, find heute der 
Bewegung gewonnen und leiben neben dem Gewicht ibrer geſellſchaftlichen Stellung 
und dent Einfluß ihres Kapitals tatige Mitarbeit. Die Eröffnung aller Bildungs- und 
VBerufswege hat eine uniiberfebbare Schar von tüchtigen Kräften ins Feld gefiihrt, 
Die zu Der greiſen Führerin verehrend aufſchauen. 

Die große Women's Christian Temperance Union, die in den 80er Jahren 
den feit 1850 von den Frauen aufgegebenen Kampf gegen die Trunkſucht wieder auf: 
genommen hatte, und erſt der Stimmrechtsbewegung durdaus abgeneigt war, ſchloß 
ſich, durch den Miferfolq ihrer Mafjenpetitionen belebrt, ibr an — /, Million 
chriſtlicher und fonjervativ gefinnter Frauen befennen ſich damit zu der Anſicht, dap 
cine radifale Gefesgebung gegen dic Trunkſucht von einem Méannerparlament nie ju 
erlangen fein wird. Miß Anthony hatte diefe Wandlung vorbhergefagt. 

Der Ton der Zeitungen ijt ſachlicher geworden in Behandlung der Frage und 
refpeftvoll, ja bewiundernd gegen die einjt fo geſchmähte Perfon der Fiibrerin. Qn 
Den Siidjtaaten, den fatholijden, einjt fflavenbaltenden, fonjervativiten, wo die Frauen: 
bewegqung bis gu den 80er Jabren überhaupt eine unbefannte Erſcheinung blieb, bringt 
die Preſſe Ausführungen wie diefe: „Miß Anthony ijt eine in jeder Hinſicht bedeutende 
Arau, deren Geijt ſeine Spuren juriidlajjen wird nicht nur in der Gefechichte des 
19. Jahrhunderts fondern fiir alle zukünftige Seiten in der gebobenen fozialen Stellung 
der Frau. Sie war cine der erjten Frauen in Amerifa, die ihre Stimme fiir die Rechte 
der Frau erhoben, und hat eS erlebt, ihre Schweſtern von gefeslicen Feſſeln befreit 
zu feben, in allem, aufer dem Stimmrecht, dem Manne gleidgeftellt. Niemand fann 
Die Gerechtigteit ihrer Forderungen leugnen, und im Lichte falten Verſtandes gefeben, 
von Vorurteil und Gefiihlseinfliijjen befreit, find ibve Argumente nicht zu widerlegen!“ 
— ,MNiemand blidt in das Antlig dieſer ehrwürdigen Frau, die in ihrem Lebenswerk 
ergraut ijt, obne zu fühlen, daß e& bier mebr ijt als cine abjurde Idee.“ Jest beift 
eS in den Berichten über VBortragstouren: „in jeder dev bejuchten Städte wurden die 
Damen von den angefebenjten Bewohnern yu Gaſt geladen, da Publikum war zahlreich 
und anerfernnend, und die Seitungen brachten Lange und günſtige Berichte. Es gab feinen 
Mifton in dem Chor des freundlicen Willkommens; es fiel Fein abfälliges Wort 


provided I am well enough to make the trip, but I shall than be four score and four and a 
little more, and a great many things may come in to prevent my making the journey, but my 
friends here are very anxious to have me go and I think I shall, all things working together 
for that good end. D. Red. 

') The History of Woman Suffrage, edited by Susan B. Anthony and Ida Iusted 
Harper im GSelbftverfag von S. B. Anthony, Rochester N. Y. 17 Madison Street. 


334 Sujan B. Anthony, die Seniorin der Frauenſtimmrechtsbewegung. 


gegen die Redner oder ibre Sache. Die Frage wurde in öffentlicher Disfuffion mit 
dDerjelben Cachlichfeit befprochen wie jede andere, und jie zu erdrtern, verlangte nicht 
mebr Mut, als irgend eine der Reformfragen des Tages.” 

Welch eine Wandlung feit den Seiten jener eriten Verjanunlungen, wo Mif Anthony 
ſich ſchüchtern zum Wort meldete und geradezu niedergeſchrieen wurde, da keine Frau 
öffentlich ſprechen durfte; wo ſie New Hork State im Schlitten durchqueren mußte, zu 
einer handvoll Leute in Dorfſchulhäuſern ſprach, lächerlich gemacht von den Zeitungen 
und geächtet von der Geſellſchaft! Ihr ſiebenzigſter uͤnd achtyis fter Geburtstag brachten 
geradezu grofartige Ovationen der geſamten Frauenwelt Mmierinas und darüber hinaus. 
Auf all die Beweiſe von Bewunderung und Danfbarfeit, was hatte fie zu erwidern? 
„Freunde, ich bin nicht gewohnt an Lob und dantesbezeugungen Ich weiß mich 
Dabei nicht zu benehmen. Hättet Jor mich mit Steinen geworfen, mich geſcholten, mir 
das Sprechen verboten, geſagt, ich hätte den Frauen mehr geſchadet als genützt und 
verdiente am Pfahl verbrannt zu werden, hättet ihr etwas gegen die Sache geſagt, der 
ich ſeit 30 Jahren zu dienen verſucht habe, dann hätte ich gewußt, was ich antworten 
ſollte; ſo weiß ich es nicht. Ich bin für dieſe Bewegung geweſen, wie der Holzhauer 
und Waſſerträger. Ich verſtehe nichts von der Kunſt der Rede. Was ich getan habe, 
tat ich, weil ich die Frauen in beſſerer Lage ſehen wollte. Das iſt alles.“ 

Es iſt ein ſchöner Zug der amerikaniſchen Frauen, daß ſie dieſe Anerkennung 
auch praktiſch betätigen, indem ſie der einen ſorgenfreien Lebensabend verſchafften, die 
ſtets arm war, weil ſie nie für ſich, ſondern ſtets für die Sache ſorgte. 

Die Forderung des Frauenſtimmrechts iſt, ſeitdem Miß Anthony fie als praktiſche 
Notwendigkeit erkannte und mit der Maxime der „Gleichheit“, „Freiheit“ für alle be— 
gründete, mit einer Menge ſozialer, naturwiſſenſchaftlicher und philoſophiſcher Theorien 
geſtützt worden. 

Miß Anthony hat dieſe gelten laſſen, aber ihrerſeits nie aufgehört, fie als eine 
einfache Forderung der Gerechtigkeit hinzuſtellen. Auch iſt ſie noch immer darin 
„radikal“, daß ſie nur das „volle Stimmrecht“ zu exlangen beſtrebt iſt und das 
partielle Stimmrecht eher als ein Hindernis denn als Förderung anfiebt. Sie halt 
feſt am Weg fongreffionaler Attion, da die Geſetze der Legislaturen der Einzelſtaaten 
ſtets einer allgemeinen VolFsabjtimmung bediirfen, für einen giinftigen Wusfall 
Derjelben .ijft Die öffentliche Meinung nods nicht ſtark genug. Wber die Lange 
Der Beit bat auch fie warten gelebrt. est halt fie die ſtürmiſche Jugend 
suriid: ,,the slow process of agitation and education is our only way“. 
Immer natürlich bleibt iby das Stimmrecht die Grundforderung. An einem Brief 
aus den legten Jahren fteben die taujendmal von ihr variierten Worte: „Die große 
Mehrzahl dev Frauen betdtigt ſich noch immer am liebften in perſönlicher Hilfeleijtung 
oder in der Hffentlichen Wohltätigkeit; wenige nur find fähig einjufeben, daß neun 
Sebntel aller geſellſchaftlichen Schäden aus der Gebundenbeit der Frau berfliesen. 
Man muß die Art an die Wurzel legen. Wenn ihr und alle Frauen, die jest im 
ſtädtiſchen Gemeinwejen fiir charities und reforms arbeiten, das Stimmrecht hättet, 
was meint ibr, wie Lange würden die Spielhäuſer und Bordelle nod offen fteben 
diirfen? Wie lange, meint iby, wiirden unfere Strafen von Mannern unjicher ge- 
macht werden, die unter den Frauen nach einem Opfer ibrer Liijte fuchen, und von 
Frauen, die dasfelbe thun? Während ibr arbeiten müßt wie ibr tut, mit Leib und 
Seele euch der Ausrottung diefer febredlicen Zuſtände unferer halb-barbariſchen Kultur 
bingebt, muß ich die Wurzel gu treffen verfuchen, aus der jie hervorwachſen.“ 

Es ift bas Erhebendite an diefem Leben, daß es ganz ciner, mit unerſchütterlicher 
Uberzeugungstreue feftachaltenen Adee bingegeben iſt. Miß Anthony hat der Frauen: 
fache jede Stunde des Tages, jeden Pfennig ihres Vermögens, ibre ganze Arbeitstraft, 
ibr ganzes Leben gewidmet. Cin individuelles Glück zu fuchen fam fiir fie gar nicht 
in Betracht. Der Gedanfe an Heivat kommt ibr nie angesidts der großen Aufgabe, 
Die auf fie wartet. Qn dem rauben Kampf, der alle Härten ibrer Natur berausfordert, 
bleibt doch die Giite cin Grundjug ibres Wefens. Wie vielen hat fie perſönlich ge- 


Detorative Frauentunit. 835 


holfen; wie oft ijt fie fiir unſchuldig Gerurteilte öffentlich cingetreten, bat fie Verfolate 
mit eigner Lebensgefahr befebiigt! Ihre Wahrheitsliebe, ihr Cifer um die Gerechtigkeit, 
iby ſcharfer Verſtand, iby feltnes Organifationstalent, ibre ſtaatsmänniſche Klugheit, 
ibre Furchtloſigkeit, ihre Energie, ihre phyſiſche Leiſtungsfähigkeit wereinigen fich zu 
cinem Gefamtbilde, das höchſte Achtung auch vom Gegner erswingt. 

Im ganzen liegt diefem Lebenswerf cin tiefer Idealismus zu Grunde, dic Sehnſucht, 
das Leben reiner und glücklicher zu gejtalten, die Ungerechtigfeit zu beſchränken; der 
Glanbe, daß aus der unverbrauchten Eigenart der Frau folche belebenden Kräfte yu 
löſen find. Die Art, wie fie diefer Aufgabe gerecht wird, ift eine typiſch amerikaniſche, 
und nicht gu löſen von dem Boden, auf dem jie gewachfen ijt. Sobald man fich in die 
politiſchen Berhaltniffe der Union bineinverfegt, erſcheint fie vollfommen beqreiflic 
und durchaus fonfequent. Treg alles fdlimmen , Nadifalismus,” trog des „direkten 
Widerftandes,”. trog des Fauſtkampfs mit den Parteien lieben wir Suſan B. Anthony, 
eben weil fie ftets fo ,,terribly in earnest’S war. Aber wir feben auch, dak gebundene 
Kräfte zu löſen für uns nicht das Stimmrecht das erſte oder einzige Mittel fein darf. 
Erziehung gehört dazu und Betätigung, das Feld erweitert ſich vor dieſen beiden 
Schritt fiir Schritt. Bei uns haben Ideen langſames Wachstum. Aber die Frucht 
pfliictt, wer den Tag der Reife erwarten fann. 


— — / ccm 


Vckorative Prauenkunst. 


Bon 
Felix Poppenberg. 


Radhdrud verboren 
Ean * 


Ff wttcen fpiegelten fich in zwei Ausftellungen deforativer Kunjt, die im Januar 
J in Keller und Meiners Salon jtattfanden. Cin Auterieur von George de Feure, 
Coe’ dem Barijer, illujtrierte die Richtung des franzöſiſchen Geſchmacks, und die 
Arbeiten des , Bereins der Kiinftlerinnen”, (fiir die Weltausftellung in St. Louis be: 
ftimmt) gaben Gindrud von den Neiqungen des deutfchen Kunſtgewerbes. 

Und interefiant war es zu feben, wie die Formenjprade des Franjofen in 
Zierlichkeit und ſchmeichleriſcher Weichheit durchaus feminin,. dem Frauendienst 
des Boudoirs geweiht ſchien, die deutſchen Künſtlerinnen aber ftrenge, ſachliche 
männlichere Löſungen ſuchten und fo, diesmal nicht nur it ihrer Domäne, in Stickerei und 
Applikation, ſondern in der Möbel- und Metallkunſt Erfolge erreichten. 

Das Niveau dieſer Frauenausſtellung iſt ein ſehr reſpektabeles. Sie zerſtört den 
letzten Reſt des Odiums gegen die „Weibliche Handarbeit“, hier iſt nichts Spieleriges, 
feine Süßigkeit, keine Atrappenbijouterie. Man erhält den Eindruck kluger, richtig 
ſehender Augen und geſchickter, erfinderiſcher Hände. Alle Aufgaben werden vom Ge— 
ſichtspunkt des Zwecks und der praktiſchen Anwendungen aus angeſehen. Beſonnen 
wird aller äußerlicher, nur auffriſierter Ausputz vermieden. Materialgerechtigkeit herrſcht. 
Die Schönheit eines Stückes wird in der Betonung ſeines Materials, in der 
harmoniſchen Ausbildung ſeiner Proportionen und ſeiner Funftionen geſucht. Sach— 
lichkeit und konſtruktive Ehrlichkeit herrſcht, und verfeinerter Geſchmack hütet fic) dabei 
vor der Gefahr, nüchtern, allzu ruſtikal zu werden, in einen ungehobelten Natur: 
burſchenſtil zu verfallen. 


836 Deforative Frauenkunſt. 


Sachlichfeit und konſtruktive Chrlichfeit, die in der cinfeitiq naturaliſtiſchen 
Periode des Möbelbaus das Biel Hilden, find hier einfach nur die felbjrveritdndlicen 
Faktoren und Vorbhedingungen, und das Ziel, das mit dicfen Mitteln erreicht werden 
foll, ijt Romfort, ift Swedmapigteit, die nicht nur dem Gebrauch frommt, fondern 
durd die liebevolle Ausbildung, durch die Nuanzierung der Cinjelbeiten dem Auge 
Hreude macht. Bor allem ijt ein Seichen von Kultur, wie Motive alter Stile neu 
belebt und modernen Formen eingegliedert werden. Auch mandye hübſche techniſche Cin: 
fälle ſind zu verzeichnen, die aus der beſonderen Behandlung der Eigenart eines 
Materials Schmuckmotive gewinnen. 


* * 
* 
Cin Rundgang durch die mannigfachen Provinzen dieſes dekorativen Reiches, 
das nun auf die Völkerwanderung geht, ſoll das zeigen. 
Bei den Möbeln fällt vor allem die gliidlice ren äußerlich harmoniſchen 
Eindrucks und innerlicher Sachlichfeit auf. 


Den Triumph diefer Miſchung erreicht der grofe, grün —— Garderobenſchrank 
von Marie Kirſchner. Ein mächtiges, aber durch gute Gliederung in ſeinen Formen 
wohl gebändigtes Möbel. Er illuſtriert gut die Theorie, daß aus Zweckmäßigkeit und 
prazijem Funktionieren cin äſthetiſches Vergnügen kommen kann. Zweigeteilt it er, 
bie rechte, die Garderobenſeite öffnet ihre Tüur durch Drehung auf der Mitte der 
Seitenwand ſo weit, daß nach der Offnung der Inhalt ſich handbereit überſichtlich 
darbietet. Die weite Tiefe des Schrankes iſt kein Verließ, in dem die Kleidung ab— 
gründig ſich verliert, ſie iſt durch die intelligente Dispoſition, die an die verblüffend 
bequemen aufrecht aufklappharen Schrankkoffer erinnert, eine Art Garderobenregiſtrator, 
ein KojtiimeShannon geworden. Und der „Schmuck“ dieſes Schrankes ergibt ſich aus 
jeinen praktiſchen Eigenſchaften. Gefchmiedete mattpolierte Meſſingbänder beleben die 
grüne Fläche. Aber nicht willkürlich find fie als Beſchläge daraufgeſetzt, jie find 
ein Schmuck, der dient; fie find die Ausldufer der Tiirangeln, fie fprechen ſchon 
äußerlich den Mechanismus, die Technif dieſes Verwandlungsſchrankes aus, fie 
deuten ſichtbar fein Wefen und feinen Charafter an, fie jind ſeine betonenden 
Akzente. 


Reize der Verwendungs- und Gebrauchsmöglichkeiten laſſen ſich auch gern bei 
Bücher- und Mappenſchränken anbringen. Dafür finden ſich hier manche Beiſpiele. 
Marie Kirſchner erfand außerordentlich zweckmäßige kleine Regale für Arbeitsmaterial 
und Handbücherei, am Schreibtiſch zu ſtehen. Variationen alter Gebetspulte ſind es, 
die Bücher ſtehen nicht aufrecht auf geraden Brettern, ſondern ſie liegen auf geneigten 
und bieten ſich ſo dem Benutzer dar. Schmuck und Zweckmäßigkeitsfaktor gleichzeitig 
iſt der an der Seitenwand ſich aufwärts ſchlängelnde Eiſenbeſchlag, er wächſt ſich zu 
einer Handhabe aus, an dem man das auf Rollen gehende Geſtell als Bibliothek: 
wägelein bequem dirigieren kann. 

Cin Regal von Lina Krauſe bringt eine hübſche Reuerung damit, daß nicht 
nur die Längsbretter nach Bedarf zu verſtellen gehen, ſondern daß auch aus— 
wechſelbare Querbrettchen eingefügt ſind, die das Umfallen der Bücherreihen in 
einem nicht ganz gefüllten Fach verhindern, ohne daß man metallene Bücherhalter ein— 
ſtellen muß. 


— — 


Deforative Fraucnfunft. 337 


Sebr gelungen iſt aud der graugrüne Notenſchrank mit den ſchönen filberqranen 
Beſchlägen von der Frau von Falfenjtein. Seine Vorderfläche erhalt ibre bewegte, 
lebendige Phyſiognomie durd die mannigfaltige Anordnung der horizontalen breit— 
offenen und dev vertikalen ſchmalgliedrigen Fächer. Freie, reizwolle Unſymmetrie herrſcht. 
Die Faſſade iſt, wie es auch bei guter Architektur ſein ſoll, Ausdruck der inneren 
Gliederung und der Zweckbeſtimmung und erregt dadurch das Gefühl des Richtigen 
und Stimmenden und ſomit äſthetiſcher Befriedigung. 

Cin paar hübſche Sitzmöbel fallen auf, ein Dos-d-dos aus rotbraunem Holz 
mit distreter Flachſchnitzerei (von Cugenie Dillmann) und ein forpergerechter grauer 
dreiediger Stubl, der ein beſcheidenes Ornament aus einer Anordnung hand— 
geſchmiedeter Cifennagel an feinem Unterteil weiſt. 

Cin beliebter Defor für die reicher bebandelten Möbel ijt die Cinlege-Arbeit, die 
Intarſia. Viel gelungene Beiſpiele gibt’s und aud) ein Gegenbeifpiel, wie man fie nicht 
anwenden foll. 

Die Intarſia, das Cinlegen von Holsteilen in Holzflächen, muß immer holzmäßig 
ſein, dem Charakter des Holzes entſprechend. Will ſie maleriſch wirken, ſo zerſtört ſie 
damit ihr eigenes Weſen. Man ſieht hier einen mit großer Mühe und Sorgfalt 
gearbeiteten Teetiſch mit farbigen Blumenſtücken; ſie ſehen aus wie Malerei, ſind aber 
eingelegt, die Holzſchnitte find fiir das Experiment der abgetönten Buketts beſonders 
eingefärbt. Das iſt eine Verirrung, außerdem wirkt dieſe Blumenauslage plaſtiſch, 
ſie macht ſich viel zu anſpruchsvoll breit; Intarſia aber iſt Flachmuſterſtil, ſie hält 
ſich in der Fläche und drängt ſich nicht vor. 

Richtig trifft den Intarſiaſtil ein Teetiſchchen (von Eliſe Schellbach), auf deſſen 
rotbrauner Decke ſich ein gelblicher Blätterkranz rundet, nicht als eine Panoptikum— 
illuſion, daß ihn jemand für wirklich halten und danach greifen könnte, ſondern als 
Flachmuſter, als Vignette. 

Dieſes Tiſchchen iſt wie auch ein ähnliches (von Lina Krauſe) ein Beiſpiel 
ſinnvoller Überlegung, leicht beweglich, und im Unterbau mit mannigfachem offenen 
und verglaſten Gefächer ausgeſtattet. Voll Eigenart und Sicherheit iſt dann noch die 
Intarſia auf der Rückwand des ſtattlichen Sophabaus von Sophie Luiſe Schlieder. 
In graues Ahorn wurde luftig geſchwungenes Bandwerk aus grünem Ebenholz mit 
perlmuttergeränderten Miſtelblättern eingelegt. 

Einen aparten Einfall fiir Einlegearbeit hatte Ilſe Schütze; fie ſchmückte die 
Ladenflächen ihrer Kredenze in frei behandeltem Biedermeierſtil mit den Silhouetten 
eines Jünglings und eines Mädchens in der lieblichen Tracht von 1830. Das ſcheint 
cin maleriſches Motiv. Aber bier iſt es durchaus holzmäßig behandelt und wächſt 
natürlich und ſelbſtverſtändlich aus ſeinem Boden, der ſchwarze Ausſchnitt der Silhouette 
auf dem gelben Grunde. Schwarz und gelb ſind nämlich auch die Holzfarben dieſes 
Möbels. Sie entſprechen dem Stil; man erinnert ſich dabei an die Rahmen um alte 
Kupfer aus gelbem Birnbaumholz mit aufgeſetzten ſchwarzen Eckquadern. Mit viel 
Liebe iſt dieſe Kredenz, die übrigens von der Kaiſerin erworben wurde, komponiert. 
Der untere Teil offen, von ſchwarzen Säulchen getragen, darüber die Platte mit 
einem Hintergrund von Spiegelglas, und dann ein Aufbau mit einem geſchickten 
Arrangement von Käſtchen und Fächern, die teils geſchloſſen (mit jenen Silhouetten— 
türen), teils verglaſt ſind und ihr mit intereſſant gemaſertem Holz gefüttertes 


Innere zeigen. 
22 


338 Delorative Fraucntunft, 


Died Stück führt zu den Bariationen alterer Stile iiber. Die ſouveränſte 
ſolcher Bariationen, die nur eine. Anregung aufnimmt und fie villig ſelbſtändig in 
ganz modernem Geift ausbildet, ijt der ausgezeichnete Schreibtiſch von Marie Kirfdmer. 

Seine Komponiſtin erinnerte fic) an die fo febmudvolle Rombination aus Edel— 
bol, mit Bronzemontierung, die in der Rokoko- und Empirezeit fo beliebt war, und 
fie erneute das in gan; perſönlichem Gegenwartsgeiſt. 

Sie entwarf cin zierliches Tiſchchen, das wie jene alten Möbel ein Bronjegitter 
um feinen Tifehrand und Bronze-Durchbruchwerk zwiſchen den tragenden Ceiten- 
pfoſten bat. 

Aber diefer Bronjezierrat ijt feine Kopie nad Louis XV. oder Louis XVI. 
Er ijt modern behandelte Blumenſtiliſierung, ein ſchmiegſames Tulpenmotiv. Und dazu 
fommt die andere moderne Eigenſchaft: dieſer Tifch ift fein Koketterie-Schauobjekt, ſondern 
ein eminent praftifdes Stic. Der Linke tragende Seitenpfoſten enthalt vier tiefe, 
gerdumige Käſten mit breitgeſchwungenen, der Hand ſich anpafjenden Griffen, und Die 
Seitenſchenkel de3 oberen Nandgitters laſſen ſich zurückſchlagen (fie bilden dann mit 
der Rückwand cine gerade Linie), Seitenbretter fajjen fic mun herausziehen und der 
zierliche Tife wird jest, obne die Anmut feiner Form einzubüßen, ju einem febr 
ernjtbaften, gerdumigen Arbeitsuteniil. . 

Anflange an Louis XVI.- und Empiremotive zeigt die große Schauvitrine von 
Maria von Broden. Auf gradlinigen Stiigen walbt fie fich in ovaler Veibung aus der 
Wand; Birnbaumbol; ijt iby Material. Breitgeſchnitzte Bandornamente, matt vergoldet, 
ziehen ſich um Stirn- und Seitenränder. 

* ok 
ae 

Rejpeftabel wie die Möbelkunſt prajentiert fied auch die in mannigfacer Form 
auftretende Metallarbeit. Schon in den Befeblagen fann man das Niveau der 
Leijtungen ertennen. Nichts Kleinliches ſtört, großzügig, voll Liniengefühl ijt die 
Phyſiognomie. 

Wie die Beſchläge, ſo ſtellen ſich in den Dienſt des Möbels die Kupferplatten, die 
Hildegard Lehnert mit kunſtvoll geätzten Blättern und Blütenwerk bedeckt. Dieſe 
Platten mit ihrem disfreten japaniſierenden Flächenſpiel werden als Füllungen ver— 
wandt für Schränkchen oder wie hier für die Paneelwandungen zur Begrenzung des 
Schliederſchen Sophabaus. 

Daneben aber gibt es eine Menge ſelbſtändiges Gerät. 

Wuchtige Palmenſtänder von Sophie Luiſe Schlieder, grün patiniert; Dreifüße, 
die mit der Kriimmung und Spreizung lebendig die Funktion des Laſtens und 
Tragens zum Wusdrud bringen und nicht nur deforativ, fondern auc zwedentfprechend 
fein wollen, nicht nur an den Schein, fondern auc) an die Notwendigfciten denken 
und 3. B. cin Ablaufbecken fiir das Palmenwaffer organijd und jtilfidher der Gefamt- 
kompoſition afflimatifieren. 

Rühmlich anjuerfennen ijt won der gleichen Künſtlerin ein Notenpult. Auf 
breitem Unterfas, auf den der Geiger unbeforgt den Fuß ſetzen fann, wächſt ein 
Schaft, der die doppelfeitige Bultfliche tragt. Sie beftebt aus cinem kräftig geführten, 
durchbrochenen Rupferflechtiverf, dad febr wirkungsvoll fic) von der unterlegten 
trangparenten, matt-qraugelb febimmernden Opalescentglasplatte abhebt; darüber hinaus 
wächſt der Schaft yu einer das Ganze überragenden elcftrifcen Lampe. Sie wird 
iiberfangen, — jo daß dad Licht abgeblendet nach unten fallt und, wenn feine Noten auf 


Deforative Frauenfunit. 339 


dem Pulte liegen, über die glasgefiillten Kupferausſchnitte fpielt, — von einem fupfernen 
Rundhelm, kräftig gehämmert und mit amethyftfarbenen Glasflüſſen großaugig intruftiert. 

Auch in kleineren Lampen zeigt ſich Sicherheit für gleichzeitig ſchmückende und 
zweckvolle Form. Eine Schreibtiſchlampe wird komponiert in Form eines in bäumender 
Bewegung ſich aufwärtsrollenden Blattes, von dem das elektriſche Licht dann gleichſam 
herunterzüngelt. Der tiſchflache Teil des Blattes dient zugleich als eine Schale, und 
der ſich aufwärts bäumende ſenkrechte (der die Blattrippen als Metalldurchbruch zeigt) 
ſtellt ſich zwanglos als ein gut von oben belichtetes Leſepult zur Verfügung. 

Einen herben aber erleſenen Geſchmack merkt man den eiſernen Hängeleuchtern 
von Eliſabeth Neelſen an. Sie erinnern an ſchottiſche Kunſt, an die Handſchrift der 
Makintoſh, die puritaniſch-aſketiſch erſcheint und doch fo delifat in der Nuancierung iſt. 
Diefe Leuchter, die fiir die Wand oder den Spiegel gedacht find, haben ſpröde primitive 
Linien, dod) die Art, wie ihre Läufe aus der apart durchbrochenen Ovalplatte, an der 
fie hängen, herauswachſen, ftreng gerade ſich ftreden, dann entſchieden ju dem energifd 
ausgebildeten Lichttrdger fic) biegen, — das hat Charafter. 

Zu erwähnen find aus dem metalliſchen Bereich noch die blintenden, ſchmuckhaften 
Schirmjtinder von Marie Kirjebner aus gebogenen Meffingftiben und der Verkleidung 
des Fußkaſtens mit ivijierenden Platten aus Kloſtermühler Schmelzglas, jowie die yum 
Flankieren bejtimmten Bücherhalter von Lina Krauſe, zierliche Durchbruchwände mit 
Pflanzenveräſtung aus Eiſen- und Meſſinglegierung. 

* * 


* 

Eine Fülle von Kleinkunſt, von Bibelots, von Objets d'art ſtehen noch in dieſer 
Ausſtellung herum und bevölkern als Staffage die Möbel. Kaum ein Gebiet der 
modernen angewandten Kunſt blieb unerprobt. 

Keramiſche Experimente brachten mit Glück Hildegard Lehnert und Helene Lobedan. 
Schon früher hatten ſie Gefäße mit eingeſchnittenem und geritztem Dekor entworfen, 
jetzt gehen ſie auf dieſem Wege weiter und ſetzen die ſo behandelten Vaſen und Schalen 
einem galvaniſchen Niederſchlagsverfahren aus, das die Motive mit metalliſchem Luſter 
aus der irdenen Grundfläche heraushebt. Die Motive ſind meiſtens Blätter und 
Halme. Wirkungsvoller als das naturaliſtiſche Ornament ſcheint mir noch das 
urſprünglichere ſpielende freie, wie auf jener ſchmalen Vaſe, über deren graugrüner 
Fläche mattgoldige Tupfen und Sprenkel ſchillern. 

Neigung zu beſonderen techniſchen Verſuchen verraten die Tiſchplattenfüllungen 
von Helene Lobedan. Aus ſchwarz poliertem Glas find fie, mit einem Sandſtrahl— 
geblaje werden fie mattierend bebandelt, fo daß die ornamentalen Motive, meijtens 
Blattgesweig, blank und ſchwarz in der durd das Gebläſe erzeugten grauen Fläche 
jteben bleiben, — Cilhouetten im bellen Grunde, japanifden Schablonen gleicend. 

Much ivifierende Gläſer gibt, hübſch, aber ohne Originalitat. 

Sebr fein fdeinen die Emailmalereien von Dora Kellner. Blumenmotive geben 
fie von einem ſo tiefen duntelgliibenden Lüſter, daß man an oftafiatifche 
Schmelzarbeiten auf Kupfer denft. Schön ift auch dad tiirfisfarbene Email auf 
Emmy Luthmers Dofe. 

Cin gutes Zeugnis verdienen die Schmudfaden von Ilſe von Cotta. Ihre 
Schließen aus rauh behandeltem Cilber, mit den Augen farbiger Steine iluminiert, 


find phantafievoll und dabei einfach und materialgeredt. 


* * 
* 


340 Delorative Frauenfunft. 


Muf diefem Rundgang trafen wir die Frauen häufig bet männlicher Hantierung, 
die wudhtigen Mae de3 Holzes und der Metalle balancierend und ficer und frei mit 
robujtem Material fchaltend. 

Das hat ibnen die Hände und den jarten Sinn fiir Sierlichfeit und zärtliche 
ſchmeichleriſche Wirkung aber nicht verdorben. Neben den ftrengen männlichen Arbeiten 
blüht auch deforative Lyrik. 

Und eine ijt Meifterin in beiden, Marie Kirſchner. Die den mächtigen Garderoben- 
ſchrank erſonnen und die ſchmuckloſen Biicherftinder aus Holz und Cifen, zaubert die 
delifatejten Sticereien. 

Eine Fliigeldede bezeugt die Noblefje ibres Geſchmacks. Auf bellgriinem Seiden: 
qrund wechſeln dunkelgrüne Kränze von Goldfaden gebunden mit Fleineren Kränzchen 
aus winjigen CSilberpailletten ab. 

Erlejene Farbenjtimmung bat die Dede von Clara von Sievers, mattrofa und 
mattgriin auf weif. Diefelbe ftellt mit Ilſe Schütze einen gemalten Paravent aus, 
mit graulifa gezweigten Feldern und einem anmutigen Fries von Singe-Engeln. 

Deforatives Raffinement zeigen zwei andere Paravents von Marie Rirjdhner. 
Sie verenden mit Glid ,Nunjtformen der Natur“. Die metalliſch ftablblau-violett 
idimmernden Fliigeldeden brafilianijder Kafer werden als UApplifationsingredienjen, 
ſozuſagen als pailletes naturelles verwertet. Auf weichwelligem, ſchwimmendem gritnen 
Moiree wiegt fics in ſchlanker Biegung ein Palmenſtamm, und in feiner Krone gligert 
und blinft es ... 

Emmy Luthmer Lieferte dem Raum WApplifations-Portieren, febr rubevoll in ibren 
dunfelgrauen Tonen, im Schnitt den Aufnäharbeiten an die hieratiſche Linie der 
Jung-Wiener Kunſt erinnernd. 

Cin farbenfebweres, ſchön geſtimmtes Kiſſen der Freifrau von Maltzahn darf 
nicht vergefjen werden, auf weifer Seide cine rofthraun-mattgelb-qriine Herbjtitudie 
aus Abornblittern. Und bei aller Ronftruftivitit, Cachlichfeit und natiirlicher 
Schlichtheit, und wie die anderen ſcheinbar proſaiſchen Tendenzen unſerer Gegenwarts— 
richtung beifen, ward ſchließlich auch die zierlichſte, hauchzarteſte Poésie fugitive, die 
die Ddeforative Kunſt des achtzyehnten Jahrhunderts ausgebildet, nicht vergeſſen, die 
Kunſt des Fächers. 

Schöne Exemplare von Margarethe Erler ruhen in der großen Vitrine, geſtickt 
und gemalt voll koloriſtiſcher Fineſſe, gefaßt in koſtbaren Perlmuttergeſtellen, graviert, 
vergoldet, durchbrochen, und einer der zarteſten zeigt ein verſchlungenes Bandwerk 
orange und grün auf durchſichtig weißem Grunde. 

* oo 
ae 

So ſpricht die Ausjtellung, die in St. Louis von deutſcher Art und Kunſt zeugen 
foll, beredt 3u und. 

Sie zeigt, daß die Frauen aud) im Kunſtgewerbe „ſich geliijten laſſen nad der 
Manner Bildung, Kunſt, Weisheit und Ehre“ und dag fie darum nod nicht ibre 
Weiblichkeit aufzugeben brauchen. 

Auf das Ernſte, Schwere und auf das Leichte und Graziöſe in dieſem Frauen— 
reich ſchaut die hohe Mädchenſtatue der Cornelia Paczka-Wagner, verſonnen, heiter 
und nachdenklich zugleich; fie ſcheint an allem Teil zu haben . . . Reine Ferne macht 


fie ſchwierig . .. 
= 


341 


— 1, Moses 3. — 


H. Tudwig. 


Nachdruck verboten. 







m tit Dr Ebeling war die ſchönſte Stunde des Tages gekommen. Er ſaß in ſeinem 
AS bebaglicy ausgeftatteten Arbeitssimmer auf dem nachgiebigen Schaufelftubl, Kiſſen 
im Riiden und unter den Füßen, und ſchlürfte echt ruſſiſchen Tee aus einem 
feingefcbliffenen Glaje. Erquifite Zigaretten, Fleine Dinger, deren jede er nach acht, 
zehn Zügen fiir verbraucht eradptete, mebhrten die woblige Bebaglichfeit. Bücher lagen 
vor ibm auf dem grofen runden Tiſche, Biicher zu beiden Seiten auf fleinen Tiſchchen; 
er hatte die Wahl von Seifenblaſenlektüre bis hinauf zu Ewigkeitswerken. Dieſe all- 
umfajjende Möglichkeit gab ihm ftets cin Gefiihl des Reichtums und der Herrſchaft 
fiber Seiten, Welten und Welteninbalt. Es war cine beilige Stunde, in der das Leben 
aufhörte ein Kampf gu fein, er ſchob es zurück und betrachtete es lächelnd aus der 
Diftany erhabener Befchaulichfeit. Cs war eine heilige Stunde. Nicht, dah er fic 
befonders beiligen Gedanfen hingab oder fich aufmachte, Gott und die Wabrheit yu 
fuchen, aber er zog ein Gebege um fie, daß niemand einbrechen fonnte in ibre nirwana— 
artige Stille. . 

Dr Gbeling griff eben ju feiner dritten Sigarette, da Flopfte es an feine Tür. 
Sein Staunen war wie cin Sturz aus lichter Höhe; der Wortweddfel an der Flurtitr, 
anfangs ein. geflitjterter, dann anfebwellend wie zerſtörungsluſtige Wafferfluten, war 
ifm faum zum Bewuftfein gekommen. Nod cbe feine Verſtändnisloſigkeit dem Unerhörten 
qegeniiber ſich yur Entrüſtung beraufgearbeitet hatte, trat cine junge Frau ins Zimmer 
und ftellte fic) ihm vor. Er fab fofort eine große Entſchloſſenheit in ibrem Geficht, 
eine jitternde Errequng in ihren Gliedern, und obne dag et fich Rechenfcbaft geben 
fonnte, twie es gefommen fei, fag fie ibm gegeniiber, er ein Wartender, unrubic 
gefpannt, fie nad) einem Anfang fuchend, der es ermöglichte, wirres Garn ohne Berluk 
glatt abzuwickeln. 

Endlich begann ſie: „Herr Doktor, ich bin Witwe; ich habe zwei Söhne und drei 
zenſionäre. Die Penſionäre ſind eine Notwendigkeit; ſie ſind in dem Alter meiner 
Söhne, vierzehn- und fünfzehnjährig. Ich brauche — natürlich brauche ich —“ 

Ebeling unterbrach die Zögernde. Ein Wald hochgereckter, ausgeſtreckter Anſprüche 
mit allerlei Buſchwerk zwiſchen den kräftigen Stämmen zeigte ſich ſeinem wach gewordenen 
Vorſtellungsvermögen, er kannte das, kannte dieſe Wälder mit ihrem Geſtrüpp und die 
rauhe Arbeit des Sichhindurchwindens. 

„Ich glaube kaum,“ — ſagte er. 

Da unterbrach ihn die Frau ihrerſeits mit einem ſchnellen Aufleuchten der Augen, 
das die Flucht jeder Verlegenheit bekundete. 

„Sie glauben kaum, daß ſie mir etwas nützen können, nicht wahr? Und doch 
haben gerade Sie, Herr Doktor, mir das, was ich brauche, geraubt, ſo ſelbſtverſtändlich 
geraubt, und nicht nur mir, ſondern noch unzähligen andern mit mir, des bin ich 
ſicher. Die Achtung, die ich brauche, haben Sie mir zertreten, in das Herz meiner 
Söhne haben Sie Zweifel geſäet. Cie haben einen Strich gezogen zwiſchen mir und 
ihnen und in zwei Welten geteilt, was eine Welt fein ſollte.“ 


342 1. Moſes 3. 


Dr Gbeling fab fein Gegeniiber balb beſtürzt, balb beluftigt an. 

„Daß ich nicht wüßte, gnädige Frau!” fagte er unficher. 

Der Name feines BefucheS hatte fic ibm bet der fliichtiqen Vorftellung nict 
eingepriigt, und etwas in Wort und Haltung der überaus einfach Gefleideten nötigte 
ibn ju tadellofer Höflichkeit. 

„Natürlich nicht!” fagte die Fran faft ſpöttiſch. „Dieſer Raub ijt Gewobnbeits: 
face, Sie halten ibn fiir Abr gutes Recht.“ 

Cheling wurde ungeduldig. 

nour Sade!” fagte er. 

„Gern!“ 

Das ſpöttiſche Lächeln verſchwand aus dem klugen Geſicht der Frau. Sie 
richtete ihre jungen braunen Augen feſt auf Ebeling, ihre ruhige Klarheit verwirrte 
ihn, ganz wider ſeinen Willen. 

„Ich ſchicke voraus,“ begann ſie, „daß Sie, Herr Doktor, der Religionslehrer 
meiner fünf Jungen ſind; die fünf ſind in derſelben Klaſſe. Bisher wurde es mir 
nicht ſchwer, die lebhafte Schar zu leiten und zu bändigen; niemand verweigerte mir 
je ernſtlich den Gehorſam, man hatte Reſpekt vor mir. Es war das etwas Natürliches, 
das ſich aus unſerm Verkehr und meinem mütterlichen Walten von ſelbſt ergab, es 
brauchte nicht erzwungen zu werden. Ich wußte kaum, daß in unſerem ſchönen, freien 
Zuſammenleben ſo viel Reſpekt vor mir vorhanden war. Da wurde es anders, ganz 
plötzlich, ſo ſchien es mir. Doch als ich bei der erſten offenſichtlichen Auflehnung 
gegen meine Anordnungen zurückdachte, wurde mir klar, daß dieſe Eruption ſich langſam 
vorbereitet hatte. Ganz ſeltſam batte fie fic) vorbereitet, Herr Doktor; durch Anftarren, 
verwundertes, neugieriges Anſtarren, als befände ich mich in einer den Knaben ſchwer 
denkbaren Situation, die niemals ihre eigne werden könnte, und als wären ſie höchſt 
geſpannt, wie ich mich in ihr zurecht zu finden verſtände. Bei den beiden älteſten 
Penſionären ſpielte die Neugierde ſtark in Spott, ſelbſt in Schadenfreude hinüber. 
Es gab oft ein Ziſcheln und Gekicher unter den Jungen, das den früheren Ausbrüchen 
harmloſer Geheimniskrämerei durchaus nicht glich. Es ſtand in Beziehung zu meiner 
Perſon, ich fühlte es. Die Augen der Knaben begegneten ſich oft, ſich fragend, ſich 
verſtändigend, die Unbefangenheit war fort. Meine Söhne waren ſcheu, gequält, ſie 
ſpielten mit mir Verſteck. 

Alles deſſen erinnerte ich mich, als der älteſte Penſionär mir einmal den Ge— 
horſam verweigerte, wo er ihn mir durchaus nicht verweigern durfte, denn ich ſprach 
zugleich im Auftrag ſeiner Mutter. Da verlangte ich Klarheit und ruhte nicht, bis 
ich fic gewonnen hatte. Ich will Ihnen den Weg dazu nicht ſchildern, auch nicht 
erzählen, was ich aus Kindermund dabei vernommen und hinter Kinderſtirnen geleſen 
und tief, tief in den allerdunkelſten Seelenwinkeln entdeckt habe, nicht reden von den 
böſen, ſcheuen und doch ſchon recht regſamen, gierigen Wünſchen nach Schauen 
und Genießen, mit denen ſelbſt der reife Menſch nur ſelten zu ſeinem Heile fertig 
wird. Cie mögen ſich's in Ihrer nächſten ſtillen Nachmittagsſtunde ausmalen, Herr 
Doktor!“ 

Ebeling maß die kühne Frau mit einem kalten, ſtrengen Blick, dann lehnte er 
ſich läſſig zurück und markierte durch ein leiſes Gähnen hinter der ſchmalen, weißen 
Hand ſeine gelangweilte, aber geduldige Gleichmütigkeit. 

Die Frau lächelte ſchon wieder. Cie hielt den Kopf außerordentlich hoch. 
Ebeling ſah immer die feinen Naslöcher, die zwei braunen Apfelkernen glichen, 
und den kräftigen Bau des Halſes unter dem Kinn. Bei ihrer lebhaften Art zu 
ſprechen gab's allerlei intereſſante Muskelſpiele und Ebeling fühlte den Maler in 
ibm ſich regen. Rafaelſche Madonnen mit Hälſen gleich ſtämmigen Säulen ſtiegen 
vor ihm auf. 

„Was ich ſpreche, geht Sie etwas an, es geht Sie in der Tat etwas 
an!“ begann die Frau wieder. „Die Knaben ſchöpften die Antequng, die Luft 
und die Kraft zu ihrem ffeptifeben, rebellifeben Verbhalten aus Ihrer Religionftunde, 
Herr Doktor.” 


- *€ 


L. Moſes 3. 343 


7 Das ift cine ſchwere Anflage,” fagte Cheling, fic) Miihe gebend, bei der Sache 
zu bleiben, der er nod) immer feine allzugroße Bedeutung zuſchrieb. 

xEine ſehr ſchwere Anklage,“ beftitigte die Frau voll tiefen Ernſtes, und zum 
erſtenmal ſank der gehobene Kopf herab. 

„Und min will ich fie begründen,“ fang’ die belle, kühle Frauenſtimme an 
Ehelings Obr. „Das dritte Kapitel des 1. Bud) Mofes lehrt nach Ihnen, wie die 
Frauen einzuſchaben ſind. Erſtens: Die Schlange iſt ein Symbol der boöſen Begierden, 
die aus des Weibes, als aus des ſchwaͤcheren Gefäßes, Bruſt emporquollen wie 
ſchlammige Waſſer det Tiefe. Alſo, alles Böſe ftammt vom Weibe. Riweitens: Jn 
dem Kampf mit der böſen Luft unterliegt das Weib, weil es fich der Lüge, jum 
mindejten der Verdunfelung der Wabrbheit als Waffe bedient. Beweis: Es fagt auf 
Die Frage: Qa, follte Gott gefagt haben: Yor follt nicht effen von allerlei Baumen 
im Garten? — Bon den Fritehten des Baumes mitten im Garten hat Gott gefagt: 
Effet nicht davon, rühret es aud) nicht an, daß ihr nicht fterbet! 

Gott hat ‘aber nicht gefagt: Riihret es nicht an! Die Bibel berichtet nichts 
davon. Das ijt Nbertreibung, bewußte Mbertreibung, wie fie noch heute bei paffenden 
Gelegenbeiten in der Frauenwelt üblich ijt. Die Frau ſcheut fich nicht, Gott anzu— 
greifen, feine Größe und Güte yu kleinlicher Strenge zu ſtempeln, um ihrem Unter— 
handeln mit der Schlange einen Schein des Rechtes zu geben. So lügt fie doppelt 
und dreifach, ſelbſtſüchtige Ziele im Auge und zugleich den wildeſten Vorſtellungen 
preisgegeben: Ihr werdet ſein wie Gott. Verlogen der Intellekt, verlogen die 
Phantaſie! 

Drittens. Sie koſtet die ſchlimme Frucht. Nun iſt ſie eine Gefallne. Da kommt 
die Angſt. Allein ſchuldig, allein ſich vor Gott verantworten — nein, das geht nicht, 
das erträgt ſie nicht. Wenn ſie ſchon ins Elend muß, wenn Strafe ſie treffen ſoll, 
dann ſoll auch der an ihrer Seite ſein, der mit ihr das Glück der Unſchuld teilte, er 
darf nicht ſtehen, wenn ſie gefallen iſt, er darf nicht Gottes Freund bleiben, wenn fie 
zur Verſtohnen wird. Und aus dem ſchlimmſten, weil folgenſchwerſten Equismus, den 
je die Welt gefchaut hat, reicht fie mit lügneriſch lächelndem Munde, den WAbgrund 
ibrer Seele durch Blide der Liebe verbergend ibrem Gefährten den Apfel, deſſen Genup 
jeine ftolje Unberührtheit vernichtet. 

Und nun folgt viertens der Hinweis auf 1. Mofes 3, 16 und eine Auslegung, 
Herr Doftor — — — Ach wußte in der Tat nicht, dag Gott das erjte Menſchen⸗ 
paar und mit ihm die Menſchheit in zwei ſo unverfobnlice Gegenſätze zerſchnitt, in 
Subjekt und Objett' Zweck und Mittel‘, ‚„Menſch und Menſchengebärerin““. 

Die Frau war aufgeſtanden, ruhig war alles an ihr geweſen wie das Wattenmeer 
zur Ebbezeit, die klaren Augen, der geſenkte Kopf, die fangen ſchmalen Oande, deren 
cine auf dem Tiſche gerubt hatte, die freie Haltung, jest braujte es über fie bin wie 
eine gewaltige Flutivelle. Mit grofen Sebritten durchmaf fie das Zimmer, in dem 
fie ein ungebetener Gaft war, als ware fie mit fid) und ibrem Zorn allein. 

Ebeling ftand auf. Gtivas won der ¢ ewaltigen Flutwelle ſchien an ibm binauf- 
sufteigen, sum Herzen, zum Kopf, es Beha inte Betäubung. Er ſtreckte beſchwörend 
die Hand aus. 

Da blieb die Frau vor ihm ſtehen, hoch aufgerichtet, den Kopf zurückgeworfen, 
wiederum Ruhe in den klaren Augen. 

„So, Herr Doktor! Die vierzehn- und fünfzehnjährigen Buben haben nun die 
ganze Pſyche des Welbe⸗ und mit ihr die Löſung des furchtbaren Problems der Schuld 
und des Leidens. Sie haben die Pſyche des Weibes, ſage ich, ihrer Mutter, ihrer 
Schweſtern, mit ihr werden fie ſich durchſchnittlich recht wenig befchaftiqen, aber auch 
die Pſyche der Frauen ihrer Sufunft, derjenigen Frauen, mit denen fie einft in andere 
Beziehungen treten werden, die Pſyche der Geliebten, der Braut, der Gattin — — 
und bier grübeln fie nach, zerſinnen fie fic) — oder fie nehmen auch einfach die kräftige 
Federzeichnung an — und finden — o Areude, o Freude und abermals Freude — 
Here Doktor, fie finden eine Freude, die vielen Seelen den Tod bringt.” 

,Gnadige Frau!“ 


344 1, Moſes 3, 


Die Frau trat ein paar Schritte guriid, denn Ebeling fprang auf. Gr nagte an 
feinem woblgepflegten Bart, das Geſicht war flammend rot geworden. Es wurde ibm 
nicht leicht, Sine Stimme yur Rube gu zwingen. 

„Was Sie hier anjudeuten belieben, eriftiert wohl nur in Ihrer Pbhantafie, es 
ijt Tbertreibung, weibliche Nbertreibung.” Er gewann fein überlegenes Lacheln wieder. 
„Außerdem — ich bin aud) Theologe und id) habe meine Weltanſchauung.“ 

Seiner Gegnerin fcbien dieſe Erklärung eber cine Ermutigung als cine Entmutigung 
zu fein. 

„Um fo beffer,” fagte fie, „beides feblieBt doch wohl das Streben nad 
Wahrheit in fich.” 

Ebeling war gereizt. 

„Jawohl, und deShalb eben vertrigt die Theologie feine Dilettanten, feine 
Frauen, die ſich um eine Weltanfchauung nicht fonderlic) ju befiimmern pflegen, es fei 
denn, um Staat damit zu machen.” 

„Sehr wohl!” fagte die Frau, ,aber wenn die Wahrheit Ihre Richtſchnur ijt, 
wie finnen Sie dann behaupten, das Weib habe gelogen, als es Gottes Befebl in die 
Worte faßte: Gott bat gefagt: Eſſet nicht davon, rühret es aud nicht an, dah ibr 
nicht fterbet!?” 

„In der Bibel ſteht nicht, daß Gott gefagt babe: Rühret es aud nidt an!” 

yout!” fagte die Frau. ,Dann bat aud Clifa gelogen, und Jeſus gelogen, 
und die Mehrzahl der großen Propheten dazu —“ 

„Eliſa, Chrijtus!” jagte Ebeling entritftet. 

„Wiſſen Sie nicht, daß Schopenhauer das bebauptet bat?” fragte fie mit fiiblem 
Staunen. „Er beruft ſich auf Johannes. Der erzählt, Jeſu Briider forderten ibn 
auf, nad) Serufalem zu geben, da antwortete er —“ 

Sie trat an den Schreibtiſch und nabm in ibrer felbjtveritindliden Art eine 
Bibel von dem Biicherbord dariiber. Nach kurzem Suchen las fie: 

„Gehet iby hinauf auf diefes Feft. Ich will nod nicht hinaufgeben auf diefes 
Felt, denn meine Zeit ijt nod) nicht erfiillt. Da er aber das zu ihnen gefagt, blieb 
er in Galiläa. Als aber feine Briider waren hinaufgegangen, ging er auch binauf zu 
dem Felt, nicht offenbarlich, fondern gleich) heimlich.“ 

„Da, Sie feben, wer dieſes Rapitel fo Licjt, wie Sie den Siindenfall, Herr 
Doktor, der finnte cine Liige zwiſchen den Zeilen leſen. Ach will nicht, ich kenne 
meine Bibel zu gut. Und nun Eliſa. — Er log in dem entſcheidendſten Augenblice 
feines Lebens, gerade als Elias, der Geiwaltige, ibn yu feinem Nachfolger erwählte. 
Sch lefe es auch, damit Sie feben, wie er log in der ernftejten Stunde. 1. Rin. 19 — 
bier iſt's! ,Und er (Elias) ging von dannen und fand Eliſa, den Sohn Saphats, dah 
er pfliigete mit zwölf Soden vor fic bin und warf feinen Mantel auf ibn. Er aber 
ließ Die Rinder und lief Elias nach und ſprach: Lah mich meinen Vater und meine 
Mutter küſſen, fo will ich dir nachfolgen. Cr fpracd ju ihm: Gebe bin und fomme 
wieder, Denn ich Habe mit div ju tun. Und er fief wieder von ifm und nahm ein 
Nod) Rinder und opferte und fochte das Fleiſch mit dem Holzwerk an den Rindern 
und gab es dem Volf, daß jie afer und machte ſich auf und folgte Elia nad und 
diente ihm’. — Der Abſchiedskuß war nur ein Vorwand, nicht wahr? Eliſa log, iſt's 
nicht fo?” 

„Lächerlich!“ ſagte Ebeling. „Das nennt man mit dem Buchftaben Gigendienft 
treiben! Man muß zwiſchen den Zeilen yu leſen veritehen.” 

„Und wenn ich nun zwiſchen den Zeilen leſe, daß Gott gefagt hat: Rühret es 
auch nicht an!“ 

„Es gehört Schulung dazu zwiſchen den Zeilen zu leſen,“ ſagte Ebeling. „Leſen 
Sie Paulus recht aufmerkſam, dann werden Sie wiſſen, ans welchem Geijte heraus 
man in der Bibel zwiſchen den Zeilen zu lefen hat.” 

„Und wenn ich nun zwiſchen den Seilen leſe,“ fubr die Frau, obne feinen 
Cinwand zu beadhten, fort, „daß der Mann dieſen tibertreibenden Sujag gemacht bat, 
um fic) und fein Weib um fo ficherer juriidjufehreden? Cie wiſſen, das Weib war 


— — 


1, Mofes 3. B45 


nod nicht geſchaffen, als Gott das Berbot ausfprad. Da dic Frau es Fennt, bat 
der Mann es ibr iibermittelt. Frauen find unfelbjtindige Denker, fie beten nur nach, 
— vielleicht iibertrieb der Mann?” 

Ebeling wurde heute aus fic felbjt nicht Flug. Gr hatte nicht nötig die Fauſt, 
et brauchte nur den fleinen Finger zu beben, bildlich gefprochen natiirlich, um die naiv 
kühne Frau jum Schweigen zu bringen und mit einem demiitigen Stachel im Herzen 
nad Hauſe zu ſchicken. Für ſolche Waffengdnge war Paulus ein Held unter vielen. 
Aber ex hatte das Gefühl eines Reiters, dem ein flinte Hand die Sattelriemen löſt. 

Sielleicht war der Schaukelſtuhl daran ſchuld, auf den er ſich wieder geſetzt hatte, weil 
das barte Voreinanderitehn ihm komiſch kriegeriſch erſchien. Much nitigte ihm die Frau 
Refpeft ab durch einen Zug ſtolzer, ftrenger Wahrhaftigkeit. Cr erlebte es mit, dah 
die Buben Refpekt vor ihr Hatten. Dieſe ſtarke Achtungsempfindung wand ihm ſein 
Rüſtzeug aus den Sanden. Er beſchloß auf das praktiſche Gebiet uͤberz sugeben, bier 
ließen ſich die Schwierigfeiten, deren er fich voll bewußt war, leichter überwinden. 

Aber die Frau begann noch einmal: 

„Steht hier nicht in der Bibel klipp und klar: Und ich will Feindſchaft ſetzen 
zwiſchen Dir, der Schlange, und dem Weibe? Und was haben Sie aus dieſem 
Gottesruf an das Weib, feſt und bewußt in den Kampf gegen das Böſe einzutreten, 
gemadt, Herr Doftor? Cie fagen ibm entgegen: Die Frau ift nidt Gottes Chre, 
jondern des Mannes Ehre, in des Mannes Haus foll fie dem Manne dienen. So 
verſchließen Sie iby das Leben und bindern fie am gottbefoblenen Kampf. Es wird 
beliebig zwiſchen den Seilen gelefen, bald fo, bald fo. Cin Prinzip gebt voran und 
biegt und verbiegt und zerbricht. Gott fpricht in der Bibel, fo beift’s, aber wehe 
ibm, wenn er anders jpricht, als fein eingiges Ehenbild, der Mann, es will, dann tut 
man ibm Gewalt an.” 

„Laſſen wir das, es führt zu weit,” fagte Cheling mit feiner mildejten Stimme. 
» Regen Sie fic) nicht auf! Laſſen Sie uns das Wichtigſte befpreden, wir haben es 
nod) nicht berührt!“ 

„Ja, es regt mich auf,” fagte die Frau und bolte tief WAtem. 

Sie ging an3 Feniter, Die großen braunen Augen fuchten den Horizont. Den 
rebenumwachſenen Berg, dev binter freundlichen Wiefen, Garten und Villen aufwärts— 
ſtieg, krönten Walder. Cie bildeten eine ſchwarze Mauer mit unregelmafigen zarten 
Spiten, felten Wölbungen und tiefen, fenfrechten Cinfehnitten. Hier war's, wo 
Himmel und Erde cinander umfaften, als vermählten ſich Seit und Ewigkeit, damit 
alle Minder der Zeit ftrads hineinzögen in das neue Reich. 

Es herrſchte villige Stille im Zimmer. Celtfam, dah Cheling die großen, weiden, 
perſiſchen Teppiche, die Chaifelonque mit den vielen, zu bequemer Rube ladenden Riffen, 
die ſchweren Tür- und Fenjtervorhinge mit ibren tiefen, weichen Falten, all’ die febiigenden, 
wärmenden, zierenden Behänge, Sebirme, Gandarbeiten, und was es fonit noc gab, 
mit all’ den koſtbaren Stickereien, daß ibm fein ganzes Zimmer, an deſſen Verſchöne— 
rung er immer noch arbeitete, plötzlich echt ſybaritiſch erſchien, wie eine Verleug— 
nung jeglichen Kampfes. Es war keine angenebme Vorjtellung, um jo minder ange: 
nebt, alg dort am Fenfter cine Frau ſtand, von der er wußte, daß ſie den Kampf 
nicht mied, ſondern ihn ſuchte als eine Pflicht und ein Recht. Er bewunderte ihre 
riidjichtstofe Selbſtändigkeit, ihr völliges Muf-fich-beruben, dann wieder ſchämte ex fich 
diefer Bewunderuna. 

west löſte fic) die Frau aus ibrem Schauen. 

Sie ſah dem Doftor gerade ins Geſicht mit einer feftfamen unperſönlichen 
Ehrlichkeit. 

„Da habe ich mir eben eine Frucht vom Baume der Erkenntnis gepflückt,“ ſagte 
ſie. Sie bot ſich mir dar. Ich möchte Ihnen davon zu koſten geben, Herr Doktor. 
Ich ſah im Geiſte eine Bibel, da ſtand: Und die Schlange ſprach zum Manne. Und 
der Mann nahm die Frucht, aß, und gab ſeinem Weibe auch davon. Und das Weib 
ſprach zu Gott: Der Wiann, dem Du mich jugefellet haſt, qab mir davon und ich af. 
Und min hören Sie, wie die befannten Handlungen bei vertauſchten Rollen gedeutet 


346 1. Moſes 3. 


wurden. Des ManneS Tat hieß cine Prometheustat; Grofmut ijt e3, nicht Ver— 
fiibrung, dak er dem Weibe die Frucht yum Migenießen reichte. Das Weib aber 
lohnte des Mannes Hochherzigkeit mit erbärmlichem Klatſch uſw. Geben Sie die 
Moöglichkeit einer ſolchen Deutung zu, Herr Doktor?” 

Ebeling ſtarrte die Frau an, faſt faſſungslos. Cie hatte ibm wirklich cine Frucht 
vom Baume der Erkenntnis gereicht, aber er zögerte fie zu nebmen. 

„Laſſen Sie uns das Wichtigite beſprechen, “ fagte er nod) einmal. „Wir haben 
Die Knaben ganz ausgefchaltet, wm die es fich im letzten Grunde doch handelt.“ 

„Ja, das Wichtigſte iſt noch nicht berührt,“ ſagte die Frau. „Das alles waren 
eigentlich nur Vorreden, notwendige freilich. Es war die Schale, jetzt kommt der Kern. 
Wie wollen Sie es rechtfertigen, Herr Doktor, daß Unſittliches in die Religion hinein— 
getragen wird als ein Teil ihres Seins, um gleichzeitig durch ſie das Wunder zu 
bewirken, daß die Unſittlichkeit höchſte Sittlichteit wird?” 

„Gnädige Frau! Alle Achtung vor Abrem Intellekt und guten Willen,” ſagte 
Cheling heftig, ,aber Sie ſchießen über das Biel. Dergleichen Anflagen beruben aut 
Begriffsuntlarbeit. Ady fiible mic nicht getroffen. Ach habe meine Weltanſchauung. 
Sie vertrigt fic) mit der Religion und mit der Bibel, das biirgt fiir ibre Sittlichkeit. 
Ich verftebe, dak es Wabrheiten gibt, die Sie ſchmerzen müſſen. Tröſten Cie ſich da— 
mit, day Ste eine Ausnahme find, denn es gibt Ausnabmen, das geftebe icy bereit- 
williq zu.“ 

„Es kümmert mich wenig, welch einen Platz Sie meiner Perſon in Abrem Syſtem 
einrdumen,” fagte die Frau ironiſch. „Bemerkenswert ijt es aber dod, dak Gott, 
Shr Gott, nur zu tröſten vermag, wenn er Ausnahmen ſchafft. Wher nun yur Hauptſache. 
Sie untergraben die Familie, Herr Doftor, Sie locern die beiligiten Bande der Natur.“ 

Eheling ftiigte Den Kopf in die Hand. Mit jeinem Denfen war es heute übel 
beftellt. Es feblte die Nlarbeit, die Reinheit, Frembdes drängte fic hinein, dag fics dem 
fein gefcbliffenen Beftand nicht fiigen wollte. 

„Schicken Sie mir die Jungen 3u,” fagte er, „das wird das Beſte fein. Cs 
muß Mißverſtändniſſe gegeben haben. Es gibt ein Zwiſchen den Zeilen lefen 
auch bei dem geſprochenen Wort, das haben die Jungen im Geiſt ihrer Flegel— 
jahre probiert. Es tut mir leid, daß Sie darunter gelitten haben. Schicken Sie die 
Jungen mir zu, ich werde ihnen den Kopf zurechtſetzen.“ 

„Nein,“ ſagte die Frau, „das Zurechtrücken beſorge ich. Was ich nicht ſelbſt 
aufzubauen verſtehe, reißt mir ein anderer leicht wieder nieder. Auch gibt es noch 
etwas anderes zurechtzurücken als den Kopf — das Herz — das dürfte fo ganz Ihre 
Sache nicht ſein. Ich kam nicht, Sie um Hilfe zu bitten, ich kam, Ihnen zu ſagen, 
welch eine ſchwere Verantwortung Sie tragen durch Ausſtreuen ſolcher Saat auf un— 
berührten Acker. Was ſpäter geſäet wird, wird Mühe haben ſich zu behaupten, wenn 
nicht jemand da ijt, Der mit Hacke und Spaten und ätzender Lange den Acker rück— 
jichtslos faubert, den Cie, Herr Doftor, als Säemann betreten haben. Diefen rück— 
fichtslofen Kampf nehme ich auf, denn es handelt ſich um fünf prächtige Burſchen und 
um alle die, deren Freud und Leid einſt an ihr Dajein geknüpft ſein wird.“ 

„Sagen Sie mir, bitte, die Namen der Knaben,“ ſagte Ebeling. „Was ich ge— 
ſprochen habe, gibt wirklich zu ſolcher Entrüſtung feinen Anlaß. Es find Wahrheiten, 
die ſo alt ſind, wie die Welt, die ſchon fontrete Form gewannen, als das exjte Menſchen— 
paar fiel und litt. Iſt die Familie über dieſen Wahrheiten zu Grunde gegangen? 
Hat fie fic micht immer mebr gehboben und geläutert in den Beziehungen der einzelnen 
“lieder yu einander? Die Jungen waren gewalttitiqe Anterpreten, ich muß fie beſſer 
fennen lernen und fejter ing Ange faifen.” 

„Herr Doktor,” fagte die Frau, „was folche Anterpretation ermöglicht, follte 
licber niddt gqeboten werden. Die Namen der fiinf Buben nemne ich nicht. Ich freue 
mid, dak Sie den meinen vergeſſen haben, nun können meine beiden Fleinen Leute 
nicht 3u Verrätern werden. Den Kindern ift feim Vorwurf zu machen, ibre Wäſſerlein 
flojjen rein, ebe 1. Moſ. 3 zur Befprechung fame” 


a 


1. Mofes 3. 347 


Eheling war allen. Der Tee in der Kanne war falt geworden. Cr jiindete 
fich eine Sigarette an. Ther dem Berge ftanden rofenfarbene Wolfen, durchfichtige, 
lange Streifen, die über den Himmel griffen wie wehende Schleier. Hier und da 
freusten fie fich, al8 bliefe der Wind von zwei Seiten. Der ſchwarze Wald hob ſich 
ftreng als cine fefte Maſſe von dem Lichtmeer, da hinter ihm das All ju beſitzen 
ſchien. Wie eine Burg ftand er da, von der man Ausfſchau halten könnte in die zwei 
Welten, die zu einander gehören und jich doch nicht vereinigen finnen. Der Doktor 
trat ans Fenjter. 

Er jah den Tag zur Riifte geben. Alle Farben nabm er mit ſich binab. So 
tebren fie nie wieder, — aud er, der Tag, febrt nie wieder, fein Bruder it’s, dev 
kommen wird, Ebeling ſtarrte auf die ergrauenden Wolfen. 

Der Abendwind hatte fic) aufgemacht, er fiiblte feinen falten Atem fo. dicht vor 
den Scheiben. Cheling zündete das Gas an, feine Haushalterin fam, die Laden zu 
ſchließen. Cin rofa Lampenſchirm dämpfte bas Licht; wie Sonnenunterganggitimmung 
lag es auf allen Bildern und Büſten des Zimmers, auch auf den Büchern. Auch 
auf der Bibel dort auf dem Tiſch neben dem ſilbernen Schälchen mit dem Zigarren⸗ 
bündel. 

Wie kam ſie dorthin? Das eingepreßte Goldkreuz auf dem Deckel, die goldene 
Krone darunter, das goldene E., daß den Abſchluß bildete, fie alle batten ihr Gold 
mit Dem jarten Roja getränkt. Sonnenuntergangsſtimmung aud) bier, 

Ebeling wurde gan; irre. Dieje Bibel hatte er feit Jahren nicht in der Hand 
gebabt; er hatte einmal nad) ibe gejucht, obne fie zu finden. Wie fam fie hierher? 
Ach ja, die Frau — fie hatte dort nach oben gegriffen, nach den Borden fiber dem 
Schreibtiſch und jie beruntergelangt. 

Er ſetzte fice) in den Schaufelftubl und fab die Bibel an. 

Eine neue Bibel — die alte Bibel. — Ja, vom alten Tage empfing ſie der 
neue Tag — eine alte Bibel! Ein Tag gibt ſie dem andern!“ 

Er hob den Deckel und las: 

Den Geheimen Regierungsrat Ebelingſchen Eheleuten zu Königsberg aus Veran— 
laſſung der Feier ihrer goldenen Hochzeit zum Andenken gewidmet. 

Sansſouci, den 15. November 1856. Eliſabeth. 

Seine Urgroßeltern hatten dieſe Bibel von ihrer Königin erhalten. 

Ein Zettel lag auf der erſten Seite mit dem Sprüchlein: Fürchte dich nicht, 
denn ich bin mit dir, weiche nicht, denn ich bin dein Gott! 

Maria Ebeling, geb. v v. Winterfeld, lautete die Unterſchrift. Der ſtammte von 
ſeiner Großmutter. Und noch ein Blatt fand er. Er wußte, noch ehe er es aus— 
einanderfaltete, was es bringen mußte, denn er hatte auf der Riidfeite ſchon die 
elle Handjebrift feiner Mutter erfannt. Und richtig, ba ftand, was fie über alles 
wert biclt: 

1. Shor. 13. Renn ich mit Menschen: umd mit Engelszungen redete und hätte 
der Liebe nicht, fo wäre ich cin tinend Erz oder cine Flingende Sdelle. ... 

Ebeling las, was er ausivendig wufte, langſam bis zu Ende. Jedes Wort 
hatte Leben und brannte wie Feuer. 

Unſer Wiſſen iſt Stückwerk! Drei Frauen hatten ihre Namen in dieſe 
Bibel eingetragen, einer vierten ward fie jum Geſchenk am Rande des Grabes. Was 
hatte die Bibel ibnen gebracht? Gatte fie fie auch betrogen? Betrogen? Nun ja, 
die Frau, die ihm dic Bibel hier auf den Tiſch gelegt bat, qlaubte fich betrogen, weil 
die Bibel dem Manne das Erſtgeburtsrecht mit ſeiner ganzen Fülle reicheren Segens 
zuſpricht. Stand ſie neben dieſen vier Frauen, ſtand ſie ihnen gegenüber? 

Die Stille ſeines Zimmers ſchien ſich zu beleben. Es war, als atme die Zeit 
und trüge Stimmen auf jedem Hauch, als ſich der Raum mit leiſe Schreitenden. 
Die Gedanken jener Frauen jchritten durch das Sinner, ſchmerzgeborne Gedanten, 
Gedanken, die fein Frember ibnen gegeben hatte, die fein Erbe waren, von ifren 
Ahnen ſorglich für ſie geſanimelt und gehütet und poll Stol; ihnen jum Stolze 
gereicht, Gedanfen, die Das eigne Yeben, das eigne Leid, der Hunger der darbenden 


348 1, Moſes 3. 


Seele erjeugt und erjogen batten. Kein Wunder, dah die Luft fo ſchwül und fo 
ſchwer war. 

Cheling öffnete das Fenſter. Aber nun trieh der Abendiwind feuchte Nebel ing 
Zimmer, Trinengewander fiir die frierenden Gedanfen der Frauen. 

„Wenn ich's einmal verfuchte,” der Doktor ſchloß haſtig das Fenfter und flüchtete 
in feinen Schaufeljtubl, „das ,tat-twam asi‘ — ,died biſt du‘ — auch bier verfuchte? 
Hat e3 je cin Mann getan? Hat's je ein Mann gefonnt? Chrijtus, als er yu den 
Männern, die ibm die Chebrecherin daritellten ins Mittel des Tempels, alfo fprach: 
Wer unter eud) ohne Siinde ijt, der werfe den erften Stein auf fie? Sprac er von 
gleicher Siinde bei Mann und Weib? Sie gingen alle hinaus, die vielen Manner, 
Die Das cine Weib verflagten, einer nad dem andern, von den Wltejten bis yu den 
Geringiten. Für fic) batten fie fein Urteil verlangt, frei durften fie den Tempel 
betreten und fret batten fie dem Herrn ins Auge gefdaut, er aber maf dag Weib an 
ibnen und fie am Weibe, da zerbrac ihre Gerechtigkeit und fie verliefen den Tempel, 
in Dem ein Chrijtus ftand. 

Sa, das war Das ,,tat-twam asi“, Jeſus fannte es. 

Uber ob es immer wirfte, zu jeder Zeit und jeder Stunde, ob es nur in 
jeltnen Augenblicken über ibn fam, ein Mitleid aus Mitleid, daß es hier cin volles 
,tat-twam asi nicht gab? e 

Ja, wenn er dort, wo er das Leben aller in fein Leben hineinjog, wo er das 
Leben jedes Geringften fein Leben nannte, nur einmal von Schweſtern geredet bitte, 
wenn er gefagt hatte: „Was iby getan habt einer unter diefen meinen geringften 
Schweſtern, das babt ibr mir getan. —“ 

Aber hatte er Das Denn nicht gefagt? 

Heiß jagte dem Nachdenklichen das Blut durch die Adern, cine ganze Holle von 
Vorjtellungen ſtieg in ibm auf. 

Die Geringiten der Schwejtern, die Armſten der Frauen, jene Armjten — 

Es brannte in feiner Seele und in feinen Sinnen, was man an ibnen getan 
hatte und nod) tat. 

„Was ihr der geringjten meiner Schweſtern getan habt, das babt ibr mir 
getan!” 

„Furchtbar!“ 

Ebeling ſprang auf. 

Jeſus geſchändet! Zu allen Zeiten, in allen Staaten, in den Städten der ehr— 
baren Biirger, von der Jugend und dem Alter, von feinen Freunden, von ibm — 
von ibm! 

Eheling ertrug den Gedanfen nicht, der fics ifm aufdrängte in Vorjtellungen 
und Bildern, alg Saat und Ernte, in taufend Sehlugfolgerungen, in Rujammenbhangen, 
Die in febauerlicher Klarheit leuchteten. Er war wie im Fieber, und in den Obren 
tinte eS wie jum Weltgericht: „Von den Alteſten bis zu den Geringften, fie alle 
mupten den Tempel verlajjen, da Chriftus innen ftand!” 

Ebeling warf einen ſcheuen Blick auf die Bibel. Sie lag aufgefeblagen da, aber 
er hatte nicht Den Mut, fie zu beriibren. Er griff nach feinem Hute, er mupte an die Luft. 


* * 
* 


Es dunkelte lange ſchon. Nebel und ſchwere, ſchwarze Rauchmaſſen, die nicht 
entweichen konnten, bildeten eine undurchdringliche Dede, die unmittelbar über den 
Dächern ausgeſpannt zu ſein ſchien. Ebeling kannte das. Wenn er den Rebberg 
hinaufſtieg, bis zum Waldrand wanderte oder gar fünf Minuten weiter zwiſchen Buchen 
und Tannen hindurch die hohe, freie Waldwieſe aufſuchte, dann war die Möglichkeit 
vorhanden, den Sonnenweg am Horizont zu ahnen in lichter Dämmerhelle; dann war 
die Möglichkeit vorhanden, den aus ſchlimmer Umarmung befreiten Nebel entweichen 
zu ſehen und über ſich Klarheit zu ſchauen als feſten Grund für erſtes, ſanftes 
Schimmern der harrenden Sterne und fiir wandernde Wolfen. 





1. Mofes 3. 849 


Ebeling war auf der Straße. Es war die troftlofeite, unerquidlichite Beit. Die 
Fabrifen ſpieen Menfeben aus yu Hunderten, ju Taufenden, und immer noch tinten 
Pfeiſen, Läuten, Cirenenfiqnale von allen Himmelsrictungen beriiber. Bon allen 
Punkten der Peripherie, aus dem Sentrum der Stadt, aus Haupt: und Rebenftrafen 
fam die Menge bherbeigeitampft in großen und kleinen Menfdrentrupps, zu Dreien, 
zu Sweien, ein Cinfamer. Der Boden evdrdbnte, als rüſte fic) cin Heer zur Feld- 
ſchlacht. 

Ebeling mußte hindurch. In der ſchmalen Hauptſtraße kam es zu Stauungen. 
Dort befanden ſich vier große Warenhäuſer, die durch Säulenanſchläge und bogen— 
füllende Inſerate in jeder Woche drei bis vier billige Tage proflamierten, Tage, an denen 
nicht yu faufen ſich drmer machen hieß, denn jeden Cinfauf lohnte ein feinen Wert 
um das Doppelte überſteigendes Geſchenk. Diefer Lodung unterlagen die um ein gutes 
Stück Menjdentum Betrogenen, die Ceben, Urteilen und Sufunftsdenfen bei thren 
Maſchinen verlernten. Sie ſtrömten den Warenhäuſern yu jum Gaffen, Befprechen 
und RKaufen. 

Ebeling befand fich pliglich unter einer Schar von Frauen, jungen und altern: 
Den, müden, deren Tag inmitten der Jugend fich neigte, und ausgelafjen luſtigen, deren 
Lebensgeifter wild fidy tummelten, um jede Erinnerung an die abgeitreiften Feſſeln der 
Arbeit ju vernichten. Wie yur Mufterung ftanden fie um Ebeling berum, einer 
Muſterung, yu dev ein „Rührt Euch“ ausgegeben worden war, damit es feine Pofe, 
fein Verbergen, feine Unwahrheit gabe. 

Mühſelig, beladen und unerquidt! das [as Cheling aus ibren Zügen. Für die 
Männer dort fprudelten nod Quellen; neben ihren Pflichten ftanden Rechte, darum 
warb man um fie und bot ibnen bie und da geiftige Nabrung. Die Freibeit des 
Verfommendiirfens und die Unfreiheit den eignen innern Gefegen gemäß fic) zu ent: 
wideln, bas war der Frauen Teil. Miibfelig, beladen und unerquidt! 

Als es Ebeling eben gelungen war, fic) aus dem Kreiſe binausjuwinden, fab er, 
was er oft gefeben, nie aber in dtejer wunderlichen Stimmung, die Dem ſturmgepeitſchten 
Meere glich, das die Tiefe auſwühlt und feine Gebeimnijje dem Tage preisgibt. 

Das jüngſte der Madchen, cin halbes Rind noch, mit bleichem Geficht, dunflen 
Augen und jerjaujtem blonden Haar, dejjen lichte Einzelfäden fic) wie zu einem 
Glorienfebein aufwärts rantten, war ihm nachgeſchlüpft von den Genoffinnen weg. 
Jetzt verfchwand fie an der Seite cined Herr, den Ebeling wohl fannte, in dem 
Gewühl. 

Geſtern noch hätte Ebeling das kleine Erlebnis ſchnell abgetan, mit jenem viel— 
ſagenden Lächeln, das ibn mit der Mehrzahl ſeiner Geſchlechtsgenoſſen zu einer 
Geſinnungsgemeinſchaft verband, und mit der Überzeugung: Sie ijt wenigſtens Weib, 
Arbeit allein läßt das Weib im Weibe verkümmern. Heute lebte er in einer andern 
Vorftellungswelt, er fab mit unheimlicher Deutlichkeit, wie das Leben, wie die Welt, 
wie der Mann fold Weibſein lohnte. 

„Was ibr getan habt einer unter diefen meinen geringſten Schweſtern, das babt 
iby mir getan,“ wieder ging es ibm mit ebernem Rlang durch Ropf und Herz, es gab 
fein Entfliehen. 

Er war nun zwiſchen den Mauern de3 Rebbergs und ftieq binan bis zum Rande 
deS Waldes. Der Nebel hatte feine Schwere verloren, er lebte, glitt, ſchwebte, ſchloß 
ſich zuſammen und tat fic auseinander, huſchte zwiſchen den Baumen hindurd und 
jeblang fic) um Stamme und Kronen, alles nach feſten Gefegen, dte dod) fo völlig der 
Willfiir glichen. Er war von mattfilbernem Licht durchflutet, die Lichtquelle war nicht 
zu entdecen. Tiefer im Walde lajtete totes Duntel zwiſchen den nabe beieinander 
jtebenden Stämmen. 

Ebeling blich am Rande, die nachtſchwarze Stille febredte ibn. Cr tat einen 
tiefen Atemzug. Die Luft war rein und friſch, fle erquidte thn. 

„Mühſelig, beladen und unerquidt! fo laffen wir das Leben unferer Schivejtern, 
und bei den Geringfiten werfen wir noch einen Stein in die bittere Flut, das iſt die 
Schande.“ 


850 1, Mofes 3. 


Er war wieder auf dem alten Pfade, aber jest wollte er dort fein, er mufte 
alles zu Ende denfen, heute nod) in diejer Stunde. Es fam ibm cine grofe Rraft, 
jeden Vergleich, jede Halbheit lehnte er ab, wie jene Frau nabm er Hade und Spaten 
und digende Lauge zur Hand, fich frete Bahn zu ſchaffen, ebe er baute. Die ehrlichen 
Augen der Frau überwachten feine Gedanken, fie ließen ibn nicht los. Und er fragte 
fih, wo nimmt fie, die Die Mühſeligkeit und Beladenheit des Weibes mit fo feiten 
Stricken gezeichnet hat, die Erquidung ber, deren fie bedarf, um ſich felbjt gu be: 

aupten ? 

, Qn ibren Mugen [as er die Antwort. Die Gewifbeit der Unmittelbarfeit ibres 
SeinS war ibres Lebens Leben, fie fühlte fic) Gottes Bild und Chre, fie wußte, 
„hier ijt fein Knecht nod) Freier, hier ijt fein Mann nod Weib, denn ihr jeid 
alljumal Einer.“ 

„In Chriſto Jeſu“, fiigte Ebeling diefen Gedanten hingu. 

„Allzumal Einer —“ 

Hier lag das große Vergeſſen, das furchtbare Vergeſſen. Man hatte es Langit 
ſchon beilig geſprochen, wenngleich es Elend, Jammer und Leiden in die Menſchheit 
bineintrug. 

Der Nebel wich nicht. Immer nod trieb er fein ftilles Spiel, er verhiillte 
und gab frei, immer nod) hatte er das mattfilberne Leuchten, dad ibn fichthar machte, 
immer noc trennte die madtige Baumreibe am Waldrande diejes dämmerige Wallen 
und Weben von dem ftarren Dunkel waldeinwirts. 

„Dunkel und balbes Seben, das war's bisher,” dachte Cheling. „Die Augen 
werden lichtſcheu, die Dammerung ſchläfert ein, man qreift nach weichen Kiſſen und 
plötzlich ſagt Defus: Was ibr getan habt einer unter Ddiefen meinen geringiten 
Schweftern, das habt ibr mir getan. Hier ijt Fein Mann nocd Weib, ibr jeid 
alljumal Einer!“ 

Ebeling hatte die Wabrbeit gefunden, das, was ibm Wabrbeit war. Jbr 
Angeficht erſchien ihm furchtbar, weil er an ihr gefrevelt hatte, an jedem Teil ibres 
Seins. 

Noch als er auf und niederging in dem Nebelflimmer, das tote Dunkel zur Seite, 
und mit der eignen Vergangenheit rang, kam auch, zaghaft zuerſt, dann plötzlich und 
unbedingt wie ein freies Liebesgeſchenk, die ſtille Zuverſicht einer Erlöſung. 

Er ſchritt heimwärts. Das Laub raſchelte unter ſeinen Füßen, die Nebel um— 
webten ihn, ein leiſes Zittern ging durch die Kronen der Bäume. 

Ging nicht jemand neben ihm? Es rauſchte wie von Frauengewändern, dann war 
es ſo ſtill, als hielte alles den Atem an, die Natur und was in ihr lebte, — die 
Wandernden alle. 

Ebeling blieb ſtehen, ſelbſt atemlbs von einem heißen Erſchauern. Er wußte, 
welche Frauen ſeinen Gedanken das Geleite gaben und mit ihm redeten in dieſem 
Schweigen. Das Schweigen floß über in leiſes Flüſtern zwiſchen den Zweigen, das 
gehörte zu dem Schweigen, weil es aus ihm geboren war. 

Lange ſtand Ebeling da geſenkten Hauptes und lauſchte; er vermochte kaum zu 
unterſcheiden, ob er Stimmen von außen oder in ſeinem Innern vernähme. Als er 
den erſten Schritt vorwärts tat, klang das Raſcheln des Laubes grell und hart wie ein 
Fremdes. Er zuckte zurück, als habe er ein Reptil berührt. Dann hob er das Haupt. 
„Und Du ſollſt der Schlange den Kopf zertreten, der alten Schlange, der Lüge der 
Lügen!“ 

Feſten Fußes ging er zurück durch den ſilbernen Nebel, durch die trübe Rauchluft 
der Stadt in ſein Heim. In ſeinem Zimmer lag noch die aufgeſchlagene Bibel auf dem 
großen Tiſch, genau in dem Mittelpunkt unter der großen Hängelampe. 


—— 


351 


— Vadder Bito. — 


Shig3e 


Naddbrud verboten. 


Sn den zwanziger Jahren war's, als er 
feine Shute Tag fir Tag, Gonntag und 
Afltag — den Charfreitag ausgenommen, an 
dem er mit fener fleinen, dicken Ehehälfte 
gum WAbendmabhle ging — zwiſchen Stralfund 
und Ulte- Fabre hin und ber fiihrte. Pafjagiere 
hatte er immer; denn fein ftattlider Dampfer 
lag an der Fährbrücke und ließ fiber bequem 
zurechtgelegte Planfen ftolje Karoſſen donnern, 
lachende Touriſten wandeln. Rügen war ſo 
ſchön, wie es heute iſt — vielleicht noch 
ſchöner, je nach Geſchmack —; aber es ward 
fein Auſhebens davon gemacht. Kein Menſch 
ſtaunte vom Königsſtuhl, auf Stubbenkammer, 
hinunter auf ein winziges Etwas, das ſich 
wie ein Kinderſpielzeug auf den blauen Fluten 
ded Jasmunder-Boddens ausnahm, in Wahrheit 
aber ein gang anſehnliches Fahrzeug mit zwei 
Maften fein fonnte. Reine Seele, aufer dem 
Niger, durchwanderte die lieblide Granig und 
ftérte die Hirſch- und Rebjamilien in ihrer 
Behaglichkeit. Niemand ftieg ins falte Waffer, 
wenn er nidt Fifder oder Waſchweib war, 
und nirgends rod) es nad) Beefſteak und Bier. 
Was aber hiniiber wollte auf die Inſel: Herr 
oder Knecht, Traber oder Udergaul, wappen: 
geſchmückte Kutſche oder voriweltlides Pfarr— 
Vebhifel, hatte ju warten an der Fährbrücke 
big Badder Biito und Kollegen die breiten 
Schuten flott madten. Das gefdab langſam 
und ſchweigſam, unter beſtändiger Umſchau die 
Fährſtraße hinauf — unmöglich war dod 
nidt, daß nod ein Fuhrwerk oder cin Fabrgaft 
in Cidt fame, und das Mitnehmen war 
„all ein awmalen.“ 

Oft hatten die Fährleute ſchwere Zeiten. 
Mußten die plumpen Schuten auf der Alten— 
Fähre (Rügenſche Seite) gleich wieder wenden, 
den beſchwerlichen Weg über den Gellen 


von 


Ina Rex. 





(ſchmales Fahrwaſſer zwiſchen Stralfund und 
Rügen) zurück machen, landen, einladen, den 
Stadttürmen den Rücken kehren und ſofort 
faſt Tag und Nacht. Das war um die Zeit 
der Rügenſchen Märkte. 

Nicht alle fielen in den Sommer. Hübſch 
auf die Jahreszeiten verteilt, verſorgten ſie 
den Kleinſtädter, den Gutsbeſitzer, Pächter, 
Bauern und Büdner mit allem, was ſeines 
Leibes Nahrung und Notdurft nicht unmittelbar 
von der Scholle empfing. In rieſigen Kiſten, 
in Säcken und Tonnen lag es verpadt und 
ftapelte fid) fdion tagelang vorber an dem 
Bollwerk vor dem Fabrtore auf. Die breiten 
Rollwagen befdrderten immer neue Laften 
bie Fährſtraße herunter, und an der Briide 
warteten die Raufleute, die Kürſchner-, 
Schuſter-⸗, Klempnermeifter, die Süßküchen— 
fabrifanten und Bonbonsfieder mit Gattinnen 
und anderen Hilfstruppen jum CEmpfang 
und zur Berladung der Waren. Celbjt 
bie ,,alte Garde” — wetterfeſte Manner 
in Holzſchuhen und Pudelmiigen, vom Volls— 
wis mit ihrem Namen und bem Wahlſpruch 
„Arbeit macht das Leben ſüß, Faulbheit ſtärkt 
die Glieder“ verſehen, mit kurzen Tonpfeifen 
zwiſchen den braunen Zähnen und viel, viel 
Geduld unter dem ſchmierigen Kittel —, die 
ſich ſonſt an der Ballaſtkiſte yu ſonnen pflegte, 
war an jenen ereignisreichen Tagen von 
unheimlicher Lebendigkeit. UÜberall im Wege 
ſtehend, alles befühlend, beſchnüffelnd, beredend, 
war ihr plötzlicher Tätigkeitstrieb den wirklich 
Emſigen meiſtens mehr Hindernis als Förderung. 
Doch ließ ſich von Gutmütigen auch die 
ungeſchickteſte Fauſt noch verwerten und ward 
für die karge Leiſtung mit einem Silbergroſchen 
oder einem „Schluck“ aus der breiten Brannt— 
weinflaſche königlich belohnt. 


B52 


Da war ber Gingfter Markt, der Sagarder-, | 


der Lankner-, der Altenkirdner-, der Puttbufer 
und der Gergers — der grofartigfte und 
befuchtefte — und ju allen lieferte bie alte 
Hanfeftadt das „Großſtädtiſche“. Berlin lag 
weit ab, viel, viel, viel weiter wie heute, 
wenig Menſchen wußten davon. Und hatte 
gar jemand einen BVerivandten oder Befannten 
bort, fo gedadte man feiner wobl mit Rilbrung 
alg eines Verſchollenen, oft auc als eined 
Bedrangten, Verwebten. Man [as dod in 
der ſpärlich erſcheinenden Seitung von Dieb- 
ftabl und Mord — fegte fid) an den warmen 
Rachelofen und graulte fid. 
* 9 
* 

Herbſt war's, und auf den 8. Oftober vom 
hoben, woblldbliden Magijtrat der Pferde-, 
Sdiweine-, Ganfes und Krammarft fiir dte 
Kreisſtadt Bergen feſtgeſetzt. 

Die Nordoſtſtürme batten fic) früh auf— 
gemacht, pfiffen um die Ballaftfifte herum 
und wälzten die breiten Schuten an der Fähr— 
brücke hin und her. Vadder Büto ſah es mit 
Beſorgnis, fein altes, vielgeflicktes Fahrzeug 
war bid aufs äußerſte belaſtet. Herr v. B. . . .en 
ſtand auf der Brücke, ſah ſeine alte Kaleſche 
über das Trittbrett poltern und ſtieg bedächtig 
hinter her. Er war ein ſchwerer Mann. 
Mißtrauiſch ließ er die morſchen Planken 
unter ſeinen breiten Füßen ſchüttern, bob 
warnend den Zeigefinger und ſprach zum 
Alten, der mit dem Tauende in der Fauſt 
nod auf dem Bollwerk ſtand: „Büto! Büto! 
gahn wi hier tun Deubel mit Fuhrwark un 
Lüd, kümmſt Du in't Lock!“ 

„Nee, Herr“, ſagte der Alte, „dat hätt 
nir upp fif, denn fo verſup id mit. Dat geiht 
hüt a3 ümmer.“ Gr ſchob ben Priem beffer 
awifden die Rufen, fpie nacbdriidlid aus und 
machte gelafjen [08 Herr v. Bo. . cen 
tajtete fic) die dunkle Treppe hinunter in die 
Heine, dumpfe Rajiite. 

Oben gab’s lebhafte Unterbaltung. Die 
Frauen wußten noch mebr als die Manner, 
und Mudder Fiedelmeier das allermeiite. Auf 
ihrer boben Kijte mit Süß- wud den weit und 
breit beriihmten Annistuden fiend, die Hande 
unter dem grofen, wollenen Umſchlagtuche 
geborgen, fiillte fie mit ibrer wohlgenährten 
Perfinlidfeit ein gut Strid Schiff aus. 





Vadder Biito. 


„Weit Si all? — Tribbelwits ward verköft. 
Hei hatt ſik richtig dodſapen.“ 

„Wehn? de off Burmeiſter? — —“ 

„Je, dei. De Lüd ſegen, dat geiht noch 
äwer Harwſt los. Fru un Kinner batt bei 
jo nich, un wat de Arben ſünd, dy täuben 
nid) lang.“ 

„De friegen bannig Geld in be Wull.” 

„Dat will id meinen; man ierft mit’: 
verfift fin. Jedverein fann’t nid anfaten, 
dor hürt wat to!” 

Büto murmelt etwas in den grauen Bart, 
wirft cinen fpabenden Blid fiber dad Fahrzeug 
weg auf die im Vorderraum untergebvadten, 
aufgeregt trampelnden Pferde, faut feinen 
Priem und fpeit. Niemand im Kabn bat bem 
Alten angemerft, wie febr ibn die Neuigfeit 
interefftert bat. Niemand fiimmert fid darum, 
alg er jegt -bie Treppe binunterftelpert und 
mit Herrn v. B... .en ein Gefprad an— 
jingt. Und Wind und Wogen verfdlingen 
bas nidt unbedeutende Geräuſch, dad der 
adlige Gutsbefiter dort unten in dem engen 
Raum vollfiihrt, indem er dröhnend mit der 
breiten Fauft den fplitterigen Tiſch bearbeitet 
und ſchallend dazu lacht, wie über cinen guten 
Wig. 


* ” 
a 


Vier Woden ſpäter ift alles genau fo; 
nur fabrt man jum Gingfter = Markt und 
Mudder Fiedelmeier fist zwiſchen zwei Kiſten. 
Auf bem Lande geht das Geſchäft flotter als 
in ber Kreisftadt, two jeder Bader ibr in ben 
Kram pfufdt. Und neben dem alten Büto 


| liegt jujammengefaltet ein blauer Geemanné: 


jacer au} der ſchmalen Steuerbant. 
Mit allen Fahrgäſten zieht Büto diesmal 


landeinwärts. eden Fragenden tweift er hurz 
ab. Sein Fahrzeug bewacht fiir ’nen blanken 





ſchwirren. 


„Funken“ ein Gardemann von der Ballaſtkiſte. 

Nach einigen Stunden ſtrammen Marſches 
erreicht er den ſtattlichen Tribbelwitzer Hof, 
windet ſich durch die Karoſſen, Halbchaiſen 
und Jagdwagen hindurch, betritt dad Herren: 
haus und, dem Schall vieler Stimmen nach— 
gehend, den Speiſeſaal. 

Man iſt ſchon mitten in der Arbeit. Büto 
hat den Südweſter abgenommen und läßt ſich 
die gewaltigen Summen um den Graufopf 
Hier und dba trifft ihn der bes 


Vadder Bilto. 


frembete Blid irgend eines Qunfers; es ftirt 
ibn nicht. Er drängt fic naber an den Tijd, 
bon bem aus Herren ibre Brillenglajer über 
die aufgeregt debatticrende und geftifulierende 
Menge hinbligen laſſen, wartet auf eine Pauſe 
und gibt fein Gebot ab. WMindeftens zehn 
Köpfe fabren fofort berum, und doppelt jo 
viele Mugen bobren ſich in die kleinen, ver: 
funfenen, rotberanderten des Wien. Der ftebt 
wie cin Pfahl, flein, did, fteif, in ſeinem 
blauen Jächert — den Abendmablérod, in 
dem er ſchon getraut worden war, zieht er 
zu „ſowas“ nod) Lange nidt an — und in 
feiner alten Manchefter-Hofe mit dem fauber 
eingefesten, duntlen Fliden auf bem Rnie, 
und wartet. 

Der rotblonde Kopf des Advofaten Schroder 
redt fid) auf dem furjen Halfe bin und ber, 
den neuen Bieter gu entdecken. Büto wieder: 
bolt langſam und gemadlid in rictigem 
Pommerſchen Platt fein Angebot. 

Ringsherum wird es I[ebendig. Herr 
v. B. . . en ſchlägt auf den Tif und 
ſchreit lachend: „Wahrhaftig! —“ Herr v. S... 
durchbricht mit ſeiner ſtarlen Stimme den 
Lärm. Sich wohlwollend dem Alten zu— 
wendend ſagte er mit etwas Mitleid und viel 
Spott im Ton: „Sei weiten woll nid, mien 
leiw Mann, datt hier gliel bor Geld upp'n 
Diſch legg warden möt, wenigſtens 'n ganz' 
Deil?! —“ 

Büto knöpft gelaſſen ſeinen Jäckert auf, 
fingert an der Innenſeite, bringt eine fettige, 
uralte Brieftaſche zum Vorſchein, nest gehörig 
Daumen und Zeigefinger und legt Blatt um 
Blatt — lauter Tauſendtalerſcheine — auf 
den Tiſch: „Langt dat vör't irſt? ..... * 


+ 
Am Nachmittag figt er wieder auf ſeiner 
Schute am Steuer, der blaue Dadert liegt 
neben ibm und qu feinen Füßen der Garbde- 
mann von der Ballajttijte. Die  breite 


853 


| Durft, wie einem rictigen Seemann zukommt, 





Branntiweinflafhe iſt fleibig zwiſchen Fähr- 


mann und Fahrgaſt hin und hergegangen. 


Dem Einen war ſie die vertrauteſte Freundin 


in falten und warmen Tagen, aud der ein— 


gebendfte Umgang mit ibr erregte ibn twenig, | 


bem anderen war intimere Befannticdaft mit 
ibr nur felten vergönnt, deshalb die jartere 
Konjtitution! — Vadder Biito hatte foviel 


ee 


bielt aber vom Wafjertrinfen rein garnichts. 
„Dor führ id upp,” pflegte er gu fagen. 

Aud heute fonnte er trog fteifer Ladung 
zu Hauſe feiner Alten nod reellen Bericht 
erftatten. Gejproden hatte er fiber  feine 
Abſicht, das Gut käuflich yu erwerben, nicht 
mit ihr. Vom überflüſſigen Reden hielt er auch 
nicht viel. Aber jetzt war es ſo weit. Andere 
Leute brauchten es ihr nicht in die armen, 
tauben Ohren zu ſchreien. Er legte die 
haarige Fauſt auf die glatte Lehne des Bretter⸗ 
ſtuhls, auf dem ſie jeden Tag ſaß und flickte, 
beugte den grauen, zottligen Kopf zu ihr her— 
unter und verſuchte ſeiner allzeit rauhen und 
heiſeren Stimme einen freundlichen Klang zu 
geben: „Mudder! ick hew Tribbelwitz för 
Willem köft. Hei brukt ſick nu nich mihr 
ünner frömd Lud herümſtöten laten. Dat 
is'n ſchön Stück Land, dor kann hei ſien Brod 
von eten.“ 

Und Mudder hordt auf. Cie vergißt 
ganz, dab fie am RonfirmationStage ded 
Ginjigen dem Jungen, der durchaus zur See 
wollte, dad Wort geredet bat: „Von Litt 
upp batt bei upp’n Rater lagen — de hilt 
fein vier Woden ut upp’n Land,” und fagt: 
„Dat's recht, Biito! nu fann bei friegen. 
De Shut is dägern ſwach, dat wär nix mibr 
por em weft... 2... Wift Du nod wedder 
fog malen? — —“ Dann flidt fie weiter. 

Der Alte aber ftappft die Fährſtraße 
wieder binunter und ſetzt fein twadliges Fabr- 
zeug in Betrieb, bin und ber — bin und ber 
zwiſchen Stralfund und Wtefabre nod mandes 
abr. 

Gutsbeſitzer Willem läßt feine ſchwer— 
beladenen Kornwagen ruhig auf die morſchen 
Planken poltern — man muß doch das Ge— 
treide zur Stadt bringen, und dem Alten das 
Fährgeld entziehen — nee. Es iſt ja immer 
gut gegangen. Aber eine feine Kutſche vom 
Hof Tribbelwitz halt nie an der Altenfähre. 
Willem dent wie fein Bater und legt einen 
Hunbderttalerfdein auf den andern — dimmer 
bi Lütten. — Catt wird er ja taglidh, und 
andere Gediirjnijje fennt er nicht; wohl aber 
bas unumſtößliche Geſetz, nad) dem ſich mebren 
mug das, yu dem nur hinzugetan wird und 
nie Davon genommen. 

23 


B54 


(Marie von Dajmajers Besttage. 


Bon 


Marianne ee 


Rachdruck verdoten. — 
Wien, den 11. Februar 1904. 


ie der Strom fließt das Menſchenleben dahin, Welle um Welle ohne Aufenthalt, 

ohne Ruhepunkt. Der Menſch aber, der im Ewigen das Zeitliche iſt, 

trägt das Zeitmaß in die Flucht der Tage hinein, ſchafft Merkſteine, Gedenl 
und Feſttage. 

An ſolchen überblicken wir das Vergangene, und iſt's ein gut Stück Menſchen— 
leben, das wir überblicken, ſo ſuchen wir es zu einem Lebensbilde zu faſſen. Die 
Feſttage der Dichterin Marie von Najmajer, welche am 3. Februar ihr ſechzigſtes 
Lebensjahr beſchloß, waren ſolche Gedenktage. 

Das Bild von Marie von Najmajers äußerem Leben iſt von ſeltener Gleichförmigkeit. 
Einer Gleichförmigkeit, die durch das zurückgezogene Hauſen mit der verwitweten Mutter, 
dem Mangel an Geſchwiſtern und eine ſtets geſicherte Eriſtenʒ geſchaffen wurde. 
Der Tod des Vaters fällt in die Kinderzeit. Er ſtarb in Wien als penſionierter 
Hofrat der ungariſchen Hofkanzlei. Als ihm ſein einziges Kind geboren wurde, lebte 
er auf der Feſtung Ofen. Die Mutter, Klara, war die jüngſte Tochter des General: 
pächters der faijerlichen Santeralpadstungen, Michael von Sengelmiiller. Im Jahr 1847 
fiedelte die Familie nady Wien über, und wenige Jahre ſpäter war Marie allein mit 
der trauernden Mutter. Diefe lebte in volliger Zuriidgesogenbeit, fuchte aber ibrer 
Tochter Erjag fiir mance Dugendfreude dadurd yu bieten, dap fie ihre’ künſtleriſchen 
Neigungen unterjtiigte. Das führte die jugendlice Marie yu den Schweſtern Fröhlich, 
in das Haus der Spiegelgafje, in deffen viertem Stodiwerf ein reiches geiitiges 
Leben herrſchte. 

Die jiingite der Schweftern, Jofefine, war däniſche Kammerſängerin und erteilte 
einer Anzahl Mädchen Muſikunterricht. Freudig nabm die neue Schülerin daran teil, 
aber in dem Madcenfopfe tinten noc andere Weifen; Gefühle und Gedanken geitalteten 
ſich darin zu Verjen; deren Zahl wuchs, bis fie in einem anjehnlichen Hefte gefammelt 
vor ibr lagen. 

‘War das, was ibre Seele erleichterte, oder fie freudiger aufatmen machte, denn 
wirklich Poefie? Das bewegte das Herz de3 jungen Mädchens, bis fie eines Tages 
Dem treuen alten Freunde der Schiwejtern Frohlich gegeniiberitand. Grillparzer hatte 
die Gedichte gelejen, die 1868 unter dem Titel ,Sebneegliddeu” im Buchbandel 
erfebienen. Was er ju der Siingerin fprad, das waren — Worte, einem 
Segen gleich, mit dem ſie die —— Bahn betrat. 

Reicher Leute einziges Kind, ein Mädchen, wer hätte damals wohl gedacht, daß 
die an der Schwelle Stehende ihr Leben einzig durch die Kunſt erfüllt ſehen würde! 
Aber es kam ſo, ſie konnte ſich zu keiner Heirat entſchließen, und auf dem Höhepunkte 
ihres Daſeins ſchrieb ſie: „Auf daß Du nie allein ſeiſt, bleib allein.“ Dieſer Entſchluß 
geſtattete ihr, ſich ganz ihrer Neigung hinzugeben, und wie ſehr das ihrer Individualität 
gemäß war und ijt, beweiſt der innere Friede, der fie niemals verlajjen bat. 

Schwärmeriſch, ja uͤberſchwenglich in der Freundſchaft, fand Marie von Najmajer 
im Verkehr mit hochſtehenden Frauen Befriedigung für ihr volles, reiches Herz. Aber 
nicht allein Freundſchaft verbindet ſie mit Frauen, ſondern alumfaſſende Schweſterliebe 
laßt fie an den Wunſchen, Hoffmungen und Leiden ihrer Geſchlechtsgenoſſinnen regſten 
Anteil nehmen und fiir eine würdige Stellung der Frauen in der Familie und im 
Staate eintreten. Befcheiden und einfach in ibrer Häuslichkeit, ift fie überaus freigebig, 


yr * 


Marie von Najmajers Fefttage. 355 


wenn es gilt, die Anterefien der Frauen ju fordern. Cin Penfionsfond3 danft ibrer 
Freigebigkeit feine Aftivierung, und fiir den Bau eines Mädchengymnaſiums erliegt 
eine von ibr gejpendete anſehnliche Summe. Und wie ſie niemals mit materieller 
Hilfe kargte, wenn es galt, für die Frau einzutreten, ſo ſtellte ſie ihre Feder ſtets in 
den Dienſt dieſer Sache. 

Ergreifend und wirkſam iſt das Epos „Gurret-ül-Eyn“ — ein Bild aus Perſiens 
Neuzeit, das 1874 erſchien. Die Lebensgeſchichte und der Flammentod einer Perſerin, 
die des Reformators Bab Lehre annahm und die Frauen für ſie zu gewinnen ſuchte, 
diente dem Epos als Vorwurf. 

Es fehlt auch in der Gedichtſammlung „Der Göttin Eigentum“ wie in den 
Dichtungen „Gräfin Ebba“ und „Johannisfeuer“ nicht der Ausdruck ſelbſt- und 
pflichtbewußten Frauentums. Fließende Verſe kleiden die Außerungen in eine gefällige 
Form. Auf ein neues Gebiet führt uns die Dichterin zum erſtenmale mit dem Roman: 
„Der Stern von Navarra” und ſpäter mit dem fünfaktigen Trauerſpiel „Kaiſer 
Julian“. In dem zweibändigen Roman ſteht Johanna von Navarra allerdings im Mittel— 
punkte der Erzählung, aber die gewaltige Zeitgeſchichte, die die Schrecken der 
Bartholomäusnacht vorbereiteten, feſſelt überwiegend. Die Schilderung derſelben iſt 
den beglaubigteſten Quellen entnommen und veranſchaulicht eine der bewegteſten und 
blutigſten Epochen aus der Geſchichte Frankreichs. 

Im Trauerſpiel „Kaiſer Julian“ iſt der Kaiſer der ringende und unterliegende 
Held. Wir ſtehen nicht an, die Wahl des Helden und des geſamten Stoffes als 
weiteren Fortſchritt zu begrüßen; geradezu überraſchend wirkt aber die ganz eigenartige, 
ſelbſtändige Auffaſſung ſeiner Perſonlichteit. Die in glaäubigen und konſervativen 
Traditionen wurzelnde Dichterin erweckt warmes Intereſſe für den von den Kirchen— 
ſchriftſtellern als Renegaten Gebrandmarkten. Sie zeigt uns Julian nicht als 
Abtrünnigen, ſondern als den vom griechiſchen Geiſte erfüllten Schüler Platos, deſſen 
treues Feſthalten an den alten Göttern, die die Gemüter der neuen Zeit nicht mehr 
beherrſchen, ſeinen Untergang herbeiführt. 

Wir ſtünden hier ft vor einem Ratfel, wenn Marie von Najmajers Wabrbaftig- 
feitajtreben und ibre unbeſtechliche Redlichfeit uns nicht die Erklärung gaben. Wie 
die gründliche Erforſchung der widerſprechenden Geſchichtsſchreiber glaubhaft Julians 
Perſönlichkeit ergibt, macht fie ibn jum Helden, unbekümmert darum, daß ſeine 
Perſönlichkeit ſich blendend von den Galiläern abhebt. So ſchreibt fie, die allen 
Tagesſtrömungen fernſteht, der konfeſſionelle und, politiſche Parteinahme völlig fremd 
iſt, ein Drama, das von der Zenſur verboten wird. Verboten, nicht weil es das 
Chriſtentum ſchmäht, denn dieſes ſieht der Leſer in ſeiner Einfachheit und Naivetit, 
ſeiner Hingebung und Demut Beſitz ergreifen von einer überſättigten, zerbröckelnden 
Kulturwelt, ſondern weil der Kampf zwiſchen dem erſterbenden Heidentume und der 
ſich verbreitenden Chriſtenwelt nicht in traditioneller Voreingenommenheit dargelegt wird. 

Die Streichungen, welche die Theaterzenſur vornahm, nahmen dem Drama ſeine 
Daſeinsberechtigung, ſo daß die Dichterin es vorzog, auf die Bühnendarſtellung zu 
verzichten. Was ein ſolcher Verzicht zu bedeuten hat, kann wohl nur ermeſſen werden, 
wenn man ſich vergegenwärtigt, daß der Autor nur niederſchreibt, was gleichſam vor 
ſeinen geiſtigen Augen vorgeht, das Tun und Laſſen leibhaftiger Menſchen. Das, 
was nicht zum Buchdrama beſtimmt war, iſt es notgedrungen durch die Zenſur 
geworden. Die Feier des ſechzigſten Geburtstages der Dichterin wurde am 3. Februar 
dadurch eröffnet, daß das Trauerſpiel „Kaiſer Julian“ im Vortragsſaale vor das 
Publikum gebracht wurde. Die Wirkung war eine äußerſt günſtige, und die Freude 
darüber mag alle andern, die die Feſttage brachten, überboten haben. 

Durch Deputationen, Blumenſpenden und Briefe wurde die Jubilarin reich 
qeebtt. Die Frauen Wiens wwetteiferten, Marie von Najmajer ibre Wertſchätzung ju 
bezeugen. Mit dem bheutigen Abend ſchließt Der Reigen. Der Verein fiir erweiterte 
Frauenbildung veranjtaltet zu Ehren der Dichterin, feiner Chrenprajidentin, eine Feft- 
feier, die iiberaus wiirdig und herzlich yu werden verſpricht. 

+E c·ß· 
23+ 


„die hand von der Politik! 


Von 


Helene Lange. 


Radhbrud mit Quellenangabe gefiattet. 


on der Politif follen die Frauen die Gand weglafjen!” Dieſe Parole Gat 

neulich Graf Poſadowsky im Reichstag ausgegeben — zugleich, wie es fcheint, 
” © als feitenden Gefichtspuntt fiir die Reform des preußiſchen Vereinsgeſetzes. 
„Ich bin durchaus dafür“, äußert er fich als aufgeflarter Mann weiter, „daß man den 
Frauen möglichſt viel Gelegenbeit giebt, fich felbjt im Leben iby Brot yu erwerben, 
und ich bin aud der Anſicht, daß man es den Frauen nicht erſchweren foll, öffentlich 
ibre Rechte inbezug auf die Ausübung ihres Berufes yu vertreten.” 

Wenn cine Frau diefe beiden Ausfpriiche in einem Atem getan hatte, fo würde 
man iby wie üblich ibre Frauenlogif oder ibre frauenhaft dilettantifde Auffaſſung der 
politiſchen Zuſammenhänge vorgeworfen baben. Beides diirfen wir dod) wohl beim 
Grafen Pofadowsfy als ausgeſchloſſen betradten. Es bleibt alfo nur ein drittes: 
aud er ſteht unter dem fuggeftiven Einfluß jener Männerlogik, die fo eigentiimliche 
Abwege einſchlägt, fobald eS ſich um Frauenintereffen handelt. 

Niemals wiirde ein moderner Staat3mann heute wagen, den Sag aufzuſtellen, 
daß Manner irgend einer Berufsklaſſe imjtande feien, ihre Berufsintereſſen wirkſam zu 
vertreten, wenn fie von der Politik „die Hand weg” laſſen müßten. Die Frauen aber 
können es, können es fogar unter der Herrſchaft eines Rechtſprechungsprinzips, das 
nahezu alles fiir „Politik“ erklart, was irgendwie die Geſetzgebung und Verwaltung 
angehen könnte — alſo unendlich viele Fragen, die das Berufsleben auf das intimſte 
berühren, den Frauen zu erörtern verbietet. Man braucht nur die Kurioſa aus der 
Praxis des Vereinsrechts, an denen die letzten Jahre ja ſo reich ſind, zuſammenzu— 
ſtellen, um zu ſehen, was ſchließlich von der Vertretung der Berufsintereſſen übrig 
bleibt, wenn „politiſche Gegenſtände“ aus dem Bereich dieſer Vertretung aus— 
geſchloſſen ſind. 

Aber ſelbſt angenommen, daß man mit dem redlichſten Willen verſuchte, den 
Begriff Politik im engeren Sinne von dem abzugrenzen, was heute eine nicht tendenz— 
freie Auffaſſung darunter verſteht, ſo müßte dieſer Verſuch bei der engen Verauickung 
aller wirtſchaftlichen mit den politiſchen Fragen vollftindig ſcheitern. Sobald man die 
Frau — und daran feblt es eben nod — im weiteften und vollften Cinne de3 Wortes 
als Tragerin ibres Berufs, als Glied irgend ciner großen Berufsqruppe betrachtet, 
mug man jugeben, daß ibre Qntereffen fo gut wie die Der Männer, die fich mm den 
Handelsvertragsvereinen oder im Bunde der Landiwirte zuſammenſchließen diirfen, fteben 
und fallen mit den grofen wirtſchaftspolitiſchen Fragen, die heute die Weltgefchichte 
zum guten Teil beftimmen. Den Frauen die politiſche Betätigung verbieten, heißt 
alſo gan; cinfach, ibnen al Berufsarbeiterinnen dauernd eine ſekundäre Rolle im Wirt: 





„Die Sand von ber Politik!“ 357 


ſchaftsleben zuweiſen. Und nicht nur im Wirtſchaftsleben, fondern auc im geiftigen 
Leben der Ration, Oder follte e3 dic Lebrevin nichts angeben, wenn wieder cine Ver: 
gewaltiqung der Volksſchule durch cin reaktionäres Schulgefes drobt? Sollten die Lebre- 
tinnen fein Berufsintereffe daran haben, Männer in der VolfSvertretung yu feben, von 
denen fie Veritdndnis fiir die Aufgaben der Schule erwarten dürfen? Alſo auch bier 
würde man die Frau nur als cine BVerufsarbeiterin zweiter Klaſſe anjeben, die in 
ftummer Geduld ihren Ader bejtellt, voll gliubiger Zuverſicht, daß unter allen Um— 
jtdinden, was von oben fommt, eitel Segen ijt. Dah die Frauen reif find fiir eine 
Vertretung ibrer Berufsintereffen auch da, wo fie fic) mit dem politiſchen Leben direft 
beriibren, das zeigen nod) eben wieder die Organifationen der weiblichen Angeitellten 
in ihrem energifden Kampf um das Wahlrecht der Frauen bei den Kaufmannsgerichten. 

So muf unfere Frauenlogif diefe im Reichstage vertretene Männerlogik rundweg 
ablebnen. Wir wollen als Berufsarbeiterinnen nicht dazu verurteilt fein, nur yu 
frobnen, obne aus der Einſicht in die Beziehungen unferer Arbeit yu dem nationalen 
Gefamtfchidjal in voller Bewegungsfreibeit wie der Mann die Gefcbichte unferes Be- 
rufed mit yu machen, feine Entwidlung mit beſtimmen yu können. 

Die Frauenbewegung wird aber natitrlich die in Ausſicht geftellte Verbeſſerung 
des Vereinggefeses noc unter einem anderen Gejichtspunft zu betradten haben. Sie 
ſieht ibr felbjtverftindliches Biel, auf das die Entwidlung in anderen Kulturlindern, 
auf das aud) die bisherige Entwidlung in Deutſchland ſchon bhindeutet, in der vollen 
biirgerlichen Gleichjtellung der Frau, die ibr einzig und allein eine volle Vertretung 
ibrer Intereſſen, ihrer Cigenart volle Wirkensmöglichkeiten gewährleiſten kann. Cie 
pon der „Politik“ ausſchließen, beift ibr den geraden Weg dazu verfperren, heißt fie 
wiederum auf all die Spibfindigfeiten veriweifen, durch die fie fich ſchon jest die Möglich— 
feit öffentlicher Betätigung fcbafft, die fie baben mufj. Cine Verbefferung des Vereing- 
geſetzes, Die noch irgend eine Klauſel fiir die Frauen (aft, ware nicht nur feine Ver- 
befjerung, fondern geradezu eine Verſchlimmerung, da balbe Reformen auf lange binaus 
Die ganzen auszuſchließen pflegen. Und die , Reform” ded Vereinsgeſetzes in Braun- 
ſchweig ift cin warnendes Menetefel. Dort follen in Zufunjt ,rweibliche großjährige 
Perjonen an ſolchen Vereinen und Verſammlungen teilnehmen diirfen, welche dem 
Swed. der Nachftenliebe oder der Erziehung und des Unterrichts weiblider Perfonen 
Dienen.” Wie wird es da der Frauenbewegung ergeben? Wird fie unter die Rubrif 
„Nächſtenliebe“ oder „Erziehung und Unterricht weiblicher Perſonen“ fallen? 

Im übrigen aber bat fic) die Braunſchweigiſche Regierung, fo wunderbar tbr 
Beſchluß erfebeint, der Inkonſequenz de3 Grafen Poſadowsky wenightens nicht ſchuldig 
gemacht. Sie bat den Antrag des Landtags, man möge den Frauen die forporative 
Pflege ibrer Berufsinterefjen geftatten, abgelebut, und zwar mit folgender Begründung: 
„Der Ausfeblug der Frauen von der Politif ware praktiſch nicht durchführbar, wenn 
man ibnen das Feld der ,beruflichen Intereſſen‘ öffnete; die Unbeitinuntbeit und 
Debnbarkeit diefes Ausdrudes macht eine beftimmte Abgrenzung unmöglich. Qn einer 
qrofen Anjabl, vielleicht in der Mehryabl der Faille wird die Wahrnehmung beruflicher 
Intereſſen auf das fosialpolitifehe, ja fogar auf das rein politiſche Gebiet übergreifen 
müſſen; in allen ſolchen Fallen wiirde die Polizei wor eine bei der Flüſſigkeit der 
Grenjen zwiſchen den drei genannten Begriffen äußerſt ſchwierige Entſcheidung qeftellt 
werden. In den beteiligten Kreifen wiirde man beftrebt fein, den Worten des Geſetzes 
cine moglichjt weite Auslegung zu geben und den Frauen Rechte zuzuſprechen, die 


355 „Die Hand von der Politits” 


ibnen yu gewabren nicht die Absicht des Geſetzgebers geweſen iſt.“ Und welche jarte 
Ritterlichkeit bei dieſen Beſchlüſſen mitfpielt, yeigt dann dads zweite Argument der 
Kegierung: , Mud davon abgefeben ijt yu befiirdten, dak es in folcben Verjammlungen, 
an denen Frauen teilnehmen, bei der leichten Erregbarkeit derjelben, und gerade Der: 
jenigen der hier am meiften beteiligten Schichten der Bevölkerung zu unerquidlicen 
Szenen fommen wird, die cin direktes Einſchreiten der Polizei ndtiq machen, und wie 
miplich dieſes notwendige, unter Umitanden mit Anwendung forperlidser Gewalt ver- 
bundene Cinfcbreiten fein witrde, bedarf feiner weiteren Hervorhebung.“ 

Vielleicht hat den Herren aus ibrer Gymnaſialzeit das Schillerſche Wort vor- 
geſchwebt: „Da werden Weiber yu Hvänen!“ Sollten fie einmal zufällig Braunſchweig 
verlaſſen, ſo würden wir ihnen raten, doch eine der zahlreichen öffentlichen Ver— 
ſammlungen mitzumachen, die anderswo von Frauen einberufen oder beſucht werden. 
Kielleicht überzeugen jie ſich da, Dak dabei nicht Frauen unter Anwendung von 
körverlicher Gewalt abgeführt zu werden pflegen. Sollte ſich übrigens einmal 
Bulwers freundliche Phantaſie ,.the coming race‘ verwirklichen und auch in 
Braunicweig Frauen die Geſetzgebung in der Hand haben, fo boffen wir, daß fie 
den Mannern die gleiche zarte Rückſicht und weife Fürſorge eryeigen werden, die ibnen 
jegt zu teil wird und dem mannlichen Geſchlecht die Teilnabme an öffentlichen Ver: 
ſammlungen unterſagen ,feiner größeren Roheit und Neigung zu Geiwalttatigfeiten 
wegen, die es leicht zu Schaden kommen laſſen könnte.“ 

* J * 

„Die Hand von der Politik“ — „die Finger von der Sittlidfeitafrage.” Co 
flingt es in Berlin, fo flang es in Coln. Der Colmer Frauentag bat ſeinen energifchen 
Proteſt erboben; follte die Neugeftaltung des preußiſchen Vereinsgeſetzes dem Pofa- 
dowskyſchen Programm entiprecen, fo wird der Proteſt der Frauen nicht minder 
einmütig fein. 

Denn in beiden Fallen handelt eS fich um ibre beiligiten Antereffen. Und beide 
fteben iin engiten inneren Zuſammenhang. Die politiſch unmündige Frau wird auch 
in der Sittlichfeitsfrage ibrem Einfluß feine Geltung verſchaffen können. Whe dringend 
notivendiq aber dieſer Einfluß ijt, dafiir bot wiederum der Reichstag vor kurzem ein 
lehrreiches Beiſpiel in den Ausführungen de Hamburger Vertreters tiber Me im polizet- 
techniſchen Sinne nicht vorbandenen Bordelle feiner Vateritadt und = über die Frauen: 
verſammlungen, die fic mit Dem Dafein diefer Bordelle beſchäftigten. 

Dieſe Verbandlungen erwiefen mit aller nur wünſchenswerten Deutlichfeit, dak 
der Ausſchluß der Frau von der Politif ihr auf immer die Ausſicht verſchließen 
wiirde, ibre Anfchauungen auf einem Gebiet geltend yu maden, auf dem fie notwendig 
von denen des Mannes abiveichen müſſen — dad liegt in Der Natur der Sache. 

Die Formen, unter denen fich geqemvartiq die Proititution volljiebt, find, wie 
alle übrigen Einrichtungen des dffentlichen Lebens, Durch das Bediirfnis des Mannes 
geſchaffen. Sie reprijenticren im Pringip das, was die große Majorität der Manner 
wünſcht. Das iit eritens das Zugeſtändnis, daß bei der geſchlechtlichen Veranlagung 
des Menſchen, bezw. des Manned, die Erojtitution eine notwendige foziale Cinrictung 
jet und daß die Berugung dDiefer Cinrichtung ihm unbeanfiandet freiſtehen müſſe. Da 
aber dicfe Benutzung unglücklicherweiſe nicht obne fanitire Gefabr ijt, fo verlanat er 
ned mebr. Cr verlangat, dah der Staat ihm die Befriedigung feiner Luſt möglichſt 
gefahrlos macht und ftellt Baber ohne Bedenken Die Frauen, die er beruvt, unter ſtaat— 


— 


„Die Hand von der Politik!“ 359 


liche Kontrolle. Sie allein ſollen die Laſt dieſer Kontrolle tragen. Sie ſollen ihm 
die Anſteckung nicht übertragen können, dic ev ſelbſt ohne Sfrupel und ohne vom Staat 
im mindeſten daran gehindert zu werden, auf die Familie überträgt. So hat er, als 
Kunde des Gewerbes, jedes Intereſſe daran, daß die Einrichtungen im Prinzip bleiben, 
wie ſie ſind, ſeine Wünſche in Bezug auf die Reform — immer die Majorität der 
Männer genommen — konzentrieren ſich ausſchließlich auf die Sanierung der Pro— 
ſtitution, die hygieniſche Refform. Selbſt unter den Vertretern des Abolitionismus find 
viele nur deshalb Gegner der Reglementicrung, weil fie dod nicht imftande ijt, die 
notivendige ſanitäre Sicherheit zu ſchaffen. 

Die Frau dagegen hat jeden nur denkbaren Grund, die beſtehenden Einrichtungen 
im Prinzip abzulehnen. Ihr iſt die Proſtitution nicht „das notwendige Nbel, das 
immer war und immer fein wird“, ihr ijt fie das Ubel par excellence, deſſen Be— 
feitiquig fie aus allen Kräften anzujtreben bat. Und zwar nicht nur, und nidt ein: 
mal in erfter Linie um der furchtharen gefundbeitlicben Gefabren willen, die der 
berrjcbende Suftand fiber die Familie bringt, fondern um der ſittlichen Werte willen, die 
in Frage fteben. Und zwar fiir beide Geſchlechter. Die Frau wird in ibrem ganzen 
Geſchlecht, fonfequenter Weife auch in der Schätzung des Mannes, degradiert, wenn 
Frauen um eines männlichen Bedürfniſſes willen zu einem ſtaatlich fanftionierten 
Sklaventum herabgedrückt werden, auf dem allein die Laſt einer beiderſeitigen Ver— 
ſchuldung liegt. Auf den Mann aber fällt die Konſequenz dieſer Einrichtung mit der 
ganzen Wucht einer böſen Tat, die fortzeugend Böſes gebären muß: faſt im Knaben— 
alter ſchon fällt jede neue Generation nun der Inſtitution zum Opfer, die der reife 
Mann will, ſtaatlich ſanktioniert und damit dem Jüngling förmlich aufdrängt. Zum Opfer 
nicht nur phyſiſch, ſondern auch mit ſeiner ganzen ſittlichen Perſönlichkeit, durch die Zerſetzung 
ſeiner Moralbegriffe, die Verachtung der Frau als Geſchlecht, die ihn dann wieder zu ehr— 
licher Kameradſchaft und Arbeitsgemeinſchaft mit ihr unfähig macht. Und daher müſſen 
alle Beſtrebungen der Frauen zur Herſtellung dieſer Arbeitsgemeinſchaft in Frage 
bleiben, ſo lange es eine ſtaatlich ſanktionierte Proſtitution gibt, die die in ihr zum 
Ausdruck gebrachten ſittlichen Begriffe immer wieder zwiſchen die Geſchlechter ſchiebt. 

Alle unſere öffentlichen Einrichtungen ſtellen das Reſultat des Zuſammenwirkens 
der nach verſchiedenen Richtungen treibenden Kräfte dar. Für die heutige Form der 
Proſtitution iſt nur eins ausſchlaggebend geweſen: der Mann mit ſeinem weit über das 
Geſunde und Naktürliche hinaus entwickelten geſchlechtlichen Bedürfnis. Will die Frau 
eine Anderung, will ſie wenigſtens die Diagonale des Parallelogramms der Kräfte 
erreichen, ſo muß ſie ohne alles Paktieren, ohne jeden Kompromiß ihre Arbeit vom 
Standpunkt ihrer ſittlichen Begriffe aus einſetzen. Und das erſte, was von dieſem 
Standpunkt aus fallen muß, iſt die ſtaatliche Sanktion des Gewerbes. 

Um aber die Energie einſetzen zu können, die wirklich imſtande iſt, auf dieſem Gebiet 
die Richtung der Entwicklung mitzubeſtimmen, dazu bedarf die Frau ganz anderer 
Machtmittel, einer ganz anderen Stellung im Staat, als ſie heut inne hat. Den Weg 
dazu hat ſie eingeſchlagen, als ſie in den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts 
zuerſt Hand an die Politik legte. Die Aufgabe unſeres Jahrhunderts wird es ſein, 
dieſen Weg zum Ziel zu führen. Und darum muß ſeine Parole für die Frauen auch 
fernerhin lauten: „Hand an die Politik“. 


yg Whe te 


Ver schwedische Handfertigheitsunterricht und seine 
pddagogische Bedeutung. 


Zon 


Helene I. Rloſtermann. 


—ñ— — 


Raddrud verboten. 


äufiger als früher wird jetzt der Norden von Deutſchland aus beſucht. All— 

jährlich hört man von einer größeren Anzahl von Reiſeluſtigen, die das Land der 

Mitternachtsſonne zu ihrem Ziel erwählen. Wenn ſie nach einer mehrwöchentlichen 
Juli-Seefahrt an den Küſten und in den Fjorden Skandinaviens zurückkehren und be— 
geijtert von den taghellen Nachten, den felfigen Ufern, den herrlichen Wäldern, den 
lieblicben Fluren und dem froblicen Leben yu Land und yu Wafer bet unfern nor- 
dijchen Briidern erzählen, jo fteigt damit ein Bild der einen Seite des dortigen Lebens 
por uns auf. 

Sebr viel feltener lernt der Reifende auc) die Kehrſeite dieſes lieblichen, aber 
furjen Sommers fennen, den fangen Winter mit feinen endlofen Nachten, mit febnee- 
bededten Gefilden und ju Cis erjtarrten Waſſerflächen. Dann zieht fic) dad fröhliche 
Leben, das dem Reifenden im Sommer auf Sehritt und Tritt entgegenfommt, in die 
Häuſer und Hütten zurück, der Verfebr ftodt, der Landbewohner ijt auf fein Heim 
angewiejen und widmet fic dort irgend einer nugbringenden Beſchäftigung mit feinen 
Handen. In den Sitten und Verbaltniffen des Nordens fliegen fomit die Wurzeln 
deffen, was der Schwede mit „Slöjd“ bezeichnet, und was mit „Handfertigkeit“ oder 
befjer nod) mit „Hausfleiß“ iiberjegt worden ijt. 

Slojd heißt wörtlich Gefchidlichfeit, e& ift verwandt mit dem englifden Worte 
psleight“, und der Begriff ijt ſtreng unterfcieden von dem de3 Handwwerfs. Der 
Handwerfer arbeitet fiir feinen Verdienſt, zum Berfauf und fiir andere Leute, der 
„Slöjdara“ arbeitet fitr fich, fiir fein Heim, feinen eigenen Bedarf. Jn dem nordifchen 
Bauernbauje regte von Alters her nicht nur die Frau die fleifigen Hande, fondern 
aud) der Mann, nicht nur die Todster, fondern auch der Sohn. Während die Frauen 
das Spinnrad drehten, griffen die Manner am Liebjten zum Meſſer und ſchnitzten an 
den langen Winterabenden und morgens, ebe der kurze Tag erwadte, allerlei niigliche 
Gegenſtände fiir den häuslichen Bedarf. Es gab jedoch neben diefem Holz-Slöjd noch 
eine ganze Reihe anderer Arten von Slöjd. Metall-, Leder: und Papierarbeiten, 
Viirftenbinden, Rorbflechten u. dgl. m. Hier fommt der Holy: oder Tiſchler-Slöjd, 
ſchwediſch „8nickeri-Slöjd“ in erjter Reibe in Betracht. Daß es voriviegend, wenn 
auch nicht überall, Gegenſtände aus Hol; waren, die mit geſchickter Hand angefertigt 
wurden, hat feine natiirlice Erklärung, denn an nichts ijt ja das ffandinavijche Land 
reicher als an Holy. Mit dichten Tannen, Birken- und Buchenwaldern ijt ringsum 
das Land bededt; aus Hol; beſteht die Hiitte und fajt der ganze Hausrat des Land— 
bewobners. So gereichte e3 denn in jedem Bauernbauje zur Erſparnis und zum nütz— 
lichen Seitvertreib, wenn die Männer mit ibrem Meffer einen Vorrat von hölzernen 
Löffeln, Kellen, Schüſſeln, Quirlen u. dgl. m. berftellten. Ubung fiibrte bald sur 
Meifterfchaft, der Schinheitsfinn zur Erfindung neuer Formen; gar bald gefellten fid 
su Dem Meffer als dem cinfadhiten, aber vielfeitigiten Werkseug andere: Sage, Bobrer, 
Meifel, Hammer, Zange, Hobel und meiſt auch eine Hobelbank fanden ibren Plag in 
jeder Bauernhütte und in jedem Bürgerhaus. Es entftand cine nationale Oolsinduftrie, 


— 


Der ſchwediſche Handfertigteitsunterridht und feine pädagogiſche Bedeutung. 361 


die fogar von denen, die nicht nötig Hatten, aus Sparfamfeit zu arbeiten, aus Lieb- 
haberet betrieben wurde. Einen Cinblid in den Reichtum dieſer Erzeugniſſe gewährte 
die nationale Ausftellung in Stodbolm, die anläßlich des BZ jährigen Regierungs- 
jubiliums von König Osfar II. im Sabre 1897 jtattfand. Bielleicht aber war fie 
nur dadurch veranlaft worden, dah eben dieſer ſchwediſch-norwegiſchen Hausindujtrie 
der Untergang drohte und fie jum Beſten des Volkes gerettet und wieder neu belebt 
werden follte. 

Das Yahrhundert der Dampffraft und de Mafehinenbetriebs übte feinen 
Einfluß auch in dem ffandinavifecben Land. Bon dem Augenblid an, wo zahlreiche 
Gegenſtände des Hausrats fo ſchnell mit Mafchinen angefertigt werden fonnten, 
daß fie fiir wenige Pfennige gu faufen waren, erlabmte der Hausfleiß des nordiſchen 
Landbewohners; immer weniger wurden Slöjdmeſſer, Sage und Hobel in Betrieb 
qefebt, und der Müßiggang ftellte ficd ein. Aber er wurde der Anfang eines viel 
chwereren afters, er fiillte die Wirtshaufer und Branntiveinituben. Vermehrt 
wurde die Neiqung dazu durch das falte Klima, das an und fiir fich zum Alkohol— 
enuf} verleitet. Unſägliche Gefabren drohten dem häuslichen, ſchlichten und ſpar— 
* Sinn des Volkes, ſeinem Gewerbfleiß und ſeiner Geſundheit, als die Pflege 
der Arbeit mit der eigenen Hand zurückzugehen begann. 

Da erwachte im Herzen von Volksfreunden der Wunſch, Mittel und Wege 
zu finden, um dieſe Segensquelle vor dem Verſiegen zu bewahren. Auch die 
Regierung des Landes ſchenkte dem Gegenſtand ihre Aufmerkſamkeit, und ſo entſtand 
im Anfang der ſiebziger Jahre eine Bewegung zur Wiedererweckung und Erhaltung 
der Haushandarbeit. Was der Fortſchritt der Kultur dem Volke geraubt, konnte 
ihm nur durch die Schule wieder erſetzt werden. Durch Einführung des Slöjd 
als Unterrichtsgegenſtand hoffte man ihn wieder in das Haus und die Familie 
zurückzuführen. Das Ziel ſtand allen klar vor Augen, über die Mittel gingen die 
Anſichten weit auseinander. Ob der Unterricht fakultativ oder obligatoriſch, ob er 
als Klaſſen- oder als Einzelunterricht behandelt, ob er von Handwerkern oder von 
Lehrern erteilt werden ſollte, das waren einige der Fragen, über die die Anſichten 
ſchon in der Theorie geteilt waren; noch viel größer aber waren die Schwierigkeiten, 
die ſich in der Praxis herausſtellten. Wohl gewährte der Staat Mittel zur Ein— 
führung von Slöjd, aber es fehlte an geeigneten Lehrkräften. 

Jede große Idee bedarf einer Perſönlichkeit, in der ſie ſich gewiſſermaßen 
kryſtalliſiert, um in feſter Geſtalt auch andern zugänglich und verſtändlich zu werden. 
Cine ſolche Perſönlichkeit fand die Slijd-Bewegung in Schweden in Otto Salomon, 
dem Direftor de3 jest weltberiihmten Slöjd-Lehrerſeminars „Nääs“ in der Nabe 
von Gothenburg. Im Anfang der fiebsiger Jahre war Otto Salomon als junger 
Mann auf dem Gute feines Onkels Auguit Abrabamfon landwirtſchaftlich tätig. Dieſes 
Gut war das frithere fonigliche Jagdſchloß Nääs, auf einer ſchmalen Landzunge 
(NAS Heift Nafe) an dem lieblicen See Säfvelängen gelegen. Seine Mußeſtunden 
widmete er den Schulkindern des Gutes, zu denen ibn feine pädagogiſche Veranlagung 
hinzog. Sein Intereſſe fiir HOandfertiqfeit und die Grofmut feines Onfels ließen 
im Jahre 1872 in Nääs cine Arbeitsjchule fiir Rnaben und 2 Sabre ſpäter eine 
qleichartige fiir Madden entitehen. Otto Salomon war Direftor und führte einen 
geregelten Unterricht in allen Arten von Slöjd fiir Knaben und Mädchen ein. Die 
guten Erfolge der Slöjdſchule in Nääs lockten alsbald Lebrer aus der Umgegend 
Ddorthin, und nad einigen Jahren debnte fic) Herrn Salomons Tiitigfeit auch auf 
die Aushildung von geeiqneten SlHjd-Lebrerm aus. Bon dem — urfpriinglichen 
Gedanfen, titchtige Oandwerfer dazu heranjubilden, fam er bald ab und eriffnete 
Rurfe fiir Lebrer von Volksſchulen und anderen Lebranjtalten sur Erlernung des 
Slojd als cines formalen Bildungsmittels. Zu Lehrern und Lebrerinnen aus 
Schweden gefellten ſich bald auc ſolche aus andern Ländern, und ſchon nach 
einigen Qabren wurden, um allen Bediirfnifien Genüge zu leiſten, feſtſtehende 
G6 wöchentliche Ferienfurfe fiir Lebrer und Lehrerinnen aller Nationen eingerichtet. 
Sept finden deren jabrlic) vier, jwei im Sommer und zwei im Winter ftatt. Der 


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» . 


362 Der ſchwediſche Handfertighcitsunterridht und feine pädagogiſche Bedeutung. 


zweite Sommerfurfus de3 eben abgeſchloſſenen Jabres war der Hundertite feiner Art, 
er Ddeutet alfo auf ein mindeſtens 25 jabriges Beſtehen dieſer Ferienfurfe fiir Lehrer. 
Das 25 jährige Jubildum des Beftebens der Anjtalt iiberhaupt fand ſchon 1897 ftatt. 

Die Richtung, die Otto Salomon der Slbjd= Bewegung gegeben hat, fenn- 
zeichnet ibn als feinfinnigen Pädagogen erſtes Ranges. Aus der nationalen Gaus- _ 
induftrie ſeines Landes ſchuf er ein pädagogiſches Bildungsmittel von hohem Werte, 
und unablifjig arbeitete er, und arbeitet er nocd beute in geijtvolljter Weife an 
deſſen innerer und dugerer Ausgeſtaltung. Sein ganzes Leben hat er in den Dienſt 
cines grofen erziehlichen Gedanfens gejtellt, und die Grofmut feines im Qabre 
1898 [cider Ddabingejdiedenen Onkels, des ebriviirdigen Auguſt Abrabamfon, bat 
bei feinen Lebseiten und über das Grab hinaus fiir die Mittel gejorgt, um den 
pädagogiſchen Gedanfen Otto Salomons weiten Kreiſen der Lehrerivelt des In- und 
Auslandes zugänglich zu machen. — 

Und nun bitte ich den Leſer, mir zu dem idylliſchen Fleckchen Erde zu folgen, wo 
dies alles ſich vollzogen hat. Wir haben Gothenburg mit der Bahn oder mit dem 
Schiff erreicht, haben uns in einen der komfortablen Hotels der vornehmen Handelsſtadt 
ausgeruht und geſtärkt und fahren nun mit der Bahn auf der Linie nach Stockholm 
in das anmutige Tal, das von dem Flüßchen Säfveün und dem langgeſtreckten See 
Sajvelangen durcdfurcht wird. Nach etwa 1%, ftiindiger Fabrt fteigen wir an der 
Station Floda aus. Cin Motorbot nimmt uns anf und trägt uns in furjer, ſchneller 
Fahrt iiber den See an die Landungsbriide von Nääs. Das entzückte Auge weilt 
auf den lichlicben Ufern zu beiden Seiten der ſchmalen Bucht, die durch die Landzunge 
von Nääs gebildet wird. Durch die herrlichen Baume der Parfanlagen ſchimmert das 
weife Schloß bervor, gegenüber tritt der Wald, prächtige Buchen, Birfen und Cichen, 
bis dicht an Das Ufer beran. Cine Fabritrafe und verfciedene Fupwege führen gu den 
verftreut im Walde liegenden Gebduden, die zu der Anſtalt gehören. Auf der Anhöhe, 
an einer Lichtung des Waldes, in der ſich cin Kornfeld ausbreitet, liegt das mit freund- 
lichen Veranden gefdmiidte ,Vanhem”, das „Freundesheim“, ein einjtidiges Gebaude 
mit grofen Salen, in denen die Mahlzeiten eingenommen werden, und einem Gefell- 
ſchaftszimmer, wo ein Klavier, Bücher und Zeitungen Unterhaltung fiir Mupeftunden 
bieten. Cinige Minuten abwärts nach der Landungsbrücke zu bliden die freundlichen 
Giebel von Käll-Nääs durch die Baume. Dort befinden fich zu ebener Erde grofe 
Arbeits: und Verſammlungsſäle, eine Treppe höher urgemiitlice kleine Schlafzimmer 
mit gemeinfamem Vorraum und Veranden. An entgegengefester Rictung von Vänhem, 
aber landeinwärts liegt mitten im Walde ein weiterer ſtattlicher Bau, das eigentliche 
„Seminarium“. Wud) hier find zwei Arbeitsfale gum Zeichnen und fiir die theore- 
tiſchen Vorlejungen. Außerdem befinden fic) dort zwei Zimmer, die fiir den eifriqen 
Slöjdſchüler bald von der griften Widhtigkeit werden: das cine, wo die fertigen 
Arbeiten oder „Modelle“, wie der techniſche Ausdrud lautet, ausgeftellt und einer 
ftrengen Zenſur an einem grünen Tijd unterworfen werden; in dem andern find die 
Wände von oben bis unten mit Modellen bededt, aber nicht mit ſolchen, die wabrend 
des Kurſus als Muſter dienen follen, fondern mit lauter „Extramodellen“, von Beſuchern 
friiherer Kurſe erfunden und gearbeitet. Mit gqebeimem Grauen vor feiner eigenen 
Ungefchidlichfeit erfabrt der Neuling, daß er (oder fie) nach fünf Wochen ein folches 
Modell und zwar ein noch nie dageweſenes ſelbſtändig erfinden, entiwerfen und ausführen 
ſoll. Es wird ibm erjt wieder wohl, wenn er den Raum verlaft und fich weiter in 
der reiqvollen Landſchaft umſieht. Hier und dort veritreut im Walde liegen nod cine 
Reihe Fleinerer Hauschen mit einfacen, aber gemütlichen Schlafzimmern fiir die Teil- 
nehmer deS Kurſus. Auf einer Anhöhe, wo der Wald fich nach dem See zu öffnet 
und cin reizendes Bild dem Auge enthiillt, liegt faſt als legtes der genannten Hausen 
das Fleine ,, Babel”. Um feinem Namen Ehre zu machen, werden dort einzelne Kurfijten 
fremder Sungen untergebradt. Auf dem Wege von Babel nad Vanhem, aber etwas 
suriidtretend, von dem grünen Schleier mächtiger Birken halb verbiillt, liegt „Björk— 
NAS” oder VBirken-NAAs, das freundliche Wohnhaus des Direktors Otto Salomon und 
feiner Familie, 


a, 


a 


Der ſchwediſche Handfertigkeitsunterricht und feine pädagogiſche Bedeutung. 363 


G8 ijt der Vorabend der Eröffnung eines Sommerfurfus. Unzählige Male hat 
Das kleine Motorboot die Strede zwiſchen Floda und Nias zurückgelegt, und jedes- 
mal bringt es eine Scar fremder Gäſte, Herren und Damen, die ſich untereinander 
nicht kennen und nur durch das Bewußtſein, alle zu dem gleichen Zwecke hierher 
gekommen zu ſein, untereinander verbunden ſind. Unermüdlich begrüßt der Direktor 
Fein auf der Landungsbriide jeden eingelnen, und bald birt man aud bier und da 
freudige Musrufe des Wiedererfennens von ſolchen, die früher ſchon einmal einen 
Rurjus gemeinfjam durchgemacht haben. Es fommt nicht leicht vor, daß jemand, der 
einmal den Weq nad Nääis gefunden bat, ibn nicht nach einigen oder mebhreren 
Jahren jum zweiten Male ſuchte. An den erften Tagen nach der Anfunft ift man 
iiberwaltiqt von dem Spradigewirr, das einen umgibt. Cind aud) die Schweden 
immer iiberwiegend, fo nehmen dod) an jedem Sommerfurfus zahlreiche Ausländer, 
namentlich Engländer teil. Norwegen, Finnland, Dänemark, die Niederlande und die 
Vereinigten Staaten von Nord-Amerika find danach am ſtärkſten vertreten. Erſt in 
dritter Reihe kommt neben Rupland, Ofterreich, Atalien auch Deutſchland mit einer 
fleineren Sabl von Kurſiſten. Vereinzelte Bertreter anderer Nationalitaten, vielfach 
aus den aufereuropdifden Erdteilen vollenden dad bunte Bild. Sogar Ojtinder, 
Agvpter und Japaner find dort ſchon gefeben worden. Die Zahl der Teilnebmer an 
den Sommerkurſen beträgt in der Regel 120—130, die Bahl der Lehrer überwiegt 
unt ein Geringed die der Lebrerinnen, nur vereingelt nehmen auch folche teil, die nicht 
dem Lebrerftand angebdren. Jeder Kurſus dauert ſechs Worden, von den beiden 
Sonunerfurjen fallt der erjte von Mitte Juni bis Ende Juli, der zweite von Anfang 
Auguſt bis Mitte September; alfo ziemlich gleichzeitig mit unferen rheinijden Ferien. 
Die Roften des Kurſus infl. volle Penſion belaufen fics auf höchſtens 120 Mark. 
Rutritt bat jeder Lehrer und jede Lehrerin, die fich frühzeitig genug melden; die 
einzige Bedingung, die geftellt wird, iff das rechtzeitiqe Cintreffen zum Beginn des 
Rurfus und Ausharren während der ganzen Dauner desfelben, fiir die Damen ferner 
cin ärztliches Atteſt, dak fie der körperlichen Anſtrengung gewachſen find. 

Erwartungsvoll fiebt der Ankömmling mun dem Beginn der Arbeit entgegen. 
Am erſten Tage findet cine feierlice Eröffnung durch den Direftor jtatt. Jeder Teil: 
nehmer wird aufgerufen, erbalt feine Nununer und wird ciner beftinnnten Abteilung 
und einem beftinunten Lehrer jugewiefen, und dann gebt es an die Hobelbank. Cs 
find meift fieben Ubteilungen mit je 18—20 Lernenden. Jeder bekommt feinen be- 
ftimmten Plat, jeder feine Hobelbank und findet auf diefer Material und Werkseug 
zu ſeinem erjten Modell bereit fliegen. Das Material ift ein längliches, mit der Art 
annähernd vierfantiq abgebauenes Stückchen Birfenbols von etwwa 15—20 em Lange, 
die Werkzeuge ein Lineal, cin Bleiftift, cin Meffer und cin Winkelmag. Die Aufgabe 
beftebt Darin, aus dem Stückchen Hols ein vollftdndig rundes, genau 10 em langes Stabchen 
wi fdneiden, das an dem einen Ende 8, an dem andern 3mm Durchmeſſer bat. Mit 
einigen Worten wird erklärt, wie zunächſt ein winkelrecht vierfantiger Stab mit dem 
Meffer zurecht geſchnitten wird, wie dann durch Abſchneiden der vier Ranten ein gleich— 
ſeitig adtfantiger, durch weiteres Abſchneiden ein ſechzehnkantiger und ſchließlich ein 
runder Stab entftebt. Zuletzt wird dann die Lange auf die geforderten 10 cm ver- 
mindert, die Enden werden fauber abgefdmitten, das Ganze wird mit Candpapier poliert 
und — dad erjte Modell iſt fertig, vorausgeſetzt, daß dad Dinh ftreng eingebalten 
wurde, Iſt es L mm zu dünn oder gu fury geraten, fo mug es nocd einmal ange: 
fertigt werden, ift e3 aud nur '/y mm zu did oder yu fang, fo mug e3 eben fo 
lange nut Sandpapier abgerieben werden, bis es das richtige Maß erreicht hat. Mit 
wahrer Befriedigung trägt man das erſte Erzeugnis der eigenen Hand in das Modell: 
zimmer und gebt mit qrofer Sicherheit (denn man fühlt, daß man ſchon ſehr viel 
gelernt hat) an die Ausfuͤhrung des zweiten Modells, eines vierkantigen Paketknebels 
mit abgeſtumpften Kanten. Ohne Schwierigkeit, faſt ohne Hilfe des Lehrers, findet 
man ſich hier zurecht, denn der rechtwinklige vierkantige Körper war ſchon in dem 
erſten Modell vor dem kreisrunden gegeben, nur das gleichmäßige Abſchneiden der 
Kanten und Ecken läßt man ſich zeigen. Vielleicht verurſacht es auch etwas Herzklopfen, 


364 Der ſchwediſche HandfertigheitsunterriGht und feine pädagogiſche Bedeutung. 


dak der Cinfcbnitt fiir den Bindfaden genau in die Mitte kommt, andernfalls müßte 
ja das Modell wiederholt werden. — Das 3. Modell, ein runder Blumenfiab, wird 
in derfelben Weiſe angefertiqt wie das erite und würde gar feine Schwierigkeiten bieten, 
wenn es fic) nicht darum bandelte, das Stiid Hols, aus dem der Stab geformt werden 
foll, felbjt von einem größeren Stück abzuſägen, was immerbin leichter ausfiebt als es 
in der Tat ijt, Dankbar, dah die Sage nicht an der verfebrten Stelle zu tief ins 
Hol; bineingegangen ijt, macht man fid) mit Cifer an die ſchon befannten Nbungen 
bes rechtwintlig vierfantig:, act: und fects ehnkantigſchneidens und freut ſich an der 
ſchönen Rundung, die man diesmal hervorgebradt Gat. Mit jedem Modell wächſt die 
Sicherheit, der Cifer, die Freudigfeit, und man würde wobl nidt bemerfen, daß ein 
Yor: oder Nachmittag herum ijt, wenn die Folge der Arbeit nicht auch ein ganz 
mächtiger Ounger ware. Nur aug dieſem Grunde iſt die Glocke, die zur Ruhe und 
zu den Mahlzeiten ruft, willkommen; im übrigen kommt ſie immer viel zu früh. So 
ſchreitet die Arbeit rüſtig fort. Ein Werkzeug nach dem andern lernt man kennen, 
immer ſchwierigere Modelle bringt man hervor. Kaum glaubt man es ſelber, daß 
zwiſchen dem erſten primitiven Zeichenſtäbchen und der Anfertigung einer tief aus— 
gehöhlten Mehlſchaufel mit geſchwungenem Griff nicht ganz ſechs Wochen Zeit liegen. 
Daneben aber ſieht man Kollegen, Die ſchon den zweiten oder dritten Kurſus durch— 
machen, viel ſchwierigere Gegenitinde beritellen. 

Vom eriten Tage an ijt die Zeit ftreng eingeteilt. eden Morgen um 48 Ubr 
läutet die Frühſtücksglocke. Funf Minuten vor 8 Uhr verfammelt man fics in zwei 
Salen yur Morgenandadt, die in Dem einen in febwedifeber, in Dem andern in eng: 
liſcher Sprache gebalten wird. Um 8 Ubr ſteht alles an der Hobelbank. Die Vor— 
mittagsarbeit Dauert bis 4/21 Ubr und wird nur von einer PBaufe von 20 Minuten 
unterbroden, von denen 10 sur Rube, 10 yu gemeinfamen gymnaſtiſchen Tbungen be- 
ftimmt find. Sn der Mittagspauſe wird ein einfaches, aber reichliches warmes Früb— 
ſtück eingenommen, um 1232 Uhr beginnt die Arbeit wieder und dauert bis 5 Ubr, 
wiederum einmal durch cine Pauſe wie am Vormittag unterbrochen. Um 5 Uhr findet 
die Hauptmablyeit ftatt. Danach ift tiglich noch cine cinftiindige theoretifde Vorlefung 
oder Disfuffion. An drei Tagen der Woche find diefe in ſchwediſcher, an den Drei 
andern in englifder Sprache. Die Kurſiſten find je nad ibren Sprachkenntniſſen der 
einen oder anderen Gruppe jugeteilt. Für jede Gruppe find auf diefe Weife drei 
Abende frei, die nun fleißig su Spaziergängen, Rabnfabrten auf dem See oder fonitigen 
gemeinfamen Vergniiqungen ausgenugt werden. Zwiſchen acht und neun Ubr gibt es 
nocd) cinmal Tee und Butterbrot in den Speiſeſälen; bei qutem Wetter aber ijt dann 
nur ein Teil der Gefellfchaft zur Stelle, denn es kommt häufig vor, dab eine größere 
oder Fleinere Anzahl einen wweiteren Ausflug unternimmt und fic) die Borrate fiir ein 
Pidnid, bet dem in der Regel ein Feuer gemacht und Kaffee gekocht wird, mitninunt. 
Auch nach dem Abendtee ijt von Juni bis Auguſt draußen ja noch lichter Tag. Man 
findet ſich auf der Wieſe nochmals zu fröhlichen Frei- und Laufſpielen zuſammen, 
und wenn die Dämmerung allmählich hereinbricht und die erſten Sterne ſich zeigen 
oder der Mond ſich in der Fläche des Sees ſpiegelt, dann lagert man ſich wohl noch 
am Ufer des Sees und ſtimmt Lieder, ſchwediſche, engliſche, deutſche Volkslieder an, 
bis die Arbeit des folgenden Tages zum Schlafengehen mahnt. 

Nun zur pädagogiſchen Bedeutung des in Nääs gelehrten Handfertigkeitsſyſtems. 
Aus den kurzen, vorhin gemachten Andeutungen wird ſchon klar geworden ſein, daß 
der direkte Zweck der Arbeit die vollſtändige Herſtellung einer Reihe von brauchbaren 
Gegenſtänden aus Hols ijt, — dak dabei allmählich vom Leichteren zum Schwereren 
vorgeſchritten wird, daß größte Genauigkeit gefordert und möglichſte Selbſtändigkeit 
angeſtrebt wird. Wenn ich nun noch hinzufüge, daß der Unterricht nicht klaſſenweiſe 
erteilt wird, ſondern daß jeder Lernende nach dem Maß ſeiner Kräfte fortſchreitet, jo 
haben wir den Stoff zur Hand, aus dem ſich Herrn Salomons pädagogiſche Grund— 
ſätze und der erziehliche Wert ſeines Slöjdſyſtems herausſchälen laſſen. Adv möchte 
gleich den Kern geben: erſtrebt wird die allſeitige Ausbildung des Lernenden auf dem 
Wege der Selbſtändigkeit, des ſchaffenden Hervorbringens aus dem Rohmaterial deſſen, 


- ~~ 


* 


Der ſchwediſche Handfertighcitdunterridht und feine padagogifde Bedeutung. 865 


was geiftiq Ear erfaßt und angefdaut ijt. Der Lernende iſt in NAS der Lehrer oder 
Die Lebrevin; was er dort lernt, foll ſpäter der Schiller von ihm Lernen, nur nicht wie 
er in einem furjen Seitraum bet achtitiindiger täglicher Arbeit, fondern allmablich im 
Laufe feiner Schuljeit, zur Unterjtiigung feiner geijtigen Arbeit noch mehr als zur Ent: 
laſtung davon. 

Es feblt weder in Schweden nod in anderen Landern an Beſtrebungen zur 
Förderung der Handfertigkeit. Sofern dieſe nur eine Erholung de3 Schiilers von 
geiſtiger Arbeit anftreben, fofern fie von Handwerfern anjtatt von pädagogiſch ge— 
bildeten Lebrern gegeben werden, fofern die UArbeiten nicht von Anfang bis Ende vom 
Schüler hergeftellt werden, fofern ftimmen fie grundfaglich nicht mit den Beſtrebungen 
Herm Salomons iiberein. Bei ihm ift es immer die Erziehung des Lernenden, die 
er im Auge bat. Nac meiner Nberjseugung ift der fcblagendjte Beweis dafiir der 
Cinflup, den der aufmerfjame Kurjijt in NAGS an fic) felber beobachtet.  Cigentlich 
genügt ſchon das äußere Ergebnis, daß jeder in der fechiten Woche fo weit fommt, 
ein eigenes Modell yu erfinden, zu zeichnen und auszuführen, — und e3 ijt noc nie 
vorgefommen, daß jemand das nicht fertig gebracht bitte — aber dad ijt bei weitem 
nod nicht alles. Nachhaltiger ift der Gewinn fiir Auge und Hand, die einem jebt 
bis dabin ganz unbefannte Dienjte leijten; ebenfo die Luft und Freudigkeit zur Arbeit; 
ferner Die Stählung der Ausdauer, der Aufmerkſamkeit, der Geduld, der Willenstraft, 
kurz, das Wachjen der Herrſchaft tiber fich felber an Körper und Geijt. Wenn diefer 
Einfluß ſchon dem Erwachſenen in der kurzen Zeit von ſechs Worden fiiblbar wird, 
wie viel gréfer muß er bei dauernder Anwendung auf den biegfamen Geiſt und 
Körper eines Rindes fein! Und fragen wir nad dem Grund, fo finden wir, daß 
Herr Salomon jeinem Syſtem den Geijt des Dichterwortes einzuhauchen verjtanden 
hat, dad mir fo ganz befonders das Wefen des Slöjd auszudrücken ſcheint: „Im 
innern Herzen“ foll der Schüler ſpüren, „was er erſchafft mit feiner Hand”. Er foll 
jeinen Geijt ſchulen an einem jtreng logiſchen, allmablichen Fortſchritt vom Leichteren 
zum Sebwereren, wo die Anforderungen an jeine Kraft ſtetig wachſen und dennod 
Diefelbe nie iiberfteiqen, wo er der Hilfe des Lehrers immer nur fitr das Neue, was 
zu dem Alten hinzukommt, bedarf, aber alles übrige mit voller Sicherheit allein aus- 
führt. Gr foll feinen Willen ſtärken durch peinlich forgfaltige Musfiibrung einer 
gegebenen Aufgabe, dure jftrenge Einſchränkung in die gegebenen Mage an einem 
Stoff, aus dem auch die feinjten Formen durch forgfiltige Arbeit fic) bervorbringen 
fajjen, bei dem aber der geringſte Febler unvertilqbar ftehen bleibt. (Man ſchnitte 
ſich Lieber einen Millimeter vom Finger als vom Modell!) Es ſoll fein Gemiit  be- 
jriedigen, indem er vom erjten Augenblick an brauchbare und durch Ebenmaß ſchöne 
Gegenitinde bervorbringt und nicht Zeit und Kraft an nitzloſen Übungen zu ver: 
ſchwenden braudt. Das find nur einjelue dev vielen und grofen Vorzüge der Arbeit, 
wie fie in NAS unter Herrn Salomons geijtvoller Leitung getrieben wird. Ceine 
theoretiſchen Vorlefungen über fein Syſtem find eine Fundgrube richtiger padagogifder 
Wedanfen. Die Schriften aller großen Geijter auf dem Gebiete der Erziehung find 
ibm nicht nur befannt, fondern fo geldufig, daß er ihre Worte immer als Beleg 
feiner Beftrebungen bereit hat. 

Es gibt auch in der Tat, wenn wir im Geijte die gqrofen Padagogen an uns 
voriibersziehen laſſen, kaum einen, der nidt den Wert der Arbeit mit der Hand an— 
erfannt und ihre Anwendung in der Erziehung gefordert bitte. Und fie ſtehen nicht 
allein mit ihrer Forderung. Freunde der Menſchheit vereinigen ihre Stimme mit der 
ibrigen. „Arbeit“! ruft Carlyle aus, , welche unberecenbare Bildungsquelle! Wie 
ergreift dic Arbeit den ganzen Menſchen, nicht nur fein bischen theoretiſches Denken, 
jondern den ganjen titigen, bandelnden und duldenden Menſchen; wie wet fie Schritt 
fiir Schritt ſchlafende Kraft, entwurjelt fie allen Irrtum! Wer nichts getan bat, 
weiß nichts . . Tue etwas! gum erftenmal in deinem Leben tue etwas! fo wird 
dir fiber alles Tun ein neues Licht aufgehen. Von unbegrenster Bedeutung ijt die 
Urbeit; durch fie erreicht der beſcheidenſte Handwerker Grofes und Unerlapliches, das jeder, 
auch der Höchſtgeſtellte, der nicht mit feinen Handen arbeitet, zu verfeblen Gefabr läuft.“ 


366 Die italienifdje Frau in ben Camere del Lavoro. 


Mehr als die Generation, an die folche Worte gerichtet waren, bedarf ibrer 
die Menſchheit von heutzutage. Seit den Tagen Carlyles bat die Majdinenarbeit 
die Wrbeit der menſchlichen Hand immer mehr verdrängt, ja, es unterliegt wohl keinem 
Zweifel, daß fie es immer mehr tun wird. Sollten wir wünſchen, daß es anders ware? 
Sollten wir die Seiten der Handarbeit an Stelle der Majfehinenarbeit zurückerſehnen? Und 
was würde es niiben, wenn wir es täten? Wir fonnen nicht in die Speichen des Wades 
menſchlichen Fortſchrittes qreifen und eS jum Ctilljtand bringen. Aber eins können 
wir tun. Wir können die Bedürfniſſe unſerer Zeit verſtehen und ihnen Rechnung 
tragen. Vor hundert Jahren lebte in Deutſchland ein Mann, der mit dem Auge des 
Sehers die Zeit kommen fab, wo die Menſchheit ſich darauf befinnen wiirbe, Dak 
die Hand nicht minder den Menſchen iiber das Tier erhebt, alg die Sprache; er 
forderte die Erziehung der Tat an Stelle der Cryiehung des Wortes. Er hieß 
Friedrich Fröbel. Auch er wird erft gebirt und verftanden werden, went der 
Menfebheit die Segensquellen der Handarbeit verfieqt fein werden, wie er gehört 
und verjtanden wurde von Otto Salomon, als diejer die Segensquelle ſtandinaviſchen 
Hausfleifes verjieqen fab. Tief in der menſchlichen Natur liegen Krafte, die nur 
geboben werden können durch fcbaffende, bildende Titigteit der Hand, — die Oand 
unjerer Kinder, Die jebt nur die Feder führen lernt und doc nach anderer Wrbeit 
verlangt. Wir lajjen fie wohl auch mit den Händen arbeiten, allein wir veriwerten 
die Hand nicht fiir die Ausbildung de3 Geiftes, wir vergefjen, dah auf dem Gebraud 
der Hand die Kultur der Menſchheit berubt. Mit der täglich wachfenden Erkenntnis 
aber, daß die Cutwidlung der Gefamtbeit fich in der Entwidlung des einzelnen 
Menſchen wwiederholt, wird die Vefriediqung des Schaffenstriebes ju einer wefent- 
licen Forderung in der Erziehung unjerer Jugend. Wenn die Schule der Zukunft 
dereinft dieſe Forderung erfitllt, dann wird fie auch der bahnbrechenden Verdienſte 
Otto Salomons und ſeiner Anſtalt in Rääs gedenken. — 


———— 


Vie italienische Prau in den Camere del havoro. 


Gon 
Dr Robert Michels. 


Nachdrud verboten. 


Dileguan le tue brevi ultime aurore, 
O Giovinezza; tacciono le rive 

Poi che il tonante vortice dispare. 
Odo altro suono, vedo altro bagliore, 
Vedo in occhi fraterni ardere vive 
Lacrime, odo fraterni petti ausare. 


(Mus Poema Paradisiaco, 1891—1893.) 


in jener denfiviirdigen Kammerſitzung, in twelcher der berühmte Poet des moderni- 
- fierten italieniſchen Mittelalters, Gabriele D'Annunzio, {einen Platz auf der 
EJ auferiten Rechten verließ und mit der Begritndung, er fabe endlich cin, daß die 
Fonfervative Partei fein Herz fiir die a i des Volfes beſäße, ſchnellen Entſchluſſes zur 
Gruppe der äußerſten Linken iiberging, da hatte der nietzſcheaniſche Bertreter einer rein 
äſthetiſchen Weltanſchauung plötzlich ſein ſoziales Empfinden entdeckt. Zugegeben, daß 
D’Annunzio auch bei dieſer Gelegenheit ſeines an Affekten ſo reichen Lebens nicht nur 
ſeinem Herzen, ſondern auch ſeinem Hang zum bel gesto nachgegeben haben könnte, 
zugegeben fernerhin, dak der Dichter keineswegs yum Nationalökonomen, ja nicht cin: 





Die italieniſche Frau in ben Camere del Lavoro. 367 


mal zu einem Dugendpolitifer aus den Reihen der Reaktionäre auch nur die be: 
ſcheidenſten Talente befigen mag, wichtig bleibt dennoch das Cine, dah fic aud) eine 
jo überäſthetiſch angelegte Natur wie die des Dichter aus den Abruzzen, die fic) mit 
ängſtlicher Scheu vor jeder Berührung mit ernjten volkswirtſchaftlichen Fragen faſt 
inftinftiv zurückgezogen hatte, der Macht der jungen proletariſchen Bewegung feines 
Landes auf die Dauer nicht gu entziehen vermochte und fich, wie durch obige Strophe 
bewiejen, wenn auch mit Wehmut im Herzen gu dem befennenden Sang gendtigt jab, 
Daf, wenn Jugend und Schönheit gwar verginglich fei, fic feinem Auge dafür aber 
andere Harmonien und andere Pracht darbiete: brennende Tranen im Auge brüderlich 
gejinnter Manner und das laute Pochen von Bruderberzen! — 


Cin Poet bleibt Poet, auch wenn er von der modernen Arbeiterbewegung fpricht. 
Aber dem gründlichen Lefer wird der politifche Sinn der Worte D’Annunzios dennod 
flar. Was er fagen will, das ijt, daß cine fo gewaltige Bewegung, wie die des ſo— 
genannten vierten Standes, alle anderen weltbewegenden Fragen mit ungesiigelter Haft 
iiberfluten muß und daß diefe anderen, fo vielen Drenfden und Dichtern liebgewordenen 
Heiligtiimer dennod in jenem modernen Strom nicht elendiglich zu Grunde geben, 
jondern, wenn auch in verinderter Form, zu neuem Leben erivedt werden. 


Früher fpielte fic) Das Leben der Frau vorzugsweiſe im Hauje ab. Der Typus 
der Hausfrau hat fic, zumal iu Deutfchland, bis auf den beutigen Tag evbalten. 
Er herrſcht bei den Frauen des Mitteljtandes unbedingt und bei denen der fogenannt 
hiberen Schichten bedingt immer noc vor. Aber Millionen und Wher - Millionen 
anderer Frauen find durd die Entiwidlung des modernen Grofbetriebs gewaltfam aus 
dem Hauſe getrieben worden, hinein in die Arbeitswerkſtatt, in die Fabrif! All diefe 
Frauen find zwar nocd Hausfrauen in des Wortes buchſtäblicher Bedeutung geblieben, 
aber doc) nur fozujagen im Nebenamt. Wenn fie des Abend$ nad) barter Arbeit, 
an allen Gliedern zerſchlagen, totmüde nad Hauſe fommen, dann haben fie ja 
nod alle jene häuslichen Verricdtungen ju bewältigen, zu welchen die Nichts-als-Haus- 
frau ihren ganjen Tag gebraucht. Es bedarf wobl faum nods einer befonderen Er— 
wibnung, dab ein Weib, bei welchem die Gausfrauenpflichten nur einen winzigen Teil 
des Tages in Anſpruch nehmen diirfen, fich dem Nichts-als-Oausfrauentypus allmählich 
entfremdet und jum Prototyp eines „neuen Weibe3” mit neuen Lebensanſchauungen 
und Lebensidealen wird. Die Genefis diefes neuen Weibestypus mag ja nun zweifel— 
los mit vielen Gefabren fiir Leib und Seele, fiir Körper uud Geift des Individuums 
verbunden fein, ja fie mag felbft voritbergebend — bei einzelnen Arbeitszweigen fogar 
chroniſch — eine ernjte Gefabr fiir die phyſiſche Weiterentwidelung der Menſchheit 
bedeuten, ja fie mag ſchließlich fogar mit einem gewiſſen Recht von fo fanatifden 
Hogienifern, wie es der römiſche Profeſſor Tullio Rossi-Doria ijt, alg das größte Unbeil 
der Jebtzeit angejeben werden, immerhin ſteht meiner Nberjeugung nad aber dod) das 
Cine fejt: fie ijt nicht nur unter den gegebenen Verhältniſſen wirtſchaftlich notwendig, 
fondern fie bildet auch die via Crucis ju einer höheren Spezies Weib. Die Geneſis 
wird zur Regeneration. 

Freilich cine grofe Gefahr ijt vorhanden. Der moderne Jnduftrialismus, als 
reinwirtſchaftliche Entwidlungsperiode gefapt, wertet das Weib, das er, einem Maſchinen— 
teilchen gleich, ju feinemt Raderwerf benugt und ausnubt, zwar um, aber er wertet 
es nicht obne weiteres höher. Mus der fritheren Nichts-als-Hausfrau tnetet er mit 
feinen rupigen Händen zunächſt bloß die de blöde Fabrifarbeiterin. Dieſe bedeutet 
zwar einen anderen Topus Weib, aber noch feinen höheren Typus Weib. Und dod) 
ftedt in ihr bereits der Anfak zu einem folcen höheren Typus. Zur Entwidlung 
dedfelben gebdrt nur ein Koeffisient, der Koeffizient der zunächſt nur intelleftuellen 
Befreiung. Wenn die Eleine hohläugige Urbeiterin arbeitet und arbeitet, ohne Cinn 
fiir irgend cine höhere Frage, obne Verſtändnis fiir die großen Zufammenbhange ihrer 
Tagesarbeit mit dem Gang der Weltgefdichte, wenn fie über ihr Werf, das fie 
verrichtet, iiber den Lohn, den man ihr dafür in die Hand drückt, nicht jelber nach— 
denft, wenn fic in egoiſtiſcher Abgefehloffenheit ſchon befriedigt ijt, falls fie nur genug 


368 Die italieniſche Frau in den Camere del Lavoro. 


Verdienit hat, um nicht Hungers fterben yu miiffen und vielleicht Sonntag? einmal 
auf dem Karuſſell reiten zu können, und wenn es ihr gänzlich gleichgiltig tt, of und 
wie ibre Arbeitagenofien und -Genoffinnen um beffere Lebenshedingungen kampfen 
und jtreben, dann ift fie jweifellos nur eine Art Menſch auf primitiviter Lebensſtufe, cin 
halb kindiſches, halb greifenbaftes Urbeitstier. Crit wenn die Geftalt menſchlicher 
Solidaritat an fie twerbend berantritt und die Verkümmernde an allem teilnebmen 
läßt, was heute Menfdenbirn und Menſchenherz bewegt, wenn fie fabiq wird, um 
fremden Leides willen felbjt zu leiden und fremde Freuden felbjt mit zu empfinden, 
wenn fie dann ſchließlich, von heißem Durſt nach Erfenntnis getrieben, das früber fo 
geliebte Karuſſell bovfottiert und fic) in ibren ach fo fargen arbeit3freien Stunden 
mit jenen Groblemen befchaftigt, von deren Löſung ibre endlicde Erlöſung abbangen 
mag, nur wenn an die Stelle Dumpfen Dabhinvegetierens freudiger Lebenskampf, an 
die Stelle mürriſcher Refiqnation ing fogenannt Unvermeidlice rofige Goifnungstreude 
tritt und das Wifjen nicht mebr als ein beterogenc3 Clement, ja, als cine feindlicde 
Macht empfunden wird, fondern als rettende Hilfe in traurigen Stunden, dann erſt 
hat das Weib den Reim yu einem neuen Menfcbbeitstypus in fid. Diefer qanye 
Prozeß aber entwidelt ſich in jenem Kompler geſellſchaftlichen, politiſchen, gewerficatt: 
lichen und popular: wijjenfcajtliden Wejens, den man unter dem vegriff der 
Organiſation zuſammenfaßt. 


* * 
* 


Die Wurzel diefer Organifation der Arbeiterfebaft Liegt mim in Italien bei den 
Camere del Lavoro. Diefe, zu deutſch Arbeiterfammern, find eine den deutſchen 
Gewerkſchaftshäuſern ähnliche, aber keineswegs völlig addquate Cinricdtung. Zumal 
ſpielen die Camere del Lavoro cine viel größere Rolle im Leben des italieniſchen Pro— 
letariates als die Gewerkſchaftshäuſer im Veber des deutſchen. Und das fommt nicht allein 
daber, dak in Stalien fich meijt aud) die Arbeiterſchaft der Heinen Landſtädte in der 
Errichtung einer ſolchen Camera ihren Mittelpunkt ſchafft, während in Deutfdland 
das „Gewerkſchaftshaus“ fich nur in den Großſtädten vorfindet und felbit dort in manchen 
feiner eigentlich weſentlichſten Funftionen durc die Kneipe oder den Brauereijaal 
erjest wird. 

Was ijt alfo nun folds eine Camera del Lavoro und twas beswedt fie? 


Entitanden und begriindet durd das klaſſenbewußte Proletariat bat fie zunächſft 
Den ausgeſprochenen Swed der Klaſſenvertretung der proletarijden Rolleftivintereijen 
am Orte. Zu dieſem Behufe hat fie ſich folgende Organe gejdaffen: 


1. einzelne ftreng von einander gefonderte, villiq autonome, dic Arbeiterſchaft je 
eines Berufes umfaſſende Teilvereine (leghe di miglioramento), welche fic) mittefft 
engen Zuſammenſchluſſes yu ciner gemeinſamen Camera del Lavoro vereinen und durch 
Gründung fogenannter Widerftandsfajjen (Casse di resistenza), nötigenfalls durch 
Urbeitsausitinde, vorteilhafte AWrbeitsgelegenheiten zu erringen beziehungsweiſe zu 
ſichern ſuchen. Arbeitsloje, fowie vom Arbeitgeber im Dienft der Gefamtbeit gemaß— 
regelte Mitglieder der Lega werden von der Kaſſe aus gleidfalls unterftiigt. 


2. Den aus eingelnen Mitgliedern der Sondervereine (Seftionen) zuſammengeſetzten 
und von ibnen veh gewablten Vorftand, welcher die Giunta Esecutiva (ausfibrendes 
Komitee) bildet, Diefer Ausſchuß der jtadtifcben Arbeiterſchaft hat zunächſt die Verpflichtung 
des Vermittelns. Noch bevor fie befcbliefen, in einen Ausſtand yu treten, baben die 
cinjelnen Seftionen die Vermittelungsdienjte der Camera del Lavoro anjurufen. Dieſe 
iibernimmt dann die Unterhandlung mit den betreffenden WArbeitgebern und ftellt zu einem 
etivaigen Schiedsgericht die Schiedsrichter der Arbeiterſchaft. Aber auch 3u wirtſchaftlichen 
Friedenszeiten hat die Camera del Lavoro zwiſchen Arbeit und Kapital zu vermittein. 
Durch Errichtung eines ſtatiſtiſchen Nachforſchungsamtes (Arbeiterſekretariat) hat ſie 
ein Stellenvermittelungsbureau ins Leben zu rufen, welds, miglidvt nach mit den 
Arbeitgebern vorher genaueftens feſtzuſtellenden Tavifen, in denen die Fragen de3 Lohnes, 


Die italienifebe Frau in den Camere del Lavoro. 369 


der Arbeitsjeit, der Wohnung und RKoft uſw. endgiltig geregelt und durch Unter: 
febrift feftzulegen find, allen Urbeitern, auch ſolchen, die nicht Mitglieder der Kammer 
find, jederzeit unentgeltlich zur Verfügnng ftebt. Wenn es der Kafjenitand einiger- 
mafen geftattet, bat die Camera del Lavoro fernerbin Arzte, und yur Bewältigung 
der juriſtiſchen Schwierigkeiten, Proseffe ufw., Rechtsanwälte als ſtändige Beiräte 
zu beſolden. 


Um alle dieſe Funktionen erfüllen zu können, muß jede Camera del Lavoro ein 
eigenes Haus beſitzen, in dem neben dem Sekretariat und den anderen Beamtenzimmern 
noch mindeſtens ein großer Sitzungsſaal ſowie womöglich ſo viele Einzelräume als 
Berufsſektionen vorhanden ſein ſollen. 


Außer dem wirtſchaftlichen Daſeinszweck hat die Camera del Lavoro aber auch 
noch eine zweite, mindeſtens ebenſo wichtige Exiſtenzberechtigung. Sie erſtrebt auch 
die moraliſche ſowie die intellektuelle Hebung ihrer Mitglieder. 


Schon das wirtſchaftliche Zuſammenſtehen, die Klaſſenſolidarität, die es häufig 
fertig bringt, daß, um einer in ihrem Kampf gegen das Unternehmertum unterliegenden 
Sektion beizuſtehn, die ganze Camera del Lavoro beſchließt, mit in den Streik zu 
ziehen — Generalſtreik —, bat eine natürliche Rückwirkung auf das rein perſönliche 
Kameradſchaftlichkeitsgefühl der einzelnen Arbeiter untereinander. Gehoben wird das— 
ſelbe aber noch ganz beträchtlich dadurch, daß die Arbeiter ihre Camera del Lavoro 
als ihre zweite Heimat betrachten. Nach getanem Tagewerk ſieht man ſie in Scharen 
in die Camera ziehen, um dort — ohne Alkoholgenuß — in traulichem Zuſammenſein 
mit den Arbeitskollegen Gedanken — und nicht nur Gedanken wirtſchaftlicher Eroberungen, 
nicht nur „Magenideen“ — auszutauſchen, denn auch das Bewußtſein, einer geachteten 
und mächtigen Klaſſeninſtitution anzugehören, welche keinem „Wohltäter“ dankbar zu 
fein bat, ſondern ein self-made-work iſt, trägt ebenfalls nicht wenig dazu bei, die 
Bruſt des Proletariers zu heben und ihm das vorher unbefannte Gefiihl eines Wertes, 
und mit dieſem eine ungeabnte Hoffnungsfreudiafeit einzuflößen und eine erneute Arbeits- 
fraft in ibm gu erjeugen. Vortrage über ethiſche Bflichten und ſozialpolitiſche Forderungen, 
Die mindejtens einmal monatlich gebalten werden, Fortbildungsfurfe in der Arbeits- 
fammer felbjt, Bibliothe und Leſezimmer, Liebbabertheater und eine enge Verbindung 
mit den meijt von Hochſchullehrern gebaltenen Kurſen der Universita Popolare ver- 
vollitindigen das Bild.') 


* * 
* 


Die erjten Camere del Lavoro entftanden Ende der adtziger Jahre im Norden. 
Im Juni Juli 1893 fand in Parma der erjte Kongreß der Urbeitsfammerreprajentanten 
ftatt. Zeilnebmer waren 12 Camere del Lavoro (Bologna, Brescia, Cremona, 
Florenz, Mailand, Parma, Pavia, Piacenza, Padua, Rom, Turin und Venedig). Der 
Sturm der Ier Reaktion fegte fo mächtig, dah felbft der erſt 1900 in Mailand ab- 
gebaltene Kongreß Feine größere Anjabl von vertretenen Arbeitsfammern aufzuweiſen 
hatte. Bon da ab aber ging die Entwidelung wieder mit Riefenfdritten vorwärts. 
Der Kongreß in Reggio Emilia (1901) fiigte 54 Camere zu gemeinfamer Arbeit 
zuſammen, mit anderen Worten: nicht weniger als 54 italienifeche Stadte waren bereits 
im Beſitz eines folchen Arbeiterbaufes. Hier entftand auch das gemeinjame Verbandsitatut 
und die Errichtung des aus 7 Perfonen bejtehenden Zentralausfdufjes, fowie eines 
Agitationsfomitecs zur Forderung der Propaganda unter der nod nicht organifierten 
Arbeiterſchaft. Hier wurde endlich) auch die Herausgqabe einer offiziellen Monatsſchrift be- 
ſchloſſen, der Cronaca del Lavoro, welche in Mailand erſcheinen und von drei Redakteuren, 
Gino Tavecchia (männliche Induſtriearbeiterſchaft), Maria Cabrini (weibliche Induſtrie— 


') Gine kurze aber anſchauliche Betradtung über Biel und Zweck der Arbeitsfammern gibt 
ber langjibrige verdiente Arbeiterfefretir in Monza Eugenio Ciacchi in feiner Broſchüre: 
,Cos’ @ la Camera del Lavoro? 52 Edizione Firenze 1901. Biblioteca Educativa Sociale. 
Nerbini Editore. 

24 


a 


370 Die italienifde Frau in ben Camere del Lavoro. 


arbeiterſchaft) und Carlo Vezzani (Landarbeiterſchaft und Rleinbauerntum) geleitet 
werden follte. Inzwiſchen ijt die Bewegung fo ſtark gewachſen, dah eine genaue 
numeriſche Angabe der AUrbeitsfammern nicht möglich iſt. Dagegen babe ih, um von 
der Starfe und dem Wachstum einzelner, beſonders bervorragender Camere cin 
ungefabres Bild ju entwerfen, folgende Tabelle zuſammengeſtellt. 


Cabelle 1. 
Camera del Lavoro Jahr Mitgliederzahl Seltionenzahl 
in 
Piacenza... 2. 1901 1755 in 23 Seftionen') 
sf) vain ah tore Februar 1902 6 000 » 36 J 
Mantua .. . . .. Oktober 1901 1914 „23 i 
we | Dezember 1902 2501 » 40 oa 
ll ae ea 1901 1 902 ~ 26 = 
Wleffandria . . . .. März 1902 2805 a ot » 
Neapel..... Februar 1902 12 000 ,» 68 - 2) 
Pavia ....... Ende 1900 800 ? 
a> tot ots yh se el Bs Dezember 1902 47744) 2 
Mailand .. . . .. Januar 1902 15 000 » 150 < 
Meffina ...... Februar 1902 1 200 » I - 
Ferrara (provincia) — 1902 28 000 » 147 — 
Brescia..... 1901 2137 » 38 - 
1902 5 496 , 82 — 


|) ee ee 


Als die bedeutendſte und am beften geleitete Camera gilt Ddiejenige in Mailand. 
Dod mögen ihr viele andere an innerer Bedeutung faum nadyjteben, fo Bologna, 
Monza, Brescia und Sampierdarena‘). Das Arbeitsnachweisbureau in Mailand bat 
im Jahre 1901 2779 Arbeitern Urbeit verſchafft“), die Studienfommiffion der Arbeits- 
fammer in Brescia im Jahre 1901/02 unter Herangiehung bedeutender Gelehrter und 
Sosialpolitifer von auswärts über die verfchiedenften Gebicte menſchlichen Wiſſens 
26 Borlefungen abbalten laſſen, die Feier deS 1. Mai ijt faft allerorten von der 
Unternehmerſchaft durch Cinjtellung der Arbeit in den Betrieben offiziell fanttioniert 
worden. Diefe drei aus der weitgefpannten Tiitigfeit der Camere del Lavoro 
herausgegriffenen Tatſachen werfen ein Helles Licht auf die in ihe zum Ausdrud 
kommende Energie der Vielfeitigfeit. 


* * 
* 


Bisher haben wir von der Frau nur im Zuſammenhang mit der ganzen Bewegung 
geſprochen, wenden wir uns ihr jest einmal im einzelnen ju. 

Es ift nicht gu bezweifeln, daß die Stalienerin viele Eigenſchaften befigt, die jie 
sum Cintritt in die gewerkſchaftliche Bewegung förmlich pradeftinieren. Cie ift — 
joweit man überhaupt folleftiviftijds urteilen darf — leicht fir grofe Ideen zu ge: 
winnen, keineswegs geizig mit dem Gelde, befigt einen ftarfen Zug yur Aufopferung 
und bat Blut genug, um aud) eventuellen Gefahren mit mutiger Entſchloſſenheit ins 


) Nad) Mitteilungen bes Avanti und ber Cronaca del Lavoro. 

7) Nac) cinem Bericht bed Prof. Arturo Labriola im Avanti 1868. 

>) Rad einem Bericht von Pompeo Ciotti, Arbeiteriefretar in Pavia, im Avanti 2206. 

*} Cine Geſchichte der Camera del Lavoro in Gampierdarena gibt die kleine Broſchüre von 
ee Chiesa: ,Parla il Lavoro.“ Firenze 1902. Biblioteca Educativa sociale. Nerbini 
cditore, 

*) ,Camera de] Lavoro di Milano: Relazione Morale e Finanziaria e Bilanci dell'Anno 1901.* 
Milano. Tipografia degli Operai (Societd Cooperativa) 1902. 


i 


Die italieniide Frau in den Camere del Lavoro, 871 


Auge zu feben. Daneben freilich ift fte nicht geſchaffen für eintönig langes Ausharren. 
Ihr Mut gebt mehr ing Hobe alS ins Breite. Trogdem hat die Organifation fie 
auc bereits gu den mühevollſten und felbjt langwierigſten Kampfen befabigt gemadt, 
wie denn Oda Lerda-Olberq gelegentlic) der Frage, ob es fiir das Weib eine foziale 
Entfaltungsmöglichkeit gabe, einmal ſehr ridtig bemerft, dah neben den durch die Buren: 
frauen im Kriege geleiiteten Dienften andy die ,,befonnene Tapferfeit der Land: 
profetarierinnen in der Romagna,” als bejonder3 bervorjpringende , Beweiſe fiir die 
„ſoziale Betdtiqung” des Weibes zu betrachten feien'). 


Hinderlich für das Eintreten der Frau in die ſoziale Bewegung ſind aber 
neben ihrer im allgemeinen geringeren Stetigkeit die klerikale Erziehung und der 
Beichtſtuhleinfluß. Doch weichen auch dieſe immer mehr der modernen Auf— 
klärungsarbeit. 


Erſchwert wird dieſe Kulturarbeit freilich durch den zumal unter den Frauen 
herrſchenden, infolge des entſetzlichen Schulmangels hervorgerufenen Analpha— 
betismus. Beträgt dod) nach dem offiziellen Bericht des Miniſteriums fide 
Aderbau, Handel und Gewerbe der durchſchnittliche Prozentſatz in den Provinzial— 
hauptſtädten bei männlichen Analphabeten 25,9 , bei weiblichen Analphabeten 
aber 35,7 "/,! 


Auf die einzelnen Städte berechnet, iibertrumpft das weibliche Gefchlecht das 
männliche an Unkenntnis des Lejens und Schreibens in folgender Weife: 


in Bergamo ....... fommen auf 100 männliche 100 weiblide Analphabeten 
» Mailand........ J — Ze 103 - s 
eS oe ea J ee 105 * 
„Caltaniſſetta (Sizilien) , —72 J 110 ” 4 
„Teramo..... — ae ‘ 115 2 x 
a . . ...... oe. * 115 — J 
» Gatamjaro. ...... ee ee * 118 ee J 


Auch hier alſo wieder das alte Phänomen. Je weiter die Skala nach Süden 
fällt, deſto ungebildetere Frauen trifft ſie an. Aber auch dieſes Hindernis wird durch 
die Gewalt der mit Rieſenſchritten vorwärtseilenden Entwicklung allmählich aus dem Wege 
geräumt. Italien iſt bas Land der Frauenarbeit par excellence. Nirgends nimmt 
die Frauenarbeit einen ſo hohen Prozentſatz zur Männerarbeit ein, wie hier. Im 
Norden, ſowie in einzelnen, nicht einmal immer weniger beſchwerlichen Arbeits— 
zweigen, auch im übrigen Italien hat ſie geradezu erſchreckende Dimenſionen an— 
genommen. Man betrachte nur beiſtehende Tabellen: 


Tabelle 2. 


Verteilung der Lohnarbeit von Männern und Frauen auf die einzelnen 
Provinzen (1880). *) 


Provingen Manner Frauen 
Piemont...... 22 617 40 388 
Yombardei .. ... 24 438 78 743 
Benetien. 2... . 11151 21 257 
Gwilia. ...... 4448 6114 
Le Mardhe .... 2753 6 248 
Toscana... . 7 759 11 386 


) Oda Olberg: „Das Weib und der Intelleltualismus.“ Berlin-Bern 1902. p. 114. 
7) Mus Vittorio Ellena: , Statistica di Alcune Industrie Italiaue’. Milano 1880 p. 32. 


24% 


a 


372 Die italienifde Frau in den Camere del Lavoro. 


Cabelle 8. 


Verteilung der Lobnarbeit von Mannern und Frauen auf die eizelnen 
Arbheits;weige (1880). ') 


Arbeitssweig Minner Frauen 
ete oka Sle wares 15 692 120 428 
Baumivolle. .... . 15 558 27 309 
Wes is he ine es 12 544 7 765 
KFaͤn 4578 5 959 
Gemiſchte Tertilinduftrie «2 185 2 530 
a ra faft die gleiche Anzahl 
Tabak .. 2... 22 ee 1 947 13 707 
JJ a ee fajt nur Manner befdsaftigt. 


So driingte denn die Entiwidelung felber die Frauen madtvoll yur Organifation 
bin. Nur durch einen Zuſammenſchluß war die völlige Degeneration der Raſſe su 
vermeiden. Das einzelne Weib ift der Willkür feines Urbeitgebers ohnmächtig preis- 
gegeben, die Vereinigung vieler Manner und Weiber zu einer Macht aber vermag 
unter Umſtänden der ganzen Unternebmerjdaft Befeble zu diftieren. Co vermochte 
geiftiger und wirtſchaftlicher Fortſchritt die Frauen yu dem erjten großen Sehritt su 
ibrer Befreiung, jum Cintritt in die Bewegung der Zeit. In den Jahren zwiſchen 
1891—1895 Peer wir, wie aus beiftebender Tabelle erfichtlich), die Frauen ſchon 
siemlich jtarf an den Arbeitsfammern beteiligt. 


Tabelle 4,°) 


abr der Mitglieder 

Entftebung Manner Frauen 
ts | Sa September 1891 2 000 20 
Mailand .......... September 1891 10 000 700 
SONG: eel & ara.ce ee Suni 1894 1 600 250 
CHOU, ne G2 a mig as 5 Januar 1893 5000 3000 
Sresii Sh acs Oktober 1892 1 311 116 
Cremona.......... Auguſt 1893 1980 220 
ME eg Set tt 4s sade Mar, 1893 972 — 
Ct a Mat 1893 2 000 60 
Piacenza. ......... Juni 1891 741 10 
Sampierdarena (b. Gera) Oktober 1895 1500 35 
Förenn März 1893 3 900 100 
Rom ....... Mai 1892 8600 50 
Oe. ie, Be apc ta Januar 1894 2 600 250 


Wie Emilia Marabini bevichtet, waren aber in Rom*) auch in den Qabren 
1896/97 neben 12 000 Mannern immer nur nods fnapp 50 Frauen gewerkſchaftlich 
organijiert. Während die Organijation unter den Männern ſich alfo gefraftiqt batte, 
war Diejenige der Frauen fteben geblieben. 

Erft die Wiederaujerftebung nad der Reaktion von 1898 wirkte belebend. Die 
Sabre 1900 und 1901 verbrachten wahre Wunder organiſatoriſcher Arbeit. Heute it 
der Stand der gewerkſchaftlichen Frauenbewegung, wie die angefiigte, nod) nicht einmal 
entfernt volljtindige Tabelle zeigt, ein ziemlich weit vorgeſchrittener: 


1) Ebenfalls bei Ellena, 

2) Entnonunen der orienticrenden Brofciire von Angiolo Cabrini: „Le Camere del Lavoro 
in Italia.“ Genova 1896, A Cura della Federazione Socialista Ligure. p. 22 nu. 23. — Die 
Bablen der Frauenorganifation in Turin und Sampierdarena entftammen eigenen Qnformationen. 

) 8. Emilia Alciati-Marabini; ,,Propaganda“, Postuma, Roma 1898, Tipografia Cooperativa 
Sociale. p. 62, 


— 


Die italientihe Frau in den Camere del Lavoro. 373 


Tabelle 5, 
Die italienifden Gewerlfdhaften im Auguft 1902.') 
Mitglieder zahl 
— — — 
a) Landwirtſchaft Manner Frauen 
Rationalverband der Landarbeiter, Zentralfig Mantua, friiber Bologna 213 200 26 800 
b) Handel 

Lega Librai (Bucharbeiter) Turin... 2... ee ee ee 8 800 800 

Operai dell’ Industria Chimica (Chemifde Qnduftriearbeiter) 

SUA” i. 2 line eee Sek. Olt grit i oe Se! ny Mw eae 4000 2000 
Orefici (Goldarbeiter) Genta 2... ee eee 614 45 
Cappellai (Outarbeiter) Momja . ee ee 3441 1779 
Pellattieri (Lederarbeiter) Mailand. . ... .... . ... 3924 40 
Metallurgici (Metallarbeiter) Mom... 2... ee. 49 800 200 
Calzolai (Schufter) Maitland. 2... ee ee 2961 500 
Operai delle Arti Tessili (Tertilarbeiter) Mailand . . . . . . .. 6000 12000 

c) Verfebr 
Federazione Nazionale degl’ Impiegati Postali e Telegrafici 

(Poſt- und Telegraphenbeamtenverein) Mailand. . . . . ... 5 500 200 
Federazione Nazionale degli Operai del Mare (Qafenarbeiter- 

Derry Gea es ö 11 900 100 


d) Staatsbetriebe. 


Federazione Nazionale degli Operai dello Stato (Staatswerfftatten 
der Königlichen Tabak, Waffen: und Wertpaypier-Arbeiter). . 7000 3000 


Leider ift es mir im Wugenblid nicht möglich, einen Vergleich der organifierten 
Frauen Italiens mit denen ciniger anderer Induſtrieländer anguftellen. Um aber den 
Leferinnen wenigftens ungefähr cinen Begriff von der hohen Bedeutung, die gerade 
die in Stalien gewonnene Bewegung bat, zu geben, habe id) hier eine Tabelle zuſammen— 
qeftellt, in welder die Urbeiterinnen von Mailand die Stelle derer von gan; Stalien 
einnehmen. 


Tabelle. 
organiſationsfähige Frauen davon 
Land in Handel und Snbuftrie organifiert Progentiag 

oh 4 a re 193 039 1,70 

(inkl. Dienftboten) 
Frankreich) 2... 402 243 2,59 
Deutidland’) ...... 826 000 23 600 2,63 
Mailand*)... ..... 46 512 4635 9,09 


Bet diefer hohen Riffer der organifierten Arbeiterinnen in Mailand®) ift nun 
freilic) gu bedenfen, daß diefe Stadt fo recht das Zentrum der gewerkſchaftlichen Bee 
wegung unter den Induſtriearbeitern ijt, alfo befonders giinftige Zablenverhaltniffe auf— 
weijen mug. (Schluß folgt.) 


) Rufammengeftellt aus einer Tabelle, befindlid) bet Angiolo Cabrini: „Die Arbeitsfammern und 
bic Gewerlidaften in Stalien” im ,,Rorrefpondengblatt ber Generalkommiſſion der Gewerkſchaften Deutſch— 
lands“ XII, Rr 42. Hamburg, Oftober 1902. 

2) Chagrin (ps.) in: ,,Rivista Internazionale: Problemi del Lavoro“. I. 1, Rom, Muguft 1902. 

3) Commission Supérieure du Travail de l'Industrie. aris 1902. 

*) Alice Salomon: ,,Sociale Frauenpflichten“. Berlin 1902 p. 110. 

) Rach einer von Maria Cabrini in der Cronaca del Lavoro (1, 2) sufammengeftellten Tabelle. 

9 Beilaufig! Jn England find unter den 1922 730 Mitgliedern der Trades Unions blos 120 078 
weibliche Organifierte!! (Ang. Cabrini: ,L’Organizzazione Trade-Unionista* im Avanti 2385.) 


— 





TS 


in einer am 10, Februar ftattgebabten Sitzung 
entfdieden. Für die Ablehnung des vollen 
Wabhlredtes der Frauen gaben die Stimmen ber 
PBundesratsbevollmactigten der vier größten Bunded: 
ftaaten ben Ausſchlag, die erflarten, daf dad Frauen: 
wahlrecht fiir fie unannebmbar fet. Die Berteidi: 
gung ber Anſprüche ber Frauen durch ben Abgeord- 
neten Miiller-Meiningen und Dr Dove von ber 
freifinnigen Bereinigung war dieſen Erklärungen 
gegeniiber erfolglos. Es ift wohl faum ju erivarten, 
daß ber Beſchluß der Rommiffion im Plenum durd 
cinen giinftigeren erſetzt wird. 


* Franenftudium an den deutſchen Univerſi— 
titen. Im laufenden Winterhalbjabr find im 
ganjen 85 Frauen an den deutſchen Univerfititen 
rechtmäßig immatrifultert und, foiweit man nag 
den verdffentlicbten amtlichen Perſonalverzeichniſſen 
geben fann, 1260 als Sofpitantinnen eingeſchrieben, 
wobei gu erwabnen ijt, dag die Univerfititen Frei- 
burg, Greifswald und Roftod über die hofpiticrenden 
Frauen inumer nod feine Angaben maden. Bon 
den immatrifulierten Frauen entfallen 28 auf Heidel: 
berg, 26 auf Freiburg, 25 auf München, 3 auf 
Würzburg und 1 auf Erlangen. Wn der Univerfitit 
Giefen find zwei Frauen als ,,Sofpitantinnen 
aufgenommen”, im Gegenfag gu den iibrigen nur 
eingeſchriebenen Hofpitantinnen. Etwa drei Biertel 
der immatrifulierten Frauen ftudieren Medizin. 
Als Hojpitantinnen find dann eingetragen: in 
Berlin 662, in Breslau 98, in Bonn 87, in Würz-— 
burg 75, in Strafburg 71, in Königsberg 67, in 
Leipzig 82, in Gottingen 57, in Halle 51, 25 in 
Sena, je 22 in Heidelberg und München, 18 in 
Marburg, 15 in Kiel, 10 in Erlangen, 9 in Gießen 
und endlich 3 in Titbingen. Uber die von den 
Hojpitantinnen gewählten Vorlejungen feblen alle 
Angaben, es läßt ſich nur im allgemeinen fagen, 
bah weitaus die Mehrzahl der philoſophiſchen 
Fakultät angebort. 


* 


— oN 


—66 is: 


Raddrud mit Ouclenangabe erlaubt. 


* Nber das Wahiredt der Frauen fiir die 
Kanfmannsgeridjte bat die Reichtagslommiſſion 


* Zur Beteiliquug der Franen an der fommn- 
nalen Schulverwaltung bat der Allgemeine 
Deutſche Lebrerinnenverein an das preußiſche 
Miniſterium die Bitte gerichtet, 

1, bad Miniſterium wolle bie Heranziebung 
der Lehrerinnen zu den lokalen Schul— 
verwaltungsbehörden (Schulvoritinden, Schul⸗ 
deputationen) befürworten, ſoweit die jert 
geltenden Beſtimmungen fie ermöglichen, bezw. 
bei einer Neuregelung der Verhältniſſe der 
fommunalen Schulverwaltungen der Lebrerin 
die gleichen Berechtigungen hinſichtlich der Ber: 
tretung in der Schulverwaltung geben wie dem 
Lehrer. 2. Das Miniſterium wolle in der 
ſelben Weiſe den Eintritt von Frauen in die 
lommunalen Schulvorſtände als Vertreterinnen 
ber Eltern der Schulfinder, bezw. ber Biirger 
oder Gemeindemitglieder ermodglicben. 

Der Allgemeine Deutſche Frauenvercin 
hat ein Flugblatt unter dem Titel: „Frauen in 
der fommunalen Schulverivaltung” veröffentlicht, 
bas in furjen Zügen die Griinde fiir die Sulafiung 
der Frauen gur fommunalen Schulverwaltung, die 
Möglichkeiten ibrer Mitarbeit, die Mittel und Weae, 
fie au erreichen angiebt. Es foll den Frauen bezw. 
den Vereinen Fingerzeige fiir cine allgemcine 
Agitation in der Sache geben. 


* Um die Ginridjtung obligatorijder Fort. 
bildungsfdjulen fiir die fanfmannifdjen weibliden 
Augefteliten petitionicrten eine Reihe von Vereinen 
bei dem Magiſtrat von Berlin. Die Petitionen 
differieren in einem Bunft: von einer Seite 
(Verein Frauenwobl u. a.) wurde um gemetnfamen 
Unterrict der Geſchlechter gebeten, während man 
auf der anderen Seite (Verliner Lebrerinnenverein, 
Viltoriafortbiloungsidule u. a.) es aud auf Grund 
der anderswo (Frantfurt) bereits vorliegenden Gr: 
fabrungen fiir bebdentlid) hielt, das Pringip der 
Kocdufation suerft auf dieſem Gebiet, das von 
allen die größten Schwierigleiten bietet gu etablieren, 
auf cine nicht focbufationale Volksſchule cine Fort: 
bildungsſchule mit gemeinfamem Unterricht au 
| pflanzen. 


Bur Frauenbewegung. 


* Der Landesvercin preußiſcher techniſcher 
Lehrerinnen Halt feine 6. Generalverſammlung 
vom 4. bid 6. April in Berlin, Königliche Augufta: 
Soule, Kleinbeerenftrafe 16—19, ab, 


* Qwei neue ftaatlidje Lehrerinnenfentinare 
werdenin Preußen zu Oftern 190-4 eröffnet werden, cin 
tatholiſches in Liffa und ein evangeliſches in 
Lowenberg. 


*Zur Fortbildungsſchulpflicht der Mädchen. 
Zu dem Geſetzentwurf, betreffend die ländlichen 
Fortbildungsſchulen in Heſſen⸗Raſſau hat ber Landes: 
vercin preußiſcher Volksſchullehrerinnen cine Petition 
eingercicht, in ber gebcten wird, dic Möglichkeit ded 
Fortbildungsſchulzwanges auch fiir die Madden 
geſetzlich feftlegen gu wollen, Jn der Begriindung 
wird darauf bingewiefen, daß yur Hebung der 
landwirtſchaftlichen Leiftungen die Frau ebenfo febr 
einer ertwciterten Fachbildung bediirfe wie der Mann. 


* Ausdehunug des Kinder: und Arbeiteriunen: 
ſchutes anf die Maßwerkſtätten der Roufeftion, 
Der Bundesrat hat in der Sigung am 11. Februar 
bem Wusfhupantrag, die Kaiſerliche Berordnung 
vom 31. Mai 1897 ,,betreffend die Ausdehnung der 
$$ 135 bid 139 und des § 139b der Reichsgewerbe⸗ 
ordnung auf bie Werlftitten der Kleider- und 
Wajehefabrifation” aud auf die Schneiderwerkſtätten, 
in denen auf Beftellung nad Mah fiir perſönlichen 
Bedarf der GBefteller gearbeitet wird, in Anwendung 
zu bringen, feine Suftimmung erteilt. Bisher 
galten bic Schutzbeſtimmungen der $§ 135—139b, 
die ben Kindern und jugendlicen Arbeitern bis zu 
16 Sabren, fowie ben Urbeiterinnen gugute fommen, 
nur fiir ſolche Schneiderwerkftatten, in denen die 
Anfertigung und Bearbeitung von Kleidern und 
Wafee im grofen erfolgt. Da jedod häufig die 
Grenzen zwiſchen den beiden Produftionsarten ver: 
ſchwammen, fo ergaben fic) daraus jablreiche 
Ronjlitte zwiſchen Werkftdtteninbabern und Auf— 
ſichtsbehörden. Ihnen wird durch die ausnabms: 
loſe Unterftellung der gejamten NRonfeftionsivert: 
flatten unter dic Beftimmungen der Kaiſerlichen 
Rerordnung cin Ende gemacht. (Sox. Praxis.) 


* Gine „Rechtsſchutkönferenz“, d. h. cine 
gemeinfame Beratung von 27 Delegierten von in 
Deutſchland beftebenden Frauen-Rechtsſchutzſtellen 
fand kürzlich in Dresden ſtatt. Es war zugleich 


ö—t — —— — — — — — — — — — — —— — — — — — 


eine Art Jubiläum bes 10jährigen Beſtehens des 


Dresdener Rechtsſchutzvereins, des erſten in ſeiner 
Art. Der erſte Hauptgegenſtand der Verhandlungen 
war der Verlehr der Frauen mit ben gerichtlichen 
Behorden. Die Musfiihrungen von Frau Bröll— 
Frankfurt u. Frau Pade: Leipzig über die ſowohl 
durch den ſchwerfälligen juriſtiſchen Stil als aud 


375 


bie perſönliche Unfreundlichkeit der Unterbeamten 
erwadjenden Schwierigkeiten fiir die rechtſuchenden 
Frauen wurden von allen Seiten beftitigt, und 3 
wurde beſchloſſen, vor allem gegen dad Juriſtendeutſch, 
wo ſich Gelegenheit bietet, entſchieden vorzugehen. 
Fr. Dr Raſchle ſprach über die „Wirkungen ded 
ehelichen Güterrechtes bei ber Eheſcheidung“. Das 
wichtigſte Reſultat der Verſammlung war die 
Gründung eines Verbandes der in Dresden ver: 
tretenen Rechtsſchutzſtellen unter dem Namen 
Rechtsſchutzwerband fiir Frauen”, an deffen Spite 
Frau Bennewif-Halle gewablt wurde. In ciner 
offentlichen Abendverſammlung fprach Frau Marie 
Stritt über die Geſchichte der Rechtsſchutzbewegung 
in Deutſchland, an deren gliidlicher Entwicklung 
fie felbjt einen gang befonderd großen Anteil hat, 
und Fr. Krieide, ibre Mitarbeiterin in Dresden 
ſprach über die fosialen Mufgaben ber Rechtsſchutz 
vereine; Berichte iiber die Arbeit der Rechtsſchutz 
ftellen in Hamburg (Frau Eichholz) und in Bien 
(Fr. Sabger) beſchloſſen den Whend. 


* Der Polizeidienft sum Schutze der Frauen in 
Berlin, Im September 1903 wurde zunächſt verfuchs: 
weife ein Strafendienft von  nichtuniformierten 
Polizcibeamten zum Schutze der Frauen und Madchen 
gegen Beläſtigungen eingeridtet. Die gewonnenen 
Erfabrungen haben beftatigt, dak ein Bediirfnis 
nad Mafnabmen diefer Art im Strafienleben 
Berlins beftcht und daß ber cingefdlagene Weg 
geeignete Ubbilfe ſchafft. Sum Qabresbeginn hat 
bei bem Polisciprafidiunt bie erforderliche Beamten: 
vermebrung ſtattgefunden, bie die Durchfiibrung cines 
ſtändigen Damenſchutzdienſtes ermöglicht. Sdug: 
männer in Zivilkleidung überwachen nicht nur die 
Hauptverlehrsſtraßen der inneren Stadt, ſondern 
auch die entlegneren Stadtteile, um insbeſondere 
auch den Frauen und Mädchen des Arbeiterſtandes 
auf ihren Wegen den wünſchenswerten Schutz zu 
verleihen. 


* Bei der philofophijden Fakultät zu Berlin 
ijt cine Umerifanerin Ina A. Milroy aus Detroit 
(Midigan, U. S. Amerifa) mit dem Pradifat 
„magua cum laude“ jum Doltor promoviert 
worden, Ihre Differtation, deren Unterfucungen 
fie im Qnftitut und unter Leitung von Geb. Rat 
Landolt ausfiihrte, handelt „über den Einfluß in: 
aftiver Subſtanzen auf die optiſche Drebung des 
Traubenjgucers.” 


* Gine Schulärztin wirh Charlottenburg vom 
1. April ab anjtelfen. 


* Den weiblidjen Wedizinern an der Uni— 
verfitit Königsberg i. Pr. ift von der mediziniſchen 
Falultät nunmehr die Teifnabme am LUnterridt 
in der Anatomie, und zwar getrennt von den 


376 Zur Frauenbewequng. 


männlichen, geftattet worden. — Der Befehlug tft | Alter erfolgt. Seiner Anſicht nad ſollten bie Cr: 


bie prattifde Ronfequeny der Anfichten, die Brofeffor 
Stieda jiingft aud öffentlich vertreten hat. Bei 


den Schwierigteiten, die ben Medisinerinnen an fo 


manden Univerfititen nod entgegenfteben, iſt ein 
Enigegentommen, fo geting es aud) fei, natürlich 


immer yu begriifen. Immerhin aber überwiegen 
bet einem Zugeſtändnis, dad zugleich mit dem 
Prinjgip des gemeinfamen Studiums bricht, doc die 
pringipiellen Bedenten den prattijden Borteil. 


* Das medisinife Stantsexamen beftand in 
Bonn Frl. Katharina Freytag mit dem Pra: 
bitat „ſehr gut“. Sie ift die dritte Medizinerin, 
bie in Bonn bas StaatSeramen gemacht bat, unb 
ebenfo die britte, bie es mit ,,Jebr gut” macht. 


*Weiblide Gewerbeinfpeftorinnen beabficdtigt 
bad fol. ſach ſiſche DMiniftertum des Innern wahr— 
ſcheinlich nod) in biefem Jahre fiir die fiinf Kreis: 
bauptmannfdaften Sachſens au ernennen, nachdem 
bie Regterung mit ben bisher zur Abbaltung von 
Sprechſtunden fiir Arbeiterinnen verpflichteten weib⸗ 
lichen Auskunftsperſonen, beſonders in Dresden, 
die günſtigſten Erfahrungen gemacht hat. Die fünf 
Gewerbeinſpektorinnen erbalten völlig ben Charakter 
von Staatsbeamten, doch bleiben die Amter der 
Gewerbeinſpeltoren deſſenungeachtet überall beſtehen. 

* Der 


@ymnafialabtcilung der hiheren 





Mädchenſchule in Karlsruhe find endgiltig alle — 
Berechtiqungen eines mit normalem Lcbrplan cin: | 


gericbteten Gymnaſiums verlieben. Auf Veranlaffung 
beS Stadtrated wird der großherzogliche Oberſchulrat 
nunmebe die weiteren Schritte cinleiten, die zur 
Erlangung der Anerlennung dicler Berechtigungen 
durch die iibrigen deutſchen Bundesftaaten erforder: 
lich fein follten, und bamit die lester Schwierig 
leiten befeitigen, bie cingelnen Whiturientinnen ded 
Mädchengymnaſiums bei der Jmmatrifulierung auf 
nichtbadiſchen Univerfitaten in ben letzten Sabren 
gemacht worben find. 


Mathematif ſpricht Serr Dr Gleiden, Lehrer 


fabrungen in den Gymnafiaffurfen fiir Madchen 
fiir bie Handbabung des Mathematifunterricht’ über 
baupt frudtbar gemacht werden. Man ſollte wer- 
fucben, mit bem Wathematitunterridt erft einzu 
fegen, twenn die pfrdologifden Grundlagen und 
damit aud) bas Antereffe fiir bad aang abſtrakte 
Denten wirklich vorbanben find. — Auf jeden Aall 
find biefe Ausfitbrungen ſowohl yur Beurteifung 
der geiftigen Differenjierung ber Geſchlechter. als 
aud) in pädagogiſcher Hinſicht beachtendiwert. 


* Gemeindewahlredjt der Frauen in Rieder: 
öſterreich. Die vom niederöſterreichiſchen Candtag 
befchloffene, ber allerhöchſten Ganttion barrende 
neue Gemeindewablorduung nimmt ben nieder— 
oͤſterreichiſchen Frauen Rechte, die thnen cin halbes 
Jahrhundert cigen waren, Gin Rergleid der der: 
zeit geltenden Gemeindewablordbming mit ber am 
27. Ottober vorigen Jahres vom niederöſterreich i ſchen 
Landtag befdloffenen macht die ben Frauen drohende 
Benachteiligung erſichtlich. Schon in dem Gemeinde⸗ 
geſetz für Riederdfterreidh vom 17. Mary 1849 
beift es § 30: „Die Ehegattin darf durch ibren 
Ebemann, Witwen, von ihrem Chemann geſchiedene 
und unverbeiratete Frauengperfonen können durch 
Bevollmächtigte ihr aftives Wahlrecht ausüben.“ 
Die Gemeindegeſetze vom 24. April 1859, ſowie 


das noch heute geltende Geſetz vom 31. März 1864 
enthalten dieſelbe Beſtimmung mit nahezu dent 


gleichen Wortlaute. — Dagegen ſchließt das neue 
Geſetz die Ehefrauen vom Wahlrecht nahezu aud, 


entzieht dasſelbe den Intelligenzwählerinnen und 
verwehrt es den Perſonalſteuer zahlenden Frauen, 


Der Bund öſterreichiſcher Frauenvereine richtete in 
dieſer Angelegenhejit cine Petition an die Regierung, 
daß die neue Wahlordnung dabin abgeändert werde, 
daß wie bisher der Steuerzenſus und die Sef: 
baftigfeit obne Riidficht auf das Geſchlecht das 
Wahlrecht begriinde. — Der Fall zeigt itbrigens, 
wie wenig Bedeutung dic Exiſtenz eines Rechtes 


| bat, wenn die Frauen nicht dazu erzogen find, es 


an den Gymnaſialkurſen filr Frauen qu Berlin, in | 


einem intereffanten Artifel ber „Voſſiſchen Seitung’. 
Muy Grund feiner Erfahrungen lonftatiert er eine 
ganz auffallend fdnelle Muffaffung und Leichtigleit 
der Rerarbeitung bei ben meiſten Schülerinnen. Cr 
fiibrt dieſe Beobachtung, ber sufolge die Leiftungen 
ber Mädchen im Durchſchnitt beffer find als dic 
entiprechenden Leiftungen ber Knaben vor allem auf 
den Umſtand zurück, daß die Cinfilbrung in bie 
Mathematif bei ibnen in einem angemeffenerem 


* fiber die Beſahigung der Madden fiir die benugen. 


Denn es wäre wobl undentbar, dap 
man ben Frauen dieſes Recht wieder nähme, wenn 
es durch rege und allgemeine Benugung popular 
und felbfiverftindlic) geworden wäre. 


* Mehr Studentinnen als Studenten beſitzen 
im laufenden Semeſter die mediziniſchen Falultäten 
der ſchweizeriſchen Univerſitäten. Dieſe Fakultäten 
zählen insgeſammt 1654 Studierende; davon ſind 
763 Manner und 891 Frauen, Im einzelnen 
verteilen ſich dic Studentinnen auf die Univerfitaten 
folgendermaßen: Bern zählt S77, Lauſanne 181, 
Zürich 177, Genf 151 und Bafel 5. 


— — 0 — — — 


— —— —— 





„Geſammelte Dichtungen“ von Julius Lob: 
meyer. — 50 Kinderlieder mit 50 Bildern“ 
von Julius Lohmeyer. (Preis 43 Marl) Ver— 
faq von M. Vobad u. Co., Berlin und Leipzig. — 


| 


Trog alles theoretiſchen Andividualismus ift unfere | 
literariſche Kritit nocd) immer nur gu ſehr gewohnt, 


die literariſchen Erſcheinungen diefer oder jener 
Ridtung zuzureihen und fie damit fiir erſchöpfend 
charatterifjiert gu halten. Und das trifft beſonders 
bie Dichter, deren Perſönliches nur in den zarteren 
und verfdwiegeneren RNuancen des Ausdruds ju 
lefen ift. Julius Lobmebver gehörte zu diefen Dich: 
tern, und fo bat man gemeint, ibn ju kennzeichnen, 


indem man ign der Generation von 1870 zurechnete, 


fiir die allerlei gemeinfame Charafteriftifa feſt— 
ftanden. Und doch, wer ſich in die anſpruchsloſen 
aber darum fo unmittelbar und ebrlic) wirfenden 


kleinen Yieder dieſer Sammlung vertieft, wird nod | 


twas mehr darin finden, als den frommen Opti: 
mismus, das frifde und lebbafte Nationalgefiibl, 
ben ftarfen, fröhlichen, im tiefften Grund fittlicden 
Lebens: und Schaffensmut, die man als ibre Bor: 
züge preift. Er wird nacempfinden, wie alle dice 
Kräfte aus perſönlichem Erleben herauswachſen, und 
durch einen eignen Sinn ihren beſonderen Ausdruck 
belommen. Und er wird den feinen Reiz dieſer 
ſtillen und zurüchhaltenden Ausdrucksweiſe, der es 
zugleich an Reichtum und Kraft nicht mangelt, 
mit Freude genießen. 

Die Kinderlieder zeigen den Jugenddichter, der 
ohne die programmatiſche Gebundenheit, an denen 
unſere modernen Kunſterziehungsbeſtrebungen zu— 
weilen laborieren, neue Bahnen erſchloſſen bat, 
weil er aus einem feinen Dichterempfinden und in 
ciner feltenen Raivetit ded fiinftlerifden Ausdrucks 
den Ton fand, zu Kindern und von Kindern ju 
ſprechen. Die Kinderlieder Lohmevers gehören zu 
dem Gefundeften, was den Kleinen aus der nicht 
eben ſchrankenloſen Fülle unferer Jugenddichtung 
geboten werden kann. 


„Fraucesca da Rimini“. 
Verſen. Von Gabriele D'Annunzio. 
von Vollmoeller. Berlin. S. Fiſcher Verlag. 


Eine Tragödie in 


Die Nberfesung der Dichtung, die uns der Verlag | 


in wundervoller Ausftattung geboten hat, ijt meifter: 
baft. Qn gleichmäßig auf: und abjteiqendem Ton: 
fall halt der Rhythmus dic iibermachtige Leidenſchaft 
gebannt. Richt in geiwaltigen Cruptionen bricht 
die brennende Glut aus, fie fiillt laſtend und ſchwer 
jedeS einzelne Wort und jede Silbe. Und fo geben 
bie Berfe die Hang: und farbenerfiillte, aber rhyth— 
miſch ftrenge, gebaltene Melodie, zu deren Klang 


Denti | 





Francesca dahinſchreitet, wie in wadem Traum, | 


darbieten. 


willenlos, ſchlafwandelnd, mit weit offenen Augen 
und ſchweren ſchleppenden Füßen. Auch den weichen 
lockenden Klangen der Lieder, in denen Francesca's 
Mädchen alle belle Wonne und fofende Heiterfeit 
der Liebe in das dunkle Geſchick ibrer Herrin binein: 
ingen Laffen, bat fic die deutſche Sprache gefiigt, 
fo daß die der ,, Divina Eleonora Duſe“ geweibte 
Liebesdichtung D'Annunzios fo febr unfer Cigentum 
qeworden ift, wie es nur cine frembdem Boden ent: 
ftiegene Blume fein fann. 


,Mlaffifer der Kunſt“ in Gefammtaus- 
gaben. Bd. I. Raffael. Des Meijters Gemälde 
in 202 Abbildungen. (Geb. 5 Marl.) Bd. I. 
Rembraudt. Ded Meijters Gemalde in 405 Ab— 
bifbungen. (Geb. 8 Marl.) Stuttgart, Deutſche 
Verlagsanftalt. Die beiden Bande find die erjten 
Proben eines grofen Unternebmens. Es follen 
nad) und nach die Rlaffifer der bildenden Kunſt in 
Ausgaben erſcheinen, die ihre Werfe vollftindig 
in techniſch möglichſt muftergiltigen Reproduftionen 
Gin knapper cinleitender Tert gibt nur 
das Notwendigſte sur Charafteriftif, im iibrigen 
wird der Lefer dem felbftindigen Genuß cined 
fiinjtlerifden Bilderbuchs überlaſſen, wie es edler 
nidt gedact werden fann. Für die würdige Popu— 
farijation unferer großen Kunſt bedeutet died Unter: 
nebmen einen höchſt erfreulichen Fortſchritt. Es 
ſchafft ein lidenlofes Anfdhauungsmaterial, bei Dem 
nicht mehr, wie friiber fo oft, die Mangel der Re: 
probuftion feinen Befdjaucr zu einem Cindrud 
fommen laſſen, und es erleichtert den Beſitz dieſes 
Materials durch auferordentlich niedrige Preiſe. 
Dieſe Bücher ſollten Hausbücher werden, mit denen 
die Kinder aufwachſen, an denen die Fähigkeit zu 
tkünſtleriſchem Genuß, die jest immer noc, wo fie 
überhaupt vorbanbden ift, fic auf die Yiteratur 
beſchränkt, aud) in Bezug auf die bildende Kunſt 
erivaden und wadjen fann — eine Quelle neuer 
Lebensfreude und Lebenstraft. 


Bier Werfe von Robert Browning. — 
„Paracelſus.“ Deutſche UÜUbertragung von 
F. K. Gerden. Preis broſch. 4 Mark; geb. 5 Mark, 
„Pippa geht vorüber.“ Deutſche Übertragung 
von Henry Heiſeler. Preis broſch. 3 Mark; 
geb. 4,50 Marl. „Auf cinem Balkon.“ 
dh einer Gondel.“ Deutiche Abertragung von 
F. K. Gerden. Preis brofa.3 Mark; geb 4,50 Mark. 
Tragödie ciner Seele.“ Deutiche Übertragung von 
F. K. Gerden. Preis brofd.3 Mark; geb. 4,50 Mark. 
Unſere Deutſchen Überſezungen aus der modernen 
engliſchen Yiteratur ‘find nur jum ſehr geringen 
Teil ein Erfolg. ES fommt einem immer dabei 
sum Bewußtſein, dah gerade der moderne englifde 


878 Buůcherſchau. 


Geiſt eine Phyſiognomie hat, die ſich mit unſern „Gottfried Riſſoms Hans", von Maric 
Spradmitteln febr fewer reprodugieren (aft. Die | Burmester. Hanau, Verlag von Clauk & Fedderien. 
vorliegende UÜberſetzung Brownings aber ift cin | 1903. Es fommt der Berfafferin nicht gu Cute, 
Erjolg, der an Wert gewinnt, wenn man die gang | dag man fie von vornberein als aus „Frenſſens 
befonderen Schiwierigheiten feiner Sprache und feineds | Schule” bervorgegangen binftellt. Nbr Konnen ift 
dichteriſchen Ausdruds im Nechnung zieht. Boll: | ebem doc) au beſcheiden, um die Anſprüche, dic 
fommen fafjen fie fid) nicht iiberwinden — aber | fic an diefe Rufammenftellung knüpfen, zu 
es ijt dod) fo weit gelungen, daß man fagen darf: | befriedigen. Schließt man aber folde Beraleice 
Browning ift mit diejer Aberſezung dem deutſchen aus, fo wird man fic) der Ehrlicteit und ſchlichten 
Geiftedleben geſchenkt. Und ein foftbares Gefdenf | Nlarbeit der Erzählung gern freuen. Hier und da 
ift es wahrlich. Möchte es gu allen fommen, die haftet den Motiven der Erzählung und dem, was 
eS zu genießen verftcben. fie an — und Gedanken in den 
Menſchen auslöſen, noch etwas konventionell 
a Det Gomliche von Hermann Dahl. Egon | Fannucablauhaſes an — aber dann treten bod 
Feeiſchet u. Eo. Berlin 1903. Der Roman ſteht auch individuellere und ſprechendere Züge hervor 
in mancher Hinſicht ber „Liſelotte von Reckling“ ———— t ° 
A ; bie auf cin eigenes künſtleriſches Auffaſſen und 
nabe. Er ſchildert die Tragddie cines Propheten, Wollen bei der Verfafferin bindeuten 
deſſen Macht tiber die Menſchen nicht aus gang reinen ' 
Huellen fließt. Der Göttliche iſt ein Geijtlicher, ie Scham“. Geſchicht te . Bon 
cine michtige Berlontiteit, neflen geifiget Gribe, | Genie made, Relay von Satter & Lecter, 
deffen gewaltigem Wollen cine ebenfo mactige | Herfin. Gin qutes und cin {cledted Beifpiel 
Sinnlichteit entſpricht. Er ſchöpft die Energion | einer Ehe wird mit etwas aufdrinalich wirtender 
jum Schaffen ebenſo aus der Vefriediqung {eines | Kibfichtlichteit nebencinander geftellt. Schon darin 
finnlicen Berlangens, wie aus dem Glauben an | scict fig etwas Anfingerbaftes, das in der Charatte: 
jeine Wiffion. So wird er unverfehens sum Liigner, | riftif und der inneren Entfaltung der Handlung fied 
ae aid eb the at —— tics Senate nod) mannigfach verrat und durd die ausere 
und als ¢S ihm nicht mehr gelingt, Dies Zeugni . : Fran : ; 
vor der Welt ju erjticen, macht ex felbit cin Ende. ee ber Crplpiung aigt Lompenfiert werden 
— Das Buch ijt niet gang frei von Inkonſequenzen : 
und Uniwabriceinlichbfeiten, nicht immer jtebt die „Des Rindes Chronif’. Cin Merfobucd des 
Darftellung auf der Hobe des intereffanten Problems. | Lebens, von Mutterhand begonnen, zur fpateren 
Aber es vermag doch bis zuletzt gu fefieln und in | cigenen Fortſetzung. Aus praftifdder Crfabrung 
der Geftalt des Helden tatfacdlich die Macht, auf | zuſammengeſtellt von Helene von Schroötter. 
der fein Schickſal berubt, aud dem Lefer gum | (Yebunden 5 Mark) Stuttgart, Deutſche Verlags— 
Bewußtſein gu bringen. UAnjtalt. Den Riwed des —— deutet ſein Titel 
7 ae an. Da es aus eigenen Aufzeichnungen hervor— 
Goethe- Briefe, herausgegeben von PHiLiPP | geqangen ift, erfddeint die Ginrictung und nord: 


Stein. Bd. V. Im neuen Jahrhundert. 1801 : i ; r 
bis 1807. Berlin 1904. Verlag von Otto Elsner. folibe. a. ot nS ee 


Der neue Band diefer Auswahl aus Gocthes Bricfen : 
umfaßt cinen Zeitraum bewegten menſchlichen und »Album lyrique de la France moderne* 
tünſtleriſchen Erlebens, cine Beit, da alte Fäden bon Eugene Borel. (Chrestomathie du 
fich wirren und zerreißen, neue ſich knüpfen. Die Xlxieme siecle). Neuvieme édition. Avec 31 
Franzoſen in Weimar, Schillers Tod, die Feftigung | portraits. Revue et remaniée par Marc- 
der Beziehungen yur Homantif — dag find die ent. | A. Jeanjaquet. (Pr. geb. 7 M.) Stuttgart, 
ſcheidenden Momente. Die Anmerfungen find dem | Deutſche Verlagsanftalt. Die neunte Auflage diefes 
Hediirfnis des gebildeten Laien geſchickt angepaßt. Buches beruht auf ciner gründlichen Neubearbeitung, 
Bezuglich der Auswahl wirdman imeingetnen hier und | die vor allem den modernften Stromungen der 
da etwas hine inwünſchen oder minder widhtig finden. | franjofifcen Literatur Rechnung tragt. Die aufer: 
Im ganzen ift fie auch in diefem Band swedmafig. ordentlich reichhaltige und mit feinem Verſtändnis 
/ fai ausgewablte Sammlung reprafentiert tatfachlich die 
„Herders Familienleben’ von Karl Mus franzöſiſche Lyrit in ihren eigenartigiten Eridei- 
theſius. E. S. Mittler u. Sohn, Königl. Hof— nungen von André Chenier und Victor Hugo bis 
buchhandlung. Berlin SW. 12, (Preis 1,25 Mart, | zu Baudelaire, dem Neuromantifern und Sym: 
geb. 2,25 Mart.) Unter den Centenarerfceinungen | polijten. Sablreiche Yortraits ber Dichter illu: 
der Gerder-viteratur ift dieſes Meine Buch cine ſtrieren die Sammlung. Auch ihre Ausſtattung 
der reizvollſten. Es fpiegelt in reinftem Lichte die macht fie au cinem erfreuliden Stiid der Haus 
licbensiviirdiqen Sciten ciner Perſönlichkeit, mit bibliothel des Gebildcten. 
ber man tingen muh, um durd all das Wunder: 
liche, Unausgeglichene, Schladenbafte Den qrandiofen „Kjield.“ Die Veichichte eines Strafenmalers. 
Aufriß ibres Lebens gu ſchauen. Wir feben Herder | Bon J. Blider Claufen. Stuttgart. Aref Sunder 
alS Kind unter Kindern, ihrem Lebensftil, ibren Verlag. Mit arofier Feinbett tit bier ein ciaen: 
Heinen Wichtigkeiten, ihrer Empfänglichteit und | artiger und unbeimlider feelifcher Borgang dargeftclit, 
ibren Außerungen ficd anfdmicgend. So fein und die Geſchichte eines irrfinnigen Kuͤnſtlers, deſſen 
miibelos, wie der Aſthetiler das Leben und die Seele cine oberflächliche, leichtherzige Frau zerſtort 
Sprache kindlicher Urvolter nachempfand, ebenſo bat. Nicht immer erreicht die Darſtellung über 
fein und ſicher weiß er ſeine Kinder au charattert: | zeugende Realität, aber in der Anlage und in vielen 
fieren, ihr Weſen zu deuten und ausjuipreden. | Hauptzuügen ift die Pſychologie dieſes balb bewußten 
Das Verbaltnis des Watten ſcheint freilicy gu iwentg | Yeidens, die Duntle M acht des Erlittenen über dicies 
kritiſch aufgefaßt. zerriſſene Leben mit grauſiger Schärfe durchgeführt. 





Bücherſchau. 


„Oliver Cromwell” von Gam. Raws. 
Gardiner, überſetzt von E. KRirdner Bd. XVI 
ber hiftorifden Bibliothef. Berlag von R. Olden: 
burg, München und Berlin 1903. Die biographiſche 
Gharatteriftif Cromwells durch den über died 
Gebict am cingehendften orientierten Hiftorifer 
Gardiner gebirt zu den beften Leiftungen der 
engliſchen Geſchichtſchreibung. Die febr ver— 
ftandnisvolle und gewandte Überſetzung trägt 
auch das ihrige dazu bei, das Buch zu einem 
wertvollen Zuwachs der hiſtoriſchen Bibliothet gu 
machen. 


„Aus Natur und Geiſteswelt“, Sammlung 
wiſſenſchaftlich⸗ gemeinverſtändlicher Darftellungen 
aus allen Gebieten ded Wiffens. — 49. Bd.: 


„Die Jeſuiten.“ Bon H. Boehmer-Romundt. 
Preis geh. 1 Mark, ged: 1,25 Mark. — 48. Bd.: 
„Vom Rervenjyjtem, feinem Ban und feiner Be- 
Dentung fiir Leib und Seele im gefunden und 
franfen Zuſtaude.“ Bon Prof. Dr KR. Zander. 
Mit 27 Abbildungen. Preis geb. 1 Mark, geb. 
1,25 Mark. — 47. Bd.: ,,Die Tuberfulofe.’ Bon 
Dr med. Wilh. Schumburg. Verlag von 
UY. G. Teubner. Lcipsig. Die geſchickte Darſtellung 
ihres Gegenftandeds (aft alle drei Bandden dem 
Swed der Sammlung in ausgescichneter Weile 
Dienen. 


„Naturwiſſenſchaft und Technik in gemein— 
verſtändlichen Gingeldarjtellungen’’, 1. Band: 
„Die Phyſik ded täglichen Lebens“. Bon Prof. 
Leopold Pfaundler. — Reich illuſtriert. (Geb. 
7,50 Mart.) 
Wie ſehr unfere matericlle und geiftige Kultur von 


Stuttgart, Deutſche Verlags-Anſtalt. 


379 


bem Forlſchritt ber Naturwiſſenſchaften beherrſcht 
wird, das zeigt ſich auch in dem ſteigenden Inter— 
eſſe des breiten Laienpublilums fiir dieſe Seite 
moderner Lebensbetitigung. Das vorliegende Buch 
gibt dieſem Intereſſe in geſchidter Form Nahrung. 
Yon den Anwendungen der mechaniſchen Gefege 
bid gu den fomplizierten Gebrauchsformen der clef: 
triſchen und magnetiſchen Kraft führt es den Lefer, 
immer an das Konkrete, Leichtfaßliche anknüpfend. 
Zahlreiche Abbildungen unterſtützen die Anſchaulich— 
feit. Auch Anregungen ju leichten Erperimenten 
wird mancher Lefer gern daraus entnehmen. 


Cotta'jdhe Handbibliothek. Hauptwerke der 
deutſchen und ausländiſchen ſchönen Literatur in 
billigen Einzelausgaben. Nummer 66—82. Stutt⸗ 
gart und Berlin, Verlag der J. G. Cotta'ſchen 
Buchhandlung Nachfolger G. m b. H. Die 
„Cotta'ſche Handbibliothel“, bas neue Unternehmen 
des Cotta'ſchen Verlags, hat ſoeben eine weitere 
wertvolle Bereicherung erfahren. Namentlich wird 
es freudig begrüßt werden, daß wieder verſchiedene 
Werke, deren ausſchließliches Verlagsrecht der 
Cotta'jden Buchhandlung zuſteht, Aufnahme ge— 
funden haben, und zwar ſind dieſes Mal Ludwig 
Anzengruber, Franz Niſſel, Marie von Ebner— 
Eſchenbach uud Otto Roquette vertreten. — Dem 
aftuellen Sntereffe fiir Herder fommt eine Neu— 
ausgabe der ,,Stimmen der Völker“ entgegen. 
Wbring'’s ,Leben Leffings” und ,,Doftor Katzen— 
bergerd Badereife” vor Jean Paul jind ficer der 
durch dieſe 60 Pfg.Ausgabe ermoglichten Populari: 
jation wert. Die Bande find wie die vorber- 
gebenden mit Sorgfalt rungs und aus: 
geftattet. - 








ertrter darail 
Bo ewicaw 2 








Mundhygienifche Trilogie. 


Folgt gutem Rat 
Die beſſere Tat 
Geht auf — die beſte Saat 


(Odol⸗Empfehlung), 
(Odol⸗Gebrauch), 


(Geſunde und ſchöne Zähne)! 


380 


fiir Haus und Familie. 


Unter ben Erfindungen, die im Qntereffe einer 
geſundheitlich einwandfreien Unterfleidung gemacht 
find, verdient bas Hera-Rorfett mit Anerfennung © 
ES erfiillt die Dienfte ded | 
alten, alS hygieniſch gefährlich verworfenen Rorfetts, | 
eS dem Miidgrat cinen feften Halt gibt 
und iiberhaupt cin gutes Sitzen auch anſchließender. 
Kleider ermöglicht; gleichzeitig aber beengt es Bruft: 
forb, Magen und Leber nicht, fo dah die Haupt: 
gefabren des alten Rorfetts in gefundbeitlicer 


genannt zu werden. 


indem 


Hinſicht vermieden werden. 


Ein ausgezeichnetes Mittel gegen Heiſerkeit 
und Huſtenreiz find bie Scheringſchen Malzertrakt— 
Präparate. Wenn der flüſſige Malzextrakt, der ſeit 


vierzig Jahren eingeführt und ärztlicherſeits anerfannt 
iſt, nur fiir die häusliche Behandlung von Hals 
befchiverden in Betradt fommen fann, find die 
Malstadletten cin gutes Schugmittel gegen Heifers 
leit und Huſtenreiz in Theater und Konjert, in Wer: 
| fammiungen und bet Bortragen, nicht mur fdr den 
| Redner felbft, fondern auch fiir die Subdrer, Die fo 
| oft in der unangenehmen Yage find, die Rube in dem 
| Saal ſtören gu müſſen. Die Scheringſchen Präparate 
zeichnen fic) vor anderen Huſtenmitteln durch den Ruf 
der Buverlaffigtcit und anregenden Wirkung aud) auf 
den Magen ans. Die Malstabletten enthalten 
ca. 75 Progent reinen Waljertraft und find tn 
Gläſern gu ca. 100 Sti mit 0,60 Marl zu 
erbatten, 


— BI S>— ⸗ 


Liste nen erschienener Biicher. 


(Belprehung nad Raum und Gelegenbheit vorbehalten; cine Ricfendung nicht beſprochener Bilder if nicht möglich 


Baftier, Baul. Lector à laniversité 
de Koenigsberg. La mére de Goethe. 
D'apres sa correspondence. ere 
lag Perrin & Co. Paris. 

GCartlidge, S. J. Olmalerei. Anteitung 
jur Anfänger. UÜberſegt von Oto 
Narpurg. 1.20 Mart. Otto Maier, 
Verlag in Havenshurg. 

Caſtellani, Ch. Das Weib am Congo. 
Deutio von Wargarcte Bruns. Lerlag 
von J ©. © Bruns, Hofbudbandice 
in Winden i. W. 

Dabubardt, Vr Oskar. Tertianer 
Aultus, Übungsſtoffe zur Repetition 
ber lateiniſchen Kaſuslebre. 80 Bf. 
Berlag der Durrſchen Buchhandlung 
in Leipsrg. 

Tulmener, Friedrich. Ted Sittens 
meifters Yegerniffe, Cine Romddie 
in drei Aften. Staegmeyrſche Bers 
lagébudbandlung in Minden 

Ebersberger, Thea, Erinnerunashlitter 
aus bem Leben Luife Mühlbachs 
Gefammelt und berausgeaeben von 
ibrer Tochter. Wit Yortrét umd 
Facſimile. Preis broſch. 5 Mart. 
geb. 6,50 Mark, Leipzig, H. Schmidt 
und ©. Guntber. 

Hanet, Dr med, Die Beinſchäden und 
thre Heilung. Gemeinverfidndlibe 
Darftellung der Entitebung, Berbiitung 
und erſolgreichen Behandlung vow 
Rrampfadern, Wochenſchaäden, Bein 
geſchwüren, Fledten und Cal,flup. 
Preis 2 Mart. Berlin BW. 13, 
G. M. Artur Miler & Co, Berlags- 
buchhandlung. 

Hefic, Guido. Die Kochtiſte oder die 
Sunt obne Vorlenntnific, ohne Feuer 
und Seitaufiwand gu foden. 80 Pf. 
Verlag von Hermann Grofje im 
Weimar. 

Sander, Dr & 00 Sabre Hohen— 
arllernregiment. Cine Meibe vaters 
landiſcher Gedichte. 90 Pf. Berlag 
ber Diitriden Buchbandlung. xeipra. 

Köſtlin, Therefe. Eib act auf vie 


Gaffer! Sieh nad den Sternen! 
Gedichte. Verlag von War Kielmann. 
Stuttgart. Preis broſchiert 2 Wart, 


gebunden 3 dart. 
Krof, Wilhelm, Clotia. 
Oswald Vinge in Leipsig. 


Verlag von 


Rung, Otto. Moral und Freibeit. Gin Heft 7 Die Hautpflere bed gefunden 





Beitrag yum Kapitel: Raſſenbhgieniſche 
und fexiale Bedeutung von Frauen⸗ 
ſtlaverei, Perverfitat, Pornographic 2. 
Preis 50 Pf. Stabelin & Lau nftein, 
Wien 1903, 
Lohde, Clariffa,  Filichtiges Glüch 
Noman, 3 Wart, clea. qeb. 4 Mark 
Berlin W. 10. Richard Taendlers 
Verlag. 
Muͤlller · Lubit, Anna. Speyial «Rod. 
bilcber fiir die praktiſche Hausfrau. 
I, Tie Heringsküche. 150 geprilfte 
und bewabrte Rezepte. 1 Mark. 
Ill, Die Arebsküche. 120 erprobte 
Rezepte 1 Mart. 
Beriag von W. Bobad & Co. Berlin. 
Peiffer, Dr V. Regeln file die Pflege 
von Mutter und Aind. 
TIL, Teil. NHegeln file bas Spiele 
alter. 1,50 Wark. 
IV. Teil. Regeln fiir das Schul— 


alter. 1,50 Mart. 
Berlag von Hermann Böblaus Nach}. 
Weimar. 
Micdl, Moar. Herrſchaftokuche. Cin 


Hand⸗, Nachſchlage⸗ und Lebrbud ber 
feinftest mobdernen Rilcbe. Goldene 
Weoaille, Rünchen 1695, Verlag von 
Cachar Schmidt in Zurich 

Rotter, Henriette. UMdung und Unfland 
filr Schule, Haus und Leben. 1 Wark. 
Meinertrag gum Beften ceived Wire 
berger Frauen⸗, Arbeits⸗ und Koch— 
ſchulhauſes. Verlag von Friedr. Morn, 
Nurnberg. 


rey gemeinverſtändlicher argt- 
lider Abbandlungen: 

Heit 1. Die Hergleiden von Dr O. Burs 
wourfel, Rauheim. 3. Aufl. 
1,20 Mart. 

Tie Yungenfdwinrfucht von 
©. Burwinkel. 2 Wart. 

Tie Rervenkrankheiten 1,20 M. 
Yon Dr 3}. Findh. Tübingen. 
Dit Geiſteskrankbeiten. 2 Hark 
Bor Dr J. Fincth. Tabtngen 
Die Fabn= und Rundleiden 
von Dr Greve, Viagdedurg 
80 PF. 

Haartranfheiten vor DrDever, 
Bernſtadt. 3,20 Dart. - 


| 
| 





Renidgen. Bon Dr G, Didet 
60 Pf. 
— 8 Die Augenfranfheiten oon 
Stabéarst Dr Yoberant m 
mn. Dilnpen. & Mart 
— 9, ¢ Fetiſucht von Dr Lebere 
Hevmsdorf. 2 Mark. 


Berlag der Ürztlichen Rund ſchau 
(Otto Gmelin). Minden. 


SmHreibershofen, G. von. Wira 
Noman. 4 Mart, eleq. geb & Mart 
Berlin W. 10, 


Verlag 
Sdhiiler-Malender flr das Schuljade 
1904—1905, 
Schulerinnen · Nalender. Verlag 
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Siehen, Oberfudiendir., Dr Julius. 


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Heidelberg 1902. Um 1. Oftober v. J. habe ich mit Genebmigung der 


Kal. Regierung das bis dahin Klockowſche Seminar in Char: 
lottenburg iibernommen und nad) der 


Sette-Verein Niirnberger Strasse 9-10, 
3 Minuten vom Untergrundbabnhof Wittenbergplag, verlegt. 





__ unter dem Proteftorat Ich leite meine Anftalt nach den Grundſätzen, die mir in 
7 meiner elfjabrigen Tatigteit (1891—1902) als Ordinaria und 
: eigentliche Leiterin des Crainschen Lehrerinnen-Seminars 
ene tit W., ‘ in Berlin mafigebend geweſen find. 
to ui e y : 
— ae Elisabeth Willigmann, Seminar-Vorjteherin. 
a) der dws bes ——— a wide — Se —— 
zur Vorbereitung fir dad Auskunft erteilt gütigſt Fräulein Helene ange, 
ftaatliche Mandarbeite- a: ; 
lehrerinnenramen. Das: Berlin: Halenjee, Bornimerftr. 9. 
—* * far ean on SRE TO ae —— father saath balk 
erforderlid, welde ſich zur ie fi udiums balber 
Juduftrielehrerin auabitoen He rs Jamen, (and voribbergebend) in 
wolkn. — Das Seminar ; } 27> Berlin aufzuhalten gedenten, finden 
befigt cine cigene Ubungbtlaſſe D. R.P. O4 272. immer mit u. ohne Penfion bei 
Fur wiſſenſchaftliche Lehres 9 goldene und andere rau Seemann, Adniagragerfir, 62 LIL 
rinnen ZonbderPurfe zur WMedailen, 2 Chrenpreife. — ~~! 








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ſprechend kür zerer Zeit. 
der Kurſus zur Vorbereitung 
fiir bad ftaatliche Haus— | 
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Schultuche aur bung im 
Untertigten vorhanden. 
Rahzere Austuntt ſchriſtlich wie 


Beſeitigt den ſtarken tAtAt St Ate AY thtAtAS 
Leib u. Miften u gibt SAS SSE SE SE 
cine ftolge, | © 2 9 y 


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Niinden, Oberin Schw. v. Ballmenic, 

Naf: Ne I unter ber | nimmi fath. u. evg. Deutſche 19—35 J. auf 

Vruft, I Hifte gemefien. | 3. Rranhenpflege, Giaberbewal- 

rung uv. zugehoriger Veriwaltung (Bureau, 

Sete Reformbofe Ailche, Waſcherei, Raberet u ganze Ober- 








mibndlid durd bad Bertwaltungs- ohne Klappe. leitung). Theor. u. pratt. Ausbiloung; 

bureau des Lette Vereins, geoffnet A Fl 3 | 236 Schweſt. Ethiſche u. materielle Borterte 

wochent a alich von 9—6 Uber. gn. eisener- ¢. wohl fundierten Genoſſenſchaft u. dod 

Profpelte qratié und franto. Griebel qroftmobglide perſonl. Sclojtbeftimmung. 
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ausgezeichnetes Rührei— 
rezept iſt folgendes. Man löſt 
eine halbe Maggi'ſche Bouillon— 
fapfel in 3 Eßlöffeln kochendem 


Waſſer auf, verquirlt mit dieſer 


Kraftbrühe 2 bis 3 Eier und 
1 bid 2 Yoffel Tomatenmus. In 
fladher Pfanne (aft man etwas 
Butter zergehen, dünſtet darin 
wenig kleingehackten, zarten 
Schinken, gibt die vorbereiteten 
Eier nebſt einigen zerpflückten 
Butterſtückchen dazu und macht 
das Rührei ſertig. Beim An— 
richten miſcht man 4 bis 5 Tropfen 
Maggi's Suppen: und Speiſen— 
würze gut durcheinander. 
es liebt, kann auch noch geriebenen 
Parmeſankäſe darüber ſtreuen. 
Vorzüglich zu Stangenſpargel. 
a. E. 


Aueing aue dem 
Stellenverm 7a ngeese snes 
dee Aligemecinen deutiden 

Lehrerinuenvereines, 
Sentralleitung: 
Berlin W. 57, Culmitrafie 5 pt. 

Offene Stellen an Schulen. 

1, File ein Penfionat in der Aheins 
proving wird gum 18. April 1904 eine 
wiſſenſchaftlich geprifte Lehrerin geſucht. 
Zu unterrichten find 14 big 16 Darden 
in Franzöoſiſch, Engliſch, Deutſch, etwas 
Handarbeiten. Muſik erwünſcht. wa 
Stunden wöchentlich. Gehalt 600 bis 
700 Wart. 

2. Fur cine Privatſchule in ber Pros 
ving Echlefien toerden gum 1 April 1906 
oder friiber cine Voltsſchullehrerin uno 
eine wiſſenſchaftlich geprufte Lehrerin ace 
fucht. Hauptſächlich Unterricht im Mittel⸗ 
und Unterſtufe, auf Wunſch auc Ober⸗ 
ſtufe Gehalt 1000 bis 1200 Mart, 

3, Wily eine bibere Privatſchule in 
ber Laufig wird gum 12 April 1904 eine 
wiſſenſchaftlich geprufte Lebrerin qefudt. 
86 Schulerinnen. Gefamter naturwifjen: 
ſchaftlicher Unterricht. Außerdem in 
Mittelflafje Franzoſiſch. 26 Stunden 
wöchentlich. Gebalt 1200 Mart 

4. Wile cine Auratoriumfdule in 
Wefipreugen wird zum 1, April 1904 eine 
wiſſenſchaftlich gepriifte Lebrerin gejucht, 
bie bereits einige Sabre unterrichtet und 
befondere Befaͤbigung fiir Rechnen und 
Sprachen bat. Giehalt 1200 Wart, 

&. Fulr eine Privatſchule in Sachſen⸗ 
Meiningen wird zum 1, Wypril 1904 ¢ine 
wiſſenſchaftlich geyrufte Lebrerin geſucht. 
16 Kinder in 2 AMlaſſen in allem Fachern, 
aud Engliſch. Turnunterricht wird extra 
bejablt, 1,20 Wark die Stunde. Gebalt 
G0 bis 1000 Wart. Woblierte Dienſt⸗ 
wohnung. 

6. Flr eine Schule in Scblefier wird 
gum 1. April 1904 eine Lehrerin geſucht 
fir Hanbarbeiten, Zeichnen und Turnen, in 
Oberſtuſe und Seminar; dort auc Fach— 
zeichnen file Handarbeiten; Gerätkunde 
und Wneatomic fiir Turnen, Gebalt 
1000 bis 1200 Dart, 





Wer 





Siande (16—35 Sabrey yu Erzieherinnen im ber j 


‘Sanatorium 




















erere Meochenzchule, Selekta, 


Vorbereitungsklasse fiir das Seminar, 


Lehrerinnen-Seminar mit eigener Ubungschule, 
- Vorbereitung zur Erginzungspriifung. 


Turnkurse auch zur Ausbildung 
5 


von Turnlehrerinnen. 
SW., Dessauerstrasse 24 Frau Xlara fessling 
{nahe dem Anhalter, Potsdamer 


Vorsteherin, 
und Ringbahnhofe). 1—2, Freitags 1—4. 


Kassel, vag: Frébel-Seminar 


(vormals im Comeniushause). 


Staatlic) konzeſſioniertes Seminar yur Ausbilbung von Töchtern der gebildeten 
milie und Leiterinnen pon Minders 
Arten, Horten und anderen Arbcitsfeldern ber Diakonie. Raberes durd die Letterin 
anna Mecke ober ben Vorſthenden bed Ruratoriums: Generalfup. Pfeiffer in Kassel. 








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Dr Siglinde Stier, dirig. Arzt. Natalie Hiller, Oberin. 


Obft- und Gartenbanfdjule fix qgebildete Frauen. 
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Rurjus fity Lehrerinnen April und Anguft. 


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Befte und billigite Ausbildung in allem kaufmänniſchen Sadern. 


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taglich 3—5. Mathieustr. 13. 


ie (2. Eingang Ritterftrafe 86.) 


Hohere Madchenschule 


St. Jacobi. 
(2. Eingang Ritterstrasse 36.) 


Gustav Briihl. 


o °o @ 

















Mathieustrasse 13. 


Anmeldungen tiglich r1—1. 


7. Für cine höhere Privaticdule in 
einer großeren Stadt Rorddeutſchlando 
wird jum 1, April 1904 eine Lehrerin 
mit wiffenfdaftligem Examen geſucht. 
tia 14 bid 18 Madchen in Rlafle IX 
bis Lo 24 Stunden wöchentlich. Gehalt 
1000 bid 1200 Warf. 


Offene Stellen in Familien. 


8. Cine qraflidhe Familie in Holftein 
ſucht zum 1. April 1904 cine wiſſenſchaft⸗ 
lid geprilfte Lehrerin sum Unterrichten 
ir 2 Dtadden von und 1241/5 Jabren 
n allen Fader, Bedingung vollftandige 
Beherrſcung ber franzoſiſchen und eng⸗ 
liſgen Sprache. Mufit, Zeichnen, Hand⸗ 
arbeiten erwuuſcht. Gebalt nad Über⸗ 
cinfunft. 

9, Gine adlige Famile auf bem 
Lande in Poſen fuct gum b. April 1904 
cine wiſſenſchaftlich geprilfte Lehrerin 
zum Unterricht file 2 Madden von 
14 Jabren in allen Fidern der L Kaffe 
tiner bdberen Tochterſchule. Mufit ere 
winfht 4 Stunden igh. Gebalt 
700 bis 1900 Wart. 

10. Cine Familie tn Wilettemberg 
fudt fofort cine wiſſenſchaftlich geprilfte 
Lehrerin gum Gefamtunterridt fiir 2 Midde 
chen von 7 und 9 Sabren und Über⸗ 
nabme der Schulauſgaben eines Anaben 
bon 11 Sabren, Bomibglidh Norddeutſche. 
WMuft erwunſcht. Gebalt 840 Mart. 





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81 Oxford Gardens, North Kensington, LONDON w. 


Miss Schnell, bie langiahrige Lehrerin ded College, bat nad Miss Bowens 
Tobe die Leitung der Anftalt ibernommen, Es werden wie bidher nach 13 wöchent⸗ 
lichem Rurfus Pritfungsjeugniffe ausgeqeben. 

Hibere Austunft ertetlen Miss Schnell und ber Deutſche Lebrerinmenverein in 
England, 16 Wyndham Piace, LONDON w. 


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Berantwortlid fix die Redaftion: Helene Lange, Berlin. — Verlag: BW. Mocier Budbandlunag, Berlin S. — Druid: B. Rorjer Buddrucerci, tee 


Fens yo 


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| 11. —— Heft 7 awa AV. Airil 1904 ab 


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Actausacgeben 
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—— Lange. 


Verlag: 
W. Mocler Sudhbandlung. 


BWerlin S. 


Lady Aberdeen. 


Bon 


Helene Lange. 


RNadbrud verboten. 





[8 im Dabre 1893 bei der großen Weltausitellung in Chicago der Frauen-Welt- 

bund jum erjtenmale ein wirfliches internationales Ynterefje erreqte und, man 
oy fann wohl jagen, feine erjten wichtigen internationalen Beziebungen Iniipfte, 
da wiblte man als Prajfidentin fiir die nächſten fünf Aabre Lady Aberdeen. 

Das Leben diejer Frau, die der internationale Frauenbund vom Jabre 1893 
bis jum Kongreß von London 1899 an feiner Spite geſehen bat, ijt ein Leben mit 
weitem Horizont, im Stil weltgefdichtlicher Vorginge. Alte Traditionen, durd) die 
der Geiſt Shakeſpeareſcher Königsdramen und Scottſcher Romanti€ webt, verfniipfen 
fic) mit der politiſchen Tagesgefcichte des modernen England, und die Frau, deren 
Lebenswerk cinen Einſchlag in dem großzügigen und vielgeftaltiqen Gewebe der jüngſten 
politijden Entwickelung ihres Vaterlandes bildet, ſteht nicht, wie fo mance politiſche 
Frau der Gefchichte, hinter den Kuliſſen, fondern auf iby Wirfen fallt das Tageslicht 
des öffentlichen Lebens ebenfo hell, wie auf das irgend eines Politifers. 

Iſhbel Marjoribanks entitammt einem alten liberalen ſchottiſchen Gefchlecht, 
das feinen Urjprung bis auf Robert Bruce hinaufführt. Um ibren Heimatsort in 
Inverneßſhire weht die Poeſie alter Hochlandsgeſchichten und romantijder Hochlands— 
ſcenen. Zu ihren Vorfahren gehörte die in der Volksüberlieferung viel genannte 
Grizel Cochrane, deren Vater einſt unter König Jakob im Gefängnis zu Edinburgh 
lag, den Tag erwartend, an dem durch königlichen Boten das Todesurteil von 
London gebracht werden würde. Grizel Cochrane ergriff die einzige Gelegenheit, die 
ihr blieb, ihren Vater zu retten; als Wegelagerer verkleidet, überfiel ſie den königlichen 


25 


386 Lady Wberbeen. 


Boten und zwang ibn, das Todedsurteil herauszugeben; der Aufſchub, den fie dadurch 
fiir ibren Vater gewann, rettete ibm in der Tat das Leben. Auch mit einem alten 
iriſchen Gefchlecht war die Familie verwandtſchaftlich verknüpft. — Der Vater von Jfbbel 
Marjoribanks vertrat dreißig Jabre lang die fehottifehe Stadt BVerwid im Parlament; 
er war cin iiberjeugter Anhänger der liberalen Partei, dabei voller naturwijjenicbaft- 
licher Intereſſen und von einer Gaſtfreundſchaft, die in jedem Commer Politifer, 
Gelebrte und Künſtler in feinem romantiſchen Beſitztum vereinigte. Hier knüpfte ſich 
Die Freundſchaft der Fleinen Ajhbel mit dem grofen Gladjtone, der dem lebhaften und 
von den vielfeitigiten Intereſſen erfiillten jungen Mädchen von Anfang an cine vater- 
liche Freundſchaft entgegenbrachte. Die Ungebundenbeit eines echten Hoclandfindes, 
das in allen Wobnungen der Gutsangehirigen zu Hauſe war, den Wildbiitern des 
Vaters bei ibrer Arbeit half und Berge und Welder auf ibrem Pony durchſtreifte, 
wechſelte mit den Eindrücken der jährlichen parlamentariſchen Saiſon in London. Und 
während die Eleine Iſhbel im innigiten Zuſammenleben mit der grofartigen Natur ibrer 
Hochlandsheimat unverwiijtliche Lebenskraft und Lebensenergie trank, wedte zugleich 
der Verfebr mit den politifchen Freunden ibres Vaters jenen lebendigen liberalen Geijt 
in ibr, der ihr fpateres Wirfen fo ganz und gar durddrang. Im Hauje des Vaters, 
das Den Angebirigen der verſchiedenſten Konfeffionen ein geijtiger Mittelpunft war, 
lernte fie zugleich jene Kunſt, über die fonfeffionellen Gegenjage binweg nur den 
Menſchen zu feben und auf diefer Grundlage menſchlichen Verſtehens die verſchiedenſten 
Meinungen yu vereinigen, eine Kunſt, die für ihre ſpätere Stellung von fo groper 
Bedeutung werden follte. 

Ws Iſhbel Marjoribanks zwanzig Sabre alt war, im Jahre 1877, verbeiratete fie ſich 
mit Lord Aberdeen, dem Enkel des befannten engliſchen Premierminijters aus der Mitte 
des vorigen Jahrhunderts. Durch den Tod ſeines alteren Bruders war Lord Uberdeen 
im Jahre 1870 Mitglied des engliſchen Oberbaujes geworden, in dem er zwar Feine 
prononcierte politiſche Parteiſtellung einnabm, aber dod, den Traditionen feines 
Hauſes entiprechend, von den Konſervativen zu den ihren gerecnet wurde, Seine 
politiſchen Aberzeugungen jedoch zogen ibn mebr und mebr auf die Seite der Liberalen, 
und die Freundſchaft mit Gladjtone diente dazu, diefer Neiqung mit der Zeit ent: 
jcbeidende Bedeutung zu geben. Die Croberungspolitif der Regierung in der 
afghaniſchen Frage trieh ihn vollends auf die Seite der Oppofition, und als im Jabre 
1880 Lord Beaconsfield mit der ficheren Hoffnung auf cinen glänzenden Sieg Der 
Tories Neuwabhlen anjeste, nabm Lord Aberdeen yum erſtenmale feinen Sig unter der 
liberalen Partei des Oberbaufed ein, trogdem aud) die Whigs an der Ritdfebr des 
fonfervativen Minijteriums faum jtveifelten. Die Energie, mit der die liberale Partei 
nnter Gladjtones unermiidlicher Jnitiative den Wablfampf fiibrte, hatte den unerwarteten 
Erfolg, dah die Liberalen Parteien über hundert Sige gewannen und über eine anſehn— 
liche Majorität in dem neuen Parlament geboten. 

Die Art, wie die junge Gräfin ibre Aufgabe dem Hauje und der Gefellfchayt 
gegeniiber von Unfang an auffafte, läßt fich vielleicht am beſten charakteriſieren mit 
Den Worten, Die fie felbjt gelegentlidy der Begründung eines Frauenverbandes gefaat 
bat: , Wenn man davon fprict, dah die häuslichen Pflichten den Sffentlichen wider: 
ftreben, fo liegt gewiß eine falſche MWuffajjung von dem zu qrunde, was das Haus 
ſein ſoll. Die Fabigkeit, cin rechtes Heim zu febaffen, bedingt eine weite und freie 
Muffaffung des Lebens; es genügt nicht fiir die Herrinnen unferer Heime, einen 


Lady Aberdeen. 887 


SZauberfreig um ein paar Menſchen und ibr Leben zu ziehen und nur an ibre 
Bequemlichkeit und ihr Glück zu denfen; die das tun, werden gewif finden, daß fie 
ibr Siel verfeblt baben. Gerade um derer willen, die uns am nächſten und liebften 
jind, miiffen wir wiſſen, wie das Leben wirklich ift, feine Sorgen und Schwierigkeiten 
fennen; wit müſſen alles wijjen von den Wegen, auf denen unjere Lieben einft geben 
werden. Wenn wir uns nicht um die kümmern, die auferbalb unſeres Hauſes find, 
wenn wir nicht diefen Ruf nach der Mutter nicht allein in unjerem Hauſe hören, 
fondern in dem fozialen und nationalen Leben unſeres Landed, fo werden vielleidt 
unfere eigenen Kinder die Folgen davon zu tragen haben, daß wir gegen diefen Ruf 
qleichgiltiq waren.” 

Yady Aberdeens erjted Werf war die Begriindung cines Vereins unter den 
Vandarbeiterinnen und Landarbeitersfrauen, der den charakteriſtiſchen Namen der „Auf— 
warts: und Vorwärtsvereinigung“ erbielt. In diefem Bereine fuchte fie ihr Ideal 
pon der Bedeutung der Frauen im fozialen Leben zuerſt yu verwirklichen. Sie ver- 
juchte Klaſſengegenſätze zu fiberbriiden, indem fie von all dem geijtiqen Beſitz, den das 
Yeben den Bevorzugten in reichem Maße zukommen läßt, foviel fie vermochte, binaus- 
gab, um unter den minder Begünſtigten reinere Freuden, geiftigere Genußfähigkeit yu 
verbreiten. Cine fleine Seitjerift, die unter demfelben Titel , Mufwarts und Vorwarts” 
von ibr herausgegeben wurde, gibt eine lebendige Vorjtellung davon, in welchem Sinne 
freundſchaftlicher Teilnabme ſolche Volksbildungsbeſtrebungen mit wirklichem Crfolge 
geleitet werden können; da wird über die einfachen Fragen des alltäglichen Lebens 
geſprochen, da werden kleine Erfahrungen in Haus und Familie oder im einfachſten 
kleinen Arbeitskreiſe in das Licht einer ſchlichten und dabei doch edlen und 
vornehmen Ethik gerückt, da wird jene wurzelkräftige Religioſität gepflegt, deren erſtes 
Gebot die Hingabe der eigenen Kraft im Dienſte des andern iſt. Von demſelben 
Geiſt geleitet iſt ein Klub, in dem Lady Aberdeen regelmäßig das ganze Dienſt— 
botenperſonal ihres umfaſſenden Haushaltes verſammelt, ſei es zu Vorträgen oder 
Diskuſſionen, ſei es zu gemeinſamer Lektüre oder zu allerlei Aufführungen und 
geſelligen Unterhaltungen, und es gibt vielleicht kein ſchöneres Zeugnis für das Leben 
in Haddo-Houſe als der begeiſterte Ausruf eines Dieners: „Hier kann man ein Diener 
ſein und doch ein Menſch.“ Im Anſchluß an ihre Arbeit in der Onward and 
Upward Association gründete ſie im Jahre 1883 einen Frauenverein zur Fürſorge 
für junge Mädchen, der außer einer Stellenvermittlung und einer Ausbildungsanſtalt 
für Dienſtboten ein Heim und einen Klub für Arbeiterinnen umfaßte, ſich beſonders 
der kleinen Halbtags-Fabrikarbeiterinnen annahm und eine planmäßige Organiſation 
der Auswanderung von Frauen in Angriff nahm. 

Als im Anfang des Jahres 1886 das konſervative Kabinett nach kurzer Herr— 
ſchaft geſtürzt wurde und Gladſtone im Alter von 76 Jahren nod einmal an die 
Spitze der Regierung kam, berief er Lord Aberdeen zum Vizekönig von Irland. Auf 
Irland richtete ſich damals das ganze politiſche Intereſſe; die Irland-Politik war 
geradezu der Inhalt des Gladſtone'ſchen Programms. Die Stellung des Bizekönigs 
von Irland war nicht nur gegenüber dem engliſchen Parlament und dem engliſchen 
Voll, ſondern auch im Verhältnis zur iriſchen Bevölkerung die denkbar ſchwierigſte. 
Man muß ſich vergegenwärtigen, daß erſt vier Jahre ſeit der Ermordung des Ver— 
treters der engliſchen Regierung, Lord Cavendiſh, vorüber waren; dieſe Jahre waren 
ausgefüllt von Attentaten der Fenier, denen nicht anders als mit ſcharfen Repreſſiv— 

25* 


388 Lady Aberdeen. 


mafregeln der engliſchen Regierung begeqnet werden fonnte. Es war die ett eben 
voriiber, wo die revolutiondire Bewegung der Irländer yu gefeslichen und polizeilicen 
Maßnahmen gefiihrt hatte, wie fie feit Rinig Heinrich VIII., wie man fagte, gegen 
britifecbe Untertanen nicht angewandt worden waren. Waren auch die duferen Rund- 
gebungen der aufſtändiſchen Clemente juriidgebalten, fo qrollte dod der Haß und de 
Empörung gegen die engliſchen Macthaber unter der Oberfläche iveiter, und vergeblich 
hatte der Vorgdnger von Lord Aberdeen im Gegenſatz jum Minijterium Salisbury, 
das cin ſcharfes Vorgehen befiirwortete, verfucht, durch möglichſte Milde die Kluft 
zwiſchen Volk und Regierung zu itberbriiden. Er war, ſchon ehe das Minifterinm 
Gladjtone zuſammentrat, an ſeiner Aufgabe veryweifelnd won feinem Amte yuri: 
qetreten. Als Lord und Lady Aberdeen in das Schloß von Dublin cingogen, ftand 
die national-irifdse Partei, die das Volk beherrſchte, ibnen fo ablehnend gegeniiber, 
wie allen andern Regierung3vertretern vor ibnen. Wber es dauerte nicht Lange, da 
änderte fics die Stimmung. Es herrſchte in dem Jahre in dem weſtlichen Teile von 
Srland ganz bejonders große Not, fodaf von feiten der Regierung Maßnahmen da: 
gegen ergriffen werden mußten. Lord Aberdeen regte nun an, dah der Lord Maver 
in Dublin cine Verfammlung zur Beratung iiber die Notſtände cinberufen jolle und 
ſchlug durch dicje Anrequng die erite Bride siwifcen dem Schloß und dem Rathaus 
pon Dublin. Aber er ging nod) weiter; trop’ der dringenden Abmabhnungen aller 
engliſch gefinnten Rreife teilte Yord Aberdeen dem Lord Mavor mit, dap er und feine 
Gattin an diefer Verſammlung teilnehmen würden, swar nicht in offizieller Eigenſchaft, 
fondern als Birger der Stadt Dublin. Der Erfolg zeigte, daß er mit feinem kühnen 
Vertrauen auf die Wirfung eines teilnehmenden und freundfehaftlichen EntgegenFommens 
techt gebabt hatte; alle die Befiirdtungen, dak es yu Rundgebungen gegen den Vise: 
könig und die Vizekönigin fonunen könnte, deren Wirfungen nicht wieder qut zu machen 
fein witrden, erwieſen fic) als qrundlos. Im Gegenteil, als Lord und Lady Aberdeen 
vor dem Rathaufe abjtieqen, begrüßten zum erjtenmale den englijchen Bertreter dic 
Hochrufe de3 iriſchen Volks, und als gar Lord Aberdeen ſich durd) den Lord Mayor 
mit einem der iriſchen Führer, der bereits feine Zuchthausſtrafe in Portland binter tid 
hatte, befannt machen lich, da waren zwar die Unionijten in Wejtminiter Hall entiett, 
aber dad iriſche Volk fafte yum erſtenmale Bertrauen zu der Lovalitdt umd dem 
Viberalismus der engliſchen Regierung und erinnerte fich vielleicht auch, da Die Vize— 
finigin durd alte Stammesbrüderſchaft mit der Geſchichte von Irland engverknüpft 
war, Jedenfalls war die Rolle der Vizefdnigin fiir die Aufgabe der Verſöhnung 
zwiſchen England und Irland von eminenter Bedeutung. Die VBegeijterung, Die ibre 
Perſönlichkeit überall erwedte, bat, wie von Cingeweihten verſichert wird, „mehr Mög— 
lichkeiten zur Beſchwichtigung der iriſchen Bevölkerung aufgedeckt, als alle die Ver— 
waltungsmaßregeln der engliſchen Politik.“ Das Schloß wurde geradezu wieder zu 
einem Mittelpunkt des nationalirifden Lebens. Aber die Tätigkeit von Lady Aberdeen 
beftand nicht mur darin, Die politiſchen offiziellen Besiehungen mit der Warme und 
Gute ibrer Perſönlichkeit yu durchdringen, fondern fie erfannte flar, dak dem Nativnal: 
haß ver allem aud durdy Förderung der materictlen Intereſſen des Landes Der Boden 
entyogen werden müſſe, und fo entfaltete fie eine rege und ſozialpolitiſch augerordent- 
lich wirffame Tatigfeit yur Hebung der iriſchen Andujtrien. Der iriſchen Spitzen— 
indujirie wurde hauptſächlich unter ihrem Einfluß der Weltmarft erſchloſſen, und die 
Mittel, die zur Wiederbelebung der Arbeitstraft und Arbeitsfabigfeit ded werarmten 


tne, 
5 


Lady Aberdeen. 389 


Landes nötig waren, wurden zum nicht geringen Teil vom Vizekönig felbjt zur Ver— 
fügung geftellt. 

Alles, was Lord und Lady Aberdeen für Jrland getan haben, drängte fich in 
den kurzen Seitraum von ſechs ‘Monaten zuſammen. Unterdeſſen war im Parlament 





—* 








Lady Aberdeen. 


die von Gladftone eingebradte Arland-Borlage, die den Jren, dem Programme der 
Home-Rulers entiprechend, ein cigenes Parlament in Dublin fichern follte, fie aber 
dafiir von der Vertretung im englifden Parlament ausſchloß, gefallen, fo dak Gladjtone 
suriidtrat und Lord Aberdeen abberujen wurde. Wber die RKundgebungen des Volfes 
beim Abzug des vizeköniglichen Paares jeigten, dah feine Arbeit, wenn auch kurz, doch 


390 Lady Aberdeen. 


nicht vergeblich geweſen war; zum erftenmale fpielten die iriſchen Dtufiffapellen, von 
den begeifterten Zurufen des Volfes begleitet, die englifdre National-Hymne. 

Die folgenden Jahre, in denen Lord Aberdeen durch feinen Verwaltungspoften 
in Anſpruch qenommen war, widmete Lady Aberdeen um fo intenfiver den Aufgaben, 
Die fie vor ihrer Berufung nach Jrland begonnen hatte. Cie arbeitete vor allem in 
der bereits feit 1881 beſtehenden, aber erjt allmablich yu fefter nationaler Organijation 
gelangten grofen politifden Vereiniqung der liberalen Frauen Englands und Schottlands. 
Die erjte Fiibrerin des liberalen Frauenbundes war Catherine Gladjtone, die 
Gattin des liberalen Führers, gewefen; aber von den erften Tagen an, in denen 
fie die Begriindung eines großen politiſchen Frauenvereins auf ibre ſchon vom Alter 
geſchwächten Schultern nabm, war Lady Aberdeen ihre rechte Gand. „Kein ſchöneres 
Bild gemeinfamer Arbeit”, fo berichtet eine Mitarbeiterin, „hat die Gefchichte der 
Frauenbewegung in England aufzuweiſen, als das Verhialtnis diefer beiden Frauen zu 
cinander, wie es fid) bei den grofen sffentlidien Verfammlungen des Bundes der 
fiberalen Frauen, denen Lady Aberdeen priifidierte, det Offentlichfeit darbot. Die be: 
jabrte Führerin des Bundes, die yur Seite des Präſidentenpultes fap, vielleicht cin 
wenig müde von den unaufhörlichen Anfpriichen an ibre Zeit und ibre Kraft, ibre 
ſchönen lebbaften Augen jedod) mit unverhoblenem Stolz auf die Freundin geridstet, 
auf die fie ſich verließ und von der fie abbing, und dann die zarte Fürſorge und Ver: 
ehrung, welche jeden Blid und jedes Wort der lebendigen und begabten Frau am 
Prafidentenpult durchdrang; und fie ſelbſt fo ſtark in ihrer jugendlichen Friſche, und doch fo 
weid) und fo liebenswürdig, die Die Frauen fo unbeirrt vorwärts führte und doch verfuchte, 
felbjt im Hintergrunde zu bleiben. Solche kleinen Szenen fommen cinem in die Erinnerung 
zurück fiber die Lange Reibe von Jahren, und fie adelten dic Frauenbewequng, fie 
ſchlugen einen Ton von Kameradſchaft, gemeinfamer Arbeit und Freundſchaft an, der 
in den Reiben der Frauen bis heute fein Echo findet.” 

Die Organifation der fiberalen Frauen von Schottland ijt von Anfang an 
der Jnitiative von Lady Aberdeen yu verdanfen. Am Wir; 1889 wurde der Bund 
fiir Weft-Scbottland unter ibrem Vorſitz fonftituiert; die Frauen im Often des Landes 
fdloffen fid) bald an, und im Sabre 1890 wurde die Scottish Women's Liberal 
Federation gegriindet, deren Vorſitz Lady Aberdeen zunächſt bis zum Jabre 1894 fiibrte. 
Bur Leitung beider Verbande ijt Lady Aberdeen nad) ihrer Riidfehr von Canada 
wieder berufen worden. 

fiber die Arbeit und die Stellung der großen Liberalen Frauenverbande von 
England und Schottland geben ſowohl die Berichte über ihre Verſammlungen, als 
aud ibr Organ aud) dem Ausländer cinigermagen ein Bild. Die liberalen Frauen: 
verbinde unterſcheiden ſich dadurd von dem bereits friiber gegriindeten großen 
fonjervativen Verband der Frauen, daß fie nicht nur die Frauen zu willenlofen, aber 
um fo fanatifecberen Werkzeugen der Partet mobil machen wollen, fondern dak fie 
ibre Ziele fic) vielmebr unter dem Geſichtspunkt der politiſchen Erziehung der Frau 
zu felbjtindigem Intereſſe und ſelbſtändigem politifcen Urteil gefest haben. Die 
liberalen Frauenvercine haben ftatutenmapig neben ihrem einen Swed, für die Siecle 
des engliſchen Liberalismus yu fimpfen, den zweiten, cine gerechte Geſetzgebung für Frauen 
und Kinder durchzufegen, und durch diefen zweiten Gefichtspunkt ijt ibre Stellung— 
nabme yu fo manchen politijden Ereigniſſen beftimmt worden. Unter allen Umſtänden 
gehörte, das zeigen die Verhandlungen des liberalen Frauenbundes oft genug, gany 


= =~ 


Lady Aberdeen. 391 


befondere politiſche Befonnenbeit dazu, wm dieſe beiden Zwecke gegebenenfalls ju 
vereinigen und nicht cinen binter Dem anderen juriidtreten yu laſſen. So bat 3. B. 
der liberale Frauenbund in den Verhandlungen über das Unterrichtagefeg, die die 
letzten parlamentarifcben Seffionen erfiillten, mit grofer Energie gegen die Nbertragung 
der Unterrichtsverwaltung an die Grafſchaftsräte Front gemacht, weil in den Grafſchafts— 
räten Frauen nod feine Vertretung haben und fie deshalb yu den neuen Behörden 
höchſtens als fooptierte Cachverftandige obne Stimmrecht zugezogen werden fonnten. 
Im ſüdafrikaniſchen Rriege bat der liberale Frauenbund von Anfang an den Stand- 
punft möglichſt groper Milde vertreten und wiederbolt, 3. B. in der Angelegenbeit 
der Konjentrationslager, ber Verbrennung der Farmen und des Todesurteils über 
den General Rriginger energiſche Protejte gegen das Vorgebhen der Regierung erhoben. 

Auch die Art des Einfluſſes, den Lady Wherdeen als Vorſitzende dieſer Leiden 
politiſch außerordentlich bedeutjamen liberalen Frauen: Organifationen geiibt bat, 
michte id) mit den Worten ibrer Mitarbeiterinnen charafterifieren: „Sie war,” fo, 
febreibt cin Mitglied deS ſchottiſchen Frauenbundes, ,,diejenige, von der die Jnitiative 
ausging, mit ibren hohen Jdealen, ihrer felbjtlofen Hingabe und unermüdlichen Treue 
fiir die Intereſſen des Verbandes. Alle diefe Cigenfcbaften und die Anmut ibres Wuf- 
treten$ gaben den Eröffnungsreden der Verfammlungen den Grundton, der den jähr— 
lichen Zuſammenkünften des Berbandes cine gebobene Stimmung verlich. Die große 
Gerechtigkeit, mit der fie jedem Mitglied des Verbandes entgegenfam, madhte die Arbeit 
unter ibrer Führung leicht; die Großzügigkeit ibres Wefens, ihre weiten und freien An- 
ſchauungen von den Möglichkeiten des Lebens und dabei ibre auferordentlide Geduld 
bei manchmal ermiidender Rleinarbeit und ibre niemals verjagende Liebenswürdigkeit 
machte die Arbeit su einem Genuß. Sie verbindet ein rubiges Urteil mit tiefem und 
intenfivem Enthuſiasmus; und eine lebendige Teilnabme fiir alles, was traurig, forgen- 
voll und hilfsbedürftig ijt, trigt in ibre dffentlichen Rundgebungen den Herzenston 
eines aufrichtigen Anwalts feiner Sache.” „Das Gebeinuis ibres grofen Einfluſſes“, 
ſchreibt cine englifche Mitarbeiterin, liegt vielleicht in jener jeltenen Verbindung von 
Weichbeit und Kraft, die fie in fo befonderem Sinne darjtellt, aber durch jedes Wort 
und durch jede Handlung feblingt ſich wie ein jilberner Faden eine vornehme Ver— 
achtung fiir alles, was Schein und RKleinlichfeit ift, und cine ſchöne Wahrhaftigkeit, die 
aller Zuneigung gewinnt und diejem wertvollen Leben das Gepräge echter Weiblich- 
Feit gibt.” 

Im Jabre 1894 wurde Lord Aberdeen bei der Rehabilitation des liberalen 
Rabinetts zum Generalgouverneur von Kanada ernannt und nahm dieje Stellung 
fiinf Sabre, bis 1899, ein. Auch bier, in dem von nationalen und fonfeffionellen 
Begenfagen vielfach zerfpaltenen Staatswefen, in dem die Kluft zwiſchen romaniſchem 
und angelſächſiſchem Weſen ſchier uniiberbriidbar durd) Gefellichaft, Kirche, geiftige 
Kultur und politiſche Anſchauungen jfebneidet, gab es fiir Ladv Aberdeen eine Reibe 
großer und bedeutungsvoller Aufgaben. Wie fle ſich den Verhältniſſen anpafte und 
in dem Kreiſe, in den fie geftellt war, gerade dad ſchuf, wozu Die Vorbedingungen 
wirklich gegeben waren und was fiir die nächſte Entwidlung das widhtigite und 
fruchtharfte war, dag zeigt das Aufblühen des fanadijden Fraucnbundes unter ibrer 
Leitung und Mitarbeit. Mus all den Anfpraden, mit denen fle die Reugqriindungen 
von lofalen Organijationen des Bundes eröffnet hat, fiiblen wir das Bejtreben 
heraus, alle heranzuziehen, jedem in feinen befonderen Anjichten und feinen befonderen 


302 Yady Aberdeen. 


Leiftungen gerecht zu werden und über alle Verſchiedenheiten hinweg das Band reinen 
und ſchönen menjehlichen Mitgefithls zu knüpfen, die edle Freude an gegenfettiqer 
Hilfe und gemeinfamer Arbeit zu pflegen. Es ijt ihr gelungen, den fanadifden 
Arauenbund ju einer wirklichen Vertretung der fosialen Frauenarbeit verſchiedenſter 
Richtungen zu machen, wd ein von iby verjaptes Flugblatt , Was der Nationalbimd 
der Frauen von Kanada bedeutet und was er tut,” zeigt am bejten, auf cine wie 
weite Baſis fie die Bundesarbeit zu gründen verftanden bat. Rein Sweig ſozialer 
und fostalpolitijcber Arbeit, von Kochſchulen und Hofpitalern bis yur Anjtelung von 
Fabrikinſpektorinnen und zu Arbeiterinnenſchutzgeſetzen, von Mäßigkeitsbeſtrebungen bis 
zu gewerblichen Bildungsanſtalten für Frauen fehlt in dem großen Programm, das 
dieſes Flugblatt vor uns aufrollt. Dieſe ganze Arbeit wird getragen von dem 
Geiſt echter Mütterlichkeit, die ihre Pflichten nicht innerhalb des Hauſes ſich erſchöpfen 
ſieht, ſondern den Blick voll warmer helfender Liebe herausſchickt zu all denen, die 
der Mütterlichkeit der Geſellſchaft bedürfen, aber ſie wird auch von dem klaren Blick 
geleitet, der die tatſächlichen Bedingungen überſieht, auf denen das Wohl und Wehe der 
Geſellſchaft beruht. 

Wie ſchwierig die Verhältniſſe in Canada lagen, und wie hoch man in den 
beteiligten Kreiſen den Einfluß von Lady Aberdeen auf die Verſchmelzung der beiden 
nationalen Elemente anſchlug, iſt bereits früher einmal in einem Artikel der „Frau“ 
über „Canadiſche Frauen einſt und jest” dargeſtellt worden (Dezemberheft 1699). 
Ich möchte zur Ergänzung auf die Ausführungen der aus eigener Anſchauung 
—— Verfaſſerin zurückgreifen: 

„Bis jetzt kamen auch in der guten Geſellſchaft der großen Städte die engliſchen 
und franzöſiſchen Kreiſe in keine nennenswerte Berührung mit einander. Den erſten 
energiſchen Verſuch, wenigſtens unter den Frauen beider Nationen mehr Verſtändnis 
und Zuſammengehn anzubahnen, hat kürzlich Lady Aberdeen gemacht, die Gattin des 
Gouverneurs von Canada. Mit ungewöhnlicher Begabung fir parlamentariſche und 
organiſatoriſche Arbeit ausgeſtattet, hat dieſe hervorragende Frau es verſtanden, ihre 
Stellung zu benutzen, wm Geſichts- und Machtkreis der Frauen in der ganzen Kolonie 
zu erweitern. Sie iſt die Seele aller gemeinnützigen Beſtrebungen im Lande, und wenn 
ſich ihre Tätigkeit auch vorerſt auf den engliſchen Teil der Bevölkerung gerichtet hat, 
ſo zeigt doch die Gründung eines beiden Nationen gemeinſamen Frauenklubs, daß ſie 
ſich das Ziel geſetzt bat, quch bier zu vermitteln. Im Chateau de Ramzay yu Montreal, 
dem Altertumsmuſeum en herbe, kommt die Geſellſchaft bei Bewirtung, Muſik und 
Vortragen nun regelmäßig zuſammen, und wenn die Leiden Nationen fich dabei bis 
jest auch nod nicht recht verſchmelzen wollen, fo ijt doch cin Anfang gemacht und ein 
neutrales Gebiet gefebarfen worden. — Wenn irgend jemand, fo wird os Lady Aberdeen 
qelingen, die Urbeitsfraft auch der franzöſiſchen Canadierinnen in den Dienft des 
Gemeinwohls zu ſtellen.“ 

In dem gleichen Geiſte hat Lady Aberdeen ihres Amtes als Vorſitzende des 
Frauen-Weltbundes gewaltet; den Geiſt aufrichtiger und erhebender Gemeinfamfeit des 
Wollens und der Ziele haben alle gefühlt, die mit ihr zur Förderung der inter— 
nationalen Verbindung der Frauen gearbeitet haben. Bei allen unvermeidlichen si 
faigen bat ibre gerechte und fiir die Sache begeiiterte Leitung einen Weg der Ve 
einiqung gefunden, und wenn fie als Vorſitzende der Seftion des ——— 
Die Der Friedensbewegung dienen ſoll, die große Demonſtration bet dem Londoner 


Der Allgemeine HOcimarbeiterfaug : Kongreß. 393 


Kongreß eröffnete und leitete, fo fühlte man auch hier, wie hinter der Cinficht und 
Erfabrung der praktiſchen Politiferin jene miitterliche und weibliche Warme wont, 
die dad tiefe Wort der Antigone: „nicht mit zu haſſen, mit yu lieben bin ich da”, 
aud in den Geſchicken der Boilfer und den Beziehungen der Staaten zur Geltung 
bringen möchte. 

Der Junternationale Kongreß in Berlin, auf den fich jest die Aufmerkſamkeit der 
deutfehen Frauen mehr und mehr rictet, wird Lady Aberdeen auc) yu uns fiibren, 
Cine Perjinlichfeit wie die ibre wird ficher in hohem Maß dazu beitragen, dem Gee 
danfen einer internationalen Gemeinfamfeit der Frauen die Herzen zu gewinnen. 


Se 


Ver Allgemeine heimarbeiterschutz -Kongress. 


Bon 


Dr Robert Wilbrandt. 


— - 


Nachdrud verboten. 


en Leſerinnen und Leſern dieſer Zeitſchrift ift fohon mebrmals das Elend der 

Hausindujtrie nabe gebracht worden.) Aufſätze von Hans Grandfe, von 
Helene Lange, von Alice Salomon und von mir haben durch Schilderungen dieſes 
Elends an Ger; und Gewiljen und durch Erwagungen der zweckmäßigſten Neformen an 
den Rovf appelliert. Es ift daber hier nicht nötig, die Notwendigkeit cines Heim: 
arbeiterfduges und die Schwierigkeit, das Rechte zu treffen, nochmals auseinander ju 
jeben. Die Vorausfepungen zur richtigen Witrdigung des Kongreſſes, der am 7., 8. 
und 9. März im Gewerkſchaftshaus ju Berlin tagte, find beim Leferkreis der ,, Frau“ 
yon vornberein gegeben. 

Der Kongref ijt von den Gewerkfchaften Deutfchlands einberufen worden. Auf 
dem letzten Gewerkſchaftskongreß war nad einem Referat von Käming, einem der 
Leiter des Schneiderverbandes, obne Debatte cine Refolution angenommen worden, 
welde als Siel ein völliges Verbot der Heimarbeit aujfftellte und als Nbergangssujtand 
cine Reihe von Magfregeln, vornehmlich yur Bekämpfung der Heimarbeit, forderte. Zu— 
gleich wurde der Generalfommiffion der Gewerkſchaften der Auftrag gegeben, cinen 
Heimarbeiterſchutz Kongreß einzuberufen. 

Wie weit bei jenem Beſchluß an die Mitarbeit „bürgerlicher“ Sozialpolitiker 
bereits gedacht worden iſt, weiß ich nicht zu ſagen. Jedenfalls hat ſich der Kongreß 
nun zu einem ſchönen, bisher einzigartigen und eindrucksvollen Zuſammenarbeiten 
politiſch getrennter Sozialreformer geſtaltet. Die „roten“ Gewerkſchaften übertrugen 
von vornherein den Vorſitz des Kongreſſes neben zweien ihrer Führer Herrn Profeſſor 
Francke, dem Herausgeber der „Socialen Praxis“, welche als Centralblatt der nicht— 
ſozialdemokratiſchen Reformer bekannt iſt. Damit war ein über alle Erwartung günſtiger 


) Jahrgang I, S. 170, 237; III, S. 356; IX, S. 257. 


394 Der Allgemeine Heimarbeiterſchutz-Kongreß. 


Boden gemeinfamen Arbeitens gegeben. Das Entgegenfommen fiir die biirgerlicen 
Organifationen wurde durch Cinladung des Hogienifers Prof. Sommerfeld zu einem 
einleitenden Referat und ant zweiten Verbandlungstage aufs nene durch den Beſchluß 
zum Ausdruck gebracht, daß fortan abwechſelnd je cin Vertreter det proletarijdsen und 
je ein Vertreter der biirgerlichen Ceite zu Worte fommen follte, damit den Gäſten voll 
Gelegenbeit fic auszufpreden gegeben werde. Die Durchfiihrung des Beſchluſſes 
brachte eine Anzahl von Arbeitervertretern um die Moglichfeit, die befonderen Schaden 
der Heimarbeit in ibrem Geiverbe ju ſchildern. Trogdem wurde der Beſchluß unter 
lebbafter Sujtimmung der Urbeitervertreter aufrecht erbalten. Und am Abend des 
Dritten Tages war es wieder der biirgerlicde Profeffor Frande, dem es iibertragen 
wurde, den Gefamt-Cindrud des Kongreſſes in einem warmen Schlußwort zuſammen— 
zufaſſen und zu weiterer gemeinjamer WArbeit aufjufordern. Lebbafter Beifall gab dazu 
die allgemeine Zuſtimmung. 

Ich glaube, der Kongreß muß auch) auf die cinen Cindrud gemadt baben, dic 
ibm ablebnend fern geblieben find: die Regierung und die ,,braven Kinder”, die chriſt— 
lichen Arbeitervereine. Mögen die Griinde des Fernbleibens welche immer gewefen 
fein — anf jeden Fall mup die Cinmiitigfeit der Verjammlung gezeigt baben, daß es 
fic hier nicht um eine Parteiface, fondern um eine Cache des ganzen Volfes, um 
cine Sache der Menjfcblichfeit und des Gewiſſens handelt. : 

p viele Arzte, viele Heilmittel” konnte die Berliner Zeitung mit Rect einen ibrer 
Berichte überſchreiben. Und dennod wurde am Schluß die von einer Rommifjion aus 
mebreren Entwiirfen und Anträgen jufanmmengearbeitete Rejolution einftimmig ange: 
nommen. Cie war der Ausdruck dafiir, dah etwas geſchehen miiffe, und daß man zwar nicht 
in allen Einzelheiten, aber doch in den Grundlinien cinig fei. 

Die Entwickelung diefer Refolution von jenem Gewerkſchaftskongreß bis yum 
lester Tage des Heimarbeiterſchutz-Kongreſſes ijt ein intereffanter Beitrag zur Geſchichte 
Der Ideen. Während in jener erſten Refolution der Gedanke eines Zwanges yu Tarif: 
vertrigen überhaupt nicht vorhanden und daber auch in dem neuen Entwurf nicht gu 
erivarten war, fand ich ibn bier yu meiner Freude, wenn and) weit unten, verfteckt 
hinter hygieniſchen Vorfehriften zum Schutz der Konfumenten und zögernd nadhtrottend 
nad Borfebriften iiber den Arbeitsraum, welche einem Verbot der Heimarbeit fast 
gleichkommen. Yn der endgiltiq beſchloſſenen Refolution aber fteht der Zwang jum Ab— 
ſchluß won rechtsverbindlichen Mindejt-Stiidlobn-Tarifen an erfter Stelle, als das 
Wichtigſte, als der eigentliche Oeimarbeiterfdus, der gefordert wird. 

„Und das bat mit ibrem Cingen die Lorelei getan.” 

Nicht daß ich diefe Lorelei ware, Much nicht Frl. Dyhrenfurth und Frl. Salomon, 
die ſchon Lange diefen Gedanfen vertreten. Aber dadurch, dak von bürgerlicher Seite 
dieſer ,radifale”, weil ungewobnte, Gedanfe immer und immer wieder vertreten wurde, 
dah Profefforen ibn aufnahmen und das Vorbild Mujtraliens priefen, dadurch ift die 
immanente Vernunft dieſer Idee doch auf ihrem Siegeszug vorwärts geführt worden, 
während ſie ſonſt vielleicht noch immer auf Anerkennung warten müßte. 

So war es denn für die alten Freunde dieſes Gedankens ein ergötzliches, über— 
raſchendes und zu froher Zuverſicht ſtimmendes Schauſpiel, was für neue Freunde er 
gewann, wie die bekehrte Skepſis ihn an die erſte Stelle zu ſetzen empfahl und die 
ihm früher gänzlich fremde ſchweigende Verneinung nun die beſondere Freude ausſprach, 
daß ſich gegen dieſen Gedanken kein Widerſpruch erhoben habe. 


Der Allgemeine Heimarbeiterſchutz-Kongreß. 395 


Es ijt kaum nötig, auf die übrigen Punfte der zuletzt beſchloſſenen Refolution 
einjugeben. Was nun als Ergebnis dieſes Kongreſſes vorliegt, dad ijt nod nidt ein 
Lange und gründlich durchgearbeitetes Programm jur Löſung des fogialpolitifehen 
Problems Heimarbeit, fondern cin Mabnruf an die Gefesgebung, dah etwas geſchehen 
müſſe und daß etwas gefdeben finne. Da cine jtindige Rommiffion zur Weiter: 
beratung und Förderung der Sache nicht zu Stande gefommen ijt, wird es die Sache 
der Spezialforfder fein, tweiter ju arbeiten und in zwangloſer Vereinigung ibre Ge- 
danken cinander vorjulegen. Bon Segen ware es freilich, wenn eine wirkliche Central: 
ftelle zur Vorbereitung des Heimarbeiterſchutzes fich fcbaffen liefe. Bon Herrn Legien, 
dem ausgezeichneten Leiter und RKongrefeinberufer, wurde der Vorſchlag einer ſolchen 
jtandigen Kommiſſion mit der Begriindung abgelebnt, daß die Generalfonuniffion der 
Gewerkſchaften Feine Vollmacht habe, fitr die Aufbringung der Koſten einer ſolchen 
Kommiſſion einzuſtehen. Vielleicht aber findet ſich das nötige Geld bei den bürgerlichen 
ſozialpolitiſch denkenden Orgqanifationen: beim Verein fiir Sogialpolitif, der Geſellſchaft 
fiir Soziale Reform, dem Bund der Bodenreformer und, zuletzt aber hoffentlich nicht 
am wenigſten, bei den Frauenvereinen. 


Die Frauenvereine waren auf dem Kongreß gut vertreten. Man ſah überhaupt 
im Ganzen, die zuhörenden Gäſte mitgerechnet, vielleicht ebenſo viel weibliche als 
männliche Anweſende. Neben den bekannten Sozialdemokratinnen, unter denen immer 
Clara Zetkin einen hervorragenden Eindruck macht, waren der Bund deutſcher Frauen— 
vereine durch Alice Salomon, der Verband fortſchrittlicher Frauenvereine durch Fräulein 
Lüders und der Berliner Frauenverein durch Fräulein Dr Gottheiner vertreten; und 
die Mitarbeit der bürgerlichen Frauen wurde dankbar empfunden. 


Dieſer Kongreß, ſo ſagte Legien ſchon bei der Eröffnung, iſt der erſte, aber 
nicht der letzte ſeiner Art. Die Erfahrungen des letzten Jahrhunderts haben uns 
belehrt, daß ſoziale Reformen, ſo dringend ſie auch ſind, erſt dann verwirklicht werden, 
wenn eine oder zwei Generationen der nach Hilfe ſchreienden oder ſtumm unter dem 
Elend zuſammenbrechenden darüber weggeſtorben ſind. Und wenn auch einer der 
Beſten unter den Kongreßteilnehmern, der Lehrer Agahd, nach einem Jahrzehnt harter 
Arbeit das Glück haben durfte, ſchon einen Erfolg ſeiner Arbeit zu ſehen, ſo iſt der 
ermutigende Siegespreis dieſes Kämpfers doch immer noch eher eine Dornenkrone als 
eine Friedenspalme zu nennen: es bedarf immer weiterer, unermüdlicher, aufreibender 
Arbeit, wenn das Kinderſchutzgeſetz ein feſtes Stück Wirklichkeit werden ſoll, und gerade 
in dem Dunkel der Heimarbeit hat es noch ſeine gefährlichſten Klippen. So wird 
auch der Heimarbeiterſchutz nur nach hartem Ringen, und wahrſcheinlich zuerſt nur 
als ein ebenſo ſchädliches wie nützliches Stückwerk, zur Wirklichkeit werden. Aber 
eine ſtolze Empfindung können wir, auf den Kongreß zurückblickend, mit an die Arbeit 
nehmen: Vorwärts geht es doch! 





396 


Cuard Morikes Briefe. 


Son 
Dr Edgar Alfred Regener. 


Raddrud verboten. 


lie deutſche Literaturgeſchichte bat erft feit verhaltnismapig kurzer Zeit cine direfte, 
eigentliche Mörike-Forſchung. Hinweife auf feine künſtleriſche Bedeutung, Eſſays, 
die fic) mit feinen Dichtungen beſchäftigen, finden ſich in friiberen Jabren fparlich, 
gewijfermafen als verwehte Vorklänge yu einer größeren Lebensbeſchreibung. Aber dort, 
wo wir ſie treffen, find fie aus der Feder feinfiibliger und berufener Literarbiftorifer 
(Bachtold, Karl Weithrecht, IM. Kraus). Die erfte umfaffendere Urbeit, die auch den 
literarifden Nachlaf, die Briefe und gelegentlichen Aufzeichnungen Mörikes benutzen 
fonnte, war das auf Borjtudien Bächtolds fich ſtützende Buch von Harry Manne: 
„Eduard Mörike, Sein Leben und Dichten,“ Cotta 1902. Feuilletoniſtiſch geiſtreich, 
mit novellijtijden Pointen und trodenften Seminar-Unterſuchungen abwechſelnd, läßt 
das Bud) einen Verjajfer vermiffen, der Herr feines Stoffes geworden ijt und dar- 
über mit unbedingter Gewalt gebietet, Was Mayne in einem Bande in buntem 
Dureheinander gieht: die Lebensgeſchichte des Dichters und philofopbijde Spitzfindigkeiten 
in den Dichtungen, das ſucht mit viel feinerem Verſtändnis Mörikes nächſter Biograyh, 
Karl Fifcher, auf zwei innig verbundene, aber doch felbjtdndige Werfe yu verteilen: 
„Eduard Mébrifes Leben und Werke” (B. Behrs Verlag 1901) und „Eduard Mérifes 
künſtleriſches Schaffen und dichteriſche Schbpfungen” (©. Elsner 1903). Damit merit 
Fiſcher die Forſchungen über Mörikes fprachliche, metriſche und ſtiliſtiſche Eigentümlich— 
keiten, über die Faktoren ſeiner perſönlichen Ausdrucksform, ſeines lyriſchen und epiſchen 
Stils, ſeine künſtleriſchen Beſonderheiten in ſeinen Dichtungen ufiv. aus einem Zu— 
ſammenhang aus, deſſen Freiheit und Tüchtigkeit unter dieſer Laſt nur leiden mußte. 
Nicht nur hierdurch ſind Fiſchers Arbeiten über den Dichter von größerem Wert als 
das Buch von Mayne. 

Von dem, was beiden Verfaffern an Material yur Verfiigung ftand, werden jevt 
von Carl Fifer und Rudolf Krauß vor allem Mörikes Briefe der OffentlichEeit über— 
geben. Der erjte Band diefer Musqabe ijt bei Otto Elsner- Berlin erjebienen und 
bildet cine wichtige, Dem Mörike-Freund nicht unliebe Ergänzung yu den bereits früher 
durch Jakob Bächtold herausgegebenen Briefwedfeln des Dichters mit Germann Kurz 
— deſſen Werke ſoeben in einer billigen Ausgabe in dem bekannten Verlag Max Heſſe 
erſchienen ſind — mit Moriz von Schwind und Theodor Storm. Die Herausgeber 
bezeichnen die Sammlung als unvollſtändig. „Wie weit verbreitet, wie groß und auf— 
richtig das Verlangen nach Mörikes Briefen aber auch ſein mag, ſo beſtand doch von 
vornherein kein Zweifel darüber, daß es ſich nicht um vollſtändige Mitteilung alles 
deſſen, was der Dichter je geſchrieben, handeln kann, vielmehr nur um eine verbialtnis: 
mäßig beſchränkte Auswahl, die allerdings bei der Fille des fic) darbietenden Stoffes 


Eduard Mörikes Briefe. 397 


den Herausgebern um ſo ſchwerer fallen mußte, je tiefer ſie in die eigenartigen Schön— 
heiten dieſer brieflichen Ergüſſe eingedrungen waren.“ Die Begründung dieſes gewiß 
nicht von jedem gutgeheißenen Vorgehens fehlt. Wozu dieſe Halbheit? Von den Briefen 
Mörikes an ſeine Braut Luiſe Rau ſind gegen ſiebzig auf die Nachwelt gekommen — 
gegen vierzig erſcheinen aber nur gedruckt. Ahnliche Mißverhältniſſe könnten bei anderen 
Namen aufgezeigt werden. Der gewundene und devot geſchnörkelte Brief an Ludwig 
Tieck hatte gut und gern, wo es darauf ankam, in der bekannten Holteiſchen Samm— 
lung nachgeleſen werden können. Er war doch nichts weiter als ein Gelegenheitsbrief 
eines jüngeren Dichters an einen älteren, eines aufſtrebenden an einen ſchon berühmten, 
ganz abgeſehen davon, wie hoch ſie ſich gegenſeitig in ihrer Kunſt einſchätzten. 

Ein Briefwechſel gewinnt erſt dann das vollſte Intereſſe, wenn ich Frage und 
Antwort gegenüberſtellen kann, wenn der Wechſelverkehr zwiſchen Abſender und Empfänger 
und wieder zwiſchen Empfänger und Abſender ſich vor meinem geiſtigen Auge vollzieht, 
ich alſo wirklich den Austauſch von Gedanken, ohne nur immer die cine Seite hören 
zu müſſen, auch in ihren feinſten Regungen verfolgen kann. So iſt es der größte Mangel 
jener Ausgabe der Mörike-Briefe, daß wir nur immer ein Echo hören, dod) die weckende 
Urſache nur dunfel erfabren. Go ijt Mörikes Verhältnis yu feinen Geſchwiſtern erft 
dann voll und ganz yu verfteben, wenn wir and die Briefe der Schweſtern feinen 
eigenen vores oder nadiqedrudt jeben. Und was von den Briefen der nächſten Anver— 
wandten gilt, diefe Forderung beſteht auch yu Recht in dem Berkehr mit Freunden. Wo 
die Schriftitiide der Gegenpartei feblen, entftebt cine ſchmerzliche Lücke. (So feblen 
uns 3. B. die Briefe der Luije Rau.) Die dunflen Andeutungen Mörikes in jfeinen 
Briefen an Freunde fiber das Verbhaltnis zu Maria Meyer gewinnen gewiß durdy den 
Abdrud anderer, darauf bezüglicher Schreiben. Die chronologifde Anordnung fonnte 
ſchon beibehalten werden, diirfte aber nicht über die ganze Cinteilung herrſchen. Dann 
ergaben fic) Gruppierungen, aus denen wir Mörike viel tiefer, perſönlicher fennen 
gelernt batten: Mörike und Hartlaub, Mörike und Mabrlen, Mörike und Bauer, Mörike 
und feine Schweſter Luiſe ufw. Aus diejer Mannigfaltigheit fonnte eine köſtliche Cine 
heit werden. Cine Geſamt-Ausgabe, die uns allein nur niigen fann, bleibt aljo der 
Zukunft vorbebalten. 

Die veröffentlichten Briefe umfpannen die Zeit von 1816 bis 1840 und weiſen 
153 Nummern auf. Gewif fiir cinen Zeitraum von 24 Jahren nidt grade jebr viel. 
Mörikes Schreiben find nicht tief, fie dienen nicht dem Austauſch kunſtphiloſophiſcher 
Meimungen und Abbandlungen, in fie hinein flingen nicht die Rufe der Zeit, die For- 
derungen der Bildung, das Verlangen der Kultur, wie es fich an diejes oder jenes 
Ereignis des Hffentlichen Lebens fniipft; jie enthalten feine Gedanten, die finnend in 
die Vergangenheit fchauen und daraus Werte fiir die Sufunft erringen. Rein jugend- 
liches Schäumen, Fein raſches Aufbraufen der Leidenfchaft, fein wildes Mberftiirzen der 
Erfenntnijje, fein lautes Vorwärtsdrängen ju ſeeliſchen Entwidlungen. Seine Briefe 
find wie ein jtiller Sommertag mit der Würze reifender Kornfelder, mit flirrendem 
Sonnenglaft in der Luft, einem Lerchenruf in der Hobe, und dem geſchäftigen 
Schilfern und Kniſtern regfamer Kifer swifden den Halmen. Das ſüße, felige 
Entzücken einer rubigen Müdigkeit, eines in fich felbft gefeitiqten, unzerſtörbaren Gleich- 
flanges. Diefes Befcrauliche und Beſchauende feiner Art, der Mangel an pfychifcher 
Handling, wenn id) damit die Scheu vor der Erörterung irgend eines Problems 
bezeichnen darf, wirft lähmend auf den Lefer, fo febr auch die Eintönigkeit feiner 


898 Eduard Mirifes Briefe. 


Schilderungen und Mitteilungen durch Bilder und Beziehungen unterbroden wird, in 
denen wir den großen Lorifer Mörike bewundern. Das find dann feine lyriſche Farben- 
flede in einer breiten, ſchwäbiſch-geſchwätzigen Profa. Wie lieblich weiß er feinem 
Freunde Waiblinger einen Morgen zu ſchildern, an dem ibn der Regen an fein einfaches 
Stübchen feffelt. Alle Fenjter läßt er offen, damit er dem frifcben Regen, der immer 
fernbafter auf die Baume tripfelt, fein behaglich zuhören kann. Da fühlt er, „daß 
e3 zuweilen höchſt angenebm ijt, wenn fo der Tag recht früh mit Floferftiefeln naß 
und melancholiſch angerückt kommt. Diefer und dadurch gewijfermagen unſer cigenes 
Wefen fceint dann einen beftimmten gerubigen Charafter yu befommen, das Leben 
felber fcbeint, wie das Griin von Bergen und Bäumen, auf diefem fanften, aſchgrauen 
Grunde erjt recht beachtenswert und innig. Unfer Innerliches fühlt fich fonderbar ge— 
borgen und gudt wie ein Rind, das fich mit verbaltenent Jauchzen vor dem naſſen 
Ungeftiim draußen verftedt, mit bellen Augen durchs Vorhängel, bald aus jenem, bald 
aug diefem vergniigten Winkelden.” Und ein andermal wieder weiß er von dem 
Regen, deffen Stimmung ihm Lieb ijt, zu fagen: „Jetzt goß der Regen in nafjer platter 
Proſa nieder.” 

Ganz auferordentlich wirkſam gejtaltet er die Beobadtungen, die fic feinem Auge 
aufdrängen, zur Anſchaulichkeit. Nicht dadurch, daß er fie rein objeftiv, als Materie, 
alg Ding an fich, auf den Lefer wirken läßt, fondern dadurd, daß er ihren Inhalt 
durch die Schilderung ſeines jeweiligen ſeeliſchen Sujtandes, der fic) in ibm ausgelöſt 
bat, erbdbt. Co baben wir die Empfindung, als ob wir das Beobachtete körperlich 
fiiblen in eigener Wahrnehmung. Seine Beſchreibungen, die er der Braut, der Mutter, 
den Freunden von feinen Reifen gibt, find ficher in der Silhouette, ſcharf und prägnant 
in der Hervorhebung des Bedeutungsvollen und wiſſen durch treffende Bemerfungen, 
oft durch ein wibiq geqebenes Beiwort die flüchtige Skizze ju einem Bilde ju 
erweitern. 

Die gleiche Subtilität beobachtet Mörike in der Zeichnung innerer Erlebniſſe, in 
der Charakteriſierung ſeeliſcher Vorgänge, wobei er Eigenes mit reiferer Gewißheit wieder— 
zugeben weiß, als Erklärungen von Geſchehniſſen auf ſeiten der Verwandten und 
Freunde, wie ſie ſich in ihrer Seelenſprache durch Handlungen offenbaren, unabhängig 
und ohne Voreingenommenheit zu finden. Sonſt hätte er nicht mit philiſtröſer, moraliſcher 
Uberhebung ein ſo unverſtändiges Urteil über den Bruder abgeben können, der durch 
ſeine politiſchen Uberzeugungen in eine Unterſuchung verwickelt wurde, die auch Eduard 
Mörike hatte nachteilig ſein können. Cr ſagt: ,... und der Vorwurf bleibt ibm, den 
Frieden der Familie auf eine unverzcibliche Art geftirt yu haben.” Und Mérife felbjt 
hat gewiß in feiner Sturm: und Drangzeit, als ſich fein ganjes Wejen gegen den ibm 
verbaften Beruf eines Theologen aujflebnte, feiner Mutter nicht immer friedereiche 
Stunden bereitet. Davon geben die Briefe Zeugnis, die er der Mutter ſchickt, um fie 

über feine Kämpfe und Sorgen ju berubigen. Eduard Mörike war nichts weniger als 
ein Tatenmenfeh. Sein Gemiit war yu weich und ſchreckte vor der Berührung mit der 
Außenwelt zurück, fobald er in feinent Handeln und Wollen in Mitleidenfchaft gezogen 
werden fonnte. Einen widtigen Aufſchluß über fein Annenleben, über die weiblicde 
Genügſamkeit feiner Seele, über die Unſelbſtändigkeit feineds eigenen Selbſt und die Ab- 
hängigkeit im wecbjelfeitiqen Verfebr mit Frauen gibt uns die Stelle eines Briejes 
an Wilbelm Waiblinger. Ceinen Freunden gegentiber fpricht er davon intimer, als er 
es 3. B. feiner Braut gegeniiber tut. 


a 


Eduard Möriles Briefe. 399 


» . . · Es ift iiberbaupt in meinem wirklichen Suftand ein befonbderer peinlider Bug, dah alles, 
aud das Kleinſte, Unbdedeutendfte, was von aufen Neues an mich kommt, irgend eine mir nur ciniger: 
maßen frembe Perfon, wenn fie fich mir aud nur flüchtig nabert, mich in dad entſetzlichſte, bangfte Un: 
behagen verfest und ängſtigt, weswegen ich entweder allcin oder unter ben Meinigen bleibe, wo mid 
nichts verlegt, mid) nichts aus dem unglaublid) verzärtelten Gang meines inneren Defend herausftirt 
und zwingt. Mit meiner dlteren Schwefter befonders und mit Klärchen treibe ih mich um. Du begreifft 
nicht, welden Einfluß jene auf mich ausübt, und wie wir uns von ferne verftehen; ja fie bilft mir oft, 
obne es mur gu wiſſen, dem Verſtändnis meiner felbft auf die Spur, wovon icp dir jest abſichtlich nur 
ein höchſt unbedeutendes Beifpiel geben will, Tret’ id) mit ihr-in ein Simmer, deffen Tapete und 
ſonſtiger Ausdruct mir neu und unterbaltend ift, und antworte id} auf ibre Frage, wie mir dad alled 
gefiele, faſt mit Entzücken fiber cinen fold) anmutigen Mufenthalt, fo fann mic gwar ihre ganz entgegenge: 
ſetzte Anſicht ſehr frappicren, dennoch aber, wabrend fie die cingelnen Gründe dagegen ſchnell und leicht anführt, 
wird mit die ganze Herrlidfeit auf cinmal gu nichts, und ich finde, daß auch bei mir im Hintergrund 
cine Stimme ganz dunfel ſchon dagegen geweſen ift, die vielleicht nur durch dad Beftechende irgend eines 
zufälligen Reizes unterdriidt ward; und von jest an fdeide ich mit (ebbaftem Miffallen von dem Zimmer, 
bas um feiner fonderbaren, gebeimnisvollen Einſamkeit, ja fogar um des darin verbreiteten Geruched 
willen meiner gegenwärtigen Stimmung fo febr entfprocen hatte. Ich febe nun auch wirklich bas ein, 
daß felbft dieſes Bebagen an der myſtiſchen Abgeſchiedenheit blos Selbjttiufdung war, fein reiner, 
bleibender Genuf, nicht cin lauterer, fondern cin höchſt unfreundlicer Eindruck. 

Und fo gehts burdiveg in ben bedeutendften Lebendbesiehnungen, fo daß dieſes ober jenes ſchöne 
Verbaltnis, wie ich es bisher mit cinem eigenen Gemifd von Luft und Unluft und darum nach meiner 
Urt mit einem Obergeiwicht der letzteren betrachtete, mun, nachdem die Schwefter mirs unwillkürlich von 
einer anderen Scite gezeigt und mit treffenden Worten (Mar ausgefproden bat, cine unbegreiflid) giinitige 
Anderung fiir mich erlitten zu baben febeint, cinen überaus lichreichen, herzlichen Bejug fiir mid ge- 
wonnen bat. — Auf cine andere Art ftehe ich mit Marden: Da ift die Bewunderung auf ibrer, die 
Wirkung oder vielmebr der Betrug geht von meiner Seite aus. Ich mache ihr taufend (jedoch unſchädliche) 
Sachen und boble Riiffe vor, wodurch fie aufer fid) felbft gefest wird und mich mit grofen Augen an- 
fiebt, bid wohl auc) zuweilen dieſe Bewunderung in cin lautes Sahreien, Weinen und Hilferufen gegen 
bad jitierte Geifterreich ausſchlägt .. .” 


Mit gutem Bedacht babe ich dieſe Briefftelle gan ausgeboben. Sie gibt nach 
mebr al3 ciner Seite feine Cinblide in das feelifcbe Leben des Dichters. Bor allem 
intereffiert uns dabei die eigenartige Stellung der Schweſtern ju dem ganjen Wollen 
und Berlangen des Dichters. Die Liebe, die ihn mit der alteren, Luife, verknüpft, 
zu der er mit all feinen Herzens- und Lebensangelegenbeiten fommt, Hilfe, Troft und 
Ermunterung fuchend, überträgt er nach ihrem frithen, von ihm auf das Bitterſte 
empfundenen Tod auf Klärchen, die ibm in fpateren Jahren als Schweſter und 
Freundin unenthebrlicy wurde. Zumal als das Berhaltnis zwiſchen Mörike und 
jeiner Frau immer unerträglicher ſich fiir beide Teile gejtaltete. Dabei konnte der 
Dichter ſich leichteren Herzens von feiner Frau als von feiner Schweſter trennen. 
Die Dofumente dariiber wird uns boffentlid) der zweite Band der Briefe nidt vor- 
enthalten. Gewiß trug Morife an der Spanning zwiſchen den Cheleuten nicht die 
wenigſte Scbuld, fo gern man ibn auch davon freifprechen möchte. 

Bon Mörikes Beziehungen ju den Frauen tritt im erjten Briefbande das Verlöbnis 
mit Luife Rau in den Vordergrund. Es bildet eine Epijode fiir fich, durchzittert von 
tiefitem Gefühl, dargeftellt mit einer reichen Annerlicfeit und herzlichſtem Begebren 
auf feiten deS Liebenden, weich in den Linien, ſchwärmend über die Gegenwart binaus 
in Die Stunden, wie fie einſt fein twerden, wenn fte in ibrem Pfarrhaus allein und eins 
wirtſchaften. Klar und rein ijt ſeine Liebe, erhaben über jede Mißachtung und 
Anfechtung. Aus vollfter Seele flebt er das geliebte Mädchen an, gegen jeden Argwohn und 
gegen jedes Miftrauen, das gehäſſige Reden hervorzurufen ſich mühen, anzukämpfen, um 


a 


400 Eduard Mörikes Griefe. 


jede Trübung ihrer keuſchen Neigung zu vermeiden. Er ſchwatzt ſich ſelig in Träume 
hinein, deren Süßigkeit er auskoſtet wie ein Kind, das den leiſen Honigtropfen aus 
der Kleeblüte ſaugt und ſeine Würze auf der Zunge mehr ahnt als ſpürt. Er täuſcht 
ſich die Zukunft ſchon als Wirklichkeit der Gegenwart vor und ſchafft ſich dadurch 
die weihevollſten Stunden, die ihn erquicken. Als er den Beſuch der Braut erwarten 
kann, da ſchreibt er ihr in ſtiller Seligkeit: „Herz! und in vierzehn Tagen du bei mir! 
Wie werden wir fo heimlich unſere zwei Stühle zuſammenrlicken, während dev Topf 
im Ofen ſingt, die Morgenſonne dir auf das Strickzeug in den Schoß ſcheint, ich dir 
eine Hand über deine Schulter legend, mit der anderen ein liebes Büchlein baltend 
und fejend, was du willft, oder ſchwatzend, was du willjt! Und dann nad Tiſche 
ein Spasiergang, der uns die Gefichter anfrijdt und die Gedanfen fart! Sodann 
Der gerubige Abend, von keinem ungebetenen Gaſt gejtirt; man redet von alten und 
fiinftiqen Seiten, von Snnerem und Wugerem — 


Und nacht, wenn Träume uns umſchlingen, 
Wird alles wie ein Lied verFlingen.” 


Allerdings fdslafen fie jetzt noch in „zwei wohl feparierten Stübchen,“ aber der Mond, 
der bier offenbar ein ganz befondered Licht bat, befcheint das Kiſſen des Mädchen jo 
gut wie das feinige, und die Träume kümmern fic nidit um Schloß und Riegel. In 
diefem herrlichen Traumland geht er ibr entgegen, erwartet er fie mit verzehrendem 
Bangen und genieft den Frieden ibrer Gegenwart mit allen Regungen und Schwantungen, 
mit allem lieblichen Hin und Her ibres Verkehrs. Und wenn die Geliebte fortgeqangen 
ift, Dann ſchreibt er ihr: ,,vor wenig Tagen nod ein Fürſt im Aberfluſſe deiner 
Liebe; jest naſch' ich an jedem verlorencn Brifelein und  fiible wohl, dak es 
nicht ſättigt.“ 

Wie er vorher die ſtillen Reize der Erwartung ausgekoſtet hat, ſo ſucht und findet 
er auch in dem Gefühl der Trennung ſeine Freude. Dort auf dem Stuhl in ſeinem Zimmer 
liegt ein Halstuch, das feine Luiſe um den Kopf gebunden hatte, als fie von Zahn— 
ſchmerzen arg geplagt wurde. Jest nimmt er es behutſam auf, fibrt es wohl an 
feine Lippen, legt leiſe feinen Kopf in feine Weichheit und hat das Gefühl ibrer körper— 
lidien Antwefenbeit. In feinem Sehreibpult liegen Mm hunter Mannigfaltigfeit nach 
Größe und Bedeutung, fauber mit Bandden gesiert und umwickelt, aus diejer oder 
jener Veranlajjung feiner Braut abgeſchnittene Haarloden. Cr gebraudt fie wie einen 
Talisman, ihr Unblid fann ihm Mut und Fröhlichkeit sur Arbeit und yum Schaffen qeben. 
bre Briefe behandelt er zärtlich und bedeckt ibre Schriftzüge mit Küſſen. Mörike ijt ver: 
liebt wie cin Primaner, nur daß bei diefem augenblidliche, naive Sentimentalitat, was 
bei jenem innerjte Wefenscigenart ijt, Der ganze Gefiihlsinbalt feines Herzens will 
fic) in thre Seele ergiefen, will cin eigener Beftandteil der Geliebten werden, um fo 
einer im andern aufzugeben. „Wir find es längſt gewobhnt mein teures Kind“, heißt 
e3 einmal, „einander von der jedesmaligen Gejtalt unſeres Innern, wie fie bei aller 
Stetigteit und Reinbeit unferes cigentiimlichen Verhältniſſes, dod unter fo viel über— 
queren Ginfliiffen von außen fich felten Lange gleich bleibt, und felbft yu wunderbarem 
Troſte in gegenfeitiger Kenntnis zu erhalten, und wenn ich jemals dieſe Pflicht verfaumte, 
fo fonnte ich den doppelten Unfegen immer ſogleich am eigenen Herzen empfinden: ich lebte 
von mir felbjt getrennt und war wie einer, der die Heimat cigenjinnig meidet, in deren Schoß 
ibm dod, wie er fo deutlich weif, der Friede gleich gefunden wire.” Aus diejem 


Eduard Mirifes Briefe. 401 


Bedürfnis heraus gibt er ihr getreulid) Kunde von allem, was er unternimmt, be- 
richtet über das Kleinite mit der gleichen Genauigkeit wie über Dinge, die ibm von 
größerer Bedeutſamkeit find, nur wird er bei der Mitteilung wichtigerer Angelegenbeiten 
leicht ungeduldiq und kurz. Die Sage, die er fonft mit Sorgfalt und Rube aus: 
arbeitet, wo er Periode an Periode fiigt und mit ciner gemiitlichen Sicherheit 
iiber die Schwere ihrer Gliederungen gebietet, gewinnen an gefdloffener Kürze 
und vermeiden das Langatmige, Das ijt befonders der Fall, als er über die 
Miperfolge feiner Bewerhbungen um Pfarritellen berichtet, aud) dort, wo er gegen 
die langſam jerbridelnden Beziehungen zwiſchen fich und der Braut ankämpft. Es 
ift nicht bureaufratifche Genauigfeit, die thn veranlaft, bei jeder neuen Vifarjtelle 
der Geliebten eine genaue Sehilderung von der Umgebung, von der Lage feines 
Simmers, von der Art der Beſchäftigung, von der Reiſe nad feinem Beſtimmungs— 
ort und der auf dicfer beritbrten Ortſchaften qu geben, ſondern e iſt vielmebr einzig 
und allein die Freude an der Schilderung, an einem Sichverfenfen in das rein Stoffliche, 
ein Vergniigen dariiber, wie ſich Cag an Sag gliedert und er beim Geftalten diefes 
Gefüges teils im Geijte nocd einmal das Gefebene erlebt, teils ſich mit etwas Neuem 
in Einklang 3u fegen fucht. Da kommt e3 denn häufig vor, daß ec durch die Troden- 
heit feines Berichtes verleitet wird, die Schwingen feiner Phantafie auszuſpannen und 
fiber Raum und Beit zu fliegen. Faſt mit Schrecken merft er dann pliglich, wo er 
ſich befindet, befinnt ſich auf fic) felbjt, alg ob er einen Schleier von feinen Augen 
löſen müſſe, der ibn tiber den Augenblid hinwegtäuſchte: , Aber mun hab’ ich drei 
Seiten vollgefdrieben und im Grunde nod) fein verniinftiges Wort, was man fo 
darunter verjteht: Reine ordentliche Schilderung meines paſtoraliſchen Lebens, keine 
Amtsgefühle, nichts Hochebriviirdiqes! Much bin id) in der Tat nicht aufgelegt, dir dies 
Rapitel weitldufig abjubandeln: icy möchte immer nur fo fortphantajieren.” Forts 
phantafieren mit dem Ruf der Sehnſucht: , Wenn wir nur erit unjer Pfarrhaufle 
batten!” 

Mörike unterbalt Luife Ran Lieber mit einfachen PBlaudereien, von denen ev weiß, 
dak fie ihr Antereffe gewinnen. Er weif, wieviel er ibe zumuten darf in der Erörte— 
rung irgend einer Begebenheit. Fein beforgt ijt er um ihre Seele, und er jergliedert 
jie fic) in Gedanfen fajt ähnlich, wie es Novalis mit der Seele feiner Sophie tat. 
Den Cindrud, den er davon geiwonnen, teilt er aud) jeinen Freunden mit, und voll 
innigfter Freude und herzigſtem Stolz entwirft er Wilhelm Hartlaub ein Bild feiner 
Geliebten. 

„Mein Kind mußt bu friiber ober {pater doc feben. Gin einfaches, heilig unſchuldiges Wefen, 
das, weil andere es verfannten, fange im Unflaren über feinen eigenen tief verborgenen Wert twar; 
feitbem ic) fie tenne, erbob fich ibr Gefühl und Geiſt mit ſchöner Zuverſicht, dod) bildet ihre Schüchtern⸗ 
beit noch immer cin reizendes Gemifd mit dieſem neuen Leben. Sie ift verftindig, vorſichtig, entidieden 
und im Affekt fogar fiberbraufend, zumal wenn's einem edlen Gedanken gilt, den man ihr belampft. 
Bei der Leltilve feitet fie, befonders in Dingen, die über den unfcbulbigen, keuſchen Mädchenhorizont 
hinausliegen, cin niemals irrender Inſtinkt, deffen verlegener, kindlich origineller Ausdrud mich oft gur 
feligiten Freude vermodt bat; gewöhnlich laden wir dann beide herzlich, und ich fühle ganz den zauber— 
haften Punkt im ftillen, der mic von Anfang an fie feffelte. Boe Außeres ift zart und leicht. Wer 
ibe Geſichtchen beurteilt, fagte nod) jedeSmal, dah es mit längerem Anſchauen nicht bloß gefallig fei, 
fondern ihre ganze Seele treu abfpiegle. Mir ijt fie fo ergeben, als es nur cin Menſch dem andern 
fein fann, und ich denfe dabei oft unwillkürlich ſchnell an did!” 

Er vermeidet in feinen Briefen alles, was ibrem Geijt yu ſchwer fein könnte, und 
ſucht auch dort, wo cs nicht zu umgeben ijt, fiir Schwieriged eine Formel, die das 

26 


402 Eduard Mörikes Briefe. 


Problem einfacher geſtaltet. Wenn er auch in den meiſten Schreiben immer nur von 
dem ſpricht, was er „vernünftig“ genannt hat, wieder und wieder die Herrlichkeiten 
ſeiner Liebe darſtellt, ſo hat er doch manchmal auch dem Verlangen nicht widerſtehen 
können, ernſtere Fragen, die ihn beſchäftigen, zu behandeln. Dann findet ſich am 
Schluß des Briefes aber eine demütige Bitte um Entſchuldigung, wenn er ihr den 
Kopf „übervoll“ geſchwatzt hat: „Lies es aber doch noch einmal! ich bin gewiß, 
du wirſt mich verſtehen und mir recht geben, auch abgeſehen davon, daß ich dein 
Eduard bin.“ 

So ſucht er ſeine Braut zu ſtützen und übernimmt ganz unbemerkt die Führung 
und Leitung ihrer geiſtigen Erziehung, weckt die Anlagen ihrer Seele yur Meife und 
lebt ſo von ſeinem ſtillen Vikarwinkel aus ein doppeltes, für ihn köſtliches Leben. 
Doch er vergißt nicht, daß der Lehrende in der Anleitung zugleich lernt. Er ſelbſt iſt 
ſich bewußt, daß er als Gebender auch Empfangender iſt. In jener Zeit, die der 
Löſung des Verlöbniſſes vorausgeht, gibt er zurückblickend ſich gewiſſermaßen Rechen— 
ſchaft über die Jahre gemeinſamen Verkehrs. „Seit wir uns kennen, es iſt wahr, iſt 
eine Veränderung meines Weſens vorgegangen, aber ſie kann, wie ich dich gern über— 
reden möchte und du künftig gewiß noch einſiehſt, nicht anders als zum Vorteil unſerer 
Liebe fein, fo wie fie zuverläſſig auch die Frucht derſelben war. Ad bin ruhiger 
geworden, weil ich mich fiderer in mir felbit fiible.” So fab anch Morife 
in Luife cine Stütze feines eigenen Wefens. Um jo tiefer erfdiittert ¢3 ibn, als das 
Schidjal beide trennt. Er bat ſchwer darunter qelitten, und es dauerte lange, ebe er 
ſich von dieſem Schlag erbolte. Bur Feftiqung feiner Stimmung trug nicht jum 
wenigften bei, daß er nach furyem Aufenthalt in Ochſenwang, Weilheim, Owen und 
DOethlingen endlich Pfarrherr von Cleverfuljbacdh wurde. Das war im Jabre 1834, 
und ein Jahr fritber löſte fid) Das Berldbnis. Wo Luiſe als Pfarrfrau wirfen follte, 
zog Mörikes Schweſter Klärchen ein, ſorgte für die Bebaglichfeit des verzartelten 
Bruders und hielt alles fern, was den Träumer in ſeinen Träumen und Spielereien 
ſtören fonnte. Die Seele des Dichters ſchuf in dieſer harmoniſchen Rube die klang— 
und duftdurchwehten Werke ſeiner Kunſt, die ſeinen Namen langſam über die engen 
Grenzen ſeiner Heimat hinaustrugen. Der Verkehr mit der Außenwelt wird reger, 
ohne ihn ſelbſt in ihren Lärm hineinziehen zu können. Er iſt der Lauſchende, dem die 
Natur ihre Offenbarungen zuraunt und der ſie mit keuſchen Händen aufhebt, um, reich 
durch ihre Gaben, aus dieſem Reichtum anderen zu ſpenden. Hatte er ſich in ſeinen 
Liebesbriefen nur mit ſich und der Geliebten beſchäftigt, ſo tritt jetzt ſeine Kunſt und 
ſein Schaffen mehr und mehr in den Schreiben hervor. Für ſein inneres Werden 
und Wachſen bieten allerdings jene die wertvollſten Dokumente, in ihnen prägt ſich das 
Weſen Mörikes am ſchönſten und reifſten aus; alles andere trägt nur dazu bei, den 
Eindruck dieſer Weſenheit hie und da zu heben und zu verſtärken. Darum gewinnt 
dieſe „Epiſode“ fiir mich ihre überlegene Bedeutung über alle in dem Bande enthaltenen 
Briefe, die Mörikes Charafter in ibren Einzelheiten yu feiner Harmonie abtinen. 


—— ae Or. 
Re SD 


403 


Ces Ramps Rinder. —< > 


Son 


Elisabeth Siewert. 


Nachdrud verboten. 


Du Poſtbote und Ramp, der ſchon feit 
mebreren Dabren in Libau Wirtſchafter war, 
ftanden in ber Mittagspaufe am Gartenjaun 
und unterbielten fid. Das kleine Fleckchen 
Erde, Das den Vordergarten abgab, iiberdedte 
eine Kürbispflanze von groper Pract, eigentlid 
nicht viel mebr als dieſe, denn die gelben und 
lilaroten Commerblumen fiibrten nur ein ge— 
duldetes Daſein zwiſchen den madtigen Blattern 
nnd den energifden Ranken. Der Pojftbote 
befah fic den grofen Riirbis, der da im 
Griinen lag, die Farbe cines nadten Menſchen 
hatte und auf feiner Rinde die aufgequollene | 
Jahreszahl trug. „Ich würd' nid’ nad | 
Dombrowo zieh'n, id nich'“, ſagte er fopf: | 
ſchütkelnd und überlegen, „nur nich' nad | 
Dombrowo! Überall bin, nur nid’ in dad | 
Neft. Das ift ein Neſt!“ 

„Woher?“ fragte Ramp. Er ftand in| 
Hemdsärmeln, eine kurze Pfeife raucdend, lang | 
und kräftig da. Bon Zeit ju Zeit warf er , 
aus feinen braunen, dolerijden Augen einen 
Blid auf den Wirtſchaftshof, den die ſchwarz— | 
weife Herde, befonders dict um die Pumpe, 
bedeckte. | 

„Als Kinder baben wir durch'n alted 
Fernglas nod) pom Onfel ber, der Ubrmader 

| 





war, oftmals nad'm Mond gefudt. Da faben 
wir nidt viel, aber wenn's in Dombrowo 
brannte, das ging gut durdjufeben. Rauf 
auf'n Boden mit’m oflen Glas nach der Lue. 
So'n grofen feurigen Rlumpen baben wir 
gefeben, richtig wie'n Höllenrachen. Ru’ | 
giebt's Malhör, fo hieß 4, irgend was. Jn | 
Dombrowo brennt’s.” 

„Na ja, und?” Ramp fab aus feinem 
fleinen braunen Geficht ftreng auf den Poft- 


boten, der aber hatte nur Auge fiir den 
Riirbis. 

„Wir rauf auf'n Boden, an die Luk' — 
jedes Mal. Es rif nid)’ ab mit Branden in 
Dombrowo. Das ift da 'ne Sorte!” Der 
Poftbote mit feinem ſträhnigen grauen Haar 
und den diden Baden hatte das Ausfeben und 
die Manier einer alten Klatſchbaſe. Ramp 
widerftrebte diefe Art gang und gar, trotzdem 
wollte er mehr über Dombrowo hören. 

„Und fonft, wer da hinzieht, verliert, der 
verliert. Bor Stiider zwanzig Jahren”, der 
Poftbote lachelte und lehnte fic) bequemer auf 
den Zaunpfoften, „hat's ba ’n Biebfterben 
gegeben, nur die Ragen blieben am Leben. 
Auf den Wiejen foll 'n bitteres Kraut wachſen, 
jagte meine Groptante, die von daber war. 
Die Cholera ijt dba, anno — na, wann war's 
gleich? — fcblimmer geweſen, wie wo 
anders.“ 

Ramp wurde ungeduldig: „So was twird 


/ man meift aus allen Dérfern hören, wenn 


man nadforjden tut.” 

„Na ja, febr ſchön. Qn der Dürre vor- 
poriges Jahr find Leute ausgewandert, weil 
die Brunnen vertrodneten; fein Waſſer ju 
haben tweder fiir Menſch nod Vieh, fein Teich, 
fein Flies, Fein nichts, weit und breit.” 

„Paſſen Sie man auf, Bladef, in diefer 
Ernte wird's mehr Wajfer geben als genug, 
aud) in Dombrowo, wie aud voriges Jahr 
fein Mangel war.” Kamp lachte bitter auf 
und blidte wieder nad bem Hofe. Zwei junge 
Ochſen rangen mit gefenften Köpfen miteinander, 
und der Hiitejunge knallte mit ber Peitſche. 

„Na ja, febr ſchön. Man follt’n Bogen 
machen um ſo'n Ort twie das, aber nich’ zu— 

26* 


404 


ziehen. Die Leute fommen da gu nidts. Der | 


Uder iſt hungrig durch und durd. Die 
Kathen bringen fein Glück. Wer drin ftedt, 
mug ausbalten, aber um Himmels Willen 
nich’ zuziehen.“ 

Ramp verfinfterte fic immer mehr. Er 
fah fic um, ob nicht irgend etwas vorfam, 
was das Geſpräch unterbride. „Da, wo 
ih mic anfaujen will, is fowobl 'n aus— 
giebiger Brunnen als aud) gute Wiefe, und 
ber Uder ift im Suge”, erklärte er barfd. 

Der Pojftbote lehnte fich weiter über den 
Baun, der Anblick ded Kürbiſſes machte ihn 
gang benommen. „Sehen Sie, mein Schwager 
bat dba auf bem End’ gewobnt, wo Sie dran 
benfen. Der Adler ift ba befjer, gewiß dod). 
Der Schwager zerbrad bie Achſe, als er bin: 
fuhr. Na fein. Drei Worhen ſpäter hat 
ibn cin Wiesbaum erfdlagen auf ſeiner 
eigenen Denne.” 

Kamp judte mit ben Adfeln und jog 
Falten um den Mund. Über den Wirtſchafts— 


bof famen zwei fleine Gejtalten angetwandert. | 
Aus der friſchen Farbenpradt der roten Stall: | 


mauern, der geteerten Pappdächer, der griinen 
Pappelbäume auf bellidimmerndem trodenen 
Grund, von blauer Luft umfdloffen, famen 
fie, gang dazugehörig mit allem, was unter 
der Sonne glänzte, und furdtlos vor dem 
madtigen Rindvieb, den unrubigen Hunden 
und dem blanfen Geflitgel. Hand in Gand 
famen fie an, ein Junge und ein Madden. 
Gradewegs auf den winjigen Anbau des 


langen Viehſtalles fteuerten fie los. Das 
fleine ‘Fenfterchen, dads war Waters und 
Mutters Fenfterden, und die Haustiire 
war ibre. 


„Hab 'n Wolf geſeh'n,“ fagte der Junge 
mit einem ſpitzbübiſchen Blid aus gliihend 
braunen Yugen. „Bei die Kaulen hab’ ich 
'n geſeh'n. Recht groß — wie'n Ralb, porn 
Zähne wie Karo, aber größer, — hinten ’n 
Schwanz wie Karo, aber ſechzig mal fo lang.” 
Er lief Emmys Hand fabren und ftredte 
jeine Diinnen Arme, fo weit er fonnte, aus, 
dabei fah er herausfordernd jum Vater auf, 
blähte die Nafenfliigel und zog die Stirne fraud. 

Ramp und der Poſtbote lachten. 

Der Junge jeigte blitzſchnell die Milch— 
zähnchen in feinem gierlidhen Mund und 


— 6 


| 
| 
anfiebt. 


Ramps Kinder. 


wurde lauter und prablerifd. „Bei die 
Kaulen! Lauft bin und ſeht euch Wolf an! 
Ich friegt? Angft.” Cr lachte wieder blig: 
ſchnell auf. „Ich faq: Emmy, fag id, fomm 
fling, der Wolf ijt auf Kinder.” 

Emmy nidt gang ernfthaft und blidt mit 
ibren Gammetaugen yum Bater auf wie cine 
fleine Heilige, die Schreckliches mit Geduld 
ertragen bat und glücklich entronnen ijt und 
nun in Unfduld zehnmal ſchöner ſtrahlt. 

„Komm GEmmyden, fag id,” fabrt der 
Knabe fort, ,,wir laufen. Aber morgen und 
nidjte Wode und alle Tage nebm id 'n 
Stod mit. Auf Wolfe mup man Stod baben, 
bas ijt befier fiir Wölfe, ba rennen fie, da 
rennen fie bis auf die naffe Wief’, weiter 
rennen fie bis in die Mühl' und da — —“ 
Ernſt geht die Pulte aus, fein feines Geſicht 
ſieht gang verzehrt aus vor Cijer und 
abenteuerliden Cinbilbungen, die ihm durch den 
Sinn geben und feinen Körper tragen. 
„Vatta“, fagt er fid) balb abiwendend mit 
einem funfelnden Ccitenblid, mit dem a 
Kamp ju bezaubern verſucht, „ich möcht' 'ne 
große Peitſch' haben, wie auch die Knechte 
haben, 'n gang große Peitſch' —“ Das blanke, 
kleine Fenſterchen klirrt, ein Frauengeſicht mit 
glatten Scheiteln ſieht heraus. Das eine 
hellblaue Auge ſchielt nach dem Wirtſchafts 
| bof, das andere richtet ſich, wie es eigentlid 
beide wollen, auf die Kinder. „Mittag!“ 
ruft ſie mit melodiſcher Betonung, ſo wie ſie 
jeden Tag freundlich zum Eſſen ruft. Kamp 
tauſcht mit Bladek dem Poſtboten einen 
ſympathieloſen, ſchlaffen Händedruck und nimmi 
ſeine Emmy auf den Arm, ſeine Puppe, ſein 
Herzblatt, und küßt ſie, während er ſie herein— 
trägt fiber das ganze glatte Blumengeſicht. 
Wenn ſie ſich ſo beide haben, dann ſind ſie 
ſehr glücklich. 

„Du, bring mir Brief’, hundert Brie? 
jeden Tag,” ruft ber Junge im Abgehen dem 
Poftboten yu, der fic) nod einmal ben Kürbis 
„Hundert jeden Tag und auch zwei 
an Emmy!” Ernft madt einen fpigen Mund, 
wirft den Kopf auf und verſchwindet in feiner 
eigenen Haustiire wie ein fleiner Ronig. 

„Der Bladef rat mir ab von Dombrowe,* 
fagt Kamp fiber dem Mittagefjen yu femer 
Frau. 








Ramps Kinder. 


Was weiß denn der von Landwiriſchaft,“ 
ſagt Frau Ramp ein wenig veridtlid. ,,Der 
hat immer was gu nörgeln.“ 

„Er fagt, in Dombrowo fame fein Menſch 
zu was, fondern verliert alles. Er würd' 
fiir'n Tod nich’ dabin ziehn.“ 

„Für'n Tod nich',“ fagt die Frau, Ernſt 
einen Klaps auf den Mund gebend, teil er 
pfeift und zugleich mit den Stiefeln an den 
Tiſchfuß poltert. „Für'n Tod nicht, aber für'n 
auskömmliches Leben auf dem Eignen, dazu 
zieht man nach Dombrowo.“ 

Kamp macht eine Bewegung mit dem 
Kopf. Es ſitzt da in ſeinem Gemüt wie ein 
Balken, an dem er ſich ſtößt. Die vielen 
Brande, das Viehſterben, der Schwager mit 
feinem Unglück Seiner Frau ijt es 
garnicht recht, dag er fic) bon dem Poftboten 
wieder ſchwankend maden apt. Cie wollen 
bod) nun fort aus Libau, das Grundftiid in 
Dombrowo ift umftandlidh und eingebend 
bejeben, es ift gebandelt worden, als follte 
man davon. franf werden, immer dasfelbe und 
immer dasfelbe. Ja, und es ift bier dod 
manderlei, von dem fie [oéfommen wollen. 
Dies zur Wäſche geben bei der Herrſchaft, wo 
fie felbjt alle Hände voll yu tun bat, ijt der 
Frau yu viel, und die enge Wobnung, wo 
eins auf bem anbdern ftebt; nidt mal Emmys 
Bettchen ijt aufyuftellen, die Kinder müſſen 
gufammen ſchlafen. 


_* 2 * © 


„Es gibt fo Orter, die was von Unglück 


an fic) baben,” fagt Ramp. 

„Man ſoll nidt aberglaubifd) fem”, ent- 
gegnet ibm ſeine Frau raſch. „Wenn man’s 
recht bedenft, hat's überall Unglück gegeben, 
an jedem Ort.“ 

„Ja, das ſchon,“ ſagt Kamp gedehnt und 
aus einer ſchweren Bruſt, „aber es mag 
ſchon Ortſchaften geben, wo ſo'n beſonderes 
Kreuz drauf liegt. Wenn einem abgeredt 
wird... Es braucht ſchließlich Dombrowo 
nicht zu ſein.“ Kamp hilft Emmy mit einem 
Knochen fertig werden. Seine Frau fixiert 
ihn mit Ungeduld. „Sollen wir uns wieder 
aufs Anſehen von Grundſtücken legen?“ fragt 
ſie. „Blos, weil es dem Bladek einfällt, 
alte Schnurren von Dombrowo auszu— 
kramen? Nee. Der Acker iſt ganz gut, 





das Wohnhaus in Stand und groß genug, 


405 


mit 'm Vreis ſeid ihr einig. In Gottes 
Namen.“ 

„Und wenn der Wolf fommt?” fragt 
Ernft und nidt und fiebt fein Schweſterchen 
bedeutfam an. „Und wenn der Wolf fommt, 
dann gebt er auf die Kinder. Auf die Emmy.” 
Emmy verjicht den Mund und ängſtigt fid, 
zwei flare grofe Tränen tibertwilben ihre 
ſchönen Mugen. 

„Nu' ſchwatz nid,“ fagt ber Vater ju 
Ernjt, und Emmy fiebt thn an und verjinft 
gang in Liebe und Bertrauen, das fpiegelt 
ſich deutlich und Lieblid) in ihrem Geficht. 
Sie will yu Vater auf den Schoß. Und er 
weif fic) nichts Befjeres, als fie gu nebmen 
und qu balten, als wäre fie nun in dem 
ſicherſten Neſt. Seine Frau ſtößt bei ibrem 
emfigen Abräumen des Eßgeſchirrs jest an 
feinen Gtubl und dann an ſeine Schulter. 
Sa die, die ift jung und obenbin, Ddenft er, : 
fein raubes Rinn auf Emmys glatte, feine 
Scheitelbaare legend. Wer weif, von wo die 
ibren Mut nimmt, bah fie immer meint, ire 
Meinung ift ridtig. Ich bab’ die Berant- 
wortung. Ich geb’ twas Feftes auf und zieh' 
ind Ungewifje, ih mug auswählen und mid 
ftrap’jieren, dak ich nicht jebl greife und ins 
lend fomme. Warum fdiwagt der Bladef 
fo, wie er tut? Ctedt ba nich’ was binter, 
‘ne Warnung? Wer fann das wiſſen! 

Ernſt reitet auf feiner Mutter Ausſtattungs⸗ 
faften und fangt von dem Berg an, den der 
Vater mal fpater maden twollte, cin Berg, 
auf dem er und Emmy fpielen fonnten, um 
ben ein Weg in die Runde führt nad oben, 
oben ftebt ein Banden, da fann man bis 
Amerifa feben, tenn man oben ijt. Das 
war ein alte’ Gefpradésthema zwiſchen dem, 
Vater und feinen Rindern. Was fiir frifde 
Freude Hatten fie ſchon davon gebabt! Wie 
jtolg war Ernft darauf, cinen Vater gu haben, 
der ibm einen Berg machen fonnte! 

„Wird fddon dazu fommen,” fagte Ramp, 
,wem wir erft auf unſerm Grundjtiid find.” 

Ernſt nidt und bligt den Vater freund- 
ſchaftlich an und ftrablt in Borfreude. Das 
find feine Dummbeiten, die wir befpreden, 
das will er ausdrücken. Wenn Vater ja fagt, 
dann iff das ja und gut. 


* 
* 


406 


Kamps Kinder. 


Es fommt dazu, daß Ramp feinem Brot: | Haus mit überſchäumend gliidliden Geberden 


berrn fiindigt. Er tut dies mit ciner Scroff- 
beit, die feinen alten Herm unangenchm 
berührt. Man hatte fic in den ſechs Sabren, 
in denen man miteinander gefdafft, ftets gut 
geftellt, und es ware wünſchenswert geweſen, 
wenn Ramp, nod ein Jahr wenigſtens, ge- 
blieben tare. Ramp war verbijjen und zeigte 
gar feine Unbanglidfeit, Der Umſtand, dap 
er nun tvirflid) nad) Dombrowo 30g, die Er: 
requng, die es mit fic) bradte, auf eigenen 
Grund und Boden zu fommen, das war eg, 
weshalb in feiner Brujt nun fein Raum blieb 
fiir bag, was geivefen war. Bielleidht, daß 
er fic) fpater befann und bdanfbar war fir 
eine verbiltnismapig rubige und bekömmliche 
Beit. Er batte bier in Libau, nicht mehr 
jung wie er war, Ende der Vierziger geheiratet. 
Gine viel jiingere, tiidtige, gute Frau hatte 
ex gum Weib genommen, aljo einen guten 
Griff getan. Dbm waren zwei Kinder bier 
geboren. Ceine Emmb und der Ernft. Alle 
liebten die Kinder. Cie wurden wie ein paar 
zahme Bogelden, frei, luftig und reizend anzu— 
feben, itberall mit Wonne empfangen. So twaren 
feine Rinder. Ramp twunderte ſich nit, dah 
feine Herrſchaft ſo gut mit ibnen war. Was 
befjeres gab es in Libau gewiß nidt. 

Der Abſchied war unter ben Umſtänden 
ein wenig getrübt an Herglichfeit und Reinbeit. 
Ramp empfand feinen eigenen Mangel und 
wurde nur immer kürzer und knurriger. Und 
fo gogen fie ab. Den Kürbis nabmen fie mit, 
Es war cin wenig regneriſch, ein wenig ſchwül, 
ein Sommertag im Herbjt mit raſcher Sonnen- 
beleudtung und tiefem Schatten, die Baume 
ftanden in vollem gelben Laub. 

Frau Ramp nahm ibre Kinder gleid) von 
Anfang an unter ihren Rod, jedes in einen 
Arm. Ernſt ließ fich dies nicht lange gefallen. 
Es regnete nod nicht, und er war ju glück— 
felig, um ftill gu fipen. Cr mute dod den 
Brounen feben, der das Gefährt zog und den 
Vater, ber mit der Leine in der Hand daneben 
ging. Als fie vor das niedrige, ftrohgededte 
Bauernhaus famen, hatte es da getade ab- 
geregnet. Ob das nicht ein Glück war! Wlles 
frifeh gegofjen, und ein Regenbogen über dem 
Kiefernwaloden am Kirchhof und fie gan; 
troden angefommen. Ernſt fprang um das 








und Ausrufen: ,, Mein gutes Dach, meine 
ſchönen vielen Fenfter, mein Holz, mein Stroh!” 

Frau Kamp fagte: Jn Gottes Namen, als 
fie über die Schwelle fcbritt mit Emmy auf 
dem Arm, die eingeſchlafen war; dabei fab fie 
qu ihrem Mann zurück, er follte es horen, tm 
Fall er nod immer den dummen Sdnad von 
dem Poftboten im Kopf hatte. Er war fo ein 
Menſch von der Sorte, die alles lange Beit 
bei fic tragen und dran würgen und drehen, 
die tagelang ſtill und jftreng find und nie 
bergefjen. So twar er, aber im übrigen ibr 
lieber Mann. Und ed war ein Liebesblid und 
cin zärtliches Lächeln, mit bem fie ibn auf: 
muntern und ei klein wenig bevormunden 
wollte, und triumpbierend war fie aud, da 
fie ben Unfauf mit ihrer aufgeflarten, guten 
Meinung durchgeſetzt hatte, 

Es ging nun fo ſchlecht und recht. Die 
Wiefe hatte getaufdht, das Sdeunendad war 
löchrig. Alle Hinde voll ju tun, ganz gewif 
nod) mehr Urbeit als in Libau, aber aus dem 
Grunde nicht viel Zeit, um Vergleiche angu- 
ftellen. Sur Danfbarfeit fiir bas Bergangene 


| fam man vollends nidt, dazu war vielerlei 


angenebmer jest. Der Leutedrger fiel fort, 
bie Abhängigkeit; alles, was man tat, tat man 
fiir fi. Das Dorf war diifter, viel Armut 
und Unordnung drin und ein verſtecktes, 
diebiſches Weſen unter den Einwobnern. Wan 
mufte fic) fernbalten von den Nachbarn ober 
wenigftens fid) feine Leute genau anfeben. 
Das taten Kamps. 

Sebt hatte Emmy ihr eigenes Betichen. 
Das gefiel ihr fo gut, dah fie eines Morgens 
erflirte, fie wolle nicht aufftehen. Die Mutter 
war beim Brotbaden und hatte feine Beit, 
lange ju fadeln. Der Vater war gang früh 
fiir zwei Tage verreift. „Raus mit die!” rief 
fie und jog das Kind an einem Arm in die 
Höhe. „Wo iſt ſchon der Ernft? Der fpielt 
Schneeball, du Faulpely! Ci, woll'n mal 
jehen, two der Ernſt iſt!“ 

Emmy blidte der Mutter über die Schulter 
und fab, daß es draußen gang weiß war. 
Sie ftaunte und dachte, fie fiele vom Stubl 
in cin grofes, groped, weißes Bett bhinein. 
Sih an die Mutter mit Armen und Beinen 
flammernd, jdprie fie auf. 


Ramps Kinder. 


Bumms, ba flog etwas an die Fenfter- 
ſcheibe, cin grautweifer Ker, und Ernfis Gefidt, 
von einer Miike mit Obrenflappen umgeben, 
jah triumpbierend herein. 

Emmy iweinte fo kläglich, fo ſchmerzlich, 
ließ fo ſchwer ibr Köpſchen der Mutter auf 
die Schulter fallen, dag diefe ihre Ungeduld 
mit bem Kinde [08 wurde. „Lieg twieder,” 
fagte fie reſigniert. „Was beulft bu denn? 
Das war der Ernft, der ſchneeballiert.“ 

Emmy blidte nod einmal nad dem Fenfter 
in dieſes ängſtlich große, weiße Bett binein, 
fing an zu zittern und ließ ſich in ihr eignes 
heimliches Neſt fallen. Da lag ſie ganz 
ſtill. 

Ernſt kam herein. Wie ein Großer 
trampelte er ſich den Schnee von den Stiefeln. 
„Und Vater weg,“ ſagte er plötzich erſtaunt. 
„Wo jo was fommt, Vater weg?’ Cr 
hauchte fic) in die Hande und trampelte aufs 
Neue. „Ich ſchmeiß die Fenjter ein, übers 
Dach ſchmeiß ich,” fagte er ladend. „Üübern 
Schornſtein ſchmeiß id) Sdyneeballen — bu, ja, 
dann fallt der Schnee durch'n Schornſtein 
auf'n Herd, da haben wir heut Winterfpeife 
ju Mittag. Mutter, Winterjpeife, fo viel, von 
bier fibern Wald, allenthalben Winterfpeife. 
Da effen wir fo viel, bis wir dick werben tie 
die Mühle, fo dic!” Ernſt rebete und tangte 
und fonnte ſich vor Ausgelaſſenheit faum 
bändigen. 

„Still, ſtill,“ ſagte Frau Kamp, „ſieh 
mal nad Emmy, die twill nich’ aus'm Bett.“ 
Und fie lief fort, um nad ihrem Brot ju 
feben. Als fie wieder fam, fand fie Ernft an 
Emmys Bett über fle gebeugt, und die 
Rinder tuſchelten miteinander, lachten und 
fiiften fid). Die Mutter ſchob den Jungen 
beijeite. Wenn Emmy gang gefund war, 
dann follte fie jest auffteben, aber Emmy lag 
da fo rotbadig, fo grofaugig und mit cinem 
fo fonderbaren Musdrud der tieſen, ängſtlichen 
Erregtbeit, dak Frau Ramp meinte, fie müſſe 
fiebern. Während fie fic) mit ibr abgab, 
refelte Ernft am Bettpfoften, „Ich will ju 
Bett wie Emmy auch,” fagte er, die Fauft auf 
dem einen Auge, mit dem andern lachte er die 
Mutter fpigbiibifh an. Die Mutter fdalt. 
Ernſt blich dabei, daß er müde fei und gu 
Bett wolle. 


greifen ließen. 


407 


Der Wintertag war kaum aufgeſtanden, 
da war es ſchon mit ihm zu Ende. In der 
gelben Dämmerung lagen nun die beiden Kinder 
in ihren Betten. Ernſt wurde es ſehr heiß und 
ſehr wunderlich, ſobald er lag. Er wollte ſich 
mit Emmy beſprechen, das hatte er ſich herrlich 
gedacht, von Bett zu Bett. Ihm kamen fo 
viele Bilder vor die Augen, immer neue 
Bilder aus Libau und aus Dombrowo, alles 
gang genau, damit hatte er zu viel zu tun. 
Und er ging mitten in den Bildern umber. 
Alles war leicht fiir ihn, laufen wie das 
bimmlifde Rind, der Wind, und reiten und — 
nein, es war gum laden, dap fid) die Hühner 
Nur dunkel follte es nicht 
werden und etiva der Wolf — dann fabric 
Ernſt. 

Bei einer Nachbarin, einer hartgewohnten, 
ältlichen Frau ſprang gegen Abend die Türe 
auf, als ſie gerade mit dem Aufwaſch fertig 
war und ſich zur Lampe mit einer Näharbeit 
geſetzt hatte. Die Tür ſprang auf, und eine 
Frauensperſon fiel herein, die Hände zuerſt, 
und ſchlug auf die Knie und hob die ver— 
ſtauchten Hände auf und ſtammelte wie cine 
Irrſinnige: „Nachbarin, Nachbarin — — die 
Kinder! Barmherzige Nachbarin!“ 

Und die Geſtalt kroch heran und griff 
wimmernd nad dem Rod der entfesten 
Alten. ,Mein Mann — die Kinder — 
Nachbarin.“ 

Die Alte faßte Frau Kamp unter die 
Achſeln und richtete ſie auf. „Schrecken mich 
rein zu Tod,“ ſagte ſie entrüſtet und ſtotternd. 
„Ja, zu Tod,“ hauchte Frau Kamp ganz 
ſinnlos. Wie ein Stück Holz lehnte ſie an 
der alten Frau. 

„Nehmen Sie Ihren Verſtand zuſammen. 
Was iſt denn! Was iſt los mit den Kindern, 
mit'm Mann?” 

Frau Ramp befam Leben; ihre aufiwarts- 
gedrebten Augen ricteten fic gerade. Cie 
bob fic) auf und jog die Alte mit fic) fort, 
qu fic, über die Schneeſtraße in bie Wohnung, 
an Die Betten und wies ihr, was darin lag, 
und flebte und ſchrie, daß fie belfen folle. 

Die Alte deckte die Kinder ab. „Helfen? 
Beten!“ fagte fie rauh. Frau Ramp ſchob fie 
wild zurück. „Sie leben dod nod!” ſchrie 
fie fie gornig an. ,,Sie werden leben, bis 


408 


mein Mann fommt, fie werden [eben und 
geſund fein!” 


Aber Emmy war fon tot, und Ernft | 


fonnte nicht mebr fiebern, fein Herz hatte ſich 
qu febr abgebest beim Umtun in all den 
ſchönen Bildern, ex ergab fic, er fonnte nichts 
mebr jeben und tun. 

Frau Ramp ertwartete ihren Mann mit 
folder Sehnſucht, als fei es das erjte Mal, 
bap er gu ihr fommen follte und fie ihm 
feierlich verlünden twollte, daß fie ibn lich 
babe fiber alles und auf ewige Seiten. 

Da lagen bie beiden Rinder nebeneinander 
auf mit Elarer Leinwand bezogenen Brettern, 
gang weiß, ganz ſchön. Es war zum Weinen, 
wie fdin und wie weiß fie waren! Man 
fonnte nur bie Hande yum Himmel! beben und 
fi wundern und fragen, daß es fo etwas 
gab wie dieſe toten Kinder und beinabe lob— 
preijen und Gott danfen, bak endlich einmal 
Engel auf der armen Erde yu feben twaren, 
und vollends in Dombrowo. Die Nachbarin 
hatte Kränze gewunden aus weißen Seiden: 
papierrofen, Myrtenſträußchen, dem und dem 
in die Hand gegeben. Die beften Hembden 
batten fie an, und die Haare waren gekämmt. 
Sie waren gewafden. Wls ob man Glieder 
aus Wlabajter mit lauem Waſſer wüſche, — 
die eigene Mutter ftaunte über diefe Glieder, 
fie erſchienen ihr fremd und ebrfiirdtig. Co 
ſchienen fie gu lächeln fiber ihren eigenen 
Etaat. Und die guten Lichter brannten in 
glafernen Yeuchtern, drei bei jedem. Wenn 
man das fo auf einmal fab, fonnte einem der 
Verjtand fteben bleiben oder fic) verivirren. 
Jetzt ftreute die Nachbarin aud nods getrodnete 
Marienblatter und Kalmus auf den reinen 
Hupboden. Frau Kamp arbeitete und fcdaffte 
feit der Sterbejtunde, und der Morgen war 
nabe. Die Nacbarin ſchaufelte draußen einen 


Steig fiir Kamp, wenn er nach Haufe fame. | 


Die ſchwarze, ftille Nacht erbellte noch fein 


glithte rot. Rod war immer mebr, dies und 
jenes im Haushalt würdig berjuricten, und 
immer wieder beteten die Frauen, fo bald fie 
qu den toten Rindern famen. Und es war 
wie ein beiliger Rauf, in dem fie lebten, 
befonders Frau Kamp war es fo. bred 
Körpers war fie fic) nidjt bewußt, ihre Brujt 


— 








Ramps Kinder. 


war hohl, ganz vertrocknet, das Herz ein 
leerer Krug. Das twas fie bewegte, ſaß wie 
ein Licht auf ihrer Stirn und erleuchtete ſie 
und trieb fie an, ſtark und begeiſtert ju fein. 
Beim Rnien fiiblte fie die harten Dielen nicht, 
und die Gebete floffen ihr gu wie mod) nie- 
mals, denn fie tar eine recht jerftreute 
Beterin getwefen bis dahin. Wenn ibr Miann 
nun fame, würde fie ibm entgegen geben und 
fagen: Wir haben zwei Engel in unferer 
armen Stube. Gott hat unfere lieben Rinder 
genommen und er zeigt uné zugleich, daß tir 
zwei Engelein zu Kindern batten. Störe fie 
nicht und bete. 


* * 
* 


Ramp fam nad Haufe geftapft; won der 
Fuptour in dem loſen Schnee und einer Fabrt, 
teilS in der Gifenbabn, teils iiber Gand war 
fein zäher Rirper dod etwas erſchöpft. 
Schließlich war er nidt mebr der Jüngſte, 
und die Zeit, feit er bas eigene Grundjtid 
bejaf, batte an ihm gejebrt, doppelt fo ftarf, 
wie die als Wirtſchafter. Seine Frau fam 
ibm auf einem forgfaltig gefchaufelten Weg 
bis an die Pforte im Zaun entgegen, durch 
bie offene Haustiire und bas Fenfier fab 
er belles Licht. Ma nu? Weibnadten bat 
bod) nod gute Wege, was foll denn bas?” 
fragte er unwirſch fiber die Verſchwendung 
pon Lidt. Der Frau verfagten die Worte. 
Sie wart fid ibm an den Hals und ftreichelte 
feine Baden, driidte feine Hande und legte 
bie Stirn darauf, dabei ſtammelte fie Worte 
von Gott und Engeln und der Seligfeit. 

Ramp war gereijt, eine Angft, ein Brand 
jtieg ibm in der Bruſt auf. „Haſt du deine 
Sinne nicht, jum RKudud! Was redjt bu dat” 
Da fie bei ibrem Stammeln und Liebfofen 
blieb, fchob er fie wild bei Seite. In der 
Haustiir fam ihm eine frembde Frau entgegen, 


die verbeugte ſich und ſchluchzte und redete 
Morgen, nur das Lidt aus den Fenftern | 


ebenfalls von feligen Cngeln und dem Willen 
Gottes, 

„Was iſt denn los?“ ferie Ramp. ,, Was, 
meine Kinder?“ Gr fah die beidben Weiber 
an, die ihm die Hände auflegten, als wolle 
er fic mit ben Flammen ſeines Entſetzens ver: 
brennen. Cie bielten ibn an feinem Rod. 
atau Kamp fiel auf die Knie. Es war im 


Kamps Kinder. 


Hausflur, von ba aus fah man nidt, wad | 


bie Stube furchtbar Schreckliches, Herrlides 
barg — nur das 
Ramp trat fiber feine fnicende Frau heriiber, 
ftie® die Tir mit bem Fuß auf und fah feine 
beiden weifen ftilen Kinder im Roſenſchmuck, 
im Lichterglanz. 


, einem Tage? 
jtifle volle Kerzenlicht. 


Es war ein ungeheuer großes Unglück, 
bas Schmerzlichſte, was ihm geſchehen konnte. 
Wie ſollte er das faffen? Wenn er ſich nicht 


Wefte und Hemde aufrif, dann barjt fein 
Herz. Mochte es berjten; auf dem Fleck feinen 


Geift aujgeben, wo dies gefdeben war, dad | 


wäre das befte. 
lafjen, ifn nicht anrühren. — Rein Wort, vor 
allen Dingen feine Gebete und Redereien von 
Engeln und Gottes Ratidlup. Dies war 
mebr, alg man damit abtun fonnte, Died 
waren Grnft und Gmmb, beidte Leiden! 
Rechenſchaft wollte er fordern fiber die un: 
menſchliche Grauſamkeit, die fie dahingeſtreckt 
hatte. Sein Weib! Nein, ſein Weib konnte 
er nicht anſehen, ſie hatte die Kinder ſterben 
ſehen. Warum ſtarben ſie? Er knirſchte mit 
den Zähnen und fuhr an die Wand wie ein 
wildes Tier. So war einem zu Mut, der 
von einem Felſen ſtürzte und mit zerſchmetterten 


Gliedern in einer grauſigen Schlucht zum 


Bewußtſein ſeiner Lage kam. Es murmelte 
über ſeinen geſträubten Haaren. Die Frauen 
beteten: „Wie ſie ſo ſanft ruhn“. Kamp ſchrie 
mit Tränen, ſie ſollten aufhören, fortgehen, 
aus der Stube gehen. Dann ſchlich er gebückt 
zu ſeinen Kindern. Er betrachtete ſie, er lauſchte, 
er mußte die Stille feſtſtellen, dieſe tiefſte 
Stille, die uns bewußt wird, die in ihren 
toten Körpern. Kein Geräuſch! Schnee fiel 
draußen vom Dach, ſo klang es. Da lagen 
Ernſt und Emmy. 
Stuhl, feine Gelenfe knackten. Cr fegte ſich 
bin und fiiblte, wie Grimm und Schmerz an 
ibm riffen und ibn zunicht machten. Und 
alles por und um ibn war leer und albern, 
wo dies geſchehen war. 

Es war cin grofes, ſchweres Ungliid, aber 
wie Ramp es auffagte, twas er daraus madte, 
wie es ibn veränderte, das war nod nidt 
dagewejen, bebauptete man im Dorje. Er 
fagte: „Das, twas ich verloren hab, fo'n 
Verluſt ift aud nod nich’ dagewefen. Wem 


Kamp holte fid) einen | 
| Vergleidhe mit Rnofpen und feimenden Caat- 


Man follte ihn ungefdoren | 








408 


ift eine Emmy und ein Ernft geftorben an 
Wer hat fie gefannt? Wobl 
nur tbr Vater!“ Das war ein Seitenbhieb 
auf jeine Frau, die nichts tat, als [aut und 
leife beten, während fie fiir zwei ſchaffte und 
arbeitete, denn ibr Mann war wie gelabmt 
an Gliedern und bléde im Geijt. Dann und 
wann heimlich in der Rammer brad fie jus 
fammen. Die Erinnerung aber an die Nat, 
ba fie die Kinder verloren hatte und Gott” 
lobpreifen und danfen fonnte, rif, fie wieder 
in die Hobe. Gort liebte fie, tweil er fie fo 
ſchwer züchtigte. 

Die Kinder mußten begraben werden. 
Das Ehepaar verſtand ſich in nichts, was ſie 
dazu verabredeten. Kamp wollte ſich arm 
machen für ſeine toten Kinder, und ſeine Frau 
hatte nur im Auge, was üblich war und 
nannte das Mehr Unvernunft und Hof— 
färtigkeit. 

Bei dem Begräbnis auf dem hodgelegenen 
Kirchhof, der von einer Seite von einem tweite 
lauftig ftebenden furjen Rieferntwald, die 
Bauernheide genannt, von der andern Seite 
von einem Exerzierplatz begrengt wurde, benabm 
fid) Ramp fo fonderbar, dah feine Frau aus 
ber bangen Grivartung garnicht berausfam. 
Zuerſt zeigte er Ungeduld bei der Rebe des 
Predigers, ftdbnte auf und trat mit dem Fup 
auf, während er Undeutliches murmelte. 
Alles, was der Prediger in ſeiner Rede ſagte, 
machte ihn ſo entſetzlich ungeduldig, verletzte 
und beleidigte ihn. Der fremde Mann wollte 
wohl über ſeine Emmy und ſeinen Ernſt 
aburteilen! Der wollte wohl Beſcheid über 
ſeine Kinder wiſſen! Fort in die Erde mit 
ihnen, die ſchon das Maul aufſperrte! Er 
mußte es ausleiden, ausleiden ganz allein und 
es gab keinen Troſt! Welche langweiligen 


körnern! Das, was zur Landwirtſchaft gehörte, 
ſagte er ſich längſt allein und viel anderes. 
Seine Frau hielt ihn am Rock, an ſeinem 
Alltagsrod, denn er hatte ſeinen guten Tuch— 
rod nicht anziehen mögen. Ich bab’ dod) 
nichts, was meinen Kindern Ehre erwieſe, 
hatte er geſagt und hatte ihn wieder von den 
Schultern geriſſen und nur die gute Hoſe und 
Weſte anbehalten. Vielleicht hätte man von 
Sternen ſprechen können, wenn man von ſeinen 


410 


Rindern reden wollte. ber einen fo rect 
verquedten, lüderlich beftellten, trodnen Wer, 
über einem verwabrioften Gehöft an einem 
Sturmabend im Herbft, der Froft bradte und 
Schneewolken, wo nod die Kartoffeln in der 
Erbe ftedten, da find plötzlich zwei Sterne in 
gang beiterem windſtillen Blau zwiſchen den 
Wolfen aufgegangen. 
geben die Sterne, fondern fie traufelten Tau 
berunter, der nährt und erquidt und twarmt 
und gut tut: fo waren feine Kinder getvejen. 

Bu Ende, gu Ende, murmelte Kamp, und 
bas war unpafjend, denn es fonnte aud auf 
die Rede des Predigers gemiingt fein. Kamp 
fannte fic) felber nidt, er fiiblte den Doppel- 
finn und bereute ihn nicdt, und feine Scheu, 
webder bor dem Pfarrer nod fonjt twem fam 
ibm. Der Raijer hatte finnen fiber den 
Ererjierplag angeritten fommen, es hätte ihn 
nicht eingeſchüchtert. 

Mls es dazu fam, die Erde nachzuwerfen, 
fiifte er die Erde oder er fenfte dod) fein 
Gefidt darauf und ftand und iwantte, als 
miifje er ins Grab fallen. Man ſtützte ibn. 
Die Dombroiwoer Erde; die hungrige Erde, 
jetzt bat fie bas Befte, jest bat fie ibr Teil, 
fagte er auper fich, fdbleuberte die Erde von 
fid) und lief fic) fortführen. Man fam auf 


ben Gebanfen, dak er vor Schmerz fic ange= | 
trunfen .batte, er, der fonft fo niidtern und | 


anjtinbdig war. Gin paar Sebritt ging er mit 
feinen Führern, dann rip er ſich [08 und 
ftiirmte gu dem Grabe juriid, wo der Toten: 
gräber und fein Neffe emfig ſchaufelten. Da 
bielt er jum Entſetzen feiner Frau und der 
Andern, ausgenommen die rohen Naturen, die 





Und nidt nur Licht 


Ramps Rinber. 


verbrannten in fid) felber, und fein Geficbt 
war ganz flein geworden, der Hals lang. 

„Mann, denf an Gotted Willen und dah 
e3 die Kinder jest gut haben,” fagte feine 
frau, fid) nabe gu ibm ftellend. Und fomm 
nad Hauf’.” 

„Und in Libau,” fubr Ramp mit Heftigheit 
fort, fich nad denen umwendend, die ſich davon 
madten, „in Libau vorgen Sommer, als 
mid) der Schweizer bis auf die Knoden mit 
feinen Gemeinbeiten und Untreue geargert 
hatte, ba find fie gefommen wie die Engel 
und haben mid an den Handen genommen 


und baben mid) nad dem Hühnerſtall abge- 


kammer wollt'. 





ſich über Abſonderliches nur vergnügen, eine 


Art Anſprache. Er ſetzte auseinander, wie 
ſeine Kinder geweſen waren, garnicht zu be— 
greifen. Alles hätten ſie verſtanden, für alles 
hätten ſie ihn belehrt und für alles getröſtet. 
Jeden harten Schlag hätten ſie beſchwichtigt, 
ob es nun ein Fall mit dem Vieh war oder 
mit der Witterung oder Leuteärger. Gut 
hätten ihn ſeine Kinder gemacht, ihn richtig 
beſchwichtigt, wenn ihn die Wut faßte. 

Kamp war nicht betrunken, ſondern ſtand 
ganz feft und redete garnicht ſchlecht. Seine 
Augen nur waren ſchrecklich und nicht zu er— 
tragen, denn ſie ſchienen nichts zu ſehen, ſondern 


führt ein Ei ſuchen, wo ich nach der Häckſel— 
Da band der Schweizer Heu.“ 
Kamp zitterte und bewegte ſeine Hände auf 
und ab. „Wegen einem Ei zogen fie mich bin. 
Der Ernft fagte: Batter, fagt er, glaub man, 
fo’n Gi ijt grop, bas ift mandmal fo groß 
wie'n ganzes Libau. Verſteht Ihr das? So 
groß — er meinte, wenn ein Menſch geht und 
bückt ſich nach 'nem Gi, da kann er in der Zeit 
zur Befinnung kommen und war auf 'm Wege 
weiß Gott, auf Tod und Leben ‘nem Feind 
an den Kragen gu geben und ein Verbrecher 
qu werden.” Frau Ramp beſann fic auf die 
Begebenheit, fie hatte die Kinder geſchickt, weil 
ibr angft war wegen dem Zuſammenſtoß mit 
bem wütenden Schweizer. Aber dag tat nichts 
sur Sade. Wie fie eS angefangen batten, 
den Vater fortzubringen, nidt cin Mal, viele 
Male! Aber wenn er nur jest fommen 
wollte — 


„Und fo twaren meine Kinder. Da war 


ein Sinn darin, was fie fagten, daß ih mid 


oft verwunderte und dadte, wie fann das fein, 
find bod Eleine Kinder. Und fie müſſen bier 
in ber Erde faulen, fie müſſen erwürgt fein 
und waren unfdulbig und niemand jum 


AUrgernis,“ fubr Ramp mit Lauter anflagender 


Stimme fort. 

„Es ift cin grofes Ungliid,” fagte cin 
ſchmächtiger Familienvater befiimmert. „Die 
zwei Einzigſten!“ 

„Aber id) werd’ meinen Kindern cin Dent: 
mal fefen, das werd’ id,” fagte Ramp mit 
ſchweifenden Augen, die Faufte auf der Bruit. 
„Hier auf'm Kirchhof werd id 'nen Hiigel auf— 
fiibren mit einem Weg rauf und oben eine 


Ramps Kinder. 


Bank. Zum Andenfen fiir Ernſt und Emmy. 
Gin Stander mit ‘ner Holztafel und rings: 
berum Gebiijde und Blumen. Damit man’s 
überall fiebt, dazu ift der Plak gut. Zum 
Undenfen fiir Ernft und Emmy.” 

Der Ortsfdulje und fein Schwiegerſohn, 
ber ſchmächtige Familienvater, beteiligten fid 
mit Ratſchlägen an bem Plan, damit fid 
Ramp. berubigen follte. 

„Sie brauden jest nidt fo viel Aufhebens 
und Denfmaler, Mann,” fagte die gedngftigte 
Frau Ramp. „Sie find Engel bei Gott, ihnen 
gebt nidts ab.” 

„Aber mir geben fie ab,” fubr fie ibe 
Mann an, iiber fie fort mit ben Handen weijend, 
pim Himmel mögen genug Engel fein, dad 
mag feine Rictigleit haben oder nicht. Dod 
batt’ —“ Ramp fdlug fic) auf die Bruft, „ich 
batt’ meine Kinder nötig bier auf der Erde in 
Dombrowo, mir waren fie Engel. Und wer 
fie mir nabm, der madte mid) gang 3u ſchanden 
und nidt fromm.“ 

Frau Kamp biidte ſich entfest und betete. 

„Und wenn das Denfmal fertig ijt, dann 


werd id) auch fterben, dann bin idy aud) fertig.” | 


Kamp iwollte fic) nun gleid) an das Ab— 
fteden des Bodens madden, troh der Schnee— 
ſchicht. Der Ortsſchulze hielt ihn zurück. „Noch 
gehört er garnicht Ihnen, Kamp. Und iſt noch 
die Frage — Gehen Sie jetzt nach Haus, Kamp, 
trinken Sie, eſſen Sie was. All das Grämen 
und Bäumen hilft nichts, das will getragen 
ſein.“ Der Schulz führte Kamp fort, der es 
einſah, daß das Abſtecken noch nicht lohnte. 
Er konnte ſich auf Papier einen Plan machen. 


* * 
* 


„Ob eine Mutter nicht grauſam genug 
darbe und traure in den leeren Stuben? 
Und all die fleine Wäſche und die leeren 
Betten? Er tue gerade fo, ald hatte die 
Mutter nidt das richtige Herz fiir ihre Kinder 
gebabt!” Das fagte Frau Ramp gefranft yu 
ihrem gang veranderten, finfteren, von ibr ab- 
gewandten Mann und wartete auf eine Ent: 
gegnung. Als feine fam, fubr fie fort: ,,Be- 


denfft bu benn gar nidt von twem fold) Trübſal 


fommt? Der Herr hat's gegeben, der Herr 
bat’s genommen! Gottes Wege find duntel, 
aber fie führen gum Licht.“ 


411 


„Ja, ja,” fagte Ramp, feine tranenroten 
Augen reibend. „Das ijt ja gan; flar!” Cr 
lacte auf. „Tröſte du did) damit und fei zu— 
frieden. Schön, febr ſchön. Mir ijt das duntel, 
was dies fiir cine Wobltat von Gott fein foll!” 
Gr jab feine Frau falt und fremd an. Elend 


| genug fab fie aus mit ihrem fcbielenden Auge 





freuen, Dann nabmen fie den Mund voll vor 


und gänzlich ergeben. Wbgemagert war fie, 
bie Hinde {nodig. Sie war nist ſchön. Cr 
ſchmachtete nach feinen Rindern; feine Rinder 
| 


waren ſchön geweſen. 

Da fand ſie etwas beim Kramen in der 
Schublade, ein paar kleine Fauſthandſchuhe aus 
grober Wolle. Fuür dieſe Händchen ſolche 
groben Dinger! Gleich kamen der Frau Tränen 
und dann kurzer Hand das Gebet, dazu ging 
ſie in die Kammer, da hörte ihr Mann unge— 
fähr den Wortlaut. Bald kam ſie getröſtet 

wieder. Wozu 's gut ift, weiß Gott allein, 
| meine arme fleine Emmy follt fic nicht aus: 
/ wadjen und müd arbeiten, die wurde gleid 
| bet Seiten ins Paradies verfegt. 

„Meine Frau ift ſchwach von Geift, tweil 
fie fich immerju mit Gebeten betiubt. Cie fann 
nicht leiden,” fo dadjte Ramp, Er litt, er Litt 
ohne Ublenfung, obne Betiubung bei leben- 
digem Leibe. Er ſchmolz dabin in unendlider 
Rührung, in einer ſchmerzhaften Béartlichfeit 
beim Anblick der Faufthandfdhube. Seine ganze 
Seele war eine Wunde, und er twollte von 
Wundwatte nidts wiffen, denn nur fo fonnte 
er um Ernſt und Emmy trauern, wenn er fie 
taglid) vor Wugen und im Cinn hatte. Seine 
Rinder batten MAufridtigfeit und Mut gebabt. 
Die hatten offen gefagt, was ſüß, was fauer 
war; twenn fie fich fiirchteten, verbeblten fie 
bas nicht, und wenn es ihnen anfam, fic ju 





Glid. Solche Geſchöpfe täglich zu beſitzen 
und dann plötzlich eine große Leere und kein 
Weſen auf der Welt, das ihnen gleich war, 
dafür gab es keinen Erſatz im Geſangbuch. 
„Mann, du ſitzſt nu' wieder ſeit zwei 
Stunden auf einem Fleck. Geh, hack' mir Holz, 
| ich bad’ morgen Brot,” ſagte Frau Ramp in 
| flagendem Ton. 

Ramp fubr zuſammen. Meine Stimme tut 
ibm web, dachte feine rau, das ift nod 
bas allerjcblimmfte: feine Rinder und der 
| Mann wenbdet fic) ab! „Die Urbeit mus dod) 


412 


verjeben werden, lieber Mann. Dad Vieh will | 


fein Teil. Du must heut nod Riibenblatter 
aus der Miete graben.“ 

Um zu erproben, ob ihre Nabe ibm aud 
lajtig mar wie ibre Stimme, fie wollte nicht 
recht daran glauben — ftellte fie fich neben ibn. 
„Ja, a,” fagte er und ging im Bogen um 
fie berum jur Tiire, da blieb er fteben und 
warf ibr einen gebaffigen Blid zu. „Und bat 


Kamps Kinder. 


mit furjen, barten Bewegungen zurecht und 
ſenkte bie runzliche Stirn fiber die Arbeit. 
„Mit meinem Mann ift jest nicht leidt 


auszukommen,“ fing Frau Kamp zögernd an. 


darüber ging. 


ber Bladef nicht gewarnt und getan, wir 


follten nicht nad Dombrowo?“ 
groflend. „Hat er nicht gefagt, bier bat fid 
das Unglück feftgefest, und wer bier zuzieht, 
verliert? Und wie ber Ernft —“ Ramp jitterte 


ba nicht eine Warnung und eine Kenninis 


fragte er | 


Auf den Lippen brannte ibr orbentlid die 
Klage über ibren Mann, die gum erjtenmal 
yer ſucht Streit. Ich mad’ 
ibm nichts nad feinem Sinn. Meine Frommig: 
feit wirjt er mir bor!” Sie fühlte ibre Rafe 
falt werden und blingelte auf ibren Ehering 
berab. „Als ob man gu fromm fein fann!” 

„Na, gewiß dod!” 

„Man kann zu fromm ſein?“ erkundigte 


fidh Frau Ramp. 
ber Rinnbaden — „wie ber Ernft gerade vom | 
Wolf erjablen mufte, gur felben Stunde, war — 


davon, wie's fommen follte? Der Wolf ijt auf | 


bie Kinder . . .“ Kamp drebte fein Geficht dem 
Türpfoſten gu und weinte. 

Seine Frau ftand wie verdonnert. ,, Nein, 
wenn du mir das yum Vorwurf madft, dann 
ift bas ungerecht,” fagte fie gekränkt und wund, 
aber mit Standbaftigfeit. „Ich fag’ nod) beut: 
aberglaubifd foll man nicht fein. Und ſterblich 
waren unfere Kinder überall.“ 
und ſchluchzte. 
beit!” ſchrie er dann auf: ,, Wir waren ſicht⸗ 
barlich gewarnt, zweimal gewarnt. Aber Du, 
obenauf, als weißt du alles im voraus, wie's 
fommt, ſchlägſt alles in den Wind! Du tuft 
bid wunder was, teil du fagit: im Namen 
Gottes.” 

Es ging jum Frühling, alg Frau Ramp 


„Na gewip,” fagte die Alte. Sie batte mit 
ibrem Cobne, dem fie wirtſchaftete, Urger ge- 
babt und twar in grimmiger Laune. 

,cagen Sie mir, Nadhbarin, wie meinen 
Cie das?” 

„Na — bas fonn auf verſchiedene Art 
fein. Wenn eins immer bas Wort Gottes 
im Munde bat und der andere ift ftreng und 


_ findet fic) nicht feicht aus und feine Worte, 


Ramp jitterte | 
„Ja, Du mit Deiner Kluge | 


eines Abends gu der Nadbarin herüberſchlüpfte, 


mit der fie feit bem Todestage ihrer Kinder 
befannter getvorden war. Die junge Frau 
fag bei der Wlten, und es war fein Anfang 
zu finden. 
kurz, und beffer ware es wobl, bie Junge 
ginge wieder, wie fie gefommen. © mein 
Himmel, aber das Gemitt war zu bee 
briidt! Won wem follte ibr denn einmal 
ein Wort fommen, das beriet, wenn nit 
pon einer alten flugen Frau, die viel erfahren 
batte ? 

Die Ulte machte Licht an, denn die ſchmale 
Sichel, die durch das blaue, fleine Fenfter fab, 
gab feinen Schein. Mun nabm fie einen 
Stridjtrumpf vor mit groben Nadeln, ſetzte fic 


: lichen Ehe leben.” 


Die Alte war aud qu barjd) und | 


dann muf ibm das auch zur Laft fallen, wenn 
ex immer übertrumpft wird.“ 

„Im Munde führen?“ fagte Frau Ramp 
und errötete. „Wenn cinem aber das Wort 
gang bon felbjt in ben Mund fommt und man 
weif fic) nichts Beſſeres bei allen Sachen?“ 

„Na, denn foll man fid aud begeben und 
weiter nichts wollen, als vom lieben Gott ver- 
jtanden ju werden.” Die Alte ſchlang ibren 
Faden drei Mal um den Finger und greinte 
vor fid) bin. 

Frau Kamp errötete nod tiefer, ,, Man ift 
aber bod nicht allein und foll im einer chrift- 
Mad einer Pauſe fubr fie 
fort: „Beſinnen Cie ſich nod, Nachbarin, auf 
den Whend, wo meine Kinder ftarben und id 
fam fie bolen?” Die Alte nidte gleidmiitig. 

„Wiſſen Cie nod, wie wir da gefonnen 
waren, und folde Crleudtung fam über uns, 
daß wir mit Freunden ſchafften und ſchmückten 
zur Ehre Gottes? So tat ic, die Mutter, und 
dankte Gott.“ Frau Kamp fah aufwarts und 
hielt Den Atem an und fangte mit ibren Geiſtes— 
kräften berauf in jene wunderbare Region, von 
ber fie damals ein Spürchen gefdaut batte. 
„Mir war im Leben nid’ fo fonderbar, beinab 
felig, wo id) meine lieben Rinder hergeben 


Ramps Kinder. 


mupte und fab fie jämmerlich fterben. Beide. 
Da fonnte id beten und lobpreifen und wußte, 
daß es fo ſchön und gut war, twas gefdab.” 

Die Alte nabm eine Stridnadel und rieb 
fihd ihren Scheitel. Sie nidte und dadhte 
nad. „Ich bab’s nachher iiberlegt: wir 
famen gu febr in die Heiligheit und tounder: 
lide Sachen berein, beſonders in Anbetradht, 
bap der Mann von der Landftrabe fam und 
nidts wußte, nidts, von rein garnidts. 
Wie follte der fic finden? Das war ju viel 
fiir ibn.” 

Frau Kamp ſtutzte. 

„Der Mann hat mehr Sinn fiir fein 
Hab und Gut. Wenn ibm twas genommen 
wird, Dann baumt er auf und midte fid 
bas nidt gefallen laſſen und find’ nid’ fo 
rafd das Händefalten. Mein Se, ich fen’ 
wohl Mannesleut’ und feb ibnen twas nad, 
aber ben Sobn lern id) nich’ aus, der treibt’s 
wie’n Berritdter. —“ Die Alte gog die 
Luft burd die Zähne und judte mit der 
Naſenſpitze. „Eine Frau,” fubr fie fort, „die 
nid’ fo vicl bat, was ibr allein gehört und 
fonft immer vielfad) in ber Klemme fist, die 
findet fic) eber, tenn ihr twas genommen 
wird, und ift demütig.“ 

Frau Ramp riidte auf ibrer Ofenbanf 
und feufgte. „Er wirft mir vor, dak ich es 
gewollt bab’, nad) Dombrowo zu ziehen,“ 
fagte fie beunrubigt. „Er ijt gewarnt, bap 
bier Ungliid fei. Aber ich fagte: dad ift 
UAberglauben. Bin ih nidt im Rede?” 

„Viel Glück ijt bier nich’ yu haben,” meinte 
die alte Frau mit einem trüben Blick. „Nein, 
viel Glück nich’ — aber anderwärts aud nich'.“ 
Sie gudte mit einer Schulter. 

„Aber es ftedt bier dod fein Zauber 
oder fonft eme Berherung wegen Unglück? 
Das war dod) Teujelswerf, mit bem man 
nidts zu fdaffen bat, wenn man Chriſt 
ift —?” 

Die Alte machte eine vage Handbewegung 
und jagte: „Die Wiejen find meiſt bitter, und 
bie Kühe haben die Neigung, gu verfalben. 
Und ber Schulz taugt nidts, der denft nur 
an fic und feine Familie, und das Bier in 
ber Rneipe ſchmeckt gu gut.” Und fie ftridte 
mit ciner Grimafje des Spottes auf dem 
feiften Geficht. Frau Ramp fagte angetan: 


‘ 








413 


„Ach, Sie fpafen!” Ihre Schuhe knirſchten 
auf dem Sand der Dielen, und ihr Kleid 
ruſchelte. „Na, na, gehen Sie man noch 
nid’, junge Frau,” ſagte ba die Alte. „Wir 
haben nod nid)’ ausgeredt'. Setzen Sie fid 
man nod’n bisden. Wie alt find Sie dod 
ſchon?“ 

„28 Jahre, im Mai 29,” ſagte Frau 
Ramp im Steben. 

„Und er? Na, er ift ‘ne gange Ladung 
filter. Sie find jung, und der Mann hat 
fein alles an die Kinder gehängt. Hm — 
und Gottes Wort fommt ibm nid’ fo leicht, 
er ift widerbaarig und ftreng und itberlegt 
fidh alles jebnmal von allen Geiten. Sie 
bangen dod meift aud) nod) an was anderm!“ 

„An meinem Mann,“ fagte Frau Ramp 
raſch. „An dem hang’ ic mehr als an den 
Rindern. Die Kinder find tot und in Gottes 
Hand, aber er, cr verfommt ganj, und id 
fann ihm nicht beifommen ihm ju belfen!” 

„Ihr rechnet wohl aud nod, bak eud 
bas Leben was bringt — na, etwa ein neues 
Rind ?“ 

rau Kamp ſchlug die Augen nieder. 
„Ich wüßt' mir nidts im Leben, wads ſchöner 
wir’, als wieder gefegnet gu fein.” Cie 
drebte an ihrem Tafdentud, und ihre Miene 
wurde bitter, „Aber dazu ift feine Ausſicht 
vorhanden, Ramp bat ſich gang von mir 
abgewwandt, feit Ernſt und Emmy tot find. 
Ich glaub’, er will fein Rind mebr nad 
foldjen, wie wir verloren haben, die ibm tag: 
lih vor Mugen ftebn. Cr will fterben, wenn 
bas Denfmal geſetzt iff und im Commer 
begriint.” Frau Kamp trat fdleunigft an das 
Fenfter, um ibren Schmerzensausbtuch ju 
verbergen. 

Die Alte nidte mit dem Kopf und blies 
die Baden auf. „So gedadht — und fo 
getan”, fagte fie gu einer Bewegung ihrer 
rechten Hand nad dem linfen Oberarm und 
herab bis auf den Nagel ihres Seigefingers. 
„Das Denfmal wird uns wobl nich’ den 
Sonnenuntergang verbauen, das wird wobl 
meift in Ramp feinem Geift fteben bleiben, 
ſchãtz ich.” 

Frau Ramp bebte der Riiden; binter ibren 
Handen flofien die Tranen der ungliidliden 
Liebe fiir ibren Dlann. 


414 


Die Alte feste fic ihre Brille auf. ,,Man | 
Nod) ijt der | 


nid)’ verjagen, junge Frau. 
Mann vorhanden, und der Froft ift nod nic’ 
mal aus'm Boden. Nic’ verjagen! Wenn 


euch Gott ein neues Rind fdentte, das iware | 
| Graber auf'm Kirchhof.“ 


ganz gewiß das Beſte. Warum ſollen Sie 
nic)’ mehr ſchöne Kinder haben? Maden Sie 
man, dag ihr Mann Ihnen wieder gut twird, 
dazu gebirt nicht blos die 
fondern Überlegung. Uberlegung iſt nötig, 
junge Frau. Nachher wird er auch nich' 
ſterben wollen.“ 


* * 
* 


Der Ortsſchulze nabm fic feinen Schwieger⸗ 
ſohn, ben ſchmächtigen Familienvater, mit, als 
er ju Ramp mit einem abſchlägigen Befdeid 
pom Ronfiftorium geben mußte. Er hatte an— 


cin Stii€ Land auf dem neuen Kirdbof ers 
werben Diirfte, um ba einen Denfmalshiigel 
fiir feine beiden an einem Tage verftorbenen 
Kinder gu errichten. Co viel Raum, wie ein 
Grabſtein braudt, fo viel gewif, aber, um 
einen Hügel mit Wegen und einer Bank da 
qu erridjten, dazu fei der Kirchhof nidt, fo 
ſchrieb bie Behörde. 

Der Ortsſchulze hatte das im voraus 
gewußt und Kamp von feinem Plan abgeredet. 
Mittlerweile waren nahezu fechs Monate ver— 
ftriden, er meinte, Ramp würde fic) berubigt 
haben und den Beſcheid ohne viel Aufhebens 
binnebmen. Darin irrte er ſich nun. Verein— 
famt und wund, wie er war, traf ibn dieſe 
Abweiſung wie ein Backenſtreich und eine 
Verhöhnung. Noch nicht ein Titelchen von 
feinem Plan hatte er aufgegeben, im Gegen— 
teil, cr war gewachſen, aufs feinjte tiberlegt, 
aufgezeichnet, bie Schrift gu der Tafel mühſam 
aus dem Drud ber Bibel jufammengeftellt. 
Bei diejen Arbeiten hatte fic) feine Sehnſucht 
mandmal in Heiterfeit verwandelt. Da war 
ibm, als ftanden Emmy und Ernft jedes an 
einem Cllenbogen und faben ju und freuten 


jebt der Schweif aus allen Loren. Er jtierte 
und war fpradlos, und als er gu Worten 
fam, waren fie voll Hah gegen das erbärm— 
liche geizige Nonfiftorium, das ibm fein bisden 
Troſt raubte, 


— 


Frömmigkeit, 


Kamps Kinder. 


Der Orisſchulze ſetzte ſich, nahm eine Priſe 
und ſagte: „Und wenn nun ein jeder mit ſo 
einem Plan käme, Kamp? Darin hat doch 
das Konſiſtorium recht. Da hätten wir bald 
ebenſoviel Buſchhügel und Ausſichtspunkte tie 


„Jeder mit ſo was kommen? Was ift bas 
fiir eine Dammelei“, ſchrie ihn Ramp an. 
„Es fommt eben nicht jeder damit, weil fo cine 
Trauer, wie ich erlebe, nod vielleidt nid’ 
alle bunbdert Jahr' vorfommt!” 

„Ihr nebmt aber ben Mund aud voll, 
Ramp,” mifdte fic ber junge Familienvater 
in die Unterbaltung. „Das ijt doc mebr als 
auf'n Rubbaut raujgebt! Als ob nich’ jeder 
von uns twas erzählen fann von Sterbejallen. 
Shr tut grade fo, als ob bei euch erſt rect 


das Trauern angefangen hat.“ 
gefragt, ob der Gigenfathner Eduard Ramp | 





„Ihr vermeßt Euch,“ fagte aud der Orté- 
ſchulze ſalbungsvoll. „Das gibt Argernis, 
wenn ſich einer vermißt.“ 

Kamp hatte ſich halb abgewandt von ſeinem 
ihm verhaßten Beſuch, der nur da war, um 
ihn zu hetzen und zu verhöhnen. Da in die 
Ecke ſtarrte er, die knochigen Fäuſte auf die 
Bruſt gepreßt. Seine Kinder hingen an ſeinem 
Herzen mit ihrer Süßigleit und ihrem beſon— 
deren Wefen tvie eine Laft und zogen ibn von 
allen Menfden fort, Ihnen treu ju fein, war 
alles, was er nod wollte. „Ich vermeß mid 
nicht,” fagte er trogig. „Gott ift mein Benge 
daritber, was id auszuſtehen babe in diefem 
Leben ohne meine Kinder. Da ift feiner, der 
fagen finnte: bier bin id, meine Trauer iſt 
gleid) fo wie Deine. Und wenn’s nicht meine 
Kinder geweſen waren, fondern frembe und id 
batt? fle genau gefannt, fo genau, twie ich fie 
fannt’ als ibe Bater, id würd' mid) rein 
zu fdanden gramen, daß fo was fierben 


| mufte.“ 


Kamps Blicde irrten von dem Geficht ded 
Ortsſchulzen gu dem feines Schwiegerſohnes 


mit ciner Art miftrauifder Spannung. Ob 
er ibnen im Guten begreiflich machen fonnte, 
fid. Bor Enttaufdung und Zorn brad ibm 


was es um Emm und Ernſt gewefen wart 
„Und die Pillagen, die ihren erwachſenen 
Sohn begraben hat, und ber Poftbalter, dem 


die verbeiratete Todter und die zweite Frau 


in einem Sabre ſtarb?“ frabte ber Familien: 
vater erregt. 


Kamps Kinder. 


415 


Kamp {diittelte mit dem Kopf und tourde | Schwiegerſohn. „Er bringt rum, Dombrowo 


überdrüſſig, fein Blick ließ die Gefidter, er 
fab befjer ind Leere. 

„Mir alten Mann werden Sie fic) dod) 
nidt gegentiber auffpielen wollen, Ramp,” fagte 
der Ortsſchulze mit faniter Entriiftung. „Ich 
fenn’s Leben, das fag id) Ihnen, id bab 
Kinder begraben, Geſchwiſter beqraben . . .” 

„Was iſt da lange gu ſchwatzen. Ich weiß, 
was ich weiß und wie's in mir ausſieht. Und 
iſt kein Troſt. Dieſe jämmerliche Bande von 
einem Koſiſtorium hat auch nich' für'n Dreier 
Verſtändnis von was.” 

Ramp ſchoß einen jornigen Bli€ in der 
Ridtung, wo der Ortsſchulze fag, erhob ſich 
und drehte ibm den Rücken. 

„Und Cure fromme Frau, die fo gott= 
ergeben ijt? Un der nehmt Abr Euch fein 
Beifpiel, das fiebt man.” Der Ortsſchulze 
ftand nun auc auf und war aufgebradt, wie 
das fein Schwiegerſohn fchon langft war. Der 
wartete nur darauf, mit feiner Meinung heraus- 
zukommen. 

„Als ob Ihr mehr ſeid wie irgend Einer, 
Ihr mit Eurem Hügelwerk, Ihr! Raußbeißen 
wollt Sor Euch! Was ſeid Abr denn herge— 
kommen, möcht ich wiſſen? Die Leut' ſagen, 
Ihr habt Dombrowo in Verruf gebracht, als 
ſäß' hier beinah die Peſt!“ 

„Macht ſchon, dak Ihr rauskommt,“ fagte 
Ramp mit zitternden Gliedern und feuchend. 
„Ich Qin bald auf'm letzten Faden mit eurem 
Geſchwätz.“ 

„Kurz nach dem Todesfall ließ man ſich 
noch Euer Weſen gejallen, man dachte, der 
kommt ſchon zur Bernunft, aber heut ſeid Shr 
noch verrückter als damals.“ Der Ortsſchulze 
pruſtete ärgerlich und wollte gehen. 

„Und Cure Frau...” 

Da flopft es, und gleich darauf trat Bladef 
ein. Bladek war jest nicht mehr Pojtbote, 
fondern Rolporteur von Volksſchriften. Wud 
beute am Gonntag war er unteriwegs mit 
jeiner ſchwarzen Taſche. 

„Laßt die aus dem Spiel, die iſt eine 
beſſere Kirchgängerin als Mutter,“ ſchrie Kamp 
den kleinen Familienvater an. 

„O fo, fo, fo traftiert Shr Eure Frau.” 
Der Ortafdulje war empört. ,, Anflagen follte 
man ibn. Das follt’ man,“ jeterte fein 











ware verhert gum Unglück!“ „Fragt den 
Bladef, der hat mid gewarnt, der hat gefagt, 
bier verliert man.“ Samp zeigte auf den Alten, 
ber an der Türe ftand und Miene madte, 
feine ſchwere Taſche abjulegen. Der wubte 
nidts mebr über bie Gace. Gr befann fic, 
machte wenigftend ein Gefidt, ald tite er fo, 
fteifte fid) aber innerlich nicht unflug zu ver- 
raten, was er bon Dombrowo gefagt. Er 
wollte bier Schriften abſetzen. ,,Gebrannt hat's 
frither öfter bier,“ meinte er, „ob Ramp darauf 
raus wollte? Und dann fam mal fo'n Ungliid 
mit Schulfindern von den Wusbauteu vor, die 
in ciner Schneeſchanze umfamen. Das fann 
aber aud) anderwärts paffiert fein.” Cr blingelte 
ben Ortsfduljen an und fragte an, ob er ibm 
Schriften vorlegen diirfe. 

Kamp ladte Hohn. Co war Blade, 
heuchlerifd, feige, dumm — alle waren fie. fo, 
nur feine Kinder. nidjt, die waren dad Gegen— 
teil davon geweſen, und darum liebte er fie. 
Gegen alle diefe erbärmlichen Menfden ftand 
er, ein Cinjelner, im Kampf und wußte nicht 
aug und ein vor Hie und Whfdeu. Bn den 
Tumult ber aufeinander plagenden Clemente 
trat Frau Kamp ein. Bm ſchwarzen Kaſchmir⸗ 
kleid mit einem Umſchlagetuch um die Schultern 
fam fie aus der Rirde. Die bedauernswerte 
Frau, deren Wann aus dem Leim gegangen 
war, 

„Ihr Mann fiibrt fics wie närriſch auf!’ 
rief ihr der Ortsfdulje entgegen. ,, Weshalb? 
Weil das Konfiftorium ihm veriweigert, da auf'm 
Kirchhof ‘nen grofartigen Bufdbiigel auf— 
zuführen. Und hat es nidt recht, Frau? 
Wozu fol vas? Einfache Leute haben fic 
nichts rausjunehmen, twas fic fiir fie nicht 
ſchickt.“ Der Ortsſchulze ſchlug mit der fladen 
Hand auf das Sdreiben und erwartete Ver- 
jtand von Kamp's Frau. 

„Das find’ id aber häßlich vom hohen 
Ronjijtorium, daß fie meinem armen Mann 
nich’ ben Croft ginnen, ein Denkmal fiir 
unjere Kinder aufzuführen“, fagte die nach— 


drücklich. 
„Na nue?” - 
„Na jal Wem ijt denn fo cin Unglück 


geſchehen alg uns? Wer hat fo obne Vor: 
bereitung zwei ſchöne geſunde Kinder begraben, 


416 


an denen fein Fehl war, nid’ innen, nod 
aupen?” Frau Kamp legte dad Umſchlagetuch 
ab und das Gefangbud) auf den Tiſch und 
ging dann an dem Ortdfculjen vorbei gu 
ibrem Mann, neben den fie fich ftellte. ,, Wenn 
die unglidliden Eltern twas tun wollen fiir 
dad Andenken der Kinder, die fie nicht ver- 
geffen werden, fo lange ein Hiigel ſteht und 
wieder griin wird, warum wird bad nidt ge- 
litten ?” 

„Sein 'Se froh, wenn Ihr Mann feinen 
quedigen Uder richtig beftellt”, erbofte fic) der 
Familienvater, feinen mageren Kopf vor- 
ftredend. ,, Man immer fadte!” 

„Wie er das madt, ob in der Nacht oder 
Leute dazu annimmt, das gebt feinen twas 
an“, verfebte ihm Frau Kamp. 

Der Ortsfdhulze pfiff. 

„Weil er obne Gottedsfurdht ijt, dedhalb 
verfteift fic) Ramp auf ſo'n beidnifden Ge- 
danfen”, höhnte fein Schwiegerſohn. 

„Laſſen Sie man, Gramſch. Wer Gottes- 
furdt bat und wer nid’, fann feiner fid 
rausnehmen ju unterfdeiden. Der eine hat 
fie, und dann ijt fie wieder tveg, und dem 
anderen fommt fie, wenn man’s garnidt 


bdenft.” 
„Das foll woll Gottesfurdt fein, wenn 
Ramp von Bladef zuſammengeſchwatzten 


Unfinn aujgreift — der Bladef fagt nod 
ſcheenſtens, das er's nicht war — und ftreitet, 
dag es fo etwas giebt wie Warnung und 
Vorahnung, und an einem Ort fist dad 
Unglück fefter wie wo anders.“ 

Frau Kamp ſchlug die Augen nieder. 
„Ich weiß eS nicht, wie bad befchaffen ijt. 
Ob an manden Stellen mehr Ungliié auf 
ung lauert wie an andern — ich wei nic’, 
id) meine meift nein, wir find wobl iiberall 
fo geftellt, da} Gott von uns weif, aber in 


| 








Ramps Kinder. 


der Bibel fteht: wir feben feiner Werfe das 
wenigfte, denn viel größere find uns nod 
verborgen. Wir feben aud nid’, too Rranf- 
beit in den Wänden ſteckt oder im Grund— 
waſſer, oder ſchlimme Geiſter — ich weiß 
nid’! Ich weiß blos, daß id) wollt', id 
hätt' meinem Mann gefolgt damals. Und 
daß ich ihm abbitten muß.“ 

Kamp wiſchte ſich den Schweiß von der 
Stirne und erholte fic) etwas. 

„Macht aus feinen Rindern  rictige 
Wunder,” nahm der Familienvater den Streit 
wieder auf. „Waren fie nid’ mie anbderer 
Leut’ Kinder aud? Was war denn an ibnen, 
bag er fo groß tun muf mit feiner Trauer ?” 

Kamp lies die Fauft auf den Tif fallen 
und ſtöhnte auf. „Kinder find nu’ ſchon 
verfdieden, Gramſch,“ fagte feine Frau rafd. 
„Sie find uns geſchenkt, wir baben fie nicht 
gemadt. Wenn Gott fie ſchön macht und 
gut und flug wie unſern Ernft und unſre 
Emmy, denn ijt bas bitter, ſolche Kinder gu 
verlieren, beinah’ fo, dag man’s nid’ tragen 
fann, obne gang yu verjagen.“ 

Bladek packte feine Schriften wieder ein, 
weil er fab, da nichts damit ju verdienen 
war bei diefen Menfden bier. Ciner nad 
bem anbdern verließ die Stube. Frau Ramp 
gab dem Ortsſchulzen das Geleit, wie es 
ſich gebirte; in Gedanfen flog fie fdon 
zurück ju ihrem Mann, bei dem ihr Herz 
war. Sie dadte: wenn id ibn jegt nidt 
ju mir zwinge, daß er merft, er ift nidt 
allein geblieben auf der Welt, die Frau ift da, 
die Mutter von fo ſchönen Rindern, dann ijt 
in meiner Liebe aud) nidt ein Fünkchen Rrajt 
und Sajt, und meine Gottesfurdht taugt nicht 
viel. 

Frau Kamp zwang ihr Schickſal jum 
Guten. 








417 


Jas Stimmrecht der Prauen in kirchlichen Angelegenheiten. 


Bon 
Paula Miiller. 


Ragdrud verboter. 


n unferer Zeit ijt cine ftarfe Bewegung fiir die Erlangung der firdliden Rechte 

der Frauen, d. h. dev Berechtiqung, an allen innerhalb der Kirchengemeinden 
vorfommenden Wablen teiljzunehmen, entitanden. Die Frauengruppe der firdlich-fozialen 
Ronferen3 in Berlin, der Deutſch-Evangeliſche Frauenbund haben fics ſchon feit längerer 
Beit mit dem Gedanken diefer Criveiterung des Franenrechtes im firchlicen Ge— 
meindeleben befchaftiqt und ibre dabingehenden Forderungen mehrfach ausgefproden; 
der Deutſche Verein fiir Frauenſtimmrecht ijt ebenfalls in die Agitation fiir diefes 
Wablrecht der Frauen cingetreten. Wenn ſchon die Ausſichten auf Crfiillung diefer 
Forderungen noch feinesivegs jebr giinjtige genannt tverden können und die Frauen 
auch in diefer Beziehung kaum Gelegenbeit baben diirften, fich über cin allju raſches 
Tempo der mafgebenden Faktoren bei der Regelung diejer Frage yu beflagen, fo 
ijt doch nicht yu verfennen, daß die Möglichkeit einer Beteiligung der Frauen an den 
kirchlichen Wahlen jest immer haufiger ertwogen wird. Der Kreis der Manner und 
Frauen, der die Heranjiebung der Frauen zu den kirchlichen Wahlen als eine Forde: 
rung der Gerechtigkeit anfiebt und fie im Intereſſe des kirchlichen Lebens ſelbſt wünſcht, 
vergrifert ſich zuſehens. Es ift died febr begreiflich, denn es liegt auf der Hand, wie 
der Ausſchluß von der Beratung aller verantiwortungsvollen Fragen in einer Ge- 
meinſchaft, zu der fie ſich ausdriidlich berufen fiiblen, und die mit ihrem inneren per: 
finlichen Leben aufs engſte verknüpft ijt, die Frauen aufs empfindlichjte treffen muß, 
und daß vorurteilslofe, den Frauenbeftrebungen woblgejinnte Männer dies mitempfinden 
finnen, Derartige die Frauen aus der Gemeinſchaft ausſchließende Beſtimmungen 
mögen zu anderen Zeiten den Gemeindeintereſſen entiprochen haben; yu den heutigen 
Berhaltniffen paßt es nicht mebr, wenn die Frauen, die ftet3 einen befonders regen 
Anteil am kirchlichen Leben nebmen, die die Hauptitiigen der Geiftlichen find, bei der 
Durchfiibrung dev Fürſorgetätigkeit innerhalb der Gemeinden, an den inneren Fragen 
der Gemeindeverivaltung keinen Teil haben ditrfen. 

Sn den meiſten proteftantijdyen und namentlich in den evangeliſch-lutheriſchen 
Vandern find die Frauen ju den Wahlen fiir die Gemeindevertretung und den RKirchenrat, 
sur Bfarrwabl, da, wo diefes Recht den Gemeinden guftebt, zugelaſſen. In der Schweiz 
ijt dies bis jest nur in eingelnen Kantonen und meiſt nicht in der Landesfirche der 
Fall, hingegen hat die ftrengere Richtung der Schweizer reformierten Kirche, die église 
libre, den Frauen dieſe Rechte gewährt. Die Agitation fiir diefe Fragen hat in neuerer 
Beit in der Schweiz ebenfalls mit befonderem Nachdruck eingejest. Die Synode des 
Waadtlands bat am 30. September v. J. mit 39 gegen 15 Stimmen dad allgemeine 
firdliche Wablrecht der Frauen für die Yandesfirde angenommen. Dieſer Beſchluß iſt 
aber noch durch den Grofen Kat zu genehmigen. Auf Antrag des Züricher Kirchenrats 

27 


418 Das Stimumredt der Frauen in kirchlichen Angelegenheiten. 


ijt die Frage ded firchlidien Frauenjtimmrechts auf die TageSordnung der diesjährigen 
allgemeinen Schweizer Kirchenkonferenz gefegt worden. Die dort bevorftehenden Ver— 
handlungen und Beſchlüſſe werden, wenn ſchon nicht direft enticheidend, fo dod) ficherlids 
von weſentlichem Intereſſe fiir den Fortgang diefer fiir die Frauen fo wichtigen Ange- 
legenheit in Deutſchland fein. ') 

Dänemark hat den Frauen das Recht, in firchlichen Dingen gehört zu werden, 
neuerdings verlieben, ebenfo Norwegen, wo es feit 1899 in beſchränktem Umfange 
exiftierte, feit 1903 aber allgemein durchgeführt iff. In Island wird es jeit dem Jahre 
1886 ausgeübt; auch in Finnland befigen die Frauen kirchliche Rete. Der dabin- 
gehende § 4 ded Däniſchen kirchlichen Gemeindegefeges fagt: , Wablredt und Wablbar- 
feit jum Rirchen:Gemeinderat haben Männer und Frauen einer zur Landesfirde ge— 
hörenden Gemeinde nach vollendetem 25. Jabr und wenn fie wabrend eines Jahres 
fejten Wohnſitz in der fircdlicden Gemeinde gebabt haben.” Es folgen die Beftim: 
mungen, die fics in allen Rirchenordnungen finden, nach welchen unter beſtimmten Vor— 
ausſetzungen, bet ebrlofen Handlungen, Errequng eines öffentlichen Argerniffes, Trunk, 
Lajfterbaftiqfeit ufw. das Wablrecht rubt. Weiter heißt eS dann: ,,Cin jeder Wabler 
foll febriftlich bitten, in die Wabllijte eingetragen yu werden. Niemand, der Wahlrecht 
und Wählbarkeit zum Kirchengemeinderat befigt, darf fich weigern, die Wabl yu dem— 
felben anjunebmen, wenn er nidt über 60 Sabre alt ift oder von dem Biſchof 
(General-Superintendent) von diejen Verpflichtungen befreit ijt.“ Die däniſchen 
Frauen haben aljo nidst nur das Recht, fondern ausdriidlicd die Pflicht diefer Teil: 
nabme am firchlichen Gemeindeleben. 

Am früheſten geſchah wohl dieſe Anerkennung des kirchlichen Frauenrechts in 
Schweden: Dort hatte bereits am Anfang des 18. Jahrhunderts jede Frau mit 
Grundbeſitz das Recht, bei den Pfarrwahlen mitzuwirken, ſowie in einigen kommunalen 
Angelegenheiten ihre Stimme abzugeben.) Auf dieſer fiir die Frauen fo günſtigen 
Grundlage hat ſich dann die ſpätere Geſetzgebung für die Kommunal- und Gemeinde— 
angelegenheiten von 1862 aufgebaut. Nach ihren Beſtimmungen hat jede ſchwediſche 
Frau, die ſtimmpflichtig iſt, d. h. jede unverheiratete Frau, die cin Einkommen von 
wenigſtens 700 Kronen hat, kommunales Stimmrecht und dadurch das Rect, fowobl 
bei Stadtverordneten:, wie Pfarrwahlen innerhalb der evangeliſch-lutheriſchen Staats— 
kirche, bei der Wahl des Schulrats, bei der Anſtellung von Lehrkräften, bei der 
Entſcheidung von Gehalts- und vermögensrechtlichen Verwaltungsfragen mitzuwirken. 

Wie weit ſind die deutſchen Frauen von einer derartigen Anerkennung ihrer 
Wünſche noch entfernt! 

In Deutſchland finden wir nur ganz vereinzelte Anſätze zu der Erweiterung des 
Frauenrechts in kirchlichen Dingen. Die St. Georgengemeinde zu Berlin, die 
reformierten Gemeinden in Hamburg, Lübeck, einige reformierte Gemeinden in Ojt- 
friesland, ſowie die Mennonitengemeinde in Emden ſind zur Zeit, ſoweit es in Erfahrung 
zu bringen war, die einzigen Gemeinden, die die allgemein giltige Anſicht, daß die 
Frau in den Angelegenheiten der kirchlichen Gemeinden keine Stimme haben dürfe, 
durchbrechen. Wohl haben die Frauen in einigen Gegenden, u. a. in Schleswig— 

) Die evangeliſche Kirchengemeinde in Kesmark in Ungarn bat ganz kürzlich den Beſchluß gefaßt, 
daß Kirchenſteuer zahlende Frauen wahlberechtigt ſind. Bei der im Sommer vorigen Jahres ſtattgehabten 
Wahl der Kirchenräte haben ſchon 31 Frauen iby Votum abgegeben. 

2} Work and aims of the Frederika Bremer Association. Stockholm. 1903. 


a — 


Das Stimmredht ber Frauen in firchlichen Angelegenbeiten. 419 


Holftein, Hannover, Heffen- Naffau gleich den männlichen Gemeindegliedern das 
Recht, Cinfpruch zu erbeben, wenn jie gegen eine Pfarr- oder Kircenvoritandswabl 
begriindete Einwände haben. *) 

Die Vertreter der Anſicht, daß der Frau mit Recht diefe eng umgrenzte Stellung 
in den Gemeinden zugewieſen ijt, pflegen ibre Auffaſſung einmal durd) den Hinweis 
zu begriinden, daß auf Grund der beiligen Schrift, namentlics auf Grund des Gebotes 
des Apojtels Paulus, die ſtrengſte Zuriidbaltung der Frau allen öffentlichen Angelegen- 
heiten gegeniiber bedingt iſt. GHervorragende Vertreter unferer evangelifden Kirche 
baben die aus dem „Das Weib fchweige in der Gemeinde” abgeleiteten Vor— 
wiirfe gegen die moderne Betätigung der Frau ausdriidlich zurückgewieſen und wollen 
dicje Worte des Mpoftels nur auf die Verfiindigung des Wortes, das öffentliche Gebet 
und dic Austeilung der Saframente im Gottesdienft der Gemeinde angetwandt feben. *) 
Andere haben in dem Wort 1. Kor. 14, 34 lediglich cin Sittengebot fiir die Ver— 
haltnijje und Bediirfnijje der damaligen Beit und eine Ermahnung fiir die befonderen 
Zuſtände in Rorinth feben wollen. Jedenfalls wird die buchftablide Anwendung und 
Befolqung diefes Wortes heute wohl nur nod von folchen gefordert, die überhaupt 
den Frauenbejtrebungen fremd, um nicht zu fagen feindlid) gegeniiberfteben, fie werden 
ſchwerlich dazu beitragen, eS den Frauen zu ermöglichen, lebendige, tätige, ver- 
antivortungsvolle Glieder der kirchlichen Gemeinden zu werden. 

In der und gegebenen bibliſchen göttlichen Offenbarung finden wir im Gegenteil 
viele Worte, die wohl den Grund legen diirften fiir die Anſchauungen, die eine ftarfere 
Heranziebung und lebendigere Anteilnahbme des weiblichen Gefcblechtes an den Wuf- 
gaben der Kirche fordern. Wir ſehen zunächſt, wie Chrifti Worte das Weib in reli: 
giöſer Besiebung dem Manne gleich ſtellen. Beide verfolgen ein Ziel, beiden ijt eine 
Norm als Lebens- und Sittenregel gegeben. Mann und Frau haben Jefus Chrijtus 
bei feinent erften Tempelgang begriift (Luk. 2, 25—39), Manner und Frauen haben 
fic) dem Herrn nähern diirfen. Wir finden fromme Frauen yu Jeſu Füßen, und wenn, 
aud ausdrücklich nur Manner ju jeinen Jüngern berufen wurden, fo feben wir dod, 
wie Frauen bis zuletzt um ibn waren, ibm die Treue bewabrten. Wenn es in alt: 
fircblicher Zeit als ein Seiden des Apoftolats galt, den Herrn nach feiner Auferſtehung 
geſehen und von ibm Auftrag erbalten gu haben, nun jo ijt dies den Frauen, die thm 
nachfolgten, zu Teil geworden (Ev. Job. 20). Und im Urebhrijtentum, in der apofto- 
liſchen Beit feben wir, dak prophetiſche Gaben Männern und Frauen gegeben werden 
(Apoſtelgeſch. 2, 17 u. 18), und wir hören, wie weibliche Diafone (Römer 16, 1) 
und Witwen (1. Tim. 5) der Gemeinde dienen ditrfen, ja wie fie yu Ehrenſtellungen 
innerbalb der Kirche berufen werden. Nach der apoftolifchen Rirdenordnung wurden 
jeder Gemeinde 3 Witwen amtlich jugeordnet. Erſt in den Synoden und Konzilien 
des 4. und 5. Sabrhunderts wird die Ordination und Ronfefration der Witwen ver- 
boten. Es iſt charakteriſtiſch, daß die 2. Synode von Orléans dies mit der Schwäche 
des weiblichen Geſchlechtes begründet.) Daß die im Nittelalter yur Citte gewordenen 


1) Der darauf bezügliche § 12, Abf. 3 bes Hannoverfden Kirchengefeges vom 22. Deyember 1870 
fautet: „Jedes fonfirmierte Ricchengemeindeglied, auch wenn dasſelbe fonft zu den kirchlich Stimm— 
berechtigten nicht gehört, ift berechtigt, Cinwendungen gegen eine Wahl voryubringen, wodurch die 
Einfiibrung des Gewählten bid zur Erledigung der Cinwendungen verſchoben wird.” 

2) Central⸗Ausſchuß fiir Innere Miffion, Leitfage yur Frauenbetwegqung. 

7) Ublborn, Chriftliche Liebestatighcit. Stuttgart 1895, 

27* 


420 Das Stimmredt der Frauen in kirchlichen Angelegenbeiten. 


Anſchauungen über die kirchlichen Rechte der Frauen von uns heute nicht als bindende 
Geſetze empfunden zu werden brauchen, beweiſt uns in der Zeit der Wiederherjtelung 
der Urkirche, in der Reformation fein geringerer, als Dr. Martin Luther. In feiner 
Sehrift „Vom Mipbraucd der Meſſen“ fagt er ausdrücklich, nacdem er vorbher jeine 
Auffaſſung des allgemeinen Prieftertums klar gelegt bat: ,Der Glaube ijt allein 
das rechte prieſterliche Ampt, darum find alle Chriſtenmänner Pfaffen und alle Weiber 
Pfäffinnen.“ 

Der zweite Einwand pflegt ju fein, die Natur der Frau geftatte ihr keinerlei 
Betätigung im öffentlichen Leben. ber diefe Theorie ijt die moderne Entwicklung 
mit den Anforderungen, die das heutige Leben oft unvermittelt genug an die Frauen: 
kräfte ftellt, derart zur Tagesordnung iibergegangen, dah es fich eriibrigt, an dieſer 
Stelle cine Beweisfiibrung fiir die Unhaltbarkeit diefes Cinwandes zu geben. 

Die Frauen, die nun die Forderung des kirchlichen Stimmrechts fiir fich und 
ibre Gefechlechtagenoffinnen erbeben, find nach reiflicher Uberlegung und eingehender 
Priifung yu der Nberjeugung gefonunen, daß die Erfiillung diejfer Forderung 1. Feinen 
Widerfprud enthalt gegen die Gebote des Evangelium, das Mann und Weib zur 
Gemeinde Chrijti beruft (Gal. 3, 28); 2. eine Ungerechtigkeit gegen die Frau befeitigen 
wiirde, die gerade dort, wo das Gebot der Liebe ausſchlaggebend fein müßte, nicht 
aufredt erbalten werden follte; 3. der Kirche felbjt zum Segen gereichen wiirde, 
da e$ ihr nur erwiinfebt fein müßte, alle bem firchlichen Leben wahres Verftandnis 
entgegenbringende Chrijten auch) zu titigen, verantivortlidien Gemeindegliedern zu 
gewinnen. 

Der Verein Frauenſtimmrecht hat vor einiger Zeit eine Umfrage an namhafte 
Theologen ergehen laſſen, um ſie zu Außerungen über die Frage des kirchlichen 
Stimmrechts der Frauen zu veranlaſſen. Die Antworten lauten übereinſtimmend 
dahin, daß aus den Reden Jeſu und aus der Verfaſſung der Urgemeinden ſich kein 
Verbot der Gleichberechtigung von Mann und Frau in der Verfaſſung der Gemeinden 
ableiten laſſe. Dieſe Erhebung, deren Reſultat zweifellos eine Stärkung für die 
Sache bedeutet, iſt dankenswert, obwohl es nicht verkannt werden darf, daß es für 
die Herbeiführung der Entſcheidung in den Landesſynoden außerordentlich erſchwerend 
ſein wird, wenn der deutſche Verein für Frauenſtimmrecht das kirchliche Frauenwahlrecht 
weiter verfolgt. U. E. würde die Propaganda für dieſe Gedanken beſſer einem evangeliſchen 
oder kirchlichen Verein überlaſſen. 

Jedenfalls iſt zu hoffen, daß mit der Zeit — raſch wird ſich der Gedanke des 
kirchlichen Frauenſtimmrechts ſchwerlich einbürgern — die Wünſche der Frauen auf 
dieſem Gebiete Gehör finden. Die 5. preußiſche Generalſynode hat zwar noch eine 
dahingehende Eingabe des Deutſch-Evangeliſchen Frauenbundes als „ungeeignet“ für 
die Beſprechung im Plenum erachtet, vielleicht gelingt es bei der 6. preußiſchen 
Generalſynode und künftigen Synoden anderer Bundesſtaaten die Anſchauung mebr 
zur Geltung zu bringen, daß das kirchliche Stimmrecht der Frauen keine Beunruhigung 
in die Familien und Gemeinden hineintragen, ſondern die Liebe zur Kirche befeſtigen, 
das Intereſſe an ihren Einrichtungen, ſowie an allen religiöſen und kirchlichen 
Fragen neu beleben und in weite Kreiſe des deutſchen Volkes tragen würde. — 


421 


„Wie helfe ich meinem Schalkinde? 


Bon 


@ertrud Baumer. 


— —— 


Nachdruck verboten. 





as iſt im eigentlichſten Sinn eine Mutterfrage, und wahrlich keine bedeutungs— 
cA loſe. Kindertranen und Mutterforgen, häusliche Verſtimmungen und allerlei 

ſchlimme Ronflifte mit der Schule beften fid) daran. Wer hat nicht ſchon 
fo ein Schmerzenskind in tiefiter Hilflofigkeit vor ſeinen Arbeiten figen feben, wenn 
e3 allen gutgemeinten Vorſchlägen fein versweifeltes, „ſo dürfen wir's aber nicht 
maden!” entgegenfebt, und auf die vorwurfsvolle Frage: „Ja, wie follt Ihr's denn 
machen?” nur cin troftlofes: „Das habe ich vergeſſen“ oder „Das habe id nicht 
verſtanden“ zur Antwort bat. Es ijt wirklich oft cine Schidfalsfrage fiir das Gaus: 
„Wie belfe ich meinem Schulfinde”. 

Es giebt Lebrerfreije, die auf die Frage eine kurze und einfache Antwort haben: 
„Gar nicht“. Aber das Diftum: „Das Kind muh allein fertig werden, wenn es in 
der Schule aufpaßt“ erweijt fics der Wirklichfeit gegentiber doch eben als cin Jdeal, 
das verhältnismäßig jelten qu erreichen iit. Qn einer Klaffe von vierzig Kindern und 
mebr ijt fiir den Lehrer niemals die Sicherheit zu gewinnen, dah jedes Rind dem 
Unterricht gefolqt ijt, und fein Kinderpfydologe wird ſich der Illuſion hingeben, dak 
jelbjt ein pflichttrened Rind bei all den fleinen und großen Erlebniſſen, die fein Her; 
bewegen, einer gleichmapigen und nieverfagenden Aufmerkſamkeit fabig ift. 

Und aud aus cinem anderen Grunde foll die Hilfe der Eltern nidt abgelehnt werden. 
Die Schule darf fiir die Eltern feine terra incognita fein. Sie follen ibr Intereſſe 
an den Schularbeiten des Kindes jeigen, fie follen auch dieſen wichtigen Teil des F 
findlichen Lebens in feiner Wichtigfeit miterleben. Cie follen wijfen, was in der 
Schule gefdieht, und wie dies Schulleben mit feinen Anforderungen in das innere 
Leben ibres Kindes bineingreift, was es zur Blitte bringt, und was es mit Staub 
bededt und verfiiimmern läßt. Und fie follen in jedem Augenblick fähig fein, ihrem 
Kinde das Cinleben in dieje Welt außerhalb des Elternbaufes und der Kinderjtube yu er: 
leichtern. Sie follen fo oder fo, in der allermannigfaltigiten Weife, ,ibrem Schul— 
finde belfen.” 

Und darum ijt e3 auperordentlic) danfenswert, da cinmal ein Pädagoge diefer 
Wrage ein befonderes, praktiſches kleines Buch gewidmet hat.') Es ijt ein Lehrer des 
Frankfurter Reformgumnafiums. Er hat bei den praftijden Beiſpielen, die das Buch 
in Fiille bietet, vor allem den Gymnafiajten im Auge — auc) mehr den älteren, 11 
und 12jährigen, wie mir ſcheint. Aber das Hindert nicht, dah feine Ratſchläge auch 
fiir Fleinere Schulfinder und aud) fiir Madchen wohl anwendhar find und viele gute 
Fingerjeige geben, ſowohl fiir Miitter als aud) fiir Lehrer und Lebrerinnen. 

Zunächſt möchte man ein paar nur auf die Schule bezügliche Gedanfen ded 
Verfaſſers mit einem nachdriidlicden Ausrufungszeichen verſehen. Das ijt vor allem 
die Suriidjtellung der ſchriftlichen Leijtungen bei der Beurteilung des Kindes. Trog 
alles Protejtes der verjtindigen Pädagogik wird nod immer bei uns die Reife eines 
Kindes in erfter Linie nach der Lijte der Exerzitienfehler beurteilt. Ob ein Kind in 





) , Wie belfe ih meinem Scultinde?” Bon Dr Mar Banner. Berlag von Belbagen und 
Klafing. Leipzig 1904. 


422 „Wie belfe td) meinem Schulkinde?“ 


feiner Auffaſſungsfähigkeit für Geſchichte und Dichtung, in feiner Beobachtungsgabe 
fiir alles, was die Schule ihm anzuſchauen gibt, in der Regfamfeit feines Phantaſie— 
lebens über oder unter dem Durchſchnitt der Klaſſe ftebt, das pflegt alles nicht fo 
wichtiq zu fein, wie das ſchicſſalsſchwere Notizbuch des Lehrers mit dem verhangnis⸗ 
vollen Regifter. Das ift aud) in der Madchenſchule fo, trogdem eine der beſten und 
einfichtigiten Forderungen der preußiſchen Maibeſtimmungen ausdrücklich verbietet, die 
unter Klauſur angefertigten Probearbeiten dem Urteil über die Leiſtungen zu Grunde 
zu legen. Hier iſt eben damit gerechnet, daß das Kind bei der ſogenannten „Probe— 
arbeit“ unter den denkbar ungünſtigſten Bedingungen ſteht. Es iſt ganz durchdrungen von 
der folgenſchweren Bedeutung des Augenblicks, die vielleicht von ſeiten des Lebrers 
oder der Lehrerin noch durch allerlei bedrohliche Ermahnungen: „Ihr wißt, worauf es 
ankommt, nun nehmt Cure Gedanken zuſammen“ u. dgl. ihnen ſchreckensvoll yu Gemüte 
geführt wird, nachdem die häusliche Borbereitung auf bas Ereignis, das fiir Mutter 
und Rind gieich qualvolle „Proloco-UAben“, das Selbſtvertrauen eher erſchüttert als 
geſtärkt hat. Es iſt ganz felbftveritindlich, daß die Klaujurarbeit mebr über die 
nervöſe Widerſtandskrafi als über die wirklichen Fähigkeiten des Kindes ein Urteil 
gibt. Und ſo möchte man das, was Banner von Zeit zu Zeit dem Schulkinde klar 
macht, vor allem auch der Schule ans Herz legen: 

„Wenn dein Lehrer das Zeugnis für dich ſchreibt, ſo ſtehſt du ihm in deinem ganzen Tun und 
Laſſen vor Augen. Gr ſieht dic) unter den Vorwärtsdrängenden, unter den Zurüchaltenden oder aber 
unter den Untaͤtigen. Wm liebſten erinnert er fich deiner als eines Schiilers, der ihm bei feinem Bor: 
trage ftandig die Worte vom Munde (a8, beim Abfragen fich unermiidlic) gur Antwort bereit hiclt, der 
jede aufflirende, belebrende Außerung aus dem Unterrichte treu bewahrte, der mitunter Zweifel vor— 
brachte und wohl aud einmal cine Unklarheit im Buche oder im Unterricht aufdeckte, der alſo geradezu 
anregend und fördernd auf den Gang der Stunde einwirkte. So vor allem bildet der Lehrer gern ſein 
Urteil über dich, und erſt in zweiter Linie und zumal dort, wo der Schüler ſich nicht in dieſer lebendigen 
Weiſe der Vorſtellung des Lehrers aufdrängt, wird das Notizbüchlein mit ben Reſultaten der ſchriftlichen 
Arbeiten als Berater herangezogen. Doc trotz aller Bemühung und ungeachtet tüchtigen Könnens 
mögen ſolche Arbeiten bisweilen mißlungen ſein. Die mündliche Leiſtung aber liegt mit 
Erfolg und Mißerfolg weit mehr in der Hand des Schülers.“ 


Auch Banners Anficht fiber den Nugen des „Sitzenbleibens“ möchte man von 
Herzen unterſchreiben. Meiſt bebalt das Kind dabei denjelben Lebrer. Dann wird 
e3 ganz gewiß gegen Die wiederbolte, gleichartige Behandlung desſelben Stoffs gleich— 
giltig und intereſſelos ſein, um ſo mebr, wenn die Mängel ſeiner Leijtungen vielleict 
{con damit jujammenbingen, dah der Lehrer es in ſeiner Qndividualitat nicht yu 
nehmen wufte — jeder ebrliche Pädagoge weif, dah er ju vielen Kindern einfach 
den Weg nicht findet und iby Können nicht aus ibnen herausyubringen verjtebt. Und 
e3 ijt auch fiir Das Rind fo deprimierend und entmutigend, wenn es nad fo einer 
Niederlage auf den ganz gleichen Weq suriidgefest wird, auf dem alle die Schatten 
feiner Kümmerniſſe und Enttauſchungen ſtehen. Gerade das Rind bedarf deſſen fo 
febr, Daf man einmal binter ibm reine Bahn macht und ibm das Gefiibl gibt: jest 
geht's von neuem an mit friſchem Willen und friſchem Vertrauen. Banner iſt natürlich 
ein viel zu erfahrener Lehrer, um nicht zu wiſſen, daß in unſeren vollen Klaſſen, in 
denen es dem Lehrer unmöglich iſt, von Anfaug an in wünſchenswertem Maße zu 
individualiſieren, das „Sitzenbleiben“ oft das einzige Mittel iſt, um die Gleichmaßigkeit 
des Klaſſenniveaus zu erhalten, aber es ijt mehr cin notwendiges UÜbel, als cin Er— 
ziehungsmittel im unbedingten Sinn. 


Aber wir ſind ganz von der Frage und dem Hauptthema des Buches abgelommen: 
„wie helfe ich meinem Schulkinde“? Banner gibt eine Reihe von Vorſchlägen fiir die 
Reiteinteilung der häuslichen Arbeit, er empfiehlt cine Abwechslung zwiſchen dem viel 
Ronjentration erfordernden Lernen und leichteren, mebr mechaniſchen febriftliden Arbeiten. 
Gr lenft die Aufmerkſamkeit der Eltern auf die Urjachen, die mandymal dem Kinde 
jolche Konzentration unmöglich machen, Crlebnijje, die es prdoccupieren, uneingeftandene 
Gewiffensnite oder die Abfpannung nad ftarfer körperlicher Anftrengung. Auf den 
Wert der Morgenitunde, in der nocd eine friſchen Crlebnijje ihr Recht baben wollen, 
fiir Das Memorieren weift er Hin; aud) darauf, daß man den Kindern die Möglichkeit 


~ 


p Wie belfe id meinem Schultinde?“ 423 


geben foll, (aut zu memorieren, oder im Auf- und Abgeben, je nachdem ſolche Ge- 
wobnbeiten das Lernen erleichtern. Wird dem Kind freilicy das Lernen nicht befonders 
ſchwer, ſo, meine ich, ſollte man es möglichſt anhalten, ſich ohne ſolche Mittel, die es 
eben doch febr abbangig von den äußeren Verhaltnifjen machen, ju behelfen. Auch das 
ſcheint mir richtig, daß die Kinder ihre Arbeiten möglichſt einen Tag eher machen, als 
es unbedingt notwendig ijt, damit ihnen das Gefühl der Freiwilligkeit ihrer Leiſtung 
und der ſelbſtandigen Dispoſition über ihre Zeit die Luſt zur Arbeit erhält; man macht 
das Kind dadurch vom Knecht zum Herrn, es hat eine ganz andere Befriedigung, wenn 
es ſich ſagt, daß es „vorarbeitet“. Freilich für langer hinaus beſonders Memorier- 
aufgaben erledigen zu laſſen, empfiehlt auch Banner nicht. Für dieſe Art der Okonomie 
pflegen Kinder nicht viel übrig zu haben. 

Den Hauptinhalt des Bannerſchen Buches bilden nun Vorſchläge, wie man Kindern 
beim Memorieren, bei grammatiſchen Arbeiten, bei Exerzitien und Aufſätzen helfen 
könne. Sehr bebersigensivert ijt fein Proteit gegen die Art von ,, Arbeitsftunden-“ 
Beaufiichtiguna, deren einziges Biel ijt — nicht das Rind wirklich arbeiten zu lehren, 
ſondern für einwandfreie Herſtellung der Hausaufgaben zu ſorgen. Wie das gemacht 
wird, pflegt dabei den Eltern gleichgiltig zu ſein, auf jeden Fall trägt der Lehrer oder 
die Gebrerin, Die dieſe Arbeitsjtunde leiten, die volle Verantwortung fiir alle Unjicerbeit 
in den Memorierpenjen und fiir jeden Febler in den ſchriftlichen Mufgaben, und das 
Rind, im Bertrauen auf diefe Anitans, —— natürlich ganz die Fähigkeit, ſich ſelbſt 
Rechenſchaft zu geben über das, was es kann und nicht fann, und die fichere Ausſicht 
auf die Urbeitsftunde macht es bequem und unaufmerffam in der Schule. 

Wenn id in einem Punkte gegen die Vorſchläge Banners ein Bedenken habe, 
fo ijt e3 gegen die ſtarke Heranziehung der ſchriftlichen Ubung beim Memorieren. 
Vokabeln ſollen, wenn ſie bei ein- oder zweimaliger Repetition nicht ſitzen, in allerlei 
Anordnungen aufgeſchrieben werden, Gedichte ſollen zur Kontrolle ſicheren Beſitzes auf— 
geſchrieben werden, Geſchichtsdaten ſollen durch Niederſchrift in allerlei Ordnungen und 
Arten gelernt werden. Freilich betrachtet auch Banner dieſen Weg als einen Umweg, 
den man erſt beſchreiten ſoll, wenn der gerade ſich als zu ſchwer erweiſt. Aber er 
benutzt ibn dod ſehr baufig, wenn er z. B. ſagt (S. 36) man ſolle ſich bei ſchwer 
einzupragendem Memorierſtoff in der Regel auf das Abhören nicht einlaſſen, ehe das 
Rind den ſchriftlichen Weg bereits durchgemacht habe. Zunächſt ſcheint es mir felbjt- 
verſtändlich, daß dieſer Weg nur bei größeren, mindeſtens elfjahrigen Kindern empfohlen 
werden kann, denen das Schreiben nicht mehr eine Extrabelaſtung iſt, die extra Kraft 
und Aufmerkſamkeit erfordert. Aber aud da hat er ſeine Schattenſeite. Handelt es 
ſich um Vokabeln, bei denen zugleich das orthographiſche Bild eingeprägt werden muß, 
fo halte id) ibn fiir nützlich. Hier nimmt man tatſächlich die „Anſchauung“, auf der 
nad Banners Anſicht der Wert dieſer Nbungen berubt, zu Hilfe, bier fann man die 
ſchriftliche Darſtellung des Wortbildes als Rnfchauung⸗ bezeichnen. Ebenſo oder noch 
mehr iſt natürlich auch der Entwurf von Rartenffizzen zur Veranſchaulichung geogra— 
phiſcher Stoffe berechtigt — immer vorausgeſetzt, daß die techniſchen Schwierigkeiten 
für das Kind nicht zu groß ſind. Das Einprägen aber von Gedichten durch Rieder- 
ſchrift halte ich fiir einen Weg, auf dem man das Kind in die unglückliche Abhängig— 
feit vom Schwarz auf Weis, die unſer tintenfledjendes Säculum leider Gottes 
fo bedriidt, geradeyu bineintreibt. Hier foll die Erinnerung nidt an das geſchriebene 
Wort, fondern an das Gehörte, an die Klangwerte, an all die Eindrücke anfniipfen, 
die der Dichter durch feine Darjtellung auf Poantafre und äſthetiſches Gefühl aus- 
iibte. Viel ſympathiſcher erſcheint mir deshalb die Anregung zur dramatiſchen Dar⸗ 
ſtellung der Gedichte, ſo weit ſie ſich dazu eignen; da kann man wirklich von einer Zu— 
hilfenahme der Anfſchauung⸗ und der körperlichen Betätigung ſprechen. Solche „Auf— 
fiibrungen” laſſen ſich ja mit den primitivjten Mitteln arrangieren, die Phantafie der 
Kleinen ergänzt unglaublich viel; ich erinnere mich einer improviſierten Aufführung 
von „Klein Roland“ in der Klaſf e, wo die kleine Frau Bertha mit tödlichem 
Ernſt in der Felſenkluft, d. h. unter dem großen Kathederſtuhl, Blag nahm und ihr 
„bittres Leid“ ſo eindringlich klagte, daß die Klaſſe voller Enthuſiasmus war. 


424 » Wie belfe ich meinem Schulfinde 2” 


Und um gleich nod cing zu fagen, was mir in dem Buch nidt richtig erfdseinen 
will: die Heranjiehung des Schulweges und des Spazierganges jum Lernen. Der 
Verfafjer fagt ganz richtig, da} Spaziergänge mit Crwadjenen dem Kinde dod) meiit 
cine Tortur find, man nimmt ibm nicht viel, wenn man fie zum Lernen benugt. Ja, 
aber fie find dod auch die einzige Gelegenheit, bei der Vater oder Mutter, oder wer 
fonft das Rind begleitet, ihm fiir alles das die Augen öffnen finnen, was 
nicht Biicherwifjen und Wiſſen aus zweiter Hand ijt, fir ſelbſttätige Beobadtung und 
das ummittelbare Intereſſe an den Dingen felbft. Wenn fie diefe Gelegenbeit nicht zu 
benugen verjteben, fo ijt das eben ein Mangel, fie aber deshalb den Sweden der 
Schule ganz undgarpreiszugeben, das hielte ich fiir ein Ungliid. Und ebenfo die Verwendung 
de3 Schulwegs jum Lernen, zum gegenfeitigen Abbiren. Ich muf gefteben, dah ich mid 
immer freue, wenn die Berliner Schuljungen, mit denen id) mandymal in der Stadt: 
bahn jufammentreffe, mitten in einem Schulgeſpräch ans Fenfter ſtürzen: „Seht mal, 
die Wagen haben eine neue Verfoppelung” und dariiber alles andere vergeffen. Cin 
gefundes und natitrliches Rind bat auf dem Schulwege taufend andere Dinge zu feben 
und 3u reden als ſeine Memorierftoffe, und fo lange unfere Schule fo einjeitiq durch 
das ,, Buch” beherrſcht ijt, fann man gar nicht wünſchen, dak fie alle Gedanfen und 
Intereſſen fo ausſchließlich gefangen nimmt. 

Sehr praktiſch ſind Banners Vorſchläge über die Ausnutzung der Extemporalien, 
über Nbungsarten für grammatikaliſche Regeln und Analyſen und vieles andere. Cie 
können bier natitrlich nicht eingebend wiedergegeben werden, und follen e3 auch nicht, 
denn es ift allen, die Sdhulfindern zu belfen baben, febr zu empjfeblen, das kleine 
Buch felbft su ftudieren. Das foll dieje Beſprechung nicht erſetzen. Es ijt ein Beitrag 
gur häuslichen Pädagogik aus warmem Gefühl fiir Kindesglück und Kindesbedürfniſſe 
heraus, das aud) den Schlußſatz diftiert bat: „Jedes unferm: Kinde in früher Jugend 
eingebrachte Sonnenjabr beleuchtet ibm feinen Pfad bis an fein Lebensende.” 

Aber freilid) — fieht man dieſe dreifiq Drucfeiten durch, in denen Schemata 
und Methoden gegeben werden, wie man dem Schulfinde feine Grammatif eindrillt, 
birt man dann horribile dictu! von dem Nutzen von Orthographie-Spielen oder 
Geſchichtszahlen-Spielen, denkt man daran, daß das Rind Schulweg und Spaziergang 
oder gar nod die Zeit Abends im Bett vor dem Einſchlafen zu Hilfe nebmen mug, 
um die Anſprüche der Schule zu befriedigen, dann möchte einem ein leiſer Zweifel 
auffteigen, ob von Sonnenjabren bei einem Schulfinde die Rede fein fann, und ob 
die Sonnentage nicht aud) ziemlich dünn geſät find. Tint nicht auch aus dieſem 
Bud ,der ewige Gefang” vom Memorieren, den dem Schulfinde obne poetiſche 
Nbertreibung ,,beijer jede Stunde fingt?” Das ift freilic nicht Schuld des Verfaſſers, 
den die Not feiner Vater: und Lebrerfecle erfinderiſch machte, und der felbjt nicht 
felten die Anſchauung ausſpricht: es muß nun einmal fein, alfo fiebt man ju, wie 
man fics am beften und ſchnellſten damit abfindet. Aber ſeine Vorſchläge, fo qut und 
praktiſch fie unter den geqebenen Verhältniſſen find, werfen dod) ein belles Licht auf 
die Tatjache, daß die Schule die Aufgabe nicht erfiillt, die ibr einft der grofe Stein 
zugewieſen bat: durch eine auf die innere Natur des Menſchen gegründete Methode 
jede Geijtesfraft von innen heraus entivideln, jedes edle LebenSpringip anreizen und 
naibren, alle einfeitige Bildung vermeiden. Cie ijt, weif Gott, einfeitig, wenn 
fie mit Orthographie und Memorierjtoffen ſelbſt die Spiele ufurpiert, wenn Grammatik 
und Vofabeln auf Spaziergdnge und Schulwege Beſchlag legen, und wenn jie der 
inneren Natur des Kinde3 fo wenig ju bieten hat, dah die Ausficht auf das Frei: 
fommen von ibrem Swang immer der ſtärkſte Impuls fiir die prompte Erlediqung der 
Schularbeiten bleibt. 

So flange ſich darin nichts ändert, wird trog aller guten Ratſchläge und 
praftijden Winke der Seufser „Wie helfe ich meinem Schulfinde” im Elternhaus nidt 


veritummen, 
— 


Oie italienische Prau in den Camere del havoro. 


Dr Robert Michels. 


Nachdrud verboten. ESchluß von Seite 373.) 


og Bezug auf dic Art der Organifation der Frauen ift das Syſtem vorherrſchend, 

~~ dah die Frau, die ja genau diejelben wirtſchaftlichen Jnterefjen bat als der Mann, 
ftetS mit ibren Urbeitsfollegen in denſelben Berufsverband eintritt. Nur dann, wenn 
in cinem Arbeitszweige bloß weibliche Kräfte hefchaftiqt find, bilden die betreffenden 
Urbeiterinnen in der Camera eine befondere Frauenfeftion fiir fich. Auch eine kurze 
Unterſuchung fiber die Spesies der Frauen, welche in Stalien einem Zuſammenſchluß 
zugänglich find, diirfte von Intereſſe fein. 

Werfen wir deshalb zunächſt einmal einen furzen Blick auf die Arbeiterfammer 
der grofen lombardifden Zentrale. 

In Der Camera del Lavoro ju Mailand, welche, wie bereits gefagt, wobl die 
größte in Stalien überhaupt fein dürfte, find die Frauen im Ganjen in nicht weniger 
alg 43 Berufsgruppen vertreten. Bon diefen find 31 Seftionen, nämlich die der 
Stadtſekretärinnen, Bergolderinnen, Rartonarbeiterinnen, Schirm- und Stodarbeite: 
rinnen, nopfarbeiterinnen, Strobbutarbeiterinnen, Chofoladenarbeiterinnen, Papier: 
firberinnen, Gewandjeichnerinnen, Arbeiterinnen in chemiſchen Fabrifen, Beamtinnen, 
Lehrerinnen, Wäſcherinnen, Cichorienfaffeearbeiterinnen, Reramifarbeiterinnen, Gummi- 
arbeiterinnen, Spigenndberinnen, Tabafarbeiterinnen, Trifotarbeiterinnen, Bandarbeite- 
rinnen, Goldarbeiterinnen, Pofamentenarbeiterinnen, Kürſchnerinnen, Lobgerberinnen, 
Kammacherinnen, Seifenarbeiterinnen, Herrenſchneiderinnen, Tertilarbeiterinnen, Färbe— 
rinnen, Schmelzarbeiterinnen und Arbeiterinnen in Korkfabriken in ſogenannten sezioni 
miste nit ihren männlichen Berufsgenoſſen zuſammengeſchloſſen, während 12 weitere 
Kategorien, nämlich die der Putzmacherinnen, Korſettnäherinnen, Handſchuhnäherinnen, 
Weißnäherinnen, Seiden- und Goldbrokatſtickerinnen, Damenſchneiderinnen, Arbeiterinnen 
in Staniolfabriken, Trikotarbeiterinnen und Saumnäherinnen ihre eigenen ſogenannten 
sezioni femminili beſitzen. Außerdem exiſtiert noch eine sezione femminile mista, eine 
gemiſchte Frauenfeftion, in welder fich alle diejeniqen Frauen zuſammenfinden, die felbft 
im erweiterten Sinne des Wortes nicht eigentlice Proletarierinnen, wohl aber Sozialiftinnen 
find, die alſo nad) einem Beſchluß ibrer Partei bekanntlich ebenfo wie die ſozialiſtiſchen 
Ridtproletarier männlichen Geſchlechts die Verpflicitung haben, zur Stärkung der 
Gewerffdaften und dev Disziplin fowie zur Erhaltung des proletarifden Grund- 
gedantens in der ſozialiſtiſchen Partei, der Arbeiterkammer als Mitglieder beizutreten. 
In dieſer Ceftion finden wir alfo Sebriftfiellerinnen, Schaufpielerinnen, Malerinnen 
und Hausfrauen verfchiedenfter Gefellichaftstlaffen ziemlicy bunt durcheinander. — 
Die dem Alter nach erften Seftionen find die der Handſchuhnäherinnen (Gründungs— 
jabr 1886), darauf folgen die der Kammmacherinnen (1887), der Gerberinnen (1893) 
und der femminile mista (1893), der Bandniberinnen, der Pofamentenndberinnen 
und Trifotarbeiterinnen (1894) ufw. Die Angabl der vor dem Sturmjabr 1898 
gegründeten Seftionen betragt 13. Die ftarfiten Seftionen find die der Tertilarbeiterinnen 
(800 Frauen), Buchdruderinnen und Arbeiterinnen in Gummifabrifen (je 400), 
Tabafarbeiterinnen (300), Knopfarbeiterinnen (262), Gerberinnen (250), Handſchuh— 
naberinnen (150), Rrawattenndberinnen (127), Cichorienfaffeefabrifarbeiterinnen (117), 
Bandmacherinnen (110) und Damenſchneiderinnen (100) ?). 





) Nac ciner Tabelle der Maria Cabrini in der Cronaca del Lavoro, loco cit. 


426 Die italienifche Frau in den Camere del Lavoro. 


In Turin exiftieren laut der letzten Belanntgebung der dortigen Camera del 
Lavoro!) zwei nur aus Frauen beftehende Seftionen (Sezione Femminile Mista und 
Sezione Sarte, Modiste ed Affini), fowie drei weitere, den Frauen zugängliche 
emiſchte Seftionen, die der Konſumvereinsbeamten (Sezione Alleanza cooperativa 
Persenslel). die ber Tabafarbeiter (Sezione Operai dello Stato [Tabacchi]) und 
die ber Kranfenwiirter (Infermieri). 

Die Camera del Lavoro 3u Brescia?) befigt eine große sezione femminile 
mista (100 Frauen), ferner find die dortigen Frauen — in folgenden Sektionen 
organiſiert: Krankenpflegerinnen, Textilarbeiterinnen, Schneiderinnen und Buch— 
druderinnen. Die Camera del Lavoro in Meſſina?) beſitzt neben einer sezione 
mista femminile nod) organifierte Frauen in folgenden Seftionen: Bidelli e Bidelle 
(ſtädtiſche Beamte), Maestri e Maestre (Lehrer) und Infermieri e Infermiere 
(Rranfenpfleger). — Dieſe Beifpiele mogen geniigen um die Mannigfaltigfeit der in 
der Camera del Lavoro organifierten Berufgarten darjutun. 

Was dem Deutſchen dabei ganz befonders auffallig erſcheinen mug, das ijt die 
gewerkſchaftliche Betätigung einer grofen Anzahl von teils ftaatlicden, teils kommunalen 
Beamtinnen, wie 3. B. der Lehrerinnen, Poftbeamtinnen (fogen. ,,postine*), Stadt: 
ſchreiberinnen und Kranfenpflegerinnen, fowie die der an ftaatliden Fabrifen angeftellten 
Arbeiterinnen, wie die der Tabafarbeiterinnen. *) 

Zum Verſtändnis diefer Tatſache möchte id) zunächſt daran erinnern, dab der 
italienijche Staat weit mehr demofratijde Keime in fic) birgt als der deutfde. Co 
fénnen fic dort eben auch Eiſenbahnbeamte und Poſtbeamte ungeftraft orqanifieren 
und mit der unabhängigen Arbeiterſchaft zuſammenſchließen. Es verdient, erwähnt yu 
werden, dah das Deutiche Perjonal jenes Extrazuges, mit weldem Wilhelm LL. jüngſt 
nad) Rom fubr, dort von organijierten italienifden Cifenbabnbeamten eingeladen 
und mit der offiziellen Hymne der fozialdemofratifden Partei, der von Filippo 
Turati gedicteten Inno dei Lavoratori empfangen wurde. — Die von der Gemeinde 
befoldeten Beamten ferner find vollends unabhängig. Die italienijden Gemeinden, 
autonomer als die unjrigen, geben in ihrer Arbeiterfreundlicfeit ja vielfach fogar jo 
weit, zur Unterjtiigung der Camere del Lavoro Zuſchüſſe zu bewilligen. Go erhalten 
3. B. die Camere folgender Städte Jahresbeiträge aus dem Stadtfadel: Maitland, 
Turin, Molfetta, Intra, Pija, fowie die der fozialijtijdhen Stadtverwaltungen von 
Catania, Gan Remo, Budwio, Molinella, Bordighera, Sampierdarena, Reggivemilia, 
Colle Bal d' Elfa, Imola, Piombino und Andria. 

Aber von der Miglichfeit der Bewequngsfreibeit bis zur Ausnugung derjelben 
ijt nod) cin weiterer Schritt. Dieſe tapferen Lebrerinnen und Beamtinnen balten 3 
nicht fiir unter ihrer Würde, mit ,einfacen” Arbeiterinnen gemeinjame Gache ju 
maden. Gie haben die Tiir der Camera del Lavoro gefunden und Einlaß begebrt. 
Mit klaſſen- und gefcblechtsfolidarifeer Liebe hat man fie empfangen. 


* * 
* 


Welche ungeheuren Vorteile die Camera del Lavoro der Arbeiterſchaft aller 
Schattierungen bietet, iſt ſchon an anderer Stelle geſagt worden. Hier ſoll nur noch 
kurz von der beruflichen Seite derſelben die Rede * 

Manche Kategorien von Arbeiterinnen haben durch ihren alleinigen Eintritt in 
die örtlichen Camere di Lavoro, ohne es ju einem Streik kommen ju laſſen, cine 
Verbefferung ihrer Arbeitsgelegenheit durchgeſetzt: ſo im Friihjabr 1901 3. B. die in 


') Memoriale presentato della Camera del Lavoro di Torino e Circondario all’ Ill™o 
Sig. Sindaco, Onorevole Ginunuta ed Onorevoli Consiglieri Comunali della Citta di Torino, 
30. Dicembre 1903. 

2) ,,L’ Opera della Camera del Lavoro di Brescia.“ XV. Giugno MXMII, Brescia, Tip. 
La Provincia 1902. 

4) Cronaca I, 23. 

*) Bon den 1500 Tabalarbeiterinnen der Staatsmanufattur in Florenz find nicht weniger als 
1200 organifiert. 





Die italient{dhe Frau.in den Camere del Lavoro. 427 


der Congregazione di carita beſchäftigten Wäſcherinnen in Imola eine Herabfesung 
Der UArbeitsjeit um eine Stunde.) Nach einem Berit in der Frauenzeitung Eva hat 
die Camera del Lavoro einem Fabrifanten (Weberei) in Savigliano, der die Ange: 
wohnheit hatte, ſeinen Arbeiterinnen acht Tagelöhne juriidyubehalten, um fiir etwaige 
Streifverjuche ein vorbeugendes Mittel in der Hand yu haben (er faffierte dann näm— 
lid) gan; einfach die Gelder ein), ohne daß die Frauen ihre Macht in einem Streif 
erſt zu erproben brauchten, ohne weiteres gerichtlich verurteilen laſſen?). 

In Bologna ſetzten die organiſierten Krawattennäherinnen auf friedlichem Wege 
einen neuen Tarif durch (Februar 1902) und einen Monat darauf ſogar eine Lohn— 
erhöhung, und die Korſettnäherinnen derſelben Camera del Lavoro erreichten auf dem— 
ſelben Wege ebenfalls eine Verbeſſerung ihrer Arbeitsbedingungen.) In Seſtri Ponente 
ſetzten die Arbeiterinnen der Tabakmanufaktur eine Lohnerhöhung, die Arbeiterinnen der 
Baumwollenfabrik in Cornigliano eine Verkürzung der Arbeitszeit durch, ebenfalls ohne 
zum äußerſten Mittel greifen zu miifjen. *) 

Iſt die Camera del Lavoro in überaus vielen Fällen ein Linderungsmittel im 
Klaſſenkampf und verhindert ſie den Ausbruch unüberlegter oder leicht zu vermeidender 
Arbeitseinſtellungen, ſo wirken umgekehrt Streiks unorganiſierter Arbeiterinnen oft 
organiſatoriſch zurück, wobei es meiſt gleichgiltig iſt, ob der Streik günſtig oder ungünſtig 
verlief. So beſtand z. B. das Hauptreſultat des günſtigen Lohnkampfes der Seiden— 
wirkerinnen in Ponte a Moriano (Lucca) im Januar 1901 (Lohnerhöhung 12 Prozent) 
in dem Anſchluß der Arbeiterinnen an die dortige Lofalorganifation,*) ebenfo wie das 
ded ebenfalls giinftigen Lohnkampfes der bei Bender & Martini befchaftigten Arbeiterinnen 
in Turin und de der Tabakarbeiterinnen in Cagliari (Quli 1901). Aber auch das 
Rejultat der im Lohnkampf geſchlagenen Arbeiterinnen der Spinnerei von Schroeder 
in Vicenza war das gleiche. *) 

Des iweiteren fonnen wir uns hier iiber das Thema: Die Frau und der Streif, 
jo intereffant es auch ijt, nicht mehr verbreiten. Sm Rahmen diefes Eſſays fam es mir 
nur darauf an, die Wechfelbesiehung de3 Streifs yur Camera del Lavoro fur; zu ſtizzieren 
und auf die in jeder Besiehung heilfame Wirkung hinzuweiſen, welche fie auf die 
Frauen ausübt. 


* * 
* 


Und mim nod) die Beantwortung einer legten Frage. 

Wie feben dieſe Camere del Lavoro duferlid) aus? Nady den vieren, die 
id) perſönlich kennen gelernt babe, Biella (Piemont), Mailand, Imola (Romagna) 
und Turin ju fcbliefen, febr verſchieden. Während die Biellefer ein ſehr ſchmuck 
loſes und, wenn man von einem grofen Verfammlungsfaal abjiebt, nicht übermäßig 
gerdumiges Gebaude ijt und die Mailinder gwar einen Riefenfompler, man könnte 
beinah jagen, einen ganjen kleinen Stadtteil einnimmt, dafür aber an Dunfelbeit und 
Unfreundlichkeit nicht (cicht iibertroffen werden fann, nod dazu in ciner elenden fleinen 
Gaffe liegt, macht die Turiner, welche an einem grofen freien Plage, der Piazza 
Venezia gelegen ift, mit ihrer hohen ſtolzen Front und den prachtigen Fresfengemilden 
deS befannten Malers Rodolfo Morgari, eines Bruders des ſozialiſtiſchen Barlamentariers, 
an der Facade einen fiberaus vornehmen, palaſtähnlichen Cindrud, und erwedt die 
Imoleſer endlich mit ihrem alten Snnenhof und der peinlichen Sauberfeit, mit der fie 
gebalten wird, den Gedanfen, man befände fich in einer forgfam bebiiteten alten Mönchs— 
Hlaufe. Aber dennoch haben fie alle auc) wieder viel Abnlides: die mit Emblemen, 
Marrxſchen Sentenzen und roten Fahnen gefdmiidten Wande in den Verfammlungsfalen, 


') Al. Schiavi, Sviluppo capitalistico e organizzazione proletaria, II, in ber ,Critica Sociale“, 
anno XI, No. 21. 

*) Eva“, Genua. II, 51. 

+) Argentina Altobelli in der ,,Cronaca del Lavoro“, I, p. 22 und p. 47. 

4) Cronaca, I, p. 58, 

5) Avanti 1478, 

*) Unione Femminile“, I, fase. 9. 


428 Die Ausftellung der Malerinnen im Berliner Künſtlerhauſe. 


die Bilder berithmter Arbeiterfiibrer, und Fiibrererinnen — Marx, Lassalle, Gnocchi- 
Viani, Turati, Costa, Anna Kuliscioff, vor allem aber der Brofeffor Enrico Ferri, 
unter deffen Bildnis mit grofen Buchftaben gu lefen ſteht: Il flagellatore della Camorra 
(Der Züchtiger der Camorra)! — an den Wanden der Seftionsftuben die kleinen mit 
Regijterbinden und Bibliothefen gefiillten Spinde, die Leſeſäle mit ibrem grofen Tijd, 
auf welchem fich die ungebeuer vielen ordnungsmäßig aufgeſchichteten Fachzeitſchriften 
und Lofalzeitungen der jozialijtifden Partei aus ganz Jtalien yum Lefer anbieten. 
* * 


In dieſen Räumen, ſo unſcheinbar ſie oft auch ſein mögen, weht der Wirbelwind 
der Zukunft. Hier iſt es, wo — auf dem Boden eines intellektualiſierten Proletariats — 
die neue Ethik, deren Keime der Wirbelwind aus Hütte und Palaſt, Studierſtube und 
Kaſerne, Pfarrei und Fabrik zuſammenträgt, entſtehen wird und in ihren erſten An— 
fängen ſchon jetzt im Entſtehen begriffen iſt. Hier iſt es, wo ſich in ſchweſterlicher 
Kameradſchaftlichkeit die feine Hand der ſtädtiſchen Lehrerin in die ſchwielige der Land— 
proletarierin legt zum Zeichen energiſchen Zuſammenſtrebens, und wo die Profeſſorenfrau 
ſich mit der Induſtriearbeiterin zu gemeinſamen Beratungen zuſammenfindet. Hier iſt 
der geweihte Boden echter Menſchlichkeit, und der Nährboden für das „neue Weib“. — 


—— 


Vie Ausstellung 
der Malerinnen im Berliner Kiinstlerhause. 


Bon 
Anna I. Plehn. 


Nachdrud verboten. 






it einer iiberlegen und  juriidbaltend gewablten und vornebm = an: 

C geordneten Gruppe von Gemälden treten act Malerinnen — fie leben in 
Berlin und Paris — im Berliner Kiinfilerbaufe vor das Publifum. Wenn dies 
Blatt in die Hände der Lefer kommt, wird die Musitellung nocd zu feben fein. Cie 
dDauert bis zum 8. Wpril. Man wird denfelben etwas vergriferten Kreis finden, der 
ſchon vor zwei Jahren an der gleichen Stelle zuſammenkam. Wir fonnen alfo darauf 
recbnen, dah fic) bier eine Gewobnbeit bildet, und das ware febr wünſchenswert. 
Dank einer ftrengen Sichtung der Perſönlichkeiten und der Werke ift ein hohes Niveau 
erreicht. 

Aufſehen erregen wird die Veranjtaltung trotzdem ſchwerlich. Das wird wobl 
der gleichseitiq Den Hauptſaal fiillenden Rolleftion von Lenbadhbildern vorbehalten 
bleiben, trogdem fie faſt mit alleiniger Ausnahme cines allerdings grandioſen Bismard: 
portrats vom Sabre 1895 aus ſchwachen, um nicht zu fagen ſchlechten Lenbachs be: 
fiebt. Nebenbei bemerft, batten grade die Frauen feine Veranlajjung, dieſem  friiber 
oft fo glänzenden Portratmaler danfbar ju fein, da er mit weniger Ausnahmen aus 
Frauen eigentlidy nur Rarifaturen gemacht bat, wie man ſich beſonders diesmal über— 
zeugen Fann. 

Doc ich wollte fagen, warum der Crfolg der Franenausitellung vermutlic fein 
fauter werden wird. Der Gauptgrund jcbeint mir einer, der den Künſtlerinnen zur 
Ehre gereicht. Es feblt am Streben nach Bravour und auch am jtoffliden Intereſſe, 


Die Ausftellung der Malerinnen im Berliner Miinftlerbaufe. 429 


das die Aufmerkſamkeit am leichteſten anzieht. Porträts obne Poſe, ſchlichte Anterieurs, 
Landſchaften voller Ehrlichkeit, Blumen, ohne Prahlerei mit der ſtillen Keuſchheit ihrer 
Art und ihres Wachstums dargeſtellt, kurz mehr innerliches Verhältnis zur Natur als 
Gepränge. 

So viel iſt gewiß, daß es garnicht viele Künſtler überhaupt gibt (ich ſpreche 
fier von Mannern ſowohl als Frauen), welche ſolche Porträts wie die der Boznanska 
malen, und von Kathe Kollwiks Zeicnungen wird diefelbe Bebauptung wohl nach— 
gerade von den meiften jugegeben. 

Olga von Boznanska fandte aus Paris vier Portrats und ein Rofenjtill- 
leben. Das legte cine virtuofe Leijtung in Waſſerfarbe. Die Menfcdbendaritellung 
Diejer Künſtlerin wird immer rubiger und dadurch zugleich größer. Die Lebendiagfeit 
des Ausdruds liegt bei ihr ſchon lange nicht mebr im Auffallenden. Da find keine 
Punkte, auf die der erjte Blick ſehen foll und mug. Außerlich fcbeinen die ver: 
ſchiedenen Bilder ſich yu gleichen. Die Lilligen Unterfcheidungsmittel find vermicden. 
Die Rleidung wird mit Vorliebe ſchwarz gewablt und iiberbaupt fiir die Kennzeichnung 
der Einzelwerke ausgefebieden. Diesmal ijt der Anzug ſowohl bei dem Frauenbilonis 
wie bei den drei Männerporträts ſchwarz (und zwar nidt nur dem Ramen nad, 
fondern auch tatſächlich) Die Hintergrimdstine find wie gewöhnlich indifferent. 
Vielleicht ijt eine deutlichere Scheidung der Gejtalt vom Raume gewollt und erreicht 
al$ früher. Damit hängt aud) zuſammen, daß cine Hand gelegentlid mit einer 
ſchwachen Bewegung nad vorn dargejtellt und mit der verkürzten Handflache und dem 
Armgelenk (ebhafter berausmodelliert ijt als fonjt in dieſer Malerin Neigung lag. 
Cin Meiſterſtück, dieſe Hand mit ibrer flaren Charattrijierung als ju einem eigenwilligen, 
ftarfen Menfeben gebdrend. Man vergleiche auch die Gefichtsfarbe der drei männ— 
lichen Köpfe, die ohne daß einer einen auffalligen Teint hatte, febr beftimmt drei 
verſchiedene Typen darſtellt. Wie diefe fiir jedes Portrat entſcheidendſte Note mit den 
unwichtigeren jujanmengeftimmt ijt, das zeigt boben folorijtifden Taft. 

Das beweglichſte Farbengefiibl aus diefem Rreije hat Hedwig Weif. Aber 
auch bei ibr tritt der Kolorismus nicht in lauten Ausbrüchen auf. Die meijten werden 
ibn nicht effeftvoll nennen, und man würde vergebens nad einjelnen Fanfarenſtößen 
ſuchen. Wird cin Rot gemalt, fo ijt es cher cin tiefes Gliihen als ein heißes Lodern, 
Gerade diesmal ftellt die Kiinjtlerin die Skizze eines Innenraumes aus, an dem das 
gut zu beobachten ift. Ober die roten Poljteritoffe, das fpiegelude Hal; eines ſchwarzen 
Flügels und über die Goldrahmen, welche die Wände in dichten Reihen bededen, fließt 
vom Kronleuchter herab belles Licht, das mit feinem Hine und Widerfpielen und 
Spiegeln die an fich ſtark unterſchiedenen Farben vermifeht und in vielfacen Nuancen 
miteinander verſöhnt. Sie fucht alſo in der Regel nicht die Lofalfarben auf, fondern 
jie gebt fiebevoll den Veranderungen aller farbigen Flächen nach, wie fie durch die 
Stelling zum Licht oder durch Oberflächenverſchiedenheiten bhervotgerufen werden. 
Dabei liegen aber diefe Nuancen, wie fie mun feftgeftellt werden, fo nabe bei cinander, 
daß das Rolorit einfach erfcbeint. Ohne genauere Betrachtung wiirde man die Ab- 
wandlungen gar nicht bemerfen, fondern grofe Fladen als gleicartiq zuſammenfaſſen. 
Trogdem macht die Beobachtung all diefer tatſächlich vorhandenen Unterfciede den 
Gindrud reich) und gebaltvoll, Es ijt dies die Antimitdt de3 foloriftijden Gefühls, 
die ſich ſehr von der deforativen Farbenbehandlung unterfcheidet. Mit der legteren 
wüßte Hedwig Weiß fehon darum nichts anzufangen, weil ibr die Farbe Stimmung: 


480 Die Ausftellung der Malerinnen im Berliner Kiinftlerhaufe. 


geberin und feelifdes Musdrudsmittel, nicht nur Augenfreude ijt. Wieder wird der 
oberflächliche Betracdter an diefem Inhalt voritbergeben, dem aud die an den 
wichtigſten Stellen nad) impreffionijtifdem Grundſatz eindringlich vertiefte Zeichnung 
dienen muh. Scheinbar ijt wenig Formbeobachtung in diefen Bildern. Und 
gelegentlich, das fei in Parenthefe gejagt, find aud Formnadlajfigfeiten da. So eine 
Tiſchkante, die eS nicht vertriige, Dak man die Reiffchiene anlegte. Wher dafür wird 
beim Weſentlichen die Beobachtung fo intenfiv, dah eine ganze Szene lebendig wird. 
Eine Fleine Familie figt um einen Tiſch. Cin tief im Lebnftubl lefender alter Gerr, 
hinter dem Tiſch cin jiingerer Mann, der nach unten, wobl aud in cin Bud ſieht, 
an der Borderfeite eine Dame. Unter den vielen leidt abgewandelten grauen Tönen 
fällt hauptiichlid) der weifumrabmte Kopf und der vertiefte Musdrud ded Alten auf, 
und zum Fenfter herein ſcheint in den kühlen Word des gefehloffenen Raumlichtes 
das warme Griin einer Landſchaft. Es ijt cin mit Worten febwer zu faffender Eindruck. 
Ich mupte an den Danen Jobannjen denfen, und diefen Namen nennen, bheift, das 
Wort Familienpoefie ausſprechen. C3 ijt ganz gleich, twas der Gegenjtand ſolcher 
Auffajfungsweife ijt. Cin Stillleben, Roſen in einem Glaje oder ein Frühſtückstiſch, 
auf dem zwiſchen vielem Weiß und dem fraftiqen Schwarzgrün eines Jasminſtraußes 
ein lichtblauer Schal zurückblieb, zeigen die gleichen Eigenſchaften. 


Maria Slavona, eine Deutſche, die in Paris lebt, ift auc in Berliner Aus— 
jtellungen ſchon wiederholt gefeben worden. Mod) die letzte graphiſche Ausitellung der 
Sexeffion brachte von ibr gan; bervorragende Ragenjtudien, in denen fidy bei 
ſtizzenhafter Behandlung die lange Beſchäftigung und genaue Bekanntſchaft mit dem 
Tierleben verriet. Auch diesmal hat fie ein Nagenbild. An Olfarbe gemalt und 
durchgeführter als zuerſt, etwas vom Leben der Tiere im Wobhnraum. Die weige ſich 
ſchlafend dehnend, die prichtiq ſchwarze den breiten Schweif nachſchleppend und den 
geſchmeidigen Niiden windend. Jn dem lebhaften Braunſchwarz und Weif, die dicht 
aneinander gedvingt find, ſteht ein zweifaches Blau in der Umgebung. Dies jüngſte 
Bild zeigt cine ſtärkere, klarere Farbe als frühere. Cin Parijer und ein Liibeder 
Strafenbild teilen miteinander den Vorzug einer Nawmvertiefung, bervorgerufen durd 
ein höchſt gewijfenbaftes Studium aller Tonwerte und durch cine liebevolle Befchaftiqung 
mit dem Detail. 


Eva Stort widmet ihre Aufmerkſamkeit vorwiegend den Hauptſachen. Ihre 
Landſchaften befommen dadurch das Herbe, da8 in ibnen allen zu finden ijt. Auch 
Glanz und Sonnenfdein behält eine ftrenge Note. Aber dafür ijt ftets etwas un- 
gewöhnlich Echtes in dieſen Flachlandftimmungen. Die Ehenen fchieben gut und tie 
in das Bild hinein, an den Baumen ijt das Wufragen hauptſächlich betont, ohne dah 
die Stämme doch charafterlos im Kontur wiirden, und die Farbe fprict, auf wenige 
Noten zurückgeführt, die Cigenart von Ort und Jahreszeit que aus. 


Ejther Booth halt es ihrerfeits mit der fubtilen Durchführung der Details. 
Sie bringt ein Antericur, ganz einer Zufallseingebung folgend. Im Moment ijt ibe 
in dem Zimmer, das fie gerade bewobnte, der Reiz einer Farbe an altväteriſchen 
Möbelſtücken, in Verbindung mit einem roten Steinfufboden, aufgefallen. Zu dem 
einen Rot gefellte fie noch an verſchiedenen Ctellen fleine Steigerungen derfelben 
Farbe, jtudierte liebevoll das luftige Suriiciweichen der Wand, obne docs die Dunklen 
Streifen ju iiberjeben, die in der Zimmerede in die Hobe fteigen, lief auc im 


Die Ausftellung der Malerinnen im Berliner Künſtlerhauſe. 431 


gleichen Sinne dem Mufter de Möbelſtoffs fein Recht werden und brachte es 
durch dieſe liebevolle Aufmerkſamkeit yu einer eigenartigen Raumſtimmung mit den 
beſcheidenſten Mitteln. 

Voll Feinheit im Cinjelftudium find aud) die Portrats von Ida Gerhardi 
mehr als von zwingender Geſamtauffaſſung. Dazu iſt die Erſcheinung etwas ab— 
fichtlich bizarr. Die Farben, die nicht unbeeinflußt ſind durch Aman Jean und 
Besnard — die Künſtlerin lebt ſeit einigen Jahren in Paris — laſſen an irgend ein 
ſprödes Material denken, dad eine eigentliche Naturwahrheit nicht erlaubt hatte. Die 
zwiſchen warmem und faltem Licht in bunten Refleren figkende Dame in griinblauent 
Rleide erinnert an eine Emailmaleret mit opafen Farben. 

Endlich fomme ich zu Clara Siewert und Kathe Kollwitz. Bon bheiden 
habe ich in diefer Zeitſchrift ſchon wiederholt ausfiibrlicher gefproden. Die erſte bietet 
diesmal die Mbglichteit, ihre Anſchauungsweiſe in verſchiedenen Stadien neben einander 
gu feben. In der Hauptſache ijt fie faſt die Gleiche geblieben. Zwei Selbjtportrats 
in ganzer Figur wurden etwa vor zehn Jahren gemalt, ein Damenbildnis von zartem 
Teint und lebhaft blondem Haar, umgeben von Schwarz und lebhaftem Scarlachrot, 
entjtand im letzten Jahr. Früher wurde die Linie etwas mehr betont, bejonders in 
bem Selbjthild mit Unterjicht. Durch einen tief geftellten Spiegel wurde dieje Anſicht 
gewonnen. Geute ift eine mehr maleriſche Auffaſſung entftanden, welche die Konturen 
bis yu einem geiwiffen Grade auflöſt und Gejtalt und Raum mit einander verbindet. 
Unter den Zeichnungen Fleinen Formats ijt ein befonders ſchönes Blatt: eine Kinder- 
feicse aufrecht auf einem Stuhl figend, cin ahnungsloſes Kleines daneben, über deſſen 
Kopf weg die verftirten Ziige einer Frau nad dem ftarren Totenantlip ſchauen. 

Käthe Kollwitz fandte die Refultate ihrer legten Arbeit: Studienjeichnungen nad 
zwei ganz Eleinen Rindern. Das eine wohl nod) fein Vierteljabr alt, das andere um 
einige Donate weiter entwidelt. Die noch völlige Hilflofigteit und der fonderbar 
ärgerlich erjtaunte Musdrud ded erſten Lebensftadiums in immer anderen Stellungen, 
und die prächtiger entwidelten, feſter zuſammenhängenden Glieder de3 feiner felbjt ſchon 
bewupten Bambino. Hier und da die Hand der Mutter als Zugabe. Das alles mit 
der meifterhaften Feftigfeit gegeben, welche auch den flüchtigen Cindrud nicht als ver: 
ſchwimmende Smpreffion, fondern als volle Formerfenntnis binjtellt. 

Und nun frage ich bei diefer Gelegenbeit zum Schluß — obgleic dies Thema 
eigentlich ausführlicher erörtert werden follte: Wo find die weiblichen Macene, welche 
dieſen Leiftungen auc) den äußereu Erfolg bereiten, den fie verdienen? Gewiß giebt 
es reiche Frauen, die aud) dic Frauenfunft unterftiigen. Man ftiftet Beiträge zur 
Griindung von Schulen, die dann ſchließlich vielfach gerade die Mittelmäßigkeit heran- 
ziehen. Man läßt feine Kinder von der talentvollen Anfängerin malen, die zufällig 
Hausfreundin ijt. Wer das will, mag es tun. Das weiblice Künſtlertum aber wird 
nur wirffam unterftitgen, wer die wirklich bedentenden Leijtungen gu finden weiß und 
wer die Durch tatſächliche Beweije ded Verſtehens ermutigt, die durch produftive Kraft 
fiir weibliche Fabigfeit Zeugnis ablegen. 


—— 


432 


Sur Statistik des weiblichen Unterrichts in den 
Vereinigten Staaten. 


Don 


Run Glasgow. 


Radhbrud verboten. 


veben erſcheint der zweite Band des Berichts des Comissioner of Education 
jiir Das abr 1902, Gr enthalt eine amtliche Generalitatifti® des gejamten 
@  Unterrichtsmejens der Union und bringt über dad Verhältnis der Geſchlechter 
in ibrer Beteiliqung an den verſchiedenen Schulkategorien als Sebiiler, Lehrer oder 
Veriwaltungsbeamte fo ungemein intereffante Sablen, daß es der Mühe lobnt, fie aus 
dem ungebeuren Material herauszuziehen. 


Was zunächſt das Volksſchulweſen betrifft, fo ift das Jahr 1902 infofern be- 
deutungsvoll, als in dieſem Jabr yum eritenmal die Babl der weibliden Schulauf— 
jichtsbcamten die der mannliden überſchreitet. Dm Jahre 1900 bis 1901 betrug 
in Den Städten über 8U00 Cimwobner die Zabl der männlichen Schulaufſichtsbeamten 
(supervising officers) 2416, Die der weiblichen 2317. Im Jabre 1901 bis 1902 iff 
die Sabl der manntichen Beamten auf 2492, der weiblichen auf 2533 geftiegen. Diejes 
in der ganzen Rulturwelt wohl bis jest nod) einjigartiqe Verbaltnis hat natürlich 
in der Verteilung der Geſchlechter auf den Lehrkörper der Volksſchule überhaupt feine 
Wrundlage. Die Zahl der Lebrerinnen in famtlichen Volksſchulen der Stadte über 
8000 Einwohner betrug im Jabre 1901/1902 83775, die der Lebrer nur 6969, alfo 
etwa den zwölften Teil. Cs ijt febr bemerfenswert, daß died Verhältnis in dem letzten 
Jahrzehnt annähernd fonjtant gqeblieben ift. Ceit dem Jahr 1890/91, da die Zahl der 
Lehrer 3874, Die der Lebrevinnen 48557 betrug, find die beiden Zahlen etiva in 
qleichem Verhaltnis geftiegen, bis fie fich falt verdoppelten. Leider find, dieſe Sablen 
fiir Die Stadte und Dörfer unter 8000 Cimvobner nicht berechnet. 

Dieſen Verhältniſſen entſpricht natürlich die Statijtif der Lebrerfeminare — aus 
der übrigens nod jebr deutlich bervorgebt, daß nur cin verbaltnismapig geringer 
Prozentias der Lebrfrajte in den Vereinigten Staaten eine ordnungsmapige Fach— 
bildung bat. Zum Teil bilden aud) die Univerfitaten und Sekundärſchulen in 
befonderen Kurſen Lebrer und Lebrevinnen aus, fo dag als Lehrerbildungsanjtalten 
neber Den 173 Sffentlichen und 109 privaten Seminaren nods eine viel größere Sabl, 
nämlich 959 Anſtalten in Betracht kommen, die Lehrer und Lebrerinnen in Neben: 
furfen ausbilden. Aus den öffentlichen Seminaren gingen im Qabre 1901,1902 
1632 Lebrer und 6952 Lebrerinnen als Graduierte bervor. Cigentiimlicder Weife it 
der Projentjag der männlichen Schüler im Verhaltnis zu den wweibliden in den 
Privatieminaren erheblich größer als in den Hffentlichen, Während in den öffentlichen 
Seminaren die Manner weniger als 25 Prozent der gefamten Schülerzabl ausmachen, 
umfaſſen fie in Privatſeminaren anndbernd 48 Prozent. Worin dieſe eigentümliche 
Erſcheinung — die im ſtrikteſten Gegenſatz zu deutſchen Verhältniſſen ſteht — ihren 
Grund hat, gibt der Bericht nicht an. In öffentlichen und privaten Univerſitäten und 
höheren Lehranſtalten wurden Lehrer und Lehrerinnen in folgendem Zahlenverhältnis 
ausgebildet: 





Bur Statijtit ded weiblichen Unterrichts in den Bereinigten Staaten. 433 


Lehrer Lehrerinnen 


UniverſitätTtenn. 4446619 6171 
Offentliche höhere Lebranftalten . . . . 1913 8570 
Private höhere Yebranftalten 2. 2... 3395 4497 


Um die Siffern der Schiiler und Schiilerinnen in den jogenannten Secondary 
schools richtig zu beurteifen, mug man fich erinnern, daß das amerifanifde Unter: 
richtsſyſtem auf der Einheitsſchule berubt. Die erften act Schuljabre gehören 
unter allen Umſtänden der Elementarſchule. Die hoberen Lebranjtalten bauen auf der 
Elententarjdule auf und umfajjen nur vier Jahrgänge. Daran fdliefen ſich dann 
die Hochſchulen, d. h. die Univerfitdten, techniſchen, mediziniſchen, theologiſchen, 
juriſtiſchen Hochſchulen ꝛc. 

In dieſen vier Jahrgänge umfaſſenden Lehranſtalten, die den Übergang von der 
Elementarbildung zur Univerſitätsbildung bilden, alſo etwa der Unterſekunda bis 
Prima unſerer höheren Lehranſtalten entſprechen — freilich mit Beſchränkung der 
Ziele — überwiegt die Zahl der Mädchen gleichfalls auffallend. Die öffentlichen 
high-schools batten im Jahre 1901—1902 323 697 Schülerinnen gegen 226 914 
Schiller, die privaten 58154 Schiilerinnen gegen 51536 Schüler. Es ijt min 
interejjant, daß aud die Zahl derjenigen weiblichen Schiiler dieſer Anjtalten, die fich 
ausdrücklich auf einen ſpäteren Beſuch der Univerjitét vorbereiten, die der männlichen 
faſt erreicht bat. €8 waren im ganjen 30704 Knaben und 27 987 Madchen. 
Charatterijtijcs ijt dabei, dak der Überſchuß der Knaben ausfeblieflich auf die mathema- 
tiſch-⸗naturwiſſenſchaftlichen Zweige fallt, alſo auf die unferen Oberrealſchulen entſprechen— 
den Anſtalten, während die Mädchen den humaniſtiſchen Bildungsgang bevorzugen. 
Das Verhältnis iſt ſo: 


Knaben Madden 
realiſtiſche Anſtalten . eee) «616406 11 488 
humaniſtiſche Unftalten 2 2. 2. 2 2. 14.298 16 499 


Die Anzahl der Knaben, die fich auf die Univerfitit vorbereiten, ijt in privaten 
Anjtalten eigentiimlicberweije prozentual groper als in öffentlichen. Das Verhältnis 
ijt Das folgende: 


Knaben Madden 
humaniſtiſche.. 409016 5346 
realiſtiſchee... 423421 2791 


UÜbrigens ijt in den letzten zehn Jahren das Zahlenverhältnis der Geſchlechter 
in Den höheren Lehranſtalten faſt konſtant geblieben. Cin klein wenig haben die 
Mädchen gegen die Knaben zugenommen. Im Schuljahr 1891/1892 waren die Knaben 
44,01 Prozent, die Mädchen 55,99 Prozent der Geſamtzahl. 1901/1902 find die 
Knaben nur nod 42,49 Prozent, die Madden 57,51 Prozent. Das Zablenverbhaltnis 
der an höheren Lehranſtalten beſchäftigten Yebrer und Lebrerinnen entſpricht etwa dem 
Anteil der Gefeblechter an dem Sebhiilerfontingent. Cs waren an öffentlichen Schulen 
10958 Yebrer und 11457 Lebrerinnen angeftellt, an privaten 4073 Yebrer und 
5830 Lebrerinnen. Leider ijt aus dem diesjährigen Bericht nicht erfennbar, wie weit 
in Diefem Zweige des Unterrichtswejens Coeducation herrfcht, und das aus den 
Hunderten von Seiten, die Das namentliche Verzeichnis der einzelnen Anſtalten umfaßt, 
auszuziehen, wäre eine Herfulesarbeit. Sieht man aber dieſes Verzeichnis durch, fo 
find in weit iiberwwiegendem Mage von den einzelnen Anjtalten beide Rubriken ,male“ 
und ,female ausgefiillt, alfo Coeducation überwiegt. 

Und nun die Hochſchulen, zunächſt Univerfititen und Colleges. Es bejteben in 
den Vereinigten Staaten 595 Univerjitdten und Colleges, von denen 134 nur Manner 
julajjen, 131 nur Frauen und 330 Manner und Frauen. Dazu fommen 43 techniſche 
Hochſchulen, von denen 27 yugleich von Frauen bejucht werden. 

Die Sabl der ftudierenden Dinner und Frauen bat fich im lesten Jahrzehnt an 
all dieſen Anjtalten in folgender Weife verändert. 

28 





434 Zur Statijtit des weibliden Unterridhts in den Vereinigten Staaten. 





Techniſche Hochſchulen 


Manner 





Univerfitdten fiir Manner und | Univerfitaten 
fiir beide Geſchlechter fiir 
Manner | Frauen Frauen 






Frauen 





6 870 | 707 
| 


1889—1890 ......... 38 056 

1890—1891 ......... 40 089 6 131 481 
1891—1892 2. 06s ess 45 032 6 131 481 
1892—1893 ........4. 46 689 8616 845 
1898—1894 .........- 50 297 9517 | 1376 
1894—1895 ......... 52 586 9 467 * 1 106 
1806 —1806 335 vin Beas 56 556 8 587 | 1 065 
1S9G— 1807 a5 se eenaue 55 755 8907 1 O94 
LOST 1606 2 5.05.0, #959: 58 407 8611 1 289 
1898—1899 .. ...... 58 467 9 038 1 339 
1899—1900 2... eee 61812 10 347 1 449 
1900—1901 ......... 65 069 10 403 1151 
1901—1902 ......... 66 B25 11 808 1 202 


Gin paar furje Angaben feien nocd über die VBeteiliqung der Frauen an den 
Hochſchulen fiir einjelne Zweige akademiſchen Studiums gemadt. Cie find auch 
tabellariſch geordnet am überſichtlichſten. 


Manner Frauen 

Hochſchulen für Theologie. ..... 7 335 108 
je » Surigpudeny .. . . 13 747 165 

a |. Se 25 644 1177 

— „Zahnheilkunde . . . 8258 162 

* — POOLE 5. was 4 209 218 


Vielleicht wird es überraſchen, dak in dieſen Anjtalten die Zabl der Frauen nod 
neben der der Manner faſt verſchwindet. Befonders in den zahnärztlichen Hochſchulen 
jind die Frauen mit einer ganz auffallend niedrigen Zabl vertreten; von den 56 An— 
jtalten nebmen 18 nod) feine Frauen auf. Auch Theologinnen und Juriſtinnen treten 
bier nod) mebr zurück, als man ſich im Ausland gewöhnlich voritellt. 

Etwas giinjtiger ftellt fic) das Verhältnis fiir die Frauen in den landwirtſchaft— 
lichen und fogenannten ,mechanical Colleges“; unter dieſem lester Namen find An— 
jtalten zuſammengefaßt, die, obne die wiſſenſchaftliche Höhe von techniſchen Hochſchulen 
zu erreichen, Kurſe in technologiſchen Wiſſenſchaften eingerictet haben. Colche Kurſe 
ſind häufig landwirtſchaftlichen Schulen angegliedert und entſprechen wobl den Be— 
dürfniſſen der Koloniſten, die in einſamen Farmen zugleich Baumeiſter, Schmiede ꝛc. 
ſein müſſen. In dieſen ſtaatlich ſubventionierten Anſtalten betrug die Zahl der männ— 
lichen Schüler 32517, der weiblichen 9287. Jn den für Farbige eingerichteten Kurſen 
waren 2887 Männer und 2356 Frauen. Dabei ſind auch Schüler, die nur Einzel— 
kurſe belegt haben, mitgerechnet. 

Pfarrer Naumann bat in ſeinem Vortrag über die Frau im Maſchinenzeitalter, 
der kürzlich in München auch im Dru erfecbienen ijt, den wefentlichen Fortſchritt der 
Hrauenfrage darin gefeben, daß es den Frauen gelingt, in die mittleren und oberen 
Schichten der gewerblichen und kommerziellen Berufe einzudringen. Soweit die Statijtif 
der Handelsſchulen Rückſchlüſſe erlaubt, ſcheinen die Amerifanerinnen dazu auf gutem 
Wege. Jn den eigentliden Handelsſchulen — die Handelsfurje, die in high-schools, 
Univerjititen ꝛc. abgebalten werden, follen bier nicht beriicfichtigt werden — alfo in 
den cigentlichen Gandelsfculen waren 81 344 Schüler und 55903 CSchiilerinnen. 
Dieſe Anjtalten find mit ganz geringen Ausnabmen fiir beide Gefadledter beftimmt; 
das namentlicde Verzeichnis weiſt bet jeder eingeluen Manner und Frauen auf. Wie 
weit der Unterricht gemeinjam ift, wie weit er fich etwa in getrennten Kurſen vollziebt, 
gebt aus der Statijtif nicht bervor. 





Nachdrud mit Quellenangabe erlaubt. 


* Prefitimmen zu dem Wabhlredjt der 
Frauen bei den Ranfmannsgeridten. Die 
„Deutſche Zeitung” hat fic) am 3. März in 
langerer Betractung dariiber aufgeregt, daß man 
in der ReichStagsfommiffion den weiblichen An: 
geſtellten das aftive Wablredt fiir die Raufmanns: 
gerichte zugeſtand und aud das paffive nur mit 
minimaler Majoritat ablehnte. Sie warnt bringend 
por dieſem Sebritt und gwar mit folgender tief: 
finnigen politifden Erwägung: 

„Was indeffen vor allem den Politifer abbalten 
mup, Den weibliden Angeftellten das Stimmredt 
gu gewähren, ijt die ſehr berechtigte Befürchtung, 
daß man damit der Sozialdemokratie den größten 
Gefallen tut. Bei der durchaus nationalen Grund: 
ftimmung der mannliden Handlungsgehilfen in 
Deutſchland fann es geradeju als ausgeſchloſſen 
gelten, daß die Sozialdemofratie an den Beifiger: 
wablen fiir bie Kaufmannsgerichte Freude erleben 
wird. Der ſozialdemokratiſche Gebilfenverband 
siblt in ganz Deutſchland nur 1500 Mitglieder 
— die anderen Verbände rechnen nad Zehn— 
taufenden — und von dieſen 1500 find nicht weniger 
als BOO weibliche Ungeftellte der Arbeiterkonſum— 
vereine. 

Alſo da Hat es eine Gefabr, da obnehin die 
anderen Bereine, wir erinnern an den deutſch— 
nationalen, ungemein jeblagfertig organifiert find. 

Ganz anders dagegen fann der Haſe laufen, 
wenn die Frauen das altive Wahlrecht bekommen. 
Der grofte Teil von ihnen wird vorausſichtlich 
nicht zur Urne ſchreiten, weil er fiir Standed: 
angelegenbeiten fein Qntereffe bat. Cine Ausnahme 
von dieſer Regel aber werden die weiblichen An: 
gefteliten der Warenhäuſer und vor allem die der 
Ronfumvereine machen; und fie gerade find es, die 
infolge der Berührung mit ibren vielfach jüdiſchen 
Geſchaftslollegen ſozialdemokratiſchen Bertretern 
ihre Stimme zuwenden dürften.“ 


Ob die „Deutſche Tageszeitung“ nur übergeht, 
oder ob fie wirklich nichts ahnt von den 15.000 in 
den Hilfsvereinen der weiblicen UAngeftellten organi: 
ſierten Handelsgebilfinnen, die ibre ,,Schlagfertige 
teit“ und ihr Intereſſe an den öffentlichen Rechten 
ibres Standed wahrlich oft und deutlich genug ge: 
zeigt haben? 

Sehr wobhltuend berührt dagegen die rubige und 
gerechte Befpredung der gangen Frage durch die 


ae 


—* 


„Deutſche Warte“. Nachdem fie aud fiir bas 
pafjive Frauenwablredt mit allem Nachdruck ein: 
getreten ift, ſchließt fie: 

„Merkwürdig ift und bleibt dieje Angſt vor der 
Teilnabme der ate an den öffentlichen Ange: 
legenbeiten, die fo nabe angeben, die damit be: 
gründet wird, daß ihnen alsdann aud) an anderen 
Offentlichen Einrichtungen, wie am Gewerbegeridt 
ufw., diefe Teilnahme eingeräumt werden müßte. 
Erflens einmal wäre das abſolut fein Unglück, 
ſondern nur eine ſehr gerechte Neuerung, die in 
anderen Staaten, die ſonſt gar nicht in Bezug auf 
ſozialpolitiſche Neuerungen an der Spitze der Zivili— 
ſation marſchieren, wie Oſterreich, bereits eingeführt 
iſt. Zweitens würden jedenfalls die Erfolge des 
erſten Experimentes abgewartet werden, ehe an 
eine Nachahmung geſchritten wird. Werden alſo 
dic Erfahrungen, die man mit dem Frauenwahl⸗ 
recht bet den Kaufmannsgerichten macht, ſchlechte 
fein, dann wird man ja die ſchönſte Ausrede baben, 
eS ihnen gu anderen dffentliden Einrichtungen zu 
verfagen, und find die Erfabrungen im Gegentgil 
gute, dann bat bas Frauenwablredht feine Be— 
rechtigung eriviefen und dann ift fein Grund abs 
sufeben, warum man es ihnen gu den Gewerbe- 
geridten, an denen fie fo ſtark beteiligt find, nicht 
aud gewähren ſoll.“ 

Ahnlich äußert ſich in der „Solinger Zeitung“ 
ein „unparteiiſcher, national geſinnter Handels— 
gehilfe“ unter dem Eindruck des rheiniſch-weſt⸗ 
fäliſchen Handelsgehilfentages, der das Frauen: 
ſtimmrecht rund ablehnte. 

Auf das Schickſal dieſes Paragraphen der 
Vorlage im Plenum darf man nun geſpannt fein. 
Bekanntlich haben die verbiindeten Regierungen 
erflirt, daff dad Gefets durch die Aufnabme felbft 
des aftiven Wahlrechts der weibliden Angeftellten 
fiir fie unannebmbar würde. Sachliche Griinde 
fiir dieſe Stellungnabme find nicht angefiihrt 
worden. Biclmebr ftellen fie fich lediglich auf den 
Pringipienftandpuntt, bet einem Sondergeſetz ,,den 
wichtigen Grundſatz unferer ganzen Berfaffung 
und Berwaltuna, daß nur die Mitglieder ded 
männlichen Geſchlechts das altive und paffive 
Wahlrecht ausiiben follen”, nicht gu durchbrechen. 

Nach diejen biindigen Erklärungen der Staaten, 
die im Bundesrat die Majoritat bildben (von 

28* 


436 


Sur Frauenbewegurg. 


58 Stimmen verfiigen fie über 31) ſcheint nicht | von politifden und firdlidien Berfantmlungen. 


viel Ausſicht, daß das Plenum in der zweiten 
Refung bas Frauenſtimmrecht fefthalten wird. 


* Die Petition bes Allgemeinen Deutſchen 
Frauen Vereins, dic Ausbildung von Wewerbe: 
injpeftorinnen betreffend, ift vor furgem im 
Petitions: Wusfhuf der Bavyerifden Kammer der 
Wbgeordneten yur Verbandlung gefommen. Die 
Petition wurde fiir bie Crérterung im Plenum 
nicht geeignet befunden, „da dad jegige Inſtitut der 
weiblicden Gewerbeaufſichtsbeamten bisher gu keiner 
Unjufriedenbeit Anlaß gegeben bat und deshalb 
gurgeit fein Grund beftebt, auf eine Anderung cin: 
zugehen.“ 

Der Landtag des Fürſtentums Schwarzburg— 
Sondershauſen hat dagegen in ſeiner Sitzung vom 
12. Februar 1904 beſchloſſen, „mit Rückſicht auf 
bie ſozialpolitiſche Bedeutſamleit ber Frage und auf 
bie im der Petition enthaltene banfensiverte Wn: 
regung die Petition ber Fürſtlichen Staatsregierung 
als Material yu iiberweijen.” 


* Cine „deutſche Arbeiterinnenseitung’ wird 
feit Februar d. J. von ber Rentralftelle fiir 
Urbeiterinnenorganifation des Berbandes Fort: 
ſchrittlicher Frauenvereine herausgegeben, Das 
Blatt ift politiſch und religids neutral und wird 
mit Nachdruck die Anterefien der Arbeiterin ver: 
treten. 


Befreiung der Arbeiterin vor wirtſchaftlicher Aus— 
beutung“ kennzeichnen die Tendenz des Blattes, 


hat. Das Blatt wendet ſich in erſter Linie an 
die Arbeiterinnen ſelbſt, daneben bezweckt es auch, 
in anderen Frauenkreiſen erhöhtes Verſtändnis und 
regeres Intereſſe für die Lage der Arbeiterin zu 
erwecken. — Das Blatt erſcheint monatlich einmal, 


zunächſt im Umfange von 4 Seiten, ſpäter 
8 Seiten im weiten Kreiſen dads Abonnement 


zu ermöglichen, iſt der Abonnementspreis äußerſt 
niedrig angeſeyt: jährlich BO Pf. vierteljährlich 
20 PF. Gegen Einſendung des Betrages in Brief— 
marten an die Erxpedition ded Blatted, z. H. 
Fräulein Klara Schleker, Berlin W., Deſſauer 
Straße 23, erfolgt freie und prompte Zuſtellung 
durch die Poſt. 


*Das Bereinsgeſetz und die Frauen in 
Brauuſchweig. Der Braunſchweiger Landtag bat 
in letzter Stunde dem Frauenparagraphen in der 
Vereinsrechtvorlage bod noch einen anderen Wort: 
faut gegeben. Es twurde am 19. Mary cin Antrag 
angenommen, demzufolge Fraucn an folden Ver: 
fammlungen tet(nebmen diirfen, in denen Berufs— 
interefjen beraten werden. Ausgeſchlofſſen find fie 


— _ 


Dic Worte des Leitartifels der erften | 
Nummer: ,,Befreiung ber Wrbeiterin ale Frau, ; 





| Snfonjequengen“). 


Gewährt diejer Beſchluß aud gegeniiber 


| anbeimguftefien. 


der 
Regierungdvorlage den Frauen weiteren Spielraum, 
fo fcheint er bod) wieder wie in Breufen dic 
Entideidung, ob politiſch, ob nicht, gang der Polizet 
Gr fiibrt gerade den unbaltbaren 
Zuſtand cin, der in Preußen alle vie Curiosa ber 
Polizeipraxis gegeitigt Hat. 


* Die Anjtellung einer Arztin gur Unter: 
ſtützung des Stadtarztes ijt in Frantfurt a. M. 
befehloffen worden. Die Stadtocrordnetenfigung 
bat ben Antrag, der von ben Arzten [ebbaft 
betadmpft wurde, ſchließlich mit grofer WMajoritar 
genebmigt. 


* Die erjte Direftorin ciner ſtädtiſchen Schult 
ift kürzlich in Berlin ernannt worden. Es bandeit 
fic) um cine ber ſtädtiſchen Fortbildungsſchulen 
fiir Madchen, deren Leitung von Fraulein Schal 
born, bisber Oberlebrerin an der Luiſenſchule, 
iibernommen werden wird. 


* Die Sulaffung gum Gramen pro facultate 
docendi ift nun endlich aud in Preußen einer 
Ubiturientin, die Mathematit ftudtert bat, gewabrt 
worden. (val. Februarhejt der Frau: , Bebsrdlide 
Der minifteriellen Berfiigung, 


| die thr anbeimftellt, fich bei ber fonigliden Prüfungs 


deſſen Scbriftleitung Elſe Lüders fibernommen | Men TE eriolithe. 





fommijfion gu melden, ift bie Bemerfung binju- 
Aefiigt, daß fie durch bas Befteben des Examens 
ein Ret auf Anftellung im Sffentliden Schul 
Wir diirfen troy bicfer vor: 
faufig wohl erflarliden Einſchränkung die €r: 
fiillung einer feit Jahren immer wieder geftellten 
Forderung mit Freubde begriifen, um fo mehr, als 
ibre Tragiveite fiir die ganze Frage der Wadden: 
gymnaſien und der Yebrerinnenbilbung außer— 
ordentlich groß ijt. 


Der Entwurf eines Arbeiterinnenſchutz 
geſetzes für Bafel-Stadt, ber focben vom He- 
gierungsrat bent Großen Rat vorgeleat worden tft, 
greift auf die Anträge von 1496 zurück, die cine 
Revifion bed Arbeiterinnenſchutzgeſetzhes von 1888 
im Sinne einer Reduktion ber täglichen Arbeitszeit 
neben gleichzeitiger Errichtung eines kantonalen 
Gewerbeinſpeltorats forderten. Während die letztere 
Forderung bereits 1901 erfüllt wurde, ſoll die 
erſtere nunmehr zur Verwirklichung gebracht werden, 
Die Vorlage beſchränkt ſich nicht auf die Arbeits 
zeitverlürzung von 11 auf 10 Stunden, ſondern 
jtrebt gugleich cine Ansdebnung des Geltungs 
bereiches ded Geſetzes auf famtlide Ladengeſchäfte 
an; nur fiir iiber 18 Sabre alte Berfiuferinnen 
barf die tägliche Arbeitszeit 11 Stunden betragen. 


Zur Fraucnbewegung. 


Die Mittagspaufe betragt 1'/. Stunden. File jeden 
Sonntag, an bem die Verkäuferin beſchäftigt ift, ift 
cine entſprechende Zeit an einem Werktage frei 
gugeben. Für die fonftigen UArbeiterinnen gilt 
ftritte SonntagSrube. Uber die geſetzliche Arbeits— 
seit binaus Arbeit mit nad Haus gu geben, iſt 
verboten. Ausreichende Sitgelegenbeit und Re: 
duftion ber guldffigen Geloftrafen auf höchſtens 
', ded Tagelobnes (bisber '/2) wird gefordert. 
Wöchnerinnen diirfen vor und nad) ibrer Niederkunft 
im ganjen wabrend 8 Boden nicht befcbaftigt 
werden. Die Mberjeitarbeit wird eingeſchränkt 
auf ausnahmsweiſe täglich 2 Stunden. — In— 
tereſſant iſt die Begründung der Arbeilszeitver— 
kürzung: Das kantonale Schutzgeſetz Lanne ſehr 
wohl über den 11-Stundentag des eidgenöſſiſchen 
Fabrikgeſetzes hinausgehen, weil dieſer Arbeitstag 
längſt aufgehört hat, die Regel zu bilden. 1901 
batten von ben ſchweizer Fabriken nur noch 47°, 
mit 41,1. %o ſämtlicher Arbeiter ben 11 Stundentag, 
bagcaen 9°, mit 12,,%, der Arbeiter den 
10 4/, ſtüundigen. 35,,°, der Betriebe mit 38, %/ 
ber Wrbeiterfdaft ben 10ſtündigen und der Reft 
der Betricbe einen nocd fiirgeren Arbeitstag. Der 
Sebnftundentag hat übrigens bereits in dem Ar— 
beiterinnenſchutzgeſez des Rantons Zürich yom 
Sabre 1894 Aufnahme gefunden. Mit der Mus: 
dehnung diefer Arbeitszeitverlürzung auf bas Laden: 
perfonal aber geht der anton Baſel bahn— 
bredend voran; denn die Normalarbeitswode von 
65 Stunden, die bas neuenburgifde Geſetz von 
1901 und der waadtländiſche Entwurf von 1903 
vorfeben, garanticren den Ladnerinnen damit dod 
ben Rebnftundentag nod nicht. Sehr niiglich iſt 
aud cine Beftimmung des neuen Bafeler Entwurfs, 
bie die Beſchäftigung von Madden unter 14 Qabren 
in gewerblichen Getrieben, deren Möglichkeit dic 
bidherigen Geſetze offen lichen, verbictet, fowie cine 
ganze Reihe fanitarer Beſtimmungen iiber die Ar: 
beitsräume und Vorſchriften über Urbeitsordnungen, 
Schlichtung von Streitigtciten ufw. Sämtliche der 


von dem Entwurf geregelten Betriede follem der — 


Fabrilinipeftion unterftelt werden. Der Entivurf 
der Revifionsvorlage foll von dem ſozialiſtiſchen 
Regierungsrat Wullſchleger herriibren.  (Sogiale 
Praris vom 25. Febr.) Ym Ranton Wargau ijt 
ein Arbeiterinnenſchutzgeſez angenommen worden, 


bas den Arbeiterinnen der Konfeltionsgeſchäfte, den 


Wäſcherinnen, Verläuferinnen und den WAngeftellten 
in Gaftiwirtidaften gewiffe Erleicterungen bringt. 
Die Maximalarbeitszeit ift bier fiir die Urbeiterinnen 
11 Stunden, an Borabenden von Sonn: und Feier 


437 


tagen 10 Stunden. An diejen Tagen muß um 
4 Uhr gefdloffen werden. [bergeit mug mit 25 #/, 
Lohnzuſchlag vergiitet werden und barf 2 Stunden 
täglich während ber Dauer von langftens 2 Monaten 
nicht iiberfdjreiten, Für die Ladnerinnen wird 
einftiindige Pauſe im Lauf des Tages und eine 
ununterbrodene Nachtruhe von 10 Stunden, fowie 
Sibgelegenbeit gefordert. Weibliche Bedienftete in 
Gaſtwirtſchaften haben das Hecht auf 8 ftiindige 
Rubeseit. Sie müſſen im Monat mindeftens einen 
freien Sonntag und an einem andern Sonntag 
Beit gum Gottesdienft baben. Für jeden Sonntag, 
an bem fie beſchäftigt find, ift ihnen ein balber 
freier Worhentag zu gewahren. — Dies find die 
weſentlichſten Beftimmungen aus einem Geſetz, dads 
freilic) nod) keineswegs dad ſozialpolitiſch Wilnfdend- 
werte fichert, aber dod) gegen bisherigen Zuſtände 
einen bemerfendwerten Fortſchritt bezeichnet. 


* Die Rulafiung der Frauen zur Advofatur 
ift von der italienifcen Rammer kürzlich genehmigt 
worden. Es ſcheint aber nicht viel Ausſicht gu 
fein, daß ber Gefegentivurf vom Senat angenommen 
wird, 


*Weiblide Juriften in Norwegen, Kürzlich 
bat nad bem Borgang des OdelSthings auc das 
Lagthing den von der Regierung vorgelegten 
Gefegentwurf iiber bie Zulaſſung von Frauen 
als Redtsanwalte und Advokaten mit 19 gegen 
10 Stimmen angenommen. 


* Fortbiloungsturfe fiir Fabrifarbeiteriunen 
beabfichtigt der Grafſchaftsrat in London ein: 
surichten. Es follen Tages: und Abendfurfe ein: 
gerichtet werden, in benen die Schülerinnen unter 
anbderem auc) in Sinderpflege unterwiejen werden 
follen. Die Rurfe ftehen unter Leitung von 
Mrs. Creighton, der Witwe des friiberen Biſchofs 
von London. 


* tin bie Frage eines ,,humaneren und wir: 
ſameren Syjtems zur Befampfung der Ans: 
dehuung der veneriſchen Krankheiten“ zu ftudieren, 
bat die ſchwediſche Regierung cine Kommiſſion 
eingeſetzt. Der Rommiffion, die vom Konig crnannt 
worden tft, gehören an: der Gouverneur einer 
Proving, zwei männliche Arzte fowie cine Arztin, 
ein Polizeilommiſſar, ein Juriſt und Otto Weſtenberg, 
ber ein eifriger Vorkämpfer der abolitioniſtiſchen 
Bewegung in Schweden iſt. Die betreffende Arztin 
iſt Dr Alma Sundquiſt, die in der Allgemeinen 
Poliflinit in ber Wbteilung fiir Frauenleiden und 
veneriſche Rrantheiten wirkt. 


—öæ 





Quternationaler Franenfongref. 


Dem Bericht deS Bundesorgans iiber die Vor— 
ftandsfigungen des Bundes deutſcher Frauenvereine 
am 29, Februar und 1. Marg fet im bejug auf den 
Kongreß folgendes entnommen: 

Im Anſchluß an die ausführlichen Berichte der 
Borljigenden über die Borbereitungsarbeiten ded 
Organifationsfomitees und der Borfigenden ded 
Berliner Lofalfomitees iiber die getroffenen lokalen 
Vorbereitungen gum Ynternationalen Frauenkongreß 
wurbe das gange Programm nun endgiltig feft- 
geſtellt, ſowohl in bezug auf die Arbeitsfisungen 
und großen Propagandaverfammlungen, wie auf die 
ju einem wiirdigen Empfang der bereits zahlreich 
angemeldeten fremben Gaſte vorgefebenen Ber: 
anftaltungen, Cmpfinge, Ausſtellungen, Auffüh— 
rungen 2. Ferner wurde iiber bie verfdiedenen 
Abzeichen fiir 1. C. W. und Kongreß, die Teil 
nebmerfarten, die Cinladungen und den Verkehr mit 
der Preffe, das Kongreßhandbuch, das Bilderalbum 
u. a. Beſchluß gefaßt. Bon ftenograpbifden Be— 
richten und der ſpäteren Herausqabe eines Kongref- 
werles beſchloß der Borftand abjufeben, da nach 
allen bi8berigen CErfabrungen das Bedürfnis und 
ber Mugen eines derartigen Werfes qu der grofen 
Muhe und den bedcutenden Koften, die es ver: 
urjacht, in feinem Verhältnis fteben. 

Da das ganze Kongrefprogramm ſpäter im 
Sentralblatt verdffentlicht werden wird, fei bier 
nur die Tagesordnung der fiinf öffentlichen Ver: 
fammlungen, wie fie nunmebr feftgeftellt ift, mitgeteilt: 

Montag, den 13. Juni, Abends 8 Uhr: 
„Der Stand ber Frauenbewegung in den 
Kulturländern“. 

Dienstag, den 14. Juni, Abends 8 Uhr: 
„Frauenlöhne“. 

Donnerstag, den 16. Juni, Abends 8 Uhr: 
„Das Verhältnis der Frauenbewegung 


zu den politiſchen und konfeſſionellen 
Parteien“. 
Freitag, den 17. Juni, Abends 8 Uhr: 
„Frauenſtimmrecht“. 


Sonnabend, den 18. Juni, Nachmittags 4 Uhr: 
„Grundlagen und Ziele der Frauen— 
bewegung“. 

Schluß des Kongreſſes. 

Uber die Sitzungen der Seltionen wird die 
Tagesordnung demnächſt auch von einzelnen feſtgeſtellt 
werden. Da die Sektionen gleichzeitig tagen und fo: 
mit zur Erörterung ihrer Gebicte wenigſtens in großen 
Umriſſen Zeit haben, ſo iſt zu erwarten, daß es zu 
einer wirklich fruchtbaren Ausſprache über Fragen 
von internationaler Bedeutung kommen wird, 


— 


| 
| 


| 


I. Yuternationaler Schulhygiene-Kongreß. 
Nürnberg 4.—9, April. 

Qn der Wode nach Oftern tagt in RNiirnberg 
der I. Ynternationale Kongreß fiir Schulbpagiene, 
in erfter Linie von Medizinern berufen. Aber 
aud) cine Reibe nambafter Padagogen nimmt durch 
Vortrage und Referate an demielben teil. Das 
Programm ijt cin auferordentlic) reichbaltiges. 
Auf die offigiellen Referate folgen in elf Abteilungen 
lange Reihen von Vorträgen. Bon Fragen, dic 
aud fiir unfere Frauenkreiſe cin ganz ſpezielles 
Intereſſe baben, fommen — in Referaten — wu. a. 
folgende zur Verhandlung: Mbt. IV. Koédukation 
(Ref. Prof. Hertel ArelsRopenbagen und Prof. 
Palmberg-Helfingfors). Wht. V. Hygieniſche 
Unterweifung der Schiller (Ref. Prof. 
Wernide-Pofen) und verſchiedenſte Bortraac. 
Mbt. IX. Elternabende (Ref. Stadticulrat Wei f- 
Niienberg). Wht. AL. Die Bedeutung ſchul— 
hygieniſcher Beftrebungen fiir die Frauen 
und fiir die Familie (Ref. Frau Elsbeth 
Krutenberg- Kreujnad, Fraulein Helene 
Sumper-Miinden), Die beiden legten haben 
folgende Theien aufgeſtellt: 

1. Es ift notwendig, in Frauentreifen Ver: 
ftandnids und Intereſſe fiir ſchulhygieniſche 
Fragen su weden, weil 
a) der giinftige Einfluß ſchulhygieniſcher 

Maknahbmen durch unverjtandiges Ent: 
geqenarbeiten von Seiten der Mütter 
vielfach vernichtet wird, 

b) die Arbeit der Miitter an gefunder 
firperlicher und ſeeliſcher Cntwidlung 
ibrer Kinder bei feblender Unterftiitung 
durch gecignete ſchulhygieniſche Wap 
nabmen gleichfalls gu ciner vergeblichen 
wird. 

2. Der Cintritt erjabrener Frauen (Mütter 
und Lebrerinnen) in die Rommifftonen und 
Ruratorien der von Mädchen bejuchten 
Schulen ift in ſchulhygieniſchem Intereſſe 
dringend zu wünſchen. 

3. Einſtellung von Schulärztinnen in den 
gleichen Schulen iſt warm zu befürworten. 

4. Im Intereſſe jeder Familie liegt es, daß 
in Knaben- und Mädchenſchulen (Bolts: 
ſchulen und höheren Lebranftalten) auf: 
Elarender Unterricht iiber Gefundbeits- 
lehre nicht nur im Legten Schuljabre, fondern 
vom erften Schuljabre an in regelmäßiger 
Wiederholung erteilt wird. (Mit Hinsweis 
auf die in Amerika getroffenen Einrictungen). 


Bur Frauenbewegung. 


Frau Rrulenberg wird fpegiell die Qntereffen 
der Miitter betonen und die höheren Schulen beriic: 
fichtiqen, wabrend Fraulein Sumper auf die Volls— 
und Fortbilbungéfdule im befonderen  eingeben 
wird. 

Auch in Wht. X. referiert eine Frau: Dr med. 
Frl. von Tuſſenbrok-Amſterdam.  Vorfigende 
ded empfangenden Damen-Ausſchuſſes iſt Frau 
Helene von Forſter, gugleid) Delegierte ded 
Allgemeinen Deutiden Frauenvereing. 

Wir madden unfere Lejerinnen auf die Ber: 
handlungen dieſes Rongreffes noc) einmal dringend 
aufmertiam, 


Wiffenfdjaftlide Kurfe gum Studinm des 
foholismus, 

(Abgehalten in Berlin vom 6.—9. April 1904 im 
Baraden-Auditorium der Univerfitdit, Cingang 
Raftanienwaldden.) 

Programm: 

1. Dien8tag, 5. April. 


1O—11: Geſchichte des Rampfes gegen den 
Alloholismus. 
Franziskus Hähnel, Bremen. 
11—12: Allohol und Vollswirtſchaft. 
Dr med. A. Grotjahn, Berlin. 
4— 5: Gefchichte des Kampfes gegen den 
Alkoholismus. 
5 — 6: Einwitkung des Allohols auf Körper und 
Geiſt. 


Profeſſor Dr Grawitz, dirig. Arzt 
am ſtädt. Krankenhauſe in Char— 
lottenburg. 


2. Mittwoch, 6. April. 
: Der Altoholismus und die Arbeiterfrage. 
Dr Georg Keferftein, Liineburg. 
: Alfobol und Volkswirtſchaft. 
> Ulfobolismus und Projtitution. 
Dr med. Agnes Hacer, Berlin. 


5— 6: Cinwirfung ded Alfohbols auf Körper 
und Geift. 
3. Donnerstag, 7. April. 
10—11: Geſchichte ded Rampfes gegen den 
Wlfoholismus. 
11-12: Altohol und Volkswirtſchaft. 
4— 5: Alfobol und Berbrechen. 
Profeffor Dr Afdaffenburg, 
Halle a, S. 
5— 6: Wirfung bes Alkohols auf die Nach— 
fommenfcbaft. 
Drmed.UlfredPloeh, Schlachtenſee. 
4, Freitag, 8. April. 
10—11: Alfobol und Verbreden. 


: UAllCobolismus und Proftitution. 

> Wirtung des Wlfohols auf die Nach: 
tommenſchaft. 

Der Alkoholismus und die Arbeiterfrage. 


5. Sonnabend, 9. April. 
Wirkung des Allohols auf die Nach— 
lommenſchaft. 


5— 6: 


1O—LI: 


11—1]2: 
gegen ben Alkoholismus. 
Dr med, Trüper, Jena, 
Schule und hausliche Erziehung im Kampf 
gegen den Alloholismus. 


5— 6: 


Schule und hansliche Erziehung im Kampf | 





439 


Teifnehmerfarten à 6 WM. durch bie Geſchäfts— 
ftelle fiir Wohlfahrtsbeſtrebungen in Charlottenburg, 
Krummeftrafe 89. Su eingelnen Vortragen Karten 
40,50 M. Wir weijen auf dic Kurſe noc einmal 
naddriidlich bin; es find die berufenjten Kräfte fiir 
die cingelnen Bortrage berangesogen worden, jo dah 
dieſe Kurſe eine auf feftefter wiffenfdaftlicher 
Grundlage rubende Cinfiibrung in die Frage des 
Wtoholismus geben. 





Berein fiir ,,voriibergehende Hilfe im Haushalt“. 
(Berlin.) 

Welder Haushalt ift wobl nicht ſchon in die 
Lage verſetzt worden, bet Erfranfung der Hausfrau, 
der Rinder oder des Perfonals, beim Wochenbett 
uſw. gang, plötzlich cine Aushilfe in Anfpruch 
nehmen zu müſſen, die vorübergehend die Lücke 
auszufüllen imſtande fein ſoll, die durch ſolche Vor— 
tommniſſe entſtanden. Zu dieſem Zweck bat ſich 
der Verein fiir „Vorübergehende Hilfe im Gaus: 
halt” fonftituiert, ber, alS Zweigverein ded. Haus: 
beamtinnen: und Sauspflegevereins, feit nun bald 
einem Sabre auf feine vielbegebrte und ſegensreiche 
Tätigkeit zurückblickt. 

Er hat ſich die Aufgabe geſtellt, geeignete, nur 
gut empfohlene, ehrbare, zuverläſſige und erfahrene 
Frauen nachzuweiſen, welche die ihnen anvertraute 
Arbeit tage:, wochen⸗ und monateweiſe übernehmen. 
Dieſelben refrutieren ſich aus den einfachen und 
aus den befferen Kreiſen und find je nach dem ge: 
willt, mit oder obne Hilfe von Dienftperjonal ein: 
autreten. Die Vermittelung von Dienſtmädchen und 
Reinemachefrauen iibernimmt der Verein nicht, um 
cinmal die vielen Gefindevermittelungsbilreaus, in 
denen dieſe geniigend Auskunft erhalten, nicht nod 
u vermehren, gum andern, um nicht aus dem 

abmen der bumanen Beftrebungen herauszutreten. 

Es werden nun ſowohl Uuftraggeber wie Stellen: 
fudende, letztere find gu Zeiten, um die vielen 
Nachfragen gu decken, febr ftarf begebrt, erfucht, ſich 
ſchriftlich, mündlich oder telepbonifd) an unfere 
drei Sprechftellen gu wenden, bei denen Aufträge 
und Muefiinfte ſchnellſtens erledigt werden. 

1 Bei Frl. A. Mery NW. 23, Siegmunds- 
bof 17, Gartenbaus part., Dienstag und Freitag 
pon 2—3 Uhr. 2. Bei Frl. KR. Schwerin W 30, 
Lutberftr. 30 J, Montag und DonnerStag von 
4—5 Ubr. 3. Bei Frl. Marg. Miller SW 47, 
@rofbeerenftr. 28a Wmt Via 10997, Mittwoch 
und Gonnabend 10'/,—12 Ubr. 


Der Frauen-Rettungsverein 


(Berlin, Gr. Hamburgerſtr. 10°11) erläßt einen 
Aufruf sur Griindung eines Aſyls fiir Gefallene, 
in dem Madden in jedem Augenblid, bei Tag 
und Racht, unentgeltlich Aufnahme und Shug 
finden. An dieſes Aſyl foll fic ein Arbeitsfaal 


anſchließen, in welchem dicjenigen Madden, die 


forperlich, beziehungsweiſe moralifd zu ſchwach 
ſind, um in einer Fabrik uſw. tätig zu ſein, ſich 
unter Aufſicht einer Dame zu beſchäftigen haben. 
Der Arbeitslohn ſoll den Mädchen unverkürzt zu— 
fließen, damit die Arbeitsluſt durch den Verdienſt 
geweckt und gefördert wird. Zugleich ſollen fie ſich 
vorerſt wieder an leichte Arbeit und an den Ver— 


lehr mit geſitteten Menſchen gewöhnen. 


440 


Insbeſondere aber betrachtet eS ber Frauen: 
Rettungdverein als eine feiner wichtigſten Buf: 
gaben, fich in Berlin um das weitere Fortfommen 
der Madden au bemilben, die nad Qabr und Tag 
aus den Befferungsanitalten entlaffen, aufs neue 
den Berfilbrungen der Grofftadt ausgefegt find. 


Der Verein wendet fic) mit einem warmen 
Appell an alle Frauen und Manner, die imftande 
find, das Unternehmen ju unterftiigen. Wir geben 
dbiefen Appell mit bejonderer Freude weiter. Wird 
aud ſolche Rettungsarbeit unter ben Taufenden, 
die unſeren twirtidaftliden Berbaltniffen und 
ſozialſittlichen Zuſtanden gum Opfer fallen, immer 
nur einzelne erreichen — auch fiir diefe einzelnen 
follte fcine Miihe gu groß erfebeinen, und je weiter 
das Arbeitsfeld, um fo wertvoller ift jede neue 
Kraft, die eingeſetzt wird, — Dads Komitee des 
Vereins befteht aus folgenden Damen: Pringeffin 
Elifabeth Radbgiwill, (Kurfiirftendamm 242), 
@rafin Talleprand-Perigord, Frau Wanda 
von Lukowitz, Freiin Elfp von Wangen: 
beim, Freifrau F. von Redlig-Leipe, Fraulein 
Regina Kilz, Frau Dr A. Dosquet. 
Spenden und Jahresbeiträge nimmt  entgegen: 
Die Deutſche Bank und deren Depofitenfafjen in 
Berlin unter der Moreffe: „Für den Frauen: 
Rettungsverein”, ferner: Herr Bankier Bernhard 
Kilz, Berlin, Wilhelmftr. 43, 1. 


Der Frankfurter Franenbildungsvercin 


bielt am 24. Februar feine 27. Generalverfamm: 
lung ab. Dem Bericht, der dieſes Jahr nicht im 
Druck erſcheint, entnebmen wir Nachſtehendes. Der 
Verein zählte im Jahr 1903: 686 Mitglieder. Auch 
im abgelaufenen Jahr bat der Verein eine erſprieß— 
fiche Tätigkeit entfaltet. Cine betradtlide Anzahl 
Schitlerinnen bat in demjelben die erboffte Wud: 
bildung erlangt. Die jungen Madchen verwerten 
das CErlernte teils in beruflicher Arbeit, teils gum 
Nutzen der cignen Familie. 


Die Gewwerbe:, Handels- und Fortbildungsſchule 
war von 403 Sehiilerinnen befucht, welche 1010 
Kurſe belegten. Nambafte Preisermäßigung wurde 
4 Schülerinnen gu teil. Soweit zu unſerer Kenntnis 
gelangt iſt, fanden 118 Schülerinnen Anſtellung 
oder ſelbſtandige Beſchäftigung. Zwolf beſtanden 
die Prüfung für Handarbeitslehrerinnen an höheren 
Schulen. 


Im Monat Oftober ließen wir auf Wunſch der 
ſtädtiſchen Bebdrden die HandelSturfe eingeben, da 
die Stadt felbft cine Handelslehranſtalt aud) fiir 
Madchen, mit eins und zweijährigem Kurſus im 
Yaufe des Sabres eroffnet hatte. Cin Teil der 
bisher bet uns angeftellten Yebrfrafte wurde, fo: 
weit diefe es wünſchten, an der neu cingerichteten 
Schule beſchäftigt. Die Sabl der Penfiondrinnen 
betrug 7. Die jungen Mädchen bejuchten die 





Sur Frauenbewegung. 


Sdulvorftehberin Fraulein Agnes Perbhi 
unterftellt. 

Die Kochſchule war von 87 Schülerinnen be: 
fucht. Außerdem wurde im Sommer cin Einmach 
turjus abgebalten. Qn der Speifeanftalt fir Damen 
find 15129 Portionen Effen verabreicht worden, 
wabrend nod durch bie Borftandsmitglicder feinere 
Speifen Abnabme fanden. 

Der Kurſus fiir Hausarbeit wurde hauptſächlich 
ot Rindergirtnerinnen und von Penſionärinnen 
beſucht. 

Den Bügelkurſus beſuchten 23 Schülerinnen 
mit gutem Erfolg. Im Herbſt und Fruhjahr fanden 
je ein Servierkurſus ſtatt. Am Schluß desſelben 
veranſtaltete der Vorſtand das eine Mal ein Abend⸗ 
eſſen, das andere Mal einen Thee, um ſich von den 
Erfolgen des Unterrichts perſönlich gu überzeugen. 
Für beides wurden ſelbſtverſtändlich die Speiſen in 
der Kochſchule zubereitet. 

Den Kindergarten I beſuchten 65, den Kinder— 
garten I] 40 Kinder. Im Seminar fiir Rinder- 
gärtnerinnen und Rinbderpflegerinnen waren 32 
Schiilerinnen, von denen Oftern 10, im Herbft 7 
ihre Priifung beftanden und ſämtlich teil in Fa— 
milien, teils an Kindergärten Stellung fanden. 
Auf unfer Gefuch erbielten wir fiir bad Seminar 
die ftaatliche Konzeſſion. 

Im Frühjahr fand, wie alljabrlich, cine qut bes 
ſuchte Wusftellung von Sehiilerinnenarbeiten ftatt. 

Die ausſcheidenden Vorftandsmitglieder wurden 
— foweit fie cine Wiederwahl annahmen — wieder 
erwählt. Neu treten hingu Frau O. &. GR. Simon 
und Fraulein Marie Hartmann. 





Kaſſeler Fröbellurſe. 


Bur Förderung der Fröbelſchen Pädagogil in 
Kindergarten und Schule richtet das Naffeler 
Frobeljeminar vom 19, Juli bis 2. Muguft fir 
Kindergdrtnerinnen, Lehrer und Lebrerinnen cinen 
Fortbiloungsturfus in Theorie und Prarié der 
Fröbelſchen Pädagogik ein. 

Um möglichſt vielen Damen und Herren die 
Teilnahme an dem Kurſus zu ermöglichen, ſollen 
die Koſten für Wohnung, volle Beköſtigung und 
fiir Vorleſungen mit praltiſchen Übungen, ing 
geſamt nur 60 Mark betragen. 

Um bet dieſem Ferienklurſus auch Erholung zu 
bieten, werden Ausflüge in die herrliche Umgegend 
Kaſſels, Führung in Muſeen und Gallerien ſich 
der Arbeit anſchließen. 

Programme ſind zu beziehen und Anmeldungen 
find ju richten an Fraulein Hanna Mecke, Leiterin 
des Kindergärtnerinnen Sentinaré, oder Rektor 


— Hend, Leiter der Volksſchule Rothenditmold Kajiel. 


Näheres durch das RKuratorium des Evangelifdren 


| Frobeljeminars Raffel. 


Sule ein Sabr und nahmen faft an allen Stunden | 


teil. Sie find der forafamen Leitung unferer 


ES wird zur Fortſetzung ded Kaſſeler Frobel: 
turjus die Teilnabme an einem „Ferienkurſus in 
Sena” (4.—19, Wuguft) empfoblen. 





„Peter Camengzind’ von Hermann Hefie. 


Berlin. S. Fifer Verlag. Als wenn die Pra: 
raphacliten in der Yiteratur das Wort ergriffen, 
fo mutet die Gefcichte des Peter Camenzind an. 
ber der Wirrnis und Zerfaſerung, der qualenden 
Bewußtheit des ſeeliſchen Lebens der Moderne ſteigt 
dad grofe, unendlidd cinfade Evangelium der Liebe 
auf mit feiner unerſchütterten, ticfgriindigen Wabr: 
beit. Die Kindesbotſchaft des heiligen Frang von 
Aſſiſi von der Liebe, die Kreatur und Menſchen als 
Briider und Schweftern umfangt, ift dem Helden 
Leititern auf dent Wege, ben er, der Sohn der 
Verge, durch die moderne Welt wandert. Die Be: 
beutung und das Wefen von Pflangen und Tieren, 
von Winten, Regen und Meerjarben, bejonderds 
aber von den Wolfen — den ewigen Geichniffen 
aller Menſchenſehnſucht, alles Wanderns, alled 
Suchens und Heimbegehrens — wird ihm twunder: 
voll lebendig. Der heilige Franz und die ftumme, 
felige Gebefreudigttit der Natur, ber er auf cin: 
famen Wegen immer tiefer ins Herz ſchaut, zeigt 
ibm den Weg auch su den Menfehen, die ihm bis 
daber nur Objefte Hibler kritiſcher Beobachtung und 
biffiger Ironie gewejen find. Und ſchließlich kehrt 
er zur Heimat zurück; er endet ſeinen Weg durch 
die Welt auferlich, wie cr ibn begonnen, als einer 
pon den Dorfleuten in Nimifon, in dem verfallenden 
{lcinen Häuslein ber Camenjinde am See. Und 
jeiner Secle bat der Flug durch alle Fernen, die 
Menſchengeiſt durchmeſſen fann, auc nicht mebr 
geben fonnen, als er nun befitt: aber feine Wander: 
ſchaft bat feine Secle ibrer wahren Schätze gewif 
gemacht. Sie war nidt verloren. 

Ich wüßte faum ein Buch der modernen Literatur, 
das fo wie Peter Camenjind voll Poefie ftedte, fo 
wundervolle Bilder und eine ſolche Stimmungs: 
fraft der Sprache hatte, das cinen jo vollfommency 
Cinklang von innerer und duferer Form erreidte 
und cine folche Meiſterſchaft, die angeſchlagene 
Melodie in all ibren Harmonien ju entfalten und 
rein und jart austinen ju laffen. 


Kunſt“. 
Albert Langen. München 1904. Die Verfaſſerin, 
die ſchon in „Daatjes Hochzeit“ und den drama— 
tiſchen Scenen „Frauen unter ſich“ ein ſtarkes 
Beobachtungstalent und große plaſtiſche Kraft ge— 
zeigt hat, beſchreitet mit ihrem Roman ein anderes 
Stoffgebiet, als das, auf dem ſie begonnen. An 
Gorki'ſche und Hauptmann'ſche Motive erinnerten 
manche Scenen aus „Frauen unter ſich“ und 
„Daatjes Hochzeit“. Ihr Noman aber umfaßt 
ſeeliſche Probleme und Kämpfe moderner, diſſeren 


Roman von Auguſte Hauſchner.“ 


zierter Menſchen. Er projiziert den Kampf wm die 
neue impreffioniftifde Kunft auf einen Menſchen, 
der alS ber Triiger dieſes Kampfes erfeheint. Jn 
ibm ijt zugleich dad Schidjal ibrer Helbin be— 


ſchloſſen. Es ift cin Weibesſchickſal: die Kraft ju 








ſchaffen ift bei ihr nichts fiir fic) Vorhandenes, 
feine urjpriingliche Kraft; fie ift geweckt durch das 
Erlebnis der Liebe und an die Trunfenbeit der 
Leidenfdaft gebunden. Er, der Künſtler, hebt ſich 
unverlest aus ber Wonne, die fie thm fiir kurze 
Reit nur zu geben vermodite. Die Liebe hat feiner 
Runft nits nehmen finnen. „Ihr aber hatte fie 
das Ich getrunken. Sie fab zwar und verftand. 
Luft und Ton. Das Spiel des Lichtes auf den 
Formen, den Reig der Farben und den Schwung 
der Linien. Doch wie fie ſchaffen wollte, war nur 
erin ihr, — — Richt ibres Könnens, ibrer Sebn: 
fudt Seugnis waren dieſe Blitter. Kein Kunſt- 
werf, cin Befenntnis.” Was die Heldin von Wnna 
Haufdner individuell erlebt, verdichtet fie gu einer 
Lebenslehre: ,, Die Sklaventetten des Geſchlechts 
muß das Weib zerbrechen, das ſchaffen und er: 
reichen twill, dem Manne gleich. Sie war zu weid 
und zu empfindfam. Zu fewer belaftet von dem 
Erbe taufendjabriger Knechtſchaft. Nicht Künſtlerin, 
nur eine licbeSftarfe Magd — — — Und fo be- 
grub fie Kunſt und Liebe in derfelben Stunde.“ 


Anna Hauſchner verrat in ihrem Roman cin 
Können, das fie cinmal gu den beften unferer 
Schriftſtellerinnen ftellen wird. Es find Stiide 
darin, die in ibrer Kraft und Feinbheit auf die 
reichſten Entwicklungsmöglichkeiten deuten. Cine 
nod) etwas ftraffere und gedrangtere Rompofition 
und cine nod etwas mehr durchgearbeitete Cha: 
rafteriftif, die vor allem auch Reberfiguren aus 
dem farblos Typiſchen, dad ihnen zuweilen anbaftet, 
berausarbeitete, wiirden ihr nithen, 


„Von Sonnen und Sonnenſtänbchen“. Kos: 
mife Wandcrungen von Wilhelm Bölſche. 
Berlin. Georg Bondi. (Preis 6 M. broſch. 7,50 M. 
geb.) Die Sammlung popularer naturtwiffenfdaft- 
licher Muffate läßt fie) faum beffer charafterifieren 
als mit dem Bilbe des Borivorts: durch den uner— 
meßlichen Staub, den die Naturforfebung unferer 
Tage aufgewühlt hat, kleine Lichtfegel hindurchzu 
werfen, damit dicfer graue Natur⸗Staub ſich au 
,Sonnenftaub” vergolde. Und es iſt nicht nur 
dic Weltanjdauung des Naturforſchers, die diese 
goldene Einheit in all den fleinen Einzelcharalteriſtilen 
deS Buches giebt, fondern aud das Empfinden des 
Didhters. Cin Didter macht uns den feierlichen 
Zauber fühlbar, der den Seugen vergangener Ur: 


442 Biicheridau. 


ſchöpfungsãonen in unferer Alltagswelt innewobnt, 
cin Dichter Vbilofoph vertieft fic in die rätſelhafte 
Schönheit der Radiolaren, cin Dichter deutet uns 
den fdftlicden Humor des Schnabeltiers oder des 
Nilpferdes, und die liebenswürdige Gafienbuben: 
frechbeit des Grofitadtipagen. Für ben, der nur 
wie in cinem Guckaſten allerlet Kurioſitäten der 
weiten bunten Welt feben will, fiir den, der dem 
neuen Wiffen unferer Beit um diefe Dinge nad: 
gebt, und ſchließlich fiir den, der in all dieſem Ber: 
ganglicen nur cin Gleichnis geiftiger Welten ſucht, 
fiir alle iff das Buch cin fonniges Buch. 


„Friedliche Eroberuugen“. Cittenroman aus 
dem modernen Aghpten von Gräfin Urkull. 
Fontane & Co., Berlin 1903. Im Mittelpuntt 
des Homans ſieht der deutſche Qnduftrielle, der das 
Yand der Poramiden durch die Macht des Geldes 
unterjodmt. Er wird in zwei Bertretern gezeichnet, 
der eine, der nichts ift als Eroberer, der ſtrupellos 


das Recht des Starferen anwendet, wo ed fein | 
Vorteil erheiſcht, und den der brennende Kon: | 
furrengfampf der auf diejem Fled Erde gufammen: | 


ftofenden Nationen gelebrt bat, feinen Wea iiber 
Menſchenleben und Menſchenglück hinweg yu babnen, 
alles in allem aber eine grofe Natur, der bei allen 
Herfcberinitinften aud die Grofmut des Mächtigen 
nicbt feblt. Die Rontraftfigur ift cin Deutſcher, 
der ſich die Herrenmoral, die auf dieſem unblutigen 
Schlachtfeld der Volfer herrſcht, nicht anecignen mag 
und fann, in dem ein Stück deuticher Weichheit dieſem 
harten, rückſichtsloſen Ausbeuten der ſchwächeren 
Gegner widerjtrebt. UÜbrigens ift ber Noman an 
ſich nicht die Hauptiace ded Buches, fondern die 
Schilderungen des Zuſtändlichen, des Milieus, die, 
wenn aud die Farben von künſtleriſchem Stand— 
punt aus guiveilen etwas grell aufgetragen find, 
dod des Intereſſanten genug bietet. 


„Die Sehnſüchtigen“. Noman von Gertrud 
Frande-Sdievelbein, Egon Fleiſchel & Co. 
Berlag. Berlin 1903. Der Roman fest ſich ein 
grofes Problem. Cr ift das philoſophiſche Be: 
tenntnis der Berfafferin. Cine Frau ijt die Heldin 
eines Weltanſchauungskampfes. 


und Fille trifft fle Der Blick cines Wanderers, der 
andere Wege gebt, cines ftrengen und cinfamen 
Usteten, der in fanatifcer Aufopferung ſeines 
Selbjt an die Menſchheit Frieden vor dem Ragen 
einer alten Schuld ſucht. Sie folat ibm als Er: 
zieherin feines Sohnes und feine Gehilfin in feinem 
ärztlichen Wirlen unter einem ftumpfen und roben 
Yandvolf. Und wabrend fie unter dem Bann 
feiner mächtigen Perfonlichteit bet aller Hingabe 
doc innerlich ſehnſüchtig und friedles bleibt und 
nad anderen Yofungen der Lebensratiel verlanat, 
tritt iby der junge Pfarrer des Ortes entaegen in 


der fonnigen Friſche eines Menſchen, deſſen Religion | 


die Viebe iff. Was er fie lebrt, wird ihr yum 
eigenen inneren Erlebnis, als fie Das Rind, das 
ihr ans Herz gewachſen ift, wie ein eigenes, dem 
Tode abrinat, Dem cS der düſtere Peffimismus des 
Vaters ſchon preigacacben hatte. — Es ift etwas 
Großzugiges in der Konzeption dieſes Nomans, das 
aud da feſſelt und mit ticfer Befriedigung erfüllt, 
wo dic finftlerifde Kraft nict gang yureicht, um 
alles Gewollte und innerlich Geſchaute gang Fleiſch 
und Blut werden ju laſſen. Und wenn Gertrud 


— 








Mitten anf dem | 
Weae zu cinem Leben voll finnlicber Schönheit 





Frande in bem Roman nicht gany ans Ziel fommmt, 
wenn das Programmatifde des Entwurfes von 
dem inbdividuellen Leben ibrer Geftalten niet ganz 
aufgefogen ift, fo verfiigt fie doc auch als Runitlerin 
iiber jo reiche Mittel, daß man fich ibrer Leiſtung 
aud im rein ajthetifcben Sinn freut. 


„Aus der indifdjen Kulturwelt“. Geſammelte 
Aufſätze von Dr Arthur Pfungſt. Stuttgart. 
Fr. Frommanns Verlag. (E. Hauff), 1904. Tre 
Aufſatze, die Arthur Pfungſt unter dieſem Geſamt 
titel herausgibt, find einzeln in der Franffurter 
Zeitſchrift „Das freie Wort’ und in der ,, Frank 
furter Zeitung“ erſchienen. Ter Verfaffer beſttzt 
den Schliiffel gu den Schätzen indiſchen Geifres- 
lebens nicht nur in bem dGuferen Sinn eines gründ 
lichen und reichen Wiffens, er bat fic) Darin tm 
ticferem Sinn heimiſch gemadt und zeigt, welche 
Weltanfdauungswerte gerade fiir uns modernen 
Abendlander aus der langen Reibe der indiiden 
Dichterphilofophen zu gewinnen ſind. Tie 
Geſpräche des Sutta Nipata, die tieffinniaen 
Dijputationen jwijden Konig Milinda und dem 
Rircendlteften Nigaſena, dte bunte Welt der 
Jaͤtalas, des alteiten Fabel- und Mardenbuchs der 
Menſchheit, in der wir cine Fille ven Marden-, 
Fabel: und Novellenjtoffen unjerer abendlandijd@en 


| Miteratur twiebderfinden, und nod jo manches andere 


wird in der (ebendigen Weife beſprochen, die mur 
aus dem tiefen inneren und gang peridnitden An 
teil an diefer Gedanfemwelt flichen Cann. Jeder, 
der fic in die Sammlung verticit, wird daraus 
mande Frucht unmittelbar gewinnen und nod 
mebr Wnregung gu weiteren Studien erhalten. 


„Beichte cines Kindes feiuer eit’ vor 
Wlfred de Muffet. Deutſche Ubertragung von 
Heinrich Conrad. Anfel Verlag. Leipzig 1905. 
(Vreis 5 Mark in Leder geb. 7 Mart.) Das auto: 
bivgrapbhifibe Dofument, dem Muſſet's Verhältnis 
qu George Sand zu Grunde liegt, ift eines der 
eriten, dDaS ben Stempel moderner feelticher Ana: 
lyſe tragt. Es ift cin ſcharfer Strich, der dies 
Tofument 4. B. vom Werther trennt, unb er be 
zeichnet nicht mur den Unterſchied franzöſiſcher und 
deuticher Art. Bielmebr beginnt bei Muſſet die 
Heflerion tiber die finnliden Seiten des erotiſchen 
Erlebniſſes, die das fiinftlerifehe document humain 
der Tefadeny kennzeichnet. Cin wildes, baltlofes 
und zerfetztes Leben, dad allein im erotiſchen Rauſch 
all feine Wonnen und Steigerungen bat und von 
ber Ernüchterung zerſtört wird: fo (cat der ſchwache, 


| aber geniale Jungling fein Leben vor uns bin. 


Fait wird man es mide, dem giellojen Auf und 
Ab feines Begebhrens und Genießens zu folgen, 
und doch feſſelt die Feinheit der Selbſtbeobachtung 
und der Reiz der künſtleriſchen Darſtellung immer 
wieder von neuem. Die UÜberſetzung ijt fo, daß 
dieſer Reiz voll zur Geltung kommt. 


Hamburgiſche Gausbibliothef. Die von der 
Gefellichaft Hamburgiſcher Kunftfreunde, der patrio 
tiſchen Geſellſchaft und der Lebrervereiniqung fiir 
die Pflege der künſtleriſchen Bildung berausgegebene 
Bibliothet billiger Bücher ift wieder um 2 Banre 
vermebrt worden. Sn einem fleinen, in bellblaues 
Yeinen hübſch und folide qebundenen Banddben wird 
cine femme Muswabl von Hebbels Lyrit, das Stud 


Bücherſchau. 


Selbſtbiographie „Meine KRindheit“ und eine Aus— 
wahl Gedichte von Guſtav Falke geboten. Der 
Preis des ca. 90 Seiten umfaſſenden Bändchens 
beträgt nur 0,50 Mark. Ein anderer Band ent: 
balt UG, der Knecht“ von Jeremias Gottbhelf. 
Much bier ift Musftattung und Drud mufteratltig, 
und der Brets ven 1,30 Marl wird die Maffen- 
verbreitung dieſes echten Vollsbuchs ficer leicht 
machen. 


„Narren“, Roman von Marie zur Megede. 
„Sport“, Novelle von Marie zur Megede. 
Verlag von F. Fontane & Co., Berlin. Beide 
geben Bilder aus der Geſellſchaft, aus oſtpreußiſchen 
Offizierkreiſen. 
in ihren Verwicklungen geſchickt gelnüpft und gelöſt, 
in der Charakteriſtik anſchaulich und ausdrucksvoll 
genug, um zu ſpannen und zu ſeſſeln, gehören die 
beiden Bücher entſchieden yur guten Hälfte unferer 
Romanliteratur, wenn fie auch nicht gerade ein ſehr 
tiefed pſychologiſches Intereſſe haben. 


Aarda.“ 


Roman aus dem alten Agypten 
von Georg Ebers. Mit Bildern von Richard 
Mahn. (2 Bande geb. 12 Mark.) Stuttgart, 
Deutſche Verlags Anſtalt. 
von der modernen Kunſtrichtung überwunden, ſich 
doch immer noch einer gewiſſen Popularität er— 
freuen, zeigt das Erſcheinen dieſer neuen illuſtrierten 
Ausgabe. 
bak aus dem höchſten Enthuſiasmus und ber (eiden: 
ſchaftlichſten Ablehnung immer ſchließlich cine bes 
fonnene Würdigung hervorgebt, auch fiir die Uarda 
wieder Stimmung yu machen. 


„Friedrich Spiclhagen, Romane“ — Neue 


Folge. — Wohlfeile Lieferungsausgabe in 50 Heften 
A 35 Pfg. Alle vierzehn Tage cine Lieferung. 
(Verlag von L. Staadmann in Leipzig. Die Liefe: 
rungen 31 bis 37 entbalten den Schluß der Nos 
pelle Herrin”, und den Roman „Stumme deh 
Himmels“. 


MA. Müllers Allgemeines Wörterbuch der 
Ausſprache ausländiſcher Eigennamen. Cin Hand: 
buch für Gebilbete aller Stände und cine not: 
wendige Ergänzung aller Fremdwörterbücher. 
7. Auflage. Ergaͤnzt und bis zur Gegenwart fort: 
geführt pon 5. Midaclis. Preis broſchiert 
4,50 Mart, qebunden 6,50 Mart. 


Die Ausſprache frembdlandifcber 
bilbet cine große Schwierigleit fiir jeden, felbjt den 
Gebildetiten, Es ift deshalb wertvoll, daß gu dem 
Hefannten, bereits in 7. Muflage vorliegenden 
Wörterbuch von A. Müller jetzt cin 4'/, Drucbogen 
ſtarles Ergänzungsheft von Rektor H. Micbaclis 
erſchienen tft. Die Auswahl der Worter iſt ſehr 
geſchickt getroffen und bringt in erſchöpfender Weiſe 
alle Namen, die der Gebildete nur irgend in die 
Verlegenheit kommen könnte ausſprechen gu müſſen. 
Die Ausſprachebezeichnung wurde nach dem Syſtem 
ber Association phonétique internationale por: 
genommen, welde jebt wobl unbeftritten als befte 
angefeben werden fann, 


re 


Distret und boc lebendig erzählt, 


Bielleicht hilft jie dau, nad) dem Geſetz, 





443 


Im Verlag von E. Wunberlich im Leipzig 
erſchienen nachfolgende Bilder, deren Prüfung und 
Verwendung wir namentlich den Lebrerinnen aus 
unferem Leſerkreiſe warm empfeblen: 

Unterfudungen fiber die Rindheit von Dr 
Sames Sully, iiberfest von Dr J. Stimpfl. 
Zweite vermehrte Auflage. Breis broſchiert 4 Mark, 
fein gebunden 4 Marf 80 Pf. 

Die allgemeine obligatorijdje Mädchen— 


Fortbildungsſchule. Bortrag von Job. Sofmann. 


Preis 50 Pi. 

Die Beziehungen zwiſchen Rants Ethik und 
jeiner Pädagogik von Dr phil. Otto Brauer. 
Preis HO Pf. 

Die Unterridtsleftion als didaktiſche Kunſt— 
form von Dr Ricard Seyfert. Preis 2 Mark 
40 Bf, gebunden 8 Warf. 

Diftatftoffe, suc Ciniibung und Befeftiqung der 
neuen deutſchen Rechtſchreibung, bearbeitet von 


| Paul Th. Germann L. 89. vermebrte und ver 


Daf Cherd Romane, | 


befferte Auflage. Preis 2 Mark, fein gebunden 
2 Marl 40 PF. IL 4. vermebrte und verbefferte 
Muflage. Preis 1 Marl 60 Pf. fein qebunden 2 Mark. 

Der ſtiliſtiſche Auſchauungs-Unterricht von 
Ernſt Lüttge. J. Teil. Anleitung zu einer plan: 
maßigen Geſtaltung ber erſten Stilübungen auf an: 
ſchaulicher Grundlage. 3. durchgeſehene Auflage. 
Preis | Mark 60 Pf., gebunden 2 Mark I. Teil. 


» Der Auffagunterricht der Oberftufe als planmiifige 








Gigennamen | 


Anleitung gum freien Aufſatze. 2. Auflage. Preis 
2 Marl 40 Pf. gut aebunden 3 Mart. 

¥riparationen fiir den geographifden Unter: 
richt an Bolfsjdulen von Julius Tifdendorf. 
I, Teil. Das Königreich Sachfen. 5. umgearbeitete 
Auflage. Preis brofebiert 1 Mark’ 60 Pf., fein 
gebunden 2 Mart. 

Menfdenfunde und Gefundheitslehre von 
Dr Richard Sepfert. 38. Auflage. Preis 
2 Mart, gebunden 2 Mark 50 PF. 

Die Bedeutung der Kunſt fiir die Erziehung. 
Bortrag von Heinrid Wolgaft. Hamburg. 

Rur Yugendidriftenfrage. Cine Sammlung 
von Aufſähen und Kritifen. Herausgegeben von 
ben Rercinigten deutſchen Prüfungsausſchüſſen fir 
Jugendſchriften. Preis 1 Mark 60 Pf. gebunden 
2 Mart. 

Dic Landfdaftsfmhilderung von Dr Ricard 
Sevfert. Preis 1 Marf 6O Py, gebunden 2 Mark. 


Empfehlenswerte Qugendfdriften,  Gerausd- 
gegeben von ben vereinigten deutſchen Priifungs- 
ausſchüſſen fir Jugendſchriften. Preis 60 Pi. 

Pie pidagogijde Yoee in ihrer allgemeinen 
Bedeutung. Cin erweiterter Vortrag von Dr 
Richard Seyfert. Preis 60 PF. 

Für Hers und Gemiit der Kleinen. Sechs— 
undfünfzig bibliſche Geſchichten für die erften vier 
Schuljahre in erzählend darſtellender Form auf 
Grund Wundtſcher Pſychologie von Max Paul. 
Preis broſchiert 2 Mark 40 Pf., gebunden 3 Mark. 

Das Leben der Pflanzen, [1]. Band. Das 
Weld. Bilder aus der Pflanzenwelt von Baul 
Saäurich. Heft 1. Preis 1 Markl 6O PF, ge: 
bunden 2 Mart. 


Liste neu erschienener Biicher. 


(Befpredung nad Raum und Gelegenheit vorbehalten; cine Hildfendung nist befprodener Bader tft nidt miqlid. 


Biedenfapp, Der Georg, Was erzähle 
id) meinem Sedsjibrigen? Aus Urzeit 
und Gegenwart. Hermann Coftenoble. 
Merlin. 

Bif, Baul. BWeltfinder. Gedidte. 
Preis 2 Mark. L Wilhelm Siedenburg. 
Herlin 1908. 

Braintigam, Ludwig. Überſicht Uber 
bic neuere deutſche Literatur 1880—100%, 
Sweite Muflage. Preis gebeftet 1 Mart, 
einfach gebunden 1,30 Mart, Georg Weiß. 
Caffel. 

Breſch, Nidjard. Theoſophiſche Grund: 
beqriffe in bret Bortragen. 

Grobdded, Georg von. Gin Frauen⸗ 
problem. ©. G. Naumann.  Leipsig. 

Huber, Albert. Stadtrat Qobaun 
Kaspar Groh 18f1—1901. Gine 
biographiſche Stijze. Separatabdruck 
aus dem Jabrbuch des Unterrichts weſens 
in ber Schweiz ſfür bad Jahr 1900. 
Buchdruderei ved Schweiger Griltli« 
vereing, Silrid) 1902. 


Karſten, Paula, Wer ift mein Nichfter? 
RMegertopen aus Deutidd>Weftatrita, 
brojdiert 2,50 Marl, gebunden $ Mart. 
Wofe u. Teglaff. Berlin 1903, 

Krebs, Julius Dr med. Frauenarst 
in Breslau. Wie follen fid unfere 
en Madden leider? Allgemein 
verſtandliche hogie niſche Abbandlung. 

Preis 25 Be. 


Mit wolf Abbildungen 
Bred. 


Verlag von Heinrid Handel. 


lau 1903. 
Lemmermayer, Frig. Novellen und 
Novelletten. Deſterreichtſche Werlagss 
anftalt. Linz⸗Wien⸗Leivpzig. 


Lift, Guido. Das Goldftiid. Cin Liebes⸗ 


drama in finf Aufzügen. Preié 2 Mark. 


YiteratursUnftalt Auftria Bien unb 


Leipzig 1903, 








| 





Litt, Frau Bla von der. Die gefellige | 
Haustrau. Plaudercien ber Geſellig⸗ 
feit, Ratſchläge file Geſellſchaften, Fefte, 
Vazare, Heft{piele, Aufführungen, Unter⸗ 
haltungen ufiv. Theaterverlag Eduard 
Bod, Berlin C. 2, Brdderftrape Me. 2, 


Magen, R., Dr med. Dic Berufs- 
frantheiten der Lebrer nod Urſachen, 
Berbiitung und Behandlung. 1. Auflage. 
Lumenverlag, Wadebeul 1, Sa. 

Maul, Anna (WM. Gerhardt). Tauges 
nits. Carl Reißner. Dresden und 
Leipzig 1902, 

Mertle, Anna, Gedichte. Feſtgabe yur 
1. Ausſtelung Pfärz. Frauenarbeit. 
Rommijfionsverlag: Avton Ottos Sof⸗, 
Buch⸗, KAunſt⸗ und Wufitalienbandlung, 
Reuſtadt a bd. Haardt. 

Michels, R., dottore in Istoria et 
Economia Politice. Attorno ad 
Una Questione Sociale in Germania. 
FEstratts dalla Riforma Sociale. 
Fase. 4, anno VIIL, volume XL. — 
Seconda serte. Roux e Viarengo, 
Torino, 

Reugebauecr, Emil. Halte Haus. Buch: 
judrung der Hausſfrau. Preis 1 Mart, 
Crite Muflage. Berlag von Rud, 
Bechtold und Komyp., Wiesbaden. 


Rens, Soe v. Die Frau der Gegenwart 
im Umgang und Verkehr, 3. bedeutend 
erweiterte Muflage, Preis elegant ges 
bunden 3 Wart. Berlag von Wilhelm 
Willer, Berlin, 

Sdhonenberger, Dr F. und W. Siegert. 
Pas Geflemtsleben und feine Bers 
irrungen, Sechſte burdigefebene Auflage 
Wilhelm Miler, Berlin 8. 

Schreiber, Der Rudolf. Grundehge der 
Coemle mit bejonderer Hidfibt auf 
Riche u. Haus file den Unterricht an 


} 


—8* Maodens und Haus baltungs⸗ 

chulen, forte gum Selbftunt ert icht. 
Frieder, Scheel. Caffel 1900. 

Schultze, Dr Ernft. Bie wir anjere 
roficn Dichter ebren foliren. Gin 
Bort uber Didhter-Dentmitler uns 
anbderes. Werlag von &. Staadmann, 
Leiprig 1902. 

Sommer, Dr H., Privatdezent. Tie 
Pringipien oer Sdughnasernadruna 
Preis 75 Pfg. AW. Stubers BWerlag 
(G. Rabitid). Wilryburg 1901 

Teuſcher, Warie. Dex Jugend Garten- 
bud. Su deren Freude und Ber 
februng Wit praktiſcher Untertoetfung 
in Obſibau, Gemuſerudt, Mlumenpfleae, 
Pflanzen · und Inſektenkunde. Ervocitert 
und mit 207 Alldern geſchuckt von 
Heinrich Freiherr von Schilling. 
Preis 3 Rarkt. Drud und Verlag der 
Rinialiden Hofbuchdrucderet Tromigia 
& Sobn. 1902, 

Thilo, Dr med., Marie von. Was 
follen unfere erwachſenen Tédter von 
ber Che wiffen? 80 Pf, Th. SHroter 
Berlag, Letysiq. 

Ricrordt, Heinrich. Baterlandege/anege. 
Siweite, umgearbeitete, vermebrte Auf⸗ 
lage. Preis gebeitet 2 Wart: fein 
gebunden 3 Wark Carl BWmters 
Univerſit atsbuchhandlung. Heidelberg 
1903, 

Weidemann, Magnus. Reform ber 
Arauentleipunga als fittlige Pfliche 
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Wilm, Eliſe. FSpracveralene und 
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und Schiller, Gebaucr-Schrwerihle, 
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höherer Töchterſchulbildung die 
zur Fröbelſchen Aleinkinder— 
Pädagogit erforderlichen Kennt— 
niſſe und erweckt durch praktiſche 
Tatigleit in den Vereins Minder⸗ 
gärten Verſtändnis fiir das = = 
Wefen und die Bebandlung des Lehrerinnen-Seminar 
Kindes; auch zur Erlernung der 53 

Siuglingspflege, ſowie zur Arbeit mit Ubungsschule 


in cinem Kinderbort wird Gelegen: 














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Schulhaus: Stallſchreiberſtr. 54 lottenburg übernommen und nad der 
Leiterin Frl. A. Sebrfeld) zur Niirnberger Strasse 9-10, 


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ſtellungen. Reben dem theoretiſchen 
Unterricht werden dic Schülerinnen 
gue praftifder Hilfeleiftung in 
einem Rindergarten, fowie in 
einem Haushalt, auc Bei der 


3 Minuten vom Untergrundbabnhof Wittenbergplay, verlegt. 

Ich leite meine Anftalt nad den Grundſätzen, die mir in 
meiner elfjabrigen Tatigteit (1891—1902) als Ordinaria und 
cigentliche Letterin des Crainechen Lebrerinnen:- Seminars 
in Berlin mafgebend geweſen find. 


Pflege jiingerer Kinder, angebalten. Elisabeth Willigmann, SeminarWorſteherin. 
Projpette und Stellenvermitthing Sprechzelt: Viiglich 1—2, ausser Sonntags. 

im Vereinébureau: SW. Johan— Uustunft erteilt giitigit Fraulein Helene Lange, 
niterjtr. 1911. Berlin: Halenfee, Bornimerftr. 9. 





Turnfurfe fiir Madden und 


Frauen bat Frau Klara Hef- Hi e 
ling im Anſchluß an die unter e | | al Frauentrost 
ihrer Leitung ftebende höhere * ied 


¢ ebend ber .R.P. 04 272. 
Maddenichule (Berlin SW., ents 





9 goldene und andere 


Deffaucritr. 24) eingerichtet. Sie Medaillen, 2 Chrenpreiſe. Gedanken fir Minner 
dienen zugleich der Vorbereitung Wejeitigt den ſtarken Madchen und Frauen 
auf das Turnlebrerinnencramen Meib u. Süften u. gibt 

und erfreuen fic) groper Bes | cine ftolje, elaftifdre 4. Abdruck. 7-9. Tausend 


Haltung. Borzuglichſter 


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turnen fic n viel mebr als auch zur Apsicht, 

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bisher cinbiirgern midbte. OTe Gueee Ein feines und reines Buch, 
DieR ſch j 4 das far die Befreiung des 
D ca ea ag rg * Agn Fleischer- Weibes im Weibe eintritt. 
amenheim nimmt, wre un . } 
Verlag C. H. Beck, 


mitgeteilt wird, nach der volligen ri J. 
Reuordnung ihrer Verhältniſſe liriebel Miinchen. 
unter der tatfraftigen neuen | BERLIN, Breitestr. 28a, II. l | 








446 





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geſchälte Kohlrabi werden in 
Salzwaſſer weich gekocht, dann 
abgetrocknet und in Scheiben ge— 
ſchnitten. Unterdeſſen laäßt man 
einen Loffel Mehl in 40 gr. Butter 
qar werden, verkocht diefe Cin: 
brenne mit '/, Liter dicker, faurer 
Sabne zu einer. ebenen Sauce, 
läßt die Roblrabifdeiben darin 
orbdentlich aufivellen, ſchmeckt nach 


Leitung 


Salz ab und gibt 8 10 Tropfen | 


Maggi's Würze an das Gemiife. 
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wiſſenſchaftlich gepritfte Lehrerin geſucht. 
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wird in einzelnen Faͤchern durch andere 
Lehrkrafte unterſtüurgt. Gehalt 1200 bis 
1400 Warf und freie Station. 

2. File eine bobere Privatſchule in 
einer grojeren Stadt Witteloeutidlands 
wird gum 1, April 1904 cine wiffene 
ſchaftlich gepritite Lehrerin geſucht, die 
Erfahrung im Unterrichten bat und Langere 
Heit in Frankreich gewejen iſt. Gebalt 
14—1800 Mart. Rach feſter Anſtellung 
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2. Filer cine Privatſchule in Rage 
Hamburgs wird zum 1, April 1904 cine 
wiſſenſchaftlich geprufte Lebrerin geſucht. 
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lande erlernt. 24 Stunden wocentlich. 
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447 


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Alter. Mufit er wünſcht. Gebalt 1000 We, 
und freie Station. 


6. Ene Familie im Auslande fucht 
jumt 1. Mpril 1904 cine fatbolifebe wiſſen ⸗ 
ſchaftlich geprufte Lehrerin. Hu unterridten 
find 3 Ainder von 11, 10 und 8 Jahren 
in allen Fachern. Gutes Franzöſiſch Be⸗ 
dingung Diufit erwünſcht. Gehalt 
1500 Mark und ſreie Station. 


6. Gine adlige Familie in Heffene 
Raffau fudt jum 1. April ised cine 
wiffenidaftlics gepriifte Lebrerin yum 
Unterridt fiir 3 Warden von 10, 8 und 
7 Jahren in allen Fadhern. Franzöſiſch 
und Diufil erforderlid. Gebalt 800 INE 
FJ. A. E. Z. Reiſe vergiiter. 


Yn einer hoͤheren Mädchenſchule in 
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Vervantwortliad fdr bie Redaktir Berlin, — Verlag: WB. Mocjer Budbanolung, Berlin S.— Druid: B. Moefer Buddruderesy te 







LETT TENG) 


factausgegeben é: Ge 


Verlag: 
pon W. Morler Sudhandiung. 
Melene Lange. Berlin Ss. 


May Wright Sewall. 


Bon 


Helene Tange. 


Raddrud verboten. 


n den Vereinigqten Staaten, dem klaſſiſchen Lande des indujtriellen Grofbetriebes, 

angefichts wirtſchaftlicher Riefenorganifationen, in denen die ideale Einzel— 
leijtung ein einziger höchſt routinierter Handgriff ijt, ift man auf das Schlagwort 
von der Mechanijierung des Menſchen gefommen. Diefe mechanifierende Macht des 
Grofbetriebes bleibt nicht auf ibrem eigenen Gebiet; fie beftimmt in großem Mage 
auch die Betriebsform des öffentlichen Lebens. Auch hier beginnt man die Bewältigung 
möglichſt großer Maſſen als das höchſte Problem zu betrachten; das Geheimnis des 
Erfolges beſteht darin, Tauſende und Millionen zum geräuſchlos und elegant arbeitenden 
Apparat irgend eines Zweckes zu machen; korporativer Zuſammenſchluß wird die 
allgemeine Tendenz. Jede Idee, jede geiſtige oder ſoziale Bewegung drängt zur 
Organiſation; ſoziale Organiſation wird mehr und mehr der Ausdruck aller geiſtigen 
und ſozialen Macht überhaupt; der äußere Erfolg vor den Maſſen wird das Kriterium 
der inneren Werbekraft von Programmen und Beſtrebungen. 

So weckt das öffentliche Leben in Amerika Kräfte, denen vielleicht andere Zeiten, 
denen vielleicht heute auch noch andere Kulturvölker die Möglichkeiten der Betätigung 
verſagt hätten; die Kunſt der korporativen Organiſation aller möglichen Beſtrebungen, 
die Kunſt, für Ideen und geiſtige Strömungen einen Mechanismus zu finden, der auf 
die Wünſche und Bedürfniſſe der Maſſen eingeſtellt iſt und ſeinem geiſtigen Gehalt in 
beſtmöglicher Form zur Geltung verhilft, dieſe Kunſt bietet auch ausgezeichneten 


Intelligenzen cin reizwolles Aungsfeld. 
29 


450 Ray Wright Sewall. 


Wir miiffen unſeren deutſchen WAnfchauungen das Charakterijtifdbe dieſer 
amerikaniſchen Verhältniſſe gegenivirtig balten, um die Bedeutung der jesigen Bor: 
fibenden des Frauenweltbundes richtig zu wilrdigen; denn Mrs. May Wright Sewall 
ijt, wie ibve Freunde fagen, ,,pre-eminently an organiser“, nicht nur infofern, als 
fie felbjt cine Reihe bedeutſamer Organifationen in ihrem Lande geſchaffen bat und 
leitet, fondern aud) indem fie iiberall, wo fid) iby die Gelegenbeit bot, Anregungen 
dazu, Jdeen und Wege der Verwirklichung gegeben bat. 

Nicht als ob diefe ihre organijatorifche Arbeit, auf die ein hervorragendes 
Talent und eine ftarke Vielfeitiqteit der Anterefjen fie binwies, obne die Grundlage 
ciner foliden Gerufstatigfeit mare. May Wright Sewall ijt Graduierte der North: 
Weftern-Univerfitat; fie bat die Bildung einer afademifechen Lebrerin. Bor ibrer Ver— 
heiratung war fie Inſpektorin der dffentlicden Schulen in Plainwell, und fie war die 
erfte Frau, die in diefer Stadt eine folche Stelle befleidete. Später ftand fie ciner 
öffentlichen höheren Schule in Franklin vor, und nach ihrer Verbeiratung beqriindete 
fie mit ihrem Gatten eine höhere Schule fiir Madden in Indianopolis, die fie von 
1882 an bis heute geleitet bat. Cin Zug, durch den fich diefe Schule von Abntichen 
ibrer Art ausjeichnete und nod heute auszeichnet, ijt die ftarfe Berückſichtigung der 
firperlichen Erziehung durch energiſche Fiirforge fiir hygieniſche Kleidung und einen 
ausgedebnten, nad orthopädiſchen Grundſätzen ſyſtematiſch erteiltem Turnunterridt. 
Denn Mrs. Sewall bulbigt dem febr gefunden Grundjfag: deep thinking requires 
deep breathing, und eine Abbildung der Fechtklaſſe ihrer Schule mit Rapieren 
und Fechtfirben bietet cine febr frifde Illuſtration dices Sages. Auch die 
Einführung des Haushaltungs- und Kochunterrichtes hat diefer körperlichen und 
praktiſchen Ausbildung der Mädchen, die, wie bei uns in Deutſchland, in den höheren 
Mädchenſchulen der Vereinigten Staaten auch noch ziemlich im Rückſtande war, 
dienen müſſen. 

Die große Vereinstätigkeit von Mrs. Sewall knüpft zum Teil an ihre erziehlichen 
Intereſſen an. Ihre Vaterſtadt Indianopolis verdankt ihr die Gründung eines 
Propyläums, d. h. eines gemeinſamen Geſellſchaftshauſes, das den geſamten aus— 
gedehnten Klubbeſtrebungen einer amerikaniſchen Stadt den äußeren Mittelpunkl giebt. 
Dieſes Klubleben in ſeiner Vielſeitigkeit, ſeiner äußeren Angeregtheit bietet ja der 
Eigenart amerikaniſchen Geiſteslebens den angemeſſenſten Spielraum. Der demokratiſche 
Geiſt, der das ganze Volksleben beherrſcht, drängt auf die Beteiligung aller an neuen 
wiſſenſchaftlichen Taten und künſtleriſchen Schöpfungen. Kann dieſe Anteilnahme 
natürlich auch, je mehr ſie in die Breite geht, deſto weniger tief ſein, ſo hat ſie doch 
jedenfalls die ausgezeichnete Wirkung, daß ſie die Menſchen voll lebendigen Intereſſes 
erhält für alles, was um ſie herum vorgeht, und daß ſie ſo manche zur Beteiligung 
an der geiſtigen Arbeit der Geſamtheit heranzieht, die vielleicht von den exkluſiver und 
ſtrenger umgrenzten Kreiſen unſerer deutſchen Wiſſenſchaft nicht erreicht werden. In 
ben Klubs wird von allen alles diskutiert, volkswirtſchaftliche Fragen und literariſche 
Neuerſcheinungen, Pſychologie und griechiſche Dramen, religiöſe Strömungen und die 
beſte Art zu reiſen oder dergleichen. Mrs. Sewall hat ſelbſt einmal geäußert: „Ich kann 
mich keiner Zeit erinnern, da ich mich nicht für alles und für Jeden intereſſiert hätte“, 
und wer mit ihr gearbeitet und die Schlagfertigkeit und Gewandtheit ihres öffentlichen 
Auftretens kennen gelernt hat, kann ſich wohl vorſtellen, daß ſie in dieſem Klubleben, 
in Dem es vor allem darauf ankommt, unermüdlich und nach allen Richtungen An 


May Wright Sewall. 451 


regungen ju geben, fo recht in ihrem Clement ijt. Es ijt denn aud nicht nur der 
fogenannte Contemporary Club ihrer Baterftadt, der aud Männern und Frauen beftebt, 
nicht nur der Frauenklub von Yndianopolis unter ihrer Beteiligung und Leitung 
kraftig gediehen, fondern auc) die Gefamtorganijation aller Frauenflubs der Vereinigten 





Way Wright Sewall. 


Jetzige Vorfikende des Internationalen Srauenbundes. 


Staaten, eine viele Taufende von Mitgliedern umfafjende Vereinigung, verdankt ibrer 
Anregung jum Teil ihre Entitehung und ihrer Mitarbeit die erfte kräftige Cntwidlung. 

Und damit fommen wir zu der organijatorijden Arbeit grofen Stils, mit der 
Mrs. Sewall der amerifanifchen Frauenbewegung und in vieler Hinſicht auch der 


Hrauenbewegung der Welt wertvolle Dienjte geleijtet bat. 
29* 


462 May Wright Sewall. 


Mrs. Wright Sewall hat jabrelang als Vorſtandsmitglied de3 großen nord: 
amerifanifden Frauenſtimmrechts-Vereins gearbeitet. Qn der monumentalen Geſchichte 
deS Frauenjftimmredts, die in vier umfangreicden Banden von den Fiibrerinnen der 
Stimmrechtshewegung in Nordamerifa herausgegeben ijt, berichtet der Abſchnitt über 
den Staat Indiana von Mrs. Sewalls Tatigkeit; die Berbandlungen der Frauen 
ſtimmrechts-Geſellſchaft eigen fie in der parlamentariſchen Cicherbeit, mit der 
humoriſtiſchen Friſche und dem echt amerifanifden Wis, wie fie aud) die Deutfchen 
in ihrer Tatigheit im Frauenweltbund fennen gelernt haben. 

Tritt vielleiddt hier die mehr techniſch leitende und organiſierende Arbeit, die 
Mrs. Sewall leijtete, hinter dem Cindrud marfanterer Perfinlichfeiten wie Suſan Anthony 
und Reverend Shaw mehr zurück, fo entfaltete fie ihre Fabigkeiten und ihre ganz be: 
fondere Begabung vor allem gelegentlich des Frauen-Weltfongreffes, der in Verbindung 
mit der Weltausftellung von Chicago im Jabre 1893 ftattfand. Etwas von der 
Kühnheit amerifanifden Unternehbmertums, das durch grofe Aufgaben, durch ſcheinbar 
uniiberivindliche Hinderniffe nur zu feinen höchſten Leijtungen angefpornt und gereijt 
wird, webt einen an, wenn man in dem Bericht fiber diejen Frauen-Weltkongreß 
die Gefchichte der Vorbereitungen durchblittert, wenn man fic voritellt, was e3 be: 
deutete, den Gedanfen einer Vereinigung aller fortſchrittlichen Frauen der Kulturivelt 
zu fafjen und die Wege dazu zu fucken. Der Mut, die Frauenbewegung als eine 
Weltbewegung auc) duperlich organiſatoriſch hinzuſtellen, fonnte vielleicht nur in einem 
Lande zur Tat fiibren, wo die techniſche Entwidlung daran gewöhnt hatte, dads Unge— 
heure zu wollen und zu erreiden. 

Im Dabre 1887 wurde in der Frauenftimmredhts-Liga der VBereinigten Staaten 
beſchloſſen, das viersigiibrige Jubiläum der Frauenftimmredtsbewegung im Sabre 1888 
mit einem internationalen Kongreß in Wafhington zu feiern. Bei diefem Kongreß 
entiwidelte Mrs. Sewall ibren Blan, zugleich in einem nationalamerifanifden Bunde 
den Frauenbeftrebungen der Bereinigten Staaten eine gemeinfame Repräſentation yu 
ſchaffen und einen Frauenivelthund zu begriinden, der dasfelbe fiir alle organijierte 
Frauenarbeit der Welt bedeuten follte. Die Ausjtellung von Chicago bot qiinjtige 
Gelegenbeit, die Frauen der Welt zu einem großen internationalen Kongreß yu 
vereinigen; Dirs. Sewall wurde die Borfigende des Organijations£omitees. Dit 
auferordentlicer Cnergic hat fie es verjtanden, bei mehrmonatlichem Wufenthalt auf 
dem europäiſchen Nontinent fiir iby Unternehmen Stimmung ju madden, gewiß feine 
leichte Mufgabe unter Frauen, denen der Juternationalismus immerhin nicht viel mebr 
bedeutete, alg eine ziemlich blaſſe und gebaltlofe Vorſtellung. Aber der Kongreß 
von Chicago hat gejeigt, daß der Jnternationalismus mehr ijt als das, und der 
Fraueniveltbund bat in den ibm angefchloffenen Frauen der verfebiedenen Nationen die 
UAberzeugung erivedt, daß fiir die internationale Bereinigung der Frauen in dem inter: 
uationalen Charafter der Frauenbewequng, die iiberall denfelben grofen Zielen zuſtrebt, 
tätſächlich ein bedeutſamer Inhalt vorbanden war. 

Dieſe Uberzeugung bat ſich auch ſeit dem Kongreß von London 1899, während 
des Quinquenniums, das die Präſidentſchaft von May Wright Sewall umfaßt, 
gefeſtigt und vertieft. Nachdem einmal der Anſtoß zu internationaler Verſtändigung 
unter den Frauen der verſchiedenen Nationen gegeben war, haben ſich raſch überall 
neue Beziehungen geknüpft, und die beſtehenden find nach allen Seiten ausgenutzt und 
fruchtbar gemacht. Wir haben erfabren, wie der internationale Austauſch unfere 


— 


Thilringer Weberet. 453 


eigene Bewegung in mander GHinficht geflart und bereichert hat, und wir wiſſen, daß 
dieſer Austauſch aud über das engere Gebiet unferer eigenen Angelegenbeiten hinaus 
eine allgemeinere fulturelle Bedeutung gewinnt. Darin aber vor allem fceint mir 
der Wert unſeres Frauenweltbundes yu bejtehen: eigentliche eigene Wtionen liegen 
jeinem ganjen Wefen nach) faum im Bereich feiner Aufgaben. Er reprijentiert aber 
in feiner Exiſtenz felbjt eine hiſtoriſch bedeutſame Tat, die fich in den grofen Rahmen 
der werdenden wirtſchaftlichen und fulturellen Zuſammenhänge zwiſchen den Völkern 
würdig hineinſtellt. 

Wenn die Berliner Tagung des Frauenweltbundes, wenn der mit ihr ver— 
bundene Frauenkongreß den deutſchen Frauen die Bedeutung ihrer Zugehörigkeit zur 
Internationale der Frauenbewegung lebendig machen wird, fo wird in dieſem Bewußt— 
ſein die Note des Dankes für die Arbeit der bisherigen Präſidentin May Wright 
Sewall nicht fehlen. 


— 


Chipinger Weberei. 


Zugleich cin Wort an die Honfumentinnen, 


Dr Robert Wilbrandt. 


Nachdrud verboten. —— 


n Thüringen iſt die Gegend um Mühlhauſen am meiſten mit Hausweberei durch— 

ſetzt. Der bahnloſe Fleck zwiſchen Mühlhauſen und Eiſenach, der auf der Eiſen— 
bahnkarte auffällt und Hausinduſtrie vermuten läßt, weiterhin das ganze Eichsfeld, 
ſodann nordöſtlich von Mühlhauſen die Strecke in der Richtung nad) Nordhauſen 
ſowie die Gegend von Puſtleben, endlich im Süden nahe bei Gotha einige Dörfer am 
Fuß des Thüringer Waldes: das ſind, ſo viel ich erfahren konnte, die Hauptplätze 
der Thüringer Hausweberei. Sie liegen hauptſächlich in gebirgigen Gegenden, in 
denen die Landwirtſchaft die Bevölkerung nicht zu ernähren vermag und die Fabrik 
mangels einer Bahn nur ſelten möglich iſt. 

In den Zeitungen findet man zuweilen eine Anzeige des Thüringer Weber— 
vereins. Seiner Preislijte, welche allerhand Leinenwaren, yum Teil mit altthüringer 
Kunſtweberei, umfaßt, fest der Verein einen Appell an die Wohltätigkeit voran. „Ein 
Verein der Nächſtenliebe“, ift ex 1891 zu dem Zweck gegründet worden: „den Webern 
lohnendere Arbeit gu ſchaffen, ibre Leiftungsfabigkeit ju jteigern, den Abſatz und 
Vertrieb der von ihnen hergeftellten Waren yu übernehmen und kaufmänniſch yu leiten, 
ihnen durch Zuweiſung etwaigen Gefchiaftsgewinnes Anteil aud an dem Geſchäfts— 
betrieh ſelbſt zu gewähren, einen Teil der Weberfinder in andere Berufsarten iiber- 
quflibren und überhaupt alles anjuftreben, was die wirtſchaftliche Lage der Weber zu 
fordern im ftande ijt.” Die Vorjtandsmitglieder verwalten ibr Amt als unbefoldetes 
Ehrenamt. Nach den Jahresberichten des Vereins hat fich fein Warenumſatz von 


454 Thiringer Weberet. 


30 000 auf rund 250000 Mart geboben, alfo verachtfacht. Das ijt aber leider dod 
nur der Umſatz eines Fleinen Verlegers. Die Jahresberichte fiigen daher bingu, daß 
vielen Weberfamilien trog ihrer Bitten feine WArbeit sugewendet werden Fonnte, da dic 
geringen Betriebsmittel es nicht gejtatten. Und trog des Proteftorats der Herjogin: 
Witwe von Koburg-Gotha, trog eines Anerkennungsſchreibens aus dem Zivil€abinett 
des Kaiſers, trop mancher Unterſtützung aus den woblbabenden Kreiſen, auf deren 
Kundſchaft das Unternehmen infolge feiner relativ hohen Preife ausſchließlich an: 
gewiejen ijt, muß ein den letzten Berichten heigelegter Zettel die dringende Bitte aus- 
fpreden: „Wenn unfere armen Weber nicht durch die Abnabme ihrer guten hand— 
gewebten Waren unterftiigt werden, fillt das mit grofen Opfern und vieler Mühe 
beqonnene Werf der Nachjtenliebe, das nun feit zwölf Jahren bejtebt, in fic) felbjt 
zuſammen!“) 

Ich habe den Leiter des Unternehmens in Gotha aufgeſucht. Er iſt Landtags: 
abgeordneter, neuerdings Kommerzienrat, und widmet feine Zeit, wie erwabnt, gan; 
unentgeltlicd der guten Cade. Der Reingewinn, jährlich 15 000 bis 18000 Mart, 
wird jum größten Teil als 20 Prozent Dividende den Löhnen hinzugefügt; cin 
fleiner Teil, einige Taujend Mark, dient den Abjebreibungen vom Webutenfilien- 
Konto und dem Refervefonds. Mehr alS 1000 Mark werden jabrlicd fiir ein: 
malige Unterftiigungen an notleidende Weberfamilien ausgegeben. Die ber: 
fiibrung von Weberſöhnen alljabrlic etwa 10, in andere Berufe wird von der 
Coburg-Gothajdhen Staatsregierung mit etwas fiber 1000 Mart im Jahresdurchſchnitt 
unterſtützt. 


Namentlich während der Wintermonate werden durchſchnittlich 300 Weber, 
Spuler, Näherinnen und Stickerinnen beſchäftigt; die gezahlten Arbeitslöhne betragen 
im Ganzen zwiſchen 75.000 und 100000 Mark. Die den Webern mit Landbeſitz 
febr wertvolle Rückſicht, daß der Verein hauptfacblid im Winter weben läßt, macht 
e3 unmöglich, aus diefen Zablen cinen Schluß auf den Qabresverdienft der Weber yu 
ziehen. Nach Angabe de3 Borjfigenden ijt der Verdienft der Vereinsiveber durch— 
ſchnittlich 5300 Mark im Jahr. Doch läßt auch dieſe Zabl einen Schluß auf ibre Lage 
nod) nicht yu. Denn nicht nur, dak mance 600, 900, ja mit Hilfe der Kinder und 
bei grofer Nberanftrenqung auch 1000 Mark verdienen, es alfo famt der Dividende 
bis auf 1200 Mark bringen, fondern vor allem die dabei aufgewendete Arbeitszeit 
muß mit in Betracht gezogen werden: fie ijt ſehr lang im Vergleich mit anderen 
Induſtrien, aber dod) eine furje im Vergleich mit den iibrigen Handiwebern, und die 
Vereinsweber haben es infofern relativ gut, als fie wvielfach im Commer etwas Land: 
wirtſchaft treiben, alfo nicht alle vom Weblohn allen [eben und ibm nicht allgemein 
ibre ganze Arbeitszeit widmen. Den Vereinswebern fommt daber der Segen ibrer 
fleinen Nebenerwerbslandwirtſchaft voll gu gute. An der freien Konkurrenz, gegeniiber 
den Mühlhauſer Verlegern, find dagegen die Eleinen Landwirte im Winter die ſchlimmſten 
Lobndriider; fie arbeiten von morgens 4 bis abends 12 Ubr, um fo 6 Mark in der 
Woche zu verdienen. Beiſpielsweiſe arbeiten fie beim Verleger dasfelbe fiir 3,50 Mart, 
wofiir der Verein 10 Mark 4+ 2 Mark Dividende zahlt. 





1) Wir verweifen unfere Lefer auf die Preislifte des Webervereing, der wir in unferm Annoncentei! 
gern cine Stelle gegeben baben, und möchten auc) unferericits den Frauen’ bie Unterftiigung dieſes 
ſozialpolitiſch außerordentlich fegendreichen Unternehmens dringend ans Hers legen. D. Red. 


— 





Thilringer Weberei. 455 


Infolge feiner höheren Löhne ift der Verein, obwohl Unternehmergewinn und 
Kapitalverjzinfung bei ſeinem mildtätig geftifteten Kapital wegfallen, auf dem freien 
Markt, vor allem bei den ftaatlicen Submiffionen, nicht fonfurrensfabig. Die gute 
Qualität feines Garns ijt zwar cine Empfeblung, und von den Kunden liegen viele 
Anerfernnungen vor; aber der mechaniſche Webſtuhl arbeitet viel billiger und fogar 
hübſcher. Ob weniger dauerbaft, wie die alte Meinung und aud) der Thiiringer 
Weberverein qlaubt, fann ich als Nichtfachmann nicht entſcheiden; von einem Sach— 
fenner, einem tüchtigen Weblebrer, ijt mir die größere Haltbarfeit des Handgeiwebten 
als Märchen bezeichnet worden. Jedenfalls aber ijt der mebr nach Wohlfeilbeitsqriinden 
porgebenden Submiffionsvergebung des Militärs der Thitringer Weberverein zu teuer. 
Selbjt das niachftgelegene Armecforps läßt nicht bei ihm arbeiten. Gr kann weder 
mit den Fabrifen nod) mit den hungernden Seblejiern fonfurrieren. Der Befebl des 
Raifers, daß die Handweber beſchäftigt werden follen, erreicht daher unter dem bisher 
ibliden Submiffionsverfabren nicht feinen Swed. 

Obwohl nur auf dem Boden der Mildtitigheit lebensfabig, trägt der Verein 
indireft dod) dazu bei, die Löhne aud) bet den Mühlhauſer Verlegern etwas zu 
jtiigen: wer von ibnen entlafien wird, befommt vom Verein Arbeit. Und jo lange 
nicht Fabrifen die Tätigkeit des Vereins erjegen, it er fiir Hunderte von Familien ein 
Segen; wenn auch gegeniiber feinem Appell an die Wohltätigkeit niemals wird gefagt 
werden finnen: „Da habt Sor ein grog’ Publifum.” 

Die örtlich begrenzte, aber ſegensreiche Wirkſamkeit des Vereins ift mir dann auf 
meinen Wanderungen von den Webern felbft beſtätigt worden. 

Um Thiiringer Wald habe ich nur nod einzelne gefunden, eingeftreut zwiſchen 
sablreichen anderen Hausindujtrien; zum Teil find fie von werdenden Fabrifen auf: 
genommen worden. Go in der Sommerfriſche Cabarz. Cin buntleudtendes Dorf am 
Fuß des tief grünen Thüringer Waldes, mit dem Ausblick in eine harmlofe, naiv 
beitere Landſchaft. Und fo ift aud) die Bevslferung. Der Sage nach mit einem Cin 
flag von Zigeunerblut, die Madchen die flotteiten Tangerinnen, Muſik ſitzt allen in 
Seele und Gliedern. In ciner fleinen mechaniſchen Gurtenweberei, die vor drei 
Jahren aus bisheriger Hausweberei entitanden ijt, erftaunte id) fiber das Ausſehen der 
Arbeiterſchaft: faſt lauter ſchöne, blühend geſunde Menſchen; Manner, Mädchen, altere 
Frauen, alle mit dem Typus der Landbevölkerung. Kehren ſie abends nach Hauſe, ſo 
geht's in den Kuhſtall; Sommers bleiben fie zuweilen ein paar Tage aus der Fabrik 
fort, um anf ihrem Feld zu arbeiten. Die Wochenverdienfte der ctwa 20 Perfonen 
find: Die Männer 14 bis 18 Mark, die Madden 5,40 bis 7,90 Marf. Die WArbeits- 
zeit ift elf Stunden. Und trog dieſes geringen Lohns und langen Stehns diefe 
ferngefunden, beiteren, oft bet dev Arbeit fingenden, mit harmlos ausgelaffener Heiter: 
feit aus der Fabrif heimkehrenden Madchen! Es ijt eben Landbevilferung, fiir die 
aud die Hausweberei wohl nur Winterarbeit war, und anjcheinend eine befondere 
Raffe; cine Ausnahme, die den Wanderer freut, aber die in all den andern Tertil- 
fabrifen gefebenen Bilder, die nach Arbeitszeitverkürzung geradezu febreien, nicht ver- 
wifden Fann. 

Auch ein Handweber, der in einer grofen Stube drei Webſtühle aufgeſtellt bat, 
ijt ſchon an feinem gefunden Ausſehen als halber Landwirt yu erfennen; desqleichen 
der junge Sohn, der iveben lernt, um ſpäter in einer Fabrik einen befferen Poften 
zu befommen. Sie weben Tiſchtücher mit Sprüchen drauf und ähnliches, alles fiir 


456 Thüringer Weberei. 


den Weberverein, deſſen Bemühen, das Gewebte an Badegäſte loszuwerden, der Mann 
dankbar humoriſtiſch ſchildert. 

Im nächſten Dorf, Schwarzhauſen, gleichfalls über eine Stunde von der Babn 
entfernt, iſt eine Handwebereifabrik für Drahtgeflechte entſtanden. Der Vorſitzende 
des Webervereins hat den Unternehmer veranlaßt, ſie gerade hier anzulegen. Bis auf 
einige ältere Leute, die nach Angabe des Faktors 10 bis 12 Mark in der Woche mit 
der üblichen Hilfe der Famile erweben, ſind die Hausweber ausgeſtorben, da die 
jüngeren meiſt in die Drahtweberei übergegangen ſind. Manche ſind Drechsler geworden, 
für die Ruhlaer Pfeifeninduſtrie, „was nun aber auch ſehr herunter iſt.“ In der 
etwa 40 Perſonen beſchäftigenden Drahtwebereifabrik dagegen haben die Weber 
einen guten Tauſch gemacht: nach den übereinſtimmenden Angaben der Bevölkerung 
und des Leiters der Fabrik verdienen die Männer bei zehnſtündiger Arbeitszeit im 
Akkord 15 bis 22 Mark, in ſeltenen Ausnahmen ſogar 30 Mark, immerhin häufig 
18 bis 20 Mark in der Woche. Die Mädchen als Hilfsarbeiterinnen allerdings nur 
1 Mark täglich. Aber fiir die ganze Weberbevölkerung iſt's doch ein guter Nbergang. 
Das zeigt die Schilderung, die mir ein Webersſohn, jetzt Drechsler, aus ſeiner 
Jugend gibt: der Vater hatte zwei Webſtühle, am zweiten webte tags der ältere 
Sohn, Nachts bis 2 Uhr ein jüngerer, ein Schuljunge, und von 2 Uhr an den Reſt 
der Nacht der dritte Sohn, auch ein Schuljunge! 

Ein weit größeres Gebiet der Hausweberei hat ſich nördlich von Eiſenach 
erhalten. Im Dorf Nazza, mehrere Poſtſtunden von Eiſenach und Mühlhauſen 
entfernt, iſt die größte Faktorei des Webervereins. Dahin wandte ic mich nun. 

Zunächſt, ſo lange die Wartburg noch ſichtbar iſt, führt der Weg nur in Bauern— 
gegend. Ein Bauer, der mich für Geld und gute Worte auf ſeinem Wagen mitnimmt, 
erzählt mir: Die Bauern dreſchen im Winter ihr Korn, vielfach nach alter Art, ohne 
Dreſchmaſchine, damit die Zeit ausgefüllt wird; da ein Verdienſt für die arbeitsloſe 
Zeit nicht vorhanden iſt, lohnt ſich's nicht, Dampfkraft anzuwenden. Eine Haus— 
induftrie, ftimmt er mir zu, würde durch das ihr eigene Sinken der Löhne nur die 
Händler reich machen, für die Arbeitenden kein Vorteil ſein. Was könnte dagegen, 
möchte ich hinzufügen, ein wirklich guter Winterverdienſt für die kleinen Landleute 
bedeuten! 

Eine Stunde vor Nazza liegt das große Dorf Mühla, mit etwa 1700 Ein— 
wohnern. Hier geht jest ein junger Bauer, von dem Typus, wie Thoma ibn zeichnet, 
auf der Landftrake neben mir und ersiblt: „Fünf Sigarrenfabrifen find am Crt, 
mit etwa 350 jungen Leuten drin, auch junge Frauen, deren Kinder zu Hauſe 
find. Noch feblimmer ijt’s fiir die Kinder, wenn Heimarbeit. Die Zigarrenarbeiter 
jeben feblecht aus und werden nicht alt. Gin rofiges Geſicht fiebt man da nicht. 
Noch feblechter aber feben im Nachbardorf Nazza die Weber aus; zwanzigjährige 
junge Leute fehon wie We. Das Weben ijt ungefund, immer figen. Früh um balb 
vier, wenn man durch Nazza fubriverft, Dann weben fie ſchon.“ 

Jn Miibla beftebt auc eine Siegelei und viel Fubrgefchaft, fiir Eiſenach. Das 
Fuhrwerken ijt bier die Winterbeſchäftigung der Banern; im iibrigen fcblafen fie ſich 
im Winter aus von der Sommerarbeit, die oft faum ein bißchen Zeit zum Schlafen 
läßt. Auch geben viele, die Sommers in der Ziegelei oder als Maurer arbeiten, im 
Winter in die Zigarrenfabrif. Die jungen Madden und Frauen aber bleiben das 
ganze Jahr bei der Sigarrenarbeit. 





Thüringer Weberei. 457 


Eine Bahn bis Mühla wird jewt angelegt. Nac Nazza hinauf ijt das Land 
gebirgiq; dod) plant man den Babnbau aud von Mühlhauſen nad Nazza, iiber 
Hejrode, durch die Zentren der Hausiveberei. Man erhofft davon die der Roblen- 
sufubr folgenden Fabrifen, yur Erlöſung der Hausweberei, und außerdem befferen 
Abſatz fiir das Holz der Gegend. 

Die Schwarghaufener Drahtweberei war fiir Nazza geplant gewejen; aber obwohl 
Handbetrieh und feiner Kohlen bediirftig, hat die Fabrif die weiten Cntfernungen von 
der Bahn doch geſcheut und die kürzere in Schwarzhauſen, etiva eine Stunde, vor: 
gezogen. Nur die Zigarrenfabrifen, denen an nicdrigen Löhnen viel und an den 
ohnehin geringen Transportfojten wenig gelegen ijt, dringen aud in die entlegenen 
Dörfer ein. Auch in Nazza find ibrer zwei, von denen die fleinere etwa ſiebzehn 
Madden mit 7 bis 8 Mark Wochenlohn und die gripere eine bedeutendere Zabl 
beſchäftigt, auch etwas mehr bezahlt: die jiingeren Mädchen verdienen bier als Wiel: 
macherinnen 4 bis 5, die alteren als Rollerinnen meiſt etwa 9 bis 12 Marf in 
der Wore. 

Razza iſt ein reizendes Dorf, zwiſchen Bergen ſchmal eingebettet; die Felder 
jteigen die Anhöhen binauf. Das Dorf muß neben der befcheidenen Landwirtſchaft 
cine Heimarbeit haben, bis cine Bahn die Fabrif bringt. Auch ijt meift, bei 100 
Familien unter 700 Einwohnern, die Weberet der Hauptberuf; dod) haben alle etwas 
Landwirtſchaft dabei. 

Beim Faftor in Naya hängt ein Doppelbild, von „einem armen Weber“ 
gezeichnet: oben die “Weberfamilie, wie fie friiber war, der Weber verzweifelt und ab— 
gezehrt am Webjtubl, die Kinder, nur mit ein paar Lumpen befleidet, am Spulrad, 
die Frau vergrämt; unten die Weberfamilie, wie fie jegt ift, Durd) den Weberverein: 
der Weber arbeitet behaglich, die Kinder find wohl gefleidet und fpielen mit Spiel: 
jacen, die Frau ift jung und hübſch geworden. Auch andere danfbare Kunſtwerke 
der Weber bezeugen ihre Crfenntlichfeit fiir den Vorjipenden des Webervereins. Und 
tatfichlich find die fiir ibn webenden vor äußerſter Not bewahrt. Nur fann er nicht 
genug Arbeit ſchaffen. 

So ſagt mir ein Weber im Nachbardorf Hallungen, bei dem ich eintrete: er 
kann nur für 7 Mark wöchentlich Arbeit vom Weberverein bekommen; er könnte, 
meint er, bet den Mühlhauſener Verlegern jetzt doppelt fo viel verdienen. Aber er 
bleibt beim Weberverein, weil die Weberei ihm nur Winterarbeit iſt und nur Neben— 
beruf neben der Landwirtſchaft: im Sommer aber wollen die Mühlhauſer Verleger 
gerade die Arbeit haben, während der Weberverein ihm gern nur Winterarbeit gibt. 
Der Mann iſt ein prächtiger Mitteldeutſcher mit blitzenden Schwarzaugen; keineswegs 
ein abgezehrter Weber. Ein Bub von ihm ſitzt am Tiſch und lieſt, an die Frau am 
Webſtuhl geſchmiegt ein blühendes Kind, ein erwachſenes Mädchen ſpult, und die Alte, 
die hereintritt, meint: im Winter ſind ja nur die paar Stück Vieh zu beſorgen, einer 
von der Familie kann dabei doch am Webſtuhl ſitzen. Dieſes behagliche Bild hat 
eine bodenreformeriſche Tat zum Hintergrund: ſeit zwanzig Jahren hat ſich das Dorf 
gehoben durch Aufteilung eines großen Guts, ſo daß nun faſt jeder Kühe hat und 
nur nebenher webt. Manche wandern in norddeutſche Zuckerfabriken und Konſerven— 
fabriken, deren Arbeitsſaiſon gerade die Wintermonate gut ausfüllt; auch für dieſe iſt 
zu Hauſe ſicherer Boden. 


458 Thüringer Weberei. 


Erſt im hochgelegenen Hejrode, einem großen Dorf, kommen wir ins Zentrum 
des Weberelends. Hier iſt weniger Landwirtſchaft bei den Webern. Manche ziehen 
als Hauſierer in die Fremde. Die Madden finden jum Teil in Zigarrenfabriken 
am Ort Wrbeit. 

Sch trete bet cinem etiwa fünfzigjährigen Weber cin. Die Frau neben ihm ift 
febr cingefallen; cin Bub arbeitet am anderen Webftubl, ein Fleinerer am Spulrad. 
Nach dem Verdienſt bei gewöhnlicher Arbeitszeit gefragt, erzählt mir der Mann; er 
beginnt mit der typiſchen Außerung: „Ja, das müſſen Sie wiffen, bei uns ijt nicht 
ein gewöhnlicher Tag wie andersivo, von feds bid feds, fondern von ſechs bis elf. 
Drum gibt’ auch fo viel Anvalide bier. Debt ijt ja wenigftens Arbeit . . . Der 
Verdienft: 8 bis 12 Marf in der Woche auf einem Stubl, famt Spuler, alfo 
anderthalh Menfchen, und davon geben nod etwa 2'/, Maré ab fiir Fubrlohn und 
Spulen, foweit ¢3 die Familie nicht machen Fann. — Ya, wenn da twas geicheben 
finnte, dam der arme Weber wenigftens feine Arbeitszeit foweit einſchränken könnte, 
dap es cine Arbeitszeit wäre wie bei einem Taglibner . . . aber: je geringer der 
Lobn, um fo anger muß man arbeiten, denn man muß ja doc bejteben. Cine 
Familie von neun Perfonen, die braucht dod) 20 Mark in der Woche. Denn alle? 
muß man faufen. Die in Hallungen, die haben wenig Leute und viel Land, aber 
bier haben das Land die Bauern.” 


Haus an Haus hort man den Webjtubl klappern. Ich trete nod bei einigen 
ein. Cine Frau, deren Mann fern in einer Zuckerfabrik ift, arbeitet am Webftubl, 
während die fleine Tochter Schularbeiten macht und andere Kinder in den Betten der 
gerdumigen Stube liegen; die Frau verdient den Tag eine Marf. Dann ein finder- 
loſes Ehepaar: fie geſund, er febr iiberarbeitet, fie fonnen 12 Mark in der Woche er: 
arbeiten, aber nur bei der üblichen Arbeitszeit von ſechs Ubr friih bis elf Ubr abends. 
Immerhin ift's giinftig: denn die Frau tit finderlos! 

Wenn mance von den Kindern und Erivachfenen nicht gerade feblecht ausjeben, 
fo jind die Urjaden wohl die Landluyt, obwohl fie bier faft nie draußen im Freien 
qeatmet wird, und die villige Stille ded Lebens. Als id) Whends durch die Dorf— 
jtrafen gebe, öffnet ſich ein Fenjter nach dem andern; der Tritt eines Menſchen ijt 
ein ungewohnter Laut! 

Much ijt jest immerhin cine giinjtige Zeit. Die modernen balbwollenen Herren: 
kleiderſtoffe, ſcwwarz mit weifem Einſchuß, find oft aus ſchlechtem Faden, der am 
mechaniſchen Webftubl reißen würde; daber haben die Gandweber Arbeit. Wud) find 
fie infolgedefien jest relativ gut bezahlt. 

Aber beim Weberverein iſt's dod) nod) viel bejfer, fagen fie aud hier: man 
arbeitet dort viel fiirjer, man bat die Landwirtfchaft und dod) 500 Mark und die 
Dividende. 

Ym nächſten Dorf, wo ich übernachte, ijt wieder die Landwirticaft die Haupt: 
jache. Much die Weber, die das ganze Jahr weben, haben mebr als in. Hejrode 
Landwirtſchaft daneben. Cin groper ftarfer Mann mit bäuerlicher Geſichtsfarbe gibt 
mir 12 Mart als Weberwodsenverdienjt an; ſelbſtverſtändlich das Spulen der Frau 
mit eingeredinet. Seine Familie bejorgt felbjt das Fubrwerfen nad) Mühlhauſen zum 
Verleger und ſpult alles felbjt, jo da die 12 Mark reiner Verdienft find — allerdings 
fiir eine Familie! Und dann die vielen Seiten der Arbeitslofigfeit. Und die Arbeits- 


- ! 


Thüringer Weberei. 459 


zeit? Der Mann macht eine Handbewegung, die ſagt: Fragen Sie lieber danach nicht, 
wie lang iſt die — 

Immerhin iſt's nicht wie in Hejrode, das faſt ganz auf die Weberei angewieſen 
iſt und viel mehr Weber hat. Bauern ſehe ich hier im Zylinder und ſchwarzem Rock, 
Bäuerinnen in langen ſchwarzen Capes und großen ſchwarzen Hauben mit ſeidenen 
Bändern zur Kirche gehn. Die Jungen haben einen friſchen Turnverein. Aus der 
abgelegenen Webergegend, der „umgekehrten Oaſe“, find wir wieder heraus. Es ijt 
nur noch eine Stunde nach Mühlhauſen, an die Bahn. 

In guten Jahren wandern aus dieſen Gegenden viele auf Arbeit. In den 
ſchlechten war bekanntlich auch draußen nichts zu finden. Um ſtetigere und lohnendere 
Arbeit zu ſchaffen, das Abwandern in die Städte unnötig zu machen, das Bleiben auf 
dem an ſich geſunden Bergland zu ermöglichen, iſt der Bau von Bahnen durch das 
ganze Elendsgebiet die Vorbedingung. 

Der Bierkutſcher einer Mühlhauſener Brauerei, unter deſſen Korbdach ich einen 
Teil der Strecke zurücklege, erzählt mir, daß auch bei ihm, in Mühlhauſen, noch ein 
Stückchen von der Hausweberei vorhanden iſt. Seine Frau ſpult zu Hauſe für eine 
Fabrik, etwa zwei Lis drei Stunden täglich, und verdient fo 1,50 Mark in der Woche. 
Sie hat cine zwölfjährige Tochter, die ſchon in der Wirtſchaft mithilft, und zwei 
fleine Kinder, cind im erjten Jahr. Trogdem ijt felbjt diefer lächerlich fleine Verdienſt, 
in der Stunde faum 10 Pfennig, cin erwünſchter Gewinn in freien Stunden: ,, Die 
Beit gebt auc) obne das vorbei, und wenn's aud nur ein paar Grofden find am 
Ende der Woche, e8 ijt doch da.” : 

Diefe Auffaffung ijt typifc fiir die Nebenerwerbsheimarbeit. Und man fann ibr 
cine Berechtigung nicht abjpreden. Co techniſch riidjtindig auch dieſe in vielen 
Tertilfabritftadten noch zu findende Hausſpulerei ijt, und fo ſchlecht fie lohnt, fo un- 
erwünſcht wiirde die bei beſſerer Bezahlung fofort eintretende Ubernahme in den 
techniſch bier viel swedmapigeren Fabritbetrieh vielen alten und jungen Frauen fein, 
fo lange ibnen nicht giinftigere Mbglichfeiten in ibrer Lebenslage geqeben find. Und 
dasſelbe gilt im Großen von den Reften der Hausiveberei. Drum ijt eS ein Fleined 
Mittel, aber doch aller Unterjtiigung wert, den Handwebern möglichſt günſtige Arbeit 
zu fcbaffen, fo Lange bis ihnen eine modernere Technik auf der heimatlichen Scholle 
ermöglicht ijt. 

Gegeniiber dem von nambaften Sozialpolitifern beiderlei Gefchlecht3 geäußerten 
Gedanfen, man folle die Hausweber durch Ausdehnung des Arbeiterſchutzes auf die 
Hausindujtrie ausräuchern, ibre Hausweberei unmöglich machen — diefem Gedanten 
gegeniiber fann man fic) angeficht2 der Wirflichfeit eines bitteren Lächelns nicht 
erwebren. Die Anjicht, man folle die Hausweber arbeitslos madsen und der Armen: 
pflege iibergeben, denn verbungern laſſe man ja heute niemand mehr, dieſe Anficht fennt 
weder die Hausweberei nod die Armenpflege. Was die Weber wünſchen, iſt Arbeit, 
cinigermagen lohnende Arbeit; alfo fo lange nichts beſſeres möglich ijt, wenigitens 
anjtdndig bezahlte Hausweberei, wie der Weberverein fie ihnen gu ſchaffen bemüht iſt. 


Vas Sichfiqungsrecht des Chemannes. 


Boa 
Dr jur. Ernſt Goldmann. 


NAachdcud derboten 





¥S wird unſeren Leſern und Leſerinnen nicht unbekannt ſein, daß nach den Rechts- 
anſchauungen des Mittelalters der Ehemann eine faſt unbeſchraͤnkte Gewalt fiber 

ye Leib und Leben ſeiner Frau hatte. Für die Frau jener Zeiten gab eS mur 
einen Rechtsſatz: du haſt deinem Manne yu geborden. War fie dem Manne ungebor- 
jam, fo durfte er fie einfperren, bungern laſſen und züchtigen; war fie ibm untren, 
fo durfte er fie titen. Sein Wille war fiir fie die erjte und die letzte Inſtanz. Wie 
uns die alten Rechtsbücher jeigen, tar man zwar aud damals fdon bemilbt, die 
@ewaltherricaft des Mannes ju mildern, aber dieje Bemiibungen nebmen fic fiir 
unſeren beutigen Gejdmad recht fonderbar aus. So verbot 7. B. das nordgermanifde 
Recht dem Manne, die Frau bei der Züchtigung wund yu fdlagen. Die Stadtrechte 
von Augsburg und von Brinn empfablen dem Manne, auf die Frau Lieber durch 
gutes Bureden und durd das Buchtmittel der Rute als durdh Befchimpfungen, 
Peitidungen und beftige Priigel einguwirfen. Gn Breslau mußten die Ehemanner 
jeit dem Jahre 1431 verfprechen, ibre Frauen fimftighbin nur nod mit Ruten ju 
züchtigen und zu ftrafen, wie eS siemlich fei und einem Biedermann juitebe bei Treue 
und bre. 

Nad diejen Milderungsverſuchen fann man fid ein Bild davon machen, in 
weldem Umfange die Ehemänner des Mittelalters das Recht der Ziichtigung beſeſſen 
und wie fie es ausgeiibt baben. Dieſe Barbarei ijt aber keineswegs mit dem Mittel: 
alter ing Grab gejunfen. Das Zitchtiqungsrecht des Chemannes bat fich vielmebr in 
weiten Gegenden lebendiq erhalten, obwohl ſich die Rechtsſtellung der Ebefrau ſchon 
grundſätzlich geaindert hatte; fo in Hamburg, defien Statuten von 1603 dem Manne 
ein mäßiges Züchtigungsrecht juerfannten, und in Freiburg, nad defien Statuten der 
Mann die Frau aber nur nocd fcblagen durfte, wenn fie es ,,verdient” batte. Am 
längſten hat fics dad gefeglide Zuchtigungsrecht des Manned in Bavern erbalten. 
Dort war bis zum Inkrafttreten de3 Biirgerlichen Geſetzbuchs für das Deutiche Reich, 
aljo bid zum 1. Januar 1900, das Bayeriſche Landrecht von 1756 in Geltung, und 
dieſes Geſetzbuch enthielt folgende Vorſchrift: 


Inſonderheit wird der Ehemann für das Haupt der Familie geachtet, daher 
ihm ſeine Ehegattin nicht nur in Domesticis (in den häuslichen Angelegenheiten) 
ſubordiniert und untergeben, ſondern auch zu gewöhnlichen und anſtändigen 
Perſonal- und Hausdienſten verbunden iſt, wozu ſie von ihrem Manne der 
Gebühr nach angehalten und nötigenfalls mit Mäßigkeit gezüchtigt 
werden mag. 


—X 


os 


Das iichtigungsrecht des Chemannes. 461 


Die Münchener Gerichte haben wiederholt durch Urteile feftgeftellt, 3. B. in den 
Jahren 1862 und 1875, dah diefe Beftimmung in Bavern fortgefest Geltung hatte. 

Mit Unrecht hat man dagegen behauptet, dak aud das Preupifde Allgemeine 
Landrecht, das von 1794 bis 1899 in Kraft geweſen ijt, ein Recht des Ehemannes 
zur Züchtigung anerkannt habe. Man bat fich fiir dieſe falfche Wnfieht auf die §$ 701 
und 702 If, 1 berufen, die folgenden Wortlaut batten: 


§ 701. Wegen bloß mündlicher Beleidigungen oder Drohungen, in- 
gleichen wegen geringerer Tätlichkeiten, follen Cheleute gemeinen Standes nicht 
gefchieden werden, 

§ 702. Auch unter Perfonen mittleren und höheren Standes fann die 
Scheidung nur alsdann ftattfinden, wenn der beleidigende Chegatte ſich folcher 
Titlihfeiten und Beſchimpfungen, ohne dringende Veranlaſſung, mutwilliq und 
wiederbolt ſchuldig macht. 


Aus diefen Paragraphen hat man gefolgert, dak in den niederen Ständen der 
Mann das freie Recht habe, die Frau in mapigem Grade yu ſchlagen, und daß ifm 
dieſes Recht in den mittleren und höheren Standen wenigitens dann zuſtehe, wenn 
ihm die Frau dringende Veranlaffung dazu gebe. Diefen Sinn haben die Paragraphen 
aber nicht gehabt. Es handelte fich bier nur um die Frage, ob und iniwieweit Tatlich- 
feiten unter Cheleuten einen Scheidungsqrund abgeben, und das Gefeg fagt nichts 
weiter, alS dak geringe Titlicfeiten als ausreichender Scheidungsgrund nicht ange: 
feben werden finnen. Man wird e3 anc nur billigen finnen, daß wegen einer Obr- 
feige oder eines leichten Schlages nicht gleich) die Che gefdieden wird. Aber deswegen 
waren geringe Tatlichfeiten dod) keineswegs erlaubt! Konnte man ibretiwegen aud 
nicht die Eheſcheidung verlangen, fo konnte mah doch die Beftrafung des Titers wegen 
Korperverletzung oder Beleidiqung beanſpruchen. Durch die §§ 701 und 702 war alſo 
die Beftrafung deS Mannes, der feine Frau ſchlug oder ftiep, nicht ausgeſchloſſen. 
Nbrigens fprechen die $$ 701 und 702 nicht bloß von Tatlichfeiten de3 Mannes gegen 
die Frau, fondern aud) von folden der Frau gegen den Mann, fo daß ſchon dadurch 
die Annahme, der Ehemann babe nach dem Preußiſchen Landrecht ein Siichtiqungsrecht 
gehabt, widerlegt ift. . 

Wie aber fteht ed heute, nach dem Inkrafttreten des Biirgerlichen Geſetzbuchs 
fiir das Deutſche Reich, mit dem Züchtigungsrecht des Chemannes? 

In weiten Kreiſen, felbjt in den Kreiſen der Gebildeten ift die Meinung ver- 
breitet, da dem Ehemann auch heute nods das Necht zuſtehe, die Frau in den 
Grenzen der Mäßigung zu züchtigen. Dem Verfaffer ift diefe Meinung an verſchiedenen 
Orten und von Perfonen verfebiedener VolkSfreife entgegengebracht worden. Vor 
ciniger Zeit wandte fich eine Lebrerin an die Redaftion diefer Seitidrift und bat um 
Ratidlage, wie einer von ihrem Manne unaufhörlich mifbandelten WArbeiterfrau ju 
belfen fei; auch fie war der Anficht, daß es Dem Chemanne geſeßlich geftattet fei, 
jeine Frau ju fehlagen. Man muß aus ſolchen Erfabrungen ſchließen, dak der Glaube 
an das Ziichtiqgungsrecht des Mannes nod) ſehr viele Anhanger hat und daß eine 
Menge von Frauen fic febweigend eine Behandlung gefallen läßt, die keine Recht— 
fertiqung in den Gefegen findet. Deshalb ift es nicht überflüſſig und wird hoffentlich 
sur Aufklärung in weiten Kreiſen beitragen, wenn wir bier einmal die Tatfache felt 
ſtellen, daß nach dem Heute in ganz Deutſchland geltenden Rechte der Chemann nidt 


1 2 enw 


462 Das Züchtigungsrecht bes Chemannes. 


befugt ift, feine Frau zu ſchlagen oder fonftige Buchtmittel gegen fie anjuwenden, aud 
nicht in den Grenzen der Mäßigung. Unfer Biirgerlides Geſetzbuch enthalt feinen 
Sag, aus dem ein Züchtigungsrecht des Mannes berjuleiten wire. Aus den 
§§ 1352 folg. ijt vielmebr ju entnehmen, dak die deutſche Chefrau als ebenbirrtige, 
prinjipiell gleichberechtigte Perſönlichkeit neben dem Manne ſteht. Dem Manne iſt 
zwar in den das gemeinſchaftliche Leben betrejfenden Angelegenbeiten das Recht der 
Entſcheidung eingeräumt, und in diefen Grengen muß fic) die Frau dem Willen des 
Mannes fiigen. Aber fie ijt nicht verpflichtet, der Entſcheidung des Mannes Folge qu 
leijten, wenn fie fic) als ein Mißbrauch feines Rechts daritellt, und keinesfalls darj 
der Mann einen körperlichen Zwang anwenden, um feinen Willen durchzuſetzen. Bon 
Buchtmitteln, wie fie den CEltern gegeniiber dem Kinde zuſtehen, fann bei den Ehe— 
gatten ſchon deshalb nicht die Rede fein, weil der Chemann nicht der Erzieher der 
Ehefrau iſt.) Auch dann aljo, wenn fic) die Frau den Wünſchen und Anordnungen 
des Manned widerfest, wenn fie ein unordentliches Leben fiibrt oder in anderer Weije 
ibre Chepflicten verlebt, bat der Mann nicht das Recht fie gu fdlagen. Dede Tat- 
lichkeit des Mannes gegen die Frau ijt eine Rechtsverlegung; der Körper und die 
Ehre der Ehefrau fteben geradefo unter dem Schutz der Gefege wie der Körper und 
die Ehre aller anderen Menſchen. Deshalb fann die Frau, welche von ibrem Manne 
geſchlagen worden ift, feine Beſtrafung wegen vorfaplider Körperverletzung oder tat 
licher Beleidigung fordern. Solche Strafantrige werden leider nur febr felten gejtelit 
und aud dann nur in Fallen, wo ſchon fortgefegte und geradezu unertraglice Miß— 
bandlungen ftattgefunden haben: die Frau mug ja die Race des Manned fiirdten, wenn 
ex auf ihre Anzeige bin beftraft worden ijt. Fänden folche Beftrafungen häufiger 
ftatt, fo wiirde fic) das Los vieler Frauen bejonders in den unteren Volksſchichten 
bedeutend beſſern. Vielleicht wird aber fchon die Muffldrung dariiber, daß der Mann 
fein Recht bat die Frau yu ſchlagen und daß er fich ftrafbar macht, wenn er ed 
dennoch tut, 3u einer Verminderung der in Stadt und Land leider noc fo häufigen 
Mißhandlungen führen. Darum mige eS jeder als feine Pflicht betrachten, die Fabel 
yon dem Züchtigungsrechte des Ehemanns recht gründlich zu zerſtören! 

An dieſem Ergebnis darf man ſich durchaus nicht irre machen laſſen, daß nach 
dem Rechte des Bürgerlichen Geſetzbuchs — wie wir es ebenſo ſchon beim Preußiſchen 
Landrecht geſehen haben — die Ehe nicht wegen jeder Tätlichkeit des Mannes 
geſchieden wird. Einen Scheidungsgrund liefern nach § 1568 nur grobe Mißhand— 
lungen. Das ſchließt übrigens nicht aus, daß eine Ehe auch wegen leichterer Miß— 
handlungen geſchieden wird, z. B. wenn leichtere Mißhandlungen fortgeſetzt und ohne 
jede Veranlaſſung geſchehen find oder wenn fie ſich durch beſondere Umſtände (die 
Frau iſt krank oder ſehr ſchwächlich) als ſchwere Verletzungen der Ehepflichten dar— 
ſtellen. Selbſt wenn aber die Schläge im einzelnen Falle nicht ausreichen, um die 
Scheidung der Ehe zu rechtfertigen, werden ſie dadurch nicht zu erlaubten Handlungen; 
jede Tätlichkeit des Mannes gegen die Frau iſt ein nach dem Strafgeſetzbuche zu 
verfolgendes und zu ſühnendes Vergehen oder Verbrechen. 


) Vergl. die Ausführungen hierüber im letzten Sanuarheft dieſer Zeitſchrift S. 201 folg. 


— 


463 


Ces Deuntes Oebof, ——R->d 


Bon 


Radbrud verboten. 


Ves ber Sculjugend hatte Anna Blo 
von jeber als etwas befonderes gegolten; yum 


Teil war daran ihr Bubaufe Sduld oder | 


ber Weg, den fie dahin yu machen hatte. Sie 
batte nie Beit gebabt, mit den anderen Rindern 
nad ber Schule auf dem Markte zu fpielen 
und um die Kirche berum, fondern twar immer 
fofort bie Straße bhinuntergelaufen, die an 
den Fluß führt. Buweilen hatten einige 
Rinder fie bis ans Wafer begleitet, um gu 
feben, wie fie fiir zwei Pfennige vom alten 
Timmes iibergejest wurde. Sie waren 
bewundernd oder neidiſch fteben geblieben, bis 
das Boot am anbdern Ufer hielt, das Rind 
ang Land fprang und an der grofen Rub- 
wieſe vorbei landeinwärts trabte. Geſchah es 
dann, daß ihre Spiele ſie nach einiger Zeit 
noch einmal an das Waſſer brachten, ſo 
legten ſie wohl die Hand über die Augen und 
entdeckten winzig im weiten Grün den feuer— 
roten Rock der Anna. Noch einige Zeit 
ſpäter war er aber nicht mehr zu finden, und 
dann wußten ſie, daß Anna Block in der 
dunkelgrünen Baumgruppe verſchwunden war, 
die ein wenig erhöht wie eine Inſel mitten 
im lichten See der Wieſen lag. 

Ihre feuerroten Röcke waren ein anderer 
Grund, weshalb Anna Block als etwas 
beſonderes gegolten hatte. Um ihretwillen 
hatte ſie ſich auch ſelbſt ſtets ein wenig höher 
eingeſchätzt als die anderen Kinder, welche 
dunkelblaue oder braune trugen, die nicht 
ſchnell ſchmutzig wurden. Die Röcke waren 
aus den vielen roten Kleidern gemacht, die 
Annas Mutter mit in die Ehe gebracht hatte, 
von denen ſie die meiſten noch gar nicht 
getragen hatte, alg fie ſtarb. Ihr Mann 
hatte rot fo gern an ibr gejeben und ftets gelobt, 
wie gut es ju ihrem dunkeln Haar pafje. 





| 
! 


Elfe Hildrich. 


Enbdlih war Anna Blod aud) wirklich 
etwas beſonderes gewefen, nämlich die befte 
und bravfte Schülerin; bas bing damit 
jufammen, daß fie fich ſchon als kleines Rind 
gang feft und flar porgenommen batte, in ben 
Himmel gu fommen. 

Sie war es im letzten Jahre, ebe fie gur 
Schule mubte, häufig müde geworden, allein 
im fonnenivarmen, blumigen Gras der tweiten 
Wiefen herumpuleben oder im Winter zuzuſchauen, 
wie die Kühe in ber grofen Halle gemolfen 
wurden, fondern batte fic) viel zur Grofmutter 
gchalten und ihr in der Küche gebolfen oder 
beim Muftrennen von all bem vielen roten 
Beug. War ihr diefe Beſchäftigung nad 
einiger Beit langweilig geworden, fo pflegte 
fie bie Grokmutter zu fragen, wem denn die 
vielen Rleider gebirten, die gu Ridden fiir 
fie zerſchnitten würden, und der darauf ere 
folgenden Erzählung gu lauſchen, die fie ſchon 
oft gehirt hatte. War dieſe bis gu dem 
Punkte vorgefdbritten, an welchem die Tranen 
der Grofmutter zu ſteigen begannen, war 
befdricben tworben, wie gut die Eltern es im 
Himmel batten, wie fie auf das Rind herab— 
blidten und es erivarteten, fo nahm Ddiefes 
plötzlich und gefdidt ben Redefaden in feine 
Hand und die frither ftets mit erbobenem 
Finger und Feierftimme erfolgte Ermahnung 
poriveg: „Darum mußt du febr adt geben 
und forgen, daß du aud in ben Himmel kommſt; 
das weiß ich dod) ſchon, Grofmutter.“ 

Sn ber Schule hatte fie bann febr gut adt 
gegeben, twenn die Rede bavon war, was 
man 3u tun babe, um ficer und gradenwegs 
in den Himmel ju gelangen, und hatte die 
Aufmunterung, ju diefem Swede brav und 
fleifig gu fein, fo gut beberjigt, daß ibr, als 
fie erwachſen war, bas Tugendbajtfein zur 


464 


Gewohnheit und das Pflichterfüllen zum Ver— 
guiigen getvorben war. 

— Renn Anna Blod von dem harten 
Teil ihrer körperlichen Arbeit beim Rartoffeln- 
ſchälen oder Strümpfeſtopfen ausruhte, fo 
machte ſie ſich vielerlei Gedanken und nicht 
zum mindeſten über ihren Künftigen, wie er 
eines Tages kommen und wie ſie ihn lieben 
würde. Cr würde ſehr ſtark, klug und redt- 
ſchaffen ſein, anders als die jungen Leute im 
Städtchen, die fie bisher fennen gelernt hatte; 
ob blond, braun oder ſchwarz, das ſorgte ſie 
nicht; darüber zu klügeln überließ ſie den 
Mädchen aus dem Ort. Auf keinen Fall 
wollte ſie ſchon vorher mit einem anderen 
etwas gehabt haben, ehe jener eine, rechte 
erſchien. 

Sie hatte ſich noch mit niemanden ein— 
gelaſſen, auch nicht im geringſten mit dem 
jungen Doktor, der im Sommer wochenlang 
im Ulmenhof gewohnt und denſelben von 
verſchiedenen Seiten gemalt hatte. Sie pflegte 
ihn munter anzulachen, wenn er ſtehen blieb 
und ernſthaft beobachtete, wie ſie Heu rechelte 
oder mit aufgeſtreiften Bluſenärmeln an der 
Waſchbütte ſtand; kam er aber mit dem Wunſch 
zum Vorſchein, ſie abzubilden, ſo lachte ſie 
ihn aus und verjagte ihn mit einer Handvoll 
Heu oder Seifenſchaum. Nicht einmal photo— 
graphieren ließ ſie ſich von ihm. „Sie müſſen 
doch einſehen, daß hier im Vordergrunde 
etwas fehlt“, ſuchte er ſie zu überreden und 
zeigte ihr das Bild des Pfades, den ſie täg— 
lich zu gehen hatte. Am untern Rande des 
Bildes war er breit und ganz deutlich von 
Gräſern und Blumen begrenzt, wurde aber 
ſchnell ſchmal gegen den Hintergrund und 
erſchien, wo er mit der dunkeln Inſel des 
baumumſtandenen Gehöftes zuſammenſtieß, 
faſt als ein Strich. Der ſtrohüberkappte 
Giebel des Gebäudes ſchimmerte durchs Laub; 
unter ihm lag grell der beſchienene Vorplatz, 
auf den das Innere der Halle kohlſchwarz 
hinausſtarrte durch das geöffnete Tor. „Es 
wäre hübſch, wenn Sie hier vorne ſtänden 
und den Pfad hinunterblickten, vielleicht mit 
der Hand über den Augen gegen das Licht. 
Ihr Schatten würde ſo wirkungsvoll quer 
über die große Helle der Wieſe fallen. 
Morgen verſuchen wirs einmal, Fräulein Anna.“ 


or 


| 
| 
| 


Neuntes Gebot. 


Sie hatte aber nicht gewollt, war dann 
freilid) eines Tages durdh Lift von ihm ge— 
fangen worden. 

Sie hatte laut aujgefdrien, als er ihr das 
Bildden iiberreidte. „Ich ſchenke es Abnen, 
wenn e3 Ihnen gefallt.” Da floß der Strom 
quer iiber das Bild, und mitten darauf im 
Boot faben Jakob Timmes und fie felber 
leibbaftig. Run wußte fie aud), was der 
Doftor vorgeftern am Waſſer getan hatte, ebe 
er fo flint vor ibr bergegangen twar dem Hoje 
qu. Cie wurde gang warm vor Freude an 
dem Bild, da alles fo richtig wiedergegeben 
war. Safob Timmes ſaß mit ftraffen Armen 
rückwärts geftemmt, als werde er im aller: 
nadjten Augenbli€ die Ruder aus bem Waſſer 
heben; dabei hatte er den Ropf gewandt und 
lachte übermütig aus dem Bild beraus. Er 
fab, was am Ufer vor ſich ging und batte 
feinen Spaß, bak die Anna gar nidts babon 
merfte. Die bielt den leeren Gierforb mit der 
Rechten auf dem Schofe feft und lies die 
Linke im Waſſer hängen. Gie erinnerte fid 
gan; genau ber ſchönen Kühlung, bie fie dabei 
genofjen batte und ded feltjamen Unblids, den 
bie Finger durch das Hare, bewegte Waſſer 
geboten batten; twie jappelnde, fdimmernde 
Meergewächſe faben fie aus. 

noo hübſch ift mir nod felten ein Bild 

geraten”, fagte der Doktor, und Anna be— 
banfte fic) febr, ftedte e8 forgfam in die 
Taſche und ftellte es fpater binter bie Glas- 
ſcheibe des kleinen Wandſchranks in ihrer 
Stube. 
Da ſtand es nun ſchon wochenlang. Anna 
beſah es oft; ſie verwunderte ſich immer wieder 
darüber, wie ſo ähnlich das Geſicht des Jalob 
Timmes war und mußte zuweilen ſein Lachen 
erwidern. Daß er nichts geſagt und ſie ſo 
ganz ahnungslos gelaſſen hatte, der nichts— 
nutzige Menſch! 

Sie beſah den Jakob Timmes jeden Tag. 
Er war der Sohn des alten Timmes, der ſie 
täglich übergeſetzt hatte, als fie nod in die 
Schule ging; er war im tüchtigſten Mannes- 
alter und batte Kraft fiir zwei. Das Boot 
ging gang anders, twenn er ed bewegte, als 
Machinittags, da Peter ride ruderte, während 
jener in der grofen Cifengieferei beſchäftigt 
war. Bis zwölf Ubr Nadts war er in der 


Neuntes Gebot. 


Gießerei; wann er wobl eigentlich ſchlief? 
Wenn man ibn fragte, würde er laden und 
jur Antwort geben, ein geſunder Rerl braude 
nicht gu ſchlafen. Anna Blod rechnete aus, 
daß er von zwölf bis fünf Uhr ſchlafen werde. 
Er war ein fleißiger, ſtarker Mann, und recht— 
ſchaffen auch, das war er! Die jungen Weiber 
aus dem Orte ſchauten gern nach ihm, und 
einige ihrer Männer, die hitzig waren, mochten 
den Jakob Timmes nicht leiden. Es war 
aber keiner, der ihm etwas hätte nachſagen 
können. Daran, daß ſie nach ihm ſchauten, 
waren ſein Übermut ſchuld und ſeine Kraft; 
oder der lange Bart und die ſcharfen Augen? 
Es konnte ihr gleichgiltig ſein, was die uns 
nützen Weiber an ihm fanden. — Als einmal 
zugleich mit Anna Block der Kuhhirt und ein 
paar Männer aus dem Ort im Boote waren, 
wurde von der Frau des Jalob Timmes ge— 
ſprochen. Es gehe ihr nicht gut, ſagte ihr 
Mann, ſie müſſe immer liegen und huſte mehr 
als früher, daß es ein wahres Elend fei. 

„Er iſt geſchlagen mit der Frau“, ſagte 
der Kuhhirt, als er danach noch eine Strecke 
weit mit Anna Block zuſammen ging, „nichts 
als krank und armſelig iſt die immer geweſen; 
Kinder haben ſie auch nie gehabt.“ 

Das Mädchen ging allein weiter. Das 
Mittagslicht über der Wieſe war ſo grell, daß 
es die Augen klein machen und ſenken mußte. 
Bliibender Sauerampfer und Wucherblumen 
drängten ſich im trocknen, hohen Graſe. Das 
Inſektengeſumm ſtand eintönig in der Glut. 

Wenn nun die Frau des Jakob Timmes 
ſtürbe, ſo würde er wieder heiraten und könnte 
Kinder befommen, kräftige Buben mit über— 
miitigen Augen. 

Es fiel ihr ein, daß es unnütz fei, dariiber 
nachzudenken, fie febnellte ben Kopf hod) und 
fudte nad) cinem gegenwärtigen Ding, daß 
es ihre Mufmerfjamfeit gefangen nehme. Es 
war aber nichts als das ſchmerzende Licht 
ringsum. 

Zu Hauſe ſtellte ſie das Bild im Wand— 
ſchrank werfebrt gegen das Glas. Was 
braudte der fie immer anjuladen. Wenn 
welde vom Geſinde jujammenftanden, fo ging 
fie langſam und bantierte [eifer, ob von der 
Frau Timmes die Rede ware. Das madhte 
fie müde und ungeduldig. „Ich frag ibn 


| 


465 


morgen nad der Frau”, nabm fie fic vor; 
es ijt gut, gleid gu hören, wenn ibr beffer 
ift. Cie fah ibn anbdern Tags im Boote 
aufmertfam von ber Seite an, ob nichts aus 
feinen Mienen gu ſchließen fei. Den darauf 
folgenden Morgen fragie fie ihn. Es fei 
nicht beſſer geworden, eriwiderte er, der Arzt 
meine, ſie könne ſich zwar noch Jahre lang 
ſo halten, es könne aber auch auf einmal 
ſchnell mit ihr zu Ende gehen. Das Mädchen 
ſagte Worte des Anteils und ſah ihn wieder 
heimlich an mit heißen Wangen, bis ihm nach 
einiger Zeit das Gefühl einer großen Be— 
friedigung bewußt ward, die mit der ver— 
nommenen Nachricht ſein Gemüt ergriffen 
hatte, und es erkannte ſeinen Wunſch, die 
Frau des Jakob Timmes möge ſterben. 

Es war ſo ſonderbar, daß die Anna Block 
einer andern Mann begehren ſollte. Keiner 
würde das von ihr glauben im Ort, von ihr 
am allerwenigſten. Begehrte ſie ihn denn? 
Begehren! Es traf ſie keine Schuld. Sie 
hatte nichts getan, als was ſie tun mußte; 
ſie mußte die Eier zur Stadt bringen und 
überfahren jeden Tag. Die Brücke war eine 
halbe Stunde oberhalb, ſie verlor zwei 
Stunden, wenn ſie über die Brücke ging; 
vielleicht müßte ſie doch darüber und könnte 
eine Strecke weit laufen beim Riidweg? Die 
Leute würden ſich aber wundern, zu Hauſe 
würden fie fragen und Jakob Timmes felbjt? 
Er hatte doch nichts getan und wußte nichts; 
ſchließlich lief ſie für eine Einbildung über die 
Brücke. 

Einbildung würde das ganze ſein. Sie 
wollte ſich zwingen, nicht mehr daran zu 
denken, ſie brauchte ja auch das Bild nicht 
mehr ſo lange anzuſehen. 

Sie ließ es umgekehrt im Wandſchrank 
ſtehen und legte es andern Tags ganz fort in 
ein Buch hinein. „Bis ich die Einbildung 
los bin“, dachte ſie, „erſt dann beſehe ich es 
wieder, vielleicht fühl ich mich nächſte Woche 
frei, vielleicht ſchon übermorgen.“ Sie wünſchte 
ſehr, es möge ſchon morgen ſein, daß ſie es 
wieder betrachten dürfte. 

Eigentlich müßte ſie es zerreißen. Dann 
erſt hätte ſie bewieſen, daß der Vorſatz ganz 
ernſt war, die Einbildung los zu werden. 
Wenn ſie es vernichtete? Sie wollte darüber 

30 


466 


ſchlafen und fid dann entſchließen. Vielleicht 
finnte fie es ja aud) gang weit forttun, gut 
veriteden, daß fie es wabrideinlid) nie wieder 
finden twitrde, Nur, daß es nod) da wäre, 
fiir den Fall, daß fie es einmal braudhte 
irgendivie. 

Frühmorgens am britten Tage war fie 
entidlofjen, e3 gu vernichten. Cie warf einen 
gang kurzen Blick dariiber, während ein feiner 
Schmerz ihre Keble beflemmte. Er hatte dod 
nidts getan und wußte nidts! Dann hatte 
fie eS gefnidt und nod einmal bdoppelt. 
Etwas Naſſes lief iiber ihr Geficht, daran der 
Schmerz in der Keble ſchuld war. Cie wifdte 
es fort, jerfleinerte die vier Teile in winzige 
Stiidlein und nabm fie in die Hand, in der 
fie leit und [oder Ingen. Auf der Wiefe 
befam fie ber friftige, feucte Wind. 

Der Himmel war voll leidten, ſchnell 
ziehenden Gewölls, das juiveilen die Conne 
verftedte, Anna Blod ging vor bem Wind 
und lief ſich von ihm treiben; zuweilen drebte 
fie fich gegen ibn, bag er ihr die flatternden 
Haare gliattete; fie nabm volle Züge der 
falten, reinen Luft und gab auf bie 
ſchwankenden, braufenden Ulmen des Hofes 
adt und auf die Windmiible, die fic gar 
fo munter drehte in der Ferne. — Gie twar 
frei und ftolj; fie wußte, was fie fonnte, 
fie fiibrte aus, twas fie wollte, fie fühlte fic 
ftarf und kühn. 

Sie freute ſich über zwei Störche in ihrer 
Mahe, die fcnabelgefentt durch den blujternden 


Wind ibr Futter fudten und bei jedem 
Srhritte mit dem langbebhalften Ropfe 
wippten. Fern vom Norbrande der Wiefe 


wuchs ein ſchwärzlicher Tridjter in das leichte 
Gewilf bes Himmels hinein. Er fommt 
geradewegs vom Meer, dadte bas Madden 
und fab ihm gu, bis feine Breite riefengrof 
gu ibren Haupten war. Cie twunderte fic, 
wie ſchnell er berangefommen war, und wie 
die Windmiible draußen arbeitete, als bliefe 
ibr ber Catan in bie Schwingen. 

Dann erreichte fie felbft ber Sturm, und 
es fiel ibr ein, dap fie fic) fputen miiffe, um 
fiber das Waſſer gu fommen, ehe es nod) 
ſchlimmer würde. 


Neuntes Gebot. 


gu ſehen ſtromab und -auf, als aufgeregt 
hüpfende, ſchäumende Wellen; fie hatte dag 
Waſſer nur ſelten fo lebendig gefeben. 

„Sollen wir fahren?“ fragte Qafob 
Timmes. Cie ſaß ſchon im Boot und nidte, 
fie batte gar feine UAngft bor dem Wafjer, fo 
froh und frei, twie fie twar, und aud) vor 
Jakob Timmes nicht; fie war ja Herr über 
ſich! Sie lachte, wenn fie recht in bie Tiefe 
fielen, und twenn die Kühe, die nod) auf dem 
weifen Sandjtreifen des abſchüſſigen Ufers 
waren, mit hochgehobenen Schwänzen und 
plumpen Sprüngen bor den leckenden Wellen 
auf das Grüne flüchteten. Er ruderte mit 
ganzer Kraft und ſah fie ernſt und durd-* 
dringend an, als nähme es ihn wunder, daß 
fie fo gar feine Angſt verriete. Cie funkelte 
und ladte ibm in die Mugen. „Wenn ich mit 
Peter Fride fibre! Wher fo? De höher, dejto 
luftiger.“ — 

Anna Blod war ben ganzen Tag in der 
Küche gewefen, wo es fein Ctiindlein bell 
geworden war und two man das Fenfter nicht 
hatte öffnen können, weil in einem fort der 
Regenivind darauf ftand. Sie hatte Morgens 
gekocht und Nachmittags gebiigelt und eine 
gang trodene, gefpannte Haut davon bee 
fommen. Abends mußte fie nod ein grofes 
Geridht Erbſen ausſchälen fiir den anbdern 
Tag; da hielt fie es nidt mehr aus in Hike 
und Dunft, fondern trug eine kleine Want 
durch die Halle mitten in das gedffmete Tor; 
ben Korb voll bellgriiner Erbſen ftellte fie 
neben fic) auf ben Boden und nabm die röt— 
liche irdene Schüſſel auf den Schoß, in welche 
ſie die aus der ſpröden Schote befreiten 
Kügelchen hinunterrollen ließ. Die Schüſſel 
und die Erbſen waren ſehr kühl und taten 
ihren Händen wohl, während die feuchte 
Friſche der Luft ihr Geſicht wie eine kalte 
Flut erlabte. Der Wind war ſtill an dieſer 
Seite des Hofes; es fielen vereinzelte dide 
Tropfen von ben Ulmen auf den Vorplatz 
binunter; auf der Wiefe aber ſtäubte der 
Regen nocd, durd das Laubtor fab man ibn 
filbrig ziehen und ſchwanken. Cie drückte 
ganz langfam bie Schoten auf, legte zwiſchen— 


Das Boot lag auf ihrer | durch die Hände in die Schiifjel hinein und 


Ujerfeite und tanzte, als ob eben ein Dampfer | genoß bas Atmen und das Ruben. Es war 


vorbeigefahren wäre. 


— 


Es war aber nichts ſo viel Geſundheit in ihr und Luft und Ver— 


Reunted Gebot. 


trauen; es könnte einer glücklich durch fie 
werden, wenn er fie rect erlännte. — 

Weit draufen auf dem Pfade fah fie 
jemand fommen, der war fdief und wadelte 
beim Geben; es mute der Briefbote fein. 
Ws er fo nahe war, daß man den feudjten 
Boden unter feinen Schritten ächzen hörte, 
fam die Grofmutter durd die Halle, um 
ju feben, wer es fei. Sie erbielt Seitungen 
fiir den Obeim und einen Brief fiir fid 
und fagte dem Mann, er möge fic) cin wenig 
ausruben auf ber Bank; das tat er, jah eine 
Zeitlang neben Anna Blod und ſchwieg. 
Beim Aufſtehen ſagte er, indem er ſeine 
Taſche auf dem Rücken zurechtſchob: „Dem 
Jakob Timmes ſeine Frau iſt auch geſtorben.“ 
Dann ging er über den Vorplatz unter den 
Ulmen weg und den Pfad entlang. Den 
Platz, auf dem er geſeſſen, nahm die Groß— 
mutter ein und erzählte eine breite Geſchichte über 
die Timmes und ihre Eltern und Geſchwiſter, 
darin viel Krankheit und Mißgeſchick vorkam. 
Das Mädchen gab nicht acht, wie das zu— 
ſammenhing; es grub ſeine Hände in die 
Erbſen hinein und taſtete über den glatten 
Boden der Schüſſel, wobei ihm die kühlen, 
kleinen Dinger um die Finger rollten. „Nun 
dürfte id) das Bild ſuchen gehn, wenn es nur 
vergraben wäre“, dachte fie; ,aber nod nie 
im Leben bin ic fo froh über etwas geweſen, 
als dariiber, bah ic es zerriſſen babe.” Als 
fie nad einer Stunde die Arbeit vollendet 
hatte, waren ibre Wangen nod ebenfo gliib- 
beif wie in bem Augenblide, da fie in die 
frifche Luft hinausgetreten war. 


* * 
* 


Mad mehreren Monaten fing Dafob 
Timmes an, un Anna Blod gu freien, und 
nad anderthalb Jahren heirateten fie ſich. 
Sie brachte ihm ein fleines Vermigen ju und 
die Ausfidt auf den Befis des Ulmenhofes 
fiir bie Beit, wenn die Großmutter und der 
Obeim tot fein wiirden, 

Wenn möglich arbeitete er nun nod mehr 
alg früher, und da fie fleifig war und ju 
wirtfdaften verjtand, ging es ibnen gut, und 
fie waren nicht nur das ftattlidjte, fondern 








aud das lebensluſtigſte Ehepaar im Orte. | 


467 


Bei jedem Schiigenfefte oder Tanz fonnte 
man fider fein, den Jalob Timmes mit jeiner 
Frau erjceinen ju feben zwiſchen dem jungen 
Volk. Cie tanjten rafder und ausdauernder 
als die andern; wenn fie endlid) außer Atem 
ftehen blicben, faßten fie fich bei Den Handen und 
faben fic) fo ftol; und lachend in die Augen, 
alé follte erſt nächſten Sonntag Hochzeit fein. 
Gr fitmmerte fic) um feines ber Weiber aus 
bem Orte mebr und duldete nicht, dah fie 
mit einem anbdern tanjte. Jn dem Punfte 
nabm er es feltjam genau. Einmal, als fie 
im Begriffe war, den Antrag eines jungen 
Burfden ju einem Rundgang tiber die Wieſe 
anjunebmen, bielt er fie guriid mit ſolchem 
Griffe, daß fie leiſe aufſchrie im Schmerz. 

„Was haſt du?“ fragte ſie mit erſchreckten 
Augen. Da nahm er ohne ein Wort ihren 
Arm und ging mit ihr fort von dem ſonnigen, 
grünen Platz. Die Alten und Jungen aber, 
welche die Hecke entlang ſaßen und ſtanden, 
ſchauten ihnen nach und tuſchelten. 

„Was hatteſt du?“ fragte ſie, nachdem ſie 
ſtumm durch einige leere Straßen gegangen 
waren. Er ſuchte ihre Hand und preßte ſie: 
„Ich kann es nicht leiden, daß du mit den 
Jungen tanzeſt. Etwas ſanfter hätt' ich ja 
zufaſſen können. Hat es weh getan?“ 

„Nun iſt es vorbei“, ſagte ſie und ſah 
auf den Boden und betrachtete den Schatten 
ihrer Geſtalten, der ſich ſeltſam kurz gedrungen 
über das grelle Grau des Straßenſtaubes 
ſchob. Es war das erſtemal, daß ſie nicht 
wußte, woran ſie mit ihm war. 

„Du weißt doch von der Nacht, wie es 
mich zuweilen packt, daß ich auffahren und 
zugreifen muß, es kommt ſo wie ein Schrecken, 
es iſt nichts.“ 

Sie nickte, das kannte ſie an ihm. 

In derſelben Nacht wurde ſie wieder da— 
durch geweckt. „Biſt du wach“, fragte er, 
als er danach wieder ſtille lag, und da ſie 
bejahte, „haſt du bemerkt, wie ſie ſchwatzten, 
als wir dieſen Nachmittag von der Wieſe 


gingen?“ Sie hatte nichts bemerkt. „Haſt 
du wohl nie gehört, was ſie über mich 
reden?“ 


„Nie, was reden ſie denn?“ 
„Narrheiten! Aber es wundert mich, daß 
du nie etwas gehört haben ſollſt!“ 
30* 


468 


„Ich weiß nichts und will aud gar nidts 
hören“, fagte fie, ſchon balb im Schlafe. Sie 
waren fo gliidlid, e3 war Reid von den 
Leuten, dap fie ſchwatzten. 


* * 
* 


Nach einem Jahr bekamen ſie einen Knaben, 
danach ein Mädchen und ſpäter noch eines; 
als die herangewachſen waren, der Sohn zur 
Lehre in die Stadt zog und die beiden Töchter 
geheiratet hatten, blieben Jalob Timmes und 
die Frau ſo allein, wie ſie vor zwanzig Jahren 
geweſen waren. Um die Zeit ſtarb der Oheim, 
der bis dahin den Hof bewirtſchaftet hatte. 
Die Timmes traten ihr Erbe an und jogen 
auf bie Wiefe hinaus. „Für die Giegerei bin 
id) dod) nichts mehr”, fagte der Mann, fein 
Haar war grau und fparlid) geivorden, die 
Augen Hatten aber nod diefelbe Durdhdringende 
Schärfe wie in den Jahren, ba die Weiber 
des Ortes darin vernarrt gewejen waren. 
Sie war cine febr riijtige Frau und nabm 
den größern Teil der Arbeit auf fied. 

Er pflegte häufig neben ibr gu fteben oder 
ju figen und zuzuſehen, wenn fie am Butter: 
faß befchaftigt war oder mit fiarfen Schlägen 
Waffer pumpte, und pflegte dann jede ihrer 
Bewegungen mit nachdenklichen Bliden ju 
verfolgen. 

„Was ſitzeſt bu denn und guckeſt fo in einem 
fort?” fragte fie einmal, da ibr fein Wefen 
feit einigen Seiten aufgefallen war, worauf er 
von ſeinem Cite auffprang, den Pumpen— 
ſchwengel aus ibrer Hand nabm und mit 
folder Rraft fiibrte, bah ber Cimer in zwei 
Schlägen gefiilt war und das Waſſer tiber 
und iiber flog. Zuerſt vertounderte fie fic, dann 
ladte fie und dann flebte fie wm aller Heiligen 
willen, er möge aufhören, der Brunnen werde 
leer. Cr hörte aber erjt auf, als ibm ber 
Schweiß auf der Stirne ftand, dann bolte er 
jum letztenmale wuchtig aus und rief: 


aud ein alter Mann geworden bin” und ging 
die Rellertreppe hinauf. Jn der Halle hörte 
fie ibn laden. 

Seitdem fprad er oft von feinem Alter 
und ſchien die Gelegenheit dazu aus der Luft 
qu greijen. Er febe ja ein, dab fie nun yu 
jung fiir ihn fei; fie babe ibn aber freitwillig 





Neuntes Gebot. 


genommen und nun müſſe fte aushalten mit 
dem verjdlifjenen Bann. „Was du nur 
rebeft”, fagte fie; fie hatte immer ibre Pflicht 
an ibm getan und liebte ibn aus Herjens- 
grund; es hatte feinen Ginn, was er 
ſprach. 

„Du biſt noch eine junge, ſehr hübſche 
Frau“, ſagte er ein anderes mal, als ſie vor 
der Halle unter den Ulmen ſaßen, und nach 
einer Pauſe „ich möchte wiſſen, was noch mit 
dir werden wird, wenn du Witwe biſt?“ Er 
ergriff ſie beim Handgelenk und hielt es feſt, 
ſodaß ſie den Strumpf, an dem ſie ſtopfte, 
fahren laſſen mußte. Sie fab ibn forgenvoll 
an: „Wie du immer auf ſolche Gedanlen 
kommſt; an fo etwas benft dod) fein geſunder 
Mann.“ 

„Ich bin nun einmal zwanzig Jabre alter 
alg bu. Zwanzig Sabre wirft du Witwe 
fein, fo muß man rednen. Oder twas! 
Zwanzig Sabre wirft du nidt Witwe fein; 
id weiß fdon, wie es geben wird. Ja, ja!” 
Er ftand auf, ging fiber ben Vorplatz bis 
babin, two er bie Wiefen weit überſchauen 
fonnte und wies mit ber Hand nad der 
Flupfeite. „Dahin geht der eine Bug und 
bierber fommt der andere, nod ebe der eine 
fibers Waffer ijt; die Anna Timmes hat die 
Wahl.“ 

Er wandte ſich, um von neuem ihren Arm 
zu faſſen. „Aber krank bin ich nicht, hörſt 
bu? und bald find wir nod nicht fo weit. 
Denk nur nidt, es könnte bald fein! Bb 
rate dir, bent, daß ich immer lebendig bliebe; 
id bin aud febr 346 und ftarf. Ich werde 
langer eben, ald fie alle meinen.” 

Danad ging er langfamen Cobrittd in 
die Halle hinein. Cie betrachtete die weißen 
Flecken auf ibrem Arm, bie von dem Drud 
feiner Finger geblieben waren und beobachtete, 


| wie fie allmählich bunfelten und verſchwanden. 
„Da 
ſiehſt du, ob ich noch etwas kann, wenn ich 
durch die 


Der graue Strumpf fing an, vor ihren 
Augen zu ſchwimmen und das Abendrot 
Ulmen zu flimmern und zu 
ſchwanken. Sie wußte nicht, was mit ihm 
war. Sie grübelte, ob er ein Unrecht von 
ihr denken könne, bis ihr einfiel, daß die 
meiſten Menſchen im Alter Eigenarten an— 
nehmen ſollen. So etwas mußte es mit ihm 
fein; es durfte fie nicht kränlen. — 


RNeuntes Gebot. 


Er fing auch an, fie zu bewachen; fie be= 
merfte es befonders gegen ben Winter, ba 
ibn cin Kränkeln iiberfiel, bas ibn zwang, im 
Haufe gu bleiben. „Was haſt du driiben ju 
tun?” fragte er, wenn fie fich gum nötigſten 
Gange in die Ortſchaft riiftete. Sie gab 
genauen Beſcheid und beeilte fic) auf dem 
Wege. Gr aber betradtete fie mit fdjarfen, 
unrubigen Bliden, twenn fie juriidgefommen 
war, und forfdte und rechnete aus: Zwanzig 
Minuten fei fie gu fpat, fie müſſe nod 
anbersivo geweſen fein. 

An einem Radmittage im November fagte 
er, nun fiible er, daß er cine Rranfheit be- 
fomme und ging ju Bette, als es eben 
dunkel geworden war, Den ganjen Tag 
iiber hatte er neben bem Küchenherd gefefien 
und mit ben Zähnen geflappert. Sie forgte 
ſich und fragte, ob er den Arzt haben wollte; 
ba er bejabte, riiftete fie fic), um in Eile den 





469 


ſchweren Beinen ging fie in bas Zimmer 
guriid, löſte bag Tuch und weinte. „Jakob, 
Jakob, was ift mit dir?” 

„Ich will, daß du bleiben follft; es ift 
nichts.” 

Er Ing ftill und fah die Dede an; fie 
madte fic) im Bimmer zu ſchaffen, bis er die 
Augen gefdlofien hatte. Dann ging fie leife 
hinaus und die Stiegen binab. Unten webte 
es feucht und falt durd) bie Dunfelbeit; fie 
tajtete fid) gum Tiirgriff der Halle, trat in 


' die dunftige Warme des ſchwach beleudteten 


Raumes und aging zwiſchen den Kühen hin— 


durch bem Gerdufde der firdmenden Mild 


Weg in die Stadt gu unternehmen, damit er 


wenigſtens morgen früh fame, wenn es heute 
zu ſpät ſein ſollte. 

Timmes lag auf dem Rücken und blickte 
ibe nad auf Schritt und Tritt. „Wer fetst 
über?“ fragte er plötzlich. 

„Andreas Fride.” 

„Warum ſchickſt du nidt die Marie?” 

» die melft dod, Jakob.“ 

Wabrend fie ihr Tuch um den Kopf 
legte und auf der Bruſt feftftedte, hörte 


man den Wind joblen und mit den Ulmen | 


rajdeln. 

„Es ift dod) nichts, fo in der Nacht tiber 
ben Flug”, fagte ber Mann, „du gehſt beffer 
fiber bie Briide.” 

Da fcbiittelte fie den Kopf; es war nod 
nicht fieben Uhr und fie hatte bundertmal im 
Dunfeln fiber den Flup gefest. „Ich werde 
nod) Umwege maden! 
id) wieder dDabeim bin.” 

Mls fie bie Hand auf der Klinfe hatte, 
rief er fie zurück. „Ich will nidt, dak du 
überfährſt; bu follft nicht Abends heraus! Es 
ift Unfinn, jum Arzt zu laufen; morgen ift 
Beit genug; hörſt bu nicht?” Erx richtete fid 
auf mit rotem Gefidt. „Du ſollſt fommen! 
Mad das Tuch herunter! Was haſt du 
drauken verloren?” 

Ihre Hand zitterte auf der Rlinke; mit 


Ich bin frob, wenn | 





entgegen. 

„Marie, Du mußt den Doktor holen.“ 

„Jetzt gleid 2” 

„Wieviele baft bu noch?“ 

„Dieſe und die Schwarze und die Fable 
nod.“ 

„Laß mid; du mußt gleich geben.” 

Sie trat neben die Ruh und nabm den 
Platz der Magd ein. Geit fie verbheiratet war, 
hatte fie bad Geſchäft nicht mebr verfeben; 
bad Tier merfte die ungeiibte Hand und jab 
fidh zuweilen nad. ibr um. Sie melfte mit 
hajtenden Fingern, wiſchte zwiſchendurch die 
Augen am Ärmel ab und hielt haufig inne, 
ob iby Mann nicht gerujen hatte. Cie 
hörte dann die Tiere fauen und den Regen 
gegen bie Scheiben fniftern. 

Der Mann war unrubig, als fie wieder 
qu ibm fam. Gr fprad viel von diefem und 
jenem und fagte, er wiſſe dod, was fie über 
ibn rebdeten und ob fie es nie gehört 
habe? 

Das hatte er fie ſchon einmal gefragt, 
früher, als fie nod) zuſammen jum Tanje 
gingen, auf die Wiefe unten am alten Tor; 
fie hatte nie mehr daran gedadt. „Was ift 
e3 denn nur, twas fie reden?” Cie febte fid 
auf ben Rand feineds Bettes und ſtrich fiber 
bas feudte Haar. 

Da nahm er die Hand und auch ihre andere. 
„Du friegft einen Schrecken; paß auf; id 
will es bir aber fagen; es ijt gum Ladjen. 
Ich hatte meine Frau umgebradt; die Narren! 
Siehſt du, nun haſt du einen Sareden, twas 
madjt bu fiir Augen! Glaubft du denn fo 
etwas? Hobo, du glaubjt es aud!” 


470 


„Nichts glaub id; du bift frank; fei ftill, 
bald fommt der Doftor. Niemand  redet 
etwas, lieg ftill.” 

„Die Narren, als wenn ſie nicht wüßten, 
daß ſie an der Schwindſucht geſtorben iſt; 
fie haben fie dod) huſten gehört all die Zeit. 
Sie hat immer entfeslich gebuftet. Nachts 
bin id) aufgeftanden, wenn id wad) davon 
wurde und bab’ fie aufgeridtet, fonft wär fie 
erftidt. Sch bab’ oft gemeint, fie wär' er- 
jtidt. Was ſchwatzen fie denn, wenn fie 
erſtickt iſt?“ 

„Sie ſchwatzen ja nicht; Feiner ſagt was 
von dir; lieg ruhig, du biſt krank.“ 

„Die eine Nacht war es ſchlimmer als 
ſonſt; nun mußte es zu Ende gehen. Als ich 
Licht anmachte und ſie ſah, hab ich gedacht, 
nun muß es das Ende ſein — und hab ge— 
wartet.“ 

„Haſt du fie nicht aufgerichtet, Jakob? 
Jakob!“ 

„Aufgerichtet! Was heißt das, daß du ſo 
fragſt? Meinſt du nun auch, ich hätt' ſie 
umgebracht? Du haſt es doch geſehn, ich 
hab' ihr nichts getan; ich hab' ihr kein Haar 
gekrümmt. Du haſt doch geſagt, daß ich 
warten ſoll; es wire das Ende, haſt du 
geſagt.“ 

„Ich, Jakob, id?” 

„Ich weiß genau, wie es war; paß auf; 
da haſt du geſtanden, da in der Ecke mit dem 
roten Kleid und haſt mich angeguckt und haſt 
genickt und immer fo angeguckt, und da bab’ 
id warten müſſen. Du haſt fo funtelnde 


Augen gebabt, Anna! — Aber jet bift 
du häßlich, du lachſt ja nidt Was | 
baft du? Ich habe dod nichts getan. 


Web, dak fie das immer fagen, Gott, o 
Gott! 
„Lieg ftill, was foll ih tun? Sei rubig, 


| 
} 





| 


Neuntes Gebot. 


fol id) ben Pfarrer rufen? Nur, dak du 
rubiger wirſt!“ 

„Der Pfarrer? Was willft du mit dem? 
Dak id) ibm fagen foll, id batt fie um- 
gebradt?” Gr fubr bod) auf und erbob den 
Arm gegen fie. 

„Nur, dah bu fagen follft, du fagen kannſt, 
daß bu — nichts getan baft, Jakob.“ 


* 
* 


Wenige Woden darauf wurde Jakob 
Timmes begraben. „Er hat einen ſchweren 
Tod gehabt“, ſagten die Leute; „das iſt immer 
fo, je lebendiger einer geweſen iſt, deſto 
ſchwerer hat er das Ende.“ Außerdem wurde 
viel Gutes über ihn geſprochen. Seine Frau 
lebte in den Tagen mehr mit den Leuten 
zuſammen, als ſie in den Jahren ihrer Ehe 
getan hatte. Sie hörte mit Aufmerffamfecii 
die wortreichen Lobeserhebungen der Weiber 
an, nickte und weinte dazu und ſuchte, ſobald 
eine vollendet hatte, eine andere auf, damit 
bie ibr dasfelbe fagte. Abends fragte fie ihre 
Kinder, ob fie aud gebirt batten, wie gut 
der Vater beleumbdet fei, ob fie einen eingigen 
wiiften, ber ihm was bles nachſagen könnte. 
Sie midten aud act geben, was binter 
ibrem Riiden geſprochen würde, daraus könne 
man erſt recht die Wahrheit erfahren. Sie 
ſollten aufpaſſen, wenn die Frauen nach der 
Arbeit an den Türen ſchwatzten oder die 
Männer im Wirtshaus ſäßen, und dann 
ſollten fie erzählen, ob fie was gehört batten, 
nur ein einziges böſes Wort. 

Nachdem das Begräbnis voriiber war und 
die Rinder fie verlafjen batten, madte Anna 
Timmes eine Wallfabrt zehn Stunden ju Fup 
in das Land binein. Cpater fagte man von 
ibr, daß fie febr viel fiir die Armen tue. 
Wieder verbeiratet bat fie ſich nicht. 





471 


Von den Ronigen and der Krone. 


Gertrud Baumer. 


—ñ— — 


Radhbrud verboten. 


G iſt die unbeirrbar ſichere Ausgeſtaltung einer feſtgegründeten künſtleriſchen 
yo Cigenart, die bei jedem Buch von Ricarda Huch wieder von neuem 
überraſcht und entzückt. Cie wurjelt mit ibrem Schaffen nicht in der äußeren 
Wirklichfeit. Aus gang innerlichen, feelifcben, individuellen Crlebniffen heraus fliefen 
ihre Gejtalten gufammen. Sie gehören der Dichterin allein an als Verfdrperungen 
ihrer Trdume, ihrer Lebenserfabrungen, ibrer tiefen Einſichten in das Menſchliche; 
und etwas Traumbafteds und Verfcbleiertes bleibt ihnen. Die äußeren Creigniffe 
werden nicht als künſtleriſches Objeft Selbjtywed; fie dienen nur der Entfaltung der 
Gejtalten, die Ricarda Huch in immer größerer Fiille und Tiefe ihres Wejens erſchaut. 
Die dupere Folge der Behandlung bat etwas Willfiirliches und Zufälliges: eine 
wechſelnde Reihe von Vildern, in denen einmal diefe, einmal jene Farbe aufglüht; 
etwas vom Spiel der Phantafie, der Erfindung bleibt in der Fiigung des Ganjen. 
Es fteigt auf in der Seele eines Dichters, der fich in feine Vifionen verfenft und der 
bald diefe, bald jene Seite feiner Geftalten entdedt. 

Ricarda Huch hat fic in ibrer Dichtung „von den Königen und der Krone” mehr 
nod als in ihren anderen Romanen eine Atmoſphäre gefdaffen, die etwas vom 
Märchen hat und die dod aud) die Wirklichfeit rein und gwanglos aufnimmt. Cin 
Bergvolk irgendwo am Adriatiſchen Meere, eine aus grofen Volferbewegungen iibrig 
gebliebene Inſel, in unzugänglicher Gebirgzeindde, von deren Wildbeit und ein— 
jamer Herbheit das Wefen der Menfchen fic) verſtärkt abbebt; das gibt den Hinter- 
grund fiir Den Roman. Unter diefen Menſchen lebt nod die Königsfamilie, geringe 
Arbeiter, wie die andern, ja nod geringer; denn eS war aus alter Seit, da man die 
Königsfamilie durch abſichtlich yur Schau getragene Geringſchätzung vor Erfennung 
und Verfolgung fciigte, die Gewohnbeit geblieben, iby mit Verachtung und Bös— 
willigteit zu begegnen. 

An dieſem Zug wird ſchon die Art der Symbolik Peutlich, in der das künſtleriſche 
Weſen der Ricarda Ouch ſich ganz befonders rein und ftarf entfaltet. Sie reibt die 
äußeren Ereigniſſe, die fie mit ſtiller Objeftivitdt berictet, an dem Faden tiefer 
innerlicher Lebenseinfichten auf; der Faden felbit bleibt verborgen. Die feelifchen 
Konjequengen, an denen ſich ibre Erzählung fortipinnt, find Wabrbeiten, Urteile einer 
tiefen, von Schmerz und Luft errungenen Lebenspbilofophie. Wher nie wird das äußere 
Bild gum fteifen Gleichnis, zur moralpredigenden Allegorie. Ganj leije nur bebt ſich 
hier und da eine Linie bedeutungsvoll beraus, an der der tiefe Sinn des Ganjen 
leichter erfannt werden fann. Die Gefchichte von den Königen und der Krone ift 


472 p Bon ben Ronigen und ber Krone.” 


ſymboliſch in diefem feinen und edt künſtleriſchen Sinne. Cie begleitet zwei aus 
dem alten Königsgeſchlecht, die beiden legten, auf ihrem Wege durch die Welt. Laftaris 
königlicher Sinn bat ſich nicht mit dem Tageldhnerdajein in den heimiſchen Bergen 
beqniigt; er zieht mit feinem Sohne Lasfo aus, um fic) draufen ein cigenes Schidjal 
zu febaffen. Wild und bunt ift fein Leben; eS verflicht ifn mannigfacd mit menfdliden 
Verhaltniffen, feltfamen und abenteuerlichen in fernen Landern und gang tagbellen 
und nüchternen. 

Ricarda Huch erfaßt mit ibrer Charakteriftif menfeblices Wefen in gewiffem Sinn 
weiter als irgend cin Riinjtler der Gegenwart. Der moderne Roman bat fich 
- eine techniſche Okonomie gefdiajfen, nad) der die Charaktere in wenigen grofen Ziigen ent- 
iworfen und dann mit einer gewiſſen Strenge und Sparjamfeit durchgefiibrt werden. Bei 
Ricarda Oud) find die Grenjen, innerhalb derer fich das Wefen ihrer Menſchen erſchöpft, 
ſchwebender; fie verſchwimmen im Reich unendlicher Miglichfeiten; die adeligiten und 
sarteften Empfindungen, aber aud) qraufame Inſtinkte, Blutgier und Leidenſchaft umſchließt 
die Sphäre ciner Perſönlichkeit, eines Menfchenlebens. Die ungeheure Macht der Stimmung 
ijt ibr bewuft, die ratfelbaft, wie Nebel um Berghäupter aus unbefannten Tiefen 
aufiteigt und den Menſchen unentrinnbar einhüllt. Wie wenn das unficdere, wedfelnde 
Licht eines fladernden Feuers mit den Farben und Konturen der Dinge fpielt, fo 
erfcbeint dad Weſen ihrer Gejtalten im Wechſel der Stimmungen, die bald diefe, bald 
jene Züge aufleuchten laffen, bald alles in Dunfelbeit taucen, bald den Ausdrud ibres 
Wefens grotest verzerren. Wie faum ein anderer Seelenfundiger beobadhtet fie das geheime 
Muf und Ab des Lebensfluibuns im Menſchen, das ihn bald feine Umgebung mit 
voller Cnergie und wachen Cinnen nabe und vertraut empfinden läßt, bald alles 
müde in blafje Fernen rückt. 

Und doch beben fics ſchließlich die Menſchen aus dem bunten Spiel ihres Lebens 
als etwas Ganjes und Wefenhaftes. Bon den beiden Trägern des Königtums ijt 
Laſtari der ſtärkere. Ungeſchwächt nährt ibn die ungeftiime Blutfraft feines königlichen 
Gefcblechtes; fie treibt ihn von Land gu Land, von Schickſal zu Schidjal, von Unter: 
nebmen zu Unternebmen. Ob er in feinem grofartigen fouverdinen Selbjtvertrauen, in 
feinem Stolz und der Sechuglofigfeit einer edlen Naivetat unter den „krämerklugen“ 
Menſchen immer wieder fcheitert, ev bleibt ungebeugt; immer neu fteigen in ibm weit: 
ausgreifende kindlich-kühne Blane auf, mit denen ev unbedenflic) über das Schidfal der 
Menſchen, die ibm nabefteben, verfiigt, gleidgiltig, ob fiir fie zu Schmerz ober Luft. 
Kein Lebensleid dringt in die heimlichen Quellen feiner Kraft zerſtörend und vergiftend 
hinein, fremd und ſtark, unbewußt in ſich felbjt rubend, gebt er feinen Weg an den 
Menſchen vorbei, die fid) vom Leben quälen laffen. Und nod als er gegen Speife 
und Trank vor den Häuſern der Dorfbewohner jingt, ftebt er als Herrſcher da, der 
mit ſtolzem Bebagen die Menfchen, deren Dienjte er empfingt, an der majeftitijden 
Schinheit feines Weſens teilnehmen läßt. 

Mit wehmütiger Liebe hat die Dichterin gegen ſeine glückverbürgende equijtijche 
Kraft die Geftalt des Lasko abgeboben. Jn hundert feinen bunten Refleren fpiegelt die Er— 
zählung feine jarte Beweglidfeit zu Freude und Lcid, die verſchwenderiſche Dppigkeit 
feiner Dichterfeele, Die nun. von feder und liebenswürdiger Laune fiberfprudelt, dann 
aus tiefverborgenem, ſehnſüchtigem Schmerz wunderbare Geftalten und Schichſale dichtet. 
Ihm ſpringen, „wie dem edlen Kind des Märchens, mit den Worten, die er ſpricht, 
Perlen und Edelſteine von den Lippen.“ Aber unerſchöpflich ſind die Schmerzen, die 


ie. 


„Von ben Königen und ber Krone.” 473 


der mie endende Reiz de3 Häßlichen, Schweren und Unzulänglichen im Leben und in 
den Menſchen ibm erzeugt. Dann erregt fich fein königliches Blut yu bitterer Feind- 
feligfeit gegen alle, die feine wunde Seele mit Cigenfucht oder Liebe qualen, fein Haß 
fucht die geheimen Schwächen der Menſchen zu trejfen, die Har und quälend vor feinen 
helljichtiqen Cinnen fliegen. Und wenn fold) Sturm in ibm wütet, „ſteht feine Seele 
trauriq und jitternd in einen Wintel gedriidt,” ein Fremdling im eigenen Hauje, das 
cine ritjelbafte Macht gang erfiillt. Und immer liegt der Sinn der Rolle, die er im 
Leben fpielt, in dem beimlichen Bewußtſein: „es hat feinen Zweck, die Dinge fo feit 
an3 Herz zu ſchließen, die wir nad cinem bangen Augenblic wieder wegwerfen müſſen 
und nie mebr ſehen.“ Für bas Leben find andere beftimmt, die werden ,,die Luft mit 
ibrem Laden jittern machen, die ſchwer von unferm Staube ijt.” Jn einem Erlebnis 
von Ddiifterer gewaltiger Symbolif wird es ibm bildlich, daß er der legte ſeines Ge— 
feblechtes ijt, ju febwach, um feinen Ahnen gleich zu fein. Es ijt, als er feinen Vater 
fucht, der im Gebirge von Ort yu Ort twandert. 

„Er war unvermertt aus der Thalmulde heraus auf die Hocdebene getommen, die wie cin riefiger 
Drachenleib über glimmenden Schagen hingewälzt fag, und ¢3 war, wenn ber Wind fic fiir einen 
Augenblick legte, als vernahme man fein faucendes Atmen ober cin ſchwaches Knarren feiner glanglo3 
dunkeln Schuppen. Der Himmel war weiß und rubte dict auf dem Sturm, der [aut hinter Lasto 
herblies; was aus der unenbdliden Ebene bhervorftarrte — fable, wirre Eichen und faufende Föhren, 
cinjam zwiſchen Geftriipp und Steinen —, verbreitete fein traumvolled Leben weit in die erregte Luft. 
Diefen Weg mute der alte Laſtari auch gegangen fein, wenn er auszog, um gu betteln. Lasko dadhte 
fic) feine wanbdernde Geftalt am duferften Ende bes Weges, den ex vor fich erfennen fonnte, breit und 
geiwaltig, von cinem Mantel in Fetzen umflattert, unter deffen Schutze der zierliche Jüngling folgte. 
Bielleicht ging er im Schlafe, welden Vermögens ex in fritherer Zeit fic) gern gerithmt hatte, und 
wahrend cr ftetiq durch bie tönende Cindde fehritt, ſchwangen fic) dic unerſchöpflichen Zaubergeburten 
ded Traumes durch feine Seele. Das Rollen des Winded wurde zuweilen fo ftarf, daß es fic) anbirte, 
alé ob eine Herde wilder Roffe iiber bie Steppe donnerte, und Lasto mute von Beit gu Heit. ftillfteben 
und fid) gegen ben Andrang ftemmen. Es ſchien ihm, als würde ber Raum zwiſchen ibm und ben 
Geflatten feiner Einbifoung immer größer: hinter bem Wanderer fah er ein Bolf von Geiftern, bobe 
Luftleiber mit hochgetragenen Hiuptern, cingebiillt in Gewänder, von denen nicht ein Sipfel fic im 
Winde rührte. Die Alten waren es, die ihrem Sobne nachzogen; feiner blickte fic) nach ibm um, feiner 
gab ibm ein Seiden, feiner erfannte ifn. Es war ibm gumute, als müſſe bad fo fein, als miiffe, 
wibrend jene wie Rauchjiulen fiber Feuerbergen mächtig und ſicher am Horizonte binriidten, der Sturm 
mit galoppterenden Oufen ihn gu Boden reifen und jertreten und die gudenden Seelen feined toten 
Leibes jauchzend vor fich ber blajen, bid fie im Strome der Luft verfiegten.” 


Die Stelle mag zugleich einen Cindrud von dem eigenwüchſigen dichteriſchen 
Reichtum des Buches geben. In diefem finnlich ftarfen und dod fo merfiwiirdig 
juriidbaltenden, auf alles Cenjationelle, Jähe, Nervenberiihbrende vornehm verzichtenden 
Weſen des dichterifdyen Ausdrucks zeigt Ricarda Hud) eine künſtleriſche Selbſt— 
jttindigfcit, bie fie ben Größten an die Seite ftellt. Ctwas, an das die geläufigen 
Maßſtäbe der literariſchen Kritik nicht heranreichen, dad fie der Möglichkeit, in diefe 
oder jene „Richtung“ eingeordnet, mit den an anderen Dichtern und literariſchen 
Geſamtſtrömungen gebildeten Mitteln kritiſcher Beſchreibung beurteilt zu werden, ganz 
entzieht. 

Uns Frauen möge es verziehen werden, wenn in die reine Freude an dem 
ſelbſtändig großen Künſtler ſich ein leiſes Gefühl des Triumphes miſcht darüber, daß 
eine Frau dieſer Künſtler iſt. 


— te 





474 


Geburtsurkunden vorehelicher Kinder. 


H. Ludwig. 


wt eee 


Raddrud verboten. 

@): „Soziale Praxis” brachte kürzlich durch drei ihrer Nummern einen Artikel, 

„Gerechtigkeit“ betitelt. Cine Fille von Beijpielen liefert darin den Beweis, 
dah diefe Kardinaltugend nur allju häufig durch Abweſenheit zu glänzen pflegt, nicht 
nur in den perſönlichen Verbhaltnijfen von Menſch gu Menfch, die fic) ftets individuell 
geftalten, fondern auc) in der Rechtfpredung, die Staates Stimme ijt, Staates Wille. 
Gin anderes ijt es ibr, ob der Arbeiter ftreift, oder der Fabrifant ausfperrt, ein anderes, 
wenn ein ftreifender Arbeiter Arbeitswillige zurückzuhalten fucht, als wenn Fabrifanten 
diejenigen zu ſchädigen droben, die fich einem zu bildenden Ringe nidt anſchließen; 
der ftreifende Arzt wird anders getwertet als der ftreifende Arbeiter; den Vorgefesten, 
der einen Untergebenen mifbandelt, trifft geringere Strafe als den Untergebenen, der 
im Affekt fic an feinem Vorgefesten tatlic) oder mit Worten vergreift. Cine Klafjen- 
juſtiz drobt mit Zerfplitterung, wo Cinbeitlichfeit höchſte Loſung ſein müßte. Wo es 
fic) um Gerechtigkeit bandelt, da follte es fich fiirwabr nur um ein ens unum, verum, 
bonum bandeln. 

Aber finnen wir uns denn twundern, daß die Rechtfprechung ſolche Wege ein- 
ſchlägt? inden wir nicht überall ungleides Mag, in dem Verhaltnis von Leiſtung 
und Lohn, in der Moral der Gefchlechter, auf dem Gebiete der Erziehung und Bildung, 
in dev Handhabung des Vereinsgeſetzes wie in dem Vereinggefes felber, in dem Ab- 
wägen der Berufsflaffen gegeneinander? Drängt eS fic nicht in die innigften und 
zarteſten Verhältniſſe binein? 

Vielfach erzeugt dieſes ungleiche Maß die Tragik des ſtellvertretenden Leidens. 
Das ſtellvertretende Leiden! Auf geſchlechtlichem Gebiet durchzieht es unſer Leben in 
wahrhaft grotesker Herbheit! Aberall ſonſt pflegen Verantwortlichkeit und Kraft Hand in 
Hand zu geben, aus ihrer Vereinigung werden Privilegien abgeleitet; Volfern, Ständen, 
Klaſſen, die nach Erweiterung ihrer Rechte ſtreben, wird meiſt entgegen gehalten, daß 
ſie noch nicht ſtark und reif genug wären, die damit verbundene Verantwortlichkeit zu 
übernehmen. Auf geſchlechtlichem Gebiete herrſcht das umgekehrte Verhältnis; dem 
Starken wird der ſchwerſte Teil der Verantwortlichkeit abgenommen und dem Schwachen 
aufgebürdet; das Prinzip, das im politiſchen und ſozialen Leben eine ſo große Rolle 
ſpielt, wird hier auf den Kopf geſtellt, es kehrt ſein Innerſtes nach außen. Freilich 
fällt die Verantwortlichkeit hier ſofort mit Strafe und Leiden zuſammen, und Leiden 
iſt eben nicht des Starken Sache. Die Folgen gemeinſamen Handelns legt er in ihrer 
niederdrückenden Schwere auf die ſchwächere Gefährtin, die gewöhnlich auch die Un— 
ſchuldigere iſt. 


. Geburtsuctunden vorebelider Rinder. 476 


Bei ibr wird ftellvertretendes Leiden dem Leiden fiir eigenes Tun hinzugeſellt, 
eine Doppellaft, die zur harten Anklage wird durd) ihre Unnatur, ibre Ungerechtigkeit 
und weitbingreifende Graujamfeit. Aber fie ijt fo oft aufgebiirdet worden vor aller 
Augen, fo oft getragen worden im hellen Tageslict der Gejege und Citten, dag fie 
als mitgewablt gelten könnte, als ihre Trigerin das wablte, was zu ihr führen mußte, 
sum mindeften fic) ihm nicht entzog. Wollen wir hier von Schuld ſprechen, fo ijt 
immerbin eine Schuld ba, ein Tun, mit dem das zukünftige Leiden ſchon gegeben war. 

Aber die Folgen enden nicht in dieſem zur Halfte verſchuldeten Leiden, fie 
branden weiter und ergiefen fic) mit voller Wucht auf den Unſchuldigſten, den ab- 
folut Unſchuldigen; ftellvertretendes Leiden legt fich anf fein Dafein von Anbeginn an. 
Das Kind muß am barteften büßen, wenn feine Eltern Außenwege wandelten und 
nicht durch die Pforten der Ehe zu ibrer Vereinigung fdritten. Schon vor der Geburt 
ijt es cin Beraubter und zugleich Belaſteter, es tritt ins Leben, ein Ausgefonderter, 
fiir den Sondergefege geſchaffen find, die feine Sonderſtellung ftarf charafterifieren, 
Es werfdrpert die Schmach feiner Mutter, als Schmach wird es zur Schmach geſtellt, 
ihre Doppellaſt iſt die ſeine und die eigene kommt bingu. 

Wohl bricht in unſerer Zeit eine gerechtere Beurteilung ſich Bahn, aber nicht 
allerorten und allerwegen, wohl gewährt das Geſetz dem unehelichen Kinde mehr Schutz, 
aber doch nicht genügend, um es fiir dad zu entſchädigen, wads es entbehren mug und 
für das, was es heraushebt aus dem feſten, geachteten Gefüge, das als Grundlage 
des Staates und aller Geſittung geprieſen wird. Der Kwilecki-Prozeß hat uns in 
einen Abgrund der Ungerechtigkeit, der Grauſamkeit, eines Egoismus, der an Ent— 
menſchtheit grenzt, blicken laſſen. Wo folche Affekte herrſchen und fic) tummeln ditrfen, 
wo fie knicken, vernichten, niederhalten dürfſen, wo fie jum Vegetieren und ſittlichen 
Verkommen verurteilen dürfen, da iſt die Unzulänglichkeit des öffentlichen Rechts 
offenbar, da iſt irgendwo eine Lücke, die den gewährten Schutz illuſoriſch macht. Mit 
allen Mitteln muß daran gearbeitet werden, die unehelichen Kinder den ehelichen 
möglichſt gleich zu ſtellen; das Unterſcheidende iſt an ſich ſchon gegeben und wiegt 
ſchwer genug; die Geſellſchaft, die es verſchärft, verletzt nicht nur alle Gebote der 
Gerechtigkeit, ſie ſchädigt ſich ſelbſt und ſchafft eine Wunde an ihrem eigenen Körper. 

Leider wird bei uns dieſes Unterſcheidende geſetzlich auch da aufrechterhalten, wo 
die Eltern getan haben, was in ihrer Macht ſteht, um es zu verwiſchen, wo ſie nach— 
träglich eine Ehe eingegangen ſind, die ihr Kind legitimierte. Bei Einführung des 
Bürgerlichen Geſetzbuches iſt namlich die Beſtimmung in Kraft geblieben, daß wörtliche 
Abſchriften des Geburtsregiſterblattes ſeitens des Standesamts als Geburtsurkunden 
ausgeliefert werden. Die Kinder, die vorehelich geboren, längſt aber legitimiert worden 
ſind, erhalten dadurch eine Urkunde, die ſie als unehelich bezeichnet. Am Rande 
befinden ſich erllärende Bemerkungen. Vor Einführung des Bürgerlichen Geſetzbuches 
hieß es da z. B.: „Der Vater erklärt, ſein Kind erzeugt zu haben.“ Wie die Rand— 
bemerkungen nach Einführung des Bürgerlichen Geſetzbuches gehalten ſind, lehren uns 
Formular A 3, auf Seite 25 der Vorſchriften yur Ausführung des Geſetzes (Carl 
Heymanns Verlag, Berlin); da ftebt: ,Die Witwe Hartung erflirte, dab fle von der 
Niederfunft aus eigener Wiſſenſchaft unterrichtet fei”, — ferner die Fornulare A 3 
bezw. A 4, wo es beifft: „Der Weber Reinide erklärt, daß er feine Vaterſchaft an- 
erfenne”, und „der Dienſtknecht Naumann erflart, dah das nebenbezeichnete Kind das 
feinige ijt”. 


476 Geburtsurfunden vorebelicher Kinder. 


Weld eine moralijde Wirkung eine derartige Geburtsurfunde auf diejenigen aus— 
iiben mup, denen fie verabfolgt wird, ift leicht erfichtlid). Die Konfirmation des Kindes 
pilegt ibre Forderung zu veranlaffen. Bei den Cltern wird längſt Nberwundenes auf: 
gededt. Was ibnen in der Verklärung ibrer jungen Liebe oder aus einer Anfdauung 
heraus, die unfere ſchwierigen wirtſchaftlichen Verhaltniffe groß gezogen haben, als durch— 
aus gerechtfertigt erſchien, und unantaſtbar in ſeiner Ehrenhaftigkeit, feſt verwachſen 
mit einem Pflichtgefühl, dad treu aushielt, bis es fic) in die Tat umſetzen konnte, das 
hat ſich urplötzlich in etwas unſagbar Trauriges verwandelt angeſichts des Kindes, 
deſſen Augen auf der Randbemerkung ruben. Es iſt unmöglich, vierzehn- bis ſechszehn— 
jährige Kinder zu einem Verſtehen zu bringen, das die Not ihres aufgeſchreckten Be— 
wußtſeins tilgt. Jede Entſchuldigung der Eltern klingt wie eine Anklage, keine 
Erklärung wäſcht das Wiſſen fort, das zum Grübeln reizt und zum Stachel wird. 
Und dieſes Wiſſen muß das Kind nun jedem zuführen, zu dem es in ein ernſteres Ver— 
hältnis tritt. Die Konfirmation hat ihren Glanz verloren, die neue Laſt, eine ſo 
ſeltſame, unerwartete, ſo unbegreifliche Laſt hemmt jeden Aufſchwung. Was die 
Enthüllung dem jungen Menſchen gebracht hat, iſt in ſeiner ganzen Tiefe auch ſchwer 
zu erfaſſen. 

Eltern, die er beieinander ſah vom erſten Augenaufſchlag an, deren Gemein— 
ſchaft ihm wie eine Naturnotwendigkeit erſchien, hier werden ſie voneinander getrennt, 
das Band, das ſie umſchlingt, iſt zerriſſen. Am Rande, fern von dem Namen der 
Mutter und dem des Kindes, ſteht die Erklärung des Vaters, wie das widerwillig ge— 
gebene Bekenntnis einer Schuld. Wie ein Fremder ſteht er abſeits, und auf dem 
Namen der Mutter ruht Schmach. Der Erſtgeborene hat eine traurige Ausnahme— 
ftellung; wie Vater und Mutter hier voneinander getrennt werden, fo ijt er jetzt 
getrennt von feinen Gefchwiftern. Sie brauchen fich nicht zu febeuen, wenn fie jum 
Pfarrer gehen, und nicht gu ſcheuen, wenn fie fic) um Arbeit und Stellung bemühen, 
mit ben Behörden ju tun haben, ihre Geburtsurfunde ift ohne Fleden. Der junge 
Menſch wird ein ifolierter im Schoße der Familie. 

Und feine Eltern haben alles mit ju durehleben, fic) immer wieder preiszugeben, 
fic) an den Pranger ju ftellen mit ihrem Kinde. Bet jedem Herzeleid, das ibrem 
Kinde zugefügt wird, bei jedem roben Wort, bet jeder unjarten Bemerkung, die es Hort, 
müſſen fie fitrdyten, feine Liebe und Achtung einzubüßen, falls das Wort der Cnt- 
frembung, der bitteren Loslöſung nicht ſchon volljogen ift durch jene Urkunde felbjt, die 
ibnen fo und nicht anders auszuhändigen der Staat in feinen Gefegen angeordnet bat. 
Aus dem Verhaltnis gegenfeitiger Liebe und Achtung ijt ein VBerhaltnis der Schuld 
geworden, Schuldgenoffen die Eltern, fremde Schuld tragend nod über das Leben und 
Leiden der Eltern hinaus der völlig Unſchuldige. 

Und wer biirdet dem Unfehuldigen diefes ftellvertretende Leiden auf? Die 
Eltern haben getan, was in ihren Kräften ftand, fie haben ihrem Kinde gegeben, was 
fie gu geben vermochten, fie haben alle geſetzlichen Mittel erfcbdpft, um ihr Kind yu 
einem ebelichen gu machen, das in feinen Rechten nicht hinter etwaigen Geſchwiſtern 
zurückzuſtehen habe. Von dem Augenblide an, in dem der Vater nach der Verehelichung 
mit der Mutter auf dem Standegsamt die Cintragung bat vollziehen Laffen, daß er das 
Rind als das feinige anerfennne, von dem WAugenblide an ijt das Rind nicht mebr 
das Kind feiner unverebelichten Mutter, fondern das Kind des Vaters, deffen Namen 
es tragt, und der verehelichten Mutter. 


- * 


Geburtéuclunden vorebelider Kinder. 477 


Wer bürdet ibm alfo fein unverfdulbdetes Leiden auf, wer nimmt ibm dag 
Beſte, wer beraubt die freie, die einftige Unterlafjung fiibnende Tat feiner Eltern des 
tiefften, ded wahrhaft fittliden Werts? 

Der Staat mit feiner ungliidjeligen Bejtimmung. Wie febr es ibr an innerer 
Logif mangelt, lehrt das Leben unaufhirlich. Cin zwei Tage vor der Eheſchließung 
geborenes, alfo am bdritten Tage feines Dajeins legitimiertes Kind, ijt auf der 
Geburtsurfunde immer nod als unehelich beseichnet, cin zwei Tage nach der Ehe— 
ſchließung geborencd Kind ijt legitim von Anbeginn. 

Warum ift diefe Beſtimmung eingefithrt? Der Zwed ift nicht erfichtlid. Das 
ſtatiſtiſche Material, das Zahlen- und Tatſachenwahrheit bieten foll, bleibt unberiibrt, 
es befindet ſich ja in den Geburtsregiftern und ijt unabbangig von der Geburtsurkunde, 
es ſteht der wiſſenſchaftlichen Bearbeitung nach wie vor unverfälſcht ju Gebote, auch 
wenn für die biirgerliden Verhiltniffe ein kurzer Auszug zur Anwendung font. 
Gin Awedlofes aber, das in fic) unzählige Keime ſittlicher Gefahrdung, des Elends 
und ded Jammers trägt, das glückzerſtörend wirkt, verhängnisvoll in unzählige 
Lebensgeftaltungen eingreift, darf feinem toten Prinzip juliebe aufrechterhalten 
werden, es follte fallen. 


Die Kirche ijt dem Staat mit gutem Beiſpiel vorangegangen, fie ftellt die 
Taufſcheine vorehelicher Kinder fo aus, als waren fie in dex Che geboren. Der 
Staat follte ifr folgen. Fort mit jenen Randbemerfungen, und der Name der ver- 
ehelichten Mutter trete an die Stelle des Namens der unverebelichten, 

Die „Jugendfürſorge“, eine Monatsfdrift, (Gerausgeber Franz Pagel), hat in 
einem Urtifel, , Ther die Geburt8urfunden vorebelicher Kinder”, dieſe Sache guerft zur 
Sprache gebracht. Der Berfaffer des Artikels ijt ungenannt geblieben, aber feine 
Worte haben überall ergriffen, gezündet, Hoffnungen gewedt, verſchwiegenem Kummer 
eine Stimme gegeben, einfame, verbitterte Herzen gu dent Bewußtſein eines Zuſammen— 
hangs gebradt, den reine, mitleidgetragene Nächſtenliebe ſchafft. Seine Worte haben 
Hoffnungen gewedt, die Hoffnung, dah Volkes Stimme Gottes Stimme werden finnte, 
cine Stimme, die Madit gewinnt, auch das Feſteſte zu brechen. Volkes Stimme aber 
miifte werden, was faſt eines Volkes Leid ijt, denn nach den freilich nur vorläufig 
angeftellten Durchſchnittsberechnungen dürfte das Deutſche Reich nahezu eine Million 
legitimierter Kinder zählen, das gibt eine Million Vater und eine Million Mütter, 
die unter der entiprechenden Beftimmung des Bürgerlichen Geſetzbuchs Leiden. 

Es ijt daber mit Freuden zu begriifen, daß der Jugendfiirforge-Berband der 
Berliner Lehrerſchaft cine Petition vorbercitet, die die Abanderung diejer Beftimmung 
beantragt. Alle Frauen: und Lebrerinnenvereine, wie jede deutſche Frau, follten dieje 
Petition yu dev ihrigen machen.!) 


1) Bal. dic Petition, gu deren Unterftiigung aud wir aufs wärmſte auffordern, im Auszug unter 
der Rubrif: Berfammlungen und Bereine. 





478 


Vie Bedeutung schulhygienischer Bestrebungen 
fiir die Prauen und fir die Pamilie. 


Bon 


Elsbeth Rrukenberg. 


— — 


Nachdrud verboten. 


enn der internationale Kongreß fiir Schulhygiene auc) Frauen zur Beteiligung 

VS an feinen Berbandlungen eingeladen bat, jo ift er dabei gweifellos pon dem 

Geſichtspunkt ausgegangen, dah feine Bejtrebungen durch faum etwas andereds 

fo weſentlich unterftiigt werden können, als dadurch, daß dad Intereſſe der Frauen fiir 

die bier zur Verhandlung fommenden Fragen erwedt wird. Nicht nur das Intereſſe 

der Lebrerinnen, die ja ibe täglicher Beruf von der Notwendigfeit vermebrter ſchul— 

hygieniſcher Maßnahmen immer wieder überzeugt. Die Lebrerfdaft allein tut es nicht. 

Von gleich grofer Bedeutung ijt eS, das Intereſſe des Haufes und — gang bejonders — 
der Miitter fiir die Schulhygiene zu gewinnen. 

Su der Hand der Mutter liegt in faft allen Familien die Erziehung der Kinder 
bis jum febulpflichtigen Wlter, dad Verſtändnis, die Befahigung der Mutter fiir diefe 
ihre Erziehungsaufgabe ijt entſcheidend fiir körperliche und ſeeliſche Entwicklung 
ihrer Kinder. 

Die Schule iſt in ihren Erziehungsbeſtrebungen auf das Schülermaterial an— 
gewieſen, das daheim unter dem Einfluß der Mutter heranwuchs. Will man geſundes 
Schülermaterial — und das ijt dod) das einzige Material, auf dem die Schule wirkſam 
aufbauen fann —, fo muß man die Mutter von der Bedeutung ihrer Arbeit zu über— 
jeugen ſuchen, man muß fie erfennen lebren, wie unmöglich es ijt fiir die Schule, 
das nachzubolen und twieder gutzumachen, was in der erften, der Familienerziehung, 
verſäumt wurde. Auch auf dem Gebiete der Schulbygiene gilt das, was wir auf fo 
vielen anderen Gebieten als bedeutjam erfernen: daß das Vorforgen beffer ift als 
das Rachforgen. Wenn es gelingt, bet den Müttern Verſtändnis dafiir gu weden, in 
weld) engem Zuſammenhang die erſte grundlegende Erziehungsarbeit an. den Rindern 
mit jedem Gedeiben und Fortfdreiten im fpateren Leben, insbejondere im Schulleben, 
jtebt, fo find die ſchulhygieniſchen Beftrebungen ibrem Biele einen weſentlichen Schritt 
näher geriidt. 

Denn auch nach Cintritt des Kindes in die Schule bleibt dic Bedeutung der Mutter 
als widhtigfter häuslicher Erziehungsfaktor befteben. Celten wird ein Bater die Zeit, 
und jelten wird er Neigung und Geduld genug dazu haben, fic um die Cinjelbeiten 
in der Erziehung feiner Kinder gu fiimmern. Darum erwarten wir mit Redyt, daß 
die Mutter auc) tweiterhin in erfter Linie für das Kind forgt, mit Recht machen 
wir fie fiir Verfiumniffe auf dem Gebiete häuslicher Kindererziehung an erjter Stelle 
verantwortlih. Die Art unferer Schulfinder pflegt ein getreues Spiegelbild von der 
Art der Eltern — und ganz befonders der Mutter — ju geben. Forſchen wir bei 
nervöſen, zerjtreuten, unordentlichen, unpünktlichen Rindern der Urfache diefer ftdrenden 
Eigenſchaften nach, fo werden wir in der Mehrzahl der Falle im Clternbaus eine Mutter 
finden, die ihrer Mufgabe nicht gewachſen ijt oder die fie gedanfenlo3, obenbin ausübt. 
Derartiq unbequem tt 3. B. Müttern, die eingiq daran denfen, ibr Leben mit Be: 
hagen zu geniefen, der ftreng regelnde Einfluß der Schule, dag fie häufig genug — 
wenn aud balb unbewugt — gegen die Schulregeln Gegenpart ju balten verfuchen. 


PY 


Die Bedeutung ſchulhygieniſcher Beltrebungen fiir bie Frauen und fiir die Familie. 479 


Sie lehren die Kinder, um Forbderungen, die die Schule an fie ftellt, herumzugehen 
und find weit davon entfernt, ibrerfeits folde Forderungen wirffam zu unterftiigen. 

Nehmen wir einige uns heute nabeliegende praktiſche Beifpiele. Wie felten wird 
der Arbeitsplatz der Kinder im Hause mit Verjtindnis gewählt, wie felten fiir eine 

eſundheitsgemäße Arbeitsweife, fiir ausreichende körperliche Bewegung, die die Kinder 

Pie die Schule friſch erhalt, Sorge getragen, Die erften Schuljahre allenfalls alten 
das Anterefje der Miitter nod) rege. Je Langer aber das Lernen dauert, je mehr die 
Kinder heranwadjen, defto läſtiger fcbeint der durd) die Schule geithte Zwang. Der 
Refpeft vor den Lebrern wird in gar vielen Haujern wiſſentlich untergraben, der 
Möglichkeit wirkfamer Beeinflujjung durch die Schule — auf pädagogiſchem wie auf 
ſchulhygieniſchen Gebiete — wird dadurd von vornberein jeder Soden entzogen. 
Ganz abgefeben davon, dah es Mütter gibt, die ſchon die Kinder zu Zerjtreuungen, 
Vergniigungen mit heranziehen, fie bis fpat in die Nacht binein auffigen laſſen, und 
yon der Citelfeit gang zu ſchweigen, die zarte Rinderfdrper ciner veriverflicden Mode 
wegen in Rorjette einſchnürt, cine Schadigung, die übrigens in den durchaus gefundbeits- 
widrigen, immer höher und enger werdenden Stebfragen, die unfere Jünglinge {chon 
auf der Schulbank tragen, ein Gegenſtück findet. 

Run ijt aber nur in vereingelten Fallen wirklich böſer Wille vorhanden. Meijt 
feblt e3 an Einſicht, an Verftindnis fiir da8, was dem Sahulfinde not tut. Welchem 
Widerftand begeqnet 3. B. die Forderung ausreidender und ungebinderter körperlicher 
Bewegung bei den Miittern unjeret Madden! Wie lange hat man fic, gerade im 
Kreiſe folder Miitter, denen althergebracdte Begriffe von Schidlidfeit als Norm 
gelten, dem heilſamen Cinflujje des Mädchenturnens widerfest. Wie ftrduben fic) die 
Miitter gegen verftindige, den Kirper unverbildet erhaltende Kleidung. Wenige Miitter 
erachten es fiir eine wirklich notiwendige Ausgabe, fiir das Schulkind ein richtig 
gebautes UArbeitspult anzuſchaffen, ihm tagsiiber und Abends einen gut beleuchteten 
tubigen Plas zum Arbeiten einzuräumen, und wenige tiberlegen fic) eine der Lebens- 
weife eines Schulfindes angepaßte, ausreidende und dod nicht überernährend wirkende 
Dist. Das alles fcbeinen Kleinigkeiten. Aber fie fpielen im Leben des Kindes eine 
Rolle, beeinfluffen fein Wobhlbefinden, feine körperliche und geiftige Leiſtungsfähigkeit 
aud) in der Schule. 

So ſcheint e3 im Jntereffe der Schule gu fliegen, in den Müttern Verſtändnis 
fiir geſundheitsgemäße Regelung des Tageslaufs ibrer Schulfinder zu weden. Aber 
aud das mütterliche Jnterefje fordert aufs dringendfte Förderung und felbjttatige 
Unterjtiigung ſchulhygieniſcher Bejtrebungen. 

Mit hingebender Liebe und Sorgfalt tiberwadht eine rechte Mutter das Gedeiben 
ihres Kindes. Stol; und froh ijt jie, wenn es gejund und kräftig beranwidjt, geiſtig 
frijeh und angeregt ijt, Dann kommt die Schule, und nun mug gar manche Mutter mit 
anjeben, wie der fleine nod nicht widerftandsfibig gewordene Körper den an ibn 
berantretenden Forderungen nicht gewachſen ijt, wie er ermildet und die Spannfraft 
verliert. Den Cintritt in die Schule ein fiir allemal auf das fechfte Lebensjabr feft- 
gulegen, wird von vielen Seiten, aud) von erfabrenen Pädagogen, fiir unridtig gebalten. 
Ein Jabr mehr freier körperlicher Cntwidlung bedeutet fiir die Kinder faft durchweg 
großen Gewinn. Dazu fonunen die häufig genug nod ganz unbygienifden Cin- 
tichtungen der Schule, die auf die Kinder nachteiliq einwirfen. Die Naume, eng und 
beſchränkt, bejonders wenn e3 fic) um private Mädchenſchulen handelt. Fir Aus— 
geftaltung unferes öffentlichen Madchenfdulwefens haben Staat und Gemeinde ja 
befanntlidy felten genug Geld übrig. Die Ventilation äußerſt mangelbaft. Auf Banten 
yon gan; veralteter Ronjtruftion in häufig durch ungeeignete Ofen volljtindig über— 
heizten Räumen fiben die Kinder Stunde fiir Stunde, vielfach obne fic) rühren zu 
diirfen. Und die Anforderungen an ibr Lernvermigen find — in den Mädchenſchulen 
wenigitens — gegen frühere Jahrzehnte bedeutend gewachſen, wenn es ſich auc) vielfach 
nur um Memorierftoff, nicht um Anregung zu felbftindigem Denken handelt. Ob das 
der körperlichen Entwicklung, die fiir die künftige Mutter doch eine befonders bedeutjame 
Rolle fpielt, sum Segen gereicht, iſt oft —8 worden. Dringend iſt jedenfalls zu 


480 Die Bedeutung ſchulhygieniſcher Beftrebungen fiir die Frauen und fiir die Familie. 


fordern, daß aud die Mädchen unter gleich) giinftigen ſchulhygieniſchen Bedingungen 
wie die Knaben arbeiten. Die Gefundheit des Volfes leidet, wenn der Staat auf 
eine gejunde Entwicklung der finftigen Mütter nicht geniigenden Wert legt. 

Daß der Staat die Aushildung der Knaben foviel höher einfchagte und in 
fo viel umfafjenderer Weife beriidjichtigte als die Erziehung der Madden — eine 
Pflicht, der er erjt neuerdings gerechter zu werden verſucht — das lag zweifellos mit 
daran, dah man die Frauen, die Miitter, obwobhl fie naturgemaf die gegebenen 
Leiterinnen und Erzieherinnen ihrer Töchter find, von jedent makgebenden Cinfluf 
auf die Geftaltung der Mädchenſchule fern hielt, daß man es ibnen unmöglich machte, 
in derfelben Weife auf geſundheitsgemäße Arbeitshedingungen fiir die Töchter ded 
Bolfes zu drängen, wie der Mann für ſolche geſundheitsgemäße Wrbeitsbedingungen 
fiir die die Schule befuchenden Söhne eingetreten ijt. Damit will ich nicht fagen, 
daß der Mann, der Vater fein Herz habe fiir feine Todhter, daß er ibre Ausbildung 
mit Wiffen und Willen vernachlajfige. Aber ijt es nicht ganz natürlich, daß jeder 
das, was feinem eigenen Gefchlecht not tut, am beften beurteilen faun? die Fran in 
diefem Fall alfo berufener ijt, als der Mann, der fich wohl — das werden ficher alle 
zugeben — in die Art eines jungen Mannes, aber doc nie in das Empfindungs- und 
Entwidlungsleben eines jungen Mädchens verfegen fann. Das fann eben nur die 
Frau, die Lebrerin oder die Mutter. Colder Erkenntnis entipringt die Forderung, 
Frauen Sig und Stimme in der fommunalen Sdulverwaltung ju geben. 
Dah Miitter dabei berückſichtigt werden, nicht nur Lehrerinnen, das möchte ic aus 
dem einen, der beutigen Verſammlung befonders nabeliegenden Grunde befiirworten, 
weil bie Mutter, ſelbſtverſtändlich nur, wenn fie einjidtiq und verſtändig genug tft, 
mebr Wert vielleicht nocd als die unverheiratete Lebrerin auf das körperliche Gedeiben 
der Tichter legt. Wei fie doch aus eigenfter CErfabrung, welche Bedeutung cin 
geſunder, kräftig ausqebildeter Körper fiir den Mlutterberuf bat. 

Run ift die Forderung, Frauen in die fommunale Schulverwaltung einzuſtellen, 
durchaus nicht neu und tiberrafdend. Schon eine preußiſche Miniſterialverfügung 
pom 26. Suni 1811 beftimmt: „Bei der Aufſicht über die Töchterſchulen werden die 
Schuldeputationen die verftdndigften und achtbarſten Frauen aus den verſchiedenen 
Stinden zu Rate ziehen, ihnen wefentliden Anteil an Schulbeſuchen, Priifung und 
Beurteilung der Arbeiten, der Erziehung und Unterweiſung geben und die Hausmiltter 
des Orts auf alle Weife fiir Verbefferung der weiblidhen Erjiehung gu intereffieren 
fuchen.” 

Uber diefe Verfiiqung, die ja freilich heutigen Verbaltnifjen nidt mebr recht angepapt 
ijt, war in Vergeijenbeit geraten. Man unterjtellte die Mädchenſchule mehr und mebr 
ſtaatlicher Aufſicht. Man verſäumte aber, der Frau die ibr zuſtehende Anteilnabme 
an det — ihrer Töchter durch Teilnahme an der Geſtaltung und Uberwachung 
der Mädchenſchulen yu ſichern. Das Produkt, dad bei dieſer Ausſchaltung jeglichen 
Fraueneinfluſſes bei der Einrichtung von Mädchenſchulen herauskam, die ſo vielfach 
verſpottete körperlich wie geiſtig verbildete, unreife oder frühzeitig überreife höhere 
Tochter war — man braucht das heutzutage kaum mehr zu erwähnen — keineswegs 
erfreulich. 

Frauen — ſo fordern wir — ſollten in allen die Erziehung ihrer Töchter 
betreffenden Fragen als kompetente Beurteiler mit herangezogen werden. Das würde 
auch das Verantwortlichkeitsbewußtſein in unſeren Müttern ſtärken und 
wecken. Nicht nur Lehrerinnen, ſondern auch Mütter müßten das Recht haben, durch 
Mitarbeit in den Schulkommiſſionen auf die Notwendigkeit vermehrter ſchulhygieniſcher 
Maßnahmen in den Mädchenſchulen hinzuwirken, die allzuoft — ich wiederhole das 
nochmals — im Vergleich yu den Knabenſchulen arg vernachläſſigt werden. Das gilt 
weniger von den Volksſchulen, in denen Knaben und Mädchen ja meiſt gleiche Fürſorge 
zuteil wird, als von den höheren Schulen, in denen für Mädchen faſt durchweg 
ſchlechter geſorgt wird als für Knaben. 

Der gleichen Auffaſſung, daß eine Frau vor allem berufen iſt, die weibliche Jugend 
zu überwachen, entſpringt auch der Wunſch, Schulärztinnen in Mädchenſchulen an— 


— —— 


Die Bedeutung ſchulhygieniſcher Beftrebungen fiir die Frauen und fiir die Familie. 481 


jujtellen, wie das von feiten einiger Stidte (Charlottenburg, Breslau) auch bereits 
qejchehen ijt. Diefer Wunſch wird doppelt dringend, wenn wir in der Schulärztin 
nicht nur den Berater de3 Sehulleiters in hygieniſchen Dingen ſehen, fondern ibre 
Cinjtellung aud aus dem Grunde befiirworten, weil fie die berufenfte Perſönlichkeit 
wire, um den Unterridht in der Geſundheitslehre zu erteilen, ein Unterricht, der in 
ſchulhygieniſchem und volfshygienifecbem Intereſſe dringend zu wünſchen ift, der den 
Madchen — ganz befonders den Madchen der oberen Schulklaſſen — aber mur durch 
cine Frau wirklich wirkſam erteilt werden fann. 

Die Einführung von Gefundheitslebre in den Unterrichtsplan ijt cin viel um: 
ftvittener Punt. Für die Oberklaſſe ijt fold) Unterricht meijt vorgefeben. Wie er 
gehandhabt wird, ift freilidh cine andere Frage. Man ſcheint vielfach nicht 
Daran zu denfen, welche Vergeudung an VolfSsvermigen, Gejundheit und Kraft durch 
Unfenutnis der Frauen in hygienifehen Dingen bhervorgerufen wird. Ernährung, 
Reinigung, Kleidung liegt ſpäterhin durchiveg in den Händen der Frauen. Aber die 
Schule beriicjichtigt das nicdt, Erſt langſam findet die Forderung, die Madchen fiir 
ſolche ſie ſpäter erwartende Aufgaben durch rechtzeitige Unteriveifung vorjubereiten, 
Verſtändnis und Unteritiigung. Cinmaliger furzer Hintweis aber geniigt nidt. Dringend 
erwünſcht febeint e8, die Madden von klein auf mit den Gefegen der Gefundheits- 
lehre vertraut 3u madsen, ſodaß ibnen das Gefagte frühzeitig zur ſelbſtverſtändlichen 
Gewöhnung wird. Cine Unteriveifung int lester Schuljahre allein kann unmöglich 
dieſelbe nachdriidliche Wirkung üben, wie cin ſyſtematiſches Wiederholen und Vertiefen 
von Anbeginn an, 

Das gilt befonders, und das nicht nur in bezug auf die Mädchenſchule, wenn 
man cinen Punkt der Gefundheitslebre beriidfictigt: die Aufklärung über die 
Folgen des Alfoholmifbraudhs. Ach möchte folche geſundheitliche Unterweifung, 
obwohl fie, wie ich ſpäter nod) ausführen werde, fiir die Knabenſchulen von befonderer 
Bedeutung ijt, aus der Mädchenſchule nicht ausgeſchloſſen ſehen. Denn in diefen 
Schulen wachſen unſere künftigen Mütter, die Bildnerinnen der fommenden Generation, 
heran. Ihr Cinfluh auf die Erziehung der Jugend darf nicht gering eingeſchätzt 
werden. Aud) die Miitter miiffen, wenn wir durchgreifende volkshygieniſche 
Reformen herbeiführen wollen, die Gefabren erfennen lernen, die unjere 
Volksgeſundheit bedroben. Cie miiffen die Beftrebungen ſtützen, die von feiten 
der Schule betreffs rechtzeitiger Aufklärung der Jugend über die Folgen einer gefund- 
heitswidrigen Lebensweiſe gemacht werden. 

Die Amerifaner find uns auf diefem Gebiete weit voraus. Yn der unterjten 
Klaſſe beginnend, wird dort in jablreichen Schulen Gefundbeitslebre, verbunden mit 
Aufklärung über die ſchädlichen Folgen von Tabaf und Alkohol in jedem Sehuljabre 
wiederbolt.') Das zuerſt in einfacher, findlicher, leicht faglicher Form Gejagte wird 
in jeder folgenden Klaſſe vertieft und erweitert, fo dak das Kind nad und nad flare 
und fichere Vorſtellungen über das erbalt, was der Geſundheit zuträglich und das, 
was ibr ſchädlich ijt. Die Belebrung fest cin — darauf möchte ich befonderen Wert 
legen —, bevor das Rind in Verſuchung geführt ijt. 

Das möchte ic) vor allem fiir unfere Knabenfchulen befiirworten. Schon vorbin 
wies ich Darauf bin, wie notiwendiq rechtzeitige Belebrung der männlichen Jugend 
fiber die nachteilige Einwirkung de3 Alkohols auf den noc) unentwidelten jugendlichen 
Körper ijt, tiber die ſchweren Schädigungen, die nicht nur notoriſche Trunkſucht, 
ſondern ſchon das gewohnheitsmäßige Trinken in jungen Jahren und auch im ſpäteren 
Leben hervorruft. Wir begegnen da einer eigentümlichen Erſcheinung. In den 
Volfsfehulen wird vielfach vor den Folgen des Alkoholmißbrauchs gewarnt. Die 
bekannten Tafeln mit Darſtellungen über den mangelnden Nährwert des Alkohols, über 
die durch den Einfluß des Alkohols entarteten menſchlichen Organe, werden in den Volks— 
ſchulen aufgehängt. Unter den Volksſchullehrern macht die Abſtinentenbewegung immer mehr 


) Vergl. den Artikel „Der Kampf gegen den Alkohol“ im Septemberbeft 1903. Siehe auch 
Zentralblatt fiir die geſamte Unt..Verw. in Preußen. Dezemberheft. 


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482 Die Bedeutung ſchulhygieniſcher Beftrebungen fiir die Fraucn und fiir die Familie. 


Fortſchritte, aus der richtigen Erfenntnis heraus, dak der Lehrer nicht nur in Worten, 
fondern aud in Taten den Schülern Vorbild fein foll. Daß Kinder von der Schule aug, 
wie das 3. B. in Riederbavern gefchieht, yur Feier von des Pringregenten Geburtstag 
Wurſt, Brot und ,a Bier” befommen, ijt dod nur eine vereinjelte, typiſch bayeriſche 
Erjdeinung. Im ganzen nimmt e3 die Volfsfdule ernft mit ibrer Warnung vor 
dem Alkohol. , 

Gang anders auf unferen höheren Schulen. Es hieße ja unjer ganzes 
ſtudentiſches Treiben, dem die jungen Leute dod) zuſteuern, verurteilen, wenn ein 
Lebrer gegen Komment und Trinffitten, denen er als früherer Studiofus oft ſelbſt 
faum entiwachfen ijt, energifeh Front madsen wollte. Wie oft findet fic yum Schaden 
unferer Jugend ein iibertriebenes Nachabmen ſtudentiſcher Sitten, trotzdem eS offiziell - 
verboten wird, fdon auf unferen realen und gymnaſialen Anjtalten. Alkohol in 
Mengen vertragen ju finnen, gilt als bewundernswert, als mannlic und forſch. 
Selten mur * ein Lehrer nachdrücklich warnend ſeine Stimme, und es gehört 
beſondere Charakterfeſtigkeit, die in ſo jungen Jahren wohl nur vereinzelt zu finden 
iſt, und beſondere, auf der Schule leider kaum zu gewinnende Einſicht dazu, der 
Verführung durch Kommilitonen zu widerſtehen. Unſere Lehrer, unſere Arzte — daran 
müſſen wir immer denken — ſind ja vielfach ſelbſt noch mit ganz anderen Anſchauungen 
über den Alkohol groß geworden. Sie müſſen wie wir alle erſt umdenken, ſich umge— 
wöhnen lernen. Dadurch erklären ſich die außerordentlich großen Schwierigkeiten, mit 
denen Reformen auf dieſem Gebiete in Schule und Haus zu kämpfen haben. Denn 
gerade auf dieſem Gebiete muß das Haus die Schule nachdrücklich unterſtützen. Das 
gute Wort des Lehrers kann nicht ausgleichen, was das böſe Beiſpiel im Elternhauſe 
verdorben hat. 

Noch auf eine Frage, die heutigen Tages viel ventiliert wird, möchte ich zum 
Schluſſe kurz eingehen: auf die Frage des ſogenannten Aufklärungsunterrichts in unſeren 
Schulen. Sie muß meines Erachtens für Volksſchulen, für Knaben- und für Mädchen— 
ſchulen geſondert behandelt werden. Die Verſchiedenartigkeit des in dieſen Schulen 
vorhandenen Schülermaterials fordert Berückſichtigung. Jn der höheren Mädchen— 
ſchule — das iſt meine perſönliche Uberzeugung — ſcheint mir Aufklärungsunterricht 
über die Funktionen des weiblichen Körpers, über das Verhältnis der Geſchlechter nur 
in beſchränkter Weiſe am Platze. Ein Lehrer kann ſelbſtverſtändlich ſolchen 
Unterricht nicht geben, eine unverheiratete Lehrerin auch nur in ſeltenſten Fällen. Am 
erſten noch eine naturwiſſenſchaftlich gebildete Frau oder eine Arztin. So weit angängig, 
würde aber auf dieſem Gebiete das Haus, die Mutter, einzutreten haben. Einzel— 
unterweiſung, eine bei zufällig ſich bietender Gelegenheit angeknüpfte Erläuterung wird 
jedenfalls immer dem Aufklärungsunterricht in einer ganzen Klaſſe vorzuziehen ſein, 
in der Kinder verſchiedenſter Art, verſchiedenſten Alters und verſchiedenſter Reife 
zuſammenſitzen. 

Das aber iſt in allen Schulen zu verlangen, daß man den Sinn des Kindes 
für alles Geſunde, Naturgemäße unverbildet erhält, daß man das Natürliche nicht zu 
etwas Unreinem, Verbotenem ſtempelt. Sieht man die Bemühungen mancher Pädagogen, 
alles, was auf das natürliche Verhältnis der Geſchlechter hindeutet, zu umgehen, zu 
verdecken, ſo müſſen wir im Intereſſe geſundheitsgemäßer Erziehung unſerer Jugend 
dagegen energiſch Proteſt erheben. Solches Verfahren ruft nur ungeſunde Neben— 
gedanken, ungeſunde Heimlichtuerei hervor. Und gerade die 5 die doch auf 
dem Zuſammenleben von Mann und Weib aufgebaut iſt, muß in ihrem eigenſten 
Intereſſe darauf hinwirken, daß man das Verhältnis der Geſchlechter als etwas 
Geſundes, Naturgemäßes und darum Heiliges hinſtellt, daß man nicht jeden Hinweis 
darauf als etwas, deſſen man ſich eigentlich ſchämen müßte, aus dem Unterricht aus— 
zumerzen verſucht. 

Denn nicht darin allein liegt die Bedeutung der Schulhygiene, daß die außeren 
Arbeitsbedingungen geſunde, dem Körper zuträgliche werden, ſondern ebenſoſehr 
darin, daß dem Kinde geſunde, reine Gedanken gegeben werden, daß die Auffaſſung für 
naturgemäße, der Geſundheit zuträgliche Lebensweiſe in der heranwachſenden Jugend 


Die Gefchichte einer Stiftung. 483 


qewedt wird, daß ſchon das Rind Ehrfurcht befommt vor dem Wunderbau des menſch— 
lichen Körpers. Wenn in dem Knaben und aud in dem Madchen beim Verlaſſen 
der Schule Verjtindnis dafiir gewedt wurde, was der Cinjelne, den Naturgeſetzen 
entſprechend, zur Erhaltung und Beredelung feiner Art bedeutet, wenn fie als Pflicht 
erfennen lernten, ibren Körper fiir foldje Aufgabe gefund und rein zu erhalten, jo 
wird das fiir unfere Volkshygiene von bhervorragender Bedeutung fein. Und die 
Volksgeſundheit zu heben, ijt ja dod das Biel aller Schulbygiene. 


die Geschichte einer Stiftung. 


Dem Leben nacherzahlt 


Raddrud verboten. —— 


nd ob ich mich ihrer noch erinnerte, der Familie Ludolf?! Bild auf Bild aus 

iy den Tagen meiner Kindbheit taucte beim Klange dieſes Namens vor meinem 
Gedächtniſſe auf. Cine hohe, diijtere Mietskaſerne zunächſt — und vor ibr 
auf dem Biirgerfteige, in fonnenbhellen Stunden, eine gebrochene Männergeſtalt mit 
langem filberweigen Haupt- und Barthaar und großen, trog feines unverfermbaren 
Siechtums nod immer leuchtenden Augen. Und neben ibm, ibn führend und ftiigend, 
die ſchmächtige Cricheinung einer Frau in mittleren Jabren, mit ängſtlich verkümmertem 
Sefichtsausdrud und ſchlichtem Anzuge, der allen Verlodungen der Mode — jelbjt 
der Damals als unvermeidlich geltenden Krinoline — fiegreich widerftand. Dazwiſchen 
im Haufe aus: und eingebend, die Schule oder Kollegienmappe im Arme, cine Scar 
herangewachjener junger Manner, derbe Perſönlichkeiten, denen man nicht anſah, daß 
— wie man fic im Publifum zuflüſterte — Schmalhans Kiichenmeijter bei der Familie 
war. Ginter den Fenjtern der Parterrewohnung dann, hübſch, ja ſchön zu nennende 
Madchen, die volle Biifte meift mit lebenden Blumen geſchmückt und ab und ju, mehr 
oder weniger verftoblen, die Straße einer griindlichen Rekognoszierung untersiehend. 
Su dem binter dem Haufe gelegenen, wenig gepflegten Gras: und Gemiijegarten 
endlid) cite Rotte halbwüchſiger, verwabrlofter Rnaben und Madden, die dort ibr 
Wefen trieben und deren nimmer ju ftillende Begebrlichfeit ſich, jum Schrecken der 
Nachbarſchaft, durchaus nidt auf die eigene Obſtzucht allein beſchränkte — — — 
Und der ſtattliche Fremde, der ſeit einigen Minuten meinem Gatten und mir als 
Beſucher gegenüberſaß, entpuppte ſich jetzt als einer jener ſechzehn Nachkommen des Land— 
gerichtsrats Ludolf, ja ſechszehn waren es geweſen, er ſagte es ja ſelbſt. Seit langen 
Jahren in Amerika anſäſſig, ſuchte er jetzt zum erſtenmale die Heimat wieder auf. Nicht 
etwa aber um alte Erinnerungen aufzufriſchen, — dieſen Verdacht ſchien er mit einer 
faſt verächtlichen Handbewegung weit von ſich weiſen zu wollen. Nein! Herr Ludolf 
war vielmehr, wie aus ſeinen Reden mehr und mehr hervorging, gekommen zu dem 
Verſuche, ſich von ihnen zu befreien. Von jenen wenigſtens, die an den durch des 
Vaters Krankheit jahrelang vorbereiteten und mit deſſen Tode unabwendbar erfolgten 
Zuſammenbruch ſeines Elternhauſes anknüpften und die offenbar verdüſternd auf ſein 
ganzes bisheriges Leben eingewirkt hatten. Vieler Einzelheiten, die er jetzt aus der Ver— 
gangenheit mitteilte, erinnerte ich mich noch recht wohl. Ich mochte ſie ſeinerzeit, wenn auch 

31* 


484 Die Geſchichte einer Stiftung, 


in noch weit qrellerer Beleuchtung, aus den unbedachten Reden Erwachfener aufgeſchnappt 
haben. Daß die forperlichen und moraliſchen Kräfte der Mutter, die durd die 
Anforderungen ibrer Che vollftdndig aufgebraucht waren, jene Ratajtrophe nicht batten 
fiberdauern fonnen, war nur als ein Gliid zu betrachten gewejen. Der jiingeren 
unter den veriwaiften Nindern hatte ſich die Verwandtichaft angenommen und fie in 
die einzelnen Familien verteilt. Wie hatte man fic auch anderenfalls der Stimme 
des eigenen Gewiſſens und — — der öffentlichen Meinung gegeniiber zu balten 
vermocht? Der ſchlecht verhehlte Widerwille, der dabei zutage trat, hatte die älteren 
Geſchwiſter mit ohnmächtiger Wut erfüllt. Unter den bisherigen Kollegen des Vaters 
war eine Geldſammlung zum beſten der erwachſenen Söhne veranſtaltet worden. Daß 
dieſe ſämtlich — wie damals ſelbſtverſtändlich in der Familie eines höheren Beamten 
— allein für das Univerſitätsſtudium vorgebildet waren, zum Teil ein ſolches bereits 
begonnen batten, mit ganzer Seele an den damit verbundenen Zukunftsausſichten 
hingen, mußte jetzt natürlich unberückſichtigt bleiben. Da war es denn doch bedeutend 
einfacher, wenn man zwei von ihnen einem überſeeiſchen Truppenkörper einverleibte. In 
ſeinem Dienſte waren ſie nach kurzer Zeit ſchon geſtorben — verdorben. Ihn 
ſelbſt, den Alteſten, hatte man für einige Jahre als Lehrling in einem Kaufhauſe 
untergebracht, und dadurch auf ſeine Bahn gewieſen — nicht gu ſeinem Schaden, 
wie er jetzt in ſeine Erzählung einſchaltete, eine Bemerkung, die man ihm, der als 
Typus des self-made man im guten Sinne erſchien, gern glaubte! 

„Sie alle aber, Freunde, Kollegen und Verwandte,“ fuhr Herr Ludolf jetzt nach 
einer beſchaulichen Pauſe fort, „zeigten ſich am eifrigſten, als es galt, die erwachſenen 
Schweſtern zu verſorgen. Darüber, daß dies nur geſchehen könne, indem man ſie ſo 
bald wie möglich und um jeden Preis an den Mann zu bringen trachtete, waren, als 
gute Deutſche, alle einig. Da ſie alle drei junge, hübſche Dinger waren, man ihnen 
außerdem klar gemacht hatte, daß ſie in ihrer Lage durchaus nicht in irgend einer Art 
zu Anſprüchen an das Leben berechtigt ſeien, wurden die zu dieſem Zwecke gemachten 
Anſtrengungen in jedem einzelnen Falle raſch von dem gewünſchten Erfolge gekrönt. 
Die Dummen unter uns Männern werden ja nicht alle — bei einiger Beſonnenheit 
hätte es ſich ein jeder von denen, die damals meine Schwäger wurden, leicht voraus— 
ſagen müſſen, wie wenig Gutes bei einer Ehe herauskommen könne, die von der 
weiblichen Seite nur der Not gehorchend, nicht dem eigenen Triebe geſchloſſen worden 
war — felbft dann noch, wenn es fic) unt Wefen von geſchulteren Cigenfdaften des 
Herzens und des Charatters, als im vorliegenden Falle gebandelt hatte.” 

Mein Mann war uncubiq geworden. „Sie deuteten foeben an, Verehrteſter,“ 
warf er min ein, „daß die von Ihnen erwähnte Art, unvermbgende Mädchen ju 
verjorgen, gerade in Deutſchland als die allein mögliche betradtet werde. Vor dreipig 
Sabren und mebr — denn fo lange liegen die in Rede ftebenden Ereigniſſe binter 
uns — mag dies aber wobl allerorts fo geweſen und feitdem in diefer Beziehung, 
Wott fet Dank, auch bei uns ein Umſchwung jum befferen eingetreten fein.” 

Der Fremde lächelte boflich, dod) nicht tiberzeugt. „Immerhin,“ meinte er dann, 
„dürfte es wobl angebracht fein, yu verſuchen, in eingelnen Fallen wenigſtens, gleichen 
oder ähnlichen Creignifien vorjubeugen. Ich babe die Abjicht, yu diefem Swede cin 
gewiſſes Kapital auszuſetzen. Seine Zinſen follen, foweit fie ausreichen, dazu dienen, 
unverforgt zurückgebliebenen Töchtern höherer Beamten cine jährliche kleine Rente ju 
ſichern. Daß ich dabei in erfter Linie an Angebsrige Ihres Kollegiums denfe, Herr 
Rat, Dem ja auch mein Vater feine Dienite geweibt bat, diirfte als ſelbſtverſtändlich 
erſcheinen.“ 

Ich war aufgeſprungen und ergriff die Hand des menſchenfreundlichen Mannes. 
„Oh! das iſt ſchön, das iſt edel von Ihnen gedacht! Und wie ich mich freue! Ich 
weiß ſchon gar manche — da iſt vor allen anderen Toni Wende und die vier Töchter 
der Rätin Herrlein.“ 

Er nickte mir lächelnd zu. „Ich wußte es ja wohl, verehrte Frau, daß ich bei 
Ihnen vor die rechte Schmiede gekommen ſei.“ 


Die Geſchichte ciner Stiftung. 485 


Cinige Woden ſpäter. Wieder figke ich in meinem Simmer, diesmal allein. 
Nicht obne Spannung febe ich den nächſten Stunden entgegen. Da — ein Klingel— 
stig! follte eta ſchon die cine oder andere —? 

Das Dienſtmädchen erſchien. „Gnädige Frau, Fraulein Wende —?“ 

„Ich laſſe bitten!” 

Ich gehe einer kleinen, ſchlichten Frauenerſcheinung entgegen. „Ah, liebſte Toni, 
wie freut es mich, dich nad fanger Paufe wieder mal bei mir zu feben —“ 

Sie nidte nur fur;, aber nicht unfreundlich. „Du baft mir gefdrieben —“ 

Ich mupte lächeln. Noch immer die alte Toni! fie, die vor allen anderen unter 
uns Ultersgenoffinnen von jeber, durd das unſcheinbarſte Außere und die ſprödeſten 
Umgangsformen, wie vorausbeftimmt zur alten Sungfer geweſen mar. 

„Ja! und du twirft dic gleich mir gefreut haben ae 

Ihre bellen Augen blitzten mich an — nicht ohne Spott. „Uber die gute 
Abſicht — gewiß! die mir zugedachte Unterſtützung gedenke ich jedoch abzulehnen.“ 

„Aber Liebſte —?“— 

Wieder nickte ſie energiſch mit dem ſchmalen Kopfe. „Ich weiß, was du ſagen 
willſt. — Jn deinen dir vom Schickſal verwöhnten Augen gehöre ic) ja wohl zu den 
Bedürftigen. Es iſt ja auch wahr — ich habe nur eine ſehr beſcheidene Wohnung, 
keine regelrechte Bedienung zu meiner Verfiigung, fann mic nur febr einfach fleiden, 
al& einzige Abwedslung bietet ſich mir nur bier und da ein Aufenthalt als Uichen- 
bridel oder Tante Hilfreich bet Freunden und Verwandten. Du wirſt meiner 
Verſicherung aber dennoch Glauben ſchenken müſſen, daß mich, die ich nie Anſprüche 
an das Leben gemacht babe, yu ſolchen auch — das wirjt du sugeben — faum 
beredhtigt bin, meine Dafeinsbedingungen volljtandiq befriedigen. Cie diirften aud) 
dDereinft nod) geniigen, wenn die Tage gefommen fein werden, von denen wir fagen: 
fie gefallen uns nicht, um mir einen Unterſchlupf als Penſionärin in irgend einem 
Stift yu ermöglichen.“ 

„Aber ich bitte dich, liebe Toni,” unterbrac ich fie, „ſei doch nicht fo verblendet. 
Wie ganz anders würdeſt du dein Leben genießen können, eben durch jenen Fleinen 
jährlichen Zuſchuß. Welchen Wert hätte es gerade fiir dich, deren vielfeitige geiftige 
Intereſſen und Talente icy wohl fenne, wenn du bier und da eine ſchöne Reife 
machen könnteſt —“ 

„Es würde aber einfach keine Freude für mich ſein, eine Reiſe zu machen, zu der 
mir ein reich gewordener Pſeudoamerikaner das Geld geſchenkt hätte —“ 

Ich drohte ihr mit dem Finger. „Aber Toni, das iſt ja —“ 

„Einfältiger Krackel! ſtrafwürdiger Hochmut, nenn es wie du willſt! Wohl— 
meinende, zu denen ich ja in dieſem Falle, da von mir ſelbſt die Rede iſt, natürlich 
gehöre, könnten es auch als Pietät bezeichnen. Denn ich bin meiner Sache gewiß, 
daß Papa, der ſo ſtolz daxauf war, ſeine Tochter, nach langem Streben, endlich ſeiner 
Meinung nach wohlverſorgt zurücklaſſen zu können, es nimmermehr billigen würde, 
wollte ich mir von irgend einer Seite Geld ſchenken laſſen, um mir einen, doch nicht 
unbedingt notwendigen Luxus zu erlauben.“ 

Nun, das war allerdings ein Standpunkt, den man achten mußte. Ich drückte 
der ſich zum Abſchied Erhebenden herzlich die Hand. „Ich hoffe ſehr, auc du, Toni, 
tragit das deine dazu bei, damit wir uns in Zukunft wieder öfter eben. Bufallige 
Umſtände allein baben uns bisher auseinander gefiihrt.” 

Ihr Lächeln war diesmal nicht gang frei von Bitterkeit. „Siehſt du, auch du 
ſchätzeſt mich infolge meines Entſchluſſes ſchon bedeutend höher ein. Cine Dderartige 
Auffriſchung der Achtung, die man bei anderen und fich felbjt verdientermafen genieft, 
tut dem moralifchen Bewuftfein des Menſchen von Beit yu eit bitter not. Sie foll 
mit aud in dieſem Falle mit der Einbuße von ein paar hundert Mark jährlich nicht 
zu tener erfauft fein.” 

Da fie nicht Langer yu halten war, geleitete ich fie sur Haustüre und entnahm 
dort dem Brieffaften ein Schreiben. Meine Adreſſe — von mir unbefannter Hand? 
Lebhaft erregt riß ich den Umſchlag ab. Der Brief lautete: 


486 Die Geſchichte ciner Stiftung. 


Sehr verebrte gnädige Frau! Abre freundliche Sufebrift hat mid) burd ihren Inhalt in eine nit 
geringe innere Unrube verfest. Rach Rückſprache mit meinen zufällig bier eben verfammelten Schweſtern, 
als den mit mir gleicbeteiligten, bin ic nun gu dem Entſchluſſe gekommen, Ihr geſchätztes Anerbieten mit 
ciner offenen Darlegung unferer pefuniaren Verhältnifſſe gu beantworten. Meine mir im Wlter zunächfi 
ftebende Schwefter und ich find — wie Sie vielleicht wiffer — {eit mebreren Jahren als Lebrerinnen 
an der biefigen Töchterſchule tätig. Wir begieben als ſolche cin jabrlides Gebalt von je ca 1600 Mart. 
Da wir mit unferer Mutter cinen gemeinfamen Oaushalt filbren, fteht uns yu dieſem Swede außerdem 
nod deren Witwengehalt mit nabequ taufend Mark jährlich aur Berfiigung. Ware die fo entftehende 
Gefamtjumme bei ben biefigen Verbiltniffen nicht mehr als ausreicend, um drei Damen von nicht 
alljuieitgebenden Anſprüchen cine angemeffene Lebensfiihrung gu ermiglicben, fo dürfte es ſchlimm 
um deren häusliche Fähigleiten beftellt fein. Meine zweite Schwefter hat fic sur Diafoniffin ausgebildet 
und ſteht augenblidlid) bem Rindergarten ciner benadbarten Stabt als Yeiterin vor. Cine dritte und 
legte ift alS Erzieherin bet einer engliſchen Familie, mit der fie foeben bas europäiſche Feſtland bereift. 
Cine jede von = hig ift ſehr wobl imftanbde, fiir die cigenen Ausgaben aufjufommen. 

Nac dieſen Mitteilungen, fehr verehrte Frau, werden Sie es ſehr gut begreifen, wenn wir 
ung, nad) Kenntnisnabme Ihres Schreibens, die Frage vorlegten: find wir denn eigentlich berechtigt — 
oder, wie wir uns Lieber ausbdriiden, gendtigt, als der Unterſtützung bediirftig gu gelten? — — Wir 
glauben dicfe Frage getroft mit nein! beantworten zu dürfen, und das Bewuftfein, died der eigenen 
Kraft ju verdanfen, erfiilllt uns mit Freude und mit Stolz. 

In diefer Außerung bitte ic) Sie jedoch, nicht etwa cin ſchnödes Abweiſen einer edlen Abſicht 
erbliden gu wollen, Dads Leben hat uns in cine gu herbe Schule genommen, um wbermitige 
Gefinnungen in uns auffommen gu laſſen und uns außerdem durch Baterd frühen und unerivarteten 
Tod gezeigt, wie triigerif cin Bauen auf Glücksumſtände ift, die cingig und allein an Leben oder auch 
nur Geſundheit bes Menſchen angefniipft find. So liegt und allen ber Gebdanke an die Maglichfeit 
nabe genug, dag itber kurz ober [ang eine Beit fommen fonnte, in ber wir banfbar Gebraud von 
jenem grofmiltigen Anerbieten machen würden, deffen Segnungen wir fiir jest aber anderen minder 
Vegiinftigten gufommen laffen wollen. Mit ergebenem Grufe, febr verehrte gnädige Frau, 


Shore Marianne Herrlein. 


Alſo wieder ein Korb — mehr noc, ein vierfacher! von an und fitr fic gewiß 
erfreuliden Griinden veranlaft — aber wie [eid tat mir Herr Ludolf ob der mebr: 
fachen Enttäuſchung, die er fiir feine woblwollende Gefinnung einerntete! — Auch 
mein Mann würde ihm gegeniiber ſchwerlich mit einer oder der anderen Außerung des 
Triumphes zurückhalten, nachdem die Ereiqnifje feiner Bebauptung, daß fich auch in 
Deutfdland gar manches zum Beſſeren gewendet habe, fo über Erwarten zugeſtimmt 
batten. — Gewiß gab e3 nod) die eine oder andere, die man in die Liide einjpringen 
Lajjen Fonnte —? ja, wer nur? 

Wieder trat das Madchen mit einer Meldung ein. 

Fräulein v. Winghof?! — Ich fannte die forciert jugendliche Dame, die, 
auffallend elegant gefleidet, auch wirklich noch febr gut ausfab und über tadellofe 
Manieren verfiigte, recht wobl — „die Hofdame”, wie fie in der Stadt hieß, weil 
fie, wenn auch unbefoldete Dienfte einer ſolchen bei einer mediatifierten Grafin der 
Nachbarjcaft ju verſehen liebte — „die Verkehrshyäne“, wie man fie ſpöttiſch im 
intimen reife der Rollegen benannte; fie pflegte fich, oft ganz unmotiviert, in diefe 
oder jene zu ibm gebdrende Familie einzuführen, auf ibre Rechte als Tochter cines 
früheren Präſidenten podend, und Cinladungen yu Ballen und Gefellfebaften immer 
wieder durch kleine Aufmerkſamkeiten berauszufordern. Natürlich nur bei folchen, die 
„ein Haus machten“. Was aber wollte die Verkehrshyäne bei mir — die ich eigentlich 
nur meinem Manne und meinen Kindern lebte? 

p Mein gnädiges Fraulein —!?” 

„Sehr erfreut, verebrte Frau, Sie zu Haufe zu finden.” 

Ich bin ihr entgegengegangen und habe fie auf einen Ceffel gendtigt. Cine 
furje Paufe tritt cin. Wie ein Blitz fommt mir die Erinnerung an eine fleine heitere 
Sjene, die fic abgefpielt hatte, als wir uns vor kurzem aud) einmal fo gegeniiber 
ſaßen. Gelegentlidy eines zufälligen Sufammtreffens bet einer qemeinfamen Befanntin 
war es gewejen. Da hatte das Fraulein der Verfuchung nicht widerſtehen fonnen, 
un beiden anderen, ftets febr unfebeinbar gefleideten Frauen mit den verborgenen 
Reizen ibrer Toilette zu imponieren. Su dieſem Swede 30g fie den Nod ibres febr 
ſchicken dunfelblauen Schneidertleides fortwährend ohne jeden zwingenden Grund über 
Die Rnie bin und ber. Cin vielfagendes Raufden und Rnijtern, das fo entftand, 
mufte uns nun freilich überzeugen, daß dad Kleidungsſtück in der Tat ein feidenes 








Die Geſchichte einer Stiftung. 487° 


Unterfutter enthielt. Da war mir plötzlich eingefallen, dak auch mein febr feblichtes 
qraues Kleid — mein Mann hatte eS einſt bei einer Dienſtreiſe in Berlin fiir mic 
gefauft — ebenfalls mit diefem Seichen höchſter Eleganz ausgejtattet fei. Nun hatte 
mid) der Neckteufel gepact — unwiderſtehlich. Ich ſetzte mich in Pofitur, ergriff mit 
ſpißen Fingern mein Kleid und lich es in furjen Zwiſchenräumen iiber die Knie bin: 
und herſchnellen — gerade fo, wie ich es von ihr gefeben hatte. Ihr ungliubiges 
Aujfhorden, ihre vor UÜberraſchung ftarre Miene und ibre Verlegenheit dann waren 
von unbeſchreiblich komiſcher Wiring gewefen. Wllein dadurch, daß fie baldmöglichſt 
ibren Rückzug angetreten hatte, war der Hausfrau die Blamage eines Heiterfeits- 
ausbruches erfpart geblieben. 

Heute lauſchte ich umſonſt auf das bewußte Geräuſch. Die Toilette meiner 
Befucherin erſchien überhaupt von ungewobnter Schlichtheit. 

„Ich fomme als Bittitellerin,” begann fie endlich. 

Aba! Unwillkürlich griff meine Hand nad der Kleidertaſche. 

Sie bewegte verneinend den Kopf. Cine neue Pauſe entftand. 

„Sie haben die Zinfen der Ludolfſchen Stiftung ju vergeben, verebrte Frau —? 
jagte fie dDannn. 

Ich rückte näher heran. „Und Cie, liebes Fraulein, wiſſen mir einen oder den 
anderen Vorſchlag zu einer geeiqneten Verwendung zu machen —?” 

Sie zögerte aufs neue und vermied meinen Blid. „Ich babe an mich felbjt 
gedacht — wer gleich mir wire berechtiqt —?” 

Wie vor den Kopf geichlagen fuhr ich zurück. Cinige peinliche Sekunden ver: 
ſtrichen. „Ob cine derartige Verwendung des Geldes im Sinne des Gebers ijt, weiß 
id) nun dod) wirklich nicht —“ 

Ich gab mir feine Mühe, meine innerliche Entriiftung zu verbergen. Auch ibre 
Stimme bebte. 

„Weil Sie, befte Frau — ich ſchenke Ihnen, im unbedingten Glauben an Ihre 
Distretion, mein rückhaltloſes Vertrauen — weil Sie fich iiber meine cigentlicen 
Verhältniſſe täuſchen laſſen durch die Art meiner Lebensfiibrung, durch deren flotte 
Aufenfeite vielmebr, die id) meiner Stellung als Tochter meines Vaters febuldiq ju 
fein glaube und die hinter den Kuliſſen täglich aufs neue durch Einſchränkungen, ja 
Enthebrungen erfauft werden muß.“ 

Xa, durch das, was fie Entbhebrungen nannte! Im Geijte fab ich ibre hübſche 
balfon: und erfergefdmiidte Parterrewohnung, ihre gutgeſchulte Dienerin, birte cin 
gewiſſes vieljagendes Rauſchen und Rnijtern — — 

„Zu dem ſtandesgemäßen Auftreten einer Beamtentodter,” fiel ich cin, „gehört 
meinem Ermeſſen nad gar manche Lurusausgabe nicht, von der id — weiß, 
daß Sie ſie ſich erlauben.” 

Hatte icy wirklich, ohne es zu wollen, mit fpigen Fingern nach meinem Kleide 
gefaßt —? ic weif es nicht — jedenfalls aber war meine Anfpielung von ibr ver: 
ftanden worden. Ginerlei! Ich durfte es ibr nicht erfparen. 

„Es war cin Rleid, das mic die Grain Gilfa geſchenkt hatte,” ſagte fie 
bedriidt, „Erlaucht gefielen fic nicht darin. Ich babe ja überhaupt manchen Vorteil 
porn dem Verfebr in dem gräflichen Hauſe, wenn er auch freilich andererfeits dazu 
beitragt, daß mir die Verhältniſſe bier und da über den Kopf yu wachſen droben. 
Denn fagen Sie felbft: wie könnte ich mich heute in der gräflichen Equipage feben 
laffen und morgen in der dritten Cifenbabnflajje?” 

„Aber wie finnen Cie, mein gnädiges Fräulein,“ rief ich erregt, „ſich Ihr 
Yeben in der Art einvidten —? Wie ein folches, aus Widerfpriicien, ja Unwabhrbeiten 
zuſammengeſetztes Daſein iiberbaupt nur ertragen?” 

„Nun feben Sie,” entgeqnete fie ebenfo lebhaft, „Sie gelten ja fiir eine 
moderne Frau und werden daber einem jeden Menſchen gern das Recht zugeſtehen, 
feiner Individualität entiprechend yu leben. Die meine geftattet mir eben alles andere 
weit eher, alS ein Leben in der Verborgenheit einer Dachkammer — fo etwa a la 
Toni Wende. Rednen Sie dazu nod die Art meiner Erziehung, da$ mir von Ffrith 


488 Die Geſchichte ciner Stiftung, 


an cingeimpfte Bewußtſein, zu großen Anſprüchen an das Leben berectigt yu fein — 
id), die id) jabrelang mit Recht fiir das ſchönſte Madden der Stadt galt —“ 

Das ftimmte. Es war mir erft neulich wieder von Herrn Ludolf beitatigt 
worden, als er fich nach ibr als einer Qugendbefanntin erfundigt hatte. 

„Und bitte mir nun,” fubr fie in heiſerem Fliftertone fort, „das Scidjal auch 
nur einen Teil diefer Anjpriiche erfiillt, fo ware — das weif ich beftimmt — eine 
vortrefflide Hausfrau, Gattin und Mutter aus mir geworden. Go aber — was 
bleibt einer alten alleinftehenden Jungfer, zu der id) geworden bin, denn anders übrig, 
als dem Dajein, um es überhaupt ertraglich gu finden, fo viele Annehmilichfeiten wie 
möglich abzuringen? Denn den Umſtand, daß id) in meiner Lage von Anfang an 
darauf verzichtet babe, als Ronfurrentin meiner gänzlich mittellofen Mitſchweſtern in 
den Rampf um einen Beruf einzutreten, darf ich mir ja im Hinblick auf die fozialen 
Verhältniſſe geradezu als ein Verdienjt anrechnen.“ 

Wohl fiihlte ics, dak ich mit blöder Miene diefe eigentiimlide Philoſophie 
entgegennabm. Traurig! traurig! und das Schlimmſte daran war der Sdiein von 
Berechtigung, den manches, was fie fagte, enthielt — fiir fie, fo wie fie nun cinmal 
war — da8 Produft ibrer Heit und ibrer Erziehung. 

„Nicht etwa,“ vernabm id) nun wieder ihre vor Errequng heiſere Stimme, 
„nicht etiva, daß ich gu den niemals Begebrten gebirt hatte! Nein! gar mancher bat 
mir einft fein Herz, feine Hand und feine ganze Sufunft zu Fiifen gelegt. Das 
Bewußtſein hiervon ijt mir in mander ſchweren Stunde der eingige Troſt geweſen! — 
Warum ich feinen unter ibnen erbirt habe —? Da, feben Sie, verehrte Frau — ich 
weif nicht, ob Sie aus eigener Erfabrung abnliches fennen gelernt haben — wenn 
einem nicht immer, gerade im WAugenblice, in dem man cine Liebeserflarung entgeqen- 
nimmt, in ſich felbjt alſo das ſtolze Bewußtſein der unbedingten Macht über ein 
Menfchenhers fühlt, der Gedanke käme: dieſes haſt du zu befiegen vermodt — follte 
dir dies nicht über kurz oder lang ebenſo gut einem anderen gegenüber gelingen, den 
zu beſitzen dir nod) wertvoller wäre —? So denkt man, bis es auf einmal gu ſpät 
iſt und einem nur die Reue übrig bleibt. O! wer ſie kennt, die endlos langen 
dunkeln Nächte, in denen man ihr rettungslos verfällt, wenn ſich einem die Nber- 
zeugung aufgedrängt hat, den Augenblick des Glückes ein für allemal verpaßt zu 
haben —!“ 

Düſter ſtarrte ſie vor ſich hin. So abſtoßend mir ihre Bekenntniſſe waren, 
hätte ich ihr doch nun gern ein tröſtendes Wort geſagt. Doch eben dies Gemiſch 
von Mitleid und Grauen verſchloß mir den Mund. 

„Ich werde Herrn Ludolf in Ihrem Intereſſe zu beeinfluſſen ſuchen,“ war alles, 
was ich endlich hervorbrachte. Sie kam dadurch zur Gegenwart zurück. Eine flüchtige 
Röte flackerte über ihr Geſicht. Sie faßte nach meiner Hand. 

„Ich danke Ihnen! Aber ich habe noch eine Bitte! Herr Ludolf — er iſt ſo 
fremd in den hieſigen Verhältniſſen geworden — er fragt wohl kaum nach den Namen 
derer, die ſeine Wohltat genießen — wenn man die Sache geſchickt einfädelte, könnte 
ibm wohl der meine verſchwiegen bleiben — es ware mir im hohen Grade peinlich, 
wenn er wüßte — Sie werden das begreifen, wenn ich Ihnen mitteile, daß gerade 
er als Student zu meinen glühendſten Anbetern gehörte —“ 

Auch das mochte wahr ſein — ſchien mir ſogar jetzt mit Beſtimmtheit aus der 
Art, wie er ſich neulich über ſie geäußert hatte, hervorzugehen. 

Mein Mitleid ob ihres Elendes verdrängte alle anderen Gefühle, als ich fie jest 
yur Tür geleitete. „Ich will tun, was icy fann, wm alles nad Doren Wünſchen gu 
geftalten, gnädiges Fraulein!” 


489 


Gelehrte Prauen der Stadt Bologna. 


@on 
Alice Wengraf (Wien). 
Nachdrud verboten. 


Jer titige Anteil der Frau an der literarijden Produftion des Volfes ift bei 
den einzelnen RNationen ganz verſchieden. In Deutſchland traten die Frauen 
in den vergangenen Jahrhunderten faſt gar nicht aus der beſchränkten Häuslichkeit 
heraus. Wo ſie in größerem Maße an der Geiſtesarbeit teilnehmen, geſchieht es 
meiſt im Dienſte religiöſer Beſtrebungen. Die älteſten deutſchen Dichterinnen, 
Hroswitha und Ava, find Nonnen; in der Zeit der Glaubenskämpfe tragen die Frauen 
eifrig zur Weiterverbreitung der reformatorifden Ideen bei; fpater, im 17. abr: 
hundert; find fie ſchwärmeriſche Anbangerinnen der pietijtifden und myſtiſchen 
Strimungen, und Anna Maria Schiirmann, die von ibren Zeitgenoſſen als gelebrteite 
aller Frauen gepriejen wurde, iſt eine trene Siingerin der Labadijtengemeinde. 
Namhafte Dichterinnen, wie die Gräfinnen Stolberq und Zinzendorf, zählt diefe 
Epoche hauptſächlich anf dem Gebiet der geijtliden Poefie. In Gottſcheds „Deutſcher 
Geſellſchaft“ finden ſich wobl einige gelebrte Frauen; einzelne Fürſtinnen fleben im 
literarifcben und wiſſenſchaftlichen Leben, wie die pfälziſche Prinzeſſin Eliſabeth durch 
ibren Freundſchaftsbund mit Descartes und Kinigin Sopbie Charlotte von Preußen 
durch ibre wiffenfdaftlicben Beziehungen ju Leibniz. Qn der klaſſiſchen und romantifden 
Periode der deutfchen Dichtung übt manche geiftreiche Frau einen entfcheidenden 
Einfluß; allein die rege Produftionsfraft der deutſchen Frau, die fich gegenwärtig nad 
allen Richtungen bin entfaltet bat, erwadt erft im 19. Jabrbundert. Jn Frankreich 
bingegen ijt nicht nur der Einfluß der Frau auf die Literatur bedeutend, fondern ibre 
aftive Mitwirfung von Anfang an eine ganz bervorragende. Von Marie de France, 
einer Der glänzendſten Vertreterinnen der Fabel und Legende des 12. Jahrhunderts, 
bis zur krönenden Erfebeinung einer George Cand, welche Fülle weiblicher 
Individualitäten! Chriſtine de Pijan, die aus Italien ftammende Dichterin annuttiger 
Geſänge und graziöſer Balladen — in ihren polemiſchen Schriften cine mittelalterliche 
Atauenredtlerin, die ihr Gefeblecht gegen die Angriffe des herrſchenden Rofenromans 
verteidigt und gründliche wiſſenſchaftliche Wusbildung fiir die Frau verlangt —, 
Margarete von Valois, die Verfafjerin des ,.Heptameron”’, die „Précieuses“ de3 Hotel 
Rambouillet, die Memvirenfehreiberinnen aus der Epoche Ludwigs XIV., die Salons 
ber Tencin, du Deffand, Lespinafje, Geoffrin und Epinay, die den Höhepunkt des 
Kunſt und Wiſſenſchaft beherrſchenden Cinflufjfes der Frauen bedeuten, geben der 
Geſchichte des franzöſiſchen Geijteslebens ibr gan; beſonderes Rolorit. 

In Italien wiederum zeitigt die Renaijfance cine ganze Reihe merfwiirdiger 
Rrauengeftalten, den herrſchenden Fürſtengeſchlechtern entitammend, die alle den Stempel 
einer cigenartigen, bedeutenden Perſönlichkeit tragen. Fiiritliche Frauen wie Coſtanza 





490 Gelebrte Frauen ber Stadt Bologna, 


Sforza, die bereits im Kindesalter cine lateiniſche Rede halt, Battifta da Montefeltre, 
die durch ihre auperordentliche Beredjamfeit berühmt ijt, Iſotta da Rimini, die 
Sappho ibred Beitalters, Lucresia und Iſabella Gonzaga, deren Briefe viel bewundert 
werden, und Midel Angelos unſterbliche Freundin Vittoria Colonna ') zeugen von dem 
qeiftigen Reichtum einer Beit, die beiden Gefchlechtern die gleichen Cntwidlungs- 
bedingungen, diefelbe umfaffende geiftige Erziehung yu teil werden Lief. 

Die große Maffe der weibliden Bevslferung verharrt freilich, wie in anderen 
Ländern, fo aud) in Stalien durd all die Jahrhunderte in der Abgefdbiedenheit des 
hauslichen Herdes, in völliger Unbilbung und Unwwijfenbeit. Durch einen Umſtand 
erhält jedoch die Geſchichte der italienifden Frauen eine eigentiimliche Phyſiognomie: 
gleich den Fiirjtenfamilien lieben es auc) die Gelebrtenfreife, ibren Tichtern die gleiche 
wiſſenſchaftliche Ausbildung zu geben wie ibren Söhnen. So erhält Stalien eine große 
Anzahl gelehrter Frauen, deren Ruf fich weit über die Grenzen ihres Vaterlandes ver- 
breitet. Die Zentren italienijder Geiftesbildung werteifern miteinander um ibre ftudierten 
Arauen. Ferrara und Mantua ftreiten um die Chre, welche der beiden Stadte der 
Geburt8ort der beriihmteften Frau des 16. Jahrhunders, Olvmpia Fulvia Morata, 
fei, und Bologna und Modena kämpfen flange um die gelebrte Lucia Bertana, bis 
Ferrara den Sieg davontrigt. Ebenſo Hat Padua feine ausgezeichnete Rednerin 
Caffandra Fedele, Verona feine Philofophin Iſotta Nogarola, Der Sammelpuntt weib- 
licher Gelebrtheit aber ijt bie Univerſität Bologna, und diefer alteften Stätte der geiftigen 
Rultur Staliens gebührt das Borredt, nicht nur den Frauen, die Neigung und Talent 
zur Wiffenfehaft trieb, das Studium erſchloſſen, fondern auch ihrer wiſſenſchaft— 
lichen Betätigung feine uniiberwindlichen Schranken entgegengejtellt gu haben. Die 
Begünſtigung der gelebrten Frauen gebt fo weit, daß ibnen die afademifche Lebrtatigkeit 
ermoglidt wird, und fo bietet denn die Univerſität Bologna ſchon feit vielen Jahr— 
hunderten der Welt das feltene Schaufpiel weiblicher Profefforen. Andere italienijde 
Hochſchulen find diefem Beifpiele in vereingelten Fallen gefolgt, Bologna weiſt jedoch 
ſchon in den erjten Entwidlungsphajen einer Hochſchule in modernem Cinne weiblide 
Namen auf, deren Triigerinnen die Lehrſtühle befegt haben. Im 18. Qabrhundert 
pollends erreicht die weibliche Lebrtitigfcit ibren Höhepunkt, und es werben viele 
Frauen zu gleider eit an die Univerfitit berufen. Dieſe Glanjzperiode der Frauen 
an der Univerfitit Bologna fallt mit dem Pontififat ded aus Bologna ftammenden 
Papftes Benedift NIV. zuſammen. Cr war ein cifriger Förderer der Künſte und 
Wiffenfehaften; das Studium der Frauen bat er auferordentlic begünſtigt, viele 
weiblide Kräfte an die von ibm begriindete benediktiniſche Akademie gegogen und aus: 
ländiſche Frauen zu deren Mitgliedern ernannt. 

Die Univerſität Bologna ijt die altefte Univerſität des ganzen Abendlandes. Cie 
erfreute ſich ſchon im Mittelalter grofer Berühmtheit; die Legenden, die fie vielfach 
unuveben, reichen ſogar bid in die römiſchen Kaiſerzeiten zurück. Gemeinhin wird 
aber dad 11. Jahrhundert als Griindungsepoche der Rechtsſchule betradhtet, die in der 
Folge zu fo weltheberrfchender Bedeutung gelangte. Die Stadt Bologna verdantte 
Macht und Reichtum hauptſächlich ibrer ,, Universitas“, der Taujende von Fremden 
aus aller Herren Linder zuſtrömten. Die Perivde der höchſten Blüte bat auch der 
Stadt den bleibenden Stempel aufgepragt, fo dah felbit die Gegenwart mit ihrem 


') Tiraboschi: Storia della lettcratura italiana, 


Gelehrte Frauen der Stadt Bologna. 491 


völlig verdnderten Getriebe nicht vermodst bat, ibren altertiimlich gemächlichen, ernjten 
Charatter zu verindern. Die engen Strafen, durchweg von düſterſchattigen Bogen: 
hallen umſäumt, die vielen uralten Palijte mit den weiten Säulenhöfen, in denen 
veriwitterte Marmorbrunnen ftehen, die beiden ſchiefen Türme Aſinelli und Garijfenda, 
die feit 900 Jahren ihre ſchmuckloſen Riefenleiber trogig in die Hobe reden, der 
mächtige gotiſche Dom mit der unvollendeten, zerbröckelten Fajfade, alles deutet arf 
eine Lange, ebrwitrdige Vergangenbeit bin, deren Spuren unverwiſchbar find. 

Schon mit der Begriindung der Rechtsſchule wird der Name einer Frau in 
Zuſammenhang gebracht. Die aus dem Fabre 1226 ftammende Chronif des Probftes 
Burdard von Urfperg berictet nämlich, dap die Marfgrafin Mathilde von Tuscien 
(mit dem Beinamen ,,die Große“), die Modena, Brescia, Ferrara und Toscana 
unter ihrer Herrſchaft vereinigte, den in Bologna anſäſſigen Rechtsgelehrten Yrnerius 
(1056—1130) zu Geridtsbarfeiten nach Ferrara enthot.') Sie foll ihm die Anregung 
gegeben haben, fic) mit den Quftinianifeben Bandeften, den Quellen des römiſchen 
Rechtes, gu beſchäftigen. Arnerius griindete hierauf die Schule der Gloffatoren, welche 
der Ausgangspunkt der gefamten modernen Rechtswiſſenſchaft geworden ijt. 

Das nächſte Jahrhundert befigt bereits zwei Frauen, die fic mit dem Rechtsſtudium 
befaften: Bettifia Gozzadini und WAccurjia.?) Erſtere (1209 in Bologna geboren) 
wurde 1236 yum Doftor der Rechte promoviert. Cie foll 2 Jahre lang vor mebr 
als 30 Hörern gelefen haben und hielt mebrere öffentliche Reden. 1261 ftarb fie an 
den Folgen einer Verſchüttung durch den Zufammenbrud eines Hauſes. WAccurfia wird 
als Tochter des Gloffatoren Accurfius genannt und foll ebenfalls Jurisprudenz gelebhrt 
baben; doch wird die Exiſtenz diejer Frau angesweifelt, und authentiſch beglaubigt 
find nur die Söhne des Wccurfius. 

Das 14. Jabrbundert nennt als Qurijtinnen die beiden Schweſtern Novella und 
Bettiſia d'Andrea, Tichter des Gelehrten Giovanni D'Andrea. Novella foll die Schiiler 
ibreS Vater unterricbtet haben, wenn dieſer franf war; fie war dabei hinter einem 
Vorbang verborgen, um nicht durd) ihre Schinbeit yu beirren. Chrijtine de Pifan, 
ihre (in Paris lebende) Zeitgenoffin, beridptet in ibrer Schrift ,Le trésor de la cité 
des dames“ über die wiffenfchaftliche Tätigkeit der Novella. Ungefähr in diefelbe 
Seit fAllt die Wirkfamfeit der Magdalena Buonſignori-Bianchetti, von der eine Schrift 
fiber Chegefebe ftammt.4) Am Jabre 1400 erfeheint zum erſtenmale cine Arztin als 
Gebhilfin ibres Vaters verjzeidinet, Dorothea Bocchi, die deſſen Schiiler unter großem 
Zulauf unterrictet haben foll und auferdem das Studium der antifen Sprachen eifrig 
betrieb. 1428 wirkte Teodora Grifolora an der Univerjitit als Lehrerin der griechiſchen 
Sprache. Das 15. Jahrhundert nennt ferner eine Wleffandra Gigliani als anatomiſche 
Lebrerin und Battijta da Montefeltre, die iiberaus gelebrte Gemabhlin de3 Galeazzo 
Malatefta, welche öffentlich philoſophiſche Vorlefungen hielt und aus einer Dijputation 
mit bedeutenden Gelehrten als Siegerin hervorging. Sie rictete an Raifer Sigismund 
und an Papſt Martin V. cine lateinifche Unfprache und hinterließ Reden und zahlreiche 
Schriften poetifden und religiöſen Jnbhalts.*) 


i) Rashdall „The universities of the Middle-ages in Europe.“ Oxford 1895. 

2) Die Altefte Erwähnung der Gozzadini geſchieht in Ghirardaccis ,Storia della città di 
Bologna‘. 

3) Maddalena Buonsignori-Bianchetti ,De legibus connubialibus*. 

‘) Tiraboschi ,Storia della letteratura italiana’. 


492 Gelehrte Frauen der Stadt Bologna. 


Während der jwei folgenden Jahrhunderte erregen nur zwei Frauen durch ibre 
wifjenfcaftlicde Bildung die allgemeine Aufmerffamfeit: Lucia Bertana dall’Oro, von 
der ſich nod) Briefe und poetiſche Werke in den Bibliothefen von Bologna finden 
und Febriona Pannolini, deren lateiniſche und italieniſche Didtungen 1610 in Bologna 
qedrudt wurden. — Noch in das Ende des 17. Jahrhunderts fallt dic Geburt der 
Tereſa Bettini-Zanni (1687—1752), und von da an reicht wieder cine ununterbrochene 
Kette gefeierter und verdienftvoller Frauen, die an der Univerfitdt wirften, bis ing 
19, Jahrhundert hiniiber. 


Tereſa Zanni betrieh lateiniſche, philofophijde und mathematiſche Studien; ſie 
war Mitglied vieler wiſſenſchaftlicher Akademien. Sie ſchrieb auch cine Abbandlung 
iiber Das Studium der Frauen. 1722 verteidigt Maria Delfini-Doji mehrere Thefen 
in einer öffentlichen Sigung. Cie hat cin Buch gefehrieben, in dem fie die von 
mebreren Autoren angesiveifelte Crijten; der Bettifia Gozzadini zu beweifen fucbt. 
Einer der beriihmteften weiblichen Profefforen Ataliens ijt die 1711 geborene Laura 
Catharina Baffi-Verati. Cie wurde am 12. Mai 1732 jum Doktor der Philoſophie 
promoviert. Bereits im Oftober desſelben Sabres wurde ibr ein Katheder verlieben. 
Ihre Borlejungen waren auferordentlid) befucht. WS 1776 der Lebritubl der 
Erperimentalphofif durd) den Tod Balbis erledigt war, wurde fie zu feiner Nach: 
folgerin ernannt. aura Baffi hat wiſſenſchaftliche Schriften, Briefe und poetiſche 
Werke hinterlajjen, die wiederholt gedrudt wurden.') Die Mitwelt bat diefe Frau 
befonders gefeiert. Die Univerfitdtshibliothe® zu Bologna bewabhrt allein etwa dreifig 
Werke verſchiedener Autoren, die fich mit ihr beſchäftigen. — Ru derjelben Zeit wird 
die Mailanderin Maria Gaétana Aqnefi (1718 geb.) an die Univerfitdt als Profeijor 
der analytifden Geometrie berufen. Es wird von ihr erzählt, daß fie bereits mit 
neun Jahren eine Mythologie aus dem Griechifeben überſetzt babe. Sie hieß dag fieben: 
jpracige Orakel. 1748 vevdffentlichte fie die Schrift „Analytiſche Inſtitutionen“, 
der fie ihre Ernennung in Bologna verdanfte. Bis 1796 unterrictete fie in Bologna, 
dann kehrte fie in ibve Vaterftadt zurück und ftarb dort hochbetagt im Jahre 1799.*) 
Bianca Mileſi, eine der gelebrtejten Frauen ded 19. Jabrbhunderts, bat ihre Biograpbie 
geſchrieben. 1756 wurde Anna Morandi-Manjzolini (geb. 1717 als Tochter des 
Advokaten Giov. Morandi) vom afademifchen Senat ein Ratheder fitr Anatomie 
verliehen. Cie war cine außerordentlich geſchickte Modelleurin und ijt die Erfinderin 
der anatomifden Wachstafeln. Ihre Präparate erlangten einen Weltruf. Bon den 
Stidten Mailand, London, Petersburg erbielt fie ehrenvolle VBerufungen; jie zog es 
jedoch) vor, in ihrer Heimat ju bleiben. Cie war Mitglied der Elementinifden Akademie, 
der gelehrten Geſellſchaft zu Foligno, der Malerafademie zu Floreny und vieler 
anderen Rorporationen. Ihre Vorlefungen wurden ſtets von vielen Fremden befucht 
1777 wird Maria Amoretti-Pellegrini infolge einer Dijfertation (,.De jure dotium 
apud Romanos“), die einen großen Erfolg errang, jum Doktor der Rechte promoviert; 
1779 erbalt Maria-Maſtellari Collizzoli-Sega den Doktorhut und halt von 1799—1824 
chirurgiſche Vorleſungen. Im Dezember des Jahres 1799 promoviert Maria Dalle 


*) Laura Cath, Bassi: „De problemate quodam hydrometrico* — ,,De problemate quodam 
mechanico*. Lelio della Volpe Bologna 1751. — Lettere inedite Bologna Tip. Sassi 1836. 

*) Maria Gaétana Agnesi: ,Pro studiis mulierum* — ,Propositiones philosophicae*. — 
Lettere latine e italiane 1799 p. G. Galeazzi, Milano. 


— 


Gelehrte Frauen ber Stadt Bologna. 493 


Donne; fie hat Philofophie und Chirurgie ftudiert und habilitiert fic) als Medizinerin. 
1804 wird fie zur Directrice der Hebammenfdule gewablt, cin Wmt, das fie bis zu 
ibrem Tode (1842) unter allgemeiner größter Anerfernung verivaltet. 1829 wird fic 
Mitglied der Lenediftinijden Wfademie. — 1793 wird Clotilda Tambroni zur Lebrerin 
der griechiſchen Sprache an dev benediftinifden Afademie ernannt. 1798, da Bologna 
unter die franzöſiſche Herrſchaft gerät und fie den republifanifcen Schwur nicht leiften 
will, wird jie ihres Amtes enthoben. Zwei Jahre ſpäter wird ihr Katheder in 
anbetradt ibrer grofen Verdienjte vom Minifterium rejtituiert, und fie lebrt mim 
wieder bis 1808. Dann wird ibr Lehritubl durch cin Dekret de3 Vizekönigs gan; 
aufgehoben und fie erbalt cine Benfion bis zu ibrem Tode (1817).') 1807 wird 
Maddalena Noë-Canedi zum Doftor der Rechte promoviert und habilitiert ſich. Es 
ijt Die lefte Der weiblichen Profefjoren aus diefer Epoche. 

Erſt in jüngſter Beit wirken wieder Frauen an der Univerfitét Bologna. Gegen: 
wärtig befleidet Eliſa Norta daſelbſt den Poſten einer Wijiftentin fiir Zoologie. Mina 
Monti2), die auferordentlicher Profejfor fiir Anatomie in Pavia ijt, erbhielt bei einem 
der in Italien zur Erreichung einer akademiſchen Unjtellung iiblichen Konkurſe, an dem 
jie teilnabm, von den Bolognejer Profefforen einjtinunig die Fähigkeit zugefprochen, 
den Poſten eines ordentlichen Profeffors der Anatomie zu verfeben. Giufeppina 
Cattani*), feit 1884 als Affitentin am Labaratorium fiir allgemeine Pathologie zu 
Bologna titig, wurde 1898 zur Leiterin des bakteriologiſchen Laboratoriums des 
Spitales zu Imola beftellt, wo fie nod) heute wirft. Sie bat bereits zahlreiche 
Arbeiten in verſchiedenen Fachzeitſchriften verdffentlict. „Giuſeppina Cattani, der 
Affiftentin am pathologijdem Inſtitut, wünſchen wir, dap fie in Anerfermung ibres 
ernſten Strebens und in Wiirdigung ibver Fabigfeiten einen Lehrſtuhl ervingen und 
den Cnthufiasmus, der fiir die Bafft herrſchte, wicdererweden möge“ ſchreibt die 
lllustrazione Italiana‘ in einer 1888 anläßlich der 800jährigen Gründungsfeier 
der Univerfitit Bologna herausgegebenen Feſtſchrift, in der ein ausfiihrliches Kapitel 
den weiblichen Gelebrten der Hochſchule gewidmet ijt. — Nberbaupt wird den Frauen, 
die an der Univerſität gewirkt haben, das ebrendjte Zeugnis ausgeſtellt und die Berichte 
jind voll des Lobes fiber ihren bingebungsvollen Cifer und die Bflichttreue, mit der 
fie ibr Amt verſehen haben. Jedenfalls ijt die empiriſche Erfabrung einer Univerjitat, 
Die Die Wiege der Jurisprudenz und der Anatomie ijt und aus der Männer wie 
Malpight und Galvani, Grimaldi und Caſſini, Balbi und Matteuci hervorgegangen 
find, höher su ſchätzen, al die Hypotheſen mancher deutſchen Gelebrten, die fo gerne 
den „phyſiologiſchen Schwachſinn“ und die Inferiorität des Weibes ins Treffen führen, 
wenn es gilt, die Untauglidfeit der Frau jum Studium yu beweifen. Wenn Frauen 
iiberbaupt imftande waren, fic) gleichseitiq mit Galvani an einer und _ derfelben 
Univerſität im mediziniſchen Fade zu bebaupten, müſſen ihre Fabigfeiten nicht gar zu 
gering veranſchlagt werden. Was aber die phyſiſche Leiſtungsfähigkeit betrifft, ſo 
braucht man nur die überaus lange Berufstätigkeit der Mehrzahl der genannten Frauen, 
fowie das hohe Alter, das fie erreicht haben, in Betracht zu siehen, um yu dem 


') Clotilda Tambroni Ode greco-italiaga 1792 — Ode pindarica 1793 — Ode saftica 
1797 —- Verse e Prose Parma 1807 — Orazione inaugurale 2. gen. 1806. 

2) Unione feminile 3. Jahrgang Nr 2. 

*) Unione feminile 1. Jahrgang Nr 10. 


494 Gelehrte Frauen der Stadt Bologna. 


Schluffe zu fommen, dah die geiſtige Arbeit ihre Kräfte durdaus nicht frühzeitig 
untergraben fat. 

Die Stadt Bologna weit überhaupt einen auffallend hohen Projzentjag an Frauen 
auf, die am geijtigen Leben aftiv teilgenommen haben. Schon dem Fremden, der 
fliichtigen Fußes die Stadt durcheilt, fallt es auf, wie viele Frauen mitgeſchaffen baben, 
um der Stadt ihre Kunſtſchätze gu ſchenken. Wllerorten begegnet man Werken von 
Frauenhand, die einen ebenbiirtigen Platz neben denen der Manner einnebmen. Bon 
den wenigen Bildhauerinnen, die Italien befigt, gehören allein zwei Bologna an: 
Properzia de Noffi') (7+ 1530), eine vielfeitige Kiinftlerin der Nenaiffance, deren Werke 
im Dome S. Petronio bewahrt werden, und Clarice Vafini (1730 in Bologna geb.). 
Die Zabl der Malerinnen ift febr groß. Die bedeutendjte ift Clifabetta Sirani,*) eine 
der beſten Malerinnen der bolognejer Schule überhaupt. BWiele ihrer Wltarbilder 
ſchmücken die Rirden Bolognas, und die Wfademie beſitzt eine große Anzahl ihrer 
Gemälde, von denen mance fic) auc) nod) in Privatgalerien und den Gemäldeſamm— 
lungen von Modena, Rom, Petersburg und Wien vorfinden. Im Wlter von 27 Jahren 
vergiftet, hinterließ diefe Riinftlerin nicht weniger als 177 Bilder. Wie febr fie von 
ihrer Vaterjtadt geebrt wurde, beweijt der Umftand, dah fie in derfelben Rapelle wie 
der zwanzig Sabre frither verftorbene Meijter Guido Reni beigefebt wurde. Die das 
gemeinfame Monument ſchmückende Inſchrift lautet: ,,Diefes Grabmal umſchließt die 
fterblichen Tberrefte der Elijabetta Sirani und des Guido Reni. Go fonnte der Tod 
zwei Maler vereinigen, welche fein Wunder im Leben vereinte.” Auch von den Schüle— 
rinnen der Sirani ijt manches Werk in den Rirchen ju finden. In den Kreis der 
bolognefer Malerinnen gebirt ferner Lavinia Fontana (1552—1602), die aud) in Venedig 
und Floren; vertreten iſt. Die literariſche Produftion der Frauen von Bologna war 
eine febr nambafte. Nod) aus mittelalterlichen Seiten, da die Klöſter noch der Brenn- 
puntt geiſtiger Bilbung waren, haben fics theologiſche und poetiſche Schriften der 
Nonnen von Bologna in der Literatur erhalten. Die Heilige Catharina von Bologna 
(7 1563) binterlieB gleich ibrer beriihmten Namensſchweſter, der heiligen Catharina 
von Siena zahlreiche Schriften.) — Sn der Renaiffance bildete Vernvica Gambara, *) 
neben Vittoria Colonna die bedeutendfte Dichterin diefer Zeit (Martin Opig hat mehrere 
ihrer Dichtungen überſetzt) den Mittelpunkt der geiſtigen Geſellſchaft während ibres 
Aufenthaltes in Bologna, und auch die folgenden Jabrhunderte nennen eine Reibe 
Atauennamen auf allen Gebicten des literariſchen Schaffens in Bologna, *) 


) Vasari ,,Vite de’ piu eccel. pittori, scultori ed architetti.“ 

4) Malvafia, cin Zeitgenoſſe der Girani, entwirft in feinem Werle Felsina Pittrice* cine begeifterte 
Schilderung von dem Talente der Sirani und Jatob Burdhardt nennt fie im ,, Cicerone” unter den bedeutenften 
Radicrern des 17. Jabrhunderts. (Viele ihrer Stiche finden fic in Bartſch ,Peintre Graveur*, Wien 1795.) 

3) Sa. Cat. di Bol: Le armi nec. alla battaglia spirituale, gedr. 1630, 1652 und 1654. — 
Rime Venezia 1726, Bassano 1821. — Modo di perveuire alla perfezione Cristiana 1554. 

‘) Rime e lettere di Veronica Gambara Brescia 1759, Florenz 1879, Mailand 1892. — 
Lettere a Pietro Aretino. 

‘) Ginige Bol. Dichterinnen: Girol. Castellani, Rime, Son. e Canzone. — Crist Paleatti, Sonetti, 
Rime 1556. — Maria Is. Dosi-Grati: Commedie 1688-1709, — Elisa Hereolani-Ratta: Lettere 
Venezia 1791. — Pepoli-Sompieri, Sentenze e Detti memorabili di antichi e di moderni Autori 
Milano 1828. La donna s. e am. Capolago 1838. — Cath. Ferrucci: Canzone 1834 Vita di Elis. 
Fry, Vita e rimembranze di XXX illustri Bolognesi, Vita di Laura Bassi, L’esilio, Canto. 
Siimtlid in Ferri: Bibl. feminile gu finden. 


Bon Frauen und iiber Frauen, 495 


Gs wire falſch, aus dem Hervortreten einzelner hervorragender Frauen in 
Stalien auf die Stellung der Frauen im allgemeinen günſtige Schlüſſe yu jieben. Die 
Htauenbewegung fteht an Bedeutung und Ausdebnung hinter der anderer Lander 
zurück, ſoweit fie fich nicht auf proletariſche Rreife befchrantt. Nur die Bildungsfrage 
bejdaftiqt heute, wie überall, jo auch in Stalien alle Frauenkreiſe. Der Zudrang ju 
den Hochſchulen ijt gwar, mit Deutſchland oder Schweden veralicen, ein ſehr geringer. 
Das mag aber gerade darin feine Begriindung finden, daß die italienifden Frauen 
feit alters Vorrechte bejigen, die fic) die Frauen anderer Lander in heißem Ringen 
kaum noch balb erjtritten haben. Indeſſen fteigt die Siffer der weiblichen Studenten 
in den allerlesten Jahren betridtlich. Rom hat bereits mebhrere gemiſchte Gymnafien 
und ein Mädchengymnaſium, und das Studium der Naturwiffenfehaften und der 
Philologie ijt den Frauen nunmehr allgemein zugänglich.) 

Der alte Kaftengeift, der bloß cinjelnen Frauenfreifen, wie den Adels- und 
Gelebrtentichtern, die humaniſtiſche Bildung ermiglichte, ift gebrocen, und frei ftrdmen 
die Frauen aus allen Schichten der Bevölkerung den höheren Berufssweigen zu. Wie 
ſich aber der moderne Wettfampf zwiſchen Mann und Weib in dem Lande Lauras 
und Beatrices gejtalten wird, fann erjt die Zufunft lebren. 


) Handbuch ber Frauenbewegung. Berlin 1902. 


CUR? 


Von Prauen und aber Prauen. 


&s ift ſchon deShalb nicht wahr, daß die Frau fied gang auf ihre Mütterlichleit als ihren 
Dafeindswed zurückzuziehen bat, weil ibr Leben fic weit über bie Grenge hinaus erftredt, in der dad 
Rind ihrer bedarf. 

Was der Menfeh gum Jnbalt feined Lebens madt, muß fo fein, dab feine Wirtung und 
Bedeutung alle Lebensalter umfaft, nicht das cine überreich bedentt, wihrend bas andere [eer ausgeht. 
Mit einiger Nbertreibung fonnte man fagen, dah die Mutterfdaft einen Saijoncharafter tragt. Unfer 
Leben wabrt fieben oder act Jahrzehnte. Die Zeit, in der bas Kind auf die Mutter angewieſen ift, 
betragt wenig mebr als ein Jahrzehnt. 

Sid cinen neuen Daſeinszweck ju ſchaffen, mit der Berufsbilbung erit zu beginnen, wenn die 
Rinder erwachfen find, dilrfte in den meiften Fallen viel gu ſpät fein. 

Und fo geſchieht 03, dag Frauen in vorgeriidten Qabren, aber mit nod) ungebrodjener Kraft — 
von Wannern dberfelben Altersſtuſt fagt man, daf fie im beften Mannesalter ftehen — als Schwieger: 
mütter und Grofutiitter bon ber Kinder oder Ainbestinder Gnade (eben, die Schiwiegermutter nidt felten 
als Friedensbreder, die Grofimutter als eine platoniſche Exiſtenz ohne Gebrauchswert. 


Bedwig Pohm. 
{, Die Mütter“. S. Fiſcher Berlag, Berlin.) 


Dies, ics. Wile iia Mkt Re TRENT ] Nl 4 





496 


Vie Besoldungsverhaltnisse der Lehrerinnen an den 


koniglich preussischen Seminaren. 


Radbbrud mit Gucllenangabe erlaubt. 





Nivor 3 ijt eine ſchöne Sache um den Idealismus. Und wenn gerade diefe Eigen: 
’ ſchaft bet den deutſchen Lehrerinnen wieder und wieder anerfennend bervor- 
@? geboben wird, jo’ liegt darin etwas, defjen fie ſich freuen können. Andererſeits 
aber follten fie felbft und alle, die ihnen den Idealismus erhalten möchten, bedenfen, 
dak er in unferer Körperwelt dauernd nur auf der Grundlage irdiſcher Exiſtenzmittel 
bejteben fann, die wenigftens einigermaßen im Einklang mit dem Kräfteaufwand fteben, 
Der ecingefest werden muß. 

Daf dieſes Gleidhgewicht bei den Lebrerinnen feblt, dak bier die Wagſchale der 
materiellen Gegenleiftungen in Zukunft nod) einer gang bedeutenden Auffüllung bedarf, 
weiß jedermann. Die Lebrerinnenfchaft felbft hatte gebofft, daß dic rückhaltloſe Aner: 
fennung ibrer Leiftungen und da8 damit verbundene Aufriiden in höhere und bedeut— 
jamere Stellungen in Balde auch das bei Männern dafiir übliche Aquivalent nad ſich 
ziehen wiirde, cine Hoffnung, die ſich bis heute nur in febr beſchränktem Mage erfiillt 
hat. Wenn das bei den königlichen Anjtalten nocd mehr als bei den ſtädtiſchen der 
Fall ijt, fo wiffen wir febr wohl, dah die Urface nicht ctwa in einem Mangel an 
Wohlwollen auf Seiten de3 Kultusminifteriums, fondern beim Finanzminiſter liegt, 
dem die Natur feines Amtes zu einem befonderen Wohlwollen fiir die Lebrerinnen 
weiter frine Veranlaſſung gibt. Sache der jablreiden Abgeordneten, die den Bildungs— 
fragen Intereſſe entgegenbringen, wäre es mun, die Notwendigkeit größerer Geldauj- 
wendungen fiir die Lebrerinnenjiellen in das belle Licht zu feben, das ſchließlich jum 
Sehen zwingt. Angefichts einer Petition yu diefer Sache, deren Beratung im Abge- 
ordnetenbaus noch ausſteht, michten wir den Scheinwerfer nur auf einen Buntt 
tidsten, auf die Gebaltsverbaltnifje der königlich preußiſchen Seminarlebrerinnen. Es 
bedarf nur einer ganz objeftiven Darjtellung, die Tatſachen werden fiir fich felbit 
ſprechen. 

Bekanntlich beſtehen in Preußen im ganzen 11 ftaatliche Lehrerinnenſeminare 
(gegen 116 für Lehrer!), von denen fünf nur Volksſchullehrerinnen, ſechs in erſter 
Linie Lehrerinnen für mittlere und höhere Mädchenſchulen ausbilden. Zwei weitere 
ſtaatliche Seminare werden gerade jetzt eröffnet. Einzelne dieſer Anſtalten ſind mit 
Internaten verbunden, an faſt alle gliedern ſich jetzt nach und nach Volks- oder Mittel— 
ſchulen als Nbungsfdulen der Seminariſten an; die Seminare fiir Lehrerinnen höherer 
Mädchenſchulen ſind außerdem an eine höhere Mädchenſchule angeſchloſſen. 

Seit 1894 werden nun zum Unterricht an dieſen Anſtalten in ſteigendem Maße 
Lehrerinnen verwendet. Das iſt ſicherlich an ſich ein ehrendes Zeugnis für die Leiſtungen 
der Lehrerinnen, um ſo mehr, wenn man in Rechnung zieht, daß die Lehrerinnenbildung 
in Preußen augenblicklich ganz im Stadium des Experiments ijt. Miniſterielle Lehr— 


— 


Die Befolbungsverhaltnifje der Lehrerinnen an den königlich preußiſchen Seminaren. 497 


pline fiir Lebrerinnenfeminare find befanntlich bid jest in Preufen noch nicht vor- 
handen. Sie follen binnen kurzem gefchaffen werden. Die Königlichen Anjtalten vor allem 
baben jest gangbare Wege praktiſch zu erproben. Sede Lebrerin arbeitet dabei natürlich 
im gan; anderem Maße als fonft unter eigener Verantwortung; an ibre Leiftungen 
werden in jeder Hinſicht beſondere Anſprüche geftellt. Es ift begreiflich, daß der Staat 
fic) fiir diefe Mufgaben das tüchtigſte Lehrerinnenmaterial ausſucht. Neben den im prak— 
tiſchen Dienft erprobten Lebhrerinnen werden mit Vorliebe ſolche herangezogen, die nach 
mebrjabrigem afademifdem Studium die feit 1894 beftehende wiſſenſchaftliche Prüfung, 
das Oberlehrerinnencramen, beftanden haben. Wie gefagt, man fann die Anftellung 
folcher afademifch gebildeten Lebrerinnen im Qntereffe unferer ftaatlichen Ceminare, an 
denen, wie fiberall im Mädchenſchulweſen, hinſichtlich des Lehrfsrpers manches im 
Argen lag, nur freudig begrüßen. 

Uber nun fommt die Kehrſeite! Die Leiftungen diefer Lebrerinnen hat der 
Staat gern in Unfprud) genommen, aber dem mit höher qualifizierten Lehrkräften 
verbundenen Mehraufwand an Koſten bat er fich gu entziehen gewußt. Obwohl an 
jedem Lehrerinnenfeminar ein Oberlebrer angeftellt ift und cine zweite Oberlebrerjtelle 
angeftrebt wird, bat man in feinem eingigen ſtaatlichen Lebrerinnenfeminar 
eine Oberlebhrerinnenjtelle gefdhaffen. Wohl ijt in den mit den Seminaren 
verbundenen ſtaatlichen höheren Mädchenſchulen je eine Oberlebrerinnenftelle geſchaffen 
worden — die Regierung fonnte fic) bier natürlich nicht in Widerſpruch mit ibren 
eigenen VBeftimmungen von 1894 fegen, die die Anftellung einer Oberlehrerin an jeder 
höheren Mädchenſchule verlangen und die Auszeichnung der Stelle im Befoldungsetat 
empfeblen — aber diefe Stellen wurden nicht mit afademifch gebildeten, fondern mit 
bewährten, ſchon lange im praktiſchen Schuldienft ftebenden Lebrerinnen beſetzt, die in 
der Skala der Ceminarlebrerin Langit die Gehaltshöhe erreicht batten, die der 
anfangenden Oberlehrerin zuſteht. Wlfo dieſe Einrichtung von Oberlehrerinnenſtellen 
foftete den Staat feinen Pfennig. Cie find auferdem in erfter Linie geſchaffen, um 
die in den Maibeſtimmungen geforderte ,Gebilfin” des Direktors, ju der ſich cine 
praftijd bewabrte Lehrerin meift auch beffer eignen wird, als eine neugebadene Ober— 
febrerin, anjuftellen, und mit wiſſenſchaftlichem Unterricht auf der Oberftufe nicht 
notwendig verbunden. Und, wie geſagt, diefe nicht afademifch gebildeten Oberlebrerinnen find 
nur an den ſtaatlichen höheren Mädchenſchulen, nicht an den Seminaren angeftellt. 

Die Lehrerinnen an den Königlichen Seminaren aber werden, gleidgiltig, ob 
akademiſch oder ſeminariſtiſch gebildet, trogdem fie an Stundenzahl und Arbeitsleiftung 
ihren männlichen Rollegen durchaus gleich fiehen, nach dem Normaletat fiir ,,ordent- 
liche Lebrerinnen” folgendermafen befoldet: Privatdienjte werden unter feiner 
Bedingung angerechnet; fie beginnen mit 1200 Mark! Gebhalt, und erhalten, je nach 
der Servisflafje des Orted, in dem fie arbeiten, 216, 360 oder, in Berlin, 540 Mark 
Wobnungsjulage. Qn Berlin haben fie, den Teurungsverhältniſſen entſprechend, noc 
300 Mark mebr Wnfang3gebalt. Die Oberlehrerinnen der ftaatliden höheren Mädchen— 
ſchulen beginnen mit 1800, in Berlin mit 2100 Mark und haben dementfprechend 
540—900 Mark Wobnungsjulage. 

Nun twird man fragen, warum laſſen fic) akademiſch gebildete Lebrerinnen darauf 
cin, im ftaatlichen Dienft unter Bedingungen ju arbeiten, die feine ſtädtiſche und keine 
private Anſtalt ibnen bieten fiunte? Sum Teil mag daran der Bdealismus Schuld 


jein, der in den deutſchen Lebrevinnen gerade in der Zeit ihres Kampfes um die höhere 
82 


498 Die Befolbungsverhaltniffe der Lebrerinnen an ben königlich preußiſchen Seminaren. 


Frauenbildung ein ftarfer Faktor ijt. Die Freude über den weiten verantwortungs- 
reichen Wirfungstreis, der ſich ihnen eriffnet, und der Cifer, einen weiteren bedeutſamen 
Schritt ber Frauen ing weibliche Unterrichtsweſen hinein gu verwirklichen, madt gegen die 
pefunitire Seite der Frage gleichgiltiger, als gut und ridtiq ijt. Gleidgiltiger, als 
qut ijt, —- denn der Staat Lift fic, wie nur irgend ein UArbeitgeber, durch Angebot 
und Nachfrage beftimmen. Für ihn wird diefer Idealismus cin Faktor, den er kühl 
in das Rechenerempel: gute Wrbeit fiir wenig Geld, einftellt. Andererſeits aber bat 
natürlich die Erwartung mitgefproden, daß man feitend der Regierung fiber fury oder 
lang Oberlehrerinnenftellen an den foniglichen Lebhrerinnenjeminaren ſchaffen würde und in 
diejer Vorausſetzung ſich ſchon jebt wiſſenſchaftlich gebildete Lehrerinnen fichert. Wenn 
der Staat unter ausdrücklicher Anerkennung ihrer in der Praxis oder in der wiffen- 
ſchaftlichen Prüfung gezeigten Leijtungen Lehrerinnen in feinen Dienjt zieht, gleichſam 
al eine Auszeichnung, fo ift feitend der fo Ausgejeichneten wohl das Zutrauen be: 
rechtigt, da der befonders verantivortungsvollen Arbeit nicht dauernd ein ganz be: 
fonders fubalternes Gebalt gegeniiberiteben würde. 

Zunächſt müßten unbedingt an den ſtaatlichen Seminaren Oberlebrerinnenjtellen 
geſchaffen werden. Es ſcheint uns cin einer ftaatlichen Unjtalt wenig witrdiger Zuitand 
gu fein, daß fie die höher qualifizierte Leiftung nicht auch entfprechend höher bezahlt, 
ganz abgeleben davon, daß die Negierung durch die Gleichſetzung von afademifd) und 
feminarijtifa gebildeten Lebrerinnen im Gebalt den Wert des von ihr eingefiibrten 
Oberlehbrerinneneramens in ein merkwürdiges Licht riidt. — Die Regierung felbjt bat 
in einem Erlaß vom 20. April 1885 75 bis 80 Prozent des Lehrergebalts als das der 
Lebrerin Angemeſſene erflirt. Wir jtehen alfo auf dem Boden ibrer eigenen Anſchauung, 
wenn wir fiir die Ceminarlebrerinnen diefe Forderung ftellen, d. 6. fie die Seminar: 
oberlebrerin 75 bis 80 Projent wom Gebhalt bed Oberlebrers, fiir die ordentliche 
Lebrerin 75 bis 80 Prozent vom Gebhalt de8 ordentlichen Lebrers. — Denn aud) das 
Gehalt der nicht akademiſch gebildeten Ceminarlebrerin ijt fowobl in Anbetradt der 
von ihr geforderten Wrbeitsleiitung, als aud im Verhältnis yum Seminarlebrer durch— 
aus unzureichend. Niemand wird es als cin gerechtes Berhaltnis bezeichnen können, 
wenn, wie es jebt im Normaletat der Fall ijt, das Maximalgehalt der ordentliden 
Seminarlebrerin dem Minimalgebalt des Ceminarlebrers etwa entfpridt — bei 
gleicber Arbeitsleiſtung. 

Die Frage hat nod eine weitere Bedeutung. Die Lehrerinnen der ftaatlicen 
Schulen fteben auf vorgeſchobenem Poſten. Was fie fich an duperen UArbeitshedingungen 
erfampfen, fann ſehr leicht cinmal entſcheidend werden fiir die große Maſſe ihrer 
Kolleginnen in ſtädtiſchen Dienſten. Schon mebhrjad hat man Vorſchlägen hinſichtlich 
einer geſetzlichen Gebaltsrequlicrung fiir die höhere Mädchenſchule den ,,Normaletat” 
zu Grunde gelegt. Kommt es einmal ju folcher gefeslichen Regelung, fo wird ed fiir 
die Einſchätzung der Lebrerinnen von vornberein von großem Gewicht fein, wie der 
Staat felbit bisher ſeine Lebrerinnen bejablt bat. Und febon jest bat natiirlich die 
ſtaatliche Wnftalt immer etwas das Gewicht eines Vorbildes. Es ijt alſo neben allem 
andern eine Pflicht der Kollegialität, eine ſoziale, cine Standespflidt, daß die ftaat- 
lichen Seminarlebrerinnen alles tun, was in ibren Kräften ftebt, um fics würdigere Ge- 


baltsverbaltniffe zu verſchaffen. 
— — Helene Lange. 


AIR 





Frauen an willenichaftlidien Bibliotheken 
in der Schweiz. 


Qn ber Schiveig find Frauen an wiffen: 
ſchaftlichen Sffentliden Bibliothelen ſchon  feit 
mebreren Jahren angeftellt. Es fei nur daran 
erinnert, daß Dr Ricarda Oud) vor ihrer Ber- 
heiratung an ber Stadtbibliotbe! in Zürich als 
wiſſenſchaftliche Gebilfin tatiq war. Qn Bern, 
wo es faft fein Privat: und nur ziemlich wenig 
Bebhdrdenbureaus ohne cine fog. Bureautochter (fille) 
gibt, beforgt auf der Stadtbibliothet ein Fraulein 
als ,,Cuftos” den Musleibdienft und die cinfaderen 
Bureauarbeiten, cine Frau als „Abwartin“ das 
Holen und Cinftellen der Bilder und die Gaus: 
dienergeſchäfte. Wn der Hochſchul-Bibliothet 
Vern ift ſeit 1897 cine kdaufmänniſch vorgebildete 
Tochter“ beſchäftigt, die ſich fo cingearbeitet bat, 
dah fie in dem Bierteljahe gwijden dem Tode des 
letzten Bibliothefars (Degember 1900) und dem 
Dienftantritt ded neuen alles Wefentliche gur Auf: 
rechterbaltung ded faufenden Betriebs gu bejorgen 
imjtande war. Debt verfieht fie als „J. Gebilfin” 
den Ausleihdienft ziemlich felbftandig und bat fied 
raf in die gu Gunjten ber Beniiger cingeridteten 
Anderungen ded Ausleibbetriehs und die ftraffere 
Führung ber Geſchäfte durch den neuen Vorftand | 
eingewöhnt. Sie muß auch, wie friiber fcbon, die 
Bücher holen und einftellen, da die bisber feblende 
RNumerierung nod nicht vollendet und deshalb fein 
Diener (Abwart) dazu verivendet werden fann. 
Gleichzeitig ift fie auc geſchult, den ebenfalls nicht 
alademiſch gebildeten I]. Gebilfen nad Bedarf in | 
ber Aufſicht des Leſezimmers gu vertreten. Wenn 
fic) aud) die Grenjen nichtakademiſchen Wiffens | 
bemerfbar madden, fo ift dod innerbalb des vor: 
banbenen und durch die mebrjabrige Ausleihtätigleit | 
erweiterten Bildungsgebietes die Arbeit im all | 








gemeinen zuverläſſig und bibliothelsſicher. Der 
Verkehr mit den entleihenden Studenten iſt gleich 
weit entfernt von dem Amtsdünkel eingewöhnter 
fubalterner Kräfte wie von etwa zu vermutenden 
Auswüchſen galanter Art. An der Hochſchul— 
Bibliothel ijt auch cine ältere Dame aus beſten 
Kreiſen, die ſchon früher an einer ſüddeutſchen 
Bücherhalle mitgebolfen hatte, ſeit 1902 während 
des Sommers als freiwillige Hilfsarbeiterin mit 
großer Aufopferung und unermüdlichem Eifer kätig 
und zeigt ſich auf den verſchiedenſten Gebieten der 
Bibliothelsarbeit zuverläſſig verwendbar. Endlich 
find ſeit März 1903 an dieſer Bibliothel die bis 
dahin vom II. Gebilfen mitheforgten Dienergeſchäfte 
ebenfall8 ciner Frau als „Abwartin“ tibertragen 
worden. — An der Schweizeriſchen Landes: 
bibliothel in Bern find ſeit 1898 swei nicht alademiſch 
gebildete Gebilfinnen, darunter cine als Sefretarin 


des Direltors jur vollen Zufriedenheit beſchäftigt, 


ebenfo bat die Sentralfommiffion fiir die Biblio— 
graphie ber Schweizeriſchen Landesfunde 
cine Bureauangeftellte. — Ob nod an anderen 
größeren Bibliothefen der Schweiz Frauen ans 
geftellt find, vermag ich gur Seit nicht zu fagen. 
Die gemachten Erfabrungen jeigen aber, daß weib- 
liche Krafte auch bet feblender alademiſcher Bildung 
auf groferen Bibliothefen in der Regel juverlaffige 
Dienfte leiſten. Insbeſondere fcheinen fie berufen, 
den wiſſenſchaftlichen Beamten folde Arbeit ab- 


| punebmen, die der Hochſchulbildung nicht bedarf. 


Dadurdh werden mehr Kräfte fiir die Hoberen 
VibliothelSaufgaben frei, mit denen nod fo manche 
Bibliothel aus Mangel an Perfonal und eit im 
Rückſtand ift. Die Anftellung ftudierter Frauen 
an Qibliothefen ift aber in dem Lande der 
Studentinnen, Affiftentinnen und Privatdoyentinnen 
nur nod cine Frage der eit und — ded Geldes. 
(Mus dem Rentralblatt fiir Bibliothelsiwefen 1904, 
S. 134.) Dr Langin: Bern, 


Sohne 


82 * 






Raddrud mit Quellenangabe erlaubt. 

* Die Mechtsfahigheit der Ehefrau erſcheint 
der Kaiſerl. Ober: Poftdireftion in cigentiimlidem 
Lidt. Wir erhalten von einem belannten, fiir 
die Frauenſache ſehr intereffierten Berliner Rechts— 
anwalt cine Zuſchrift, die fiir unfere Rechtsſchutz— 
vereine von grofem Intereſſe fein dürfte: 

poor einiger Zeit wollte mir cine Ehefrau, 
deren Mann im Muslande weilt, eine Poftvollmadt 
erteilen. 

Als id) diefelbe dem juftandigen Poftamt cin: 
reichte, teilte mir diefed mit, dah die Ober: Poft: 
direftion verlange, daf die fraglice, mir qu erteilende 
Vollmadt auch von dem Chemann mitunterfdrieben 
ware, 

Ich wandte mid) darauf, um den Tatbeftand 
feftsuftellen, an die Raiferlide Ober: Poftdireftion 
direft um Auskunft umter Hiniveis darauf, daß die 
Sache von pringipieller Bedeutung fei und dak ic 
alS Rechtsfundiger nicht wife, auf Grund welder 
geſetzlichen Beftimmung ein derartiges Verlangen 
geftellt werde. 

Sch erbielt von der Kaiſerl. Ober Poftdireftion 
unter dem 12, März 1904 die Antwort: 


„Daß bei den von Ebefrauen ausgeſtellten 
Vollmadten von den Poftanftalten die Mit: 
unterfarift der Chemanner verlangt wird, 
berubt auf einer dienftlicben Vorſchrift, die 
vom Reichs: Poftamt erlajjen worden ift.” 

Sonftige Griinde hat mir die Kaiferl. Ober: Poft: 
direftion nicht angegeben. 

Ich halte dieſe Vorſchrift fiir geſetzwidrig, indem 
ich darauf hinweiſe, daß die Poſt verpflichtet iſt, 
ſämtliche Sendungen, welche ihr unter der Adreſſe 
einer Ehefrau übergeben werden, der Adreſſatin 
auszuliefern, ohne etwa bei der Auslieferung die 
Quittung des Ehemanns verlangen zu dürfen, und 
tatſächlich handelt ja die Poſt auch ſo. 

Wenn ein Adreſſat berechtigt iſt, die Auslieferung 


| (( — cS. 





einer Sendung an fic) yu verlangen, fo muf er 
bod aud) folgerichtig berechtigt fein, einen Dritten 
gu beftellen, der fiir thn die Sendungen entgegen: 
nehmen darf. 


— ~~ 


⸗ 









hes 


[A 


Ich meine, dak dieſe einfache Überlegung allcin 
ſchon ausreicht, um die Unhaltbarkeit des Stand- 
punktes des Reichs-Poſtamts klarzulegen. 

Dazu klommt aber, dah an ſich zweifellos cine 
Ehefrau berechtigt iſt, Vollmachten zu erteilen, ohne 
Genehmigung ihres Mannes. Dieſe Vollmacht 
würde nur dann nicht für den Bevollmächtigten 
ausreichen, wenn es fic) um Rechtsgeſchäfte bandelt, 
die das cingebradjte Vermögen ber Frau angeben, 
wo alfo das gefeplich gu prdajumierende Verwaltungs⸗ 
und Richbraudsrecht des Mannes in Frage ftebt. 
Die Verfiigung des Reichs-Poftantis klingt fo, als 
ob fie aus ciner Seit ftamme, bei der man annabm, 
daß die Frau feine rechtsfahige Perfon fei, ſondern 
unter der Vormundſchaft des Chemannes ftebe. 

Bu welden prattifden Ungutriglidfeiten der im 
Gefeh feine Begriindung findende Standpuntt ded 
Reichs: Poftamts führt, geigt der bet mir vorliegende 
Fall. 

Die Genehmigung des Mannes ware nur in 
Woden zu ſchaffen gewefen, die Ehefrau felbft 
wollte verreifen und braudte dringend ibrer Geſchäfte 
wegen bier cinen Poftbevollmadtigten. Was foll 
alfo in fold cinem Fall geſchehen?“ Dr B. 


* Die Frage des Examens fiir das hihere 
Lehrfach ift nunmebr fiir die Frauen, wie es ſcheint, 
pringipiell und endgiltig geregelt. Es find gleich— 
zeitig mit der Bewerberin in Preufen, von deren 
Bulajiung wir im vorigen Heft bericteten, rite 
fiir das höhere Lehrfach vorgebildete Studentinnen in 
Elſaß Lothringen und Baden zum Eramen pro 
facultate docendi jugelaffen, und die Univerfitat 
Sena iff von Seiten der großherzoglich und ber: 
zoglich ſächſiſchen StaatSregicrungen in Kenntnis 
geſetzt worden, dak grundfipliche Bedenken gegen 
die Zulaſſung von Frauen zum Examen pro facul- 
tate docendi, vorausgefest, daß fie die Vor— 
bedingungen erfiillen, nicht vorliegen. 

* Das miediziniſche Staatseramen beftand 
Dr Jenny Springer in Berlin mit der Ge: 
famtnote gut. Dr Springer bat fic, nachdem fie 
auf Grund der Schweizer Approbation bereits 


Bur Frauenbewegung, 


mebrere Sabre prattijiert hatte, der nochmaligen 
Vorbereitung auf die deutſche Staatsprüfung unter: 
zogen. 

* Seine erſten vier Abiturientinnen entließ dad 
1899 begriindete Stuttgarter Mädchengymnaſium. 
Die Berliner Gpymnafiallurfe baben 14 Abitu: 
rientinnen entlajfen, die ſämtlich das Examen vor 
ber löniglichen Priifungstommiffion eines Berliner 
Gymnaſiums mit gutem Erfolg beftanden. 


* Der Kultusminifter genehmigte die von ben 
Breslauer Stadtbehörden beſchloſſene Crrichtung 
eines ſechsllaſſigen Realgymuaſiums fiir Mädchen 
im Anſchluß an bie ſtädtiſche Viltoria-Töchterſchule 
mit dem Endziele der Reifeprüfung. Die neue 
Anſtalt wird unter allmählicher Auflöſung der bereits 
beſtehenden vierklaſſigen Realgymnaſialkurſe für 
Mädchen ſofort eröffnet. 


* Die Stelle eines Schularztes in Breslau 
ift zum erftenmal mit ciner Dame, Fraulein 
Dr Oppler, befest worden. 


* Zum Paragraph 3616, Cin ſchwerer 
polizeilicher Mißgriff ift im Wartefaal erfter 
und zweiter Kaffe in Bielefeld vorgefommen. Dort 
wurde auf bie unbegriindeten Angaben einer Dirne 
bin cine junge Yebrerin aus Minden, die, vom 
Beſuch ibrer Verwandten beimfehrend, den Anſchluß 
zur Weiterreife abwartete, verhaftet. Da bie Dame 
die ihr von dem betreffenden Kriminalbeamten einen 
Augenblick vorgebaltene CErfennungsmarfe nicht 
bemerfte, auc dic Situation nicht verftand, ba fie 
ſich feiner Schuld bewuft war, weigerte fie fic, 
bem Fremden gu folgen. Der Beamte zog nun, 
wie der Hann. K. mitteilt, die junge Dame gewalt: 
fam fort, ſtieß und jerrte fte weiter, ſodaß fie mit 
aufgeloftem Haar im Poltyeibureau anfangte. Cine 
große Menfchenmenge hatte vom Bahnhof aus den 
Bug begleitet, Im Poligeibureau mußte fie ein 
peinliches Verhör über ſich ergeben laſſen. Dah 
der dienſthabende Kriminalkommiſſar, ſobald er den 
Mißgriff erfannte, ihr in jeder Weiſe ſeinen Schutz 
gewahrte, war natürlich nur ſelbſtverſtändlich. Der 
betreffende Schutzmann iſt ſeitens der Bielefelder 
Polizeibehörde ſofort zur Diſpoſition geſtellt worden. 
Vom Regierungspräſidenten ſoll ein ausführlicher 
Bericht über den Fall eingefordert fein. 

Es iſt anzuerkennen, daß man ſeitens der 
Behörde derartige Vorkommniſſe jetzt ſchwerer nimmt 
als früher. Daf die ſtrenge Beſtrafung des Schutz 
manns aber ein ſicheres Mittel iſt, ſolchen Fällen 
fiir die Zukunft vorzubeugen, wird niemand glauben, 
der die lange Reihe all der „Mißgriffe“, von denen 
die Offentlichleit erfahren bat, überſieht. Die 
Schuld an dieſen Vorkommniſſen trägt eben nur 
zum geringen Teil der Beamte, zum größeren 


501 


fallen fie einem Syſtem zur Laſt, bas untergeordnete 
Polizeiorgane mit derartigen Aufgaben betraut. 
Der Fall beweiſt wieder in eklatanter Weiſe, wie 
notiwendig dad Vorgehen der Frauen gegen § 361 * 
bed Strafgeſetzbuches ift. 

* Gine Qufpeftorin der Waifenpflege, der 
die Aufgabe gufallen wird, bie von der Stadt in 
den Provingen in Privatpflege gegebenen Waifen: 
finder au beſuchen, ift in Berlin angeftellt worden. 
Bisher fag diefe Arbeit in den Handen von 
Gnfpettoren, Die Wahl ijt auf Frl. Charlotte 
von Trebra gefallen, die fic) bereits in der 
ſtädtiſchen Waijenpflege, namentlich in ber Beauf: 
ſichtigung bed Haltekinderweſens, bewährt bat. 


* Gin weiblicher Gefangenentransportenr ijt 
bon der fol. Polizeidireltion in Wiesbaden angeftellt 
worden. Rad deren Anordnung werden fortan 
die weibliden Gefangenen nicht mebr durd cinen 
männlichen TranSporteur, fondern durch eine Fran 
von einem zum anderen Orte gebracht werden, 
Diefer zweifellos nicht leichte Poften iſt der Ehe— 
frau cines Schutzmanns iibertragen worden. Ihr 
liegt namentlich auc) der Transport der— 
jenigen weiblichen Perfonen ob, fiir bie pom 
Gericht die Fiirforgeersiehung angeordnet ijt, und 
bie daraufhin zur Zwangserziehung entiveder in 
Anſtalten ober Familien untergebradt werden. 


* Fn der Gartenbanſchule fiir gebildete Franen 
in Marienfelbe fand am 24. März d. J. die Abgangs— 
pritfung von fiinf audgebildeten Gärtnerinnen ftatt. 
Zwei Damen beftanden das Examen mit dem Pra: 
dilat „ſehr gut” und erbielten cine Prämie, zwei 
Damen nit „gut“ und cine mit „genügend.“ 


* Die CErridjtung eines Ledigenheims fiir 
weiblide Angeftellte in Ulm beſchloſſen dic biirger- 
licen Kollegien daſelbſt. Mit einem Aufwand von 
105 000 M. follen Wobhnraume fiir 60 Madden 
fowie fiir die Berwaltung und Bedienung hergeftellt 
werden. Dad Gebdude wird fo angelegt werden, 
bak es im Falle einer geringen Inanſpruchnahme 
als Doppelwohnhaus vermietet werden kann. 

(Soz. Prax.) 

* Ob Frauen cin Jutereſſe an den Biirger: 
vertreterfitungen batten, fam kürzlich in Roftod 
gelegentlid) ciner Beratung über die Offentlichleit 
diefer Sigungen jur Sprache. Berjdiedene fort: 
ſchrittliche Stadtverordnete erflarten, daß man auc 
Frauen das Recht geben miiffe, als Zuhörer bei 
dieſen Sibungen anweſend gu fein, da fie baufig 
mebr Berftandnid und Intereſſe fiir fommunale 
Ungelegenbeiten Hatten wie mander Mann. Jn 
der Ubitimmung wurde jedoch die Ratsvorlage, die 
dieſes Hecht auf Biirger beſchränkte, faft einftimmig 
angenommen. 


502 


* Armenpfiegerinuen in Witten. In der 
Armendeputations: Situng vom 22. März 1904 
wurden durch ben Borfigenden zwölf Frauen in the 
Amt als Helferinnen der SHffentliden Armenpflege 
eingeführt. Die Anregung zur Aufnahme weiblicher 
Hilfsträfte in die ſtädtiſche Armenpflege ging vom 
Verein Frauenwohl aus, dem fieben von den zwölf 
gewiblten Frauen angebiren. Die Berufung iſt 
nad längerem Widerftand auc) jest nur verſuchs— 
weife erfolgt und die Herangichung der Frauen in 
jedem eingelnen Fall dent BegirfSvorfteher refp. 
per Urmendeputation iiberlajjen. Dod ift ben 
gewählten Helferinnen die Teilnahme an den Be— 
ratungen der Bezirksverſammlungen geftattet und 
ihnen damit Gelegenbeit gegeben, einen Cinblic 
in die Praxis der ſtädtiſchen Armenpflege gu ge 
winnen. 


* Bur Einſchränklung ded Mädchenhandels 
iit vom Bundesrat in der Sifung vom 4. Februar 
der Beſchluß gefakt, der Ziffer 10 des § 70 
der Befanntmacdhung, betreffend Vorſchriften über 
Musivanderecfehtife, vom 14. Mary 1898 die 
folgende Faffung yu geben: „Dem Führer eines 
MAuswandereridiffes fliegen die folgenden Ber: 
pflictungen ob: Rad) Beendigung jeder Reife als: 
balb bem fiir den überſeeiſchen Landungsplatz zu— 
ftandigen deutſchen Konſul cine Meldung oder cine 
Feblanseige über etwaige auf der Reife beobachtete, 
den Mädchenhandel betreffende Vorlommniſſe oder 
Verdachtsfälle gu eritatten; ferner, falls hinſichtlich 
beftinunter auf bem Schiff befindlicher Frauens- 
perfonen ber Verdacht entftebt, daß fie gu Ungucdts: 
jweden ind Ausland verbracdt werden follen, dem 
fiir den Ausſchiffungshaſen der betreffenden Frauens: 
perfonen jujtindigen deutſchen Konful fo frühzeitig 
alé möglich Mitteilung von Namen, Staats: 
angeborigheit und Reiſeziel diefer Perſonen und ibrer 
Begleiter zu machen.“ 


*Fraueuwahlrecht in Schweden. In der 
Zweiten Kammer des ſchwediſchen Reichstages iſt 
ein Antrag eingebracht, wonach der Reichstag bei 
Erledigung der Frage der Einführung des allgemeinen 
Wahlrechts fiir Manner die Regierung erſuchen 
ſoll, einen Vorſchlag zur Einführung des Wahl— 
rechts zur Zweiten Kammer auch für die Frauen 
auszuarbeiten und dem Reichstage 
Der Antrag wird durch 30 Abgeordnete unterſtützt. 


* Das Recht zur Ansiibnng des Anwalts— 


berufs iit der Rechtslizentiatin der Univerfitat | 


Wenf Fraulein Rellp Favre vom Regierungsrat 


vorzulegen. 








gegnen wir ihrem Ramen. 


Zur Frauenbewegung. 


des Kantons Genf erteilt worden. Fräulein Favre 
iſt der erſte weibliche Anwalt im Kanton Genf. 


* Gin Beſchlußantrag zugunften des Fraucu- 
ſtimmrechts wurde im engliſchen Unterhaus mit 
182 gegen 68 Stimmen angenommen. 


* Totenſchau. Gm 83. Lebensjahr ſtarb in 
London Frances Power Cobbe. Abr Name wird 
aud unter deutſchen Leſern die Erinnerung an dic 
erften Kampfjahre der engliſchen Frauenbewegung 
auffteigen laſſen, einer eit, aud ber Franced 
Cobbe alS cine ber wenigen Beteraninnen nod 
übrig geblieben war, Ihrer Feber verdanfen wir 
die Berichte iiber Mary Carpenters erfte Reform: 
tätigleit in ber entſetzlich verwabrloften engliſchen 
Armenpflege. Mit Mary Carpenter war fie im 
Rettungsweſen als eine ber Frauen tatig, bie aud 
auf dieſem Gebiet die erften babnbrechenden 
Neformen durchgeſetzt haben. WS Schriftſtellerin 
und Sournaliftin vertrat Miß Cobbe ſoziale und 
auch religidd-philofopbifde Intereſſen. Unter den 
erften Borfimpferinnen bed Frauenftudiums be: 
Die legten Jahrzehnte 
ihres Lebens fonjentrierte fie ihre Beftrebungen 
auf bie Abſchaffung der BVivifeftion, freilich obne 
den Erfolg, den fie als Leiterin ber Geſellſchaft 
gegen Bivifettion hoffte. — An Forefthill in Eng: 
(and ftarb die älteſte Tochter Ferdinand Freiligraths, 
Kathe Freiligrath« rocker. Wir haben in der 
„Frau“ ſchon mebrfad auf bie als Schriftſtellerin 
und Uberſetzerin bekannte Frau hingewieſen. — 
Im Alter von 71 Jahren ſtarb in Paris Louiſe 
Michel, die bekannte Mitlämpferin der Pariſer 
Kommune. Sie war die uneheliche Tochter eines 
adligen franzöſiſchen Grundbeſitzers, und ſicher bat 
dieſe ihre Herfunft, durch die fie mit einem leiden 
ſchaftlichen Temperament und einer guten geiſtigen 
Bildung doch außerhalb der Geſellſchaft ſtand, über 
ihr Leben entſchieden. Sie war lange Zeit Lehrerin, 
wurde dann wegen ihrer Beteiligung an den Auf— 
ſtaänden der Kommune nad Neu-Kaledonien expor— 
tiert, wo fie 9 Jahre, bis ju ihrer Begnadigung, 
blieb. Rach zweijährigem Aufenthalt in Parié 
wurde fie 1883 wegen ber Teilnabme an anarchi— 
ſtiſchen Kundgebungen wieder fiir ſechs Sabre ver: 
urteilt. Längere Zeit lebte ſie auch in London, 
feit 1895 aber meiſt in Paris, 


Berichtigung. Auf S. 435 bes vorigen Hefted 
ber ,, Frau” (1. Spalte, Beile 3 von oben) ift ein 
Drudfebler ftehen geblichen. Es ift gu leſen, wie 
in ber 9. Seile von unten „Deutſche Tageszeitung“, 
nicht „Deutſche Zeitung”. Die Redaktion. 


AGRA 


503 





Der internationale Kongreß fiir Sdulhygienc. 


Es ijt felbftverftandlich ausgeſchloſſen, an dieſer 
Stelle einen aud) nur andeutungsweiſe erſchöpfenden 
Vericht iiber die wichtigen, wiſſenſchaftlich glänzenden 
Verbandlungen des Kongreffes gu geben. Wer ein 
Yntereffe daran hat — und welche Mutter oder 
Erzieherin hatte das nicht! — fei auf das Kongreß— 
wert verwiefen, dad alle Bortrage in extenso 
bringen wird. Hier fei mur das die Frauen 
fpesiell und im engſten Sinn Berithrende ermabnt, 

Aus weldem Geifte die Frauen den Bers 
bandlungen ihre Mitarbeit und ibr Antereffe entgegen: 
brachten, bas zeigt am beften die Anſprache, mit 
der Frau Helene von Forfter die Verjammlung 
begriipte: 

„Als Delegierte zweier großer Körperſchaften, 
deren Vorſtänden ich anzugehören die Ehre babe, 
ale Delegierte ded Allgemeinen deutſchen Frauen: 
vereins. der mit feinen Ortsgruppen und Siweig: 
vereinen fic) fiber gang Deutſchland verbreitet, und 
als Delegierte de} Bundes deutſcher Frauenvereine, 
der gegen 171 Mitglicdervereine in allen grofen 
und kleinen Städten des deutſchen Reiches mit 
90000 Einzelmitgliedern umfaßt, und endlich ald 
Vorſitzende des Damenausſchuſſes, der es ſich zur 
Aufgabe gemacht bat, mitzubelfen, daß den Gäſten 
in unſerer Stadt der Auſenthalt in ihr behaglich 
werde, entbicte icp diefer Verſammlung herzlichen 
Gruß. Was uns Frauen mit befonders herzlicher 
Freude erfiillt, tft, daß die Leiter dieſes Kongreſſes 
ded altniirnberger Wappens gedenfend, das ald 
Sinnbild die adlerfliigelige Qungfrau tragt, den 
Frauen bei diefer BVereiniqung die gleichen Rechte 
gaben wie den Mannern, dah fie an ihm teilnehmen 
fonnen, nicht nur als mebr oder minder willkommen 
acheifiene Begleiterſcheinungen, fondern als Mit: 
beratende, als Mitaufgerufene gur Tat. Wir haben 
eS willfommen gebcifen, daß nicht nur der Lebrerin 
und der Sdhulvorfteberin, nicht nur den Ver: 
treterinnen von Ninderfebubbeftrebungen bier das 
Wort geacben wird, fondern daß man auch dic 
Stimme der Mutter Hiren will, jene wichtige 
Stimme, die nod) fo felten in der Offentlichteit 
ſich bervorivagt. Damit tritt bier cine Erkenntnis 
in den Vordergrund, die wir Frauen auf erzieheriſchen 
Gebieten fiir befonders wichtig eradten. Die Er— 
fenntnis, dak bei Bearbeitung ded ſchulhygieniſchen 
Tatigteitsfeldes, dad auf fozialem Boden fic) abgrengt, 
bic Frau neben dem Mann, die Lebrerin neben 
dem Lehrer, die Arztin neben dem Arzt, die Mutter 
neben dem Bater in Pflicht und Arbeit gu fteben hat. 

Mur wenn fie beide den Boden fo pfleqen, wird 
er fo bereitet werden, daß die jungen Pflanzen, 


die ibm anvertraut find, bliibend voll Mark und 
Kraft hineinwachſen in die Belfer. Die beiden 
Körperſchaften, die ich vertrete, find von dabin: 
gebenden Gedanken angeregt und getrieben fiir die 
Cinfiibrung der Gejundheitslebre in den Schulen, 
fiir bas Aufnehmen erzieheriſcher Maßnahmen yur 
fittlicen Veredelung der Jugend in die öffentlichen 
Lehranſtalten eingetreten. Sie bemühen fic gegen: 
wartig, die Zuziehung der Frauen gu den Schul— 
deputationen und Sdulverivaltungen zu erreichen. 
Diefe Tatfacen diirfen als beiweifend gelten fiir 
das Intereſſe, dad die von mir vertretenen Körper— 
febaften den auf diefer Tagung zu pflegenden Be: 
tatungen entgegenbringen, jie kennzeichnen zugleich 
bie Anteilnahme der Frauen iiberhaupt an diefen 
Veratungen. Das Verantwortungsgefiihl, das die 
Frau bet dem Vollerfafjen ibrer erjieberifehen Auf— 
gabe befeelt, tft fo [ebendig, daß es längſt über 
die Grenzen des Hauſes hinaus auf die Gebiete 
der öffentlichen Erziehung ſeine Wirkungen entfaltet 
hat. Qn richtiger Abſchätzung der Errungenſchaften, 
die dieſe Wirkungen bedeuten, ſind die Frauen zu 
dieſem Kongreß gerufen, um hier die Pfeiler ſich 
bilden zu ſehen, auf denen die Schule der Zukunft 
aufgebaut werden ſoll, jene Schule der Zulunft, 
aus der phyſiſch und pſhchiſch ftarfe Weſen mit 
geſteigerten Geiftestraften, mit frifthem Blut und 
tlarem Blick hervorgehen follen jum Ruben der 
Voller, fie werden fic mithen mit einem Blic, der 
qreift, dieſen Borgingen gu folgen. In diefen 
Gedanfen bringen die von mir vertretenen Körper— 
idajten dem internationalen Kongreß fiir Schul— 
hygiene ibre twarmen Sympathien entgegen. Qn 
dicfem Sinne grüßen wir die Frauen, die berbei- 
gecilt find aus allen Yandern, mit herzlichem 
Schweftergruf. Mage die geiftige Sufammen: 
geborigtcit, die zwiſchen den Frauen aller Kultur— 
lander befteht, dazu dienen, in diefen Tagen zwiſchen 
ibnen und unS ein Band von feftem Gefiige gu 
tniipfen, migen fie auf diefem fatamorganifc die 
Inſchrift leuchten feben, die unjer Wappenbild, die 
ablerfliigeliqe Jungfrau, verfinnbildlicht, die Inſchrift: 
Frauen empor!“ 


Von deutichen Rednerinnen waren Frau Profeſſor 
RKrutenberg, deren Ausführungen wir in diefer 
Rummer jum Abdruck bringen, und Frl. Helene 
Sumper mit Referaten vertreten. Frl. Sumper 
ſprach als Rorreferentin der erſten Rednerin über 
die Bedeutung ſchulhygieniſcher Beſtrebungen für 
die Frauen mit beſonderer Berückſichtigung der 
Vollsſchule. Sie ſieht vor allem in der weiblichen 
Fortbildungsſchule den empfänglichſten Boden fiir 
hygieniſche Unterweiſung. Das reifere Ulter der 


504 


Mädchen gibt die Garantie dafür, daß ſie nicht nur 
den Inhaäalt der in der Schule empfangenen 
Belehrung, fondern aud) das Intereſſe fiir hygieniſche 
Unterweiſungen, wie fie ibnen {pater durch Vortrage, 
Bücher rc. geboten werden, mit ins Leben hinaus 
nebmen. Sie ertweiterte deShalb die von Frau 
Rrufenberg begriindeten Forderungen vor allem 
durch die ber obfigatorifden Fortbildungs— 
fdule. Denn „was unfere Frauen fic) angecignet 
haben, bas werden unfere Kinder verteidigen”. 

Gine fiir die Frauen außerordentlich intereffante 
und widtige Erorterung fand im Anſchluß an die 
Referate der Profefforen Arel Hertel, fommunaler 
Arzt in RKopenbagen, und Palmberg, Helfingfors, 
iiber die ,,gemeinfame Erziehung der Geſchlechter 
in höheren Schulen“. Wahrend Projeffor Hertel 
die phyſiologiſchen Bebdenten erdrterte, die zweifellos 
ciner gleichmafigen unterrichtliden Belajtung von 
Madchen und Knaben bei körperlich doch verſchieden— 
artiger Entwicklung entgegenfteben, fich im übrigen 
aber nicht alé prinjipieller Gegner der Cocducation 
acigte, enthielt das Referat des Profeffor Palmberg 
jebr entſchiedene Angriffe auf die bibere Frauen: 
bilbung iiberbaupt. Sie ftiigten fic beſonders 
darauf, daß von ben finniſchen Madden, die mit 
den Rnaben zuſammen höhere Schulen befuchen 
und das Abiturium machten, verhältnismäßig 
wenige wiſſenſchaftliche Berufe ergriffen. Es fei 
deshalb falſch, um dieſer wenigen willen alle Frauen 
eine Bildung genießen zu laſſen, die im Intereſſe 
ihrer künftigen weiblichen Beſtimmung weder 
geſundheitlich nod geiſtig zwedmäßig fei. Die 
Behauptungen des Prof. Palmberg wurden durch 
eine von Frau von Forſter verleſene Entgegnung 
der belannten finniſchen Frauenrechtlerinnen 
Baroneſſe Gripenberg und Lucina Hagmann 
widerlegt. Wir lommen auf die ganze ſehr 
intereſſante Auseinanderſetzung noch einmal zurück, 
wenn die im Druck vorliegenden Verhandlungen 
einen vollen Einblick in das Für und Wider 
geftatten werden. 

Auf die wichtigen Crirterungen iiber dad 
Frauenturnen, die Fraucnfleidbung, feruelle Auf: 
tlirung 2¢. einzugehen, verbietet bier der Raum, 
Wud in dieſer Hinficht verweifen wir auf den 
bevorftebenden Drud der Verbandlungen. 





Petition betreffend die Geburtsurfunden 
vorchelid) geborener Kinder. 


(Bal. den Artifel von H. Ludwig auf S. 474 dieſes 
Heftes.) 

Die vom Qugendfiirforge-Verband der Berliner 
Lehrerſchaft (Vorjigender Rektor Bagel) an den 
Bundesrat bezw. das ReichSjuftizamt gerichtete 
Petition beleucdtet im Cingang die Harten der 
beftebenden Praxis binfictlicd der Geburtsurfunden 
von den Gefichtépuntten aus, die der in diefem 
Heft enthaltenc Artifel bervorbebt. Wm Schluß 
ber ſehr cinachenden Begründung wird die Bitte 
folgendermafen formuliert: 

An ein hohes Reichsjuſtizamt richten wir mit 

Rückſicht auf Vorftehendes die ebrerbictigite Bitte, 

hocbgenciatelt einem boben Bundesrat 
unfere Scblupbitte befiirwortend unter: 
breiten zu wollen, welche dahin geht: 
daß im Intereſſe der vorebelich geborenen, 
durch nachfolgende Ehe legitimierten 


Verſammlungen und Vereine. 


Kinder im Wege einer Ausführungs 
verordnung ein weiteres den Bermert 
fiber bie Vorehelichkeit fortlaſſendes 
Formular zum Geſetz, betreffend die 
Beurkundung bes Perſonenſtandes, cin: 
geführt werden, und daß an die Standes— 
aimter bie Untweifung ergeben mae, fiir 
die Qutunft bei Gefuden um Auszuge 
aus dem Geburt8regifter bei ehelichen 
fowie bet fegitimierten Kindern dieſes 
Formular ſtets zu verwenden, wort: 
getreue Auszüge aber nur dann noch zu 
erteilen, wenn ſolche ausdrücklich von 
den Eltern oder behördlichen Organen 

im Staatsintereſſe gefordert werden. 
Formulare der ausgeführten Petition ſind von 
Herrn Rektor Pagel, Berlin N. 31, Stralfunder: 
ſtraße 54, zu begieben. Die Unterftiigung der 
Petition durd recht zahlreiche Unterſchriften möchten 
wir allen unjern Leſern aufs wärmſte empfeblen. 





Der Landesverein preufifdjer techniſcher 
Lehrerinnen 


hielt in den Oſtertagen ſeine Generalverſammlung 
unter dem Vorſitz von Fri. Eliſabeth Altmann 
in Berlin ab. 

Der Verein zählt heute 844 Mitglieder, von 
denen 588 in 12 Ort&gruppen vereiniat, die übrigen 
256 als direfte Mitglieder angeſchloſſen find. — 
Tiber die Frage: ,, Wie madden wir ben Unterricht 
im Ausbeſſern fiir dad Leben nutzbar?“ bielt die 
Inſpizientin fiir ben Handarbeitsunterricht in den 
Berliner Gemeindefdhulen, Frl. Brenste, einen 
febr anregenden Vortrag, in dem fie zunächſt zeigte, 
wie ber heutige Lebrplan in diejem Fade aus den 
fosialen Forderungen unferer Zeit entftanden fei. 
Die Lebrerin folle die Töchter des Bolles zu wirt: 
ſchaftlicher und fittlicher Tiichtigheit erjicben und 
fo zur fosialen Hebung des vierten Standed bei: 
tragen. Durch genaue Berechnungen widerlegte 
die Rednerin den Einwand, daß es heute faum 
fobne, Wafde und Strümpfe aussubeffern. Weiter 
fei dex Unterricht im Musbeffern cine Lehrplanfrage. 
Der ganze Unterricht von unten berauf müſſe bad 
Madden darauf bintweifen, die eigenen und aud 
der Geſchwiſter Sachen in Ordnung gu balten, und 
Schülerinnen in ibrer Arbeit ſelbſtändig machen. 
Dem Bortrag folgte eine angeregte Beſprechung 
Das zweite Thema des Tages war ein Enhwuri 
zu einem Handarbeitslebrplan fiir Vollsſchulen, der 
dem der Berliner Gemeindeſchulen ziemlich ähnlich 
war. In der zweiten Sffentliden Verſammlung 
gab zunächſt bie Borfitende Frl. Altmann cinen 
Bericht über den Lebrplanentiwurf fiir ben Hand- 
arbeit&unterridt in boberen Töchterſchulen. Die 
Lebrgiele find nach folgenden Grundſatzen aufgeſtellt: 
Augen und Hand ju iiben, guten Geſchmack beran- 
subilden, die Rinder an planmäßiges Arbeiten zu 
gewobnen und fie au befabigen, das Crlernte im 
ipateren Leben praktiſch anzuwenden. Als Anfangé: 
arbeit wurde von der Verſammlung das Stridex 
und fiir die 1. Klaſſe die Ginfiibrung des Majchinen- 
nabens angenonunen. Bei dent lesten Pune der 
Tagesordnung berichtete Frl. Altmann über den 
Stand der Yor: und Fortbildung der Oandarbeits: 
(ebrerinnen, Durch Verfendung von Fragebogen 
an 14 RBorberettungsanftalten, darunter zwei 
ſtaatliche und zwei ſtädtiſche, ift feftgeftellt worden, 








Bücherſchau. 


daß zwar ein weſentlicher Fortſchritt in der Vor— 
bildung gu bemerken iſt, dennoch aber manches zu 
wünſchen übrig bleibt. Hauptſächlich wurde durch 
die Generalverſammlung gefordert: Längere Aus— 
bildungszeit, vertieftere padagogiſche Durchbildung 
und größere Allgemeinbildung, vorzugsweiſe im 
Deutſchen. Im Anſchluß an die überaus rege 
Debatte wurde beſchloſſen, eine Petition an das 
Kultusminiſterium um Anderung bezw. Ergänzung 
der Prüfungsordnung einzureichen. 

Su der Abteilung fiir Turnweſen ſprach Fri. 
Meinede, Dortmund, iiber bas Thema: „Entſpricht 
das heutige Turnen in den Maddenfdhulen den 
Forderungen, die wir im Hinblid auf die gefteigerte 


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505 


geiftige Tatigtcit und den juliinftiqen Lebensgang 
der Schillerinnen in verftarftem Maße an die 
Hebung und Krajtigung der Gejundbeit und Körper— 
traft ſtellen müſſen?“ Die dem Bortrage zugrunde 
gelegten Leitſätze wurden mit einigen Whanderungen 
faft cinftimmig angenommen. Frl. Thurm, 
Krefeld, fprach bierauf iiber die „Vor⸗ und Fort: 
bildung der Turnlebrerin’. Da ſich die Ber- 
ſammlung mit ibren Ausführungen voll und ganz 
cinverftanden erfldrte, wurde beſchloſſen, bei den 
mafgebenden Behirden eine diesbesiigliche Petition 
einzureichen. Die arbeitsreichen Tage beſchloß cin 
Feſtmahl, das die Teilnehmerinnen im „Hotel 
Imperial“ vereinigte. 


— Som 


— Biicherschau. — 


Neue Literatur zur Frauenfrage. 


Man Hat bei den jiingften Erzeugniſſen ber 
Frauenfrage-iteratur häufig ben Cindrud, dah die 
theoretiſche Behandlung allgemeiner Bringipien im 
Augenblick etwas iiberfultiviert ift; fie btetet dem 
Renner ber Frauenfrage-Literatur vielfach Wieder: 
holungen, oder man kommt bei dem Berjuch, dem 
Problem neue Seiten abjugewinnen, gu verftiegenen 
und ausgelliigelten Theorien, die irgend cinen 
einzelnen Geſichtspunkt einſeitig ausbeuten. Immerhin 
entſpricht die Art dieſer Propaganda-Literatur 
vielleicht der tatſächlichen Ungleichmäßigleit ded 
Verſtändniſſes, das Freunde und Gegner der 
Frauenbewegung ihr entgegenbringen. Hier iſt 
man über die allgemeinen Prinzipien ſchon längſt 
zur Tagesordnung, d. h. zu den Spezialfragen 
übergegangen; dort beginnt eben erſt die Idee 
Wurzel zu ſchlagen oder wenigſtens in den Geſichts— 
kreis ber Betrachtung gu rücken, und man erörtert 
fie von einem Standpunkt aus, der innerhalb der 
eigentlichen Frauenbewegung ſchon überwunden ift. 
Zu dieſen letzten Schriften gehört ein Buch von 
Luch von Hebentanz-Kaempfer mit dem 
vielverſprechenden Titel: ,,Bleibet im Hauſe“ 
(Berlag von Ferdinand Sdiningh, Raderborn 1903); 
es find die Plaudercien ciner Dame über eine 
Frage, in deren ſoziologiſche Bedeutung — fie 
feinen febr ticfen Cinblid hat. Hören wir, daß 
fie 3. B. Naturgeſchichte und Phyſik in der Bolfs: 
ſchule fiir Spielerei erfliirt, bafiir aber die Gin 
fiibrung einer frembden Sprache mit einer taglichen 
Unterridtsftunde verlangt, daf fie die Ausbildung 
der Vollsſchulmädchen fiir irgend einen Zweig der 
landesüblichen Hausinduſtrie empfiehlt, — dah fie 
ferner fiir Dic Erziehung der ,, Dame" das Klojter 
als die einzig paſſende Stitte erflart, fo ift zur 
Charalteriſtik ihrer Gefichtspuntte fiir die Fraucnfrage 
genug geſagt. Wenn fie bier und da gang verftindige 
und gejunde Anfichten ilber Dienfthotemvesen, Wobl: 
fabrtspilege und dergleichen verrat, fo ijt dad an: 
gueriennen, aber keineswegs als geniigende Nom: 
penfation für den Dilettantismus ihrer volfsiwirt: 
ſchaftlichen Anſichten gu betrachten. — Cin gewifjer 
Dilettantismus in vollswirtſchaftlicher Hinſicht fern: 
zeichnet aud bad Buch von Marie Diers: „Die 
Mutter des Menſchen“ (Verlag von Wlerander 





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i 


Dunder, Berlin 1903). So feine Gebdanfen und 
Urteile dic Verfaſſerin über das Berhaltnis der 
Gefchlechter, ither die Aufgabe der Mutter, in der 
Familie ausſpricht, fo febr feblt eS ibr an einer 
Haren Gorftellung ber fojialen Seite ded Problems, 
dad fie bebandelt. Ihre Schrift ift, wie die von 
Johannes Miiller, der Ausfluß eines einſeitigen 
Individualismus, der nicht damit rechnet, daß alle 
die Fragen, die erörtert werden, nicht mehr nur 
die Beziehungen des einzelnen Menſchen zum einzelnen 
Menſchen betreffen, ſondern in beſonderer Weiſe 
Angelegenheiten der Geſamtheit geworden ſind und 
als ſolche ihre beſonderen Schwierigleiten zeigen. 
Sie verfennt den Inhalt und die Bedeutung der 
Frauenbewegung vollftindig, wenn fie bebauptet, 
daß fie alle ibre Kräfte darauf fonjentriere, dad 
Weib in die männlichen Berufe gu drangen und 
daß iby Zweck dabei nicht nur die Verbefferung 
der materiellen Notlage fei, fondern vor allen Dingen 
bie Erhebung der Frau in eine geachtetere 
Stellung. Wenn Marie Dierd die hiſtoriſche Ent: 
widelung der Frauenbewegung wirklich fernte, fo 
wiirde fie wiffen, daß es ibr von vornberein darauf 
angefonmmen ift, der Frau als Perſönlichkeit in ihrer 
weiblichen Cigenart und in bem dadurch bedingten 
Wirkungskreis die Fille ber Entwickelungsmöglich— 
feiten wieder zuzuführen, die ibr bei ber wachſenden 
Sojialifierung unferes öffentlichen Lebens und bei der 
zunehmenden Gergejellichaftung unferer Kultur ent: 
zogen worden find. Die ideale Mutter, deren Weſen 
und deren Einfluß Marie DierS fo fein gu defi: 
nicren weiß, müßte eben notwendig zur lama” 
herabſinken, wenn ſie es nicht mehr vermöchte, die 
Vermittlung aller Intereſſen zu übernehmen, die das 
Leben an ihre Kinder heranträgt. Ein Blick in 
unſere Geſellſchaft, deren Frauen durch dieſen 
Mangel an Fühlung fiir das große, weite oHffent: 
fiche Leben innerlich verfiimmert find, fann fie 
von ber Notwendigkeit der Frauenbewegung in 
dieſem Sinne überzeugen. Daf die cine Seite der 
Fraucnbewegung, die Eroberung neuer Berufs: 
zweige fiir die Frauen, in einen geiftiaen und 
materiellen Wettfampf der Geſchlechter ausgeartet 
ijt, hat nicht ausſchließlich ſeine Urſache bei den 
Frauen, fondern in grofem Make in den An— 
idauungen ibrer männlichen Sonfurrenten. 
Die Bedeutung der Frau fiir das fojiale Leben, 


506 


deren Grfenntnié den Urfprung der Frauen: 
bewegung bedeutet, ijt in feiner und klarer Weiſe 
erortert in einem Aufſathe von Elfe Hajfe: 
„Der Kulturwert der Fran einſt umd jest’ 
(Berlag von Konrad Weisfe, Dresden); fie geigt, 
wie bie Mufgabe der Frau, perſönliche Zuſammen— 
binge gu ſchaffen und gu pflegen, durch die meu: 
zeitliche Entwickelung auf cin weitereds Gebiet ald 
das der Familie gewiefen ijt, auf das Gebiet ded 
fojialen Lebens. — Allgemeine Erodrterungen jur 
Frauenfrage baben auc) da noch ibren Wert, wo 
es fi um eine Berteidigung gegen Angriffe 
banbdelt, bie von ſolchen allgemeinen und pringipiellen 
Geſichtspunkten ausgegangen find; es ift ſicher bid 
jest noch eine richtige Praxis, folde Angriffe, auch 
wenn fie von ſchon überwundenen Vorausſetzungen 
ausgeben, nicht totzuſchweigen, fondern zu wider: 
legen. So bat fic) gegen bas Buch von Better: 
Mann und Weib, deffen Afthetifierende, gefühls— 
felige Berichwommenbeit das Töchterſchulniveau 
älteſten StilS in ciner Reinfultur zeigt, Marie 
pon Wilm mit einer feblagfertigen, beleſenen 
und last not least wigigen Gegenſchrift gewendet 
(, Mann und Weib von Marie von Wilm, 
DOebmigkeS Verlag, Berlin). Das Buch bietet 
nicht nur ein Arſenal braudbarer und ſcharf— 
geſchliffener Waffen gegen Gegner vom Schlage 
des Herrn Better, ſondern iſt auch in ſeiner 
klaren Friſche und geſunden Auffaſſung der 
Frauenfrage an ſich ſehr leſenswert. — Gegen 
Herrn Profeſſor Möbius hat Dr med. Heberlin 
cine Polemik eröffnet mit einem Buch über den 
„habituellen Schwachſinn des Mannes“ (E. Pier: 
ſon's Verlag); er windet ſeinem Gegner die Waffen 
aus der Hand und wendet ſie gegen ihn, indem er 
die einſeitige Beurteilung der Frau durch Möbius 
in geſchicter Form auf den Mann überträgt, unſeres 
Erachtens die cingige Art, wie Mobius wirkſam ju 
begegnen tft; denn es gibt Angriffe, deren Un— 
fachlichfeit eine fachliche Widerlequng ausſchließt. — 
Cine ähnliche Anſchauungsweiſe, wie die Mobius’ febe, 
war in der mebrfach neuaufgelegten Broſchüre des 
Profeffor Runge im Gottingen vertreten. Frau 
Marie Brühl bat im Verlag von Hermann 
Seemann Nachflg. unter dem Titel: ,,Die Natur 
der Fran”, cine Erwidcrung auf die befannte 
Rungeſche Schrift veröffentlicht, die hnapp und flar 
auf die Einſeitigkeiten und Nbertreibungen des Ber- 
faſſers hinweiſt. — Unter den Schriften gu Spezial— 
fragen, die in jiingfter Zeit auf dem Gebict der 
Frauenfrage Literatur yu verzeichnen find, find am 
erfreulichften die auf dem Frauenbildungsgebiet. 
Daß ver Sedanle der Heform der hoberen Madden: 
febule in dem Sinne, wie ihn der Allgemeine 
Deutiche Lebrerinnenverein vertritt, bereits in dem 
deutſchen Schulwejen des Auslandes gesiindet bat, 
verrat cine Broſchüre: ,,Die moderne Franen: 
bewegung und dic Heform des hiheren Madden: 
ſchulweſens““ von Dr Bernhard Gajter, dem 
Direttor der deutſchen Schule in Antwerpen (Verlag 
der Hecknerſchen Druckerei, Wolfenbiitteh. Der 
Verfaſſer wertritt den Gedanken ciner ywilfflaffigen 
Oberrealſchule fiir Madden, gu der cin intereffanter 
Lehrplanentwurf von ibm aujgeftellt iſt. Es fei 
bei diefer Gelegenbeit zugleich auf den Entwurf 
zu einem Lehrplan fiir höhere Mädchenſchulen 
hingewieſen, der im Auftrag der Seltion für höhere 
Schulen des Allgemeinen Deutſchen Lehrerinnen— 
vereins von Anna Jungk, Karléruhe, unter 


Bücherſchau. 


Mitwirkung einer Anzahl von Sachverſtändigen 
herausgegeben iſt. Gr iſt als Sonderabdruck aus 
der Lehrerin im Verlag von Theodor Hofmann, 
Leipzig, erfcienen; der Plan, der augenbliclich 
nod ciner Umarbeitung nad der ſchultechniſchen 
Scite unterlicgt, ftellt die befte Loͤſung der Frauen— 
bildungsfrage dar, die augenblidlich gefunden werden 
fonnte. Ginen febr cingebenden und bis in bie 
einzelnen Fächer gang detaillierten Lebrplan bat 
kürzlich bie Krauſeſche höhere Mäbdchenſchule, cine 
ber beſten unter weiblicher Leitung ſtehenden Privat: 
ſchulen Deutſchlands, veröffentlicht (Gräfe und 
Unzer in Königsberg); dieſer Plan führt aufs beite 
in die Arbeit der deutſchen höheren Mädchenſchule 
in ibrer gegenwärtigen Geftalt cin und jei allen 
Antereffenten warm empfohlen, Auf cine eine 
biftorifcbe Studie fei bei dieſer Gelegenbeit nod bin- 
gewieſen: „Die Mädchenhochſchulen in Amerita’’ 
pon Dr Johannes Siegler (Verlag von Thiene— 
mann, Gotha); mag man den Standpuntt, den der 
Rerfajjer fiir die Beurteilung diejer Anſtalten cin: 
nimmt, nicht teilen, fo ift es immerhin wertvoll 
und intereffant, mit den Mugen eines deutſchen 
Bejucers den Unterrichtsbetrieb im amerifaniiden 
Schulwejen yu beobadten, wobei man freilich ſich 
gegenwartig halten muf, daß er fubjettive An 
idauungen von ficher nicht unbeſchränkter Giltigfeit 
vertritt. — Gin andered Gebiet der Fraucnbewequng 
reprajentiert Heft 28 der freien firdlid ſozi— 
alen Konferenz, dad die Referate von Paula 
Müller, der Borjigenden des deutſch-evangeliſchen 
Frauenbundes, und von Adolf Stöcker über dite 
Mechte und Pflidten der Fran in der kirchlichen 
nnd biirgerlidjen Gemeinde’ enthalt (Berlag ber 
Vaterlindifden Verlags- und Kunftanftalt, Berftr). 
Paula Miiller bebandelt ihren Gegenftand in der 
bekannten flaren und umfichtigen Urt, die in dieſem 
Fall wobltatig abjticht gegen die Nonebalence, ju 
der Herr Hefprediger Stoder in dem Beftreben, 
popular gu fein, ſich zuweilen verleiten läßt. 
Was man bei der Behandlung ded Themads 
ale notwendige Ronfequeng der aufgeftellten 
Gefichtspuntte vermift, ift die Forderung des 
fommunalen Wablrechts fiir die Frauen, umjomebr 
vermift, als Serr Hofprediger Stider in einem 
friiber gebaltenen Yortrag bereits für dieſe 
Forderung cingetreten tft; vielleicht liegt in diejer 
Beſchränkung cine Rückſicht auf das Publitum, 
vor bem beide Referate gebalten wurden. Immerhin 
ift es erfreulich, daß die Stellung der kirchlich 
ſozialen Ronfereng zur Frauenfrage fic) feit der 
Beit, als fie fich gum erften Male mit thr 
bejchaftigte, merklich geändert bat; pringiptelle 
Bedenten, ob die Frauenbewegnng fic mit dem 
Chriftentum vertrage, wurden in der Disfuffion 
diesmal nicht mebr erhoben. Es fet übrigens bei 
dieſer Gelegenbett auf cine vorurteilsfreie, tmappe 
Behandlung diefer Frage durch eine Heine Broſchüre 
hingewieſen, bie unter dem Titel: ,,Befteht cin 
Wegenfat zwiſchen dent Chrijtentum nud der 
modernen Frauenbewegung?“ von  Lixentiat 
Dr M. Sdian im Görlitz (Verlag von Rudolf 
Miler) verdfientlicddt worden iſt und ſich ald 
Propagandamaterial febr gut cignet. — Ms 
Propagandafcdhriften, die durch thre friſche und 
zugleich befonnene Muffaffung ihres Themas ibren 
Swed voll erfiillen werden, erwähnen wir aud 
die beiden fleinen Schriften von Elsbethb 
Krufenberg: „Aber Studinm und Univerfitirs 


Bücherſchau. 


leben der Frauen“ (Verlag von J. H. Maurer: 
Greiner Nachf. Gebhardshagen) und ,,Agitation 
in der Fraueubewegung“ (Univerfitats - Buc: 
druckerei bon Carl Georgi, Bonn). 


„Fraueumacht“. Roman von Gultav af Geijer- 
ftam. Autorifierte Nberfegung von Therefe Kriiger, 
Berlin. S. Fifer, Verlag 1904. Es ware ſchwer 
zu fagen, worin die Eigenart dieſes Buched liegt. 
Der Held cin Menfeh, wie ibn die Mobernen lieben, 
ben feinerlet außerer Ehrgeiz oder was auch immer 
ju „Taten“ und Erfolgen fpornt, der dem Wunſch 
oder dem inneren Gebot des Augenblicks folgt und 
feine Stunde feines Dafeind gum Mittel fiir die 
Zwecke der tiinftigen mat. So nimmt er die Lajt, 
die ihm bas Schidfal auf die Schultern legt, ohne 
ben fleinften Berfuch, ihe zu entgehen, auf fic: 
er beiratet bas Madchen, bas er auf der Strafe 
gefunden bat, als fie Mutter wird, Er weif, dag 
ber Weg, den er beſchreitet, nicht leicht fein wird, 
aber das beirrt ibn feinen Augenblick in dem fiir 
ihn unentrinnbaren Bediirfnis, fich felbft su genügen. 
Aus dem unvermeidliden Sufammenbruc feiner 
Ehe mit ibr rettet er fein kleines Madden, die 
aus einer Atmoſphäre voll Schuld und unedlen 
Gebeimnifies cin banged, lajtendes Wiſſen um das 
Häßliche davongetragen hat und dem Vater die 
ſchwärmeriſche, opferdurftige Liebe entgegenbringt, 
deren Glut aus der Erfabrung des Leidens ſtrömt. 
Aber aud fie, deren Wejen fein Leben durchklingt 
wie cine weiche, ſüße Melodie, vermag nicht, feinen 
ſtärkſten und innerlidften Lebensanſprüchen Geniige 
ju tun. Sie finden CErfiillung bet einer Qugend: 


_ geliebten, die er als verbeiratete Frau in dem 


Augenblick feiner tiefften Vernichtung wiederfindet. 
Darin liegt min auch bas Wejentliche und Eigene 
ded Buches: in der Durchführung diefes wundervoll 
reinen und Haren Verhältniſſes zwiſchen ibm, der 
Frau und ihrem Gatten, drei Menfden, deren 
Seelen hoch über der prefaren Ronftellation der 
ménage A trois fic) feblicht und ſelbſtverſtändlich 
geben, was fie filr cinander haben. Und nod in 
etwas anberem: in der Art, wie bier bas Wefen 
ded Edelmenſchen gefaßt iſt. Ougo Brenner ver- 
achtet alles feige Ausweichen vor ſelbſtgeſchaſſenen 
auferen und inneren Anſprüchen und verſchmäht, 
etwas zu wollen, was er dod) nur dilettantifd 
und kleinlich verivirflidjen fann. Dem Vollmenfden, 
der die heilige Chrfurcht vor dem Eten und 


Ganzen bat, giemt cin Leben im vornehmer Refig:- 


nation: das ift die Weisheit ded Buches. 


„Frau Autonie.“ Roman von Marie Tyrol. 
Leipzig 1903. Verlag der Fraucn-Mundfdau. Das 
fein geſchriebene Buch, das cin fraftiger Bug oft: 
preußiſcher Heimatluft durchweht, iſt nach feinem 
fubjettiven Anlaß cine Tendenzſchrift. Es iſt das 
Problem der unehelichen Mutterſchaft, zu dem die 
Verfaſſerin das Wort ergreift, die Loͤſung der Frage: 
»Weshalb das Sittengejeg die gefallene Frau fo 
ftreng verdammt.“ Sie fteht auf dem Boden dieſes 
Geſetzes, und der Roman ift eine Rechtfertigung ſeiner 
Harte. Frau Antonie hat als cine ,,Gefallene” die 
Ehe mit ihrem nichts abnenden Gatten geſchloſſen. 
Seine Liebe und jein Stolz, alS er fie in fein 
fiver errungened Heim fiibrt, zwingen fie gum Ge: 
ſtändnis ibrer Schuld. Lange Sabre hindurch lebt 
fie mun neben dem Mann hin, der fte in unerbitt- 
licher Härte verachtet und nur deshalb nicht ver: 
ſtößt, weil er ſeinen eigenen Ramen nicht gebrand: 


507 


martt wiffen twill, [ange Sabre unablaffigen ftummen 
Rampfes um feine Verzeihung und feine Wchtung. 
Sie wird ibr endlich gewährt. Den beiden Rindern, 
bie fie nad) dem Tode ded Mannes allein gu er: 
ziehen bat, ift ihre Schuld verborgen. Sie ſcheint 
aus ibrem Leben getilgt. Da tritt ibe, als cin 
Entgleifter und Verfommener, ibr Verfiibrer ent: 
gegen. Er bat nun ibr Sebicfal in der Hand. Um 
bon ibrem Sohn cine Unterftiigung gu ergivingen, 
verrät er ihm ben Makel feiner Geburt. Für ibn 
und feine Schwefter war bie Mutter bis dahin die 
Verkörperung alles Hohen und Guten; die Grund: 
feften fcines Lebens, des äußeren und des ſeeliſchen, 
ſtürzen mit diefer Entdedung. Die alte Schuld 
ftebt in unabwendbarer ſchickſalsmächtiger Kon— 
fequen; wieder auf und fordert neue Sühne. — 
Der Roman verleugnet auch in feiner künſtleriſchen 
Durchführung nicht ganz den tendengidjen Charatter. 
In der Harte, mit der fich ber Sohn und die Tochter 
von der Mutter abiwenden, alS thre Richter, liegt 
etwas Peinliches; man hat das Gefühl, als müßte 
das, was ibnen die Mutter ift, den Sieg davon 
tragen fiber dag, was fie vor Jahrzehnten getan 
hat — obne daß es nod) ciner bejonderen Sitbnetat 
bedurjte. Und wie es zu dbiefer Tat fommt, das 
erſcheint ein wenig gezwungen und romanbaft. — 
Immerhin hat die Art, wie die Verfafjerin das 
fo viel und fo leichtfertig befprocene Problem in 
feiner ſoziologiſchen Berkettung zeigt, etwas Zwin— 
gendes. Dazu tragt nicht jum wenigſten die ftraffe 
und fparjame Kompofition de3 Ganjen bei — und 
cine Darftellung, der es zwar an leidenſchaftlicher 
Rraft, nicht aber an Klarheit und Plajtif feblt. 


Meyers Grokes Konverſations-Lexikon.“ 
Gin Nachſchlagewerk des allgemeinen Wiffens. 
Secbfte, gänzlich neubcarbeitete und vermebrte 
Auflage, Mehr alS 148,000 Artifel und Ber: 
weijungen auf iiber 18,240 Seiten Tert mit mebr 
al§ 11,000 Abbildungen, Karten und Plänen im 
Tert und auf iiber 1400 Illuſtrationstafeln 
(darunter etwa 190 Farbendrudtafeln und 300 ſelb— 
ftandige Rartenbetlagen) fowie 130 Tertbeilagen. 
20 Bande in Galbleder gebunden zu je 10 Mark. 
Verlag des Bibliographifden Inſtituts in Leipszig 
und Wien. Bon „Meyers Grofem RKonfervations- 
Lerifon” gelangte foeben der VI. Band zur Aus: 
gabe, welder die Stichwirter „Erdeeſſen bis 
Franzen“ umfaft. Wie diefe beiden Wörter ſchon 
grundverſchiedenen Gebieten angehören, fo find die 
dazwiſchenliegenden Stichwörter aus fo mannig: 
faltigen Materien, daß tatſächlich fiir jedermann 
etwas darin geboten wird. Und wer ſich mit dem 
Worte allein nicht begniigen will, den feffeln gewif 
bie zahlreichen farbigen und ſchwarzen Bilder: 
tafeln, die aufer den Tertabbilbungen in vielen 
Fallen zur Erlauterung des Textes beigegeben find. 
Wir können bier ſelbſtverſtändlich nicht die Stich: 
worter der Reibe nach auffiibren und müſſen uns 
mit einigen Proben bebelfen, um die BVielfeitigteit 
der weltbefannten Enzyklopädie dargutun. Qn das 
Webiet ber Haus: und Landiwirtichaft führen und 
die Abſchnitte „Ernte“, Fiſcherei“, mit Tafel, 
Künſtliche Fiſchzucht“, ebenfalls mit Tafel, 
„Fleiſch“, „Fleiſchextrakt“, „Forſtwirtſchaft“. All— 
gemeines Intereſſe erweckt der Artikel „Europa“, 
der auf 17 Seiten alles Wiſſenswerte über unſern 
Erdteil bringt, während 6 Karten die politiſche 
Einteilung, das Fluß—- und Gebirgsſyſtem, dad 


508 


Klima, die Bolter: und Spracencinteilung und 
bie Bevillerungsdicdtigteit uns vor Augen führen. 
Un weitern Artikeln aus der Geographie und 
Völkerlunde erwähnen wir nod „Erdkunde“, mit 
zwei Karten und einer Portrattafel: „Geographen“, 
„Erfurt“, „Erzgebirge“, „Eskimo“, „Eſthland“, 
„Etrurien“, „Euphrat“, „Finnland“, „Flandern“, 
„Florenz“, „Frankfurt a. M.“, „Frankreich“. 
Der letztere Sammelartikel umfaßt auf 53 Seiten 
34 Ubfehnitte, die bis auf die neuefte Beit ergänzt 
find, fogar Ereigniffe bes Jahres 1904 finden ſich 


Bucherſchau. 


ſchon verzeichnet. Daß die Technik durch eine 
große Anzahl von Abhandlungen vertreten iſt, 
diitfte bet dem ſtändigen Fortſchritt auf dieſem 
Gebiete felbftverftindlid erſcheinen. Fragen von 
allgemeinem Intereſſe bebandeln die Artifel 
„Evangeliſcher Bund", „Ferienkolonien“, ,, Finan}: 
weſen“, „Flagge“, „Flottenvereine“, „Fortbildungs⸗ 
ſchulen“, „Fortſchrittspattei“/. Daß auch dieſer 
Band der neuen Auflage durchgehends neu 
bearbeitet und bedeutend erweilert iſt, beweiſt 
wohl ſchon die Zunahme von 26 Tafeln. 


‘ 


—-BVfa-— 


Liste neu erschienener Biicher. 


(Belpredung nad Raum und Gelegenheit vorbehalten; cine Rildfendung nist beſprochener Bilder tft nicht möglich) 


Anfermann, Bruno, Pfarcer. Goethes 
Stelung jum Chriſtentum. Bortrag. 
Thomas &A Oppermann. Abnigsberg 
i Qr. 1902, 


Asmus, Martha, Der Liebe Launen. 
Preié 2 Mart Hermann Seemann 
Nadhfolger, Leipzig 1908, 


Baumann, Dr Julius. Neudriftentum 
und reale Neligion. Cine Streitſchrift 
wieder Harnad und Steudel nebſt einem 
Aatechis mus realer Neligion. Emil 
Strouf. Bonn 190!, 


Beeler, Kathe van, Friiulein Schul— 
meifter und andere luſtige Liebes— 
geſchichten. Hinſtorffſche Hofbuchhand⸗ 
lung Wismar 1902, 

Berg, M. St. (Mathilde Grafin 
Stubenberg): Der arme Wengl. Georg 
Weis. Cajjel 1904. 


Bergmann, H. Das Erwachen. Roman. 
Georg Bigand. Leipsig. 

Bode, Dr Wilhelm. Goethes beſter 
Rat. Ernſt Siegfried Mitiler & Sohn, 
Berlin 1903, 

Bonne, Dr Georg, Uniere Trintfitten 
in ibver Bedeutung fiir die Unſittlichkeit 
nebjt deren Folgen, Preis 25 Pf. 
Chr. G. Tienfen, Leipzig 1901. 


i Adolphine. Dad goldene 
ber Frau. Ein Freund und 

Series in allen Gerhiltnifjen ped 
Lebens im Haufe und in * — 


ſchaft. Preis Ss Wart. Rider, 
Chemnig 1904, 
Gaftle, Eduard. Sur Einführung in 


Ferdinand Naimunds Werte. Wit 
4 Bildnifjen, einem Grief und einem 
Kompofitionsentwurf nad der Hand- 
fobrift, fowie einer MAbbildung des 
Wiener Dentmals. 

Sonberabdrud aus: Ferdinand 
Raimunds ſamtliche Werte in drei Teilen. 
Herausgegeben von Eduard Cafile. 
Mar Heſſes Verlag, Leipzig. 


Cronberger, Bernhard. Ctiidt. Lebrev 
in Feantiurt a. WW. Brattice Rature 
kunde ded Haushalts, (Haushaltungd- 
funde.) Sum Gebraud in Bollé-, 
WMittel= und Haushaltungsfaoulen. Mit 
einer Rahrungémitteltabelle und 2z Abs 
bilbungen im Fert. Als Manuſtript 
auf der Kochkunſtausſtellung zu Franks 
furt a. M. 1804 preisgetrént. Preis 
aeb. 1 Mart, geb. 1,20 Mark. 2. ers 
weiterte Muflage ber ,.Haushaltungé- 
tunde“. erlag von Otto Salle, 
Berlin 1903, 


Doll, Dr ., in Karlérube. Die hausliche 
Pflege ber anftedenden Krantheiten, 
insbefondere bei anftcdenden Minder+ 
frantheiten. Drei Vortraͤge. Cites 
bid zwanzigſtes Tauſend. Preis 
40 Pj., v. 100 Eremplacen an 35 Pj., 
bon 200 Gxemplaren an 80 Pf. von 
600 Eremplaren an 25 Df, von 
1000 Gremplaren an 20 Bf, von 
2000 Exemplaren an 18 Pf. Drud 
und Berlag v. R. Oldenbourg. 1903, 
Winden u. Berlin. 

DWEhcsreRecling, ~~ = Poilofoph 
im Stecttifien. Gress 8 Mart. Hermann 
Seemann Radfolger, Letpyiq 1903. 

Gine dentide Fran und = friihere 
Katholitin, Was halten die Pro— 
teftanten ven Waria der Butter Jeſuf 
Preis 30 DBF. Edwin Hunge, Gr-« Lider: 
feldesBerlin 1902, 

Ferien · Bilderbuch von Über Gand und 
Meer. Bit 150 Abbildungen ven 
2. Bain Preis 1,50 Mark Deutſche 
— — Berlin, Stuttgart, 


grant *Setevba. Der Trompeter vow 
Baden. Ein Badener Roman. Preie 
3 Svronen. Oſterreichiſche Berlage- 
anftalt Wien⸗ Leipzig. 














KHielliebe, Werthe und Getreue, 
hier durch chun wir Euch allen kund und 

zu wiſſen: es iſt unſer ernſter Wunſch und 

_ Wille, daß Ihe Euc allezeit eynes reynen 

Mundes und gefunder Zaͤhne befleyPiger, denn 

felbe ſynd gleichfam die Grundvefte von des Koͤrpers und Geyftes | 

gedeylicher Wohlfahrt, — daß Ihr infonderbeye ſeglichen Abend vor 


Schlaſengehen die Zaͤhne feyn ſaͤuberlich putzen und den Mund reyn 
machen moͤget, ſo wen beften geſchicht mit dem vieledeten, altruͤmlichſt 


bekannten „Odol 


y welches int ſowohl ir. deutſchem als auch in welſchem 


Zande von jedermann mir Nutzen angewendet und weyt und breyt boͤchlichſt 


gepriefen wird. 










Kleine Mitteilungen. — Anzeigen. 


Scherino’s Makertratt 


tft eit ausgezeichneles Hausmittel sur Kraftiqung fir Aranfe und Hefonvaleszenten und bewahrt fic) vorgiglid ols 
Linderung bet Reigguftanden der Mrinungsoraane, bei Katarch, Keudbulren 2. 


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Schering's Griine Apotheke, sectin w., cyauser-strage 19. 


Ricderlagen in faft ſamtlichen Nyothefen und größeren Drogen-Haudlungen, 


509 





wi. 75 Df. u. 150 M. 
aehort gu Den am leichteſten verdauliden, bie Zaͤhne nicht angresfenden Eiſen⸗ 
mittels, welde bet Ulutarmut (Aleichſucht) ac. verordnet werden. FL D1 u. 2. 

wird mit grokem Erfolge gegen Nhachitts (jonenaunte enalliche Aranfbeit) 

qegeben u, unterſtüht wefentiicy die Mnodenbildung bei Kindern, HL We. 1,—. 










Fuchs, Dr Bernhard, Raifer Wilhelm, | 
Profesor Deligich und die Babvlonijde 
Verwirrung. Preis 90 h = 76 Pf. 
Sechſtes is zehntes Taufend. Werlag 
der Sammlung mobderner Ramp ffdriften, 
Wien AVI, Sternwarteftrafe My 45, 


Gerdes, Marie. Weil ich ibm alles gab. 
Geſchichte einer Liebe. Preis broſch. 
1 Mart. Arel Junker Verlag, Berlin 103. 


Georgy, Ernit, Fraulein Mutter. Cire 
Tendenzroman. 5. Muflage. Preis 
2 Mart, geb. 3 Marl. Ricard Edſtein 
Nadf. (H. RKriiger), Berlin W 57. 


Woebeler, Dorvthee. Weiber. Beitraige 
zur Pfuchologie der Frau. Rarl 
Victor, Caffel 1902. 

Goldftein, Dr Qul., Privatdogent 
an der Techniſchen Hochſchule in Darm⸗ 
fradt. Die empiriſtiſche Geſchichts⸗ 
auffaſſung. David Humes mit Berud⸗ 
flchtigung moderner methodologiſcher 
und ertkenntnistheoretiſcher Probleme, 
Cine philoſophiſche Studie. Preis 
1,60 M. Werlag ber Durrſchen Bud» 
handling, Lelpsig 1903. 

Wubaite, Lotte, Die Bilfteiner. 
Umſchlagzeichnung b, A. Wagner. Rarl 


Bictor, Hofbudhandlung. Cafjel 1902. 
Hartenficin, Anna, Die Freundin. 
Roman. Deutihe  BWerlagsanftalt, 


Stuttgart und Leipaig. 

Heffel, Nari, Deutſches Leſebuch filr 
bobere = =Waodenfdulen. Vorfiufe. 
A. Marcus & G Weber. Bonn 1901. 


Hila, Karl. Giordano Bruno, Gin 
Drama in fiinf Aufzugen. Dito 
Lehmann Verlag Nenatfjance, Schmare 
gendorf- Berlin. 

Hoffmann, Mar. Hochzeitnacht. Ge: 
foicdten in Mol und Tur. Schleſiſche 
Verlagsanfialt von W. Scholtländer, 
Breslau 1008, 

Janitſchet, Maria. Mus Aphroditens 
Garten Bd 1, Malblument. Hermann 
Seemann Radfolger, Leipjig. 

Qanitide?, Diaria, Die neue va. 
Hermann Seemann Racfolger, Leipzig 
1902, 

Judeich, Helene, News Germanien. 
Sutunftsjmwant aus dem Sabre 2076 
in 2 Akten. Hole & Pahl. Dresden 1903. 


Juling, Karl. Eulallas Geſchichte und 
andre Gedichte. Cin Brodexhausgruf. 
& Frobecn, Berlin SW. 1/01, 

ſatſcher, Leopold, Bertha von Suttner. 
Dre Schwärmerin“ fiir Gite, Wit 
Portrats und ciner Ungabl von Ge« 
banfenperlen Preis 0,50 Mart. 

. Veerjon, Dresden 1903. 

Rohu, Albert. Unfere Wobnungs-Cngquete 
tm Jahre 1902. Sm Wuftrag dee Bore 
ſtandes der Ortéetranfenfafie file den 
Gewerbebetrich ber Rauileute, Handels⸗ 
leute u. Apotheter. Berlin 1908, 

Konig, Karl. Am Kampf um Gott und 
um bas cigene Jib. Ernſthafte Plau- 
dereien. Paul Wargel, Freiburg t. By 
Leipzig 1903 

Riilpe, Frances. BWera Minajero. 
Kampfe ciner Mäbchenſeele. Noman, 
Hermann Seemann Nadfolger, Leipzig 
1902. 





there Meochenzchule, Seletta, 


Vorbereitungsklasse fiir das Seminar, 


Lehrerinnen-Seminar mit eigener Ubungschale, 
Vorbereitung zur Erginzungspriifung. 


Turnkurse; 125 romishrecianes 


von Turnlehrerinnen. 
SW., Dessauerstrasse 24 Frau Xlara essing 
(nahe dem Anhalter, Potsdamer 


Vorsteherin. 
und Ringbahnhofe). 


1—2, Freitags 1-4. 
OSOSINENESES 


« « Hlfe Sprachen, » » 
Privafunterricit fiir Erwadtiene. 


Methode und Lebrgang richten fic nad ben jetwciligen Gielen des Schillers, 
i Angeftrebt wird durchgehender Aufbau auf der Lettie. 4 
Schriftliche Welbungen an 

Dr phil. Max Maurenbrecher. 

By Sdjoueberg-Berlin, Brunhildſtraße 8. By 

Dr. Ritschers Wasserheilanstalt, Lauterberg (Harz). 
Sanat. for Nerven-, Frauen-, chr. funere Krankhelten, Erholungs- 

bediirftige, erweitert und neu eingerichtet. Dr. Otto Dettmar. 


Hera HEEEEE 
ise ona onece | DaMEN-Penftonat. 


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WMedaillen, 2 Chrenpreife, 

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Vefeitigg den flarkem | Watlefchetr. 17, 1, dist am YAnbalter 
Leib u. Hiiftem uw. gibt | Baynboj, bietet alteren u. jing. Damen 
cine ftolse, claftifcde | fiir tirgere umd langere eit cimen ane 
Haltung. Vorpiglidfer | genehmen Mufenthalt in der Reims: 
Korjetterjag f.jede Dame. | paupijtade. Monatl. Penfionsprets bei 
Mask: Ne I unter der geteiliem Simmer 60 WL, monatl. bei 
Bruft, IL Hifte gemeffen. | cigerem Simmer v. 75 We. an. Paffanten 

v. 2,50 WE bid 4,50 Dit. p. Tag Penflon. 
Sete Reformbofe Cmpfohlen d. Herrn Paftor Schmidt, 
olue Rlappe. SW. Yortitr. 66 I und Herrn Partor 


. Pless, SW., Zeltower Str. zt IL 
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510 


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toassacre des Olseaux. Appel aux 
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Berlag von Alexander Duncter, Berlin 


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Mobius, Dr PB. J., Nervenaryt in 
Leipzig. Uber den Aopfſchmerz Preis 
1 Mart. Berlag von Karl Marhold. 
1902, ime a. &. 

Ritter, Anna, Margherita, Novelle. 
Dluftriert bon Richard Mahn. Preis 
2 Marl Berlag von Ernjt Keils Rad 
felger, G. m. 5. ., Leipzig. 

Shid, Eugen. Aus ftilen Gaffer und 
von fleinen Lenten. Hermann Seemann 
Nadfolger, Leipzig 1902. 

Schwabe, Jenny. Im feindlien Leben, 
Homan. Pres 3 Mark Hermann 
Seemann Hachfolger, Leipzig 1902. 

Simon, Clifabeth. Der erzgieheriſche 
QWert der Muſik. Preis 1 Wart. 
Preuß & Junger, Breslau 1902. 


Steyreager, Sepp. Die Peri. Noman, | 


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Gedichte. Joſeſ Singer. Strahburg t. Elſ. 
Tiefenberg, Wl. von. Tas Weib. 
Miofterium. Rarl Dunder, Berlin Ww. 
Bolbehr, Lu. Fuͤhre und nicht in Bers 
ſuchung. Hefebichten. Hermann Seemann 
Hachfolacr, Leipzig 1902. 
Wiedemann, Franz. Wie ic meiner 
Kleinen bibliſche Geſchichten erzähle. 
Sdulband 1,40 Mart, Geſchentband 
2 Mort, Neue Bearbeitung 16. Auflage. 
Diit Bildern von J. Schnorr von Carolss 
feld. C. E. Meinhold Sohne, Dresven 
1903. 





Originalresept. — Lom— 
bardiſche Suppe. Fir 1 bis 
2 Yerfonen, in 10 Minuten 


herzuſtellen. Cine balbe Maggi: 
Bouillontapfel wird in reichlich 
Wy Miter fodendem Waſſer yu 
Kraftbrühe aufgeldft. Inzwiſchen 
röſtet man in flacher Pfanne 
3 bis 4 Weisbrotſcheiben in 
Butter, nimmt fie beraus, gießt 
bie Kraftbrühe zu der braunen 
Butter, ſchlägt vorficdtiq 2 bid 
& friſche Cier binein, fo daß die 
Totter gan; bleiben und gibt 
wenig Pfeffer und Sal; dariiber, 
Wenn das Weife anfangt, ſich 
zuſammenzuziehen, nimmt man 
die Pfanne vom Feuer, rührt 
4 bis 5 Tropfen Maggi's Würze 
in die Suppe, taucht die geröſteten 
Brotſcheiben hinein, ſtreut Barme- 
jan: oder Schweizerläſe darüber 
und gibt die ſehr wohlſchmeckende, 


Markgrafenstrasse 20, 


| 








MUNCHEN, Blumenstrasse 49. 


Die armen Handweber Thiringens offerieren: 


Reinleinene Damast-Tischdecken 


mit dem eingewebten Kyffhiuser-Denkmal Kaiser Wilhelms des Grossen. 
Grosse mit geknipften Fransen 170X170 em. 
Preis Mk. 10.—. 


Tischdecken 


mit reizender Kante und mit eingewebter Wartburg 
mit Fransen 175 cm lang und 150 em breit. 
In Reinleinen Mk, 12.—, in Halbleinen Mk. 11.—. 


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mit der Wartburg eingestickt. 
Grosse 160% 160 cm, Preis Mk. 10.—. 
Altthiiringische Tischdecken . 
mit Spriichen cingewebt. 
Grosse 160% 160 cm. Preis Mk. 8.—. 
Altthtiringische Tischdecken 


mit gekniipften Fransen. 
Grésse 160 x 160 cm, Preis Mk. 6.—. 
Diese Decken aus dem allerbesten Material und in wunderhObschen 
Farbenstellungen verfertigt, sind ein wardiger Schmuck for ijedes Zimmer. 
Wir bitten herzlich um gitige Auftrage. gilt es doch, einer notleidenden 
Arbeiterklasse Arbeit und Brot zu verschaffen, 


Thiringer Hand-Weber-Verein zu Gotha. 


Kassel, &vang- Frabel-Seminar 


(vormals im Comeniushause), 


Staatlich konzeſſioniertes Seminar sur Ausbiltung von Tochtern oer gebildcter 
Stunde (16—35 Sabee) ju Erjieherinnen in ber Familie und Leiterinnen vom Kindere 
garten, Horten und anderen Urbeitsfelvern ber Diatonie. Naheres pur dle Leiterin 
Hanna Mecke coder den Vorfigenden des Nuratoriums: Generaljup. Pleitler in Kassel, 


Sanatorium 




















far nervenleidende und 
erholungsbedirftige Damen. 


RGR ,,Meienberg* bei Rapperswil-Jona am dirichsee. 


Dr Siglinde Stier, dirig. Arzt. Natalie Hiller, Oberin. 





ee 4 4 4 44 44 4 4 44 424 De 2 Oe —— 





nabrbafte und leicht verdauliche | 


Suppe fofort in der PBfanne ju 
Tijd. Nimmt man B Eier und 
4 Brotideiben pro Perfon, fo 
ftellt das Gericht cine vollftindige 
Abendmahlzeit dar. A. E. 


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Gesangsciule von 
Emily Hamann-Mlartinsen 


(ehrerin an Prof. €. Bres{auer’s Konservatorium) 


Ausbildung: Oper:, Konzert 
und Salongesang os os os 


Anmeldung: Bilowstr. 88 fiir das Sommers 


<_ 


—— — 





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Stellenoermittiungeregifier 
dee Aligemeinen deutiden 

Kehrerinuenvereins, 
Sentratleitung: 
Berlin W. 57, Culmitrafe 5 pt. 


1, Fur cine fone Radchenſchule in 
Scleſie n wird fiir jofort aefucht eine dltere, 
{chulerfabrene Lebrerin mit ſehr gutem 
Englify und wenn moglich Franzoſiſch. 
Gebalt 14—31500 Marl. File dieſelbe 
Schule cine jiingere Lehrerin file Mittels 
ſtufe mit gutem Franjofifdh. Gebalt 
1200 Wart. 

2. File eine bdbere Wadcbenfdule in 
Oftpreufen wird bis 1. 7. oder 1. 8, 1904 
cine Lebrerin mit qutem Engliſch gejucht. 
Gebalt 12—1400 Wark. 

8. Fur cine höhere Madchenſchule 
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* — 





Juni 1904 








@p '. 11. Jahrg. Heft 9 ah Lio a 









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Berlin S. 





Kaeclene Lange. 


Ver internationale Horizont der Prauenbewegung. 


Gertrud Baumer. 
Raddrud verboten. a 
2 
ie Deutfchen Frauen riijten zum internationalen Kongreß. Bum erftenmale jeigt 
Z ſich unjere verhältnismäßig junge deutſche Frauenbewegung als cin Glied jener 
grofen Gemeinſchaft, die, ein Lebendiges Zeugnis fiir die weltumfajjende Macht 
unjerer Sache, die Frauen der Kulturländer verbindet. 

Man ſchätze die Bedeutung dieſes Schrittes fiir unfere deutſche Franenbewegung 
nicht gering. Sie wird fic) nicht erſchöpfen, ja, fie berubt vielleicht nicht cinmal in 
erfter Linie in den tatſächlichen Ergebniſſen, die ſich aus der internationalen Crorterung 
von Ginjelfragen der Frauenarbeit, der Frauenerziehung, der Frauenrechte ergeben 
werden. Viel gewichtiger erſcheint die Tatſache dieſes Kongreſſes, wenn man ibn im 
Zuſammenhang der Gefamtgejcidte unjerer Bewegung betradtet, als ein Symptom, an 
dem ibr eigentlicher Inhalt, ibve durch nationale Grenjen nicht zerſchnittene Cinbeitlic- 
feit zum Ausdruck fommt. 

Denn es diirfte vielleicht in der Gefchichte der Ideen und der Völker faum eine 
Bewegung geben, die fich aus der Gefamtbeit der fulturellen, d. h. der wirtſchaftlichen und 
geijtigen Bedingungen in allen Landern fo durchaus fpontan entwidelte und dabei in ihren 
großen Sielen folche unbedingte Nbereinftimmung zeigte. Dede fulturgefchichtliche 
Neubildung bat mehr oder weniger ibren Mittelpunft in einem einjelnen Volk gefunden. 
Sie hat den Charafter ihrer nationalen Herfunft auc da bewabrt, wo fie die Grenzen 
ihres Heimatlandes mächtig iiberflutete; fie bat fich auf fremdem Boden nict in gleicher 
Fülle und Reinbeit geftalten finnen. Man denke etiva an die Renaiffance, die von den 
germaniſchen Landern nicht in ihrem eigentliden Sinn, in ibrer edlen menfcblichen 

bo 





514 Der internationale Horizont der Frauenbewegung. 


Alljeitighcit erfaft werden fonnte, fondern bon mächtigeren geijtigen Impulſen in 
Feſſeln geſchlagen, im Dienſt rein religiöſer Bedürfniſſe aufging. 

Anders die Frauenbewegung. — Wohl vermögen wir hier und da Fäden auf— 
zuzeigen, die von Land gu Land geſponnen, auf einen Mittelpunkt guriidfihren. Wir 
jeben die erjten Reime einer ,,Frauenbefreiung” durch den Sturmivind der franzöſiſchen 
Revolution fiber den Kontinent, ja über den Osean getragen, wir erfennen, wie ftart 
die Gedanfen von Bohn Stuart Mill ither die Hörigkeit der Frau die theoretiſche 
Formulierung der Frauenfrage, die Beweisfiihrung in dem Kampfprogramm der Frauen 
in Deutfehland, in Dänemark, in Holland, in Polen beeinflugt haben. Bot dod 
das Bekanntiwerden feines Buches, wie es in Deutſchland durch die Nberjepung von 
Senny Hirſch, in Dänemark 3. B. durch die 1869 bereits erfdeinende Nberfesung von 
Georg Brandes vermittelt wurde, die Ankniipfung fiir cine erfte im ftrengeren Sime 
wiſſenſchaftliche Erörterung des Programms nicht mur nach feiner wirtſchaftlichen Seite, 
fondern nach feinen fozialen und geiftigen Geſichtspunkten. 

Aber fo deutlicd wir in dem grofen theoretiſchen Unterbau, auf den die Frauen: 
bewegung der eingelnen Lander im Laufe der Zeit fics zu ſtützen gelernt bat, die Steine 
erfennen, die aus den Syſtemen der radifalen franzöſiſchen Staatstheoretifer, des großen 
englifden Bhilofophen hineingefiigt find, viel mebr iiberiviegt dod) in jedem Lande das, 
was feine Frauen — und feine Dinner aus eigner urfpriinglicser Erfahrung und 
Erfenntni3, aus eigenem Kraftgefiihl und eigenem Leiden, aus cigenem Ringen um 
neue foziale Anfchauungen dieſem Gedanfenbau gegeben haben. Wenn irgend etwas 
uns von der hijtorifden Notwendigfeit unferer Sache zu überzeugen vermag, wenn 
irgend etwas yu einem unividerleglichen Seugnis fiir fie wird, fo ift es die Tatſache, 
daß wit die Frauenbewequng in einem beftimmten Zeitraum unter den verſchiedenſten 
Nationen, obne dah eine Nbertraqung nachweisbar ware, erwachen ſehen, ja mehr nod, 
daß wir das cinmal aufgeftellte Pringip, die einmal erhobene Forderung aus einer 
inneren Notiwendigheit heraus fic) in der gleichen Weife auf den verfchiedenften Gebieten 
des geiftigen, des fosialen, des politifden Lebens entfalten feben. 

Und wie vollzieht fic) diefe Entwidling? Wir feben, wie in den erften abr: 
zehnten des 19. Jahrhunderts faft iiberall Frauen, im denen die inneren Anſprüche des 
Weibes, der Perſönlichkeit, befonders ſtark und elementar ibr Recht Legebren, zu dem 
Gedanfen erwaden, daß die moderne geiſtige und wirtſchaftliche Cntwidlung der Frau 
Wiirde und Bedeutung nehmen muh, wenn eS ihr nicht gelingt, unter den neuen Bee 
dingungen einen neuen Inhalt fiir iby geiſtiges Leben, ein neues Arbeitsfeld fiir ibre 
Rulturleiftungen ju erobern. Es liegt fiir uns, die wir die Verantwortung fiir unfere Ziele 
mit Millionen teilen fonnen, etwas Grandiofes und jugleich unendlich Ergreifendeds in 
dem Schickſal diefer Frauen. Cie alle, die ſtolze und leideuſchaftliche Idealiſtin Marv 
Wolftonecraft, oder die ,, Mutter der Armen” Laura Mantegazza, oder Mathilde 
Fibiger in Danemarf, begannen den Kampf fiir das innere Heiligtum ibrer Perſönlich— 
feit gegen eine Welt von durd Jabhrtaufende gefeltigten fittlicsen und fozialen Begriffen, 
ohne Abnung von einander, ohne die michtige Stütze, Dem gerade fir fie fo unendlich 
wertvollen Riidhalt der Aberzeugung, nicht allein yu fein. Dede von ibnen bat das neue 
Vand felbit entdbeden, den Glauben an ihre Cache ganz aus eigner Kraft beftreiten müſſen. 
So fimpften fie fiir die Millionen von Frauen, die jest über die Grenzen ibres Bater: 
Landes binweg, ſich die Hand sum fejten Bunde gereicht haben — fiir das, was jest cin 
Maffenideal geworden ijt, allein mit ihrer Perſönlichkeit haftend. 


Der internationale Horijgont der Fraucnbewegung. 515 


Wohl mag der Riickblice auf diefe erjten ein miichtiger Faftor fiir die Nber- 
zeugung werden, daß der tiefite Inbalt der Frauenbewequng, ihr cigentlicher Kern, nicht 
an die Nationalitat gebunden ijt. Klingt dod) über die Jahrzehnte herüber die Runde 
pon der erjten Befeftiqung ihrer Grundgedanfen in einer lebendigen Perfinlichfeit fiir 
die Frauen aller Lander mit faft dem gleiden Klange. Ob eS aus der fittlicen 
Genialität der Marvy Godwin heraus formuliert wird, „wenn die Frau nicht durch 





Marie Stritt, 
Dorfigende des Bundes deutfcher Srauenvereine. 


Erziehung dahin geführt wird, die Gefährtin des Mannes zu werden, fo wird fie den 
Fortſchritt von Kenntnis und Moral aufhalten; die Wahrheit mug allen gemeinfam fein, 
oder fie wird wirfungslos in ibrem Cinflug auf die Geſamtheit“ — ob in dem tiefen 
Sehnſuchtsruf der Mathilde Fibiger „wüßtet ihr nur, was es beift, ein Kind gu fein 
an Berjtand und Erfenntnis, aber begabt mit dem göttlichen Willen und dem Sebnen, 
Göttliches yu ſchaffen“, ob aus dem unflaren Pathos der fimonijtijchen Bewegung die 


bange Frage nad) der „Mutter“ erfchallt, in der die geſchlechtliche Hörigkeit der Frau 
33* 







516 Der internationale Horizont der — 


= fiberwunden fein wird, 06 Rabel Varnhagen in dem ſchmerzlich emp inden 
> ihres außeren Schidfals und ihrer geiftigen Anjpriiche bitter Host, i 
“a unfunde, wenn die Geute fic) einbilden, unfer Geijt fei anders und 
dürfniſſen forftituiert und wir finnten jum Erempel ganz von des 
Sobnes Exiſtenz mityebren”, — in all diefen Zeugnifjen wird das g 
Erleben zur Frage, zur Forderung, zur Sutunftsfebnfucht. 
Und die Gefchichte der Frauenbewegung in den eingelnen Landern 

daß jede Nation, jede Kultur nicht nur dieſe Frage aufzuwerfen, 
dieſe Forderung als ein Ferment für ſoziale Geſtaltungen aufzunehmen 
ſcheint faſt, als ob, nachdem der Gedanke einmal ausgeſprochen war, ganz 
glückliche Umſtände die allgemeinen ſozialen Bewegungen hervorriefen, die 1 
praktiſche Leben binein zu tragen vermochten. Wir denfen daran, wie der ¢ 
der Antifflaverei-Bewequng in den Vereinigten Staaten, wie die fosialen § 
1848 in Deutſchland, die nationalen Unabhängigkeitskriege Italiens, wie das 
liche Erwachen des finnländiſchen Volkes zu nationalem Selbſtbewußtſein d 
rungen det Frau nad) Anerkennung ihrer geiſtigen und bürgerlichen Perfonti —— 
den Kampfplatz der Beit drängten. So ſehr dieſer Zuſammenhang * die 25" 
Frauenbewegung mit den befonderen Kampfen und Schichſalen einer jeden Nation ber 
tniipft, fo febr er dazu gebolfen hat, ihren befonderen nationalen Charatter in d 
einzelnen Ländern zu bilden und auszupriigen, fo deutlich er ums zeigt, daß ſi 
aus dem Boden nationalen Lebens heraus ihre beſte Kraft empfängt, fo far geht 
aus der Verknüpfung des Kampfes der Frau mit dem Kampf moderner, zum demokratiſchen 
Bewußtſein erwachter Volker hervor, daß die Frauenbewegung an einen nicht nur national 
A begrenszten, fondern einen Fortſchritt der Menſchheit gebunden ift, an die Berwick . 
9 lichung eines neuen menſchlichen Ideals: „ein Kulturdafein aller, gegriindet auf das 

Recht der freien Perſönlichkeit.“ 

Wie der Gedanke der Befreiung der Frau und wie feine erjte hiſtoriſche Ver— 
wirklichung in den verſchiedenen Landern Abnlicen Charatter tragt, den gleichen ſozialen 
und geiftigen Grundbedingungen unterjtebt, fo entfaltet fic) auch der Inhalt diefes — 
Gedanfens in allen Landern zu den gleichen praktiſchen Forderungen und Beftrebungen. 
Aud) hier ift der Horizont cin internationaler. Die Begriindung des Wllgemeinen 

deutſchen Frauenvereins ftand unter dem Heiden des Wortes von Augufte Schmidt: 

„Wir verlangen, dah die Arena der Arbeit auch fiir unfer Gefchlecht erſchloſſen werde 

Wir verlangen, dah die Arbeit fiir cine Pflicht und eine Ehre der Frau gebalten 
J werde“; der Name eines der erſten holländiſchen Frauenvereine „Arbeid Adelt“ deutet 
—J auf die gleiche geiſtig wirtſchaftliche Grundlage. Aus demſelben Geiſt heraus ſieht Anna 
Jameſon es als cine unerträgliche Erniedrigung an, dah die Frau nur „als Anhang 
und Rierrat von des Mannes Auferer Crijteny” betrachtet werde, anftatt als „eine 
Gefährtin feines Lebens und alles dejjen, was in dem wabren Sinne diefes Wortes 
beſchloſſen liegt.” 
5: Es entfpricht diefem Bewußtſein, wenn die erften Organifationen der Frauen- 
a bewegung in den einzelnen Landern, wenn dic von Shaftesburb gegriindete Geſellſchaft 
sur Förderung des Frauenerwerbs, der Fredriffa Bremer-Bund in Norwegen oder die 
Arauenerwerbsvereine in Deutſchland yu allererft die Eröffnung einer Reihe neuer Berufe fiir 
die Frauen fic) jum Biel febten. Hier berührte fich überall die biirgerlide Frauen 
bewegung, die faſt in allen Ländern ibren Urſprung bei Frauen hatte, die vom der 









































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Der internationale Horizont der Frauenbewegung. 517 


eigentlichen wirtſchaftlichen Not perſönlich unberiihrt waren, mit dem Schickſal der 
Tauſende, die bereits von der Induſtrie in Beſitz genommen waren. Mberall ftellte 
man Ddiefe Forderung: Erſchließung neuer Berufe, zugleich unter dem Geficht3puntt, 
daß das berangebot ungelernter Arbeit in den niederen ſozialen Schichten gu der 
Frauennot fiihrten, wom der die zu fozialem Bewußtſein erwachte Frau der höheren 
Stände zum erjtenmale mit Entfegen und Empörung RKenntnis nabm. So hat 








Hedwig Heyl, 
Dorfitjende des Berliner Coſalkomitees. 


Laura Mantegazza in Jtalien juerft Die Not der Arbeiterinnen durch Begriindung von 
Vildungstitten, von Genoſſenſchaften zu lindern verſucht, während Luije Otto- Peters 
mit feltenem ſozialpolitiſchem Weithlic von einer Organifation dev weiblicen Arbeit 
gejproden bat. 

Die andere Seite der Befreiung, nach der die in ibren beften Kräften gebundene 
Perjinlicfeit der Frau verlangte, — aud) das wurde in allen Landern gleichmäßig 


empfunden, — lag auf dem Gebiet der Bildung. Was Salvatori Morelli, den die 





518 Der internationale Horizont der Frauenbewegung. 


Frauen Staliens wohl als ibren John Stuart Mill verehren mögen, in feinen 
legten Lebensjabren ausfprad: „Man muß der Frau cine gründliche Bildung geben, 
man muh ibr einen Ginblid in die Gebeimniffe der Wiſſenſchaft vermitteln, injofern 
fie das Verſtändnis der Wirklichkeit ermöglicht und yur Gewinnung einer Welt- 
anſchauung führt“, das vertritt die Franzöſin Maria Desraimes, wenn fie flagt, dab 
bie Frau in der fojialen ArbeitSteilung bisher nod) eine ,verlorene Kraft” jei, dak 
fie nod) Lange nicht alles gegeben Habe, twas die Rultur von ibr empfangen finnte, 
wenn man ihrem intelleftucllen Leben ſeine Entfaltungsmiglidfeiten ſchüfe; und in dem 
gleichen Sinne zieht Luiſe Otto aus ibrer Forderung, dak die Frauen an den 
Anterejjen des Staates teilnehmen follten, zunächſt die Konſequenz auf cine Bildung, 
die ibnen dieje Anterejjen verſtändlich machte. Der Anjpruch der Frau an das volle Bürger— 
recht in dem unſichtbaren Königreich geiftigen Schaffens und Empfangens ijt von den 
geſtaltenden Mächten des 19. Jahrhunderts iiberall, in allen Ländern, und in jeden 
einjelnen unabbingig, zur Geltung gebracht worden; das gibt dieſem Anjprud feinen 
kulturgeſchichtlichen Charafter, feine eigentümliche Berechtigung. 

Die Frau, die im ſozialen Leben, die als geiſtige Perſönlichkeit etwas anderes 
und neues geworden iſt, ſteht auch in der innigſten Lebensgemeinſchaft mit dem Mann 
als eine andere da; was ſie als Menſch gewonnen hat, muß zurückwirken auf ihr 
Daſein als Weib, als Geſchlecht. Schon Mary Godwin hat die Konſequenz aus der 
Umbildung des individuellen Verhältniſſes zwiſchen Mann und Weib ſowohl nach der 
rechtlichen Seite, als nach der fozial-ethijchen gezogen; ſchon fie bat verlangt, daß der 
Mutter das gleiche Recht über ihre Kinder zuſtehen müſſe, wie dem Vater, und die 
Forderung geſtellt, daß die Gemeinſchaft von Mann und Weib auf durchaus freier, 
innerlicher Ubereinſtimmung, nicht auf Unterordnung der Gattin unter den Gatten 
beruhen müſſe. Ihr Zeitgenoſſe in Deutſchland, Theodor Hippel, proteſtiert geiſtreich 
gegen die „Geſetzes-Galanterien“, die die Frauen „ihr Lebelang zur Würde alter 
Kinder erhöhen“ und die Ehe, das „arctissimum vitae commercium™ von vornherein 
unter prefire Bedingungen ftellen. Die erften praftijden fozialreformatorijden Anfänge 
Der Frauenbewegung find in allen Ländern mit einer Agitation zur Verdnderung der 
familienredbtlichen Lage der Frau verknitpft. Schon um die Mitte des 19. Qabr- 
hunderts fand Ddiejer Gedanke in England und Amerika energiſche und erfolqreiche 
Vertretung, und um diejelbe Zeit, da der liberale Abgeordnete Lars Hierta in Schweden 
für die Gleichftellung der Frau als Gattin und Putter wirfte, erhoben ſich die Frauen 
in Frankreich gegen den Code civil. 

Aber wie Mary Godwin, fo hatte aud) die erjte große Frauentonvention in den 
Vereinigten Staaten, die Verſammlung von Seneca Falls, fo hatte eine der 
VBegriinderinnen der Schweizer Frauenbewegung, Marie Goegg, den Gedanfen der 
menſchlichen Gleichberechtiqung der Frau auf dad qrofe und dunfle Gebiet der ſozialen 
Sittlichfeit besogen. ede der Frauen, die den Kampf um die Rechte ibrer Perſönlichkeit 
innerlich durchkämpften, mußte an diefen Punkt kommen, wo die geſchlechtliche Sklaverei 
der Frau ihren ſchärfſten Ausdruck gefunden hat. Hier verkörperte ſich das neue Problem 
in einer ſozialen Anititution, in der DAS Menſchentum der Frau täglich taujendfad 
in den Staub getreten wurde, an der alles idealiſtiſche Streben nach Reinbeit und 
Mdel in dem Verbaltnis von Mann und Weib hilflos zerſchellte. Schon Marv 
Godwin hat mit einer bewundersiviirdiqen Niidbaltlofigteit und dem bellfidtigen 
fittlichen Inſtinkt, der fie ausseichnet, leidenſchaftlich die Forderung gleider Moral 


Der internationale Horizont ber Frauenbewegung. 519 


fiir die Gejchlechter erhoben, weil nur fo der ſittliche Imperativ iiberbaupt als ein 
Imperativ bingeftellt werden inne, und die Schweizerin Lina Bed-Bernard hat, nod 
weiter blidend, ſchon den fozialen Zuſammenhang zwiſchen Frauenlöhnen und 
Projtitution erfannt. Reine dev Fiibrerinnen der Bewegung ijt innerlid) an diefer 
Frage vorbeigekommen, wenn aud mance nod nicht den Mut fand, fie feit ins Auge 
qu faſſen. Selbſt ein-fo fenfitiver Menſch wie die greife Begriinderin der modernen 
engliſchen Frauenbewegung, Anna Jameſon, hat mit feiner Zuriidbaltung, aber mit 
der Aufrichtigkeit, zu der, wie fie fagt, ihr Wter fie herechtigte, ausgefprocen, dah 
das gefährlichſte Hindernid einer gefunden Gemeinſamkeit der Arbeit zwiſchen den 
Geſchlechtern auf dem Gebiete der feruellen Cittlichfeit Tage. 

Und fo war es leicht gu zeigen, in wie taufendfaden Parallelen die Entwidelung 
unferer Bewegung in den verſchiedenen Ländern verliuft und wie der gleiche Grundriß 
der fittlichen Geſamtanſchauungen iiberall ben Beweis Liefert, dah die Impulſe der 
Frauen ihrem tiefften Anbalte nad einem inneren und äußeren Fortſchreiten der 
allgemeinen menſchlichen Kultur entftammen. In der Anerfennung diefes Inhalts liegt 
das Bewuptfein unferer Gemeinfamfeit am fefteften begriindet. In diefem Cinne 
qedeutet, zeigt der internationale Rongref der Frauen unfere Vewegung gelöſt von 
ibren nationalen und hiſtoriſchen Grenzen im Licht der etwigen Werte, die ihr im 
tiefjten Grunde Leben und Wärme gegeben haben. Gr foll uns mehr, als e3 das 
Wort des einjelnen, alS es die ftillgendbrte Uberzeugung der vielen vermag, ein 
Zeugnis dafür fein, daß das befte und das innerlichjte unſerer Gache ihre fittliche 
Berechtigung ijt. . — 

*. 

Die deutſche Frauenbewegung hat ſeit Monaten alles aufgeboten, um dem für 
ſie ſo bedeutungsvollen Ereignis eine würdige Form zu geben. Aber wenn ſie dem 
Kongreß mit der Zuverſicht auf Gelingen entgegenſieht, ſo iſt es vor allem, weil ſie 
das Schwergewicht der geſamten Arbeitsleiſtung nach ſeiner inneren und äußeren 
Organiſation auf die Schultern der Bundesvorſitzenden, Frau Marie Stritt, und 
der Leiterin des Lokalkomitees, Frau Hedwig Heyl, legen konnte. Es iſt ſicher die 
beſte Konſtellation, die die deutſchen Frauen aus den zur Verfügung ſtehenden Kräften 
zu ſchaffen vermochten. Seit Jahren bewährt die Bundesvorſitzende in der Leitung 
eines ſo komplizierten Apparats, wie der zentrale Verband der deutſchen Frauen— 
bewegung ihn darſtellt, ihre ſeltene organiſatoriſche Begabung. Seit Jahren 
repräſentierte ſie für die deutſche Frauenbewegung in gewiſſem Sinn „das Auswärtige 
Amt“ — die verantwortliche Stelle für die „internationalen Beziehungen“. Und wen 
batten wir mit den gaſtlichen Pflichten des Kongreſſes beſſer betrauen können, als 
unſere „erſte deutſche Hausfrau?“ Auf das Wirken der beiden Frauen in unſerer 
deutſchen Frauenbewegung einzugehen, iſt im Rahmen dieſes Artikels nicht möglich. 
Es iſt in dieſer Zeitſchrift (im Aprilheft 1901 und im Aprilheft 1895) längſt gewürdigt 
worden. Aber ein warmes Wort des Dankes für die außerordentliche Arbeit und 
die Verantwortung, die der Kongreß ihnen auferlegt hat, ein Wort auch der Verſicherung, 
wie ſehr die deutſchen Frauen die Bedeutung dieſes Dienſtes an ihrer Cache empfinden, 
fei ihnen auch von diefer Stelle ausgeſprochen. 


——— * 


520 


Ces; Sezession, —<"> 


Bon 


Felix Poppenberg. 


Nadhdrud werboten. 


ie Sezeffions-Ausitellung diefes Jahres ijt die fete in dem fleinen ſchlichten 

Gebius „Unterm Sturmbut’ auf dem Gelände des Welten= Theaters. Die 
Räume find ibr zu eng geworden. Wie jie Fiinftiq ibren Rahmen geftalten wird, iſt 
nod) nicht befannt. Man fann aber wohl annebmen, daß fie das ftrenge und ſachliche 
Prinzip des einfachen lichten, dabei intim geſchloſſenen Raumes wahren wird. 

Das unterfcheidet die Berliner Sezeffion von der Wiener. Die Wiener geben 
durchaus anf die phantafievolle Anterieurivirfung. Jn dem Olbrichſchen Tempel, den 
d'Annunzios Wabhrzeichen, der goldene Granatapfel, krönt, fpielen alljährlich üppige 
deforative Variationen. Nicht das Bild ijt Selbftswed, die Symphonie aus Dede, 
Boden und Wand mit Bilb und Plajtif iſt dad Riel. Dem Geſamtkunſtwerk des 
Raumes dienen die Kräfte. 

Anrequngsvolle Gefchmadsfejte fonnte man in diefen wechſelnden Metamorphofen 
der Interieure erleben. Dofeph Hofmann und Kolomann Moſer ließen bier 
ihre unerſchöpflichen Schmuckeinfälle ſich tummeln. Und die Freibeit der leichten, 
nur für das kurze Leben eines Kunſtfrühlings beſtimmten Improviſation erlaubte 
dekorative Launen, die bei dem gebundenen, feſtgegründeten Hausinterieur nicht 
angingen. Wie hier weißer Putz mit metalliſch luſtrierten Flieſen ſich verband, wie 
aus goldkörnigen Wänden Marmorreliefs leuchteten, wie im weißen Leiſtenwerk der 
ſchmalen preziöſen Türen die Facetten des Kriſtalls funkelten, wie in der winkligen 
Geſtaltung des Saales Kojen zum ruhigen Verweilen mit den tiefen Korbſeſſeln voll 
weichen Linienfluſſes ſich pikant herausſchnitten, wie ein jedes Kabinett durch die 
delikate Farbenſtimmung ein Bild für ſich bot, das iſt unvergeßlich. Aber, wenn man 
aus Berlin oder München kam, dann war es doch auffällig, in welchem Kontraſt zu 
dem hohen Geſchmackswert der angewandten Kunſt die Bilder an dieſen liebevoll— 
nuancierten Wänden ftanden, 

Die angewandte Kunſt ſchien bei weitem zu überwiegen. Auch wenn gar keine 
Gemälde hingen, fo bitte dieſer Rahmen als Ausſtellungsobjekt nichts verloren. 

Im Gegenſatz zu den Wienern wollen nun die Berliner die Scheidung zwiſchen 
den dekorativen Künſtlern und denen, die wirklich Bild und Plaſtik machen. Nicht 
das Schmücken wird bier betont, ſondern die Arbeit. Nicht Schmuckkäſtchen werden 
gebaut, fondern zwiſchen Wanden, die durch nichts ablenfen und nur durch rubige Neutralitat 
wirfen, werden künſtleriſche Refultate gezeigt. 

Reine Hilfsfonjtruftion, feine Phantaſieſtimulanz, feine Suggeftion durch Neben— 
werfe, nur das Werf: VBilde Miinjtler, rede nicht. 


Sezeſſion. 521 


Die Wiener Sezeſſion könnte zum Motto Verſe Hugo von Hofmannsthals aus 
dem „Tod des Tizian“ wählen: 
„Und alle Früchte ſchweren Blutes ſchwollen 
Im gelben Mond und ſeinem Glanz, dem vollen, 
Und alle Brunnen glänzten ſeinem Ziehn 
Und es erwachten ſchwere Harmonien ...“ 

Für unſere Sezeſſion aber gilt das Wort, das die Schwelgeriſchen zum Be— 
ſinnen bringt: Il faut étre sec, und dieſe Parole deutet ja auch die Lebens- und 
Kunſtanſchauung des heimliden Kaiſers der Berliner Sejeffion, Mar Liebermanns. 

In diefer Sachlichfeit, die allein Dem Werf anbangt, fic) nicht an Nebendinge 
verliert und fider ihre Wege geht; die fo in ſich berubt, dah fie im Gefühl ebrlich- 
fonfequenten Wollens, aud den Srrtum nicht fürchtet, pat das Schmuckloſe und paßt 
die gleichmütige Rube, die diefe Gruppe jest in dem tobenden Fehdegeſchrei bewahrt. 
Reine Phraſen von der „Freiheit der Kunſt“ und ähnlich billige Münze wurden bei 
der Eröffnung verſchwendet, fondern der Grundton war: arbeiten und betweifen. 

An Goethes große reife Gelaſſenheit erinnert dag, der auf die Invektiven der 
Briider Schlegel nur fagte: „Wir wollen das alles, wie feit fo vielen Jahren, voriiber- 
geben Lajjen, und nur immer auf dad binarbeiten, was wirkfam ift und bleibt...” 


* * 


Unpathetiſch und ohne Proklamation geben ſich dieſe Ausſtellungen. Die ſie 
veranſtalten, wiſſen ſelbſterkennend, daß ſie nicht in jedem Jahr Ereignis und Erlebnis 
bereiten können. Sie haben zuviel Reſpekt vor allem Wirklichen; bei allem Stolz (es 
iſt kein Hochmut des Könnens, ſondern der Stolz auf ihr unbeſtochenes, vorurteils— 
freies Wiſſen von künſtleriſchen Dingen) verletzen ſie nicht die Beſcheidenheit der Natur 
und prablen mit Unfehlbarkeiten. Die Ernten find verſchieden, aber immer gleich iſt 
das ftrebende Bemühen diefer Riinfrler, die eigene Wrt zu vertiefen und auszuprägen. 
Und immer wieder könnten die Uncinjichtiqen bier lernen, dah Sezeſſion feine Richtung 
ijt, und dak es keine „ſezeſſioniſtiſche Malweiſe“ gibt. Cinjfeitiqfeit des Sebens und 
gleichmäßig patentierte Schönſchrift findet fic) nur bei den ,,Runftbeamten’. 

In der Sezeſſion werden feine Parolen ausgegeben, dah die Baume violett 
gemalt werden müſſen und daß fie nun ,rwieder grün gemalt werden dürfen“, wie ein 
Wighold einmal ſcherzte; bier Fann wirklich jeder, wenn er nur die Fabigkeit bat, feine 
inneren Vorgänge anſchauungsſtark aussujprechen, nad feiner Façon ſelig werden, ob 
er nun nad) realijtijder WirklichEeitstreue ftrebt oder ob ex Vijionen und Träume 
verdichtet, oder ob fich ihm die Erſcheinungen zu Symbolen und Ornamenten wandeln. 


* * 
* 


Die Ausftellung diefes Sommers ijt nicht eine der glänzendſten. Ihr feblen die 
Chef d'oeuvre-Uberraſchungen, die oftmals bier geboten wurden, die Meijterferien, 
wie fie im Winter 3. B. durch die Turners und Wubray Beardsley-Rolleftion feffelten. 
Aber dice Wusftellung bat ein gewichtiges Moment in der vornehmen, felbjtficheren 
Ausgeglidenbheit und Rube, mit der die verſchiedenen Temperamente hier neben einander 
in Farben reden. Neife ſpricht fic) Darin aus, daß gerade jest, Da mande Erbitterung 
beritber und hinüber ſchwingt, diefe Stätte rein gebalten ift vom Demonjtrativen, von 
trogigen Ertravaganzen, von Verblüffungs- und Brusquierungsproduktion. 


522 Segeffion. 


Die CSejeffionijten find feine abfurd fic) gebdrdenden Moſt-Jünglinge mehr, 
fondern ernjte Leute, die wiſſen, was fie wollen, die weder Nedensarten machen, nod 
fid) durch Redensarten einſchüchtern laſſen. Bemerfenswert ift aud, daß diesmal bei 
weitent die deutſche Kunſt iiberwiegt, daß man obne den Abnenfultus der großen 
franzöſiſchen Anreger ecinmal das Gegenwartiqe und Eigengewachſene zeigen will. 

Der Vorraum allerdings ijt gajtlich geſtimmt. Cr ward ju einer Halle der 
Sfandinavier. Und Wace haltend grüßte fie die machtvolle Geftalt de Bogen: 
fpanners von Nicolaus Friedrich, der mit Knie- und Armgewalt und gefammelter 
Kraft fein Werkzeug fich swingt. 

Die Hinterwand fiillen zwei große Bilder, die man mit dem Titel einer Ola 
Hanſſonſchen Novellenfammlung „Nordiſches Leben” nennen finnte. Von Danen find 
fie gemalt. Das eine von dem Ropenhagener Paulfen „In der Heimat”, das andere 
pon Hammershoj „Fünf Porträts“. Paulfens Bild gibt Trink und Gefelligkeitshumor 
einer froben Männergeſellſchaft, Pjolterftimmung, wie fie derb und frohbehaglich in 
Guſtav Wiedſchen Junggeſellengeſchichten fic) regt, — die ,,Sfal“laune der Berbriiderung 
und der Lieder. Es feblt nur die Laute. 

Hammerhoj, der fich bisher in feinen „ſtillen Stuben”, den verblagten altmodiſchen 
Interieurs, worin die Atmoſphäre alter Seiten und Geſchichten ſchwebt, lyriſch— 
ſtaffagelos gezeigt, füllt diesmal ſeinen Raum mit Menſchen. Fünf Männer im trüb— 
ſchwelenden Zwielicht zweier Kerzen, ſchattenumhüllt, bei geleerten Gläſern. Jenes 
andere Stimmungsklima, das oft in Bangſchen Novellen herrſcht, iſt hier zum Ausdruck 
gebracht: das Bedrängte, dumpf Verſonnene. Als ob Laſten drücken, als ob eine 
ſchwere Angſt ſich ſenkt, ſo wirkt dies Häuflein ſchweigender Menſchen. Und dieſe 
Köpfe, die etwas Gedrungenes, gleichſam vom Grübeln Verquollenes haben, etwas 
Geballtes, ſie ſind mit lebendigem Griff aus dem Dunkel modelliert. 

Darüber zieht ſich cin Fried von dem Finnen Axel Gallén. Er gibt in einem 
gewiſſen ethnograpbijd - primitiven Stil Landſchaftsbilder. C3 find Entwiirfe zu den 
Fresten im Maujoleum yu Björneborg. An fic ftehen fie uns vielleicht ferner, aber 
fie baben cine nachdenfliche Bedeutung dadurch, dag fie die Erfiillung eines nationalen 
Auftrags und doch perſönlich unfonventionell ausgefallen find. 


Rody mehr gilt das von einem Werk des Schweizers Hodler im grofen hinteren 
Saal. Es ijt fiir cine Fefthalle beſtimmt und bat eine jo ftarfe raffige Art, wie wir 
fie in unferer dffentlichen Kunſt vergebens fuchen. Es beweiſt, dak aus Patriotigmus 
und Nationalbewußtſein echte Kunft bervorgeben fann, eine Wahrheit, die uns jeit 
Schlüters Großem Rurfiirften und Heinrich von Kleijts Prinzen von Homburg 
verloren ging und die Herr von Werner uns nicht zurück retten Fann. 


Hodler malt den „Rückzug von Marignano”. Die Stimmung Conrad 
Ferdinand Meverfdrer Fresfen liegt iiber diefem Rundbogen, in dem, von Banner 
farbig iiberflattert, tropige Gejtalten dabingichn in gepuffter und geſchlitzter DH 
dunfelbartig oder bartlos, mit dem ſcharfen Schnitt heraldiſcher Wappentrager,, 
klingt in dem Bild, und der Mufrechte, der mit gejpreisten Beinen unerfdiitte 
Boden ju wurzeln ſcheint, mit dem Lanzengriff voll Todesitirte, alB mF” 
den Rückzug decken, iſt fein Gerold. Cine feltene Miſchung de3 Menfebf 
Gropitilifierten (,,Helvetia ſei's Panier“) ftedt in dem Werk. sf 


* * 
* — 













Sexeffton. 523 


Zwei Stärken der Sezefjion find immer die Landfchaft und das Portrait. 

Die Meijter der Landſchaft jind Liebermann und Leiftifow. Liebermann bringt 
wieder cing feiner oft bebandelten Lieblingsmotive: Reiter am Strand. Unendlicher 
Hintergrund, und auf ſchmalem Scheideſtrich Bewegung der Menſchen und Pferde. 


Diejer Rbvthmus, das Flutende, Rollende, zu dem Staccato des Rofjetrabs, 
fodt das ſprühende Temperament Liebermanns immer wieder: es ſchlug mein Herz, 
geſchwind zu Pferde, und die weife, belle, endloje Weite umfpielt aufléfend die Konturen, 
Dies huſchig, im Hauch feftyuhalten, die „unendlichen Schdpfungen des Augenblicks“, 
wie fie von Licht und Luft, von allen Refleren in ewigem Wechſel gedichtet werden, 
der Natur yu entreifen, das ijt das Wejen des Ympreffionismus und darin liegt feine 
erregende Wirfung. 


Erſtaunlich iſt das aud) in den badenden Jungen am Strand erreidt. Das 
Gewimmel und Durceinander der Figuren, alle in der Unruh und Haft des Angiehens, 
fonne-iiberflimmert, in blendender Helle ſchwimmend, wirft frappant. 

Diefer jähen, zuckenden, fajt raubgierigen Leidenſchaft, fics Beute im Fluge einzu— 
fangen, ftebt die traumerifde Verjonnenbeit Leiftifows gegeniiber. Abn reizen nicht 
die Menſchen, er fucht in der Natur die „große Stille’. Und im andidtig 
qefammelten Schauen verlangt ibn weniger nad dem im Flug erbafdten und im Blitz 
des Pinfelftrichs wiedergegebenen Uusdrud, fondern er wird gum Bildner; er raubt 
die Landſchaft nicht, er verjenft fic) in fie und prägt fie fid) aus. Dadurch fommt 
in feine Bilder etwas CStilifiertes. Cr gibt nicht die „unendlichen Schipfungen des 
Augenblicks“, ibn reizt es, mehr das innere Geſicht, die Seele eines Naturausſchnitts 
zu treffen, er bordt binein; die heimliche Melodie will er fich einfangen und den 
Wald mit den Organen eines Sonntagsfindes ſehn. Liebermann bat die überſcharfen, 
qewedten Sinne, die Witterung des Clementaren und aller Phänomene der Freiluft, 
er nimmt fie faclics, nur vom Furor des Croberns und Beſitzens beſeſſen; Leiftifow 
empfängt die Ericeinungen in einem mitſchwingenderen Gefiibl, dem jeder Cindrud zu 
einem Seelenzuftand wird. Yiebermann identifiziert fics, foweit das einem Temperament 
möglich, mit der Natur; Leijtifow fiebt in iby Spiegelungen feines inneren Wefens, 
feine Landſchaften find Gefühlslandſchaften. 

Mit moderneren, nuancierteren Mitteln ſpricht er aus, was die lieblich-einfältige 
Snnigteit Hans Thomas in deutfden Wäldern mit feiner einfaceren Seele 
empfand. 

Sein herzliches Bild „Träumerei an einem Schwarzwaldſee“ hängt hier altdeutſch— 
kleinmeiſterlich unter den Werken der Jugend, ein Volkslied aus des Knaben 
Wunderhorn. 

Sicherer Gefühlstakt gehört dazu, die reale Naturwirkung zu malen und gleich— 
zeitig ſymboliſche Stimmung auszudrücken. Die Stimmungswirkung muß indirekt 
kommen, ſie muß im Bilde latent enthalten ſein und unbewußt ihr Fluidum ausſtrömen, 
ſonſt begibt ſich fatal ſtatt echter Stimmung Stimmungsmacherei. Das zeigt ſich in 
Martin Brandenburgs „Sommertag“. Cin mächtiger, vielfältig veräſtelter Baum wird 
vom Sprühfeuer der Sonnenſtrahlen durchflammt; ein ſchönes und reiches Thema voll 
lebendiger Fülle und an ſich poeſievoll genug. Die heimliche Poeſie des Bildes zerſtört 
der Maler dadurch, daß er in zudringlicher Perſonifikation die Sonnenſtrahlen als 
Elfen leibhaftig darſtellt, die durch das Gezweig flettern. Durch dieſe allegoriſierende 


524 Sexeffion. 


und fommentierende Beigabe beſchränkt Brandenburg das freie Spiel der Phantaſie, 
dads ſich vielleicht ju nod) reicheren Sonnenmarden an dem Bild entziinden könnte, und 
nun wirkt es in feiner gewollten und unterſtrichenen Poeſie alt. 


* * 
* 


Das Wejentlice diejer Ausſtellung findet fich im Saal der Bildniffe. 

Cr ijt international. Cine erlefene Vereinigung von Menſchendarſtellern bringt 
er jujammen. 

Von Whiftler feffelt hier eine efpritvolle Charafterijti€ de3 Schriftſtellers Duret, 
ein Zeichen der Revanche fiir das feinfühlige Verjteben, das diefer Delifate den Bildern 
des Künſtlers, vor allem dem der Mutter im Luremburg, gezeigt batte. 

Das lebensgroße Portrait im ſchmalen Format trifft die Mifehung des Mondänen 
mit dem Geiſtreich-Künſtleriſchen: der Kopf mit den verfonnenen feinen Augen und 
dem geiftigen gefammelten Ausdrud und die Erſcheinung im Evening dress, den 
Damen-Sortie über dem linfen Arm und den Facer Madames in der Hand, Cin 
Caufeur, ein fouverdner Geijt in der Atmoſphäre der grofen Welt, wie es Whiitler ſelbſt 
war und Osfar Wilde, fteht lebendiq vor uns. 

Ihm gegeniiber fpritht das funkelnde Tangfeuer bes Mariettabildes vow Mar 
Slevogt. Welt und Boheme vis-a-vis. C8 ijt das fascinierendjte Stück diefer Aus— 
ſtellung. Slevogt, unfer leidenſchaftlichſtes Noloriftentemperament, hat in diefem Motiv 
der tanjenden Rreolin in verſchleierter, umwölkter Cabaretluft ein Motiv gefunden, 
das fajt nod) danfbarer fiir ihn war, als das Raketenfeuerwerk feiner Don Juan: 
Andrade-Bilder, in denen es wetterleuchtet wie im Champagnerlied. 


Marietta de Rigardo, die frappante Crinnerung unferer RKiinjtlerredouten, 
ijt bier in Tarantellaftellung gefapt. Auf dem biegſam-geſchmeidigen Körper wiegt 
fic) verwegen der dunfle Kopf mit dem briinetten, pifant gefdmittenen Geſicht. Cin 
blaued Kleid rinnt flüſſig an ihr nieder und verſchwimmt mit den Farben des Teppichs, 
und daritber riefelt dad leuchtende Gelb eines Crépe de Chine-Shawls. Mus dem 
Hintergrund tauchen verſchwommene Geftalten, darunter der Mandolinenfpieler. Boll 
Vibration ift hier die Stinunung einer phantaſtiſchen Großſtadt-Nachtilluſion gebannt. 

Herbe, mit ftrenger Hand und ernſten, ſchmalen Lippen erfcheint gegen fold 
tempérament lumineux die künſtleriſche Phyſiognomie des Holländers Jan Beth. 

Er ijt in jeiner Menſchendarſtellung pergamentenclapidar wie cin alter Meijter. 
An Holbein denkt man vor diefen unerſchütterlich gemeifelten Gefictern. Das 
eigentlich Maleriſche reizt ibn weniger, als die Prägung. Nicht die Impreſſionen des 
Momentes loden feinen auf das Stetige und Bebarrende gerichteten Sinn. Die 
Perjonlichfeit will er bannen, vom Zufälligen losgelöſt, als gälte es cine Medaille 
fiir die Nachwelt zu jifelieren. Die Geſichter alter Menſchen, die von Sdchidjals- 
und Zeitrunen beſchrieben find und die ſchon in die Ewigkeit ſchauen, gelingen feiner 
Wrt am beften. Er ijt ein tiefer Nachzeichner der Furchen und Runzeln, und in feiner 
Wiedergabe wird diefe Handſchrift voller Rätſel beredt und deutſam. 

Noch manches Abbild feljelt in diefem Saal: Krovers Jonas Lic, gebalten, mit 
dem etwas fiuerlichen Theologengejicdt und dem Pajtoren-Barett fiber Büchern und 
Papier; Werenſkiolds Edvard Grieg unter dem blühenden Baum, in die Luft bordend, 
voll Waldweben und muſikaliſcher Empfangnis; Zorns lebendiqes Frauenbildnis; de 
ſpitzbübiſche, luſtig-freche Naſe der Tint Senders, die Dev ungefiige Louis Corinth in 


Sezeſſion. 525 


guter Laune eingefangen und zugleich mit dem karikaturiſtiſchen Coupletgeſicht in 
feſchem Strich verewigt; Dora Hitz' Kameenporträt der Frau Eleonora von Hofmann, 
Stefan Georgiſch, antiliſch geſehen, als ſchaute ſie vom Söller auf die Citta morte 
und rezitierte den Geſang der Antigone; v. Königs eigenartige Auffaſſung des jungen 
Herrn im Aſtheten-Rock, halb ſitzend auf dem altertümlichen Clavicembal mit der 
lyraförmigen, aufſteigenden Riidwand, ein Bild, das ſich natürlich gibt, ohne der 
bei dieſen Requifiten nabheliegenden Gefabr des Stil-Snobismus ju verfatlen. 
* +e 
* 

Im freien Schlendern durch die lezten Räume mag nod einiges notiert werden. 

Zwei Franzoſen halten den Blick feſt: Cottet und Simons. Cottet mit dem 
ländlichen Feſttag in der Bretagne: Bäuerinnen, geputzt auf dem Feld hockend vor 
der ausgebreiteten Kaffee- und Obſtmahlzeit, voll Kraft der farbigen Flächen, des 
Blau und Griin der Koſtüme, das in den Farben der verſtreuten Früchte wieder— 
flingt, und des blendenden Weiß der gropen Gauben, das mit dem das Gras 
bededenden Speiſetuch forrefponbdiert, Simons mit jeinem dem leiden lima 
angeborigen Enfemble: Bretonen in der Meſſe, voll wuchtiger Cnergie der Gefichter, 
fanatiſch und ebern entſchloſſen, als ginge es in einen Glaubensfrieg. 

Gute Plaftifen find mit fparjam-weifer Ausleſe verteilt. 

Ru Simons Bretonen ftimmt die Bronze des normiinnifden Fifeher3 von 
Oppler (Paris). Voll Wucht und Beredfamfeit ijt fie geballt, Deuniers und Roding 
Schule merft man ibr an. 

Bernhard Hötger, der Künſtler impreffionijtifder Kleinplaftif, der fich bisher 
meiſt in Parifer Straßentypen verfucdt, als Gil Blas der Sfulptur, als Charafterijtifer 
der Camelvots und der Cri de Paris, erprobt jest Frou-Frou-Technik. Dem graziöſen 
Desjean, de Feure und dem Fürſten Troubegfoi eifert er nad in der vehement 
qeqriffenen Statuette der fibenden Dame, die von dem Schleppen- und Volantgewirbel 
ihres Kleides umrauſcht wird wie von koſigen Wellen. 


Mar Krufe jtellt eine Holjffulptur eines befannten Berliner Publizijten aus, 
die zeigt, Dah der Kiinftler fein Schönredner ijt; er geftaltet mit ihr eine Kreuzung aus 
Uzanno und Schider von unbeimlicher Lebendigfeit. Weniger gliidlid) aber wirkt 
feine Gingebung fiir die Biijte des ReichShanfprafidenten Dr Kod. Es ijt Stil 
vergreifen, den kurzhalſigen, bürgerlichen Bonhommefopf diefer Heinen Exzellenz auf 
einem monumentalen Marmorgrundſtein aufzupflanzen. 

Rum Verweilen laden die fein empfundenen, weid aus ibrer Fläche aufwachſenden 
Reliefs der Dubvisfdren Plafetten, vor allem der Platte les lys, ein. 

Nur fliichtig fann jun Schluß auf die Gruppe der ornamentalen Künſtler bin: 
gewiefen werden, die aus den Lebenserjdeinungen der Dinge und Menfden das 
Deforative herausſchmecken und es zierlich umſchreiben. 


Eine kareſſante Hand für ſolche Kalligraphien und Miniaturen beweiſt Karl 
Walſer. Feine Bildchen zeigen ſeine Art. Ein Medaillon „Am Fenſter“ im Somoff— 
genre als preziös-altmodiſches Echo du temps passé, mit Tränenweiden tn der 
ziſelierten Perljcbrift, die man aud) bei Aubray Beardsley findet; dann die Perfpektive 
einer Strafe im Schnee mit Laternen, mit fubtiler Feinſchmeckerei in der Verengung 
der Parallelen, die wie cine Linienvignette wirfen. Der Meijter folder Kunſt aber ijt 


526 , Die Frau ale Biirgerin. 


der Münchner Strathmann. Gr arbeitet mit der Qutveliertednif de Gentile da 
Fabriano, er ift ein ,ftiller Goldſchmied und filberner Filiqranarbeiter”, doch das 
Endziel des minutisjen Baſtelns ijt die Parodie. Gier fehen wir von ibm ein Panorama 
deS heiligen Franziskus von Aſſiſi, der den Vögeln predigt. Gin gefprenfelter Farben: 
teppich voll raffinierter Primitivitit, groteske Starrbheit in dem hölzernen, frommen 
Mann mit dem Sperrmund unter dem Heiligenfehein, und byzantiniſch-heraldiſch das 
Getier in den gelb und grünen Blumenjtricen. 

Dock zwiſchen den Stämmen glaubt man dad ironiſche Geficht eines modernen 
Weltfindes ju feben. Er felbjt wie fein Held — ein fonderbarer Heiliger. 


Vie Brau als Birgerin. 


Bon 


Helene Tange. 
Nachdruck verboten. 


{8 in den dreifiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts — ſo berichtete 

(~@ fiirslic) cinmal eine Roti; in einer Fachzeitſchrift — die Cifenbabn Nirenberg: 

Coe? Fürth gebaut werden follte, wurde das Königlich Bayeriſche Medizinalfollegium 

um ein Gutachten gebeten. Die Manner der Wiffenfehaft erflarten fic geqen die 

Cijenbahn. Cie meinten, daß die raſende Fahrgeſchwindigkeit Gebirnfrankheiten zur 

Folge haben müßte. Dedenfalls empfahlen fie, lings der Bahn auf beiden Seiten einen 
zehn Fup hohen Bretterzaun aufjufiibren. 

Die Anfänge der deutſchen Frauenbewegung bieten mand cine Parallele yu diejer 
Geſchichte. Es war faum ein Jahrzehnt fpater, als Louife Otto zum erjtenmal in den 
Rampf der Zeit um ein neues ſoziales Ideal den Gedanfen hineimvarf: „Die Teil: 
nabme der Frauen an den Intereſſen des Staates ijt nicht allein ein Recht, fondern 
cine Uflicht der Frauen”. Dah auch diefe Forderung einer neuen Zeit von den Mannern 
der Wiſſenſchaft als eine Gefabr fiir die Volksgeſundheit betrachtet wurde, das zeigt 
die Außerung eines unferer befannteften Hijtorifer, der rückblickend jene erjten Anfänge 
zu betverten hatte. Heinrich von Treitſchke erflirt fie lediglich aus der „wachſenden 
Zahl der unbefriedigten, der franfen und nervijen Frauen” und kennzeichnet die Frauen: 
bewequng als einen Ausdruck der Entartung mit den Worten: „Ganz wie einjt in den 
Seiten dev Sittenverderbnis de3 Flaffifden Wtertums jtieqen aus dem Schlamme der 
Nberbildung die Lebren der Weiberemanjipation hervor.“ 

Nicht fo febnell wie in der Verfebrstechnif ijt man in der Frauenbewegung von 
den diijteren Prophezeiungen und rein theoretiſchen Erörterungen zu rubigen praftijeben 
Berfuchen iibergegangen. Heute braujen auf unfern Schienen ſchon die erften elektriſchen 
Fernzüge dabin, ohne dah fic) die Bretterzäune als notwendig herausgeſtellt haben. 
Auf dem Gebiete der Frauentätigkeit qibt es allerdings nod) Bretterzdune genug. Dennod 


Die Frau alé Biirgerin. 527 


fann man beute fagen, daß in allen ernft yu nehmenden Rreifen an die Stelle vor- 
eiliger Verurteilung cine rubige, fachlide Betrachtung, eine Bereitwilligkeit yu praftifden 
Verſuchen getreten ijt, dba das Thema: „Die Frau als Biirgerin” auf eine vorurteils- 
loſe Erwägung rechnen darf. 

Wenn ſich ein ſolcher Wandel der Überzeugungen auf geiſtigem Gebiet vollzieht, 
ſo kann das nur zum Teil auf eine Propaganda des Wortes zurückzuführen ſein; 
es beweiſt, daß die Wucht unumſtößlicher Tatſachen ein Verharren bei anerzogenen An— 
ſchauungen unmöglich gemacht hat. Eine Kette ſolcher Tatſachen zeigt die Geſchichte 
der Frauenbewegung in allen Kulturländern; ſie liegen auf geiſtigem, wirtſchaftlichem 
und ſozialem Gebiet. 

Wenn wir die Entwicklung unſerer Bewegung zurückverfolgen bis auf ihren 
Urſprung, d. b. bis in den Gedankenkreis der einzelnen Frauen, die unſeren Forde— 
rungen zuerſt Wusdrud verliehen haben, jo feben wir die Erkenntnis von der Gebunden— 
eit der Frau bhervorivachjen aus der geiftigen Bewegung, die unferm modernen 
Denfen den Stempel auforiidt. Sie vereinigt das ſchönſte Erbe unſerer reicen 
klaſſiſchen Zeit, die Uberzeugung von dem Wert der freien, nach allen Seiten ſich 
entfaltenden Perfintlichfeit, mit dem fozialen Gedanfen, dak jeder Kraft dle Mög— 
lichfeit ju folder Entfaltung gegeben werden mus. 

Friedrich Naumann bat in feinem Vortrag „Die Frau im Majfchinengeitalter” ') 
kürzlich auch den Zuſammenhang diefer beiden Gedanken mit der Entftehung der 
Frauenbewegung bervorgeboben. Freilich, wenn er die Gefchichte diefer Bewegung 
befjer gefannt, wenn er fich nicht iiber die hiſtoriſche Aufgabe feines Themas mit der 
etwas allzu legeren Wendung „ich fann gefdichtlich gar nicht feſtſtellen“ hinweggeholfen 
bitte, fo hatte er feben miiffen, daß die Erfenntnis einer wirt{dhaftliden Frauen: 
frage dicfe Perfinlichfeitsanfpriidse der Frau bet ihrem erften Auftauchen nocd) eines: 
wegs begleitcte, — 

Einer Krajt, der Lis dabin die Möglichkeit zu voller Entfaltung verfagt war, 
werden fic) alfo die Frauen bewuft. Und mit diefem Bewuftwerden vollzieht fich 
notwendig der Bruch mit der allgemeinen Anfchauung, dah ihr Weſen um fo edfer 
fei, je weniger es vom Unbewuften, Juftinftartigen eingebüßt babe. Aus der bungernd 
geſuchten und erfimpften eigenen geiftigen Kultur erwächſt ibnen die Uberzeugung, daß 
die Seele der Frau fo gut wie die des Mannes nur durch allfeitige Bildung zu voller 
Rraftentfaltung gelangen Fann, Und darum wird ausnahmslos in allen Kulturlindern 
der erfte Kampf der fiibrenden Frauen um Bildungszwecke gekämpft. Er bat iiberall da, 
wo nicht dufere Macht Cinbalt gebot oder die Entividelung wenigſtens hemmte, un- 
erwartet ſchnell zu überzeugenden Ergebniſſen gefiibrt. Das erfolgreich durchgefiibrte 
Univerfitatsftudium fo vieler Frauen, Doftorpromotionen und Profeffuren, die praktiſche 
Bewährung der Frau in fo manchem wiffenfchaftlichen Beruf bewies wenigitens, dak 
die Bebauptung von der abfoluten, naturgewollten geijtigen Inferiorität der Frau der 
Wrundlage enthebre, dah fie bei gleichwertiger Vorbildung die geiſtige Leiftung des 
Durchſchnittsmannes durchaus zu erreichen vermige. So mance litterariſche und 
wiſſenſchaftliche Leiftung bewies nod) mebr. 

Seiftige Kultur als Selbjtswed freilic) hatte wobl kaum ein treibendes Motiv 
fiir Die qroBe Menge der Frauen werden können. Auch die Bildungsheivegung, ftebt 


) Rerlag ber Freiftatt, G. m. b. H. Miinden. 


a ew ger ee 


528 Die Frau als Biirgerin, 


da, wo fie fic) praktiſchen Zielen zuwendet, ſchon unter dem zwingenden Drud wirt- 
ſchaftlicher Urſachen. Die Umwandlung aller Produftionsverhaltnijje, die Entwertung 
der Frauenhausarbeit und Handarbeit, die damit gufanumenbingende Loslöſung Taufender 
‘pon Frauen aus dem ſchützenden Familienfreis, das Clend der ungelernten Frauen, 
deren ſich die Induſtrie bemächtigt, alle dieſe Tatfacen in ibrer harten Unabänder— 
lichfeit find der Menge weit veritindlider und eindringlider als der Bildungshunger 
der einzelnen. Der Kampf der Frau um Berufafreibeit und Berufsbildung, der 
Kampf um den Broterwerb, den. die Verhältniſſe ihr unentrinnbar aufdrangten, bat 
guerft ben Gedanfen der Frauenbewegung eine gewiffe Popularitat verſchafft — ſelbſt— 
verſtändlich nur niemals bei den Angehörigen der Berufstlaffe felbjt, um die der Kampf 
gerade entbrannt war. 

Heute nehmen an der geiftigen und materiellen Produftionsarbeit der Gefamtheit 
viele Millionen von Frauen teil. Von den 21 Millionen Erwerbstitiger im Deutſchen 
Reid) Hilden die arbeitenden Frauen den vierten Teil. Qn wie weit das, vom volks— 
wirtſchaftlichen und kulturellen Geſichtspunkt betrachtet, erfreulich ijt poder nicht, mit 
diefer Frage haben wir es hier nicht yu tun. Für die Erdrterung des Themas ,,Die 
Frau als Biirgerin” haben wir uns nur die Tatſachen zu vergegentwiirtigen, dah diefe 
Millionen von Frauen den wirtſchaftlichen Kampf unter genau denfelben Bedingungen 
qu führen baben, wie der Mann, dah ihre Yntereffen ebenſo unmittelbar mit der 
Entwidlung des öffentlichen Lebens zuſammenhängen wie die feinen. 

Die dritte Kette von Tatfacden, die dem Thema ,,Die Frau als Biirgerin” 
heute eine durchaus praktiſche Bedeutung geben, liegt auf ſozialem Gebiet. 

Man hat bas 19. Jahrhundert, befonders in feinen legten Jahrzehnten, 
bezeichnet als die Epoche der CEntwidlung de fozialen Gedanfens. Worin 
dupert ſich diefe Cntwidlung? Augenſcheinlich in einer völlig veranderten Auffaſſung 
und Geftaltung der fogialen Arbeit, d. h. der Fiirforge für die, denen die wirtſchaft— 
liche ober fittliche, die körperliche ober geijtige Kraft zur Selbjthilfe feblt. Während 
fie früher der nad) aufen bin verantwortungslofen, nad) Neiqung und Willfiir geiibten, 
nur auf dem perſönlichen Pflichtbewußtſein berubenden Wobltatigheit des einzelnen 
iiberlafien war, wird fie nun mebr und mehr in den Pflichtenfreis der Gemeinſchaft 
hineingezogen; fie wird damit eine auf rechtlicher Grundlage geiibte, feltgeregelte 
Tätigkeit öffentlicher Körperſchaften. 

Bei dieſem Umwandlungsprozeß hat man zunächſt die Frauen ausgeſchaltet. 
Dieſelben Frauen, die als Angehörige der kirchlichen Gemeinden oder freier Ver— 
einigungen oder auch in privater Tätigkeit einen — ja man darf wohl ſagen, den 
Hauptteil der ſozialen Fürſorge geleiſtet hatten, hielt man nicht für fähig, dasſelbe 
als Vertreterinnen öffentlicher Körperſchaften zu tun. Go blieb manches ungetan, 
was nur durch Frauen getan werden konnte. Eine Geſchichte, die eine kürzlich ver— 
ſtorbene Vertreterin der engliſchen Frauenbewegung, Frances Cobbe, von ihren 
Beobachtungen in der engliſchen Armenpflege erzählt, könnte wohl als typiſch für 
dieſen Stand der Dinge, fiir das vollſtändige Fehlen des mütterlich-frauenhaften Ein— 
fluſſes auf dieſem Gebiete dienen. Sie ſaß in der Säuglingsabteilung eines kommunalen 
Armenhauſes, zu deſſen Beſuch fie ſich als Privatperſon die Erlaubnis mühſam erkämpft 
hatte. Da öffnete fic) die Titr, und eine ganze Kommiſſion von etwa zwei Dutzend 
Herren marſchierte herein, um zu „inſpizieren“. „Es ijt mir niemals beſchieden gewejen, 
etwas Hilfloferes und Abſurderes zu fehen”, meint Miß Cobbe, „als dicfe männlichen 


Die Frau als Biirgerin, 529 


Sachverſtändigen‘, wie fie ſcheue Blide auf die kleinen Wiegen warfen, denen feiner 
nabe zu fommen wagte, wabrend alle die aus dem Schlaf gewedten Säuglinge ibnen 
im Chor entgegenfdrieen.“ 

England ijt eins der erften Lander gewefen, in denen ſolche Szenen zur Un— 
miglicdfeit wurden. Auch in allen fibrigen Kulturländern — aud) bei uns — ift man 
wenigitens auf dem Wege, ſolche Szenen zur Unmiglichfeit gu machen. Der Dank 
dafiir gebiibrt in erfter Linie den Frauen, die mit aller Energie dafür eingetreten find, 
der Frau in der neu organijierten fozialen Fürſorge die alte Bedeutung wieder zu 
etringen, ja mehr: die fie vom blofen Handlangerdienft 3u einer Mitarbeit führen 
wollten, bet der ihre Cigenart den Geift des fozialen Lebens mitzubeftimmen vermag, 
Diefer Dank gebiihrt in zweiter Linie den Männern, die Cinficht genug befafen, dem 
durch nichts gu erſetzenden Einfluß der Frau Naum zu ſchaffen. 

Stellen wir uns nad diefen Ausfiihrungen nochmals vor die Frage, warum hat 
das Thema ,, Die Frau als Biirgerin” heute ein praktiſches Intereſſe, fo heißt die Antwort: 
weil die Frau heute tatjadlid ſchon Biirgerin ift, weil fie unter dem Cinflug der 
qeiftigen und der wirtſchaftlichen Entwidlung aus der Unſelbſtändigkeit ibres geiftigen 
und wirtſchaftlichen Daſeins berausgetreten ift und teilnimmt an der ideellen und 
Kfonomifchen Arbeit der Gefamtbeit, weil fie auf dem Gebiet der fosialen Arbeit 
bereits begonnen bat, die Aufgaben mit zu übernehmen, die der Gefamtbheit als Pflicht 
gegen den einzelnen offiziell zufallen. Ob diefe Tatſachen diefem oder jenem gefallen 
oder nicht, ob man die Seiten zurückwünſcht, in denen die Frau mit ibrem ganjen 
Lebenskreis in keinen unmittelbaren Beziehungen zur Offentlichfeit ftand, das läßt die 
Sachlage ſelbſt natürlich gan; unangetajtet und wird aud) ohne Einfluß auf die weitere 
Entwidling bleiben, die von inneren und äußeren Kräften, nicht von frommen 
Wünſchen abhängt. Es fcheint überdies eines Volfes, das den Mut feiner Zukunft 
haben follte, wenig witrdig, durch fentimentale Pflege eines nicht mehr zu verwirklichenden 
NdealS fic) über die Anforderungen diefer Zukunft abjichtlich yu täuſchen, ftatt in der 
Gegenwart ſchon gejunde Vorbedingungen dafiir zu febaffen. Wir jtehen — das mus 
jedem rubigen und vorurteilslofen Beobadjter Ear werden — am Anfang einer 
Entiwidlung, auf deren Fortſchritt alle Triebfrifte unferer Zeit mit Raturnotwendigfeit 
hinwirfen. Cie wird die Frau immer mebr in da8 öffentliche Leben hineinführen. 
Soll dieſe Entividlung ihr felbjt und der Gefamtheit zum Segen werden, fo muß die 
Rechtsordnung des Hffentliden Lebens fie auc) als Biirgerin anerfennen. Daf das 
Recht Ginter der lebendigen Entwidlung zurückbleibt, ijt eine gang triviale Wahrheit. 
Gefchiebt das aber in dem Sinne des Wortes , Vernunft wird Unjinn, Wobltat Plage” 
dann entiteht zwiſchen den Fordernden und den immer wieder Abweiſenden eine 
Spannung, die dem Kampf ums Recht jene unerquidliche Form verleibt, von der wir 
aud) in der deutſchen Frauenbewegung zu fagen wiſſen. Wenn wir Arbeiterinnen 
ohne Vertretung im Geiwerbegericht haben, Geſchäftsinhaberinnen, die von der Borie 
ausgeſchloſſen find, UWbiturientinnen, die nicht immatrikuliert werden können, Lebrerinnen 
ohne das Recht dex an den Amtscharakter geknüpften Vertretung in der Schulverwaltung, 
Armen: und Waijenpflegerinnen ohne Stimmrecht, wenn gu einer Zeit, wo die forporative 
Intereſſenvertretung eine Form des Sffentlichen Lebens geworden ift, die Frauen unter 
cin ſchon zur Seit der Begriindung veraltetes Vereinsrecht geswungen werden, wenn, um 
es kurz zuſammenzufaſſen, die Frauen auf dem Wege gum vollen Bitrgerredt, d. h. der 
ſelbſtändigen Vertretung in Gemeinde und Staat trog eines durch cin halbes Jahr: 

34 


530 Die Frau als Biirgerin. 


bundert gefiihrten aufreibenden Rampfed erft die erjten beſcheidenen Zugeſtändniſſe 
erzwungen haben, fo liegt darin eine Berfennung ihrer heutigen Lebenshedingungen, 
die ihr RechtShewuftfein auf dad ſchärfſte verlegen mug. Um fo mehr als ein Blid 
auf die Verhältniſſe anderer Kulturitaaten ibnen zeigt, wie viel ſchneller der Gerechtigkeits— 
ſinn der Bevölkerung dort dem Wppell der Frauen Gehör gegeben hat, ohne dag es 
erjt der Berufung auf Leijtungen bedurft hatte. 
* * 
* 

Diefer Blic auf andere Lander ijt fiir jeden, der fic) mit der Frauenbewegung 
und ibren Rielen beſchäftigt, intereffant und unentbehrlich. Nicht als ob man die 
Wege, die dort die Entwicklung genommen, obne weiteres aud) bei uns geben könnte. 
Gin jede3 Land bat feine Cigenart, und was nicht organifd aus diefer Cigenart hervor- 
wächſt, fondern bon außen ber iibernommen und vielleicht gewaltſam durchgeſetzt wird, 
bas wird nie gu einem wurzelkräftigen fozialen Dafein gelangen. Aber wie der, der 
fremde Sprachen nicht fennt, nichts von feiner eigenen weiß, fo lernt man aud) die 
Bedingungen des fozialen Werdens im eigenen Lande erſt bann und um fo tiefer 
erfafjen, je flarer man fie gegen das Fremde fic) abheben fieht. 


Die angelſächſiſchen Länder haben wir da in erſter Linie ins Auge gu faſſen. 
Wir fehen die Bewegung hier zum Teil einen ganz anderen Ausgangspunkt nehmen. 
In den Vereinigten Staaten wird der Gedanke von der Befreiung der Frau ins offent: 
liche Bewußtſein geboben durch die Antijflavereibewegung, die von den dreifiger Jahren 
an unter ftarfer Beteiligung der Frauen immer weitere Kreife jog. Er erfcheint als 
eine Konſequenz jener Forderung von der Gleichberechtigung aller vor dem Geſetz, jenes 
politiſchen Glaubensfages, der durd) den Abolitionismus feinen mächtigſten Sieg erringen 
jollte. Was fag näher, als daß dieſe Frauen, die fic) felbjt mit Borliebe als „Töchter 
Der Revolution” bexeicneten, den demofratijden Grundfas, der ibnen von Jugend auf 
als beiligfter Hort ihrer Menſchenwürde galt, aud auf fic felbft anwendeten, den 
Grundſatz, dab die Regierung iby Recht nur ableite von der Zujtimmung der Regierten? 
So traten die politiſchen Forderungen von Anfang an in den Mittelpunft der Be: 
wegung. Und ob auch der Bruch mit der Tradition fic) jelbjt in dem jungen Staats: 
wejen nidt raj und mühelos volljog, ob der Kampf um die volle biirgerliche Gleich- 
ftellung auch beute noch fern von feinem Abſchluß ijt, fo erwies fic) dod) das demo- 
fratijde Prinzip auc) bei den Männern als ftarE genug, um den Forderungen der 
atauen Schritt fiir Schritt Erfüllung gu fichern. Ciner befonderen Berufung auf ihre 
Veijtungen bedurfte e3 in einem Staate nidt, wo das Stimmrecht felbft dem miß— 
adteten, verjflavten Neger jugefprocden worden war. Nehmen wir heute die Ver: 
einigten Staaten als ein Ganzes, fo gibt es wenig reprafentative Rechte mehr, die 
nicht in irgend einem Staat der großen Republif von Frauen in vollem Umfange aus: 
geübt wiirden. 


Nod ſchneller volljieht fic) die Entwidlung in den auſtraliſchen Rolonien, wo 
Die Frauen heute nicht nur in faft allen Cinjeljtaaten das paffive und aftive Wahl 
recht bejiten, jondern aud vor nicht Langer Beit zum erſtenmal zur Wahlurne de3 
Bundesparlaments febritten. Hier hat e3 noch weniger einer befonderen Frauen: 
agitation bedurft. Die Verleibung des Biirgerrechts an die Frau erwuchs nod mebr 
aus den leitenden Grundſätzen der nationalen Politif; man ſchuf cine Schugwebr gegen 


Die Frau als Biirgerin. 531 


den Mißbrauch des allgemeinen Stimmrechts durch die gablreich hereinſtrömenden Heimat: 
{ofen Abenteurer, indem man durch die Ausdehnung dieſes Rechts auf die Frauen der 
Familie als der Grundlage de3 Staated einen grigeren Einfluß ficherte. 

Aud in England wird unter der Wirkung de3 Qabrhunderte alten fonjtitutionellen 
Bewußtſeins von Anfang an das Pringip des Menſchenrechts der Frau mit Erfolg 
fiir die Bewegung verivertet. C8 ijt der GeficstSpunkt, von dem John Stuart Mill, 
der Führer der Frauenftimmredtsbewegung in England, ausgeht. Gelegentlich der 
amerifanijden Slavenbefreiung bemerft er: „Sie verurteilt die Frau zu ciner Stufe 
der Knechtſchaft, die erniedrigender ift als je, da fie nicht Linger von irgend welchen 
Angehörigen des männlichen Geſchlechts geteilt wird und daber jede Frau zur Unter- 
geordneten jedes Manned mat.” Durd die ganze engliſche Stimmredt3bewegung 
zieht fic) dieſer ſtaatsrechtliche Gedanke als immer wieder in den Vordergrund ge- 
ſchobenes Argument. Nehmen wir hinzu, dafh der rechtliche Zufammenhang zwiſchen 
votes und taxes, Stimmredjt und Steuern, durch die englifde Verfaſſung dem Volks— 
bewußtſein ſehr tief eingepragt ift, nebmen wir hinzu die lebhafte, ftets von hervor— 
ragenden Parlamentariern unterſtützte agitatoriſche Arbeit der Frauen, fo erfcheint es 
begreiflich, daß die Frauenftimmredtavorlage wenigitens im Unterhaus ſchon mebrjad 
der Annahme nabe war. Befanntlich ijt 1897, nachdem fie in den erften beiden Lefungen 
bie Majoritit aller Parteien erhalten hatte, nur durch einen Gewaltsakt ſkrupelloſer 
Gegner die dritte Lefung und damit die Annabme der Vorlage verhindert 
worden. *) . 

Wenn nun aber diejes Gleichberechtigungsdogma auch ein ftarfer Faktor in der 
Durchführung der politiſchen Frauenbewegung in England geweſen ijt, fo feben wir 
doch andererfeits gerade bier die Erkenntnis wirffam werden, dah die Frau nicht nur 
auf Grund ihres Menſchentums ibren vollen Wnteil an den Pflichten und Rechte der 
Gefamtheit beanſpruchen diirfe, fondern daß fie auc) durch ihre ſpezifiſche Cigenart, 
durd ibe Frauentum dem Staat etwas Unerjesliches zu bieten habe, dak die Cin: 
ſchränkung ihrer öffentlichen Wirkfamfcit nicht nur die Frau in ibren Rechten ver: 
kümmere, fondern aud) die Arbeit des Gemeinweſens cinfeitiq mache, nicht zu voller 
Entfaltung tommen laffe. Bon dem Augenblid an, wo Londoner Biirger die Cinfiib- 
rung der Frauen in die Schulverwaltung forderten, weil fie ja aud) Mädchen jur 
Schule fchidten, Hiren wir immer wieder, und gerade durch Manner, die befonderen 
Faähigkeiten der Frau als mafgebenden Grund fiir die Notwendigfeit ihrer Mitarbeit 
im Sffentlichen Leben mit Erfolg geltend machen. 


So feben wir aljo, wie in dieſen Landern, in denen der Ronjtitutionalismus nicht 
nur eine dupere Regierungsform ift, foudern fich tief eingeſenkt bat in dad Bewußtſein 
deS Volkes und von dort das politifde Empfinden und Handeln gan; beſtimmt — wir 
feben, wie bier der Gedanke von dem Biirgertum der Frau von Anfang an in den 
Vordergrund tritt. Cr ift ein Ausdruck ftaatsrechtlicher Grundſätze; er entwidelt fic 
nicht erft mit der Ausdehnung des Wirkungskreiſes der Frau, wie ſie wirtſchaftliche 
und ſoziale Verhialtniffe mit ſich bringen. Diefe Tatfacen bat Friedrid) Naumann in 
dem ſchon einmal erwähnten Vortrag gleichfalls yu wenig beachtet. Cie ftellen die 
Cinfeitigtcit feiner Ronftruftion der Frauenfrage ins Licht, einer Ronftruftion, nach 


) Bal. das Nähere in der Broſchüre: Yntelleftucle Grenglinien zwiſchen Mann und Frau. 
Frauenwahlrecht. (W. Moeſer. Berlin.) S. 37. 
34* 


ST... Foe en tee ee rey ee â— — 
1 


* 


532 Die Frau als Biirgerin. 


welder die Frau ihre foziale Stellung gang ausfdlieBlid) dabdurd yu heben ver- 
mote, dah fie fic) in den indujtriellen Produftionsprozeh hineinſchiebt und ſich dort 
in rein wirtfdaftlidhem Sinn wertvoll gu machen verſucht. Die ,theoretifde Beweis— 
führung“, die idealen Triebskräfte, find wenigftens in diefen Landern nicht fo machtlos 
gewefen, wie es von Naumann allgemein vorausgefest wird. 


* * 
* 


Auch bei uns hat man im Anfang der Bewegung verſucht die politiſche Befreiung 
der Frau unter Berufung auf ihre abſtrakten Menſchenrechte zu fordern. Dahin führte 
ſchon die Verknüpfung der Bewegung mit den Verfaſſungskämpfen der vierziger Jahre. 
Aber dieſer Gedanke von dem Staatsbürgertum der Frau, der von dem hochfliegenden 
freiheitlichen Enthuſiasmus eines Robert Blum, eines Karl Fröbel, eines Johannes 
Ronge emporgetragen wurde, er teilte bas Schickſal der Bewegung, aus der er hervor— 
gewachſen war. Die Reaktion der fünfziger Jahre fegte ihn ſpurlos hinweg, und Louiſe 
Otto ſelbſt, ſeine erſte Trägerin, zog aus dieſer Erfahrung die Lehre, daß der deutſchen 
Frauenbewegung durch den beſonderen Charakter des öffentlichen Lebens in Deutſchland 
ein anderer Weg gewieſen ſei, der Weg, den ſie tatſächlich gegangen iſt. Sie hat ſich 
für die Anerkennung des Bürgertums der Frau erſt eine Grundlage ſchaffen müſſen 

durch jenes ſchrittweiſe Vorwärtsdringen auf geiſtigem, wirtſchaftlichem und ſozialem 
Gebiet, das wir uns zu Anfang vergegenwärtigt haben. Mochte das Bewußtſein ihres 
Staatsbürgertums in den Frauen noch ſo lebhaft ſein, von dieſem Punkt aus war, 
das hatte die achtundvierziger Bewegung gelehrt, vorläufig keine Breſche in die herr— 
ſchenden Anſchauungen zu legen. Was in den angelſächſiſchen Ländern geboten war, 
wäre in Deutſchland ein grober taktiſcher Fehler geweſen. Berichteten doch noch vor 
kurzem die Zeitungen, daß durch behördliche Zenſur aus einem preußiſchen Schulleſe— 
buch ein paar Abſchnitte der Verfaſſung geſtrichen worden ſeien, warnte doch bei den 
letzten Etat-Debatten im preußiſchen Landtag ein konſervativer Abgeordneter dringend 
davor, ſelbſt in den höheren Lehranſtalten zu eingehend von der Verfaſſung zu reden! 
Wie hätte man vor Jahrzehnten anknüpfen können an politiſche Rechte, die man noch 
heute dem Volk, wie es ſcheint, nur ungern zum Bewußtſein kommen läßt. Das 
einzige, was man tun konnte, war, den Blick immer wieder auf dieſes Ziel zu richten, 
und ſo iſt denn auch kaum ein Frauentag vorübergegangen, ohne daß von der Frau 
als Bürgerin die Rede geweſen wäre. Erſt das letzte Jahrzehnt des vorigen Jahr— 
hunderts mit dem Wandel des ſozialpolitiſchen Denkens hat auf Grund der zu Anfang 
dargelegten Tatſachenreihen der Frau die erſten amtlichen Funktionen im öffentlichen 
Leben übertragen; es hat den Anfang der praktiſchen Erfüllung gebracht. 

Wer geſchichtlich zu denken vermag, und wer insbeſondere ſich in die Eigenart 
unſeres Volkes tief hineingelebt hat, der wird ſich ſagen, daß die Entwicklung der 
Frau zur Bürgerin auch für die Zukunft den bisher beſchrittenen Weg einhalten wird. 
Prophezeiungen ſind zwar immer gewagt, und plötzlich eintretende Kriſen können alle 
Berechnungen über den Haufen werfen; ein ruhiges politiſches Denken und Planen 
kann ſich aber dennoch nur auf die Annahme eines geſetzmäßigen Verlaufs der Dinge 
ſtützen. In unſerem Fall muß die Annahme dahin gehen, daß nicht etwa von heute 
auf morgen den Frauen das politiſche Stimmrecht beſchieden wird, ſondern daß ſie 
in langſamem Fortſchreiten eine ſtete Erweiterung des Kreiſes ihrer bürgerlichen 
Pflichten und Rechte erkämpfen werden. Sie werden das Feld ihrer Tätigkeit in der 


— 


Die Frau als Biirgerin. 433 


Gemeinde ausdehnen, fiber Armen: und Waifenpflege binaus in dad Gebiet der Schul— 
verwaltung eindringen und allmablid) gu immer verantwortliceren Amtern aufiteigen. 
Ihre wirtfdhaftlide Lage wird fie immer mehr mit den Fragen de3 politifden Ge- 
ſchehens in Beziehung ſetzen und ein Wachfen des fonftitutionellen Bewußtſeins, des 
politifden Sinns im ganjen Volfe wird auch ibnen iby Biirgertum, wie tiberall, jo 
aud) bei uns, immer näher bringen. Cin folder Entwicklungsprozeß aber kann ſich 
nicht volljieben, obne auch das Denfen des Volfes fiber das Staatsbiirgertum der 
Frau allmählich umpugeftalten; und wird einmal der Augenblid gefommen fein, two 
die Frau in ihre vollen Bilrgerrechte cintritt, fo werden unzweifelhaft die heute nod 
fandlaiufigen Einwände gegen die politifche Betätigung der Frau, die die Erfabrungen 
frembder Lander ſchon jetzt widerlegt haben, aud) bei uns als erledigt gelten. 


* * 
* 


Mit dieſer Erwägung könnte ich abſchließen. Ich könnte die Aufgabe des 
Hiftorifers, Geſchehenes darzulegen und daraus Folgerungen in Bezug auf die weitere 
Entwicklung zu ziehen, als erfüllt anſehen. Aber die Bewegung, in der wir ſtehen, 
wird noch von ſo vielen als eine ſchwere Gefahr für die Grundlage des Staates, die 
Familie, angeſehen, es glauben noch ſo viele, daß ſie einfach zum Zweck habe, die Frau 
fo gu ſagen zum Manne zu machen, es glauben nod) fo viele, ihr darum gewaltſam 
entgegentreten zu müſſen, daß ich mich mit einer einfachen Darlegung der Tatſachen 
und ihrer Konſequenzen nicht begnügen, ſondern mit einigen prinzipiellen Erörterungen 
abſchließen möchte. 

Die Frau will die gleichen Rechte wie der Mann. Daraus folgert eine ober— 
flächliche Betrachtung die Abſicht einer völligen Verwiſchung der Geſchlechtsunterſchiede, 
die Aufgabe jeder Arbeitsteilung zwiſchen den Geſchlechtern. Nun bedeuten aber doch 
Rechte nichts weiter als Raum fiir Einfluß. Nber die Art dieſes Einfluſſes enthält 
der Begriff nichts. Dieſer Einfluß wird ſtets, das liegt klar auf der Hand, nur geübt 
werden können nach der Weſensbeſtimmtheit. Die Weſensbeſtimmtheit der Frau iſt zu 
ihrem Ausdruck gelangt innerhalb der Familie. Und da die Frau dauernd aus der 
Familie, aus ihrem Muttertum, dem phyſiſchen oder geiſtigen, ihre beſte Kraft holt 
und in alle Zukunft holen wird, ſo iſt damit auch ihre Weſensbeſtimmtheit für alle 
Zukunft geſichert. Und damit iſt ausgeſprochen, daß ſie überall da, wo ihr ein Einfluß 
auf die Geſtaltung des öffentlichen Lebens eingeräumt wird, dieſen Einfluß im Sinne 
ihrer Eigenart, nicht als Mann, ſondern als Frau üben wird. Noch ſind nur die 
allgemeinen Linien beſtimmbar, in denen dieſer Einfluß verlaufen wird, noch läßt ſich 
nicht vorausſagen, wie ſich unter ihrem Wirken der Geiſt des öffentlichen Lebens neu— 
geſtalten wird. Nur das eine iſt ſicher: ihre beſtimmende Einwirkung auf das öffent— 
liche Leben kann nur in der Richtung liegen, die ihr Wirken in der Familie andeutet. 
Wird doch ein Zug, deſſen Bedeutung für Erziehung und Bildung, für jede Art 
ſozialer Fürſorgetätigkeit heute mehr und mehr anerkannt wird: die Fähigkeit ju 
individualiſieren, den Menſchen als einzelnen, als Perſönlichkeit zu beobachten und zu 
werten, in ihr ſchon durch die Art ihres Wirkens in der Familie entwickelt. Was 
Anlage und Verhältniſſe ſo durch die ganze Menſchheitsgeſchichte hindurch in der Frau 
haben werden laſſen, was in der Enge ihres Kreiſes, über die keine tiefere geiſtige 
Kultur hinaushob, oft in Kleinlichkeit und perſonlichen Klatſch ausartete, wird in der 


534 Die Frau ald Biirgerin. 


Freibeit und Selbjtverantwortlichfeit, wie alles Menfdbliche, nicht verfiimmern, fondern 
gu ebdlerer Kultur gelangen. Wenn der Mann geneigt ift, alles Perſönliche unter eine 
Formel yu bringen, wenn er fo überhaupt erſt die Gliederung, die Geſetzmäßigkeit in 
das Hffentliche Leben gebracht bat, fo erſcheint es gerade jest an der Beit, feine un: 
leugbare Cinfeitigtcit gu forrigieren und innerhalb der Forme! das Perſönliche wieder 
sur Geltung fommen ju laſſen. Wenn diefe Korreftur von cinfichtigen Männern felbjt 
verlangt und angebabnt wird, wenn fie nad) einer Qndividualifierung in Armen: und 
Waifenpflege, in Erziehung und Unterricht ftreben, fo können fie diefem Streben nicht 
beffer jum Erfolg verbelfen, als durch volle Freigahe dieſer WUrbeitsgebiete fiir 
die Frau. 

Cine Vorausfepung freilich ijt dabei unerläßlich, daß die Frau, wo fie Anſprüche 
erhebt, aud ein wirkliches ernſtes Können mitbringen mus. Auf dem Gebiet der 
Berufstitigheit wird das unter dem Siwange der wirtidaftliden Erfahrungen ſchon 
mehr und mebr eingefeben, obwobl bier befonders die Torbheit der Eltern, die die 
Töchter in Monaten vorbilden michte, wo fie den Söhnen Jahre gewährt, febr 
erſchwerend wirkt. Uber fiir das ganje Gebict freiwillig übernommener bürgerlicher 
Pflichten feblt es nod) tiberall an der Einſicht, daß mit den bloßen Anfpriicen und 
etwaigem guten Willen nichts getan fet. C3 ware töricht, leugnen yu wollen, dah 
unfere Zeit unter dem Titel , moderne Frau” manche Erſcheinung hervorgebracht bat, 
bie wenig geeignet ijt, den Forderungen der Frauenbetwegung Sompathie zu gewinnen. 
„Was fic) heute unter dem Titel des modernen Weibes ſpreizt“, fagt Iſolde Kurz mit 
Recht, „jene ſeltſame Mifdung von Pratenfion und Unzulänglichkeit, die auf wirkliches 
Können nod nicht cingerichtet ijt und das Opferbringen verlernt hat, das ijt eine 
unreif gefaulte Frucht am Baum der Kultur.” Mun, die Verhaltniffe werden uns 
Beit laffen, die zahlloſen Friichte, die noch, im innerften Kern gejund, in viel 
verfprechender Fiille am Baum der Kultur hängen, ausreifen zu laſſen. Als die afler- 
wichtigjte Aufgabe der Frauenvereine und der ganzen Frauenbewegqung fann nur das 
eine angefehen twerden: die Frauen tüchtig zu machen yur Erfiillung der Pflichten und 
Rechte, die fie anjtreben, 

Es wird mandmal fo bingeftellt, alS ob die Erlangung der Biirgerrechte das 
letzte Biel der Frauenbewegung fei, al ob es nur gelte, gleichviel wie, fo ſchnell wie 
miglich dabin 3u fommen. Jn Wirklichfeit wird die Frauenbewegung damit doc ert 
ibren rechten Anfang nebmen, da erſt dann fich zeigen wird, inwietweit die Frau ibre 
Gigenart in der Kulturwelt geltend madjen fann. Und wehe unferer Sache, wenn der 
qrofe Moment ein kleines Geſchlecht findet, wenn wir dann nod nicht binaus gefommen 
fein werden über das findijde Gebabren, das mit parlamentarifden Vokabeln von 
Rechts und Links fpielt und dariiber die inneren Bedingungen unferes Erfolgs aus 
den Augen verliert. Wehe unferer Sache, wenn dann nod nicht die Arbeit als das 
erfannt worden ijt, was allein dieſem Erfolg Dauer fichern fann. 

Daß die Ausriiftung der Frauen fiir ihre fiinftige Nolle im öffentlichen Leben 
zum Teil in der praftifcben fommunalen Arbeit ju fuchen ijt, ift ſchon geſagt. Aber 
dazu fommen nod andre Wege. Fiir alle beruflicy tatigen Frauen 3. B. die berufliche 
Organifation, in der fie fernen finnen, perfinliche Augenblicksintereſſen für größere, 
gemeinſame Ziele ju opfern, in der fie lernen, die Vorgänge des öffentlichen Lebens 
zu verfteben und ibre Macht wie ibre Abbangigfeit ibnen gegenüber richtig abzuſchätzen. 
Für alle Frauen unferes Volkes bedarf es dazu einer nach der volkswirtſchaftlich— 


Die Frau als Biirgerin. 535 


politiſchen Seite vertieften Bildung durd Schule und Fortbildungsſchule, wie fie andern 
Orts längſt als notiwendig erfannt ijt. 

Aber, fo wird nun ſchließlich eingewendet, eine ſolche Erweiterung der Tätigkeit 
der Frau ift der Ruin der Familie, der Ruin der Kindererziehng. Was zunächſt die 
rau der arbeitenden Klaſſen betrifft, fo ftedt in dem Einwand ein gut Teil Phari— 
faertum. Go lange die wirtfchaftliche Not fie ihrer Familie iiberhaupt in dem heute 
üblichen Mah entzieht, fallt diefer Cinwand garnidt ins Gewicht. Andrerfeits braudyt 
gerade die Arbeiterin notwendiger als wir alle die Rechte, die fie befähigen, ſich im 
wirtidhaftlicdben Leben zu bebaupten. Was aber unfere bürgerlichen Kreife betrifft, fo 
modte in dem Einwand, die Frau werde ihren häuslichen Pflichten gu febr entzogen, 
dad gleiche Phariſäertum oder wenigftens eine bequeme und behagliche Selbſttäuſchung 
fteden. Iſt denn tatſächlich die Mutter in diefen Kreifen jede Stunde im Dienft ibrer 
Familienpflichten tatig? Iſt fie nicht längſt „Dame der Gefellfchaft”, opfert fie nicht 
einen grofen Teil ihrer Zeit den Anſprüchen diefer Gefellfchaft? Wenn fie aud nur 
die Hilfte der Beit, die Heute den fogenannten Reprajentationspflidten, den Toilette: 
forgen gewidmet wird, ſich wirklich als Glied der Gefellfdaft in einem edleren und 
gebaltvolleren Sinne fühlen wollte, fo ware der Zeitaufiwand, den ibre Biirgerpflicten 
einmal fordern werden, vollauf gededt. Und ibren Rindern würde fie aus Ddiefer 
Tatigfeit etwas anderes mitzubringen haben, als aus einer Gefellfchaftsfaijon. Es ijt 
beseichnend, dah fic) die deutſche Phantafie immer nur die Mutter mit dem Kinde auf 
dem Arm vorftellen fann. Die Mutter erwachfener Kinder tritt hinter diefem Bilde 
ganz juriid. Ich braude nicht aussufiihren, wie bedeutjam gerade in unferer Zeit 
ihre Uufgabe ijt. Dem Kinde von heute feblt die Fiibrung vom Mutterarm in das 
Leben; in das Leben, von dem die Mutter unferer Kreiſe felbjt viel zu wenig weif, 
deffen Zuſammenhänge fie viel ju wenig verfteht, um der Todjter, dem Sohn, die 
der vielbefchiftigte Bater faum mehr als bei den Mahlzeiten fieht, ein wirklicher 
Führer zu fein. Hier wird eine verantiwortlide Aufgabe im öffentlichen Leben 
den Einfluß der Mutter auf ihre Kinder nicht beeintradtigen, fondern ftirfen und 
vertiefen. 

An der Schule werden wir gelebrt, ſtolz darauf ju fein, daß die Frauen der 
alten Deutfchen mit den Mannern jujammen den gemeinjamen Feind von der Wagen- 
burg zurückſchlugen. Auch heute drohen uns der gemeinjamen Feinde viele: fie ver- 
firpern fic) in all der geiftigen, fozialen und ſittlichen Not, die in unjere äußerlich 
ſcheinbar fo glänzende Entwidlung ibre tiefen Schatten wirft. Sie zu befimpfen 
gilt e3 gemeinfame Arbeit. Jn ihr werden — und das ijt das Biel und zugleich das 
Ende der Frauenbewegung — Mann und Weib, die fic) durch Generationen aus— 
einandergelebt haben, fich wiederfinden. 





536 


————=>-__ Diirfen harms. — 


Sfizze nad) dem Leben 


Ina Rex. 


Raddrud verboten. 


S. war Gutsangehirige eines Herrn, 
der das Wohl und Wehe feiner Hof- und 
RKatenleute giitig überwachte. 

Als ihr Vater, der Shafer Soden Harms, 
ploplid) mitten in feiner Herde tot gefunden 
tworden twar, befam die Witwe ein Stübchen, 
bas fie mit fid) und ibren vier Rindern gerade 
ausfiillte, im Wirtfdaftshaufe neben der Leute- 
ftube und ben Poften einer Leutefidin dazu. 
Satt wurden alle Fünf, denn ganj leer famen 


bie grofen, irdenen Schüſſeln nie in die Riide | 


guriid, aud) frieren braudjte feiner, ein paar 
Stiide Abgelegtes fanden fic) immer fiir die 
Waifen; aber „'t war dod nid halw nid 
heil.“ 

Die Andern: Statthalter Kählerſch, Kutſcher 
Dippertſch, Kuhhirte Krögerſch, fegten alle ihre 
eigenen kleinen Stuben aus und ſchlugen im 
Winter in der Ofenecke eine Bucht auf, die 
Sau und Ferfel beherbergte, fie, Harmſch, 
mufte um jeden Quart fragen. Na jal Dbr 
feblte nichts — ih Gott biwohr — aber fein 
eigens Herr fein, is dod) 'n annern Snack. 

Sonntags Nadmittags, im Sommer, be- 
ftellten die Ratenleute ihr bißchen Gartenland. Da 
ward gegraben, gebarft, geſäet; die weißen 
Hemdarmel leudteten nur fo zwiſchen dem 
Griin der Büſche und Baume. Sie, Harmfd, 
ſaß in ber dumpfen Stube und flidte fiir die 
Göhren. Das mufte fein, gewif, fonnte aber 
Abends gemadt werden. Die andern Weiber 
flagten oft, bag ibnen dann die Mugen dabei 
jufielen vor Müdigkeit, war bei ibr ebenfo 
geweſen — früher — madte dod nichts! — 
Gin Sdliiding Kaffee ab un an, und man 
war wieder munter. 





ene 


Als Jahr um Jahr fo ins Land gefommen 
war, und Harmſch wieder einmal mit einem 
Seufjer ihre zehn Taler Lohn, die zwei Pfund 
raube Wolle und zehn Ellen Hedenleinen auf 
den Brettifd legte und fid) daneben auf den 
Strobftubl fallen lief, flinfte die niedrieg 
Tir, und Qafob Bernitt fdob fid in die 
Stube; im Arm feinen Anteil an Keidungs- 
material; ein Stück bunted Weftenjeug und 
ein Biindel gefponnener Strumpfivolle. Denn 
heute war Martini und Löhnungstag fiir ein 
ganzes Jahr. 

„Wiſt Du mi dat 'n beting upphägen, 
Harmſch, ick weit nahrens dor mit hen.“ 

„Nich mihr as girn. Häſt Du kein 
Mudder mihr?“ 

„Nee. Dat ſchoadt em ja nu wierer nich 
un is nid) ſlimm, wenn id man 'n Fru 
badd.” 

Harmſch ladte. „Wat wift Du mit ’n 
ru? — 

„Na nu! —“ Er ſetzte ſich und zog die 
kurze Pfeife aus der Hoſentaſche, das Feuerzeug 
folgte, und nach manchem Pink! Pink! kam 


der Tabak in Brand. 





„De Lüd hebben mi vertellt, dat du all 
eins eigen Hüſung badd häſt ...“ 

„Dat wull ick meinen”, Harmſch reckte ſich 
auf, „as mien Mann noch lewt. Hier ſitten 
wi ja all uppenander; äwers ſüß is allens dor: 
Melkſchapp und Swienstrog un Ketel un Pött 
un twat dortau hürt. Mien Brauder hätt't bi 
ſick upp'n Bähn ſtahn“. Mit einem tiefen 
Seufzer: „Dat verſpalt un verkümmt.“ 

Der Knecht rauchte weiter und ſah auf die 
Lehmdiele. Als aber das Stübchen ganz unter 


Diirten Harms. 


Qualm gefest war und ein Wort das andere 
gegeben hatte, ftand er entſchloſſen auf. 

nod äwernähm dei gang Geſchicht. Fief 
Göhren häſt bu? . . .” 

Harmſch wehrte entriijtet: „Nee, wehn bhatt 
bi dat vertellt! vier fiindt — un all, all ut: 
wufjen. Biift nägen Woden upp'n Hoff un 
weit von nir, De Ollſt is'n Dirn. Sei 
beint bier jo bi'n Meier; äwers bliewen will 
fei bor nich. So'n lütt dic frusfippig Dirn, 
be möſt bu dod all feifn hebben?” 

„Is dat dei Voßkopp mit de Siinnfpruten 
(Sommerfprofjen) 3” 

Harmſch lacht: „Jawoll, 't is ne fire Dirn.” 

Qn den nächſten Woden [ag tiber dem 
großen Hofe eller Gonnenfdein, der fogar 
um die Ede reichte, trotz vorgefdbrittener Sabres: 
qeit, und alle die vielgeteilten Fenjterdhen des 
Wirtſchaftsgebäudes beftrablte. Die Bagel 
jubilierten fiber bem Strohdache, und Harmſch 
war eine Braut. 

Mls aber ber Hochzeitstag heranrückte, 
regnete es find und fadte in die ſpärlichen 
Myrtenzweige, die der Witwe noch zukamen. 
Das junge Paar und alle ibm Woblgefinnten 
fahen befriedigt in das dunftige Fiſſeln — bas 
Eheglück ſchien bombenficder. 

Dürten und ihre drei Brüder hatten nun 
einen Stiefvater und ſtimmten voll und ganz 
ber Anſicht der Dörfler gu, daß der vierund— 
zwanzigjährige Jakob Bernitt ein gang un— 
verſchämtes Glück habe. „So warm ſick dorin 
tau ſetten —“ ſagten ſie erboſt und verſuchten 
wenigſtens, ihm ſein enges, rauchiges Stübchen, 
fein Stüchchen Runkelland und ſeine drei 
Hühner, die ein betagter Hahn nur mühſam 
beherrſchte, durch ſpitze Reden zu verleiden. 
Dann gingen ſie aus dem Ort. Hanning und 
Körling verdienten ſich das Löſegeld und traten 
beim Militär ein, Chriſchäning „wär tau ſwack 
in 'ne Knei“ (Knieen), das Vaterland verzichtete 
auf ibn; er fam als Kutſcher gu Bliemeiſter, 
der ein großes Fuhrweſen in der Stadt betrieb. 
Und Diirten fnotete die eigengemadte Conn: 
tagsjade, den kurzen, blauen Wollrod und cin 
derbed hedenes Hembd in ein rotbuntes Tud, ſchob 
es auf den runden Mem und ging mit. Denn 
beim Kaufmann Herfe am Markt war die 
Stelle eines Kindermaddens frei. Wire fie, 
ſo wie fie da war, in die große Linde geftiegen, 





geſund und drall. 


537 


bie vielleidt nod) heute mitten auf dem Hofe 
jenes Geſchäftsgrundſtücks ftebt, fie bitte auf 
Gottes Erdboden nidts mehr gu fuden gebhabt. 
Selbſt die Liebe ber Mutter, jener abge- 
arbeiteten, gehetzten Frau, die neben dem 
ftrammen, jungen Chemanne ein gebdritcted 
Daſein führte, fchien ihr verloren, erſtickt in 
der Gorge um ben lieben Frieden. 

„Na, denn belpt dat nid.” 

Diirten war einundzwanzig Jahre alt, 
Go ftand fie vor dem 
Polizeiſekretär und gab Auskunft: 

„Vadder hew id nie nid) badd; mien 
Mudder hatt’n Annern friegt. Bi Koopmann 
Herfe biin if in’n Deinft bi de Gihren. Ick 
frieg föfthein Dabler ohn und tau Wih- 
nachten twei Dabler, wenn id mi ſchick noch'n 
beting tau, un tau Pingſten einen Dahler.“ 

Dann hielt ſie ein Papier in der Hand; 
im Ohr lagen ihr einige ernſte Ermahnungen. 
Was auf erſterem ſtand, ahnte die Schreib— 
unkundige nicht, die letzteren waren hochdeutſch 
gegeben und offenen Mundes angehört, aber 
nur unvollkommen erfaßt worden. 

„Man dat deiht em nix.“ Dürten wußte 
Beſcheid. „Ummer ihrlich un flietigh —“ 
hatte Mutter ermahnt; „lütt Kinner hätt unſ' 
Herr Jeſus leiw, wenn du dei gaud deihſt, 
büſt du upp Gott's Wegen!“ Frau Paſtor 
verſichert. Dieſe Geleitworte hatte ſie ſich 
mitgebracht aus ihrem Dorf, und kein bebrillter, 
gelehrter Stadtherr konnte ſie verwirren mit 
unverſtändlichen Anforderungen; wohl aber 
ſehr empfindlich ihre Arbeitsgenoſſinnen. Da 
war Fieken, die dicke Köchin, die Sonntags 
ein Barett mit Blumenſtutz aufſetzte und uns 
bändig ladte, wenn Diirten Trompeten und 
Tapeten und vieles, vieles Andere beharrlich 
veriwedfelte. Da tvar die fcbnippifde, nafe- 
weiſe Stubendirn, die Lina! War mit ibr 
wohl ausjufommen, fonnte man fic twobl 
bergen bor anzüglichen Redensarten! 
Diirten radte fid: ,Du Ap! — —“ fagte 
fie aud tieffter Überzeugung, als fie bemerkte, 
wie die Gitle der Herrin nachäffte in Kleidung 
und Manieren. Städtiſche Obrfeigen und 
dörfliche Maulſchellen freugten fich, und der 
Hausherr fubr dazwiſchen mit einem gefunden 
» Donnerivetter |” Die Hausfrau aber 
jammerte: „So ein Landmädchen! nicht ein— 


538 


mal hochdeutſch verſteht es. Mie twerde id 
mid) dazu entidliefen fonnen, feinetivegen 
platt au fpreden.” 

Diirten lauſchte: „Deiht od nich nödig, 
Medamming, liehr ick all nod.” 

Der Haushalt ging aus dem vollen, 
Dürten fonnte eſſen, ſoviel fie wollte; aber es 
ſchmeckte ihr nicht. „All ſo'n weilen Rram —“ 
meinte ſie betrübt, „ſchad üm dat leiw Etend! 
nich Peper, nich Solt an. Dat ward kaakt 
und braden, dat kann jo kein Fleiſch utholl'n, 
un de Sauß ward dörch nägen Säwen 
(Siebe) gaten — wat ſchall dor noch an— 
bliewen.“ 

In der Kinderſtube war ſie am glücklichſten. 
Ihre drei Pflegebefohlenen, Wolfgang, Bruno 
und Kurt, taufte fie einfach um: Dei Ollſſt, 
dei Mittelſt un dei Lüttſt; gab aber Hoffnung 
auf Anderung der Sache: „So 'n dwallſchen 
Nams kann ick nich biholl'n. Dat ward de 
Minſch irſt mit de Tied gewendt.“ 

Ihre Erziehungsmethode war die einfachſte 
von der Welt: „Man jo kein Schacht! (Prügel) 
dat's nix vörn vörnehm Kind, dat's wat vör 
Dörpjungs. Dieſ' Kinner ſeggen in einſten 
weg danke un bitte — wat ſchall ſo'n Rind 
wierer? — Man immer ſtiew un faft dorbie 
bliewen, wat'n ſeggt batt, denn jo marten fei 
fid bat.” 

Wenn der lebhafte, cigenfinnige Wolfgang 
burd) bebarrlides Betteln und Schmeicheln 
dieſen Grundſatz zuweilen zu unterminieren 
verſuchte, ſchickte Dürten ibn zur Mutter, und 
kam er niedergeſchlagen zurück, tröſtete ſie ihn 
gutmütig: „Sühſt Du, mien Jüngin! Dat 
möt'n jung anwarden (gewöhnt werden) — 
dacht häw ick mi dat woll, dien Mutting is 
'n vernünftig Fru, de haut mit im in deſülwig 
Karw.“ (haut in dieſelbe Rerbe.) 

Diirten ging niemals fiir fic aus, nur 
mit den Kindern. Aber die Wallanlagen, two 
ein Kinderwagen neben dem anbern ftand, mied 
fie. „Dor möt'n fid blots argern. Gin tweit 
nod ümmer mibr Slichts von fien Harrſchaft 
ag be anner. Un bat möten de lütten Göhren 
all mit anbiiren. Un denn immer _ dit 
Rertellis von be Briijams! Dat’s doch'n 
Selbverjtand, dat'n Dirn den batt. Wat fdalln 
bor iimmer von reden. Wan dat is nu fo 
wied tau, fei hebben all näslang ’n annern. 


~*~ 





Dilrten Harms, 


Mien is'n Johr jiinger as id, un wenn bei 
dörtig Jahr is un tau Verftand famen, denn 
fo friegen wi.“ 

„Und wie Tange bauert bas nod?’ er— 
fundigt ſich Frau Herje in Beforgnis, denn 
Diirten ift ihr längſt lieb geworden. 

„Teihn Sobr. Hei is äwer Friihjobr 
twintig worden. So as dat mien Mudder 
geiht, ſchall mi 't nid gabn; tau jung friegen 
döcht nid.” 

Frau Herſe ftidte gerade an einem Rofen= 
und Lilienteppid, als ibr dieſe berubigende 
Ausfunft ward. Sie gehörte gu den Müttern, 
bie ſich am liebften in der Nabe ibrer Lieb- 
linge aufbalten. Co war in der Rinderjtube, 
bie drei fonnige Fenfter nad der Straße hatte, 
ein fiir allemal das Cdienjter mit dem 
Mahagoninähtiſch ausgefillt und fir Mama 
referviert. Der Tif ftand auf einem ,, Tritt”, 
der breit genug iar, den Robritubl und den 
umfangreiden Flidforb mit aufgunebmen, und 
eine fleine Gmpore bildete. Bon ibr herunter 
lachte und ſcherzte Mama mit den Rindern, 
wabrend die fleifigen Hande Nützliches und 
Schmückendes fchafften, und die klaren, weit— 
fidtigen Augen nod) nebenber den „Spion“ 
ſcharf beobadteten, ber alles twiedergab, twas 
ſich über ben gangen Marft biniiber bis jur 
Waſſerſtraße hin ereignete, 

Zuweilen erzählte Mama Geſchichten. 
O, war das ſchön! — Bruno kroch die zwei 
Stufen hinauf und lehnte fein Lockenköpfchen 
an Mamas Kleid. Wolfgang zog fein Kinder⸗ 
ſtühlchen ſo nahe wie möglich heran und 
Dürten wiegte das Nefthathen auf ihrer 
bunten Schürze. Dann hätte man eine Steck— 
nadel fallen hören können. 

Ein Wintertag, er fiel in die Adventszeit, 
ging zur Neige. Die großen Buchenholzſcheite 
knackten im Ofen; graue Schatten huſchten 
über alle Gegenſtände des Kinderzimmers. 
Yon der Straße ber fiel ein ſchwacher Lidt- 
fein der Laterne auf Mamas Hinde, und 
bie Gloden läuteten vom Petriturm ben 
Sonntag ein. 

„Wir wollen Lidht maden,” brad Mama 
bas tiefe Schweigen, in dem die CErregung 
in Grgablerin und Zuhörern ausflang, die 
ber Bortrag der Weihnachtsgeſchichte hervor— 
gerufen, 


Dürten Sarms. 


whee! —“ fagte Diirten und feufgte. 
„Nein? —“ 
„Nee. Denn fo as't hüt is, Himmt’t nid 


wedder. Dit is as in 'ner Kirch.“ 

„Haſt du denn alles verſtanden?“ 

„Jeder Wurt. Wat Medamm 
verſtah ick ümmer.“ 

„Du kannteſt die Geſchichte doch?“ 

„So nich. In 'n Schaul bün ick nich 
väl weſt, un wehn ſchüll mit ſowat vertellen! 
De Preiſter hatt’t ſacht dahn upp'n Kanzel; 
man id flep fimmer dorbi in, wieldat wi fo 
wied tau lopen hadbden bet nah de Rird. 
Unf’ Grotmudding wüßt od méannigbeting, 
fei Hatt uns Kinner grot madt, wiel Mudder 
in’n Deinft war; dimers fei vertellt bod anners.“ 

„Was erzählte Euch deine Grokmutter 
denn?“ 

Dürten ſtand auf, legte das eingeſchlafene 
Kurtchen behutſam auf die Wiege und zündete 
die Lampe an. 

„Nun? — — ich denke, wir wollen nod 
im Schummern bleiben 

„Nee. Wenn id vertell’n fdall, dennfo 
ig 't beter bi Lidt. In mien Geſchicht 
fariolt be Diiwel riimmer,” 

„Hahaha! an alee 

„Nich laden, Medamming! mit em is 
nid) tau fpafen! Hei is in ’n Schottſtein 
rinnefobrt un batt em balen toullt, man wiel 
het grad be Biwel vir fid liggen badd, is 
bei nod) in 't Abenlock ümdreiht. Dunn 
fiinn bei nich weder in 'ne Höcht finnen un 
i8 haden blewen. Rein Für wär 'n annern 
Morren antaufriegen — blots Ctanf un 
Rood. —“ 

„Wer denn, wer denn?” 

„Jeſo, Medamming fann 't nid) tweiten, 
in unf’ Dorp weit't jeder Rind. Ye twill von 
vörn vertellen; man grafig is't. 

Dat is gornic) wied aw weſt von unſ' 
Dirp, dor hatt ’n Harr wabhnt, de hätt nir 
döcht, Kinner Hatt bei nid) hadd, un fien Fru 
ig em weglopen. De Käuh hebben 'n Ropp 
umbreibt, wenn bei upp'n Sill ftabn batt un 
in’n Stall 'rinnerfefen, fien Riedpierd batt 
betvert, wenn bei uppſtegen i8, un fien Hund 
Hatt giinft, wenn bei em ftrafen toull. Dat 
ig all dorvon famen, wieldat bei fien Seel 
verfpalt batt bi't Rortenfpal.” 


fnadt, 





539 


„Dürten!“ 

„Medamming, dat is ſo weſt. 

Rein Harr und fein Knecht un fein Vagel—⸗ 
bund (Herumtreiber) Hatt mibr mit em RKorten 
ſpälen toullt, dunn batt bei Nacht vir Nacht 
mit 'n Düwel fpalt. Denn laten finn bei't 
nid) mihr. Mu wull het awers den Düwel 
od bidreigen, ad bei dat mit all Lüd maft 
badd, man dat litt fic fein Düwel gefall’n, 
un fei bebben fid vertiirnt. Dei Diiwel wull 
nu fien Geel gornich mibr bebben, bei wull 
den heilen Riel. Dunn fobrt hei dörch'n 
Schottſtein — un verfiert fid dägern, a3 bei 
de Bitwel ſüht. Dor fiinn bei nich gegen an. 

Hei is ocf nich wedder famen. Dat hadd 
of nix nutzt, benn be Harr is bod blewen. 
Sien Lüd hebben em funden mit’n Ropp upp'n 
Biwel — filing inflapen. Gang allein.” 

„Armer Mann.“ 

„Nee. Hei bhatt nic döcht. Cien Geel 
is of nic) tan Raub famen. Dor wär'n 
Wiſch, dei blanfert mannigmal von Water, fo 
natt war fei, dor hüppten litt Lidter upp 
herum in Ctidendiijtern — dat wär fien 
Seel.” 

Diirten tat einen tiefen Seufjer. Wolfgang 
aber feste fic) gum Fragen zurecht: „Sag 
einmal, Dürti 

„Nee, Wülfling, wie will'n dor nich mihr 
äwer reden; ſowat kann einen licht in'n Drom 


vörlamen.“ 

Frau Herſe erhob ſich ſchnell: „Ihr 
bekommt jetzt eure Suppe, Wolf, und ſagt 
dem Papa gute Nacht.“ 

Mit den übrigen Dienſtboten des Hauſes 
ſtand Dürten ſich meiſtens ſchlecht. Das war 
ihr ein großer Kummer. Gewöhnt, alles, was 
ſie bedrückte, der Herrin mitzuteilen, meinte 
ſie traurig: „Solang as ick dei Lütten häw, 
ſchadt em dat nich väl, man wenn ſei irſt all 
nach Schaul ſünd, un ick in 'ne Mädd'nſtuw 
rinmöt, denn ſo weit ick nich, wot warden ſchall. 
Sei hebben all ümmer ehr Luſt an mi, un 
dat paßt mi nich. 

Yang’ Rie treck ick nich an, un'n Blaumen— 
haut ſett ick nich upp. Wat ſchall ſo'n Upp— 
töhmen heiten! dat wi sii i find, fiibt 
dod) jediwerein.” 

Der Roſtocker Pfingſtmarkt, das größte 
weltliche Feſt eines großen Teils der länd— 


. 


540 


liden Bevolferung von Medlenburg-Sdwerin, | 
bradte ibr immer den Schatz. Dann bat 
Diirten um einen freien Dag, ber ibr gern 
gewahrt wurde. Aber am Nachmittage ſaß 
fie meiften3 ſchon wieder in der Rinderjtube 
und erflarte auf BGefragen: „Mi dauhn de 
Bein weih. Wat fdall ich dor of immer 
riimftabn. Hei is nu duhn, un ic bün nab 
Hus gabn. Nahſten warden fei fic de Köpp 
woll bläudig flabn, bor bruf id nid mit 
bi fin.” 


© “ * 

Eines guten Tages brachte der Poſtbote 
einen Brief direlt in die Kinderſtube, denn der 
Abſender beorderte das ausdrücklich: „An 
Dürten Harms, was is in'n Kinnerſtuw bi 
Koopmann Herſ an’ Markt.” 

Ganz blaß nahm Adreſſatin bas Schrift— 
ſtück an ſich, wendete es hin und her und 
erbrach zögernd das breitausgefloſſene Siegel. 
Alle Kinder umſtanden die Verſtörte und 
tröſteten und ſtreichelten. Da weinte Dürten 
helle Tränen; Wolf aber lief ſchnell, die 
Mama zu benachrichtigen. 

„Nun, Dürten! ſchlechte Nachrichten von 
qu Haus? —“ 

Diirten hob nur den offenen Brief in die 
Hohe, cine Welt von Schmerz auf dem 
runden Geficte. 





„Was ift gefdeben? . Deine 
Mutter? ...... . 

„Weit nid.” Cie griff nad dem 
Schürzenzipfel, trodnete die Augen und | 
ſchluchzte: 


„Will Medamming nich eins leſen . . .“ 

„Gern.“ Die Zeilen ſchnell überfliegend: 
„Sie ſind alle geſund. Du ſollſt einmal nach 
Hauſe kommen. Hör zu. 

Ich ſchreib Dich einen Brief, weil daß 
wir geſund ſind, un uns weiter nichs fehlt, 
man daß ich ſäben Jahr nich mehr warten 
will, das wird mich über. Du ſagſt, 'n Knecht 
heuraten, das is nich halw nich heil — ich 
fag 'n Knecht un'n Dirn gehürn tohop. In'n 
Dörp is nu'n Hüſung fri, ſchall dor'n Anner 
rintrecken? — Dein Harrſchaft muß dir gehn 
laſſ'n, ſtandtepeh, denn friegen geht über allens, 
un fann fein Pollerzei was bei machen; womit id | 
nu fagen will, daß ich bereit bin, un buSiinndag | 


zwiſchen Dorf und Stadt vermittelte. 
abends fom fie beim, fah aufmerkſam in alle 


Diitten Harm. 


berfommen muft, ung ju bereden. Un grüß' 
id Dir aud vielmalé un Mutter, die aud 
bas Namlide feggt. Qn Freud un Leid, im 
Reitlichfeit un Ewigheit dein geliebter Jebann 
Satoh Nehls.“ 

Brau Herſe fiberreidte ben Brief: Na, 


Diirten! Denn mußt Du uns wohl ver= 
laſſen.“ 

„Nee, Medamming, noch gor tau lang 
ee . weft ftill, Rinnings! .. . - 


Sünndag reif id ben; man wedder fam id. 
Mi hier fo’n Angft tau mafen mit’n Breif! 
Wat dit woll heiten ſchall! Dat bhatt em 
fein Minſch wierer in’n Ropp fett as be 
Schaulmeiſter, un em dorbi bulpen. 'n beting 
ſchriewen fann bei jo, man fo nid. Na, id 
will em woll Biſcheid gäwen. Ihrer id mien 
Sporkaſſenbauk nic bet upp föftig Dabler vull 
häw, ihrer ward bor nir ut. Rabjten beit 
bat: nadt un blot.” 

Cie ftedte ben Brief vorne in bie Jade: 
„Ick will em man in mien Lad (Roffer) 
leggen, dei annern Dirnd geibt bat nig an. 
Medamming mot bor äwer od nid von 
reben 2 2 ww. ag 

„Je.“ Diirten fiebt mit brennenden 
Baden vor ſich nieder: „Ick baw aw un an 
od twat vertellt von be oll dwallſch Raff. ..... — 
Dann ſchaut ſie ihre Herrin treuherzig an: 
„Awers Medamming is od woll beter ad id.” 

Der Sonntag fam, und Diirten ging in 
ihrem beften Staat mit weitausholenden 
Sehritten über den Markt, ber engen Straße 
qu, two der Omnibus hielt, der den Verkehr 
Spat 


Rinderbetten, befiihlte den Kachelofen und 
beridtete an Madam: ,Hei täuwt. Wat 
Mannslüd reden, möt'n nid all’mal glöwen.“ 

frau GHerfe ladt: „Was Hat er ge: 
ſagt?“ 

„Hei künnt nicht utholl'n ahn mi.“ 

„Und du?“ 

„Dat giw' ſick. De Auſt (Ernte) is vör 
be Döhr. Wenn bu man irſt von Klock vier 
morrens bet bentau nagen abens in 'ne Cablen 
(Sielen) liggen möſt, denn fo ward di be 
Lang’wiel ſacht nic plagen.” 

+ * 
* 


Diirten Harms. 


Die Beit hatte ben Weg riihrig unter die 
Sipe genommen. Wolf und Bruno fdiwangen 
langft friibmorgens die Schulränzel auf den 
Riiden, das Kurtchen ſah triibfelig hinterdrein 
und langweilte fid. Dürten aber madte 
Vorſchläge. 

„Medamming! Dit is nix mihr. Hierbi 
ward'n fuhl. 'n Kinnerdirn brukt unſ' Lütt 
nu nih mihr. Wi will'n man de Stubenz 
dirn lopen laten. Dé haw nu all fiew Johr 
taufefen — nabgrad weit id od, wo 't möt. 
Sd finn od hochdütſch fnaden, wenn id wull, 
man iwotaun?— Vördwallſch kümmt dod man 
rut, denn fo is't am beften, jedwerein redt ad 
em be Gnabel twufjen i8. De Lütt fann iim 
mi ‘ritmlopen, wenn id mien Arbeit daub, 
un Nabmiddags fpal id mit em.” 

Es geſchah fo, und das ganze Haus ftand 
fic) gut dabei; Diirten aber am beften. „Ick 
häwt gaud badd all de Tied”, fagte fie, 
„äwers 'rümſcharwerken fall bod man gellen; 
vir uns Ort Lüd is dat dat Belt.” 

Un den Sonntagnadmittagen lagen jest 
große Stitde Hedenleinen auf dem Ausziehtiſch 
in der Rinderftube. Diirten febnitt gu und 
nähte Ausftener, fprad aud bin und wieder 
vom Heiraten, aber nie mit rechtem Ernſt. 
Überraſchend war deshalb allen Gausgenofjen 
bie Bitte an Madam, ob fie nicht einmal in 
ibr Dorf reiſen fonne. 
fort und ging, guriidgefehrt, gleid) in die 
Wohnſtube und auf bie Hausfrau zu, die am 
Fenfter ihre Blumen begoß. 

„Medamming! nu toeit id, twat ic till.” 

„Wieſo, Diirten? —“ 

„Ick bliew bier, Dat is nix mit de 
Friegerie.“ 

„Habt ihr euch erzürnt?“ 

„Nee, vertürnt nid. Man ick haw em 
ſeggt, hei ſchüll fid man 'n Anner nähmen. 
Ick weit nich; äwers mi war dor all de Tied 
fo fnurrig. De Raten is fo bump — mi 
fillt bor allen’ a8 upp’n Ropp, un wo'n od 
benfieft — all cin Dreé un Smär; nee. Un 
bei fpiegt midden in be Stuw un begebrt 
benn nod) upp, wenn ent dat berbaden 
ward. — Hier is’t all bell un blanf und 
frinbdlich, un ick häw tau mien Mudder feggt: 
fien Fäut finner frömd Lüd Diſch ftefen, is 
nod lang bat Slimmſt nid.” 


Sie blieb fiinf Tage | 


B41 


„Wenn dir das nur nidt [eid wird!” 
„Woans? Dat id) nid) wiht. Bd fitt 
bier jo warm un drig, fein leides Wurt nid 
un gaut Eten un Drinfen; un denn be 
Rinner — — ic Holl dägern val von ehr.“ 

Go blieb es beim Alten. 

Herr und Frau Herfe fpraden oft fiber 
bas fonderbare Mädchen, froh und fleipig von 
friih bis fpat, fein Verkehr, fein Ausgehtag, 
immer fiir die Herrſchaft ba — ein Unikum. 

„Ja, wer es aud fo baben finnte! —“ 
meinten die Befannten. Dürten vernahm 
wohl davon, war fic aud) ihres Werted 
burdaus bewußt, traf aber den Nagel auf 
ben Kopf: 

„Je fief! — — Dat foil juch paffen! — 
Wenn't Siinndags Gausbraden gitvt bi judd 
in 'ne Stuy, fiefen’S ut de Rak achter an. 
Dor fteiht Gruben (Graupen) un Swienfleiſch 
preislid) upp’n Diſch: nu fret! — 'n ſchön 
tend — worüm nid — man nid, wenn'n 
Gausbraden in’ne Naf batt! —” 

Gin Jahr beeilte fic) dem andern nad: 
gufommen, Wolf und Bruno twaren nur nod 
voriibergebend im Baterbaufe, und Rurt trug 
bie Primanermiige, Die Kinderſtube war 
nod immer da und bebielt auc) ibren Namen; 
aber Diirten ſaß Abends allein darin. Das 
gefiel ibr nicht. Cie legte oft ihre Nabarbeit 
bin und fab fid) rund um: Wiles da, fo wie 
fonft, und fie an ibrem Tiſchplatze vor der 
Sdublade, die ihr gang allein gehirte, und 
bod) fo anders — fo totenftill — und leer, 
leer, Icer, — Wenn fie dann nad langem 
Sinnen twieder die Urbeit aufnabm, nähte fie 
allerband fonderbare Gedanfen mithinein. Die 
begannen fid) unter ibrem fuchfigen Rraushaar 
feftgufesen, verfolgten fie tagelang und madten 
fie fopfhdngerifd) und jerjtreut. Zu ihrem 
Liebling, dem langaufgefdoffenen Kurt, pflegte 
fie dann gelegentlid) feufjend gu fagen: ,, Wat 
iS bat Läbend!? mien Liitting,” und fopf- 
ſchüttelnd hinzuzuſetzen: „äwers twat malt 
ſo'n Rind fic) dorut.“ 

Zum Philoſophieren taugte Kurt allerdings 
kaum, doch ließ es ihn nicht gleichgiltig, wenn 
ſeine liebe, alte Dürt — dies Wort durfte er 
ſich ganz allein erlauben — trübe geſtimmt 
| war. Das fiiblen und mit den Eltern be- 
| fprechen war eins. Und ald im Herje- Haufe 





542 


einmal viel von der Sufunft die Rede twar, 
gedadte man unter allerlei Plänen fiir Jung 
und Alt aud der treuen Dienerin und beſchloß, 
ibr gum nächſten Weibnadten eine Extrafreude 
gu machen. 


Sie wird bei uns alt werden, und tir | 


haben die Pflicht, fiir fie bis an ihr Lebens- 
ende zu forgen, bich es im Familienfreife, da 
faufen wir fie am beften in ein Stift ein. 
Es gab deren mebrere im Ort, die den An— 
wirterinnen einen forgenfreien Lebensabend 
verbiefen, man wählte ſorgſam davon aus 
und traf feine Vorbereitungen. 

Man dit fim anners as mit de fel’ Fru. 

Diirten hatte aud eine Überraſchung fiir 
ibre Herrſchaft. 

Yon ,,Stadt Hamburg”, einem dem Rauf- 
mannshauſe gegentiber liegenden Gafthofe fubr 
jeden Mittag ein Omnibus jum Bahnhofe 
und auf dem Bod ſaß ein ftrammer Rutfder 
mit ſchwarzem Schnauzbart und greflen Mugen. 
Mit dem war Diirten dabin handelseins — 
ihr eigener Ausdruck — geworden, daß fie 
und er ihre Erſparniſſe zuſammenwerfen 
wollten, damit Pferd und Wagen kaufen und 
ein Pungenfuhrgeſchäft einrichten. (Pungen- 
fahrer waren Leute, die das Mehl in kleinen 
Beuteln (Püngelchen) von den Wind- und 
Waſſermühlen abholten und den Kunden zu— 
führten.) 

Das erzählte einmal ſo „bi Weg lang“ 
Dürten ihrem Medamming und fügte hinzu: 
„Und wenn't Geſchäft gaud geiht, denn ſo 
will'n wi uns friegen.“ 

Madam ganz baff: „Dürten! den? — 
der iſt ja ſchon betrunken vom Wagen ge— 
fallen! —“ 

„Dat kümmt ſacht vör. Allwo hei hen— 
kümmt, ward em 'n Lütten inſchänkt, un 
wecker ein Mannsminſch hätt nich ſien Undäg'. 
(Unarten, Fehler). Hei ſeggt tau mi: Dirn! 
ſeggt hei, du ſchaſt ſeihn, wenn wi uns irſt 
tauhopgäwen hebben, denn fo lat ick dat Supen 
ſin. Und mihr kann hei jo nich dauhn.“ 

„Der hat ſich ſicher nichts erſpart.“ 

„Je, hei redt doch ſo. Ick häw ock all 
mit'n Preiſter doräwer redt . . .... . 

„Mit dem Paftor!? — — —“ 

Diirten nidt. „Unnern Rathus dröp id 
em. Hei bid mi de Tied un frig, moans 


—— . 


Diirten Harms. 


mi bat ging. Se fegg: Dank de Nabjrag, 
Herr Pajter! fegg id, as Sei feihn — immer 
upp twei Bein un’n Kopp baben. Dunn 
lacht hei fo grelling, un id freg ſo'n Tau- 
vertrugen tau em, dat id em dat vertellt 
häw.“ 

,lind er meinte? 2.2... ™ 

„Id ſchüll mi dat ridtig bidenfen; un 
bat häw id em veriprafen. Wi hebben jo 
fein Ihl nid. Ick biin verleden Harwſt irft 
viertig Johr worden, un wat bei ig, bei mot 
od irft tau Berftand famen.“ 

„Wenn das nur was wird.” 

„Je, bei ward woll möten! bei weit 
Biſcheid. Wenn id nu ’n Fubrmannsfru biin, 
denn fo fann id nid in’n Winterdag mit’n 
Umſchlagdauk gabn, a8 nu, denn biirt fid ’ne 
Mantel. Nu haw ick em feggt, wenn bei mi 
Wihnachten ein’ bringen deiht, denn fo fann 
bei Hulterdipulter de Ring’ biftell’n. UÜnner 
föfteihn Dabler is fo’n Stück nid tau hebben — 
wenn bei dat taubopfport, is fien Beternis 
gaud in’ne Gang.” 


* 7 
* 


Der Weihnadtsabend fam. 

Im Herfe-Haufe duftete es appetitlid) nad 
felbftgebadenen Stollen und Pfefferniifjen. 
Die Hausfrau hatte alle Hande voll zu tun, 
und Diirten und „de Litt” pubten den 
Tannenbaum. Der twar breit und hod und 
ftand in der Wohnſtube an der Erde. 

Kurting!“ fagte Diirten und redte die 
kurze, rundlide Figur, „höger fam ic nu nid 
an, dor baben möſt du ruppelangen.” 

„Gib ber! — wird fdhon geben.“ Gr 
unterbrad) fein Pfeifen, nahm den Weibnadts- 
engel aus Pfefferfudenteig in Empfang und 


befeftigte ibn mühelos an der Cpibe der 
Tanne, 
pour dat 'ranwaßt! —“ murmelte 


Diirten vor fid) hin und ſah betwundernd den 
langen Armen nad, „wolang is't ber, Dunn 
frop bei mi nod upp'n Schört rim —” ba 
flopjte e8 an die Tiir, und cin Laufburfde 
iiberreichte einen Frauenmantel. 

Diirten wurde dunfelrot. Kurt aber fab 
böſe aus und verſchluckte mühſam einen „Eſel!“ 

Einige Stunden ſpäter ſtand Dürten mitten 
im Familienkreiſe, umfloſſen vom Glanz der 


Bon Frauen und über Frauen. 


Weihbnadhtsterzen, angetan mit bem [angen, | 


weiten Mantel, die großen, roten Hande in 
einen ſchwarzen Muff gezwängt, belle Freude 
auf dem runben, frifden Geſichte. 

rau Herje trat herzu: „Na, was fagit 
du nun, Diirten?-—“ 

„O Medamming! — — — dit i8 ad’n 
Drom. — — —“ Gie ſtrich an dem Zeug 
entlang: ,,Dei fann an twintig Dabler ‘ran: 
famen — dit i8 twat bir Labenstied. — 
Medamming! — — — id — — id — — 
mücht nu — woll — bat bei od ’rinne- 
famen dörft — ein liitting Ogenblid man — 
Hei is gewiß buten un lurt.“ 


Bittend fab fie in die Runde. Alle 
ſchwiegen. Da brad Kurt los: 
„Der Mantel ift von ben Eltern! Der 


Muff, den du dir ſchon im vorigen Jahre 
wünſchteſt, bon und Briidern! Dein Rutjder 
bat fic) um nichts gefiimmert — — — erſt 
geftern ijt er wieder duhn bom Bod ges 
fallen ...... — 

„Kurt! — Kurt! —“ 

„Nun ja! ſie muß es doch wiſſen.“ 

Dürten war blaß geworden. Langſam 
ſah ſie an ſich herunter, zog die Hände aus 
dem Muff und ſteckte ſie wieder hinein. 

Dann ging ſie entſchloſſen auf Herrin und 
Herrn zu: „Väl Gott's lohn! — duſend, 
duſendmal.“ 


543 


Sie gab allen nad der Reihe die Hand. 

„Ick häw mi val freut — fo’n Wibnadten 
giwt bir mi nich wedder.“ 

„Du wilft dod? . ..... “ Der lebhafte 
Rurt rief es empört in die Stille hinein. 

„Ida, Lütting! Dat belpt nu nid. 

Ick häw nu de Mantel — vör'n Deinft- 
baden ift dat fein Stiid Tiig — un twenn 
bei — a8 du feggft — all wedder cin’s 
von'n Woagen follen is, benn fo tward Tied, 
dat bei dat Gupen nablett. Em fann dorbi 
mannigmal twat peffieren.“ 

Wieder Schiveigen in der Runde. 

Der Hausherr raufpert fic. Frau Herfe 
fiebt mitleidig auf das erregte Madden: „Du 
beſchläfſt es dir nod, Diirten!” fagt fie gittig; 
aber Diirten webrt ab. 

pee. Ick weit, Medamming meint dat 
gaud mit mi. Woväl Wolldaten häw ic in 
deeſen Huf’ badd! nich tau tellen! As mien 
Mudding upp’n Dodenbett lig... . .. : 

„Laß, fab! — dad find vergangene Seiten.” 

„Na, denn is't gaud. Bergeten daub id’t 
ee Mien beft Tied häw id nu 
hadd, dat’s ein Deil, twat gewif ig; man de 
Harrſchaft ward't nod beter weiten as id, 
wat in’ner Biwel ſteiht: Cs is nich gutt, dak 
dar Menfdd allein fei.” 

Sprach's und ging in ihrem grofen, tweiten 
Mantel langfam yur Tür binaus, 


— — 


Von Brauen und dber Ppauen. 


J. allgemeinen macht des Weibes Einzelleiſtung als Mutter nicht ihre Geſamtperſönlichkeit aus. 
Jede einzelne Frau iſt von Hauſe aus mit keiner andern verwechſelbar (beim männlichen Geſchlecht iſt's 


dasſelbe); jede hat ihre individuelle Pſyche. 


Es ſcheint aber, man ſiellt ſich das Frauentum wie eine Form vor, in die alle weiblichen 
Geſchöpfe hineinzuſchlüpfen haben, um — nach Gottes Ratſchluß — verſämtlicht gu werden, fo daß dic 


eine von der anderen ſich nicht mehr weſentlich unterſcheidet. 


Alle tun, fühlen, denken dasſelbe. 


Kommt dieſe gewalttätige Gleichformung nicht einer Verſtümmelung gleich, die — man könnte 
beinah ſagen — ſchon im Mutterleibe (durch Vererbung vieler Generationen) oder doch wenigſtens von 
Kindesbeinen an geſchieht und die Kräfte und Organe, won der Natur vielleicht zu hohen Dingen aus: 


erſehen, gu rudimentären werden läßt? 


In der Tat kann, wenn wir unermeßlich lange Zeiträume ins Auge faſſen, aus Unbenutzheit 


ſich Unbenutzbarleit ergeben. 


Hedwig Dohm. 
(,Die Mütter“. S. Fiſcher Verlag, Berlin.) 


Loy Los he em 


I A fll 


Annette von Oroste in ihrem Daturempfinden. 


Bon 
Dr Helene Herrmann. 
Raddrud verboten. — — 


— tärker als irgendwo empfinden wir in Annette von Droſtes Naturpoeſie ihrer 
Seele Duft und die herbe Eigenart ihrer künſtleriſchen Form. Ihr Verhältnis 
zur Natur hat manchen Betrachter ihres Weſens zur Analyſe gelockt. Wo der 
eine die dämoniſche Abhängigkeit der weſtfäliſchen Dichterin von der Landſchaft betont, 
fpiiren andere den Zuſammenhängen nad zwiſchen ihrer Sinnesorganiſation und der 
an moderne naturalijtifche Kunft gemabnenden Art, die Natur auszuſprechen. Jn 
jener Mifchung der echt weſtfäliſchen ftillen Befchaulicfeit, mit der fie ſich in das 
Rleinleben der Natur verfenft — realiſtiſch, wirflichfeitsfroh auc in der Sprache —, 
und der ererbten PBhantajtif, dem Zug gum Dämoniſchen, Clementar-Befeelten in der 
Natur ſieht Felir Poppenberg die cigentiimlide Qualität ihres Naturgefühls. 
MR. M. Mever reizt es, hei voller Beachtung diefer Siige, ju zeigen, wie ihre Sinne 
die Natur aufnahmen und welche Kunſterſcheinungen, welcher Grad artiſtiſcher Illuſion 
fic) Daraus ergeben, daß fie die Nabe fcbarf, allju ſcharf, alles wenige Schritte Cntfernte 
verſchwimmend fab, daß ibr feines Obr jedes leife Geraujd noc vernabm und vom 
anderen unterſchied, daß ihre ,,fajt pflanzenhafte Cmpfindlichfeit der Witterung gegen: 
iiber” ihr ermöglichte, beinabe ebenſo febr mit der Haut und mit den Geruchsnerven 
das Leben der Natur nachzuleben. Auch iby jüngſter Biograph Karl Buſſe unterfucdt 
ibre Naturanfdauung nach diefer Richtung und beriihrt auc) mit Cinficht die Be: 
deutung ibres pathologijd geſteigerten Nervenlebens fiir ibre an Natureindriide 
anfniipfende Spufphantajtif. 

Bei der fpesiellen Betrachtung ibres Gefühlsverhaltens der Natur gegeniiber 
fällt nun aber eine eigentümliche Begrenzung auf, durch die eben died Gefühl beftimmt 
erſcheint. Man fann ja das Naturempfinden eines Dichters nicht auf cine Formel 
bringen. Wher eine Beziehung zur Natur ift eS gewöhnlich, an der fein Fühlen den 
ſtärkſten Anteil bat. 

Bei Annette iſt ſie nicht da zu ſuchen, wo die Dichterin uns irgend ein anderes 
Lebensgefühl durch das Ausſprechen einer Naturſtimmung deutlich macht. Denn ſie 
hatte keine großen Lebensleidenſchaften, die in der Berührung mit der Natur ju 
Hingen beginnen. Wohl fennen wir Annette auch als Liebende Frau aus den Briefen 
an Schiiding, aber es ijt cin herbſtlich gedämpftes Gefühl, in dem dod) Freundfcbaft 
und Miitterlichfeit eine grofe Rolle fpielen. Diefe milde Wärme fonnte wohl nod 
einem Liederberbjt zur Reife helfen. Aber fo wenig wie ihre ſcheu verſchwiegene 
Sugendneigung wurde diefes ſpäte Gli felbft sum Liede. Und wenn ihr reiches 
Liebesbedürfnis, dem all die Menfehen, an denen fie hing, doch niemals recht Geniige 
taten, cine Umſetzung erfubr in ein religidjes Verlangen von wilder Starke und 
Innigkeit, cine wirkliche Formwandlung, die nichts zu tun bat mit der myſtiſchen 
Verſchleierung der Crotif, die wir fo oft in der Gottesfebnjucht der jungfräulichen 
Frau erfennen, fo ijt ibr auch dieſes Gefiihl, dem fie die ſtärkſten Crfchiitterungen 
verdantt, mur felten mit einem Naturgefiihl zur Cinbheit verſchmolzen. Es gibt einige 
ſolche Gedichte von ibr, und fie find merkwürdig und ſehr tragiſch. 


Annette von Drofte in ihrem Naturempfinden. 545 


Im allgemeinen wird man fagen finnen: das Naturempfinden der Annette wird 
felten von ftarfen beftimmten Gefiihlen gum Tönen gebracht. Es wird uns aud 
nicht überraſchen, bei diefer zarten, leidenden Frau faum jener quellenden Friſche eines 
allgemeinen, unbeftimmten Dafeinsgefihls gu begeqnen, das in Dichtern wie Goethe 
und Mörike durch gewiffe Naturerlebnijfe fo oft gewedt wird, Feinen ftarfen, aftiven 
Lebensimpulfen. Wohl ruft fie nocd in ſpäteren Jabren aus: „Und jedes wilden 
Geiers Schrei in mir die wilde Muſe weckt“. Aber ich möchte hierin eher das 
Bewußtſein ihrer umgeftaltenden Phantafiefrafte feben als die Macht phyſiſchen 
Yebens, das mit dem Schrei des wilden Vogels aus ihrer Brujt hervorträte. Als 
Wunſch und Sehnſucht bat aud das in ihr gelebt, — den wilden Kräften in der 
Natur, zu denen es fie in der Poeſie 30g, antiworteten wohl dieſe Sehnſuchtsſtimmen 
in ibrem Innern. Aber nur einmal fpridt fie es aus, wie die Luft an phvfijder 
Kraftäußerung in ihr emporfladert, angeweht vom Sturmesatem der Natur, Dan 
pflegt dies Gedicht „am Turme“ wohl mit Recht als den Sehnſuchtsſchrei ihrer 
jeelijden Gebundenbeit, den Ausdruck vergeblicden Verlangens nach freier Betätigung 
der Perfinlichfeit zu betrachten. Wber auch fiir das impuljive Muflodern aftiven 
Exiſtenzgefühls, das fid) an der Naturſtimmung entziindet, wird man es heranziehen 
miiffen. Da ſteht fie auf dem Turme des Bodenſeeſchloſſes und löſt die langen 
Flechten und läßt den Sturmwind ſich wühlen im flatternden Haar: 

O wilder Geſelle, o toller Fant, 

Ich möchte dic) kräftig umſchlingen 

Und Sehne an Sehne zwei Schritte vom Rand 
Auf Leben und Tod mit dir ringen. 

Am Strande die Wellen wie fpringende Doggen, auf- und niederſchwankende 
wimpelbeitere Schiffe, ſchreiende Vogel in der Luft — itberall Kraft, Leben, Aktion: 
„Wär ich cin Mann!” — in diefem Schrei quillt ibre Lebensfraft empor. Und in 
der Gebärde, die ihr, „dem artigen Kinde“, nur heimlich verjtattet ijt: im mänaden— 
haften Löſen der Haare läßt fie ibre Kraft hinausſtrömen in den Sturmwind. — 
Aber das ijt cine Musnahme. Der Grundafford ibres Naturgefiihls liegt wohl nicht 
da, wo das Ichmoment jo mit bewupter Betontheit bervortritt, fondern da, wo die 
Naturjtimmung, in der fie verfinft, alles Frithere aus ihrem Gemiit wegwifdht und ibr 
ganzes Bewußtſein erfiillt und fattigt. 

Das gefchieht, wenn ihr Naturgefiihl ganz rein und reftlos aufgeht in einer 
licbevollen Naturanſchauung. Oft febreitet fie hinaus aus der Einſamkeit ibres Haufes 
in die Einſamkeit ihrer Heide in der Mittagitunde, wenn die gliihende Luft bewegungslos 
jteht, wenn alle Lebende den Atem anhalt. Oder nach Sonnenuntergang, wenn die 
weifgrauen Nebel vom feuchten Moorgrund auffteigen und nur die Hirtenfener durch 
das wogende Weif glimmen. Ihre Kinftlerfreude ſättigt fich oft villig an der ſinnen— 
treuen Geftaltung diefer Erlebnifje. Große Partieen ihrer Heidebilder, der Cingang 
der Sylvefternadt, die Winterlandfchaften im Hoſpiz auf dem großen St. Bernhard, 
im Spiritus familiaris des Roßtäuſchers find glänzende Beifpiele dafiir. Für die 
Winterlandſchaft namentlich hat fie eine Feinfiihligfeit und eine Darjtellungsgabe, die 
in deutſcher Dichtung nicht allzuhäufig ijt. ; 

Gerade über dieſe Seite ibrer Poeſie ijt viel geſchrieben worden; ich fann mid 
mit Andeutungen begniigen. Dank ihrer befonderen SinneSorganijation entftehen 
Vorausnahmen naturalijtijder, detaillierender Naturfdilderung, und andrerſeits werden 
Wirkungen hervorgerufen, wie fie der malerifde Jmpreffionismus in uns erjeugt. 
Von ihrer finnlicen Aufnahmefähigkeit, dem virtuofen Auflebenlajjen aller empfangenen 
Cindriide wird dann alle Gefiihlstraft abforbiert.. Mever hat das glückliche Wort 
liber fie: ,, Wie fie fo aber den ganjen Prozeß der Wahrnehmung von dem erjten Verjuch 
des nod) entfernten Auges bis zur villigen Herrſchaft des Blides fiber den Gegenjtand 
fic) wiederbolen (aft, gibt fie und ein fo täuſchendes Gefühl der Realität, wie in ibrer 
Reit niemand, nach ihr nur ganz wenige ju geben vermodten.” 

Ws Beifpiel ihrer impreffionijtijcen Bilder fiibrt man gern die Strophe aus 
dem „Heidemann“ an: 

35 


546 Annette von Drofte in ihrem Naturentpfinden. 


Man fieht des Girten Pfeiſe glimmen 
Und vor ibm ber bie Herde ſchwimmen, 
Wie Proteus feine Robbenſcharen 
Heimſchwemmt im grofen Ojean. 


Hierber gebirt auch die ſchöne Strophe aus dem Gedicht „Mondesaufgang“: 


Hod über mir gleich trilbem Eiskryſtalle 
Zerſchmolzen ſchwamm beds Firmamentes Galle. 
Der See verſchimmerte mit leifem Dehnen, 
Serfloff'ne Perlen oder Wolkentranen? 

Es dammerte, es riefelte um mid. 

Ich wartete, du mildes Licht, auf did. 


und Verſe aus der „Neujahrsnacht“: 
Ym grauen Schneegeſtöber blafjen 


Die Formen, es zerfließt der Raum, 
aternen ſchwimmen durch die Gaffen . 


AM diefe „objektive“ Kunft ijt ja im Grunde nur möglich durch die Beziehung zwiſchen 
ibten inneren SZuftinden und der Natur. Wber eS gibt eine Form ibrer Raturpoeiie, 
und die liebe id) bejonders, in der ibr eigenes Gefühlsverhältnis heller bervortint. 
Es ijt eben die ſchon berührte Fähigkeit — 5** Hingabe, volliger Auflöſung in der 
Natur. Aus dieſer entſpringt ihr dann zuweilen eine Vereinheitlichung, die die ganze 
Fülle eines Naturerlebniſſes ihrem geheimen Sinn nach ausſpricht. Denn trotz ihrer 
vielgerühmten Sinnesſchärfe war weder Auge nods Ohr in dieſer Funktion das Organ, 
mit dem Annette die Welt aufnahm. Selten wird ihr eine Form oder Farbe, ein 
Licht oder Ton, in deren Umfaſſung, unter deren Schleier für einen Moment die Welt 
ruht, zum Trager eines künſtleriſchen Gebildes, ſo wie etwa in Möriles „Herbſtmorgen“: 

Im Nebel ruhet noch die Welt, 

Noch träumen Wald und Wieſen, 

Bald fiehſt Du, wenn der Schleier fällt, 

Den blauen Himmel unverſtellt, 

Herbittraftiq die gedämpfte Welt 

Qn warmem Golbe fliefen. ; 
Das ift nicht nur ſinnespſychologiſch ju erflaren daraus, daß fie, die Kurgfichtige, die 
Feinhorige, alle Cinjelbeiten zu ie erlebt hatte. Denn ebenſo lodte ja ibren Blic 
die fchimmernde Ferne. Biel mag an der mangelnden Formfonjentration liegen, daran, 
daß fie oft adbierte, zuſammenſchob, was als Cinjelgebilde Wert und Bedeutung hatte, 
aber nie 3ujammen ein geſchloſſenes Runftwerk ergab, dah fie nicht tilgte, wads die 
ſtrenge Notwendigkeit gegliederten Baues verwirrte. Aber mehr nod, meine ich, 
liegt es daran, daß das ſtärkſte Erlebnis in der Natur fiir fie das tft, wenn alle 
Cinwirfungen der Landſchaft auf fie ſich zu cinem cigentiimlichen Gefamtgefiibl 
verfdmelzen. Es ijt ihr dann, ald rinne durch ibre Adern dasjelbe Blut, das in den 
Leibern der Tiere und Pflanzen flieft, das als Waſſer neben ibr quillt, als Luft fie umſtreicht. 

So [Apt fie es ihren Fiſcher ausfpredyen, der im jitternden Glanz der Mittag: 

ftunde im wogenden Kahn liegt: Plätſchernd in der kühlen Flut fpielet feine beige 
Hand , Wafer, ſpricht er, Welle gut, bauchft fo kühlend an den Strand, 

Du ber Erde köſtlich Blut, 

Meinem Blute nah verwandt, 

Senbdeft Deine blanken Wellen, 

Die jet fofend um mic ſchwellen 

Durch der Mutter weites Reich, 

Börnlein, Strom und glatter Tei — 

Und an meiner Hiltte gleich 

Schlürf' id Dein geldutert Gut, 

Unb Du wirſt mein eigen Bhat, 

Liebe Welle, beil’ge Flut! 


In einem anderen Gedicht ftellt fie fic uns dar, getrodnete Blumen betradtend und 
fic) der Stimmungen erinnernd, in denen fie die friſchen, lebenden pflückte: 


— 


Annette von Drofte in ihrem Naturentpfinden. 547 


Und wie Bluted Adern umfdlingen mig 
Meine Waſſerfäden und Moje. 


Es ijt died Einsfühlen mit der Natur aber vom Naturgefiihl pantheiſtiſch gejtimmter 
Seelen verſchieden. Gott-Natur: wir werden febhen, wie wenig fie das empfinden fonnte, 
wie fie vergeblid) rang, fic) Gott ebenfo nabe yu fiiblen wie der Natur. So mufte 
ibr das ſchwellende All-Einsgefühl de3 myſtiſchen Pantheismus fern bleiben. Wo ibr 
Gedanken an Allbefeeltheit auffteigen, da jind fie ibrer Frömmigkeit mehr qualvoll als 
begliidend; man ſehe das Gedicht „Inſtinkt“. Sie fiiblte ſich unjertrennbar verbunden 
mit der Natur: 

Jn feinem Auge Einflang liegt 

Mit bem, was iiber ibm fich wiegt, 

Mit Windgeſtöhn und linden Zweigen. 

Was ift ibm fremd und was fein eigen? 


Das Moment der Lebenseinfamfcit bringt einen bewußten Zug in dies Empfinden. 
Jn ſpäten Jabren, als jie den Menſchen gefunden hat, dem fie yum erjtenmal ibres 
GemiiteS Reichtum erſchließen darf, als ibe das Menſchliche einen höheren Wert 
gewinnt denn bisher, da beflagt fie fajt das Verhältnis yur Natur: 


als feinen Bli ich noch erfannte 
al den des Strahles durch's Gezweig 
die Felfen meine Briider nannte, 
Schweſter mein Spiegelbild im Teich. 


Sie follte yur Natur als zu ihrem eingigen Glück juriidfebren, da der Menſch, 
den fie liebte, ihr entglitt: „Verlaſſen aber einjam nidt, erſchüttert aber nicht zerdrückt, 
fo lange nod das beil’ge Licht auf mic) mit LiebeSaugen blidt, folange nod) der 
friſche Wald, aus jedem Blatt Geſänge rauſcht . . . .” 

Aber died Gefiiblsverhaltnis zur Natur ijt ebenfo weit vom myſtiſchen Pantheismus 
wie vom All-Einsgefühl des modernen Künſtlers entfernt. Fern ftebt fle dem bewußten 
Entziiden, in dem Hofmannsthal ſchwelgt, den Cinflang aller Dinge, den „ver— 
ſchwiegenen Gang des grofen Lebens” tiefinnettich zu verjteben, ,,weil — in unferem 
Leib das Mil dumpf zuſammengedrückt“. Der Wonne dariiber, daz, wenn er der 
Natur ihr Gebheimftes entreift, den Sinn und das Leben jedes Naturzuftandes jum 
Rlingen bringt, er zugleich Das Innerſte feiner Seele vernimmt: „draußen find wir 
zu finden, draußen.“ „Und immer bebte meine Ceele voll von allem Lebenden der 
großen Landſchaft.“ Das Gliic diefer Bewuftheit, Blüte feinjter, edelfter Kultur, war 
nicht in ihrem Cinsfiiblen mit der Natur. Dazu ijt fie felbft der Natur nod gu nab. 
Viel primitiver, viel leidender, dumpfer ijt das alles bei ihr. Jn den dunfelften 
Tiefen des Bewußtſeins, da, wo das pſychiſche Erlebnis feine Wurzeln erſt mählich aus 
dem phyſiſchen Grunde lodert. Abſolutes Durchtranktfein von der Natur, elementarifcy- 
dumpfes macht es ibr zuweilen möglich, die Vereinheitlichung eines Naturerlebniſſes 
dadurch zu ſchaffen, daß ſie — ich möchte ſagen, das nervöſe Leben der Naturſtimmung 
aus dem Miteinander der Naturgeſchöpfe herausfühlt. Wir werden das auch in zweien 
ihrer religiöſen Gedichte beobachten können. Mit welchem Einheitszuge gibt ſie den 
phyſiſchen Zuſtand der Natur am Seegeſtade in der Stunde des Pan: 


Ratur ſchläft, ihr Odem ſteht, 

Ihre griinen Locken hangen ſchwer, 

Nur auf und nieder ihr Pulsſchlag geht 

Ungehemmt im heil'gen Meer. 
Es ſind oft nur ein paar Zeilen in einem langen, allzulangen Gedicht, in denen das 
auftaucht. Der Cyklus „Der Weiher“ iſt eine Miſchung reiner Naturſchilderung und 
romantiſcher Perſonifizierung. Aber da, mit einemmale wird die Naturſtimmung 
gegeben, daraus: wie alle Naturgeſchöpfe die Wirkung der ſteigenden Tagesglut 
empfinden. Hierdurch erſteht weit Wartere Illuſion als durch die meifterbafte Detail: 
wiedergabe fichtharer Bilder. Denn eS war das Erlebnis, in dem fiir fie alle Cinjel- 
erfabrungen ihrer Sinne jufammenfloffen. Wir fiblen die Durftende Mattigheit der nad 

B5* 


548 Annette von Drofte in ihrem Raturemp finden. 


friſchem Bade verlangenden Landfcaft, wenn fie die Linde „die einfam niederlechst 
vom Uferrande”, klagen läßt: 


Wie grell bie Gonne blitzt — ſchwül wird der Tag. 
© finnt id, fonnt ich meine Wurzeln ftreden 
Rect mitten tief in bas kryſtall'ne Beden. ..... 


Und im Gegenſatz dazu das woblige Schlürfen der Kühle durch die Waſſerfäden, die 
der Teich als feine Blutsverwandten feſt an fics preft: 


und wit bobren unjre feinen Ranken 

In die Bruft ihm wie ein liebend Weib, 
Dringen Adern gleich in feinen Leib, 
Dammern auf, wie feines Traums Gedanten. 


Diefe eigentümliche Beziehung zur Natur fommt auc in ihren Vergleichen und 
Pildern gum Wusdrud. Ein Herausfiiblen phyſiſcher Bujtinde aus der Natur bietet 
der Phantajie den Anknüpfungspunkt: 

Bur Seit der Scheide zwiſchen Nacht und Tag, 
Als wie cin fieder Greis die Heide lag 

Und ibr Geftdbn bes Moores Teppich regte, 
Kranthafte Funten im verivirrten Saus 
Elektriſch biigten . 


Von dem See in grauer Regenjtunde fagt fie: 
Miide, müde die Luft am Strande ſtöhnt 
Wie ein Rok, bas den ſchlafenden Reiter tragt. 
Im Fiſcherhauſe fein Lämpchen brennt, 
Im öden Turme fein Heimeen ſchrillt, 
Nur langſam rollend der aaa ſchwillt 
In dem zitternden Element . 


Sein gleißender Nerv erbebt, naht ihm am Strand eines Menſchen Fuß. „Der 
blaſſe Ather ſiecht“ ... Der Ode Ode 30q fo ſchwer, als ob er fiecher Brujt ent- 
gleite . . .“ „Der morſche Tag ijt eingefunten, fein Auge gläſern falt und leer. . .“ 
„Tief zieht die Nacht den feuchten Odem, des Walles Gräſer zucken matt — 
Bon der glasklirrenden kalten Slveſternacht: „mit Fünkchen iſt die Luft erfüllt, bie 
Sterbefeufyer zieht und quillt . .“ Beim Gewitter: „Die Lüfte wehn ſo ſeufzervoll 
und lau, und Angſtgeſtöhn die Zweige tegt . 

xh fagte fon: Man fann ibe r Raturgefiibl nicht mit einer Formel ausfpreden. 
Und wenn auc) mir die geſchilderte Form als dic fiir fie charakteriſtiſche erſcheint, fo 
ſind doch auch die Gedichte, in denen das Naturempfinden nicht ſo ausſchließlich die 
Seele erfüllend alles übertönt, in denen es zum Dolmetſch oder zum Begleiter anderer 
Gefühle wird, für den, der ihre ſeeliſche Dispoſition verſtehen will, unendlich auf— 
ſchlußreich. Die beiden Gedichte, in denen ihr religiöſes Empfinden mit ihrem Natur— 
gefühl zu einem Zweiklang zuſammenſchmilzt, offenbaren uns, wie dieſe Art des Natur— 
erlebens, die ihr höchſtes Glück war, zur Tragik fiir fle werden konnte, weil fie auf 
anderen Lebensgebieten nicht dieſe gleiche Fähigkeit der Hingabe hatte, in der doch 
etivad von anfaugender Kraft liegt. Auch die heißeſte Sehnſucht madhte es ibt nicht 
möglich, Gott ebenſo zu erleben wie die Natur. Ohne Glauben, voll der Liebe,“ 
das iſt der wehe Grundton ihres Geiſtlichen Jahres „Ach nimmſt Du fait des Glaubens 
nicht die Liebe und des Verlangens tränenſchweren Boll!” Das fteigert fic in einem 
der Gedichte bis zum inbriinitigen Dürſten nach der göttlichen Verbeifung „über ein 
fleines werbdet ibr mid) ſehen.“ 

Sie läßt ihr Begehren nad) der Gottesnähe in den Schauern eines Gewwittertages 
wor uns aufiteigen: Die Sduwiile ängſtet die Kreatur; man jiebt den Blig durch 
Schwefelgafien zucken, fieht das Wetter fich löſen im feijen Weinen des Wolfentaus. 
Dem phyſiſchen Crlebnis der Natur vermag ihr Naturgefiihl bis ing feinfte nachzutaſten, 
in dem Angſtgeſtöhn der Sweige, dem Niederducken der Vogel, dem Keuchen der Herde 
fpiirt fie es. Wher da ijt nod) ein Anderes, von dem jie meint, die Naturgeſchöpfe 


—— — 


Annette von Drofte in ibrem Raturempfinden. 549 


empfänden es, fie aber rufe vergeblich danach — die Gottesnähe! — Und gerade in diefem 
Gegenſatz von Fühlen und Nichtfiihlenfinnen wird uns die Cigenart ihres Gottesver- 
langens beſſer gedeutet als aus dem bibliſchen Hinweis, mit dem fie ſchließt: auf Elias, 
dem Gott nicht im Getvitter nabte, nicht in der Flamme, fondern im fanften Saufeln. 
Und nocd einmal wird die Erweckung religidfer Gefiible durch eine Naturftimmung ifr 
gum tragiſchen Erlebni$. Ach meine dad Gedicht: ,, Die ächzende Kreatur.“ Die Ängſt, 
verworfen ju fein vor Gott, weil fie den Glauben nicht babe, liegt am ſchlimmſten 
auf ifr, wenn fie in jenen eigentümlich qualvollen phyſiſchen Zuſtänden dabin dammert, 
da „ein frankes Blut, was, adh, im eigenen Drud erliegt,” ihr Geift und Willen 
lähmt. Dann fteigert fic) dieſe Angſt su dem grofen Gedanfen der menſchlichen Erbfiinde. 
Nun aber figt fie eines Tages in ſolchen Qualen einfam im Garten: 


Wn einem Tag, wo feucht der Wind 
Wo grau verbangt dee Gonnenftrabl . .. 


Ihr war die Bruſt jo matt und enge, 
Shr war das Haupt fo bumpf und ſchwer; 
Selbft um ben Geift jog dads Gedränge 
Des Blutes Nebelflore her. 


Gefabrte Wind uud Bogel nur 
In felbftgewahlter Cinjamfeit; 
Gin groper Seufjer die Natur, 
Und ſchier jerflofien Raum und Heit. 


Ihr war, als fiible fie die Flut 

Der Cwigkeit voriiberraufden, 

Und miiffe jeden Tropfen Blut 

Und jeden Herzſchlag dod belaufden. 


Und wie ibre arme, leidende Seele dabinbangt, ſchaurig wach bei aller Ge: 
bundenbeit, da fühlt fie, daß die Qual, unter der fie ſtöhnt, an Ddiefem grauen Tage 
auf aller Nreatur liegt. Und weil fie nod) diefen elementaren Sufammenbang mit der 
Natur hat, dak fie allem Gefchaffenen feine Zuſtände anfiihlen muß und jugleid von 
jeder Naturftimmung dämoniſch —— wird, darum ſteigert ſich ihr kleines menſch— 
liches Leiden vor Gott zu dem Gedanken, mehr wohl zu dem überwältigenden Gefühl 
von der Daſeinsſchuld, unter der alle Weſen in Not und Angſt dahinhaſten — vom 
Leiden der Welt: 

Da ward ihr lar, wie nicht allein 
Der Gottesfluch im Menfdenbild, 
Wie er in ſchwerer dumpfer Bein 
Im bangen Wurm, im fdeuen Wild, 
Im durſt'gen Halme auf der Flur, 
Der mit vergilbten Blittern lechzt, 
‘ In aller, aller Kreatur 
Ben Himmel um Erldfung ächzt. 


Und dieſe ,,Schuld des Mordes an der Erde LieblichFeit und Ould,” die Sduld am 
dumpfen, qualvollen Rampf ums Dafein drängt fics iby in der Form eines ſchweren 
religidfen Leides in der Stunde auf die Lippen, da die Qualen ihres Leibes ihrer Seele 
nur ein Echo der Naturſtimmung gu fein febeinen, in der fie verſinkt. Das ijt der 
Bufammentlang ibres religiifen und ihres Naturgefiihls. 

Suweilen — namentlich in der Spätzeit — wedt die Berührung mit der Natur 
andere, leifere Tine in ibrer Seele. Lebensgefiible, die Lange verſchwiegen wurden, 
gewinnen in einer beftimmten Naturjtimmung Sprade. Wenn im fremden Lande die 
„allbekannte Nacht” emporfteigt, dann werden alle Erlebniffe ibrer Sinne in der nächt— 
lichen Landſchaft Erweder phantaſtiſcher Gebilde, nach denen ibre große Heimatſehnſucht 
verlangt. Jenes Gefiihl, in dem dabeim ibre Seele rubt wie in einem nährenden 
Element: die Liebe nicht nur yu dem Lande, fondern aud) gu allem darin Erlebten, 
zu Den Lebenden und Toten, die diejem Boden angehiren, wird durch ibr Naturgefiihl 
ſtärker angeregt, erhält eine cigentiimliche Betonung: 


550 Annette von Drofte in ihrem RNaturempfinden. 


Dann ift es mir, als hort ich reiten 

Und flirrend mir entgegenziehn 

Mein Baterland von allen Seiten, 

Und feine Küſſe fühl ich glühn. 

Dann wird des Windes leiſes Munteln 
Mir gu verivorrnen Stimmen bald 

Und jede ſchwache Form im Dunkeln 
Sur tiefvertrauteften Geftalt. 


Sic ruft mit voller Sehnſuchtskraft die Lebenden und die Toten herbei: 


Ich möcht end alle an mich ſchließen, 
Ich fühl euch alle um mich her, 

Ich möchte mich in euch ergießen 
Gleich ſiechem Bache in das Meer 

Und wieder offenbaren uns Naturgedichte das Geheimſte einer ſeeliſchen Richtung, 
die in ihren ſpäteren Jahren immer mehr hervortritt. 

Dieſe innere Vertrautheit mit den Toten — denen ſie, wie Buſſe an vielen 
Beiſpielen ihrer Dichtung aufgezeigt hat, oft ſelbſt in ihrer großen Einſamkeit anzu— 
gehören glaubt — iſt nur ein Ausdruck für ihre Sehnſucht nach dem Erloſchenen 
iiberhaupt. Dieſe ſteht in innigſter Beziehung zu ihrem Naturgefühl. Dies Verlangen 
nach dem Aufſteigen alles Genoſſenen und Durchlittenen aus dunkeln Tiefen des 
Bewußtſeins ins Licht lebendigen Gefühls, dies „Werben um bleiche Bilder, um 
verſchwommene Töne“ entfaltet ſich in ihr, der Leidenden, Alternden, von der Heimat 
Fernen, am ſchönſten dann, wenn ſie ruhend im Graſe ſich trunken wiegen läßt von 
den Armen der Natur, ſich ganz der Wonne hingibt an dem Vogellied, „das mir 
niederperlt aus der Höh.“ Dieſes Verſchmelzen der Gefühle findet klingenden Ausdruck: 

Süße Ruh, ſüßer Taumel im Gras, 
Von des Krautes Arom umhaucht 
Tiefe Flut, tief tieftrunkene Flut, 
Wenn die Wolk am Azure verraucht, 
Wenn aufs müde ſchwimmende Haupt 
Süßes Lachen gaukelt hinab, 

Liebe Stimme ſäuſelt und träuft 

Wie die Lindenbliit auf cin Grab; 
Wenn int Bujen die Toten dann, 
ede Leiche fich ftredt und regt, 
Veife, leife ben Odem siebt, 

Die gefcdloffene Wimper beweat. 

Tote Liebe, tote Luft, tote Zeit, 

All bie Schätze im Schutt verwiibit 
Sid berühren mit ſchüchternem Rlang 
Gleih den Glöckchen vom Winde umfpielt. 

Hier madt die villige Harmonie der wehmütigen Lebensſtimmung, in der ſchon 
Die nahe Auflöſung vorflingt, mit der auflojenden beraufdenden  Naturftimmung fie 
zur Dteifterin fiber Rhythmus und Vokalmuſik in einem Mage, wie fie es nicht oft ift. 
Selten fühlt man bet Annette cin ganzes Gedidt von der Woge ciner rhythmifden 
Beivegung ſchwellend emporgetragen. Ihre kräftigſten finnlich lebendigen Naturgedicte 
leiden am ſtärkſten unter einzelnen ſchlimmen Verſen, unter den Harten maflofer 
Ronfonantenbiufung. Hier aber wird der Rhythmus mit feinem fteigenden Schwellen 
und dem Ausruhen in der vollen Kadenz dem Dehnenden und Wiegenden der Sebn- 
juchtsgefiible fo gerecht! Und wie fijtlid) Lift der Rhythmenwechſel in dem Bers: 

Tiefe Flut, tief, tieftruntene Flut 


mit dent Kunjtmittel der vier vollbetonten Silben, die einander folgen und uns zum 
fangen Ausfojten ibres Klanges loden, uns den Taumel des immer mehr im Ather— 
blau verfintenden Blides abnen. Wiederholter Weehfel heller und dunkler Klänge ijt 
ein Reiz mebr. 

Und aud unfaßbar fliichtiqe Gefiible läßt fie uns ſinnlich naderleben in den 
Bildern vom leifen Regen und Odempiehen der Toten, die fajt zarte Bewegungs— 
empfindungen in uns auslöſen. Das feine Klingen der lesten Verſe macht uns die 


Annette von Drofte in ihrem RNaturempfinden. 551 


innere Muſik in ihrem Obr hörbar. — Begliidend aber ijt ibr diefe Sehnfucht nur in 
der Natur. Denn die Naturerlebnijje, fie find das in allem Wechſel ewig gleiche, 
das treue, bleibende, das cingige, was ihr die geliebte Vergangenheit mit der Gegen- 
wart verbindet. Und darum meine ich, die Naturgedicte allein ſprechen das traumbafte 
Glück dieſes Wiederauflebens toter Liebe, toter Luft, toter Beit künſtleriſch rein ans. 
Die Menſchen — ach, unter ihnen ijt die Erinnerung fein Glück — fie tragen alle 
Spuren de$ Vergehens an fich, und ihre Seelen haben nicht gebalten, was die Dichterin 
von ihnen erhoffte. Sie hatte fie — das ijt cin romantiſches Clement in Annette — 
mit allem Glan; ausgefchmiidt, den ihre eigene Seele beſaß, und fteht nun enttäuſcht 
vor dem, twas geworden. Das Gedidt ,Die Golem” ſpricht es aus: 


Web dem, der lebt in des Vergangnen Schau, 
Um bleiche Bilder wirbt, verſchwommne Tone, 
Nicht was gebrochen macht bas Haar ifm grau, 
Was Tod gefnicdt in {einer ſüßen Schöne, 

Doc fie, die Monumente ohne Toten, 

Die wanbernden Gebildbe ohne Blut, 

Sie, feine Tempel ohne Opferglut 

Und feine Haine obne FriiblingSboten! 


Aber fie braucht nicht wie Brentano auszurufen: „Poeſie die Schminferin nabm mir 
Glauben, Hoffen, Lieben”, denn in der ungebrodenen Kraft ibres Naturgefiihls hat 
fie die Fiabigheit, all das, was das Leben, die Menſchen getdtet haben, in ihrem 
Bewußtſein wieder auferjtehen zu laſſen, und dann ift die Erinnerung Seligfeit. 

Und diefe Befruchtung der Phantafie durch das Naturgefiihl, diefe Fabigkeit, dem 
Traum Lebenswarme zu verleiben, macht fic nod in zwei Ror wunderbaren Gedichten 
geltend, in denen fie wiederum in villiger Paffivitdt erlebte Natureindriide phantaſtiſch 
wiedergibt. Auch hier ift wie in den friiher charafterijierten Poefien fein ſtärkeres 
ſeeliſches Clement neben dem Naturgefiihl lebendig. Aber fie fteht der Natur nod) in 
einer anderen Verfaſſung gegeniiber. Sie befindet fic) in jenen eigentiimliden Trance- 
zuſtänden, die bei dem iiberjarten Nervenleben der leidenden Frau nichts Seltenes 
waren. Man hat diefe ,,Nervenfpannungen”, in denen Gerdufche ibres Blutes zu 
jpufbaften Klängen werden, zur Erklärung ihrer Gefpenfterpoefie mit herangezogen. 
Aber nicht immer wurde ibr aus foldhen Zujtinden nur das Gefiihl de3 Grauens in 
der Natur geboren, das jie Spufgeltalten ſchaffen ließ oder auch nad) dem bereits 
wefenbaft bildlid) gewordenen, bereits zu Spufgeftalten geformten Phantafiegut des 
weſtfäliſchen Volkes qreifen lief. 

Zuweilen verdanfte fie diefen Zuſtänden cine begliidende Criveiterung ibres Natur: 
gefiibls, fie vermodte Phantaſielandſchaften mit der Friſche beriibrbarer Gegenwart zu 
etleben — und fie vermocte dann jo malerijd) oder mujifalijd zu vereinbeitlicen, 
wie fie es fonft nicht fonnte. 

Jn dem vielzitierten Gedicht „Sommermittagstraum“ fchildert fie die Lethargie, 
die Lahmung des Willens, die Nberwachbeit der Sinne, die durch Krankheit, durch den 
in allen Nerven zu fpiirenden Einfluß „der ſchwefelnden Gewitterluft” bervorgerufen 
wird. Nur im Halbſchlaf nod) empfundene Gerdujche de3 Gewitters und jenes , Raufden 
und Rlingeln im betäubten Hirn“ werden ibe zu Stimmen, die aus den Gegenjtinden 
auf einem Tiſch vor ibrem Lager herausjutinen ſcheinen. Darunter ijt aud) eine 
Muſchel und eine blitzende Erjftufe, deren Leuchten jutveilen im Bligftrahl aufzuckend 
burch ihre Wimpern dringt. Die Dinge alle auf dem Tiſch erzählen ihr von ſich. — 
Bei dem gleicmapigen Fallen der Regentropfen wird ihr das Rauſchen zur Stimme 
deS Meeres. Und ein Phantafiebild ſteigt vor ihr auf, erfiillt von Meeresmelodie 
und Meeresatem in einer Vorfonnenaufgangsjtunde: 


Woge, Welle, ſachte, facht, 

Dak der ‘Triton nicht erwadht: 
In der Hand das plumpe Horn 
Schlummert ex am Strubdelborn. 
In der Muſchelhalle liegt er, 
Seine griinen Zopfe wiegt er; 


552 Annette von Drofte in ihrem Naturempfinden. 


Rief'le, Woge, Sand und Kies 

Qn bes Barteds zottig Blies .. . 

Das Lied verhaudt wie Edo am Geftade, 

Und leijer, Leifer wiegt fic) die Najade, 

Beginnt ibr ftrdémend Flodenbaar yu breiten, 
Läßt vom Korallenfamm die Tropfen gleiten, 

Und ſachte ftrablend ſchwimmt fie, wie cin aud 
Im Strahl, ber dämmert durd den Rebelraud. 
Wie glänzt ihr Regenbogen{dleier! — ov, 

Die Gonne fteigt, das Meer beginnt gu zittern — 
Cin Silberneg von Myriaden Flittern . . . 


Das Phantajfiebild alfo, gezeugt vom Frankhaft erregten Gebirn, genährt an leifen, 
wie aus weiter Ferne fFommenden Gehörs- und Gefidt3ecindriiden, hat nichts Verwiſchtes, 
nichts Geſpenſtiſches. Abr Naturgefiibl verleibt dem Traume Leben. Und die in Den 
legten Verſen gegebene Licstvifion ijt das, wads in ihrer waden Dichtung yu feblen 
ſchien, der eine, mehr als alle erregende Cindrud eines Sinnes, der fiir einen Moment 
das Gebeinnis einer Landfdaft ausfpricht. 

Jn einem Zuſtand ahnlicher tiberjteigerter Empfänglichkeit wurden ihr die Offen— 
barungen der „Durchwachten Nacht”. Sie bat wieder mit allen Naturgeſchöpfen 
die Stunde des Entſchlafens miterlebt; auch fie ijt matt, matt wie die Natur. Und 
in gleichem Taft beginnt nun ihr Blut yu wogen mit dem neuen Leben, das jest 
erwadt. Wie „verhaltenes Weinen” fteigt Langer Rlageton der Nadhtigall aus dent 
Fliederftrauch. Auf jedem Fliederblatt entziindet das Mondlicht Funfen, Funfen 
{prithen aud) in ihrem Blut: 

Dest möcht ich feblafen, ſchlafen gleich, 
Entſchlafen unterm Mondeshauch, 


Im Blute Funken, Funk im Strauch, 
Und mir im Ohre Melodei ... 


So anders als im wachen Zuſtand, ſo viel feiner erlebt ſie, daß ſich ihr wie modernſter 
Sinnesempfänglichkeit die Erlebniſſe eines Organs in die des anderen umſetzen: 


Das Dunkel fühl ich kühl wie feinen Regen 
An meine Wange gleiten.... 


Und aus all dem cin Phantafieton, lang aushallend, endlic) zur bildhaften Viſion 
werdend: 

Und immer beller wird ber fiife Klang. 

Das liebe Laden, eS beginnt ju ziehen 

Wie Bilder von Daguerre die Dec entlang, 

Die aufwärts fteigen mit des Pfeiles lieben. 


Das was Farbe und Ton ihrem wachen Naturgefiihl nidt geben fonnten, — 
das wird ibrem ,wunderbaren Schlummerwachen“ hier zu Teil: die Wechſelwirkung 
yon Raturgefiibl und Phantafie, die ihrem Tranceftand eigentümlich ift, erzeugt das 
innere lyriſche Rlingen ,,gewoben aus der Sebnfucht und dem Schweigen“, das alle 
Einzelerlebniſſe zuſammenfaßt. Und bitte fie nicht, wie fo oft, auch die Schinbeit 
dieſes Gedichts durch grinunige Härten, durch eingelne geſchmackloſe Vergleiche, durch 
ſchlimme Reime, durch die gequilte Angabe der einzelnen Nachtſtunden zerſtört — anc 
Umarbeitungen tilgten died nicht — wir würden mit nod) reinerer Freude dieſe feltene 
und feltfame Frudt geniefen. 





Clisabeth Onauck-Rihne: 
Vie deutsche Brau um die Jahrhundertwende. 


Sen 
Dr Elifabeth Gottheiner. 


Radbrud verboten. 


ie Reihe der Schriften, die der Beginn des neuen Jahrhunderts gezeitigt bat, 

ift durch einen NachEonunling vermebrt worden: Clifabeth Gnauck-Kühnes 
Deutſche Frau um die Fabrhundertwende.') Das Buch will feinen Nberblid 
geben tiber dad geſamte Frauenleben unjerer Zeit, wie man nad dem Titel wobl 
meinen fonnte; das überläßt es umfangreideren Werken. Seine Abſicht ijt nichts anderes, 
als an Der Beſſerſtellung des weiblichen Geſchlechts mitzuarbeiten. Um aber mit der 
Reform an der richtigen Stelle cinfepen zu können, will es zunächſt Cinficht gewinnen 
in vorhandene Mängel. Auf der trodenen, ficeren Grundlage der Statiſtik will 3 
Die Lebensverhiltniffe des weiblichen Geſchlechts in ibren Sebhiviertgfeiten und Nbel- 
ſtänden darlegen, und unterfuchen, wie tweit dev Umſchwung darin bereits vorgeſchritten 
ift. €8 will den Anteil der deutſchen Frauenwelt an Ehe und Berufsarbeit aus den vor: 
handenen ſtatiſtiſchen Quellen herausſchälen. 

Es ſcheint faſt, als habe Eliſabeth GnauckKühne ihrem Temperament durch die 
Beſchränkung auf dieſes enge Gebiet Zügel anlegen wollen, als habe ſie es abſichtlich 
in dieſen Rahmen gepreßt, der ihrer urſprünglichen Anlage ſo wenig angemeſſen iſt. 
Sie erſcheint faſt unperſönlich in dem eigentlichen Kern des Buches, den ſtatiſtiſchen 
Kapiteln, während ſich uns in den einleitenden und den Schlußkapiteln ihre ſtarke 
Perſönlichkeit, mit allem, was uns an ihr anzieht und von ihr trennt, überall 
aufdrängt. 

Trotzdem wollen wir unſere Aufmerkſamkeit zunächſt dem ſtatiſtiſchen Teil 
zuwenden und nicht verweilen bei den der Form nach ſehr anziehenden, und in ihrer 
prägnanten Zuſammenfaſſung auch) den mit der Frauenfragelitteratur Vertrauten ſehr 
wertvollen Darlegungen fiber die wirtſchaftlichen und ideellen Urfachen der Frauen- 
bewegung. 

Nach der letzten Berufszählung von 1895 betrug der Überſchuß der weiblichen 
über die männliche Bevölkerung im deutſchen Reiche faſt eine Million. An dieſe Tat— 
ſache anknüpfend, beginnt die Verfaſſerin ihre ſtatiſtiſchen Unterſuchungen. 

Sie legt dar, daß, obgleich im Deutſchen Reich auf 100 Mädchengeburten durch— 
ſchnittlich 106 Knabengeburten entfallen, die Natur das ſtärkere Geſchlecht alſo un— 
verkennbar geſetzmäßig in der Mehrzahl ſehen wolle, Kultureinflüſſe dieſes natürliche 





Eliſabeth Gnauck-Kühne. Die deutſche Frau um die Jahrhundertwende. Statiſtiſche 
Studie zur Frauenfrage. Berlin bet Otto Liebmann 1904. 166 S. Preis 3,50 Mart. 


554 Eliſabeth Gnauch Auhne: Die drutſche Foam am bie Aaehumbertwenbe. 


Berhaltnis febr bald verfdieben. Nur bis gum 16. Lebensjabhre iiberwiegt das 
mannliche Gefdledht, dann beginnt der weibliche ÜUerſchuß allmablid zu ſteigen, bis 
er endlid) im Greijenalter den Höhepunkt erreicht. (Auf 100 Manner von 70 Jahren 
fommen 123 Frauen.) Der Frauenüberſchuß entiteht aljo durch die Langere Lebensdauer 
des weiblidien Geſchlechts; die Urſachen diefer gilt es daber junddjt yu finden. Die 
größere Sterblicfeit der Manner (auf 100 weiblicde Gejtorbene kommen im Deutiden 
Reich 110 mannliche) ijt feine ausreichende Erflarung. Es müſſen aud) pofitive Griinde 
dafiir vorliegen. Diefe bat man bisher hauptſächlich in dem Haus: und Familienleben 
ber Frau, dem die aufreibende Nerventatigteit des männlichen Berufslebens feblt, ferner 
aber aud) in der Abwefenheit von Gefabren fiir Leib und Leben, in dent züchtigeren 
Lebenswandel der Frau und ihrer größeren Anpajfungsfibigkeit finden zu müſſen 
geglaubt. Ohne diefe Gründe gu leugnen, führt Clijabeth Gnauck-Kühne aber nod 
ein andere3 ibr febr wichtig erſcheinendes pfychifches Moment ins Felb. Das Weib 
fei in viel höherem Mage als der Mann Tragerin überlieferter ſittlich-religiöſer Joeen 
geblieben. Die durd den Cinflug der Religion gewonnene Willensſtärke aber made 
es fabiger, ſchwere Schickſalsſchläge zu ertragen. 

Hierin ſieht die Verfaſſerin auch den Grund, weshalb die Selbſtmordſtatiſtik für 
die Frau cine fo viel günſtigere ijt, als fiir den Mann. (Auf 100 000 weibliche 
Deutſche entfielen im Durchfdnitt ber Sabre 1898—1900 nur 8, auf 100 000. mann: 
lidye Deutſche aber 32, alfo viermal foviel, Celbftmorde.) Meiner Anſicht nad) eine 
zu einfache, weil zu cinjeitige Erklärung einer Tatfache, deren fomplere Urſachen ju 
erforfden es doc) noch anderer Mittel bedarf, als Frau Gnauck-Kühne angewendet bat. 
Ohne daber linger bei diefem ſehr eingebend bebandelten Punft ju veriveilen, folgen 
wir der Verfafferin weiter durch ,,die dürren Geltinde der Statiſtik“. 

Einen breiten Raum nehmen die Unterfudungen über den Anteil des weiblichen 
Gejdlehts am ,Cheberuf’ ein. Der Wusdrud „Eheberuf“, der fic ſonſt in 
ſtatiſtiſchen Darlequngen nicht ju finden pflegt, ift übrigens charafteriftijd fiir die 
Auffaffung der Verfafferin, auf die wir nods zurückkommen werden. Dod) das nur 
nebenbei. 

Frau Gnauck Kühne glaubt das Richtige getroffen gu haben, wenn fie das weib— 
lice Heiratsalter von 16—50, da8 männliche von 20—60 abgrenzt. Bei dieſer an- 
qenommenen Abgrenzung fteben den etwa 12'/, Millionen weiblicder Perfonen von 16 bis 
5O Jahren etwa 12 Millionen männlicher von 20—60 Jahren gegeniiber. Es ergibt 
ſich alfo ein weiblicer ÜUberſchuß von etwa einer balben Million. Dieſe notivendig 
zur Eheloſigkeit verurteilten Frauen bilden aber nur den kleinſten Teil der wirklich 
ehelos bleibenden. Wir haben in Deutfchland nicht eine halbe Million lediger Frauen, 
fondern fajt 5'/, Millionen und dazu nods über cine halbe Million Witwen, Gefchiedene 
und Eheverlaffene. 

Im Alter von 20—30 Jahren find über die HaAlfte aller Frauen nods ledig. 
Im Alter vor 30—40 bilden die Verheirateten drei Viertel, dic Chelofen cin Viertel 
der Gefamtfumme, Unter den Chelofen iiberiviegen die Ledigen die Witwen. Im 
Alter von 40—50 Jabren iſt die Verteilung ungefahr die gleiche, nur dah jebt die 
Witwen die Ledigen überwiegen. Dim ganjen ijt die Zabl der Verbeirateten doppelt 
fo groß wie die der Ledigen. Trogdem aber verbleiben in Deutſchland faft 4 Millionen 
ehelos (ebender Frauen von 20—50 Jahren, eine Zabl, fo groß, daf fie der weibliden 
Bevölkerung de8 ganzen Königreichs Bayern gleicfommt. 


— * 


Elijabeth Gnauck-Kühne: Die deutſche Frau um bie Qabrhundertivende. 555 


Als lebenslänglicher Beruf, gefcbweige denn als lebenslinglide Verforqung fann 
aber aud die Che niemals mit Sicherheit angefehen werden. Denn obgleich in der 
Altersklaſſe 30—50 rund 77 Prozent aller Frauen verbeiratet find, ift vom 50. Lebens- 
jahre ab, d. h. im reiferen und ſpäten Alter die größere Hälfte des weiblichen 
Geſchlechts als Witwen wieder auf fich felbft geftellt. 

Im Anſchluß an diefe Tatfade, die nach der Verfajferin Anſicht lange nicht 
allgemein genug bekannt ijt, pladiert fie in warmen Worten fiir die Cinfiibrung der 
Witwen- und Waifenverjiderung, dem nächſt der Mutterſchaftsverſicherung sweifellos 
widtigften Zweige der ganzen Verſicherungsgeſetzgebung. 


* * 
oa 


Es folgt nun das intereffantefte Kapitel über den Anteil der ebemiindigen Frauen 
an der Erwerbstätigkeit. Im ganzen ijt ein Viertel der weiblichen Bevölkerung 
Deutſchlands im Hauptberuf erwerbstätig; von dieſen ſind ledig 69 Prozent, verwitwet 
oder geſchieden 15 Prozent und verheiratet 16 Prozent. Um einen Vergleich zwiſchen 
Heiratshäufigkeit und Erwerbstätigkeit anzuſtellen, reduziert die Verfaſſerin die Alters— 
jahre, ähnlich wie vorher, auf die drei Klaſſen von 16—30, 30—50, und über 50, 
Es ergibt fich dann folgendes Bild. 

Von 16—-30 Jabren, d. h. in der Jugend ift der Prozentſatz der Criverbstitigen 
mit 56,10 am bidjten, von 30—50, bd. h. dem Lebensalter, das der Ehe gehirt, mit 
24,61 Prozent am tiefjten, von 50 aufwärts, d. b. Dem Alter der Witwenſchaft, an: 
fanglic) wieder höher, nämlich 25,20. 

Stellt man nun den gewiinfdten Vergleich mit der Heiratsftatijti® an, fo 
kommt man ju dem durd cin farbiges Diagramm wirkſam illuftrierten Schluß, daß 
Heiratshdufigfeit und Erwerbstätigkeit beim weiblidhen Geſchlecht in 
umgefebrtem Berbaltnis gu cinander ftehen. Da fie fic) nicht gänzlich aus- 
ſchließen, beweiſt die Tatſache, daß 16 Prozent der erwerbstätigen weiblichen Bevölkerung 
Deutſchlands, wie oben bereits erwähnt, verheiratet ſind. 

Die meiſten Verheirateten finden ſich in Landwirtſchaft und Handel, die meiſten 
Ledigen bei den Dienſtboten und freien Berufen, die meiſten Witwen in der Lohn— 
arbeit wechſelnder Art und im Handel. 

Aus der zwiſchen Ehefrequenz und Erwerbstätigkeit feſtgeſtellten Wechſelbeziehung 
folgert Frau Gnauck-Kühne, daß, wenn man für die Zukunft eine Abnahme der Ehe— 
häufigkeit vorausſieht, dieſe mit einer Zunahme der weiblichen Erwerbstätigkeit Hand 
in Hand gehen müſſe. Die Zahl der weiblichen Erwerbstätigen hat ſich bereits von 
1882—95 um über eine Million vermehrt, der Anteil der Frauen an der Erwerbs— 
titigteit ijt aber auch projentuell geftiegen. Wir haben allen Grund anjunehmen, dah 
er noc) weiter fteigen wird. 

Das Haus hat nicht mehr Raunt genug fiir die Frau. Sie wird zu beruflicder 
Tätigkeit geradezu gezwungen. Selbſt die Inanſpruchnahme durch die Che ijt nur 
eine vorübergehende. Sie ſtellt das Leben des Weibes nicht unbedingt auf ſicheren 
Grund und iſt nicht einmal imſtande, es einheitlich zu geſtalten. „Zwiſchen Ehe— 
beruf und Erwerbstätigkeit, zwiſchen Abhängigkeit und Selbſtändigkeit wird das weib— 
liche Geſchlecht hin- und hergeworfen. Sein Leben iſt dualiſtiſch geſpalten.“ 


556 Elijabeth Grou: RKilbne: Die deutſche Frau um die Qabrbundertivende. 


In dem folgenden Kapitel, „der Wetthewerh zwiſchen Mann und Weib” geht dic 
Verfafjerin auf die ihrer Anſicht nad) infolge ihres doppelten Berufes geminderte 
Leijtungsfabigfeit der Frau näher ein. Die Verquidung von Che und Beruf ſcheint ibr 
cin Kulturſchaden, der nad) Möglichkeit zu bekämpfen ijt. Die Forderung der unter- 
fcbiedlofen Anftellung von Mann oder Weib, deS gemifehten Staated und der ge— 
miſchten Rirde, an Stelle de3 méannlichen Staates und der männlichen Kirche könne 
nur von Leuten ausgeben, die nicht wahre Freunde des wweiblichen Gefehlechts feien- 
Wenn das Weib auch das gleiche Recht gur Arbeit babe, twice der Mann, jo habe es 
doch nicht dad Recht auf gleiche Arbeit. 

Diefe Anſchauung, die aus Clijabeth Gnauck-Kühnes Auffaſſung von der Che als 
einem die Frau vollfommen ausfiillenden Beruf hervorgebt, ſcheint mir dod) infofern 
zu berichtigen, als es zahlloſe Beifpiele von Frauen gibt, die erft in der Vereinigung 
von Che und Berufstätigkeit Befriedigung gefunden haben. 

Die weitere Bebauptung, dah das Weib auf allen Gebieten, anf denen wir 
bereits den ſchrankenloſen Wetthewerb mit dem Manne haben (eS fommen hier vor 
allem die Kunſt und die Suduftriearbeit in betracht), bisher immer und überall den 
fiirjeren gezogen babe, weil es minder leiſtungsfähig fei, ift an fich freilich nicht ju 
widerlegen. Wohl aber muß in betradt gegogen werden, dah eS den Frauen bisber 
auf feinem Gebict möglich geweſen ijt, die gleide Leiftungsfabighcit yu erwerben und 
mit denfelben Kampfesmitteln ausgeritftet wie der Mann, in den Konkurrenzkampf bin- 
cinjugeben. Richt die Natur des Weibes, fondern ihre mangelbajte Vorbildung, der 
dilettantifde Charafter ihrer Berufsarbeit macht e3 weniger leijtungsfibig. 

Wenn Clijabeth Gnaud-Kihne nicht im Grunde derjelben Anficht ware, fonnte 
fie im folgenden Kapitel wohl faum fo warm dafür eintreten, das Mädchen ebenfo 
qut wie den Rnaben eine Arbeit berufsmäßig erlernen zu laſſen. Was fie bier 
liber die fiir jedes Madden nötige und niigliche Vorbildung fiir eine beruflide Tätig— 
feit einerſeits, fiir thre Oausfraucnpflidten andererfeits ausſpricht, kann man nur Wort 
fiir Wort unterſchreiben. Dem fo oft gehörten Cinwurf: , Warum foll die Ansbildung 
des Mädchens etivas koſten! Wenn eS fich verbheiratet, ijt doc) alles weggetvorfen,” 
begeqnet fie mit der treffenden Crividerung: „Es ijt nidjts vergeblic), was ein Madchen 
an geijtiger und moralifder Förderung cinheimft. Was die Perſönlichkeit bebt, fommt 
dem Cheberuf au gute”. 


Die Forderung obligatoriſcher hauswirtſchaftlicher und beruflider Vorbildung 
fiir jedes Mädchen iſt aber nicht das einzige Mittel, durch das die Verfaſſerin die 
Lage des weiblichen Geſchlechts heben zu können glaubt. Sie verſpricht ſich große 
Erfolge nach dieſer Richtung hin ferner durch die zünftleriſche Organiſation aller 
weiblichen Erwerbstätigen. Tiber dad Wie einer ſolchen Organiſation unterläßt fie es 
aber ſich auszuſprechen. Klar geht aus ihren Ausführungen über dieſen Punkt nur 
das eine hervor, daß fie ſich dieſe „weibliche Zunft“ als eine ſtaatliche Zwangsein— 
richtung vorſtellt. 

Können wir dieſer Forderung nur kopfſchüttelnd gegenüber ſtehen, ſo wird das 
letzte der drei zur Verbeſſerung der Lage des weiblichen Geſchlechts vorgeſchlagene 
Mittel uns vollends mit Erſtaunen erfüllen. Frau GnauckKühnes Rat an die un— 
vermählten weiblichen Erwerbstätigen aller Klaſſen, die dem Familienleben  entriidt 
jind, ijt fein anderer, als der — ins Kloſter ju gehen. „Einſame Frauen“, ſagt 


Eliſabeth Gnauchk-Kühne: Die deutſche Frau um bie Jahrhundertwende. 557 


fie, brauchen nicht nur WUrbeit, fondern aud Gemeinfcdhaft . . . Das Klofter aber ift 
eine Genoſſenſchaftsform, die dex weiblichen Natur entfpricht; das gebt aud) aus der 
Unausrottbarkeit der Klöſter hervor. Würden fie heute alle zerſtört und die Erinnerung 


daran verlifeht, die nächſte Generation würde fie neu erfinden . . . . Die größte 
Schwierigkeit freiwilliger Gemeinfdaft bat das Kloſter überwunden: Geborjam obne 
Bwangsmittel, und Cinheit trop Pflege der individuellen Anlagen . . . . Im Klojter 


gibt es keine ,Sticffinder des Glücks‘, fondern Frauen, die ihren Ring am Finger 
mit einer heimlichen Celigfeit tragen, die viele Chefrauen nie fennen lernen. Aus 
diefer Seligkeit ſchöpfen fie die Nraft, die die Welt in Erftaunen fet. Sie find die 
einzigen wirklich und im eigentlichen Sinne des Wortes „Emanzipierten“, d. h. der 
Hand des Manned Entriidten. Sie find es auch, die jeden Dualismus ausgefchieden 
und iby Leben einbeitlich geftaltet haben.” 


* * 
* 


Fragen wir uns zum Schluß: hat die Verfaſſerin gehalten, was ſie eingangs 
verſprach, — ſo müſſen wir antworten: Von der Lage des weiblichen Geſchlechts hat ſie 
in der Tat ein zutreffendes Bild entworfen, das in ſeiner Gedrängtheit und Prägnanz 
geeignet iſt, weiteſte Kreiſe über die tatſächlichen Verhältniſſe aufzuklären. Daß ſie 
den volkswirtſchaftlich Gebildeten damit irgend etwas Neues geſagt bat, kann allerdings 
nicht behauptet werden. Dies war aber auch wahrſcheinlich nicht ihre Abſicht. 

Ihre Reformvorſchläge dagegen werden — mit Ausnahme des erſten — von 
der deutſchen Frauenwelt wohl kaum mit Freuden begrüßt werden. Gerade diejenigen 
unter uns, die den hohen Wert der Organiſation für die weiblichen Arbeiter erkannt 
haben, werden ſich für die Idee der zwangsweiſen weiblichen Zunft nicht begeiſtern können. 
Was wir von der Organiſation der Arbeiterinnen erhoffen, iſt ja vor allem eine Stärkung 
der Selbſtbehauptung, eine Hebung des Vertrauens auf die eigene Kraft. Gerade dieſe 
aber würden durch die Einrichtung ſtaatlicher Zwangsorganiſationen, die den Schwachen 
Schutz gewähren, anſtatt ihnen zu helfen, die Schwäche zu überwinden, niemals groß 
gezogen werden können, ſondern im Gegenteil lahmgelegt werden. 

Der letzte Vorſchlag endlich, die überzähligen Frauen ins Kloſter zu ſtecken, ein 
Ausflug der beſonderen Weltanſchauung der Verfaſſerin, ſcheint mir ernſtlich 
überhaupt nicht diskutabel. Wenn es auch einzelne Frauen geben mag, die 
im Kloſterleben „die gleiche Beglückung finden, wie andere im Eheſtande“, ſo 
würden doch die meiſten unter den arbeitenden Frauen den Zwang des Kloſterlebens 
als unerträglichen Druck empfinden. 

Rüſten wir die Frauen aus, im Kampfe des Lebens „ihren Mann zu ſtehen“, 
dann haben wir für die Hebung des weiblichen Geſchlechts mehr getan, als wenn wir 
ibm den Schutz der Kloſtermauern gewähren. 





Vas Programm des internationalen Prauenkongresses. 
(Berlin 13.~18. Juni 1904.) 


1). Zentralblatt des Bundes deutfcher Frauenvereine bat nunmebr das Programm 
de3 von ibm bei Gelegenbeit der Generalverjammlung des Frauenweltbundes 
einberufenen internationalen Frauenfongrefjes veröffentlicht. Bei dem grofen Intereſſe, 
bas der Kongreß iiberall hervorruft, glauben wir aud) dem Leferfreis der ,, Frau“ 
fein Programm in vollem Umfange zugänglich machen gu follen. 

Die vier großen Gruppen, in die fic) die Arbeitsgebiete des Kongreſſes gliedern, 
werden in ihren allgemeinen Umriſſen durch die Leiterinnen bezw. ftellvertretenden 
Leiterinnen diefer Abteilungen in folgender Weiſe charafterifiert: 

Eranenbildung. (Von Gertrud Baumer in Berlin.) Die Sektion 
„Frauenbildung“ hatte bet der Mufftelung ihres Programms Rückſicht darauf zu 
nehmen, daß bei der augerordentlichen Verſchiedenheit der DOrganijation des Unterridts- 
weſens in den einzelnen Kulturlandern eine internationale Erörterung fid) am frudyt- 
barjten auf einige Hauptfragen fonjentrierte. Es ijt uns weniger darauf angekommen, 
durch die eingelnen Referate fchematifche Nberjichten fiber das Bilbungswefeu in den 
verſchiedenen Ländern zu geben, T[berjichten, die bei der Kürze der yur Verfiiqung 
ftehenden Zeit ja dod) mehr rein ftatijtifd als lebendig und intereffant batten werden 
finnen; wir baben uns vielmehr bemüht, durch unfere einjelnen Rednerinnen zeigen 
zu lafjen, wie brennende Fragen der Frauenbildung, die fic) aus dem Unterridts- 
wejen aller Sulturlinder gegenwärtig mebr und mebr ergeben müſſen, von den 
verſchiedenen Landern angeſehen und gelöſt werden. Jn welder Weife das gefdeben 
wird, migen einige erldiuternde Bemerfungen zu der Tagesordnung darlege 

Die Verhandlungen de3 erften Tages werden die Frage der * cauenbilbung unter 
dem Gejichtspunkt der befonderen Aufgaben der Mutter beleuchten; fie werden fich 
im iweiteften Sinne mit den WAnforderungen befchaftigen, die die Gegenwart an die 
erzieblice Arbeit der Frau im Hauſe und im fozialen Leben ftellt, und mit der Frage, 
wie dieſe UAnforderungen bei der Bildung Der Madchen gu ihrem Recht fommen follen. 
In engſter Beziehung ju diejen Fragen jteht die Fröbelſche Cryiehungslehre und die 
Ynftitution, die in unferem Unterrichtsweſen die Fröbelſchen Gedanken repräſentiert: 
der Kindergarten. Alle dieſe Fragen ſollen nicht ſo ſehr nach ihrer fachlich 
padagogiſchen Seite, als vielmehr nach der kulturellen und ſozialen, mit der ſie zu 
bem Leben und den Aufgaben der modernen Frau in Beziehung ſtehen, behandelt 
werden. 

Was die Vorausfepungen fiir eine internationale Befprechhung iiber die Volks— 
ſchule betrijft, fo fonnen aud bier naturgemäß die Aufgaben der Volksſchule nur in 
ihrer befonderen Beziehung auf die Frauenfrage zur Crirterung fommen; es wird fic 
darum handeln, die Gefichtspunfte gu beleuchten, die fid) aus der Stellung der Frau 
des Voltes als Mutter, als Berufsarbeiterin, als Biirgerin in der Gegenwart fiir die 
Mädchen-Volksſchule ergeben. Cine Hauptfrage, zu der die Erfabrungen der anderen 
Lander vielleicht das Antereffantefte zu bieten haben, ift die der gemeinfamen Erziehung. 
Die Finnlanderin, die dieſes Referat übernommen hat, dürfte in ganz befonderem 
Grade fompetent fein, da ja in Finnland ganz befonders reichhaltige Erfahrungen 
bejiiglich der gemeinfamen Erziehung der Gefdlechter vorliegen. Und ſchließlich diirfte 
eine internationale Verhandlung über die brennende Frage der Cinheitsfdule zu 
wirklich fruchtbaren Reſultaten führen. Lafjen fic) dod die Möglichkeiten zur 
Verwirklidung eines nationalen Unterridtsfyjtems, das die Kinder aller Stände und 


Das Programm de8 internationalen Frauenfongreffes. 559 


Konfeſſionen in einer Elementarſchule vereinigt und allen gleide Möglichkeit gibt, zu 
den höheren Bildungsanftalten aufzufteigen, läßt fid) dod) die Möglichkeit yur Cin- 
fiibrung der Einheitsſchule am allerbeften an den Landern nachweifen, bei denen, wie 
in den BVereinigten Staaten, bereits’ Verjuche in diefer Richtung vorliegen. 

Soweit fich die Fortbildungsſchule die rein berufliche Ausbildung der Mädchen 
zum Ziel ſetzt, ijt fle aus der Seftion Frauenbildung naturgemäß ausgefchieden; es 
handelt fic) bier vielmehr hauptſächlich um die allgemeine Fortbildungsſchule, wobei 
natürlich die Frage: wieweit fie fic) als ſolche der Berufsftellung der Madchen, die fie 
bejuchen, angupajjen bat, zur Erörterung fommen wird. Die Leiterin der Viktoria: 
Fortbildungsſchule gu Berlin wird gerade nach diefer Richtung Hin ein auf reicher Cr- 
fabrung berubende3 Material darbieten finnen. Aud hinfichtlic der neuen Bewegung, 
die man mit dem Namen Volksbildungsbeſtrebungen, Volkshochſchulen kennzeichnet, und 
die ibrem eigentliden Urſprung nad auf die ſtandinaviſchen Lander juriidweijt, werden 
die ſehr mannigfaltigen und verſchiedenartigen Verſuche und Wege, die entſprechend den 
verſchiedenen fozialen und Kulturverbhaltnijjen der eingelnen Lander gewablt werden 
müſſen, ein ſtarkes internationales Intereſſe haben. 

Sebr reichhaltig ijt die Befegung des Programms an dem Tage, der der höheren 
Mädchenſchule gewidmet ijt; es zeigt das, wie fehr gerade Die Frage der —— 
Madchenſchule in allen Ländern im Stadium der Diskuſſion und des Experiments ijt; 
da find vor allem drei grofe pringipielle Fragen yu löſen, nämlich: wie erfiillt die 
hihere Mädchenſchule ihre Aufgabe als Bildungsanjtalt fiir die künftige Frau und 
- Mutter, ferner als Bildungsanſtalt fiir die Biirgerin und ſchließlich als Vorbereitungs- 
anjtalt fiir höhere Berufe? Und wie find diefe drei verjdiedenen Aufgaben am zweck— 
mäßigſten mit einander gu verbinden? Die Referentinnen aus den eingelnen Landern 
werden ihren Gegenftand vorzüglich unter diefen Gefichtspuntten behandeln, an die fich 
die Distuffion dann gut anſchließen Laffen wird. Cine befondere Frage ijt die, ob zur Er— 
füllung all diefer Aufgaben getrennte Mädchenſchulen erforderlich find oder ob fie bei 
gemeinfamer Erziehung der Geſchlechter ebenfo gut oder beſſer geldjt werden können. 
Wie bet der Volksſchule die Frage der Hygienifden Ausbildung durch die Begriinderin 
deS Mufeums fiir Sculbygiene in Stodbholm befproden werden wird, fo mug natiir- 
lid) aud) bei der Frage der höheren Bildung der Madchen ihre körperliche Kräftigung 
ins Auge gefaßt werden. 

Auch fiir die Tagesordnung und fiir Die Art der Referate über das Frauen: 
ftudium find nach Verabredung mit den Referentinnen einige Hauptgeſichtspunkte auf— 
gejtellt worden. Da wir ſowohl die Leiterin des grofen Bryn Mawr College, einer 
Frauen-Univerſität, als aud) eine Referentin aus Dänemark gewonnen haben, wo die 
qleidyberechtigte und gan; kameradſchaftliche Stellung der Frauen gu den männlichen 
Studenten fich ganz befonders erfreulich geftaltet hat, fo wird fic) die Frage, ob ge- 
meinjame Univerfititen oder befondere Frauen-Hochſchulen? als eine der wichtigſten 
fiir die Distuffion herausſtellen. 

Der legte Tag beſchäftigt fid) mit den Fragen der Lehrerinnen; da die Stellung 
der Lebrerin in wirtſchaftlicher Hinficht der Serutsiettion zufiel, fo mußte es fich fiir 
ung in erfter inie um die Lebrerinnenbildung handeln. Jn einem Zweige des Unter- 
richtsweſens find vielleicht dic Ynftitutionen in den einzelnen Landern fo verfdieden wie 
in diefem; um fo reichhaltiger verfpricht cine internationale Erirterung dieſer Frage 
an Anregungen und Fingerjzeigen zu werden. C3 wird fic) auc hier um ein paar 
Hauptfragen handeln, nämlich bei der Volfsfchullebrerin um die Frage: was hat die 
wiſſenſchaftliche Aushildung yu umfafjen, welche Wege hat die pädagogiſche Ausbildung 
einzuſchlagen, und wie ijt diefe dDoppelte Aufgabe durd) die Lehrerinnenbildungsanjtalten 
am zweckmäßigſten zu löſen? Cine im Augenblic fiir Deutſchland ganz bejonders aktuelle 
Frage ift die nach der padagogifden Ausbildung der akademifch gebildeten Lebrerinnen, 
und vielleicht bietet hier der internationale Kongreß fiir die zwiſchen Oberlebrerinnen: 
Eramen und Eramen pro facultate docendi bine und herſchwankenden Crirterungen 
in Deutſchland mancherlei wertvolle Fingerjzeige. 

+ * 
* 


560 Das Programm des imternationalen Frauenfongrefies. 


Frauenberufe. (Von Alice Salomon in Berlin.) Man bat der Frauen: 
bewegung oft den Vorwurf gemadt, dak jie fic) in yu hohem Mase und in eriter 
Linie mit Der Eröffnung neuer Frauenberufe, neuer Erwerbsmoglichleiten beſchaftigt 
und daß ſie daneben Geſichtspunkte zu ſehr außer acht laſſe. Wer aber die 
Frauenbewegung kennt, der weiß, daß ſeit langer Zeit Hand in Hand mit dem 
Streben nach neuen Bildung: und Berufsmiglicfeiten fiir die Frauen des Mittel— 
ftandes und der biirgerlicen Kreiſe auch Verſuche gemacht wurden, die Lage der 
proletariſchen, der handarbeitenden Frauen zu verbeſſern. 

Die Behandlung des Themas „Frauenberufe“ wird dementſprechend auch auf 
dem internationalen Kongreß ein doppeltes Geprige zeigen. Die Seltion wird fic 
einerjeits mit all den Berufszweigen beſchaftigen, die die Frauenbewegung feines- 
wegs erſt neu erdffnen und erſchließen mußte, fondern in denen unfere Aufgabe dahin 
geht, befjere Arbeits- und Lebenshedingungen herbeifiibren qu helfen. Das find Die 
Arbeiterinnen in der Landwirtſchaft, im Gewerbe und im Dienjthotenberufe. Auf der 
anderen Geite jteben die Berbandlungen iiber alle die Berufe, die Den Frauen erit 
durd) unfere Bewegung erobert wurden und die ibnen in manden Landern nod 
verjperrt find: die wiſſenſchaftlichen Berufe, wie die der Advofatin, Predigerin ufw., 
und jum Teil auch die fiinjtlerifden, die den Frauen zwar nidt gan; verſchloſſen 
waren, aber fiir die es an Ausbildungagelegenbeiten nod) vielfad feblte. Dazwiſchen 
werden fic) zwei Tage mit der Frau im Handel und Berfebr und mit der Lage Der 
Kranfenpflegerinnen beſchäftigen, die eine Verbindung zwiſchen dieſen beiden extremen 
Seiten der Berufsfrage beritellen. Die Mitarbeit im Handel und im Verkehrsdienſt 
kann zwar fiir die Frauen im allgemeinen als erſchloſſen gelten, aber yu höheren 
Leiſtungsſtuſen find Frauen darin bisher nur vereinjelt gelangt. Hier gilt es fowobl 
den unqualifizierten Kraäften befjere Bedingungen ju ſchaffen, ahnlich, wie es bei den 
WArbeiterinnen in der Landwirtſchaft nnd im Gewerbe der Fall ijt, als aud neues 
Terrain, hihere Stellungen ju erringen und ju erobern. Ganj; eigenartig wird fic 
die Behandlung des "Reandenplegetimnenbecus qejtalten. Die Kranfenpflege galt 
von jeber als ureigenite Betätigung der Frau. Religiöſe Verbände haben ſchon zu 
Zeiten, in denen man ſonſt von weiblicher Berufstatigleit noch nicht viel hörte, Her— 
vorragendes in der Ausbildung und Organiſation von Krankenpfiegerinnen geleijtet. 
Ihr Verdienft darf und foll nicht unterjdvigt werden. Aber was fie getan baben 
und was fie beute tun finnen, ijt nicht imjtande, den Bedarf an gejdulten Kräften 
zu deden und all die Frauen ‘herangusieben und aufzunehmen, die wobl fiir die Wus- 
iibung der Krankenpflege geeignet find; denn dieſe Organijationen bieten wohl einen 
Beruy, nicht aber cinen Crwerb, einen Verdienſt im privat-wirtfdaftliden Sinne. 
So werden denn die Verhandlungen fiber den Rranfenpflegerinnenberuf das Streben 
der Frauen aller Lander jeigen, neue Wege, neue Formen auch fiir die Betätigung 
auf dieſem Gebiet yu finden. 

Zuſammenfaſſend fann man alſo wobl fagen: die Berufsfeftion verfirpert die 
beiden grofen Siele der Frauenbewequng, die auch die leitendDen Gedanfen der 
geſamten Kultur unjeres Seitalters find: den Gedanten der Qndividualijierung und 
der Sozialiſierung. Den Gedanfen der Yndividualijierung: denn der Frau der 
bürgerlichen Kreiſe ſoll das Recht auf volle Entfaltung ihrer Kräfte, auf Berufs— 
betätigung, auf einen ihr ganzes Leben erfüllenden Inhalt gegeben werden. Den 
Gedanken der Sozialiſierung denn die Beſtrebungen zum Schutz, zur Verbeſſerung 
der Lage der beſitzloſen Frauen, der Arbeiterinnen in Handel, Gewerbe und Land— 
wirtſchaft, und der Dienſtboten zeugen von dem Prinzip der Vergeſellſchaftung, von 
der Pflicht, von der Verantwortung der Geſamtheit gegenüber dem Loſe des Einzelnen, 
Schwachen. Was hier zur Verhandlung kommen wird, wird alſo ein geſchloſſenes 
Ganze bilden, trotz des ſcheinbaren Gegenfages. Denn alles, was dazu beiträgt, die 
Schwächeren ſtärker und kräftiger yu machen, das führt jie aud) zur freieren und 
vollkommeneren Entjaltung der Perſonlichkeit. Die wahre Sozialiſierung ift die, die 
jedes einzelne Glied der Gefamtbheit ftarft und fFrajtigt und emporbebt ju ‘einer 
teicheren und höheren Entwickelung. 


— — — — 


Das Programm des internationalen Frauenkongreſſes. 561 


Wenn man nad langen Vorarbeiten und Mühen die Kongreßtage berannaben 
fiebt, an die wir jo viele Doffnungen Eniipfen, fiir die wir unfere beſten Kräfte ein: 
zuſetzen bemüht find, dann ift es nicht gu vermeiden, daß aud) ein webmutvoller Ge- 
danfe die Wiinfche berithrt, die ſchon bei den Vorbereitungen fic) nicht verivirflichen 
liefen. Teils dufere, teilS aud) innere Sehwierigfeiten haben es verbhindert, dap 
gerade in ber Seftion fiir Frauenberufe jede eingelne Frage von Fachleuten behandelt 
werden, fann. Das trifft namentlich fiir die erjten beiden Tage, an denen Landiwirt- 
{daft und Dienjthotenfrage fowie die gewerblide Arbeiterinnenfrage behandelt werden 
jollen, in gewijjem Umfange ju. Diefe drei Berufsklaſſen umfajjen die größte Zabl 
aller arbeitenden Frauen, und ſchon deshalb fam ifnen eine eingebende Crirterung 
auf dem Rongreh ju. Aber gerade hier war e3 befonders ſchwierig, vom Wusland 
Arbeiterinnen zu gewinnen, die ihre Sache felbjt führen können, tei weil die Arbeiterinnen 
nicht in der Lage find, fic) frei fiir cine ſolche Reiſe zu machen, teils auch, weil es 
ihnen nod) ganz; an Organifationen feblt, die bei den Berufsangebirigen Verſtändnis 
fiir ire Lage erweckt bitten. Das trifft fiir die Dienftbotenfrage, wie aud) für die 
ländlichen Urbeiterinnen nod febr allgemein yu. Solche äußeren Schwierigkeiten 
ftanden den geiverblichen deutſchen Arbeiterinnen nicht im Wege. Aber hier hinderten 
innere Griinde politijcher Natur die ſtärkſte Organifation deutſcher Arbeiterinnen, an 
unjeren Verhandlungen teiljunefinen. Das mug von denen, deren Leben und deren 
Arbeit der Sache der Arbeiterinnen angebhiren, bedauert werden. Aber eS überhebt 
und nicht der Aufgabe, unfere volle Aufmerkſamkeit darauf zu richten, was fir eine 
Verbefferung des dunflen Loſes der unendlichen Mebhrheit aller Frauen geſchehen fann. 

Magen die Verhandlungen der Berufsſektion dazu beitragen, das Verantwortlicfeits- 
gefühl immer weiterer Rreife fiir die Lage aller arbeitenden Frauen zu weden, gleich 
viel, welchem Stande fie auc) angehören. Mögen fie dahin wirken, das Solidaritats- 
gefühl der Frauen aller Stände und aller Lander ju friftigen, auf dab die Frau in 
jeder ihrer Geſchlechtsgenoſſinnen nie die Konkurrentin, fondern ftets die Mitarbeiterin, 
die Mitfimpferin jeben möge. 


* 
* 


Soziale Ginridstungen und Seftrebungen. (Von Anna Edinger in 
Frankfurt a. M.) Soziale Cinrichtungen und gemeinniigige Beſtrebungen gehen darauf 
aus, die Schwachen im Kampf ums Dafein ju ſtärken, ihnen ein ſchöneres, froheres 
Leben gu ſchaffen, als es vielen aus eigener Kraft miglid ijt. Daber find die fozialen 
Beftrebungen fo mannigfaltig wie die Unjuldnglichfeiten der menſchlichen Natur und 
wie die Harten des wirt}chaftlichen Lebens, denen fie entgegen wirfen follen. 

Es war deshalb in der dritten Seftion nicht tunlich, wie es fiir große Kongrefje 
fo wünſchenswert erfcheint, fiir jeden Tag eine einzige große Frage in den Mittelpuntt 
der Beſprechung zu ftellen. Wir fonnten nur verjucen, das ungeheure Gebiet der 
fosialen Arbeit in möglichſt logiſcher Reihenfolge auf feds Tage einjuteilen. Innerhalb 
dieſes Rahmens wird jene Rednerin nun fagen, wie ihr menſchliches Clend und 
menſchliche Schwäche entgegengetreten ift, und wie fie und ibre DMitarbeiterinnen 
verſucht haben, fie zu bekämpfen. 

Der erſte Tag iſt der älteſten Hilfsarbeit der Frau gewidmet, der Fürſorge für 
Arme und Kranke. Wenn auch die private Armenpflege — die öffentliche wird in 
Sektion 4 behandelt — ein unbeſtrittenes Arbeitsgebiet der Frau ijt, fo kommen dod) 
gerade hier, im Sinne des Programmes unſeres Kongreſſes, vor allem die Veränderungen 
in den Rechten und Pflichten der modernen Frauen in Betracht. Die Armenpflege iſt 
heute eine Wiſſenſchaft geworden, und das ſo notwendige Zuſammenarbeiten der 
oͤffentlichen und privaten Armenpflege wird an vielen Orten vorwiegend durch die 
Frau bewirkt. Die erſte Rednerin, die in ihrem Lande organiſatoriſch tätig war, 
wird uns in dieſe neue Art der Armenpflege einführen, die nicht nur ein gutes Herz, 
ſondern auch umfaſſende Kenntniſſe erforderte. Frauen aus verſchiedenen Ländern 
werden darlegen, wie Armenpflege bei ihnen daheim geübt wird. Von der Organiſation 
der Wohltätigkeit in Berlin im beſonderen berichten zu laſſen, erſchien uns eine liebe 

36 


562 Dads Programm des internationalen Frauenfongreffes. 


Pflicht im Andenken an die Begriinderin des entralblattes, die foviel fiir dieſe Organiſation 
gewirft bat. Der Bericht iiber den badiſchen Frauenverein, den vielfeitigiten unſerer 
vaterlindijden Frauenvereine, wird zeigen, wie es eine fiirjtlide Frau verjtanden bat, 
alle Stande ibres Volkes fiir gemeinniigige Tatigteit zu begeiſtern und in ungewöhnlichem 
Mae die Erfahrungen und Errungenjchaften einer Ortsgemeinde fiir die andere 
nugbar zu machen. Cine ausländiſche Vertreterin der Beſtrebungen vom roten Kreuze 
wird das Bild erweitern, und Spejialberichte iiber Befimpfung der Tuberfulofe, 
unfere deutſche „Hauspflege“ und die ſchwediſche „Heimatspflege“ werden fich 
anſchließen. 

Der zweite Tag ſoll dem Schutze der Jugend, der Behütung vor den Gefabren, 
die ibre firperlice, qeiftiqe und fittliche Entwidelung bedroben, gewidmet fein. Diefer 
Taq wird ein befonders vielfeitiges Zufammenwirfen von Frauen aller Lander zeigen. 
Rinderpflege und Dugendfiirforge ijt ja ein Gebiet, in dem die Frauen Vorrechte 
haben, und in dem auch) das Gefiibl der Verantwortlichfeit fiir die Wobhlfabrt weiterer 
Kreiſe bei unferem Geſchlechte am ſtärkſten entwidelt ijt. 

Am dritten Taq wird das fcbwierigfte Gebiet der Frauenbewequng, die 
Sittlichfeitsfrage, befprocden werden. Diefer Taq wird cine erſchöpfende Oberficht 
bringen über die Bejtrebungen, durch welche die Frauen bis jest ibre Rulturmijffion 
in bezug auf die Hebung der feruellen Moral zu erfiillen gefucht baben. Der Ramps 
gegen das demoralifierende Prinzip der Reglementicrung wird von zwei in praktiſcher 
Arbeit bewährten Fiibrerinnen der internationalen abolitionijtifcen Bewegung bebandelt 
werden. Der breitejte Raum ijt der Darjtellung der pofitiven Ziele der Sittlichkeits— 
beftrebungen geginnt. Die Berichte zweier auf humanitärer Grundlage arbeitenden 
Frauen werden durd die Wusfiibrungen einer vom pofitiv criftliden Ctandpunft 
ausgebenden amerifanijden Sosialreformerin wirffam unteritiigt werden. Die Referate 
liber die in grofjiigigem Stile gebandbabte Rettungsarbeit franzöſiſcher und 
amerifanifcber Frauen wird ſicherlich viel Vorbildliches fiir Deutſchland zutage fordern 
und hoffentlich der deutſchen Frauenbewegung die Wichtigkeit der Beteiliqung an 
Diefer Arbeit fowie an der Bekämpfung des internationalen Mädchenhandels rect 
zu Herzen führen. 

Der vierte Tag ließ ſich, ſowie auch der vorhergehende und nachfolgende, 
einheitlicher geſtalten als die erſten und der letzte der Sektion. In der Gefangenen— 
fürſorge ſind, wie auf ſo manchen anderen Gebieten, die engliſchen Frauen 
bahnbrechend vorangegangen; ſo wird eine Engländerin das erſte Wort zu dem 
Gegenſtande ſprechen; ihr folgen die verdienteſten deutſchen Vertreterinnen dieſer 
Tatigfeit. Auch inbezug auf die Bekampfung des Alkoholismus ſieht England, mit 
ibm bier die Vereinigten Staaten von Amerifa und die nordifden Lander Curopas, 
auf eine längere Tatigteit juriid als unfer Baterland — freilicd) waren eS aud wobl 
nod fcblimmere Suitinde als die unferen, die zum Rampfe aufforderten. Die 
berufenen Streiterinnen des Auslandes werden boffentlich viele Deutſche zum Kampf 
gegen den Alkohol begeijtern, der fo viel Familiengliid, fo viel Wohlſtand zerſtört. 
Zwei Rednerinnen, die energifde, humorvolle Finnlanderin Frau Trvgqq-Helenius und 
die LiebenSiviirdige Velgierin Mlle. Parent, kommen yum jiweiten Mal in furzer Zeit 
qu Den deutſchen Frauen herüber. Das Werk der Züricher Frauen, die verfchiedenartigen 
alfobolfreien Speijewirtidaften, wird von einer Mithegriinderin gefcbildert werden. 

Alle wertvolle ſoziale Tätigkeit ijt Erziehung zur Selbjtbilfe. So ift der fünfte 
Tag vielleicht der erfreulichfte der Seftion, da er fic) vor allem mit der wirkſamſten 
Form der Selbjthilfe, dem Zuſammenſchluß der Arbeiterinnen in Berufsorganifationen, 
beſchäftigt. Hier mufte der Disfuffion ein weiter Naum gelafjen werden, da wichtige 
prinzipielle Streitfragen zu erdrtern find. Dem Zuſammenſchluß der Produzenten 
fommt in Umerifa, neverdings aud in Franfreich, ein Zuſammenſchluß der Konſumenten 
entgegen — nicht wie andere Urbeitgeberorgqanijationen als Gegengewidt gegen die 
des AUrbeitnehmers gefchaffen, fondern zur Unterftiigung dieſer. Jn den Kaufern foll 
Das Gefühl der Verantwortlichfeit erwedt und ausgebildet werden für die Arbeits- 
bedingungen, unter denen die Ware hergeftellt wird. 


fe 


Das Programm be internationalen Frauenfongreffed. 563 


Am fechften Tage endlich werden deutfde und ausländiſche Redner einzelne eigen: 
artige Cinrictungen jcildern, die Nachbiloung verdienen. Die Verfammlungen werden 
eingeleitet werden durd die Befprechung rationeller Frauentleidung, für die ja alle 
eintreten müſſen, die die Frau leijftungsfabiger machen wollen, und gefdloffen durch 
einen Appell an die Qugend, aus der uns ein reicher Nachwuchs fommen foll jur 
Erfüllung der ſozialen Pflichten der Frau. 

Sw wird die dritte Seftion des Kongreſſes ein buntes Bild defen geben, was 
die Frau zur Beſſerung der ſozialen Lage angeftrebt und geleijtet hat. Sie wird 
zeigen, was ibre Mitarbeit fiir das Gemeinwohl bedeutet. Cie wird fo hoffentlich auch 
den Befähigungsnachweis filbren fiir das, was in Seftion 4 begriindet, erjtrebt und 


erldutert werden foll — die Mnerfennung der Frau als mitverantwortlider, dem 
Manne gleicberechtigter Staatsbiirgerin. 
* * 
* 


Die rechtliche Stellung der Frau. (Von Freiin Olga von Beſchwitz 
in Dresden.) Während die erſten drei Sektionen des Kongreſſes ein Bild von dem 
Streben und dem forticpreitenden Wirfen der Frauentvelt de3 20. Jabrhunderts in 
ihrer praktiſchen Betätigung vorfiibren werden, ijt es die Aufgabe der vierten Seftion, 
den Spuren nachjugehen, die das Erwachen und die allmablice Entwicelung dev Frau 
zur ſelbſtändigen Perfintichfeit ſchon in der legten Hälfte de3 19. Jahrhunderts, vielfach 
nod) leiſe und zögernd, aber dod) merfbar, den herrſchenden Rechtsſyſtemen aufgedrückt 
hat, und Wusblide auf die Rufunft ju eröffnen, die eine fortfchreitende peace 
von den Feſſeln itberlicferter Geſetzesbeſchränkungen der Frau der neuen Zeit und durd) 
fie der gejamten Menſchheit bringen wird. Alle Rechtsnachteile, unter denen die Frauen 
heute nod) leiden, wurzeln in der geſetzlich anerfannten und fejtgelegten ebemanntliden 
Autorität, die auf dem Prinzip der im Lauf des vorigen Jahrhunderts tiberall auf: 
gebobenen Geſchlechtsvormundſchaft fußend, zwar mit ibr die eigentliche Dafeins- 
berechtigung verloren bat, dennoch aber innerhalb der Che iweiter beftehen blicb und 
nod) heute die Grundlage der familienredptlichen Beftimmungen in allen Landern 
bildet. Die untergeordnete Stellung der Frau in der Familie, ibe Gebundenjein an 
die Zuſtimmung des Mannes hat aus dem engeren Kreiſe auf die tweiteren wirkend, 
auch ihre gegenwirtige Stellung in ber Gemeinde und im Staat beeinflupt. Wie das 
Geſetz fie innerbalb der Familie an der Vollentfaltung ihrer cigenen Perſönlichkett, ihrer 
weibliden Cigenart als Frau und als Mutter bindert, fo ftebt e3 auch der Vollentfaltung 
ibrer weibliden und mütterlichen Fähigkeiten im Dienjte der Gemeinde und des Staates 
entgegen; Familie, Gemeinde und Staat, in denen männliches und weibliches Weſen 
fid) ergänzen follten, leiden mit ihr durch die unausbleiblicen Wirfungen eines cinfeitig 
maännlichen Einfluſſes. 

Von der Stellung der Frau in der Familie ausgehend, zu ihrer Stellung in der 
Gemeinde und im Staat fortſchreitend, werden die Verhandlungen der vierten Sektion 
den Frauen Gelegenheit bieten ihre Anſichten über geſetzliche Einrichtungen zum Ausdruck 
zu bringen, die ſie am tiefſten berühren und auf deren Entſtehung und Weiterentwicklung 
ihnen noch in den meiſten Ländern keinerlei oder doch nur ein ſehr geringer Einfluß 
zuſteht. Die das Zivilrecht betreffenden Sitzungen werden einen Überblick über die 
hiſtoriſche Entwicklung des Eherechtes geben, eine vergleichende Darlegung der Stellung 
von Mann und Frau in den verſchiedenen Kulturländern. Auch wird die Stellung der 
Frau als Mutter und ihr Recht, fremden Kindern Vormünderin gu fein, eingebend: 
erörtert werden. Cine Ubereinſtimmung der Ehegeſetze der Nationen dreier Weltteile 
wird ſich in vielen Punkten ergeben, eine Übereinſtimmung auch in den Haupt 
forderungen, die die Frauen aller Lander an die Geſetzgeber ricten, und eS wird ſich 
erweiſen, dah die Abweichungen in den Gefjegen lediglich auf der bereits erfolgten oder 
noch yu erivartenden Erfiillung der cinen oder Der anderen dieſer Forderungen beruhen. 
Die Verhandlungen werden ferner ein Bild von der Stellung der Frau im Vereinsrecht 
und in der fostalen Gefeggebung geben, eine Darlequng der Arbeiterinnenfchuggefese 
verfchiedener Lander und ibrer Wirfung auf die wirtſchaftliche Lage der Frau, eine 
36* 


564 Das Programm des internationalen Frauenfongrefies. 


Befprechung der Alters: und Gnvalidengefebgebung, foweit die Frauen dabei in Betracht 
fommen, Auch werden die Forderungen jum Ausdrud fommen, die die Frauen in 
bezug auf die geſetzliche Anerfennung ibrer fiirforgenden Tatigfeit in Gemeinde und 
Staat erbeben, ibre Anſprüche in bezug auf ibre Rechte und Pflichten in der Ausübung 
fommunaler Amter. €8 wird iiber ihre Tatigfeit in der dffentlichen Armen: und 
Waifenpflege, in den Schulbehsrden, als Mitglieder der Gewerbegerichte und befonderer 
Gerichtshöfe fiir Jugendliche berichtet werden. 

Alle dieſe Rechte, ihre volle Anerfennung als ſelbſtändige Rechtsperſönlichkeit und 
Staatsbiirgerin fann, wie die Erfahrung heute ſchon lehrt, die Frau erft dann erringen, 
wenn fie in Der Lage ijt, einen direften Cinflug auf die Verwaltung und Geſetzgebung 
des griferen oder Eleineren Gemeinweſens, dem fie angebirt, der Gemeinde, des 
Staates ausjuitben, wenn fie das gleiche fommunale, firchliche, politiſche Wahlrecht 
befitt wie der Mann. NReferate aus den Ländern, in denen die Frauen bereits dieſe 
Rechte, das aftive und 3. T. aud) ſchon das paffive Stimmredt ausiiben, werden den 
Beweis erbringen, daß ihr bejjernder miitterlicher Cinflug ſchon nach kürzeſter Zeit in 
den Fragen der Mäßigkeit, der öffentlichen Sittlichfeit, der Erziehung, der Fürſorge 
fiir Rinder und Qugendlicde, Wlte und Kranke erfictlicy ijt. Die Frauen verlangen 
volle Selbjtindigfeit und Selbjtverantwortlichfeit, fie fordern neue Rechte vor allem, 
um ibre neuen Pflichten beffer erfiillen zu finnen, um den reichen Scag ihres miitter- 
liden Empfindens mitzuteilen an alle, die defjen bedürftig find, ihre bis jest vielfad 
gebemmten, niedergebaltenen Kräfte, der weiblichen Cigenart entfprechend zum Wohle 
der Familie, der Gemeinde und de Stanted zur Geltung ju bringen. 

* * 


* 
Wir laſſen nunmehr die ausführliche Tagesordnung der einzelnen Sektionen 
folgen, ſoweit ſie bis jetzt feſtſteht. 


Sektion J. Frl. Anna Blum, Spandau: Wie rüſtet die 


deutſche Vollsſchule die Mädchen fiir das 
Frauenbildung. Leben aus? 
Frau Marie Loeper Houſſelle, Rhens a, Rh.: Die 
— Stellvertt. Borfig. : foziale Arbeit der deutſchen Volksſchullehrerin. 
: ‘ Srl. Bice Cammeo, Atalien: Die Beteiligung der 
Montag, den 13. Juni vorm. 101/, bis 2 Uhr. | —— am öffentlichen Unterrichtsweſen in 
=e . Italien. 
Die Bildung der Frau für ihren Mutter— see: cee: F Rh * 
beruf. Häusliche Erziehung. ——— ———— — — 
Vorſitz und einl. Referat: Frl. Helene Lange, Berlin. | wee eee e ot Die erziehliche und fosiale Bes 
Referate: Lady Aberdeen, England: Die Frau als beutung der Einheitsſchule. 
fogiale Erzieherin. : : Frau HiertaRegius, Schweden: Bur Frage der 
* —— Berlin: Frauenbildung und Arbeitshygiene in der Schule. 
utter t : : : 
: . ; Distuffion: Frl. Dr. phil. Eugenie Schwarzwald, 
Tit —— Sfterreich Fal. Fanny Schmidt, Sawen 
SL eet , Fel. Helene Gadte, Berlin = Friedenau. Fri. 
Frau Henriette Goldſchmidt, Leipsig: Die Bil Dr. Qelene Stoder, Berlin. 
bung der Frau fiir ihren Mutterberuf im Lichte . : 
der Fröbelſchen Erziehung. Mittwod, ben 15. Juni, vorm. 9 bid 1 Whr. 
Fraulein Lilly Dröſcher, Berlin: Die fozialen | Die Aufgaben der Madden: Forthildungs: 
Aufgaben ded Volfstindergartens, fhule. Die Bolfsbildungsbeftrebungen 
Distuffion: Frau Norrie, Danemark. Frau Clara fiir Frauen. 
pride Berlin. Frau Helene von Forfter, | gorfig und einl. Referat: Fr. Hedwig Hehl, Berlin. 
rg. Referate: Irl. M. Henſchte, Berlin: Die Aufgaben 
Dienstag, den 14. Juni, vorm. 9 bis 1 Uhr. —— Organiſation der Madden: Fortbildungs- 
, ‘. . P ule. 
Die Bildung der Madden durch die Volts: Frvfen Eline Hanfen, Dänemark: Die hauswirt: 
ſchule. Gemeinfame Erziehung der Ge: jhaftliche Bildung der Madden in Danemart. 
ſchlechter. Einheitsſchule. Frau von Rudnay-Veres, Ungarn: Die Madden: 
Borfig: Frl. Eliſabeth Schneider, Berlin. fortbildungsſchule in Ungarn. 
Ginleitendes Referat: Frl. Gertrud Baumer, Berlin. Fel. Sofia Goudernaf, Bien: Die Madden: 
Referate: Mrs, Emmeline B. Wells, Vereinigte fortbildungsſchule in Oſterreich. 


Staaten: Die Erziehung der Mädchen in den Frl. Auguſte Förſter, Kaſſel: Der hauswiriſchaft⸗ 
Voltsfdulen der Vereinigten Staaten. lice Unterricht in deutſchen Schulen. 


Das Programm des internationalen Frauentongreffes. 


Frau Helene von Forfter, Nirenberg: Die Auf: 
gaben der Frauen bei den Vollsbildungs— 
beftrebungen. 

Frau Cecilia Baath-Holmberg, Schweden: Volls⸗ 
hochſchulen für Frauen in Schweden. 

Distuffion: Fru Hierta Retzius, Schweden. Frau 
Marie Hecht, Tilſit. 

Donnerstag, den 16. Juni, vorm. 9—1 Uhr. 
Höhere Mädchenbildung. (Höhere Madden: 
ſchule. Gymnaſium 2.) 

Vorſitz: Frl. Margarete Poehlmann, Tilſit. 

Einleitendes Referat: Frl. Helene Lange, Berlin. 

Referate: Mrs. May Wright Sewall, Vereinigte 
Staaten: Die körperliche Erziehung der 
Mädchen in den höheren Unterrichtsanſtalten 
der Vereinigten Staaten. 

Fel. Danielſon, Schweden: Die höhere Madden: 
bildung in Schweden. 

Frl. Luiſe Winteler, Dänemark: Die höhere 
Mädchenſchule in Dänemark. 

Mme. Alphen Salvador, Frankreich: Die lycées 
und colléges de jeunes filles in Frankreich. 

Hel. Ilmi Hallftéen, Finnland: Die höhere 
Mädchenbildung in Finnland mit befonbderer 
Berückſichtigung der gemeinfamen höheren 
Sehulen. 

Dr phil. Cugenie Schwargwald, Oſterreich: 
Die ghmnaſiale Madchenbilbung in Ofterreic. 

Distuffion: Frl. Maria von Bredow, Charlotten: 
burg. Frau Marianne Hainiſch, Oſterreich. 


Freitag, den 17. Suni, vorm. 9—1 Uhr. 


Das Univerfitatsftudium der Frauen. 
Vorſitz: Frau Adelheid Steinmann, Freiburg. 
Cinleitendes Referat: mod) unbejtimmt, 

Referate: Frau Marianne Weber, Heidelberg: Die 
Beteiligung der Frau an der Wiſſenſchaft. 

Dr phil. Anna Hude, Danemarf: Das Uni: 
verſitätsſtudium der Frauen in Danemart. 

Miß Frances H. Melville, Schottland: Das 
Frauenftudium in Grofbritannien. 

Miz Carey Thomas, Vereinigte Staaten: Die 
Univerfitdtsbilbung der Frauen in den Ber: 
cinigten Staaten. 

Frl. Dr Kathe Windſcheid, Leipzig: Das Frauen: 
ftudium in Deutſchland. 

Distuffion: Fri. Dr jur. van Dorp, Holland. 
Frl. Helene Lange, Berlin. 


Sonnabend, den 18. Juni, vorm. 9—1 Uhr. 


Die Beteiligung der Frauen am 
Unterrichtsweſen. 
a) als Lehrerinnen; 
b) an der Schulverwaltung; 

Vorſitz: Frl. Gertrud Baumer, Berlin. 
Einleitendes Referat: Frl. Maria von Bredow, 
Berlin. 
Referate: Fri. Marie Martin, Berlin: Die Mus: 

bildbung der Volksſchullehrerinnen. 


Frl. Augufte Roſenberag, Ungarn: Die Stellung | 


der Lebrerinnen in Ungarn. 

Mag. art. Joa Falbe:Hanfen, Dänemark: Die 
Lehrerinnenbildung in Dänemark. 

Fri. Fredritta Mord, Norwegen: Die Wusbilbung 
der Lehrerinnen fiir die höheren Mädchenſchulen. 

Miß Derrid, Kanada: Frauen als Univerfitits: 
lehrer. 





565 


Mrs. H. G. Fawcett, England: Die Stellung 
ber Frauen unter dem englifden Unterrichts— 
aefes von 1902, 

Frau Kuczalska-Reinſchmit, Polen: Die Ber: 
tretung ber Lebrerinnen im Kreisſchulrat. 

Frl. Anna Marie Riftow, Dortmund: Die Frage 
ber Mitarbeit von Frauen in der fommunalen 
Schulverwaltung in Deutſchland. 

Frau L. Rurlinden, Bern: Die Beteiligung der 
Frauen an der Schulverwaltung in der Schweiz. 

Distuffion: Frl. Margarete Poehlmann, Tilfit. 
rl. Elifabeth Altmann, Soeſt. Frl. Olga 
Stieglitz, Berlin. 


Seftion II. 


fraucn-Grwerk und -Serufe. 


Borfisende: Frl. Alice Salomon. 
Stellvertretende Vorfigende: Frl. Elſe Liiders. 


Montag, den 13. Juni, vorm. 101/, bis 2 UWbr. 


Landwirt{[daft und Häusliche Dienfte. 


Vorfig und cinleitendes RNeferat: Frl. Elſe Lüders, 
Berlin. 


I. Die Frau als Landwirtin, Landarbeiterin 

und Gärtnerin. 

Referate: Miß Terefa F. Wilfon, England: Die 
Frau als Landwwirtin. 

Frl. Dr Elvira Caftner, Marienfelde: Gartenbau 
alé Beruf fiir Frauen. 

Counteß of Warwid, England: Die Frau in der 
Landwirtſchaft. 

rau Beſobecſoff, Rußland: Die Stellung der 
ruſſiſchen Landarbeiterinnen. 

Distuffion: Frl. Ida von Kortzfleiſch, Hannover. 
Frau E. Bohm, Lamgarben. Frau Marie 
Wegener, Breslau. 

II. Dienftbotenfrage. 

Referate: Frau Regine Deutſch, Berlin: Die Dienft: 
botenfrage in Deutſchland. 

Frau Caroline von Riebauer, Ofterreidh: Die 
Dienftbotenfrage in Ofterreid. 

Mrs. Mary Churd Terrell, Ehrenpräſidentin 
ded Nationalvereins der farbigen Frauen, 
Ver. Staaten: Die Lage der farbigen Frauen 


als Dienftboten. 
rl. Margarete 
Koſchnitzli, Berlin. 


Dienstag, den 14. Juni, vorm. 9 bis 1 Uhr. 


Die Lage ber gewerbliden Arbeiterinnen, 


Vorſitz und cinleitendes Referat: Fraulein Alice 
Salomon, Berlin. 


I. Fabrifarbeiterinnen. 
Referate: Frl. Henriette van ber Mey, Holland: 
Die Lage der Urbeiterinnen in Holland. 
el. Dr Marie Baum, Karlsruhe: Die Fabril: 
arbeiterin in Deutſchland. 
Miß Margaret G. Bondfield, England: Induſtrielle 
fyrauenarbeit. 
Frl. Rofita Schwimmer, Ungarn: Die Oſterreichiſch⸗ 
Ungariſche Arbeiterinnenbewegung. 
Mrs. Lydia Kingsmill Commander, Ver. Staaten: 
Qnbuftrielle Fraucnarbeit und Mutterſchaft. 
Distuffion: Miß Wadge, England. 


Il. Seimarbeiterinnen. 
Referate: Frl. Margarete Friedenthal, Berlin: Die 
Lage der Heimarbeiterinnen in Deutſchland. 
Mrs. Watfon- Lifter, Vittoria, Wuftralien: Heim: 
arbeit in Auſtralien. 
Distuffion...... 


Mittwod, den 15. uni, vorm. 9 bid 1 Uhr. 


I. Die Frau in Handel und Verkehr. 
Vorfigende: Frau Broil, Frankfurt a, M. 
Cinleitendes Referat: Frl. Eva von Rov, Königsberg. 


I. Die Frau im Handel. 


Meferate: Frl. Agnes Herrmann, Berlin: Die 
Lage der weibliden Handelsangeftellten in 
Deutſchland. 

Mrs. Conſtance Hofter, England: Die Aus— 
bilbung von Bureauangeftellten. 
Frau Ajtrid Paludan-Miiller, Danemarf: Die 
Lage ber HandelSgebilfinnen in Danemart. 
Distuffion: Frl. Erna Wönkhaus, Berlin. 


IL. Bahn-, Poft:,Telegraphen-Beamtinnen 
Referate: Frl. Karoline Gronemann, Oſterreich: 
Die Lage der Beamtinnen in — 

Frl. Dr Rate Schirmacher, Paris: Die Lage 
der — Beamtinnen. 


Diskuſſion: feel “Rofita Schwimmer, Ungarn. 


Donnerstag, den 16. Suni, vorm. 9 bis 1 Uhr. 


Krantenpflege. 
Vorſitz und  cinleitendes Referat: Frau Elsbeth 
Krutenberg, Kreugnad. 

Referate: Mrs. Bedford-Fenwid, England: Die 
Krantenpflege alS Frauenberuf vom er— 
zieheriſchen, wirtſchaftlichen und ſozialen 
Standpunkt. 

Miß L. L. Dod, Ver. Staaten: Krankenpflege in 
Amerifa. 

Schwefter Agnes Karl, Berlin: Die juliinftige 
Ausbildung der deutſchen Krantenpflegerinnen. 

Mrs. Goodrich, Ver. Staaten: 
Kranfenpflegerinnen in Wmerifa, 

Miß Maud Banfield, Ber. Staaten: Ausbildung, 
Lage und AlterSverforgung der amerifanijden 
Kranfenpflegerinnen. 

Dr Ellen Sandelin, Schiweden: Die Organifation 
der Kranfenpflegerinnen in Schweden. 

Distuffion: Frau Emmyh Gordon, Wiirgburg. 
Miß Mary ©. Thornton, Ber. Staaten. Lilli 
Freifrau von Bijtram, Berlin Seblendorf. 
Frau Oberin Beder, Berlin-Rebhlendorf. 


Freitag, den 17. Juni, vorm. 9 bis 1 Uhr. 
Kunft, Kunftgewerbe und Literatur. 
Vorſitz: Frl. Sophia Goudftitfer, München. 


Ginleitendeds Referat: Fri. Natalie von Milde, 
Weimar. 
J. Runft. 


Referate: Mrs. Adelaide Johnſon, Ber. Staaten: 
Die hinftlerifdje Tatigteit der Frau, ibr Einfluß 
einft und jept. 

Frl. Marie von Keudell, Berlin: Ausbilbungs: 
moglichleiten für Malerinnen in Deutſchland. 

Mrs. Dignam, Kanada: Bia Resanes und ibre 
Organijationen, 


~~ ™ 


z 


Die Lage der 





Das Programm des internationalen Frauenfongrefics. 


Mrs. Alice Smith Merrill Horne, Ber. Staaten: 
Runft. 
der Biibnentiinftlerinnen. 
Mrs. Loeber, Ber. Staaten: Die Lciftungen der 
Frauen in ber Mufif. 
Distuffion: Fran Sabine Lepfius, Berlin. 


Il. Runftgewerbe. 


Referate: Frau Charlotte Klein, Danemarf: Die 
tunftgewerbliche Tatigteit der Frau. 
Distuffion . . . . 
III. Literatur und Journalismus. 
Referate: Fri. von Biftram, Wiesbaden: Die 


Frauen in der deutſchen Literatur. 
Lady Marjorie Gordon, England: Die Frauen 
in ber englifden Literatur. 
Mrs. Seffie Adermann, Ber. Staaten: Wimerifa- 
niſche Sournaliftinnen, 
Frau Eliza Ichenhäuſer, Berlin: Qournatliftinnen 
in Deutidland. 
Mrs. Whiting, Ber. Staaten: 
Schriftſtellerin. 
Diskuſſion: Mrs. Bulſtrode, England. 
Sonnabend, den 18. Juni, vorm. 9 bis 1 Uhr. 
Wiffenfdaftlide Berufe. 


Borfis und einleitended Referat: Frl. Dr med, 
Agnes Bluhm, Berlin. 
I. Der Lehrerinnenberuf. 
Referate: Frl. Maria Liſchnewsla, Spandau: Die 
Lage der Volksſchullehrerinnen in Deutſchland. 
atl. Dr Ella Menſch, Berlin: Die Frau als 
Dogentin. 
Mm. Alphen Salvador, Frantreich: Die Laae 
der Lebrerinnen in Frankreich. 
If. Andere wiffenfdaftlide Berufe. 
Referate: Reverend Anna Shaw, Ber. Staaten: 
Die Frau als Predigerin. 
Mrs. Carr, Ver. Staaten: Die Frau als Advofatin. 
Mrs. Gordon, D. Se., Schottland: Die Frau 
in der Wiſſenſchaft 
Dr Ellen Sandelin, Schweden: Die Frau als 
Arztin. 


Die Frau als 


Frl. Dr Franziska Tiburtius, Berlin: Die 
Stellung der Arztinnen in Deutſchland. 

Mrs. Hattie A. Schwenderer, M. D., Ver. 
Staaten: Die Tatigheit der Arztinnen in 
Amerifa. 

Frau Dr Saroline Steen, Norwegen: Der 


hygieniſche — durch weibliche Arzte. 
Distujfion .. 


Sektion III. 
Sosiale — und Be- 
ſtreb ungen. 
Vorſitzende: Frau Anna Edinger. Stellvertr. Vor— 
ſitzende: Frau Katharine Scheven. 

Montag, den 13. Juni, vorm. 10'/, bis 2 Uhr. 
Armenpflege, Rranfens und Relonvales: 
aentenfiirforge. 

Vorſitz und cinleitendes Referat: Frau Anna 

Edinger, Franffurt a. M. 


Referate: Frau Agda Montelius, Sdhweden: Grund: 
fage moderner Armenpflege. 


Das Programm des internationalen Frauentongreffes. 


Frau Hertha v. Sprung, Ofterreich: Wrmen: 
pflege iu Oſterreich. 

Frau Louija Thompfon, Canada: 
visiting in Canada, 

Fraulein Luife Roloff, Berlin: Die Organifation 
der privaten Armenpflege in Berlin. 

Frau Alice Bensheimer, Mannheim: Die 

Be: 


District 


Organijation ded badijchen Frauenvereins. 
frau Dr Alvida Harbou-Hoff, Danemart: 
fampfung der Tuberfulofe im Rindesalter. 
aie Hella Fleſch, Franfjurt a. M.: Die Haus: 
pflege. 
Frau K. Bohmann, Schweden: Die Heimats: 
pflege unter den Armen. 

Distuffion: Fri. Vr Ellen Sandelin, Schweden. 
Miß Olga Hers, England. Frau Bald, 
Berlin. Frau Karoline Hérics, Ungarn. 
Sgra. Elija Boſchetti, Italien. 


Dienstag, den 14. Quni, vorm. 9 bis 1 Uhr. 
Fürſorge fiir Kinder und Qugendlide. 
Vorfig: Frau Hedwig Winkler, Hamburg. 
Ginleitendes Referat: Frau Marie Hecht, Tilfit. 
Referate: Fraulein Lydia von Wolffring, Ofterreich: 
Rinderfilrforge. 

Frau Anna Plothow, Berlin: Kinderborte. 

Frau Malvi Fuchs, Ungarn: Kinderſchutz. 

Frau Hanna Rieber-Bdhm, Berlin: Das Für— 
jorge Erjichungsaefey. 

Mrs. Emily Cummings, Canada: Custodial 
care for feeble minded women of child- 
bearing age. 

Frau Katti Anfer- Maller, Norwegen. 

Frau Vibecke Salicath, Dänemark: Heime fiir 
uncheliche Miitter. 

Frau Bertha Turin, Stalien: Verein der Freun- 
dinnen junger Madchen, 

Distulfion: Fraulein Scholl, Atalien. 
Vollmar, Berlin. 


Mittwodw, den 15. Suni, vorm. 9 bis 1 Uhr. 
Beftrebungen zur Hebung der Sittlidfeit. 


Borfis und cinleitendes Referat: Frau Katharine 
Scheven, Dresden. 

Heferate: Frau Prof. Michelet, Normegen: Sittlic- 
keitsbewegung in Norwegen. 

Frau Wyngendts-Franken-Dyſerinck, Holland: 
Reglementierung und ſanitäre Aufſicht der 
Proſtitution in Solland. 

Mime. Avril de St. Croix, Frankreich: Abolitionis: 
mus in Frankreich. 

Mrs. Grannis, Wmerifa: 
Purity. 

Frl. ** Pappritz, Berlin: Die poſitiven Auf- 
gaben der Foderation. 

Grajin von Hogendorp, Holland: Die inter: 
nationale Befampfung des Mädchenhandels. 

Mrs. Kate Waller Barret, Vereinigte Staaten: 
Rettungsarbeit. 

rl. Fermfteder, Frankreich: L’Oeuvre des 
liberées de St. Lazare. 

Distuffion: Frl. Brondgeeft, Franfreid. Mrs. 
Glarence, St Allen, Ber. Staaten. Frau 
Eggers⸗Smidt, Bremen. 


DonnerStag, den 16, Suni, vorm. 9 bis 1 Wor. 
Gefangenen: Fiirforge und Alfobhol: 


bekämpfung. 
Vorſitz: Frl. Ottilie Hoffmann, Bremen. 


Fraulein 


Promotion of social 


567 


Ginleitendes Referat: Frau Hildegard Wegſcheider— 
Biegler, Dr phil., Berlin. 

I, Gefangenen: Filrforge. 

Referate: Lady Conftance Batterfea, England. 

Frl. Marie Mellien, Berlin. 

Frl. Thella Friedlander, Berlin: Die Reform 
ber deutſchen Frauengefangnific. 

Fru Raudi Blehr, Norwegen: Polizeimatronen, 

Distuffion. 

Il, Alltobolbefampfung. 

Referate: Miß Belle Kearney, Ver. Staaten: Die 
Belimpfung des Alkoholismus, cine Pflicht 
der Frauen. 

Mile. Marie Parent, Belgien. 

Fröken Ina Rogberg, Schweden. 

Frau Alli Trygg Helenius, Finnland. 

Frau Hedwig Bleuler-Wafer, Dr. phil., Schweiz: 
Tiber den Einfſluß des Alkohols auf das Ber- 
hältnis der beiden Geſchlechter. 

Distuffion: Miß Belle Hungtington Miz, Vereinigte 
Staaten. Lady Batterfea, England, 


Freitag, den 17. Juni, vorm. 9 bis 1 Uhr. 


Verufsorganifationen und Genoffen- 
ſchaftsbewegung. 
Vorſitz: Frl. Clara Elben, Hamburg. 
— Referat: Frl. Gertrud Dyhrenfurth, 
rlin. 
Referate: Frl. Elſe Lüders, Berlin: Organiſation 
der deutſchen Arbeiterinnen. 
Miß Mary Macarthur, England: The Women’s 
Trade-Union League. 
Frau WAlbobelli: Benetti, Italien: Italieniſche 
Urbeiterinnenberwegung. 
Frau Marie Lang, Oſterreich: Arbeiterinnen: 
Organifation in Ofterreic. 
Mrs. Maud Nathan, Ver. Staaten: The Con- 
sumer’s Leage. 
Disfuffion: Fri. de (a Croix, Berlin. Fel. Mar: 
qaretha Friedenthal, Berlin. Dr. Elijabeth 
Jaffé von Richthofen, Heidelberg. 


Sonnabend, den 18. Suni, vorm. 9 bid 1 Uhr. 


Verſchiedene Wohlfabrtscinridtungen, 
Rechtsſchutzſtellen fiir Frauen, RKlubs, 
Heime uſw. 

Vorfit: Frl. Anna Papprif, Berlin. 

Ginleitendes Referat: Frl. Therefe Röſing, Liibed. 

Referat: Frau Margarete Pochhammer, Berlin: 
Reform der Frauentleidung, 

Distuffion. 

Referet: Frau Bennewitz, Galle: Rechtsſchutzſtellen. 

Diskuſſion. 

Referate: Mrs. Alfred Booth, Liverpool: Settlements. 

Frl. Elſe Federn, Oſterreich: Settlements. 

Distuffion. 

Referat: Miß Emily Janes, England: Working 
girls’ clubs. 

Distuffion: Frau Elſa Strauß. 

Referat: Frl. Adelheid von Bennigfen, Hannover: 
Erjiebung der Jugend gu ſozialen Pflichten. 

Distuffion. 


Seftion IV. 
Die redjtlidje Stellung der Fran, 


Borfigende: Freiin Olga von Beſchwitz. Stell: 
vertretende BVorfigende: Frl. Dr Gottheiner. 


568 


Montag, den 13. Suni, vorm. 101/, bis 2 Uhr. 


Die givilredhtlide Stellung der Frau. 


Vorjig und einleitendes Referat: Frau Marie 
Stritt, Dresden. 


I], Wirkungen der Ehe im allaemeinen. 
Referate: Frau M. Weber, Heidelberg: Die 
hiſtoriſche Entwidelung ded Eherechtes. 
Mule. Dr Popelin, Belgien. 
Miß Sheriff Bain, Neufeeland: Laws concerning 
Domestic Relations. 
Mrs. Blantenburg, Ber. Staaten: The evolution 
of American Law concerning Women. 
Mrs. Watjon: Lifter, Bictoria. 
Distuffion: Frau Krieſche, Dresden. Frau Proelf, 
Berlin. 


IL. Eheliches Giiterredt. 
Referate: Wine. Oddo Deflou, Frantreich. 
Frau Dr jur. Rafdfe, Berlin. 
atl. Dr jur. van Dorp, Holland. 
Mrs. Alfred Booth, England: Married Women’s 
Property Laws. 
Disfuffion; Frau Salinger, Dresden. 


Dienstag, ben 14. Juni, vorm. 9 bis 1 Uhr. 
Die jivilredtlide Stellung der Frau. 
Vorfig und cinleitendes Referat: Frau von Forfter, 

Riirnberg. 
I, Elterlide Gewalt. 
Referate: Frau Boos-Jegher, Schweiz. 
Frölen Cedernſtiöld, Schweden. 
Fru Ragna Schou, Danemart. 
Mrs. M. L. Carr, Ber. Staaten, 
Distuffion: Frau €. Camp, Dresden, 


Il. Stellung der unebeliden Mutter und 
ihres Kindes. 
Referate: Mme. d'Abbadie d'Arraſt, Frankreich. 
Miß Clifford, England. 
Frl. Dr jur. Duenfing, Munchen. 
Diskuſſion: Frou Bennewiz, Halle. Frl. Kirch, Frank⸗ 
furt a. M. Miß Sheriff Bain, Neuſeeland. 


IT, Vormundſchaft. 
Referate: Frau Marie Spiger, Oſterreich. 
Frau Eichholz, Hamburg. 
Frl. R. Schwimmer, Ungarn. 
Diskuſſion: Frl. Röſing, Luͤbeck. 


Mittwoch, ben 15. Juni, vorm. 9 bis 1 Uhr. 


Die Frau in ber fozialen Geſeßgebung 
und im Vereinsrecht. 


Vorſitz und einleitendes Referat: Fri. A. Salomon, 
Berlin. 


I, Arbeiterinnenſchutzgeſetze. 
Referate: Frl. H. Simon, Berlin, 
Mine. Rutgers Hvitiema, Holland. 
Frau Sted, Schweiz. 
Distuffion: Mrs. Montefiore, 
Simfon, Breslau. 
atl, Dr Gottbeimer, Berlin. 


Il. Alters- und Snvalidenverfiderung. 


Referate: Fri. Adele Schreiber, Berlin: Die Alters: 
und Jnvaliditatsverficherung in Deutichland. 
Distuifion: , 


England, Frau 


"_* ee © we we 


Das Programm des internationalen Frauenlongreſſes. 


II. Vereinsgeſetzgebung. 
Heferate: Frl. L. G. Heimann, Hamburg: Die 
Frau im deutfden Vereinsrecht. 
Distuffion..... 


Donnerstag, den 16. Juni, vorm, 9 bis | Uhr. 


Frauen in fommunalen Amtern. 


Vorfigende Fri. Paula Miller, Hannover. 
Ginleitendes Referat: Frl. v. Welzed, Berlin. 


I. Gn der Sffentliden Armen: und Maifen: 
pylege. 
Heferate: Miß Olga Herg, England: Poor Law 
Guardians. 
Frau Profeffor Montelius, Schweden. 
Frau Proelf, Berlin. 
Baroneffe Gripenberg, Finnland. 
Distuffion: Frau Bohn, Konigsberg. 
Il. In den ftadtifdhen Shuldeputationen. 
Referate: Froten Cedernſtiöld, Schweden. 


Frl. Gertrud Baumer, Berlin. 
Miß Sheriff Bain, Neuſeeland. 


IH. Jn beſonderen Gerichtshöfen. 


Referate: Mme. Vincent, Frankreich: La Prudhomie 
en France. 
Mi, Sadie American, Ver. Staaten: The Juvenile 
Courts in The United States. 
Frl. don Roy, Königsberg: Die Kaufmannsgeridte 
und bie Frauen. 
Distiffion . . . , 


Freitag, den 17. Juni, vorm. 9 bis 1 Uhr. 


Das fommunale und firdlide Wahlrecht 
der Frau, 


Vorfig und cinleitendes Referat: Fel. Dr Gottheiner. 
I, Das fommunale BWabhlredt. 
Referate: Fru Bagger-Weif, Dänemark. 
Miß Emily Sanes, England. 
Frölen Gina Krog, Rorwegen. 
Atl, Adele Gerber, Oſterreich. 
II, Das kirchliche Wahlredt. 
Referate: Frl. P. Miller, Hannover. 
Frau Stocker Caviezel, Schweiz. 
Fru BaggerWeiß, Danemart. 
Mrs. Bewick Colby, Ver, Staaten. 
Distuffion: Miß E. Janes, England. 


Sonnabend, den 18. Juni, vorin. 9 bis 1 Uhr. 
Das politifde Wablredt der Frau. 
Vorſitz und einfeitendes Neferat: Fr. Ita Freuden: 

berg, Munchen. 
Referate; Rev, Anna Howard Shaw, Ber. Staaten. 
Frau Dr A. Jalobs, Holland. 
Dime. Chaponniére-Chair, Schweiz. 
Mrs. Fenwick Miller, England: The effect of 
Woman's Sutirage on Women themselves. 
Aru Norrie, Dänemark. 
Mrs. Hufted Harper, Ver. Staaten. 
orl, De Schirmacher, Baris: Die prattifde Not: 
wendigleit des Frauenſtimmrechts. 
Frölen Dr Wahlſtröm, Schweden. 
Mrs. Merril Horne, Ber. Staaten: The 
possibilities of the Woman Legislator. 
Mrs, Watfon-Liftev, Vittoria. 
Distuffion: Mrs. M. L. Carr, Ber. Staaten. 





Verfammlungen und Vereine. 


Allgemeine Verſammlungen 
im Großen Saale der Philharmonie. 


Montag, ben 13. Juni, abends 8 Uhr: 
Der Stand der a 7 tad in Ben 
Rulturlindern. 

Vorſitz: Frau Helene von Forfter. 
Referentinnen; Fri. Anna Pappritz (Deutſchland), 
Mrs. Wood Swift (Ber. Staaten), Mrs. 
Cummings (Kanada), Baroncije Gripenberg 
(Finland), Sgra. Mariani (Stalien), rl. 
Hida Sulyok (Ungarn), Mrs. Watjon-Lifter 

(Auſtralien). 


Dienstag, den 14. Juni, abends 8 Uhr: 


Frauenlöhne. 
Vorſitz: Frl. Alice Salomon. 


Referentinnen: Frau Marie Lang (Ofterreids): 
Die unbewertete Arbeit der Hausfrau. 


Leiſtung. Frl. Engel - Reimers (Berlin): 
Staatlide Lobnpolitil, 


Donnerstag, den 16. Juni, abends 8 Uhr: 


Das Verhaltnie der Frauenbewegung 
zu den politiſchen und khonfeffionellen 
Varteien. 

Vorſitz: Frl. Helene Lange. 
Referentinnen: Mrs. May Wright Sewall (Ber. 

Staaten), Frl. Sta Freudenberg (München). 


Lady | 
Aberdeen (England): Bleicher Lohn für gleiche 


569 


Freitag, den 17. Suni, abends 8 Uhr: 
Franenhimmredt. 
Vorſitz: Frau Marie Stritt. 
Referentinnen: Wrs. Garrett Fawcett (England), 
Mrs. Chapman Catt (Ber. Staaten), Mad. 
Maria Martin (Franfreieh), Miß Sufjan 
BH. Anthony (Ber. Staaten), Friter Gina 
Krog (Norwegen), Mrs. Napier (Neufeeland), 
Rev. Anna Shaw (Ver. Staaten). 
Sonnabend, den 18. Suni, nachm. 4 Uhr: 
Grundlagen und Biele der Franen- 
bewegung. 
Vorſitz: Frau Marie Stritt. 
Referentinnen: Mrs. Charlotte Perlins Gilman 
(Her, Staaten): Cine neue Theorie der Frauen: 
frage. Frl. Helene Lange (Berlin): Das 
Endziel ber Frauenbewegung. 
— Schluß ded Kongreſſes. — 





Berſammlung fiir junge Mädchen. 


Freitag, den 17. Aunt, nachm. 5 Uhr, im Oberlicht 
ſaal der Philharmonie: 


Die heranwachſende Zugend und die 
Frauenbewegung. 
Vorſitzende: Frl. Alice Salomon. 
Referate: Frl. Gertrud Baumer (Berlin): Neue 
aciftiqe Entwickelungsmöglichkeiten. Frl. Lily 
Dröſcher (Berlin): Beruf und Lebendsinbalt. 
Fel. Bertha Pappenbeim (Frantfurt a. M.): 
Soziale Hilfsarbeit. 
Distuffion. 





Gintritt frei. 


-- Gyn 


Versammlungen und Vereine. 


Der Grafin Rittbergſche Hilfs-Schwejtern-Verein, 
Es ift mir bic LebenSaufgqabe juteil geworden, 
den von ber unvergeßlichen Grafin Hedwig Rittberg 
vor 28 Qabren gum Zweck der Privat: Pflege 
gegründeten Hilſs-Schweſtern-Verein zu (citen. 
Ich finde nicht genug Schweſtern vor, um allen 
Anforderungen an Pflegen zu geniigen, ohne meine 
Schweſtern zu überanſtrengen. Da wende ich mich 
an dieſer Stelle namentlich an diejenigen Frauen 
unter ung, denen es im Alter von 25 bis BS Jahren 
nicht befehieden war, fic) gu einem Beruf auszubilden 
und die fich jest danach febnen, einen folden zu 


ergreifen, der innerlich friſch und glücklich macht 


und äußerlich vor Sorgen 
Zulunft fidert. 

Der Beruf der Krantenpflegerin niitt wie fein 
anberer unfere echt weiblichen mütterlichen Anlagen 
aus, im Helfer und Sebaffen, 
Erjiehen, Behüten und Anpaffen. 

Der Menſch in der Krankenpflegerin ift die 
Hauptſache, dee gute Charafter voll ftarfer Willens- 
fraft und Opferfähigkeit. 


in. Gegenwart und 


Berjorgen und | 


Bei unferen vorgeſchrittenen medizinifden und 
ſchirurgiſchen Verbaltniffen müſſen wir dabin 
fommen, daß die Gehilſin bed Arztes, dic Kranten: 
pflegerin, aus gebilbeten Standen beraus wächſt 
und unter dieſen aus benjenigen, two Wabrbeits: 
liebe und Pflichttreue bie Grundlage der fitilicd 
religidjen Erziehung bilder. 

Ganz unwillkürlich fällt und Krantenpflegerinnen 
cin Stiid Arbeit zur Lojung ber Frauenfrage, wie 
| der fogialen Frage tiberbaupt, zu, das wir mit 
Freuden ergreifen. Wir können die treueften 
Gehilfinnen des Staated fein und find als ſolche 
ſchon äußerlich dazu organijiert im bem grofen 
Werband der deutſchen Bereine vom Roten Kreuz, 
bem unfer Rittbergſcher Verein feit 4 Jahren 
angehört. Wir baben damit die herrliche Pflicht 
übernommen, in Kriegs- und Notſtandszeiten fofort 
hilfsbereit zu fein. Unſer Verein in der 
v. d. Heydtſtraße beſteht aus tüchtigen, geſchulten 
und bewährten Pflegekräften. Wir halten durch 
| treue, freudige Pflichterfüllung anf die Ehre unfreds 
| RufeS und heißen newe Mitglieder herzlich will— 





570 


fommen, die in gleicher Geſinnung mit und arbeiten, 
mit uns ein befriedigended, audfiillendes Leben 
fiibren wollen 


Su viel finnen es nie twerden; haben wir 
feinen Blog mebr, fo ſchaffen wir neuen. — 
Das Mebalt unſerer Sehweftern nad) koſtenloſer 
Ausbildung betragt bei freier Station x. monatlich 
einſtweilen 25 bis 35 Mark. — Für Erbolungs: 
tage, Anvalidengeiten, Altersverjorgung haben wir 
unfer hübſches, im grofen Garten gelegenes febr 
behagliches Heim in Neus BabelSberg, 1885 yon 
Grafin Rittberg gebaut. 

Möchten fich Viele, Biele und yon den Aller: 
beften unferem Berufe der RKrantenpflege an: 
ſchließen. 

Ich kann aus vollſter Uberzeugung und Er: 
fahrung davon ſprechen, wie er befriedigt und 
erfreut, wenn man ihn geiſtig vertieft auffaßt. 


Elsbeth von Keudell, 


Oberin bes Gräfin-Rittbergſchen Hilfs-Schweſtern— 
Vereins. Berlin W. 10, v. d. Heydtſtraße 8. 
Sprechſtunden zwiſchen 1 und 4 Uhr. 


Bur Frauenbewegung. 


Frauentag in Düſſeldorf 
am 23. und 24. Juni 1904, 


Im Anſchluß an die Diijjelborfer Gartenbau 
Ausftellung wird cin Fraucntag mit folgenderm 
Programm ftattfinden: 


I, Taq. 
Begriifung. 
Saul: und Arbeitergarten; 
Frau Wegner: Breslau, 
Wnfiedelungen gebildcter Frauen auf dem Lande; 
Frl. Mug. Förſter-Caſſel. 
Der Gartenbau in ſeiner hygieniſchen und äſthe— 
tiſchen Bedeutung; 
Frl. Dr Caſtner-Marienfelde. 
Einfluß der Frau auf die Landſchaftsgärtnerci; 
Fel. Emmy d¢ Leeuw: Bertin. 
Nber Gartneret in der Erziehung; 
Frau Hedwig Heol: Berlin. 
Rober Allohol und Objtveriwertung; 
Frau Clara Lang: Sweibritden. 


Il, Tag. 


Runftgewerbliche Beltrebungen der Frauen; 
rau Direftor Frauberger-Diffelborf. 
Die Erziehung der Frau jue Kunſt; 
Freiherr pon Perfall> Coin. 
Die fosiale Bedeutung der Kunſt; 
Frl. Ita Freudenberg: Minden. 


=r 
Zur Franenbewegung. 


NRachdruck mit Quellenangabe erlaubt. 


* Die Raiferin hat fics iiber dads Madden: 
Aymunafium in KarlSrube durch den Direltor 
desſelben Bericht erftatten laſſen, und, wie berichtet 
wird, nicht nur ibr reges Intereſſe fiir die Gymnaſial⸗ 
bilbung der Madchen geäußert, fondern auch die 
Rotwendigkeit von Méabdchengymnafien _ cin: 
dringlich betont.” 


* Die Höhere Handelsfdjute fiir Madden in 
Köln hielt unter dem Vorſitz beds als Prüfungs 


; und ¢8 zeigt fic) von Jahr zu Jahr mebr, 





kommiſſär der Königlichen Regierung beftellten Seren | 
lande erfolgt, fo daß der Frage der Einrichtung von 


Profeffor Dr Wirminghaus ant 21, und 22. März ihre 


ſchriftliche und am 26. und 28. Mary ihre mündliche 


dies jaährige Abſchlußprüfung ab. Bon den ab: 
gebenden Schiilerinnen beftanden 9 mit dem Geſamt— 
praditat febr gut, 11 mit gut und 7 mit geniigend. 
Die Priifung gab wieder in erfreulicder Weiſe 
Zeugnis von der umfaffenden, ernften Arbeit dicfer 
in ihrer Art wie in ihren Bielen bis jest noch 
immer cinjigen fanfminnijden Bildungsanſtalt fiir 
Madden. Diejenigen Abfolventinnen, welche fofort 
in dic Praris gu treten wünſchen, haben gum Teil 
fon vor der Abſchlußprüfung bet angeſehenen 
Firmen paffende cintommliche Stelungen erbalten, 





ſowohl in ber ftetiq wachſenden Nachfrage nach 
gründlich und ausgibig geſchulten weiblichen Bureau: 
friiften, wie in ben aud immer weiteren Kreiſen 
cingebenden Betwerbungen um Aufnahme in dte 
Unftalt, wie febr cine derartige Schule den Be: 
dürfniſſen unferer auf allen kaufmänniſchen und 
induftriellen Gebieten fo machtvoll aufftrebenden 
Heit entſpricht. Für bas ant 21. April beginnende 
neue Scbuljabe find wieder zahlreiche Anmeldungen 
aus allen Teilen des Reichs und aus dem Mus: 


Parallelflaffen ernftlich naber getreten werden mußte. 
Schriftliche und mündliche Unmelbungen, bei weldien 
bad Abgangszeugnis einer sebnllaifigen höheren 
Toöchterſchule und ber Geburtsſchein vorgulegen find, 
werden auch während ber Ferien im Direltions- 
bureau, Slapperbof 28, entgegengenommen. Dic 
Sprechſtunden des Direktors find während der 
Ferien woedentags von 11 bis 1 Uhr. Die Auf 
nabinepritfung war am 19. April. 

* Gegen den § 361° nabm ber rheiniſch-weſt⸗ 
falifebe Frauenverband auf feinem Berbandstag in 
Hagen folgende Rejolution an: 


Bücherſchau. 


„Infolge bed Bielefelder Vorkommniſſes, nach 
dem eine alleinreiſende junge Lehrerin aus Minden 
im Warteſaal 1. und 2. Klaſſe von einem Seuss: 
mann auf @rund bed § 361% verbajtet und in 
brutaler Weife jum Polijeibureau gefehleppt wurde, 
ertlärt die 3. Generalverfammilung ded rheiniſch— 
weftfalifden Frauenverbandes die Wufbebung des 
§ 361° fiir dringend notwendig. Nicht der zur 
Dispofition geftellte Schutzmann erſcheint als der 
Schuldige trotz feines brutalen Auftretens. Auch 
ohne ſolche Behandlung iſt es eine ſchwere Ehren— 
tränkung für jede Frau, auf Grund des genannten 
Paragraphen einfach für vogelfrei erklärt und der 
Willkür plöhlicher Verhaftung, der Schmach eines 
peinlichen Verhörs, wohl gar einer entehrenden 
Zwangsunterſuchung ausgeſetzt zu ſein. Die Ge— 
neralverſammilung des rheiniſch⸗weſtfäliſchen Frauen: 
verbandes erhebt Proteſt gegen den die Frauen 
unter Ausnahmegeſetz ſtellenden § 361° und fordert 
{eine Aufhebung.“ 


* Realgnumunafialturje fiir Mädchen find in 
Darmftadt auf Anregung ciniger Mitglieder der 
dortigen Ortsgruppe des Allgemeinen deutſchen 


' 


| 


571 
Frauenvereins gegriindet worden. Die Kurfe, die 
ber Leitung des Knabenrealgumnafiums unterftellt 


find, treten gu Pfingften mit ciner Untertertia ing 
Leben. 


* Us Redhner der evangelifcen Kirche su Möls— 
beim (Grofherjogtum Heffen) ift vom Großherzog— 
lichen Kreisamt Worms Frau Anna Maria Stolt 
verpflictet worden. Es Ddiirfte dies der erfte der: 
artige Fall im Großherzogtum jein. 


* Mls Profeffor an der Univerfitat London 
habilitierte fic) Mif Lilian Tomn fiir Wirt: 
ſchaftsgeſchichte Sie ift eine ehemalige Schiilerin 


yon Girton College in Cambridge. 


* Bizgeprafidentin der belgifdjen neurologifdjen 
Geſellſchaft wurde Fraulein Dr med. J. Joteyko 
von der Briiffeler Univerfitét. Sie bat den 
Sagungen der Geſellſchaft entſprechend im nächſten 
Jahr die Präſidentſchaft su iibernehmen. 


—_3 ⸗ 


= => Biicherschau. — 


„Familie B.C. Behm’ von Ottomar Enting. 
Verlag von Karl Reifiner, Dresden und Leipsig. 
Es ſcheint, als ob die Buddenbrooks die Anregung 
zu diejem Romane gegeben batten; bier wie dort 
wird der ,,Berfall ciner Familie’ gefchildert, und 
das Haus P. ©. Bebm bietet uns in einer tieferen 
fozialen Schicht das Bild, das Thomas Mann fo 
meifterbajt in dem jftolgen Litbeder Kaufmanns— 
geſchlecht geseichnet bat. Cine Meifterband bat das 
Schidjal der Familie P. C. Behm nicht geftaltet, 
aber bas Wuge eines ſcharfen und feinfinnigen 
Beobachters biirgerlichen Kleinlebens hat die taufend 


charalteriſtiſchen Züge gefunden, im denen die | 


Familie P. C. Behm uns nabe gebradt wird. Ru 
viele Züge, mit der fubtilen Sorgfalt niederlanbdifder 
Malerei bis ins Einzelne gezeichnet. Es feblt 
Ottomar CEnfing die Fäbigkeit einer geiſtvollen 


Kompoſition und einer wirklich künſtleriſchen Ver⸗ 


wertung des intim CEharakteriſtiſchen. 
ſeine Schilderung, ſo echt ſie im Einzelnen iſt, 


So wird | 


doch zuweilen breit, aud bas Unbedcutende und | 


Unweſentliche in den Bordergrund fdiebend. Und 
dann weiß Ottomar Enfing dem Berfall feiner 


Familie nicht dieſen grandiofen Zug unerbittlider | 


Notwendigheit su geben, der dem Schickſal der Familie 
Buddenbroof feine Größe und feine tiefe Symbolik 
verleibt. Es erſcheint graufam und innerlich un: 
motiviert, daß ein fo kerngeſundes und lebensfriſches 
Wefen, wie Anna Bebm, gu einem fo troftlojen 
Schickſal innerlich, naturnotwendig beftimmt fein 
folite; und fo entlaft uns der Noman, der uns in cin 
Idyll von feltener Wärme des Kolorits aufgenommen 
bat, mit dem Gindrud, daß bier das Schidfal will: 
tiirlich, ohne jenen Zwang von Entwidlungsgefesen, 
deren ewige Giltigfeit den Menſchen erhebt, wenn fie 
den Menſchen zermalmt, Leben und Glück zerſtört. 


„Kunfterziehung““, Ergebniſſe und Anregungen 
des zweiten Kunſterziehungstages in Weimar vom 


wenig geglückten Verſuche, 


9./10. Oftober 1903. — Deutſche Sprache und 
Dichtung. — R. Boigtländers Verlag in Leipzig. 
{ber den Kunftergiehungstag in Weimar ift bereits 
in dieſer Zeitſchrift berictet worden. Die jest im 
Dru vorliegenden Berhandlungen geben jedem 
Melegenbeit, fic) die Anregungen gu Nutze zu 
machen, die der Kunſterziehungstag vermitteln follte. 
Der Cleine Band umfaft fowohl die eigentlichen 
Verbandlungen, alS auch die sffentlichen Bortrage, 
vor denen der des Herrn Geheimrat Waetoldt in 
feiner feinen und fouveranen Bebandlung der 
Wrage fiir alle, denen die Kunſterziehung durch 
unfjere Yiteratur nabe liegt, gang befonders Wert: 
polled bieten möchte. Qedenfalls ſpiegeln dic 
Berbandlungen den Eindruck [ebendig wieder, ben 
der Kunſterziehungstag allen Teilnebmern gegeben 
bat, den Gindrud, daß es fic) hier um eine neue 
Sentrale banbdelt fiir alle die [ebendigen und 
gufunftverbeifenden Strömungen, dic an Stelle 
der grauen Theorie die Rechte und Anſprüche ded 
Menſchen, der Perfonlicleit, in der Schule zur 
Geltung bringen möchten. 


„Der klingende Berg“ von Miriam Eck, 
Stuttgart, Axel Junker, Verlag. Der Name „Novelle“ 
iſt kaum zutreffend fiir die Folge von Stiggen, die, 
loſe aneinander gereibt, fajt nur aujammengebalten 
durch die Einheit des Ortes, die Berfafferin in 
ibrem Heinen Buch vor uns aufrollt. Es find 
feine Beobacdhtungen und oft mit grofer Sartbeit 
und künſtleriſcher Anmut wiedergegebene Bilder, 
deren Mangel an Whrundung aber dod) ein etwas 
dilettantiſches Können nicht verleugnet. Es feblt 
Miriam Ech, deren Begabung zweifellos mehr zur 
Lyrik neigt, an der Fähigkeit künſtleriſcher Kom— 
poſition; das zeigt dieſes kleine Buch mit ſeinem 
Einzelbeobachtungen, 
Einzelportraits zu einem Ganzen zuſammenzu— 
ſchließen, ganz beſonders deutlich. 


572 


Liste neu erschienener Biicher. 


(Befpredung nag Raum und Gelegenheit vorbehalten; cine Rildfendung nicht beſprochener Bidder if nidt mB glad. 


Allihn, — Die Anfangsgruünde der 
—— en Arankenpflege. Eine Ane 
eitung flix bilfébereite Frauen und 

Jungfrauen. Durdgefehen von Medi—⸗ 

jinalrat Dr Balto Berlag von 

Martin Barned, Berl 


Baner, Ludwig. Die ae Reine 
Tragddien ber Heit. J. T. C. Bruns 
Verlag, Dtinden L Weftf. 

Bergemann, Dr Pant, Bolfsbiloung. 
(Bo. 8 von Hilgers illuſtrierten Bolls- 
bidern & 30 PF, im Abonnement 
6 Yoe. 1,50 Mark) Hermann Hillger 
Berlag, Berlin, 

Befant, Annie, Efoteri 
oder die fleinen Myfterten, MAutovifierte 
Tberfegung von Mathilde Scholl 
$60 Mart. Th. Griebens Berlag 
(2. Fernau), Leipzig. 

Biel, Anna Maria. Roman einer 
Mutter. Carl Handhalter Berlags- 
budbandlung, Ruͤnchen. 

Bihler, Marie, Genejung. Gedicdte. 
2 Mart Gebr. Knauer are 
budbandlung, Frantfurt a. 

Bruun, Laurids. Die ——— Roman, 
3,50 Warf. Axel Sunder Werlag, 
Stuttgart. 

Biitow, Otto. Die Wellordnung. Bo. TT 
Die Antivort auf die foziale —— 
4 Mart. Verlag von C. & DO, Butow, 


es Chrijtentum 


Braunfdiweig. 
Franenberufe, Heft 11. Die Pojt- und 
Telegraphenbeamtin. Frorderungen, 


Leiftungen, Aus ſichten in dieſem Berufe, 
60 Pf. C. Banged Verlag, Leipjig. 
Fulda, Ludwig, Sdiller und die neue 

| —— Gin Bortrag. 75 Pj. 


J G. Cottaſchen Buchhand | 


= eng bed og G. m. 6. H. Stuttgart. 


—— Reing. Reforms Ehe oder 
Chee Reform? Orania-Verlag, Oraniens 
burg. Preis 50 Pf. 
Haflings, E. Gedichte. E. Pierfons 
Berlag, Dresden. Preis 1,50 Mart. 
Hermann, Hans. Das Sanatorium 
der freien Viebe. Plane und Hoffmungen 
fiir bie Zukunft. Berlag ns 
Priebe & Co,, BerlineSteglig. Preis 

2 Mark 
Qunftgeicidyte, Wie fludiert man? Cin 
Wearweifer filr alle, die ſich biefer 
Wiffenidaft widbmen. Bon einem 
Runjftbiftorifer. 80 Pf. Roßbergſche 
Berlagshudbandlung, Leipjig. 


Lemble, Fr. raparationen filr ben 
Unterridt im der getwerbliden Fort⸗ 
bildungsſchule. Bon H. Sierds und 

Lembke. Band WI: Biirgers und 
echtstunde des Handwerkers. Riel 
und Lelpzig 1904. Lipfius & Tifcher. 
8 Mart. 

— Gefeyfammlung file Handwerker. Die 
file Den Handwerter widtigen geſetzlichen 
Vorfdriften nad dem Wortlaut der 
Gefege und mit Paragrapbeneinteilung. 
Riel Leipzig 1004. Lipfiud & Tiſcher. 
1,60 Mart. 

— “Bucfibrung und Geſehestunde flr 
Handwerker. Zugleich ein Leitfaren 
zur Borbereitung auf die Meiſter⸗ 
prilfung. Kiel und Leipzig 1904. 
Lipfius & Lifer. 2 Mart. 

Miilier-Miiller, R, S. Golvene Regeln 
fiir ben Verkehr in ber quten Geſell⸗ 
fdaft, 8.—12. Taufend. Clea. geb. 
1,60 Mart, Th. Schroter Verlag, Leipzig. 

Nievert, H. Was der Wejtivind erlebte. 
Sfigen. Brojciert 1 Mart, eleg. geb. 
1,50 Mart, Verlag von Hermann 
Gejenius, Halle, 


Poritty, J. E. Die ba mide fend... - 
Rovellenjammlung. 1,50 Mark. Beriag 
Dr J. Mardlewsti & Co, Witnden 

Salburg, Edith Grifin Was de 
Wirtlichkeit erzaͤhlt. Drei BNcer, bre 
bas Leben febreibt. > 
Golgatha, 3. Mufl. 
= 6 Mart Werlag von Carl 

cifiner, Dreoden. 

Salomon, Canititérat Dr Max. Dee 
Tubertulofe alé Bol€sfranf{hert und 
ihre Belimypfung durch BerpMtamgs- 
maßnahmen. on der Berliner 
Hufelandiſchen Gefelidaft* preie⸗ 

etronte Schrift Berlin 1904. S. arger. 
reid 1 Dart. 

Schollmeyer, Eliſabeth. Frouenfrage 
und Bibel. 56 Seiten in sormebener 
Uusftattung. Gebauer > Sdhwet fedfe, 

ale a. GS. 6O Pf. 

Shumader, Tony, 55 unb 
Alliags freuden. Preis broſch 1,25 Mart, 
geb. 180 Mart. — ag vor Otte 
Maier in Ravensburg. 


Seelig, Frau Geheimrat. Die Riri 
und Hausweberei cin Fraucnberuf, 
dargeftellt an der Mieler Bebeſchule 
des Sales Holſteinſchen Bereine gur 

er Aunſt- und Haus 

40 Df. Berlag von Robere 

Corded, Micl. 

Theis, Anna. Hohen und Ticfen. 
Gine Sammlung ausgewählter Corl 
Rommiffiondverlag von J. Baty, 


Darmftadt. 

— — Prof. Dr Georg. Was 
collet wir leſen und wie follen tir 
¢jen? Bortrag. achalten tm Nuftrag 
bes Bereing file Bolfsunterhaltungen 
i Leipsig. *8 (Mar Heſſes Sere 
ag). Preis 20 











„Du bift ein gan; 
retzendes, ſüßes Geſchöpf 
— bis — bis auf Deine 
Zähne. — Kind, Hind, 
weißt Du, daß die Unter= 
laffungsfiinden diejenigen 
find, die fic) ami furcht- 
barften rächen — es tut 
mir in der Seele web, 
male id) mir die Qualen 
und Schmerzen aus, die 
Deinen Zähnen nod) be- 
vorftehen, wenn Du nicht 
bet Seiten zur befferen 
Einjicht fommft und 
Dein Wiindchen fein und 
fleifig pfleaft. Willſt 

' Du Dich vor Plinftigem 


Leid bewahren, willft Du Dir ſelbſt Erfriſchung, Gefundheit und Gli fchaffen und 
Deinen Mitmenſchen Freude bereiten durch einen UWiund mit reinem Haud und 
blendenden Zähnen, fo befehre Did) heute nod) — jum „Odol“! — 


rem Vorlſchrift vom Beh Rath Profeflor Dr. 


Reine Mitteilungen. — Anjeigen, 473 


Liebreich, befeitigt binner ines Set —— 


beſchwerden, Sodbrennen, Nahenverſchleimung bie Foigen von Unmaigkeit im Gfien 


und Trinfern, und ijt gang befonders Frauen und Madden gu empfehlen, die tnfolge — * —— und oͤhnliche 
Zuſtaͤnden cn nervodfer Magenſchwäche leiden. Preis +, Fl. JI M. Fl. 1.50 M. 


'Sthiering’s Grüne Apotheke, 19. 


Riederlagen in faft famtliden § 
lan verlange ausdridlid BMP Echering’s Pepvfin-Cifien;. 





Kleine Mitteilungen. 


Cine Musftellung des Ber: 
bandes filr hauswirtſchaftliche 
Frauenbildung wird zur Zeit des 
Internationalen Frauenkongreſſes 
in Berlin vom 14.—18. Juni im 
Peſtalozzi⸗ Fröbelhaus, Barbaroſſa⸗ 
ſtraße 740, ſtattfinden. Wir 
möchten nicht unterlaſſen, auch 
weitere Kreiſe auf die Ausſtellung 
des Verbandes aufmerkſam zu 
machen. Wir glauben, daß die 
Ausſtellung für alle diejenigen, 
welche im hauswirtſchaftlichen 
Unterricht ſtehen oder ſich für 
dieſe Frage intereſſieren, von 
großem Intereſſe ſein wird. Man 
wird verſuchen durch die Aus— 
ſtellung zur Darſtellung zu bringen, 
wie ſich der Unterricht durch 
Lehrbücher, Lehrmittel, Lernmittel 
geſtalten läßt, und werden die 
ausgelegten Lehrpline Aufſchluß 
geben über den Unterricht an 
Volksſchulen, an Schulen Er: 
wachſener, an Seminaren, für 
Wanderkurſe und Krankenlurſe. 

Die Beſichtigung der Aus— 
ſtellung ijt jedermann zugänglich. 





Originalrezept. — Kerbel 
und Spinat: 6 Perjonen. 
14, Stunden. Auf 3 PBfo. 


Spinat rechnet man 80 er. Kerbel, 
verlieſt beides und fodjt jedes fiir 
fi in Saljwaffer ab. Dann 
briidt man das Gemüſe aus und 
badt es fein. In ciner Kaſſerolle 
{Aft man 50 gr. Butter zergehen, 
gibt Rerbel und Spinat hinein 
und fiigt foviel von ciner Maggi: 
Bouillonlapſel bereitete Bruhe 
dazu, daß ein ebener Brei 
daraus entſteht. Nachdem das 
Gemuͤſe ordentlich durchgedämpft 
iſt, jcbmedt man eS ab, läßt es 
mit einem 


Apothefen und Drogenhandlungen. 
. 





| NSIS ISIN INININININNININE 


-Frauentrost 





darauf geftiubten | 


there Meochenzchule, Selekta, 


Vorbereitungsklasse fiir das Seminar, 


Lehrerinnen-Seminar mit cigener Ubungschule, 
Vorbereitung zur Erginzungspriifung. 


Turnkurse auch zur Ausbildung 
3 


von Turnlehrerinnen. 
SW., Dessauerstrasse 24 Frau Xlara fessling 
(nahe dem Anhalter, Potsdamer 


Vorsteherin. 
und Ringbahnhofe). 


Alfe Spracien, » » 
Privafunterrictt fiir Erwadiiene. 


Methode und Lehrgang ridten fid mad den jetvciligen Zielen des Schillers. 


a Angeſtrebt wird durdgebender Aufbau auf der Leftiire. (} 
Schriftliche Melbungen an 


Dr phil. Max Maurenbrecher. 
Sdoneberg-Berlin, Brunhildſtraße 8. 
Dr. Ritschers Wasserheilanstalt, fauterberg ¢ arz). 
Sanat, fir Nerven-, Frauen-, chr. net Krankheiten, Erholangs- 
bedirftige, erweitert und new eingerichtet. S.-R, Dr. Otto — 


GEcickchckc! 
| Damen-Penfionat. 


Gedanken far Manner | Snternationales Heim, Berlin SW., 
Madchen und Frauen Hallefcheftr. 17, 1, dict am Anbalter 


4. Abdruck. 1-9, Tansend | Babnboj, bietet Alteren u. jiing. Damen 


| file Cirgere und langere Seit einen an: 
— — | genehmen Aufenthalt in der Reichs⸗ 
Mk. 1.80 — 
leicht gebunden 


bauprftadt. Monatl. Penfionspreis bei 
geteiltem Simmer 60 WE, monatl bei 
in den Buchbandlungen eigenem Simmer v. 75 Wt an. Paffanten 
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BDelene Canye. 


Beye 


Cindriicke vom IJnfernationalen Prauenkongress. 


Son 


Gertrud Baumer. 


Raddrud verboten. 


er Tag nad dem Schluß de3 Frauenfongrefjed ijt vielleicht von allen am 

wenigiten geeiqnet, von den Cindriiden und der Bedeutung feiner Verbandlungen 
Rechenfchaft ju geben. CS ijt einem zu Mut, wie dem Mann in dem orientaliſchen 
Marden, den der Prophet in einem furjen Augenblick ein ganzes Leben durchträumen 
lief, um ibm feine Macht über Raum und Beit gu jeigen, beim Erwachen zu Mute 
jein mag. Auf und ab fteigen die Bilder und Erinnerungen. Der Zufall (apt died 
oder jenes einmal bell aufbligen, wie die Fliigel der Möve im Sonnenlicht auf: 
glänzen und verſchwinden; nod bat fic) nicht das Bedeutende aus dem im Augenblic 
Cindrudsvollen herausgeboben, und all den CErinnerungen gibt das Gefühl, dag 
nun pliglic alles ſtill ſteht, alleS woriiber ijt, feine cigentiimlide traumhafte 
Stimmung. 

Und bat nicht diefer Kongreß wie der Traum in der Parabel Zeit und Raum 
befiegt, weltumfpannende Vorgänge, Qabrhunderte umfajjende Entwidlungen in cin 
einziges Crlebnis jujammengedringt, jum Creignis weniger Tage gemadt? Alle 
Stadien unjerer Bewegung, alle Gebicte ihrer hiſtoriſchen Wirklichfeit, alle Nuancen 
ihres Wejens, alle Wünſche, die in iby ju Tendenjen und Strdmungen geworden find, 
baben wir nadjerleben können. Und in diejem Erleben bat uns eins vor allem wieder 
ecinmal mit befreiender Macht beriihbrt: der gemeinfame Geijt, der in der Frauen: 
bewegung der Welt das Lebenspringip ijt, der aus ibr eine Kulturerfdeinung von 
lebendiger, organijder Cinbeitlichfeit macht. 


* * 
* 


37 


578 Eindrücke vom Qnternationalen Frauenfongres. 


Um fo (ebendiger und wirflicher berührte diefer Geift, je mannigfaltiger und 
ſchärfer ausgeprägt ſich die Cigenart feiner Tragerinnen darftellte. Es wird den meiften 
der Teilnehmer fo gegangen fein, daß fie weniger durch das Zuftdndlide, von Dem 
berichtet wurde, — vielen ficher jum erftenmal — als durch die Perjinlicfeiten, Die 
fie fennen lernen durften, gefeffelt und bereidert wurden. Und weld) gedriingte Fille 
von Perfinlichfeiten fiihrten diefe Tage an uns voriiber, welche lange Reihe von 
ftarfen, aufrechten und befonderen Menfdjen! Und wie ſchnell entitand jene Atmoſphäre 
des gegenfeitigen Sicerfennens und Findens, die in wenigen Stunden fo fine Be— 
siehungen ſchuf. Die Menfden vor allem machen fiir uns alle die Erinnerung an Den 
Kongreß fo reid) und begliidend, ob wir nur iby Bild in uns aufnahmen, oder ob 
ſich bleibende Freundjdhaften knüpften. Die Menſchen geben auch den grofen Bildern 
und Cindriiden ibre bejondere Farbe und Prägung. 


Im Mittelpunkt all diejer Bilder ftebt die Vorfigende des Weltbundes, Lady 
Aberdeen; im Mittelpunkt, nicht einmal fo ſehr im äußeren Sinne, als weil ihre 
gütige und große Perſönlichkeit wie der Hausgeiſt in dieſer Atmoſphäre gemeinſamer 
Arbeit und freundſchaftlichen Austauſches erſchien. Sie ſchuf dieſe Atmoſphäre durch 
die Macht einer hohen und zugleich weitſchauenden Auffaſſung des Großen und Be— 
deutungsvollen in der Idee des Weltbundes und durch ein vornehmes Vertrauen auf 
die Reinheit des Wollens bei all ihren Mitarbeiterinnen. Dieſe ſo ſeltene Wärme des 
Glaubens an alles gute und reine Wollen, die durch eine klare politiſche Einſicht unbe— 
einträchtigt bleibt — ſie gab eine ſchöne und ermutigende Vorahnung deſſen, was ein— 
mal die Frau im öffentlichen Leben bedeuten könne. 


Und wieder andere Augenblicke, die in der Erinnerung an die verfloſſenen Tage 
auftauchen, zeigen die greiſe Geſtalt von Suſan B. Anthony, die in dem unbeirrten 
Enthuſiasmus für eine Sache, die ihr ganzes Leben erfüllte, uns ſteptiſchere und 
hiſtoriſch ſtärker gebundene Menſchen faſt beſchämt. Es iſt etwas Großes in der 
Naivetät dieſes Glaubens an ein Programm, und in der durch Alter und Lebens— 
erfahrung unerſchütterten Energie des Zeugniſſes dafür, eine ſo jugendfriſche Initiative, 
daß ſie die Wahrheit des Goethe-Wortes: „Was fruchtbar iſt allein iſt wahr“ in 
ihrem tiefſten Sinne zu verſtehen lehrt. Die greiſe Seniorin der Bewegung für das 
Frauenſtimmrecht, die von Anfang bis zu Ende auf ihrem Platz war, den Ver— 
handlungen mit nie ermüdender Ausdauer folgte und ſtets bereit war, in ihrer 
ſchlichten und wahrhaftigen Weiſe ihre Uberzeugung, ihre — man möchte faſt ſagen — 
Miſſion für das Frauenſtimmrecht zu vertreten, ſie gab ein ſtarkes und überwältigendes 
Zeugnis für die Macht der Ideen in der geſchichtlichen Entwicklung. In unſere 
kühlere Betrachtung politiſcher Bewegungen hinein ſtrahlte aus ihrer Perſönlichkeit etwas 
von „dem Geiſt der erſten Zeugen“, und alles ſchien wärmer und ſchöner und lebens— 
werter in dieſem Glanz. 


So ſind noch viele Geſtalten der Erinnerung gegenwärtig, Frauen, über denen 
der Schimmer einer neuen Zukunft liegt, und denen, ob alt oder jung, das Bewußtſein, 
eine Zeit des Aufſteigens und Werdens mitzuſchaffen, eine wundervolle, eigenartige 
Anmut und Kraft gab. Und zu den Lebenden und Gegenwärtigen geſellten ſich die 
Toten, deren Bilder von den Wänden der Wandelgänge draußen grüßten, ſtille 
Gefährten im Kreiſe der großen Schweſternſchaft, die jene Tage zur Arbeit ſammelten. 


* * 
* 


Gindriide vom Qnternationalen Frauenkongreß. 579 


Es fann nicht die Aufgabe einer Uberſchau fein, alle Cingelheiten de3 Programms 
nadeinander durchzugehen. Nur fofern fie fic) zu Gefamtbildern von fymptomatifder 
Bedeutung gruppieren, finden fie bier Platz. 

Und ein folches glingendes Gefamtbild war die Philharmonic felbjt mit dem 
Hine und Herivogen der Menfchenmenge, die fic in ibren Räumen drangte. Es ift 
etwas um die dufere Form, um den Rahmen, der einem Ereiqnis, wie der Frauenkongreß 
war, gegeben wird. Jeder wird empfunden haben, wie die wundervolle Musftattung 
all der Salons, Lefezinuner, Wandelginge, Erfriſchungsräume den Cindrud des Be: 
Deutenden und Inhaltreichen verſtärkte, wie ftimmungsvoll vor dem Gintritt in die 
qrofen Sale das Bild eines folchen Salons twar, two in all den verfchiedenen kunſt— 
voll arrangierten Plaudereden fid) die oft fo marfant ausgeprägten Vertreterinnen der 
verfcbiedenften Nationalitaten zu perſönlichem Austauſch zufammenfanden. Die Aus: 
ftattung des ganjen grofen Gebäudes jeigte in allen Einjelbeiten einen fo großzügigen, 
fic) der Gelegenbeit fo fein anpajjenden Stil, dag fie kaum iibertroffen werden könnte. 
Und dieſen großzügigen Stil zeigten auch die gefelligen Veranftaltungen. Wenn etwas 
bei dem Kongreß im volliten Mage gegliidt war, fo war e3 die Arbeit de3 Lofal: 
fommitees und feiner Leiterin Frau Hedwig Heyl. — 

Aber es hieße den Kongreß in ein falſches Licht feven, wollte man von den 
frohen Feften dabei eher fprechen als von der fauren Woche, 

Cine „ſaure Woche” ijt fie wahrlich gewefen, die Kongreßwoche. Cine ganje 
Fülle ernjter und gewifjenhafter geiftiger Arbeit hat fie der Offentlichfeit übergeben. 
Und überall — oder fajt überall, denn Dilettanten und Fanatifer find aus einer 
großen Bewegung nie reinlich auszuſcheiden — war das, was binter diefer Arbeit ftand, 
nod) wertvoller und grifer: eine Reife der Auffaſſung und der Anfehauungen, die das 
Beſte ijt, was fic die Frauenbewegung in ibver inneren Entwidlung errungen bat. 
Wenn etwas uns des ficheren Fortſchritts unferer Sache gewif macht, fo iſt es die 
Tatſache, daß auf diefem Kongreß, der dic Frauenbeweguig der Welt reprajentiert, 
fein vages Theoretijieren und fanatiſches Fordern, fondern faſt ausfeblieplich die 
tubige Anerkennung gegebener Verhältniſſe zu Tage trat, und der Wille, bei aller 
Klarheit fiber das Endziel den Gang der Bewegung diefen Verhialtniffen gewiſſenhaft 
anzupaſſen. 

Das gab der Arbeit in den vier Sektionen ihren Charakter. Sie konnte natur— 
gemäß den Beteiligten keine erſchöpfende Ausſprache, oder den Zuhörern keine aus— 
reichende Belehrung über die Gegenſtände der Tagesordnung geben. Dazu war der 
Stoff zu umfangreich, der Vorausſetzungen, die erſt zur Verſtändigung geſchaffen werden 
mußten, zu viele. Aber indem überall die Hauptprobleme wenigſtens aufgezeigt und 
die Möglichkeiten der Löſung wenigſtens ſtizziert wurden, hat der Kongreß doch auf 
jedem Gebiet eine weite und reiche Anregung geben können. Daß der Kongreß dieſe 
Aufgabe in ſo ausgezeichneter Weiſe löſen konnte, iſt vor allem das Verdienſt ſeiner 
Organiſatorin, der Vorſitzenden des Bundes Frau Marie Stritt. Organiſatoriſche 
Arbeit fällt um ſo weniger auf, je beſſer ſie geweſen iſt. Sie iſt deshalb ein 
undankbares Geſchäft. Aber wir, die wir manchmal hinter die Kuliſſen geſehen 
haben, wiſſen, was vorhergegangen, bis der Apparat ſo funktionierte, daß man ihn 
nicht mehr klappern hörte. Und deshalb können wir allein die Dankesſchuld ermeſſen, 
die der Vorſitzenden gebührt. 

* * 


37* 


580 Eindriide vom Qniernationalen Frauenfongres. 


Wenn die zweite und dritte Seftion fics mit den Leijtungen der Frau im Beruf 
und im fozialen Leben beſchäftigten und zugleich mit der vierten fie als Urbeiterin und 
Biirgerin erfapten, hatte die erſte die geiſtige Perfinlichfeit der Frau, die inneren Anjpeiiche, 
die fie als ſolche ftellt, jum Mittelpuntt. Denn unter diefem Gefichtspuntt ftanden die 
Berhandlungen iiber die verfchiedenen Fragen der Frauenbildung. Cie batten nicht 
nur die dugeren Einrichtungen und Methoden in Schule und Familie sum Gegenftand, 
jondern fie ftellten ihre Mufgabe in den grofen Rahmen de3 Ganjen, indem fie jie in 
dieſem Sinn verticften. Das gilt ſchon von dem erſten Tage, an dem von der Frau 
al? Mutter und Erzieberin die Rede war. Lady Aberdeen ftellte in cinem Vortrag, 
dev feine Gejichtapuntte aus den Crfabrungen eines weiten fozialen Wirkungsfreifes nabs, 
die Wirfung der Mutter durch das Haus auf das foziale Leben dar, und zeigte in Aus— 
führungen, die unjeren Yeferinnen an diefer Stelle auch im Wortlaut gebracht werden, 
wie das neve Element, das die gum Selbſtbewußtſein erwadte Perſönlichkeit der 
Frau in die Kulturwelt hineintragt, im geſellſchaftlichen Organismus neue Kräfte löſen, 
neue Wertformen fcbaffen wird. Bon einer anderen Seite erfafte Adele Gerhard 
das Problem von Frauenbildung und Mutterſchaft. Cie griffin die brennenden 
Erirterungen. binein, die wm das Problem der Mutterſchaft entfeſſelt find; fie ftellte 
mit feinem ſeeliſchen Verſtändnis und flarer ſoziologiſcher Einſicht neben dicfe fo 
{aut und gefpreizt fich betonende Pſeudo-Mütterlichkeit das Bild der Mutter, wie 
fie aus dem Ringen der Frauenbewegung bervorgegangen iit. Ihr hat freilich das 
Erwachen ihrer geiftigen Perfdnlicfeit mit ibrem grofen Fordern die Hingabe ded 
Mutterdafeins ſchwerer, fonfliftreicher gemacht; aber dag, was fie aus tieferem Erleben 
und an Leid und Glück reicherem Dafein gewonnen, wird fiir ihr Kind gu neuen 
unſchätzbaren lebensmächtigen Werten. — Die Bergeiftiqung des miitterlicen 
Wirkens, die wohl größere Konflifte, mebr Möglichkeiten zu feblen und ju irren, in dad 
Verhiltnis von Mutter und Kind hineintragt, aber die dod) die beiden eben dadurch 
foviel fejter aneinander bindet — das war dann aud Der Grundton bet den anderen 
Rednerinnen de3 Tages Mrs. Franklin von England, Mrs. Alder, Ber. St, 
Frau Henriette Goldſchmidt, Fraulein Dröſcher. Von ganz befonderem Intereſſe tit 
vielleicht fiir und Deutſche der Berit von Mrs. Franflin iiber die Parent’s National 
Educational Union, die den Swe bat, die Methoden und Pringipien häuslicher 
Erziehung unter den Eltern zu verbreiten, die Cltern felbjt zu gemeinjamer 
Beſchäftigung mit Erziehungsfragen ju fammeln. Iſt doch die Kinderjtube ein fo 
unendlich reiches Feld erziehlicher CErfabrung, das — dank der Unfabigkeit oder 
Ungeiibtheit der Mütter, ibre Crlebnijfe zu nugen und fiir andere zu verwerten — 
nod fo wenig fiir Pſychologie und Pädagogik ausgebeutet ijt, dak von bier aus 
nod) ein ganjer Frühling fiir unfere Erziehung ju erwarten ijt. Much darither wird 
„Die Frau” im Anſchluß an Mrs. Franklins Bericht, den fie zur Berfiigung geftellt 
hat, Näheres bringen. 

Der glänzendſte Tag der erjten Seftion war jiweifellos der den Univerfitdten ge: 
widmete. Es [ag an der ganz befonders vielfeitigen Befegung de3 Programms, die 
fiir Ddiefen Taq möglich gewefen war. Dank diefer Beſetzung, die vielleicht die 
fompetenteften Perſönlichkeiten aller Lander aufwies, fonnte die Frage der höheren 
Frauenbildung ſowohl nach ibrer ſoziologiſchen Seite, in Bezug auf Organifation und 
dufere Cinrichtungen, als auch nach ibrer Bedeutung für die Wiffenfchaft und fiir die 
geiſtige Kultur der Menſchen, erdrtert werden. Vorzüglich die erſte Seite der Frage bebandelte 


Eindrücke vom Anternationalen Frauenkongreß. 58] 


Miß Carey Thomas, die Prifidentin von Bryn Mawr College, ciner der vier großen 
Frauenuniverjititen der Bereinigten Staaten. Aus den reichen und in forgfaltigen 
Statijtiten befeſtigten Erfabrungen der Vereinigqten Staaten fonnte fie die wertvolle 
Tatſache fejtftellen, dah die Gejundbheit der ftudierenden Frauen durchſchnittlich beſſer 
ijt, als die ibrer nicht ftudierenden gleichaltrigen Gefechlechtagenoffinen. Verhältnis— 
mäßig groß ift die Heiratsfrequenz, und ebenſo ſorgfältige Unterſuchungen haben feft- 
geſtellt, daß die verheirateten ſtudierten Frauen als Mütter die normale phyſiſche 
Leiſtungsfahigkeit beſitzen. Ubrigens verdient es ganz beſondere Beachtung, daß die 
Leiterin einer Frauenuniverſität mit der denkbar größeſten Entſchiedenheit für das 
gemeinſame Studium eintrat, das jetzt ſchon für vier Fünftel aller amerikaniſchen 
Studentinnen eingeführt iſt. 

Die gemeinſame Erziehung der Geſchlechter — das war überhaupt eine Forderung, 
die durch die geſamten Verhandlungen der Sektion Frauenbildung hindurchging und 
an jedem Tage wieder auftauchte. Dr Maikki Friberg von Finnland behandelte 
fie an dem Volksſchultage prinzipiell aus der praktiſchen Erfahrung eines gan; 
,toedufativen” Schulſyſtems wie des finnländiſchen heraus, in friſcheſter und anziehendſter 
Weife. Sie kehrte wieder an dem Tage, der der höheren Mädchenſchule gewidmet 
war, und zwar ſowohl in dem Bericht über Stalien (Bice Cammeo), der fich lebbhaft 
gegen die Errichtung von Conderfurfen an den bisher gemeinfamen Gymnafien erklärte, 
alS in den Worten der öſterreichiſchen Rednerin Frau Hainifd. Bor allem aber 
brachte, wie gefagt, der Tag des Frauenftudiums die einmiitigite Kundgebung zu 
Gunjten des gemeinjamen Unterrichts. Befonderen Nachdrucd verlieh ihr Profeſſor 
Adolf Harnad, der fic als ehemaligen Freund und jegigen Gegner getrennter 
Univerfititen befannte. Er fiebt die Hauptgefabr einer folchen Trennung, die die 
Frauen auf der einen, die Manner auf der anderen Seite de3 grofen Stromes 
wandern Lift, darin, daß fics in Den weiblichen Univerfitdten die Einſeitigkeiten einer 
gewiſſen, durch das Geſchlecht beftinunten Maſſenpſychologie ebenfo entwickeln würden, 
wie das jetzt an den Univerſitäten männlicherſeits der Fall iſt. Aber die Bedingung 
gemeinſamen Unterrichts auf der Mittelſchule ijt, wie das von Seiten der däniſchen, 
norivegifden und finnländiſchen Rednerin hervorgeboben und von Profeffor Harnad 
befonders betont wurde, dak an den Gymnaſien neben den Lebrern Lebrerinnen 
unterricten. Sn Dänemark wie in Norwegen fteben deshalb die Lebrerinnen felbit 
der Ausdehnung der gemeinjamen Erjiebung im Gymnaſium mit geteilten Gefithlen 
qegeniiber, da fie vorliufiq nod die Madden dem weiblichen Cinflug in bobem 
Mae entziebt. 

Einen ganz cigenartigen Charafter erbielt die Dem Frauenftudium gewidmete 
Tagung durch die Beſprechung der Frage: Was bedeutet die VBeteiligung der Frauen 
fiir die Wifjenfehaft felbft? Die Antwort, die Frau Marianne Weber auf diefe 
Frage gab, wird unferen Leferinnen im Wortlaut vorgelegt werden. Die Haupt: 
qefichtspuntte, in denen iby fowobl Fraulein Dr jur. van Dorp (Golland) als Frau 
Dr Bleuler-Wafer (Schweiz) zuſtimmten, war die Anerfennung der Tatfache, dah 
die Frau auf wiſſenſchaftlichem Gebict eigentlich Schöpferiſches verſchwindend wenig 
qeleijtet babe. Man wird daraus mit einigem Recht ſchließen diirfen, daß auch ibre 
fiinftige Beteiliqgung an der Wiſſenſchaft weniger auf dem Gebiet des genialen Fort: 
{ebrittS liegen wird. Ihre jelbitindige und unerfebliche Bedeutung fiir die Forſchung 
berubt darin, dak fie neue Möglichkeiten des Verſtehens und neue Wertideen vor 


582 Gindriide vom Jnternationalen Frauenkongreß. 


allem in die Geiſteswiſſenſchaften hineinträgt und aud darin, daß fie unfere geiftigen 
Reichtiimer mehr, alS das bisher gefchehen ijt, fiir die Kultur der Perſönlichkeit 
verivertet. 

Darin liegt aber auch zugleich die fubjeftive Berechtiqung der Frau, fic 
ungebindert wiſſenſchaftlicher Urbeit hingugeben. Helene Lange bob in der Disfuffion 
bervor und Profeffor Harnad beftatigte es, daß man auch der Frau die Möglichkeit 
geben müſſe, um ibre Weltanfchauung wirklid) gu kämpfen. Sie muh die Halbbildung 
und die Unwahrhaftigkeit des geiftigen Lebens, dic aus dem urteilslofen Radfprechen 
entſteht, überwinden können. Und man darf ihr, wie Profeffor Harnad fic ausdrückte, 
den inneren Gewinn jener intelleftucllen Wiedergeburt nicht verfebliefen, in der uns 
die Welt immer wieder neu wird. 

Es ift nicht miglich, im Rahmen diefer furzen Nberfchau aller Anregungen zu gedenFen, 
die in Referaten und Disfuffionen die erjte Seftion brachte, der intereffanten Darſtellung 
deS finnländiſchen Mittelſchulweſens durch Frau Ilmi Hallftén, des Berichts der 
temperamentvollen Leiterin ded Wiener Mädchengymnaſiums Frau Dr phil. Eugenie 
Schwarzwald, deren Ausführungen in jedem Wort verrieten, daß fie mit ganzer Seele 
in ihrer Arbeit ftedte, der Ausfithrungen von Mrs. Fawcett iiber die Stellung der 
Frauen in der engliſchen Schulverwaltung, des fer ovrientierenden Berichtes von 
Mrs. Sewall über das Turnen in den Mädchenſchulen der Vereinigten Staaten 
uſw. uſw. und last not least all der tüchtigen Beiträge unferer deutſchen Rednerinnen. 
Yedenfalls haben diefe Verhandlungen, denen täglich Vertreter der Unterrichtsbehörde 
beiwobnten, ibren Zweck nit verfehlt: die Geſichtspunkte der Frauenbewegung fiir 
die Geftaltung unſeres Mädchenſchulweſens in weiteſte Kreije yu tragen und zugleich 
von dem Gewicht und der Bedeutung der Frauenbewegung einen Cindrud zu geben, 
der dieſen Gefichtspuntten Beachtung fichern mug. : 

* * 
* 

Denfelben Erfolg batten die anderen Seftionen. [ber die zweite und dritte 
wird gefondert berichtet werden. In der vierten Seftion, welche die rechtliche 
Stellung der Frau in dev Familie, im Beruf. und als Biirgerin yu beſprechen hatte, 
hanbdelte es fid) naturgemif mebr um Forderungen alS um Zuftinde. Es ijt be- 
zeichnend, daß die Frauen da, wo fie ſchon cinen Einfluß auf die Geſetzgebung erlangt 
haben, wie in den auſtraliſchen Rolonien, ibren Cinflug ju Gunſten des Kindes ein— 
qefest haben. Die Lage des unebeliden Kindes, fein Verhaltnis zur Mutter, das in 
den meiften Staaten noch ein beſchämendes Zeugnis fiir die ganz verfcbiedene Be- 
wertung eines Febltrittes bei Mann und Frau darftellt, das ift der Anhalt geſetzlicher 
Reformen gewejen, die bie Frauen angeftrebt haben. Befonders intereffant waren 
dic Verhandlungen fiber Gebiete, auf denen man im Ausland ſchon Erfabrungen ge: 
fammelt bat, während wir nods erjt im Stadium des Forderns und Wrqumentierens 
find: iiber das Wabhlrecht der Frau in Gemeinde und Staat. 

Leider wurden hier in die fachlicen Erörterungen parteipolitifde Debatten ge: 
tragen, fiir die als ganz intern deutiche Ungelegenbeiten das Forum eines internatio- 
nalen Rongreffes faum der geeignete Ort war. Daß die hundertmal widerlegte Mar, 
der Bund habe bei feiner Griindung die Arbeiterinnen zurückgewieſen, bei dieſer Ge- 
legenbeit wieder aufgetiſcht wurde, verrät nicht nur cinen bedauerliden Mangel an 


Eindrücke vom Anternationalen Frauenkongreß. 583 


Gewwiffenbaftigfeit, fondern auch cin Verjagen des Taltgefiibls, das fajt nod be- 
dauerlicher ift. 

In der letzten Sigung der Seftion fam es zu heftigen prinjipiellen Erörterungen 
fiber das Verhältnis dev Franenbewegung zu den politifchen Parteien. Die Frage 
war in einer allgemeinen Verjammlung, fiir die Diskuſſion ausgeſchloſſen war, durch 
Sta Freudenberg bebhandelt worden. Sie hatte mit der ſchönen Objeftivitat, 
die ebenfo febr eine Sache ded wiffenfcbaftlichen Urteils als des feinen Geredtigteits- 
gefühls ijt, die Bedeutung der Parteien fiir die Frauenbewegung, ibre Stellung zur 
Frauenbewegung gefennjzeichnet. Fir die Frauenbewegqung ergab fich ihr aud der politiſchen 
Konjtellation die Forderung, fic prinjipiell unabbangig zu erhalten und nicht anders 
als gelegentlic) fiir einzelne praftifche Zwecke Anſchluß an fie gu ſuchen. Die Debatte 
liber diefe Frage wurde am nächſten Tage in der Stimmrechtsſitzung aufgenommen. 
Lily Braun betonte, wie zu ertwarten war, den Standpunkt der fozialdemofratifden 
Frauen, die feine allgemeine über den Parteien ftehende Frauenbewegung anerfernen, 
weil fie, ihrer Geſchichtsauffaſſung und Wirtſchaftstheorie entiprechend, die Erfolge der 
Frauenbewegung nur von der VBefeitiqung des RKlajfjenftaates, d. h. von dem Sieg 
der Sozialdemokratie, erwarten. Dor fchiene es groper, wie die Frauen der Sozial— 
demofratie, fiir die „Menſchheit“ gu arbeiten, als ausſchließlich fiir die Intereſſen 
der Frauen. Ihr trat Mrs. Chapman Catt, die Vorfigende des amerikaniſchen 
Frauenſtimmrechtsbundes, mit grofer Entſchiedenheit entgegen. Cie ijt der Anficht, dah 
die Befreiung der Frauen nur durch die Frauen felbjt und nicht im Rahmen einer in 
erfter Linie anderen Zielen zuſtrebenden Partei volljogen werden fonne. Helene Lange 
wies darauf bin, dab im Augenblid die Frauen der Menſchheit nicht beſſer 
dienen fonnten, alS wenn fie in voller Cinigfeit und obne Parteigesin’ daran 
arbeiteten, den Frauen den notwendigen Cinfluf in der Kulturwelt yu erringen. Durch 
den Grafen Hoensbroed, der feinerjeits aud Lily Braun ſcharf entgegentrat, war 
die Debatte noc anf eine andere Frage zugeſpitzt worden, die in den Tagen von 
allen Teilnehmern des Rongrefjes viel befprocen wurde. Es wurde von manden 
Seiten und von ibm felbjt die Anficht vertreten, dah die Frauen angefichts der Stellung 
der Regierung zum Wablredit der Handlungsgehilfinnen die Cinladung der Grafinnen 
Biilow und Pofadowsfy ju einem Empfang demonftrativ batten ablehnen follen. Ika 
Freudenberg wies als Vorfigende Den in diefer Kritif enthaltenen Vorwurf der Gee 
finmingslofigfcit damit zurück, daß politiſche Gegenſätze und der Austauſch geſellſchaft— 
licher Formen zwei ganz getrennte Gebiete ſeien, und daß eine Ablehnung der ge— 
botenen Gaſtfreundſchaft einfach einen Mangel an Takt und richtiger Einſchätzung 
dieſes freundlichen Entgegenkommens bedeutet hatte. Reine von den beim Empfange 
anweſenden Frauen hätte ihre Anſchauungen irgendwie verleugnet. Helene Lange 
bemerfte zu der Frage, dah es durchaus im Intereſſe der Frauen läge, jede Gelegenheit 
zu einer Verſtändigung mit offiziellen Perſönlichkeiten auf dem neutralen Gebiet des 
geſelligen Zuſammenkommens zu benutzen. Bei all unſeren Gegnern handle es ſich 
weit weniger um direkte Feindſeligkeit gegen die Frauen als um den Einfluß alter 
Vorurteile und Mangel an Kenntnis der Frauenbewegung, und ſie würde es für eine 
Kleinlichkeit halten, wenn man nicht jede Gelegenheit benutzen wolle, ſolche Vorurteile 
beſeitigen zu helfen. 


584 Eindrücke vom Internationalen Frauenkongreß. 


Sicher gehört dieſe im Palais des Reichskanzlers und des Grafen Poſadowsky 
dargebotene Gaſtlichkeit ebenſo zu den Erfolgen des Kongreſſes, wie der Empfang des 
Vorſtandes bei der Kaiſerin und die glänzende Feſttafel der Stadt Berlin im Rat— 
hauſe. Drücken dieſe Empfänge auch ſelbſtverſtändlich keineswegs eine Zuſtimmung zu 
dem ganzen Programm des Kongreſſes aus, ſo erkennen ſie doch die Frauenbewegung 
als eine im Prinzip berechtigte Außerung des Volkslebens an — und damit iſt unendlich 
viel gewonnen. Natürlich gilt dad ganz beſonders von dem Empfang bei der Kaiſerin, 
an dem Vertreterinnen ſämtlicher Nationalverbande und einige Mitglieder des Lokal— 
komitees teilnabmen. Die Raijerin ging im Gefprach mit allen Teilnebmerinnen auf 
das liebenswürdigſte auf ibre Intereſſen und ibre Arbeit cin und jeigte befonder3s auch 
der alten Sufjan B. Anthony das herglichjte Cntgegen~ommen. — Die Fefttafel im 
Rathaus, bet der der Oberbiirgermeifter mit Woblwollen und Anerfennung, der greiſe 
Stadtverordnetenvorfteber Langerhans mit ordentlich feuriger Zujtimmung die Arbeit 
des Kongreſſes beglückwünſchte, gab dieſem gefelligen Teil deS Kongreſſes einen 
glänzenden Abſchluß. 


* * 
* 


Die Verhandlungen ſchloſſen am Nachmittag des 18. Juni mit der letzten allge— 
meinen Verſammlung, in der die geiſtreiche Verfaſſerin des Buches Women and 
Economics, Mrs. Perkins-Gilman, und Helene Lange ſprachen. Der große Saal der 
Philbarmonie war von einer nach Taujenden zählenden Zuhörerſchaft bis auf den 
legten Platz gefüllt; auch dev Oberlichtfaal, der noch geöffnet wurde, fiillte fic, fo dak 
die Rednerinnen des Tages zweimal bhintereinander ju fpreden batten, und draufen 
wogte, nachdem die Philharmonie polizeilich gefehlofien worden war, nod eine fic 
Drangende Menge auf den Gangen und Strafen. Und angeſichts diefer Menge, die der 
Rongref im Laufe feiner Tagung mobil gemadt, fiir unjere Sache zu begeijtern ge— 
wußt batte, durfte man ſich jagen, daß die Arbeit diefer Tage nicht vergeblich geweſen 
fei. Sie hat die deutſche Frauenbewegung obne Zweifel dem „Endziel“, dem der Vor: 
trag von Helene Lange galt, einen weiten Schritt näher geführt. Es ift — um mit 
ihren eigenen Worten zu ſprechen — eine Zufunft, in der es auf allen Gebieten 
fosialen und fulturellen Lebens fein fiibrendes Geſchlecht mebr gibt, fondern nur 
nod) führende Perfinlidfeiten.” 


(Gin zweiter Artifel folgt.) 





Ansprache von hady Aberdeen bei Ser Briedenskundgebung 
des Prauenweltbundes. 


Am 10, Suni veranftaltete der Frauenivelthund cine grofe Friedenskundgebung, in 
der BVertreterinnen aller Nationen Anfpracen bielten. Wir geben die Rede von Lady Wberdeen 
bier wieder. 


ad) den beredten Anfprachen, die wir gebirt haben, febeint es überflüſſig, nod 
/ weitere Erirterungen gu Gunften jenes Reichs des Friedens hinzuzufügen, deffen 
(av Aufrichtung wir bitten nods erleben gu diirfen. 

Baronin von Suttner, Madame Bogelot und ich, und alle die andern Frauen, 
die unS heute Abend noch folgen werden, wir find uns bewußt, dah wir Nationen 
vertreten, die in der Vergangenheit Kriege geführt haben, die in der Gegenwart jum 
Kriege gewappnet fteben, obgleich wir, Gott fei Dank, heute nocd in Frieden mit: 
einander Leben. 

Uber wir fprechen heute Abend nicht im Namen diefer oder jener Nation, wir 
fommen zu Shnen als Mitglieder einer großen wachſenden Schweſternſchaft, die das 
hohe und beilige Geliibde verbinbdet, fiir die Sache des allgemeinen Friedens im 
Namen der Menfeblicfeit zu arbeiten. Wir vergeffen nicht, wir können nicht vergefjen, 
daß der Cinflug der Frauen in allen Landern Leider oft zur Veranlajfjung und Fort: 
febung von Kriegen beigetragen bat. Diefe Crinnerung aber dämpft unfere VBegeifterung 
nicht; fie entflammt nur um fo mebr in uns den Wunſch, unfern International Council 
zum Mittel einer Propaganda zu machen, die alle Frauen anwerben foll, als Apojtel des 
Friedens im Bereich ihres Cinfluffes zu wirken. 

Laſſen Sie uns das nicht als eine leichte Aufgabe anſehen. Wir müſſen gegen 
die Sitte und die Vorurteile von Jahrhunderten ankämpfen. Wir müſſen viele Ideale 
der Kinderſtube ſtürzen, die klirrende Schwerter und aufgezäumte Roſſe als die not— 
wendigen Begleiterſcheinungen des Heldentums hinſtellen. 

Aber gerade in der Kinderſtube müſſen wir mit unſerer Miſſion beginnen, wenn 
ſie Erfolg haben ſoll; und ich glaube, eine der wirkſamſten Methoden wäre, alle 
Mütter zu veranlaſſen, daß ſie Heldengeſchichten ſammeln, die nicht mit dem Krieg zu— 
ſammenhängen, und durch dieſe Geſchichten ihre Kinder daran gewöhnen, den Begriff 
des Heroismus mehr mit der Erhaltung als mit der Vernichtung des Lebens zu ver— 
binden, Geſchichten, die den moraliſchen Mut, der das Rechte zu tun wagt trotz 
Widerſtand und Spott, über den phyſiſchen Mut ſtellen, der alles nur um des perſön— 
lichen ober nationalen Ruhmes willen wagt. Solche Geſchichten kann man bei den 
Menſchen aller Klaſſen des bürgerlichen Lebens finden, bei Bergleuten und Arbeitern, 
Eiſenbahnleuten, Matroſen, Lehrern, Lehrerinnen und Pflegerinnen, und wir lernen be— 
ſtändig in unſerem täglichen Leben Beiſpiele davon kennen. 


586 Anfprace von Lady Aberdeen bei ber Friedensfunbgebung bes Fraueniveltbundes, 


Ich möchte unferem Friedensfomitee vorfdlagen, in jedem Lande cine Liſte von 
Biichern aufzuftellen, die folche Anſichten einprägen können, und alle Geſchichten wahren 
Heldentums ju ſammeln. Dies mag als etwas fehr Geringfiigiges erſcheinen, aber 
id) glaube, daß es von grifter Wichtigheit ijt. Auch Bilder folcher Taten follte man 
in Kinderftuben und Schulen aufhingen, um fo auf doppelte Weife die heranwadhfende 
Generation gu beeinfluffen. Wir follten auc im Unterricht viel mebr als üblich bei 
den Seiten des Krieges veriveilen, die das Haus, die Frauen und Kinder berühren. 

Gin Land, bas erft kürzlich Kriegszeiten durchlebt hat, meine Damen und 
Herren, braucht nicht an die vielen dunfel und traurig gewordenen Heimftitten erinnert 
zu twerden, die der Krieg zurückläßt, ſowohl im eigenen Lande als in dem de3 Feindes; 
man braucht ibm nicht zu fagen, dah Krieg Kriegsſteuern bedeutet, daß er cine Preis- 
fteigerung aller Lebensbedürfniſſe nach ſich zieht, und dah auferdem die Triumphe phyſiſcher 
Kraft immer cine Erniedrigung der Lage der Frau bedeuten. Er bedeutet alles Dies 
und nod viel mehr, — er bedeutet auch, daß Söhne, Briider, Gatten auf Dem 
Schlachtfelde jenen Qualen ausgefest find, die uns Baronin von Suttner mur ju lebhaft 
in ihren Büchern befebrieben bat. 

Die meiften von uns find in dem Gedanfen aufgewadfen, daß diefer Zujtand der 
Dinge niemals geändert werden fann — dah wir gebalten werden von der cifernen 
Fauft eines Schidjals, dem wir nicht entrinnen finnen, und dak die Nationen 
immer weiter jene Millionen zur Erhaltung der Heere und Flotten bejablen müſſen, 
die fo gut zu andern Sweden verivendet werden finnten, wie alle Sozialreformer wiſſen. 

Aber warum diejer Peffimismus? Wir wollen nicht vergefjen, daß Fortſchritte 
gemacht werden, daß das Haager Schiedsgericht befteht, dak während de letzten Jahr— 
hunderts zweihundert Streitigfeiten zwiſchen Rationen durch Sebiedsgericht beigelegt 
worden find, und daß hundert von dieſen Fallen den letzten Jahrzehnten angebdren. 
Erinnern Sie fic) auch jenes Vertrags gegenfeitiger Entwaffnung zwiſchen Chili und 
Peru, der tatſächliche Entwaffnung bhedeutet, cin Vertrag, der jene Staaten veran- 
[aft bat, ibre Kriegsſchiffe zu verfaufen, und anjtatt der Feftungen an ibrer Grenze 
das Bild unferes Herrn Jeſus Chriſtus zu errichten. 

Matthew Arnold erzählt in einer Fabel, dak Gott dem Menſchen, als er ibn 
auf die Erde fandte, cine Handvoll Buchftaben gab und ibm befabhl, fie yu cinem 
Worte zuſammenzuſetzen, das die Beftimmung der Welt bezeichnete. Der Menfch bat 
fie viele Male jzufammengefest und den Namen eines Weltreichs nad dem anderen 
beraushuchftabiert, aber noch keines dieſer Worte bat jene vollfommene Ordnung 
bexeichnet, bon der wir träumen. 

Hovffentlid wird es den Frauen wverftattet fein, den Männern zu belfen, aus 
jenen Buchftaben ein Wort zuſammenzuſtellen, das fold) ein Verſtändnis zwiſchen 
allen Vöolkern augdriidt, dad einen freien Bund von Nationen febafft, der endlich die 
Reit deS Fricden3 und Wohlwollens unter den Menſchen berbeifiibren wird, auf die 
die Welt ſchon fo Lange gewartet hat. 


aE 


587 


Von Prauen und aber Ppauen. 


AA See ee 


Ichildert man uns die Tugenden eines Mannes, fo zeigt man ihn im Ringen, in 
SY der Tat. Aber die, welde man an einem Weibe bewundert, geben immer von 
8 einem unbeweglichen Vorbild aus, von einer ſchönen Marmorſtatue in einem Muſeum. 
Gs ijt cin inbaltlofes Bild, ans ſchlafenden Laftern, trägen Leidenfchaften, ſchlummernden 
Huhmestiteln, paffiven Bewegungen und negativen Kräften getwoben. C8 ift keuſch, 
weil es feine Cinne bat, gut, weil es feinem Menſchen Schaden tut, geredt, weil es 
nicht bandelt, geduldig und ergeben, weil es jeglicher Tatkraft enthebrt, duldfam, weil 
feiner es beleidigt, und verſöhnlich, weil es nicht die Rraft bat, zu widerfteben, mit— 
leidig, weil es fid) ausplündern [apt und tweil fein Mitleid ibm nichts nimmt, treu 
und aufridtig, demütig und ergeben, weil alle dieſe Tugenden im Leeren (eben und 
auf einer Leiche blühen können. Dod) was wird daraus, wenn das Bild Leben 
befommt und fein Mufeum verlagt, wenn es ins Leben tritt, in dem alles, twas nicht 
teilnimmt an der ringsum flutenden Bewegung, jum kläglichen oder gefährlichen 
berrenlofen Gute wird? Dit es auch eine Tugend, einer ſchlechtgewählten oder moraliſch 
erloſchenen Liebe die Treue zu balten, einem beſchränkten oder ungerechten Herrn 
ergeben 3u bleiben? Iſt unſchädlich fein ſchon gut fein und Nichtlügen ſchon auf— 
ridtig fein? — €8 gibt eine Moral fiir die Leute am Ufer dev grofen Stréme, und 
eine Moral fiir die, welche ftromauf fabren. Es gibt eine Moral des Sdhlafes und 
der Tat, cine Moral des Schattens und des Lichtes, und die Tugenden der erfteren, 
die fosufagen Gobltugenden find, müſſen fic) erbeben, fic) ausiweiten und Volltugenden 
werden, um der zweiten Moral anzugehören. Stoff und Linien bleiben vielleicht die 
qleichen, aber die Werte find von duperftem Gegenfag. Geduld, Sanftmut, Ergebenbeit, 
Vertrauen, Entſagung und Verjichtleiftung, Hingabe und Aufopferung, Lauter Früchte 
der untatigen Tugend, find, fobald man jie in das raube Leben hinausbringt, nicdts 
als Schwäche, Unterwürfigkeit, Sorgloſigkeit, Unbewußtheit, Tragheit, Selbjtvernad: 
läſſigung, Dummheit oder Feigheit. Um die Quelle des Guten, der ſie entſtrömen, 
auf der nötigen Höhe zu halten, müſſen ſie erſt imſtande ſein, ſich in Tatkraft, 
Feſtigkeit, Beharrlichkeit, Klugheit, Widerſtandskraft, Unwillen und Empörung um— 
zuſetzen. — — — So iſt die Frau, von der ich rede, um ſo hingebungs- und auf— 
opferungsfähiger, weil fie die Kraft hat, dem demütigenden Zwange dieſer Handlungs— 
weiſe länger als jede andere zu widerſtehen. Sie zieht nicht Leid und Trübſal im 
Leeren groß als Sühn- und Läuterungsmittel, aber fie weiß Leid und Trübſal zu 
tragen und mit kindlicher Leidenſchaftlichkeit zu ſuchen, ſobald es gilt, ihren Lieben 
eine kleine Trübſal oder einen großen Schmerz zu erſparen, dem ſie ſich allein gewachſen 
fühlt und den ſie ſtill im geheimſten Herzen beſiegt. Wie oft ſah ich ſie Tränen über 
ungerechte Vorwürfe unterdrücken, während ihre Lippen, auf denen ein fieberhaftes 
Lächeln ſpielte, mit faſt unſichtbarem Mut das Wort verſchwiegen, durch das ſie ſich 
hätte rechtfertigen können, aber das den, der ſie ſo verkannte, gedemütigt hätte. Denn 





588 Stephan Wacholdt +. 


wie alle geredjten und guten Menſchen hatte fie natürlich unter den kleinen Ungerechtig- 
Feiten und Bosbheiten derer zu leiden, die unficher zwiſchen Gut und Böſe ſchwanken 
und nur zu leicht die oft erlangte Verzeihung und Nachſicht mißbrauchen. Und died 
beweijt bejjer als alles träge und weinerliche Zuſtimmen einen gliibenden, mächtigen 
Vorrat an Liebe. 
(Aus Maurice Maeferlink: „Der doppelte Garten”. 
Verlag von Cugen Diederids, Jena.) 


Stephan Waetzoldt 7. 


Bon 
Helene Tange. 


Nachdrud verdoten. 


{8 vor wenig Jahren Profeffor Dr Stephan Waetzoldt als Dexernent fiir das 

höhere Mädchenſchulweſen in das preußiſche Rultusminijterium berufen wurde, da 
ging es wie ein Wufatmen durch die Reiben all derer, die cine wirkliche höhere 
Frauenbilbung wünſchten. Jahrzehntelang war die Hihere Mädchenſchule das Stief— 
find der Unterridtaverwaltung getvefen. Schwerer nod als die Zurückſetzung im 
Etat lag die Herrjdaft eines Pringips fiber ibr, das die Frauenbilbung in die engften 
Schranken fejjelte. Die Mitarbeit der Lebrerin war auf der Oberftufe nur geduldet 
oder doch höchſtens als „wünſchenswert“ anerfannt, und iwenn die ſchließlich unter 
dem Drud der Hffentliden Meinung durdgefeste höhere Wertung auch in den Be- 
ftimmuingen von 1894 zu leſen ftand, jo feblte doch jeder kräftige Einſatz feitend der 
Regierung, den Worten die Tat folgen gu laſſen. Und die nach ſchweren Kampen 
endlich erjtrittene Oberlebrerinnenbildung wurde als cine bedauerlice Ronjeffion be- 
trachtet, die den jungen Lebrerinnen die „ſittlichen Gefabren” der Vielwiſſerei und 
des geiftigen Hochmuts zu bringen drobte. Keine von all den friſchen Lebens- 
ftrimungen, die lange ſchon im Lebrerinnenftand puljierten, konnte fich frei und 
glücklich entfalten. Den neuen Dezernenten grüßten alle unfere ſchönſten und fo lange 
gebegten Hoffmungen und Wünſche. Wir fonnten ihn als cinen Mann, deſſen freie 
und weite Lebensanfdauung, deſſen feine geijtige Kultur alle Engherzigkeit und Halb— 
heit ausſchloß, und deſſen warmes Intereſſe ſchon feit Jabren der Mädchenſchule und 
den Lehrerinnen gehörte. 

Und in der Tat zeigte gleich die erſte Oberlehrerinnenprüfung, daß ein neuer 
Geiſt wehte, daß eine neue kräftige Initiative für die Sache der Frauenbildung eingeſetzt 
hatte. Er ſelbſt hat es oft geſagt: „Wir wollen nur erſt einmal unſern Lehrerinnen 
die Tore weit aufmachen, damit ſie einmal wiſſen, was wiſſenſchaftliche Arbeit und 
was geiſtiges Genießen iſt“ — für ihn gab es keine „weibliche Wiſſenſchaft“, weil 
ſeine ſouveräne geiſtige Perſönlichkeit alle Halbbildung abwies. Und er glaubte an 
die Fähigkeit der Frau, den uneingeſchränkten Anſprüchen wirklicher Wiſſenſchaft zu ge— 


— 


Stephan Waegoldt +. 589 


niigen. Diefer Glaube hat den Lebrerinnen die Bahn frei gemacht, bat fiir fie Hinder: 
nijje überwunden, die ibnen nod Lange den Weg verftellt batten. Diefer Glaube hat 
aud in die ganze Mädchenſchulfrage den Geift bineingetragen, in dem allein wirkliche 
Fortſchritte gemacht werden fonnten, 

Von zwiefacher Seite erfafte ev die Reform der höheren Mädchenbildung, von 
der Seite des Lehrkörpers und der Plane. Die Verjtirfung des weiblicden Einfluſſes 
in der Schule war ein Hauptpuntt feines Programmes. Unermüdlich bat er feinen Ein— 
fluß dafür eingeſetzt, und  offisielle Huperungen ju Gunjten der Lebrerinnen haben 
während feiner Amtsdauer unjere Sache in weiteften Kreifen gefördert. — 

Stephan Whegoldt ijt es vor allem ju danfen, wenn die Frage der Mädchen— 
jbulreform in Preußen in den legten Jahren in Flup gefommen ijt. Es ift die 
Arbeit, an die er feine Lebensfraft im eigentlichften CSinne des Wortes gefest bat. 
Seit zwei Jahren und Langer tft im Dezernat fiir das Mädchenſchulweſen die Arbeit 
an den neuen Plänen fiir die höhere Madchenfdule in Angriff genommen. Welche 
Hindernifje es dabei gu iiberwinden gab, fonnen wit nur abnen. Die Richtung, in 
der jich die Reform bewegen follte, wurde ſchon vor zwei Jahren vom Rultusminijter 
angedeutet. Wir durften danach erwarten, daß wirklich modernen Anforderungen 
Rechnung getragen werden würde. Wenn da8 nit in nod weiterem Mage in 
Ausſicht gejtellt wurde, jo war das nicht Waetzoldts Schuld. Wir wifjen, dah er fo 
weit ging, wie eS die Verhaltniffe irgend gejtatteten. 

Nod) find die Pline nicht verdffentlict, und wer will e3 den Lehrerinnen ver- 
denfen, wenn fie nicht fo unbedingt auf eine Erfiillung fo ungewohnt ſchöner Ausſichten 
und Hoffrungen vertrauen! Wie es aber aud fonunen mag, was Waegoldt als feine 
Lebensarbeit betractete, wird nicht verloren geben. Er bat den Lebrerinnen, die jelbjt 
feinen griferen Wunſch fannten, als an einem höheren Siel gemefjen yu werden, died 
Riel geftedt; er hat ihnen die Krafte gelöſt, ihnen ohne jede Galanterie ihre Schwächen 
gezeigt, aber als ehrlicher und vorurteilslofer Mann aud) rückhaltlos anerfannt, dah 
fiir Die Reform der Mädchenſchule die wijfenfchaftlich gebildete Lebrerin ein erjter 
Faltor fei. Er bat das ſchon yu einer Seit ausgejproden, wo es ibm dads ſchwer— 
wiegende Mipvergniigen der Negierung eintrug; er bat dicfe Mberjeugung mit der Tat 
vertreten, fobald ibm die Macht dazu geworden war. Und fo hat Stephan Waegoldt | 
einen Beitrag zur deutſchen Kulturgeſchichte geleiftet, der feinem Namen Dauer ver: 
leihen wird. 

Was er fonjt noch geleiftet bat als feinjinniger Schulmann, wie er die Seele 
des Kindes ldfen wollte vom dumpfen Drud der engen Klajjenmauern, dad deuten die 
wabrhaft genialen Worte an, die er auf Dem Kunſterziehungstage ju Weimar fprad. 
Und wenn man daran denft, was er, der erft auf der Höhe de3 Lebens ftand, nod 
hatte leiſten finnen, wenn nicht raftlofe Arbeit feinen Körper vor der Zeit verjebrt 
bitte, fo fann einen dod) nur kaum der Gedanfe berubigen, daß in diefer 
Selbjftaufopferung fiir hohe Ziele das edeljte Glück geqeben ijt, und fiir uns -iibrigen 
das edelite Vorbild. 


eye 


190 


Vas Plorentiner Bildnis. 


Zon 


W. Fred. 


Raddcud verboten. 





yin feines und fluged Buch, das der Kunſthiſtoriker Gmil Schaeffer im Brad: 
j) mannfden Verlag in Miinchen vor kurzer Zeit herausgegeben bat, gibt einen 
Cee fcinen Anlaß, um ſich über das Weſen der VBildnisfunjt cine halbe Stunde 
zu unterbalten. Qe mehr die Erwartungen, die cin Menfds einem Werke der Kunſt 
entgegenbringt, fid) vergrößern und verdfteln, defto näher ſcheint die Kunſt des Portrat- 
malers auch dem Herzen des Runjtfreundes yu rücken. Das klingt zuerſt febr fonderbar, 
denn Bie Möglichkeit, von dem befonderen Fall ins Allgemeine Seblitije yu ziehen und 
ein grofes Weltgefiibl zu gewinnen, ſcheint ja weit eber bei cinem Stoffe gegeben, der 
allen zugänglich ijt und eine grofe Reibe von Affoziationen twedt, als bei einem 
folcben, der nur einen bejtimmten Kreis von Perſonen urfpriinglich interefjicren fonnte, 
nämlich die, die den Dargeftellten entweder von Angeſicht zu Angefiddt fennen oder aus 
feinem Lebenswerk cine Vorftellung von ibm haben und diefe nun an den Zügen des 
Kunſtwerkes vergleiden und priifen wollen. Colche Meinung nun, die die Bildniskunſt 
in enge Grenjen weifen möchte, ijt in verfchiedenen Cpoden, je nad dem Publikums— 
geſchmack, dem Runjtgefiibl, in der Tat wirkſam getwefen, und erſt unferer Beit, die 
immer mebr Freude an der Erfenntnis fulturbijtorifeher Zuſammenhänge und Einzelheiten 
aufbringt, ift es vorbehalten geiefen, ſowohl eine große und nenartige Bildnistunjt zu 
ſchaffen wie zu erleben, als aud) den Bildnijjen vergangener Jabrhunderte eine rege 
und in die Tiefen gebende WAufmerffamfeit zuzuwenden und in den Galerien alter 
Porträts eine unendliche Quelle von Anregung und Belehrung, Aufſchlüſſen über 
fonderbare Menſchen und fiber die Adeale verfloffener Zeiten gu finden. 

In ſolchen Abſichten ift aud) das neue Buch von Schaeffer über da3 Florentiner 
Bildnis yu einer reifen Darjtellung von großem kulturhiſtoriſchen Werte gediehen. 
Die Stilkritik freut diefen modernen Kunjthiftorifer gar nicht, und feine ftarfe Gelebrtheit, 
die ſich aufs befte mit einer grofen Fähigkeit, fic) ausjudriiden und eine Zeitſtimmung 
zu geben, verbindet, bat ibren Brennpuntt nicht in Bilderbeftinumingen, fondern in dem 
Intereſſe an dem Leben und dem Gefühl entfernter Zeiten. Die Kunſtgeſchichte wird 
ihm ein flangreiches Inſtrument, auf dem er bald in ernjten, bald in beiteren, manchmal 
auch in ſchwermütigen und ſchmerzlichen Tönen das Lied vom Wachſen ſchöner Menjden 
und dem Verfall iiberbildeter Perfinlichfeiten fingen fann. Und die Bildnijje, die in 
der feligen Stadt am Arno in der Epoche der Kunjtbliite gemalt worden find, find 
wie alle Bildniffe Berichte dariiber, wie die Menfcben ausgefeben haben, aber aud) wie 
jte ausfeben wollten und was ibnen das Teuerjte im Leben war. 

Mitteilungen über die Natur eines Menfeben, durch die intuitive Kraft eines 
Riinjtlers feftgeftellt und wiedergegeben — das könnte man als die tieffte Abſicht cines 


Das Florentiner Bilbnis. 591 


wirklichen Portrats binjtellen. Cin Künſtler driidt aus, wie fic) in feiner Natur eine 
fremde Natur gefpiegelt bat. Er gibt alſo weder rein den andern, nod auch, wie in 
anderen Kunſtwerken, nur fein eigenes Lebensgefiibl. Der große Bildnismaler ijt alfo 
ein Pjvdologe, wenn aud manchmal unbewuft, und das ift das wichtigſte; er ift fein 
Analytiker, der Cigenfcbaften einer Pſyche zerſetzt, ſondern bas vollendete Bild ded 
Synthetikers, dev die weſentlichen Merfmale einer Erſcheinung und ciner Innerlichkeit 
durch eine Neuſchöpfung fo jzufammenfiigt, dak man von dem Kunftwerke ein voll- 
fommeneres und edleres Bild der Wirklichfeit hat als won dieſer felbjt. Mit einer 
ſolchen Forderung an den Bildnismaler fann man nur allerdings nicht die Anfänge 
diefer Kunſtübung betrachten. Unmittelbar aus den CErfordernijjen der Beit, aus 
perfonlichen Bedingungen, aus Zufällen und Launen werden die erften italieniſchen, im 
befonderen florentiniſchen Bildnijje gefdafien, und in einer unendlich langſamen und 
mühſamen Entwicklung durch Jahrhunderte bildet ſich erſt jener Anſpruch, der im 
Vorangegangenen ſktizziert worden iſt. 

In Florenz iſt ja allerdings das Bildnis eine der Hauptgrundlagen der künſtleriſchen 
Entwicklung. Das beweiſt jede Stunde, die man in florentiniſchen Photographien 
blättert, jeder Blick in die Literatur, wenn es auch nur das große Buch des Vaſari 
iſt. Das kann auch nicht anders ſein in dieſer Stadt, deren ganze Hiſtorie eine 
Geſchichte der menſchlichen Perſönlichkeit iſt. Der Begriff des Individuums, den wir, 
einzelne unter uns wenigſtens, mehr und mehr aufzugeben lernen, hilft einem noch 
ſehr, wenn man die großen Zeiten der Florentiner Republik betrachtet. Die Größe 
des Lebens, wie die Größe der Kunſt wurzelte in ein paar Menſchen, die ſich reich 
entwickelten und vielfältig und nuanciert lebten. Der Verfall fam, als dieſe Perſön— 
lichkeiten über die ſozial nützliche Grenze hinaus entwickelt waren, und kein Kapitel der 
florentiniſchen Kulturgeſchichte iſt zu erdenken, das nicht die Unterſchrift verdiente: vom 
ſchönen und kräftigen Egoismus. Und wer heute in Florenz ſpazieren geht, der fühlt 
aus den Roſengärten und den ſteinernen Höfen, aus den heiligen und profanen Bildern 
und aus allen lauten und leiſen Erinnerungen der Renaiſſance die prächtige Freude an 
der Perſönlichkeit. Vielleicht aber kann man auch den Begriff anders faſſen, als das 
Weſentliche dieſer Zeit nicht die Individualität nehmen, ſondern das ſcheinbare Gegen— 
teil: daß nämlich damals die Menſchen den Mut hatten, ſich ihren Stimmungen und 
dem Willen des Augenblids hinzugeben und ſich durch keine prinzipielle Konſequenz, 
durch keinen Charakter feſſeln zu laſſen. 

Von alledem geben die Bildniſſe mancherlei Kunde. Im Anfange, im Trecento 
allerdings, ſieht man wenig Nuancen. Die Wiſſenſchaft kann konſtatieren, wo in einem 
Fresko der Maler ein beſtimmtes Modell mit der Abſicht, es zu porträtieren, in den 
Kreis religiöſer Vorſtellungen eingeführt hat. Dem Beſchauer, dem Genießer mag dies 
gleichgiltig ſein, denn noch treten individuelle Merkmale einer Perſon ungemein ſtark 
hinter Typiſchem zurück. Die erſten Bildniſſe werden in die Freskenkunſt durch Giotto 
eingeſchmuggelt, ſogar ein Selbſtbildnis des Künſtlers kommt da zum Vorſchein, in 
eben jener Zeit, in der die Kunſt nicht bloß ein Lehrmittel iſt, ſondern aus dem Erwachen 
der Sinnlichkeit eine neue Freude an allem Natürlichen und Menſchlichen erſteht. Das 
Mittelalter allerdings iſt noch nicht tot. Das erſte wirkliche Bildnis aber, auch dies 
im Rahmen des Freskos, zeigt die Züge des Dante, und das iſt eine merkwürdige 
Einleitung. Dante wird aber nicht dargeſtellt, weil er ein Dichter war, auch nicht, 
weil er ein frommer und eifriger Chriſt geweſen iſt, ſondern als guter Bürger, der im 


592 Das Florentiner Bildnis. 


politiſchen Leben cine, wenn auch nur flüchtige Rolle einmal gefpielt bat. Und gerade 
in den Werfen des Dante tritt oft das große Bedürfnis der Menſchen feiner Beit, nicht 
ungefannt 3u fterben, im Rubme weiter ju leben, zu Tage, felbft im Inferno verlangen 
die Siinder, Daf man von ibnen berichte. Die Florentiner wollten nicht vergeſſen 
werden, Der Nachrubm ſchien ibnen das teuerfte, und in einem Volke mit dieſem 
Gefühle mufte die Bildniskunſt erjtarfen. 

Die Schüler de3 Giotto fiigen denn auch in reicher Zabl die Menſchen, mit 
denen fie das Leben in Berührung brachte, in ihre Bilder ein. Mit ſchöner Naivität 
joll Andrea Orcagna auf feinem Fresfo vom jüngſten Gericht in Santa Croce feine 
licbjten Freunde ins Paradies gefandt baben, ,,. . . . feine Feinde aber fete er in 
die Holle.” So beridtet Vafari, und unter den Menſchen in der Holle fiebt man 
cinen Steuerbeamten der Kommune, der den Künſtler einmal gepfaindet bat. Es tut 
mir leid, dah die Kunſtforſchung dieſe Tradition nicht gelten [aft und die Anuswabl 
der Portrits auf diejen Fresfer auf andere ernfthafte und weniger perfontiche 
Griinde zurückführt. Die Kunſt febreitet weiter, die Schatten befommen Kérper, die 
Figuren relievo, man fängt an zu muancieren, durch Hervorbhebet de3 Raffentypus, 
des Koſtüms ju individualifieren. Und langſam wird der Weg bereitet fiir jenen 
frommen Maler, der der ſeeliſchen Grazie, die die ganze damalige Kunſt bat, nod die 
befondere Freunde an weiblicher Anmut hinzufügt: Ara Filippo Lippi, der das erſie 
Frauenbildnis gefchafien Hat. Er malt als Herodias ſeine Geliebte Lucretia Buti. 
Wus einer verliebten Laune, wie Schaeffer fagt, entitebt die Kunſt des Franenbildnifjes. 
Nun folgen dic Daritellungen fchiner und bedeutender Manner und Frauen in 
reicherer Sahl, Man findet fie in den Fresfen fo gut wie in den Andachtsbildern, 
und ſchon ijt aud das profane Gemälde ju ftarfer Höhe gelangt. Gbirlandajo und 
Botticelli nebmen unter ihren Figuren manche bekannte Gejtalt auf, und in der Maske 
der Lucretia erfcbeint jum letztenmal anf einer religidvfen Alfresko-Darſtellung cine 
Frau der Wirklichfeit nadgebildet, dic Gemablin des Andrea del Carte, die ſanfte, 
{chine Geliebte, die ihm immer das Vorbild feiner Frauendarjtellungen war, Denn 
ſchon bat ficr der Eifer der wirklich Frommen gegen die Regerei, die fiindige Menfden 
in Die GHeiligenbilder cinfiibrte, erboben. Schon predigt Cavonarola gegen die 
Sinnenfreude, ſchon erhebt er fic) gegen dem Egoismus, der die Triebfeder ju allen 
Stiftungen ijt, die Frömmigkeit nur noch als geringen Vorwand benützt. „Blicket 
umber in einem Kloſter, iiberall werdet ibr die Wappen deſſen finden, der es bauen 
lief. Ich wende mein Haupt jener Titre yu und glaube, daß ein Kruzifix dort fei — 
es ijt ein Wappen.” Und wie fann Frömmigkeit die Wirkung der Heiligenbilder fein, 
wenn man durch die Symbole hinweg die Modelle erfennt und das lebende Fleiſch 
mit der gemalten Religioſität vergleicht. „Die jungen Leute fagen dann, dies da iit 
Magdalena und jener andere der beilige Johannes . . . .. Abr laßt die Geftalten 
in den Kirchen bald der einen, bald der anderen Frau aähnlich malen. Das ist übel 
qetan und zeugt ven großer Verachtung göttlicher Dinge.” Mit folchem Cifer bebielt 
Savonarola recht. Er befehrte feine Seit, zwang fle, und wiederum wendete ſich, 
cine flüchtige Seit wenigftens, die Kunſt von der körperlichen Freude yu jener Schön— 
heit, dic ,cine Qualität der Seele“ fein follte. Damit iff der Verlauf ded Portrats 
innerhalb der Freskomalerei gegeben, eine CEntwidlung, die, wm Schaeffers Worte 
bier wörtlich yu geben, „zuſannnenfällt mit der des Perſönlichkeitsgefühls. Zuerſt 
wiirdigte man den großen Birger cines Vilbes an beiliger Stätle. Er wurde vom 


Das Florentiner Bildnis. 593 


zuverläſſigen Parteimann verdrangt; dann trat der Stifter in den Vordergrund, mit 
anderen QWorten, der Familienftoly überwog die politifden Yntereffen. Endlich 
erwachte das Selbſtbewußtſein ded Künſtlers, und die Fresfen kündigten den Ruhm 
vor Maler und Mäcen. Aud dies Hirte auf und der Künſtler bebauptete allein das 
weld. Seiner Gattin huldigte Andrea del Sarto. Was begonnen hatte wie ein 
Epos, endete als Canjone..... a 


* + 
* 


Wie auf den Fresken, ſo erſcheinen auf den Andachtsbildern des Quattrocento 
ſchon Porträts, und zwar die frommen Menſchen, die dem Künſtler den Auftrag zu 
dem Bilde gegeben hatten. Ihre Geſtalten ſind zuerſt ſehr klein, wachſen dann und 
drängen ſich allmählich ſelbſt in Darſtellungen, auf denen ſie inhaltlich gar keinen Platz 
beanſpruchen können, als die Begierde der Menſchen, ihre Züge der Nachwelt zu 
übergeben, unaufhaltſam wurde. So ſieht man die Stifter ſogar auf den Darſtellungen 
der Verkündigung und Fra Filippo Lippi hat eine Madonna della Miſericordia gemalt, 
auf der mit befonderem Stolze die ganze große Sippe der Bejteller um die Jungfrau 
herumgeſchart ijt. Allmählich aber begnügen fics die Menſchen nicht mebr, als Zuſchauer 
auf den Heiligenbildern zu erfdheinen, -fie werden als bandelnde Perfonen dargeftellt, 
wieder einige Seit fpater als die Heiligen ſelbſt. Man bekümmert ſich nicht mehr 
barum, die Ahnlichkeit des ModellS auch nur zu verwifdet, und ohne jede Zurück— 
baltung malt man fündige Menſchen als göttliche Figuren. Fra Filippo Lippi malt 
jeine Geliebte, Lucretia Buti, eine entlaufene Nonne, als feqnende Heilige, und erft 
Savonarola mußte fommen, wm ſolcher Ketzerei Cinbalt zu tun. 

Trog allem entwidelte fic dad Profanbild, alfo die bewubte Darftellung der 
Menfcbensiige um ihres eigentlicsen Wertes wwillen, febr fpat. Die mittelalterliche 
niedrige Meinung, die Der Menſch wom Menſchen hatte, ift da Urſache. Losgelöſt 
von gittliden Beziehungen bedeutet der Erdenfohn nichts. Nur der Papſt und der 
Kaifer geben früh Anlaß yu Ausnabmen. Für Floreny aber bedeutet der Kaifer 
wenig, den Papft aber hatte ſchon Giotto am Ende des 13, Jahrhunderts dargeftellt. 
Andrea del Caftagno erſcheint dann als der erjte wirkliche Bildnismaler. Er zeigt 
dic Menſchen als tapfere Krieger, ift ein Realift und fiimmert fich um ihr Phyſiſches. 
Die Menſchen wollen kräftig, eigenwillig, fihn und ficher erfcbeinen. In die 
Entwidlung der italieniſchen Malerei tritt nun an diefem Punfte die ungemein ſtarke 
Einwirkung flandrifcher Malerei, und durch dieſe gewinnt die Bildniskunſt den Anlaß, 
fic um die fleinen Details der Kirper Su bemiiben. So wie die Riederlander jede 
Falte des Fleiſches, jede Rinne der Haut, jeden Fle und jede abfonderlicse 
Krümmung der Linie mit fabiger Runft notierten, fo bemühten fich, nachdem fie diefe 
Hilder gefeben batten, die Hlorentiner um eine genauere naturalijtifde Darjtellung 
der menſchlichen Erſcheinung. Dennoch aber blieben fie nicht beim Außerlichen fteben, 
ja fte bielten fic) auch nicht bet der Andividualitét an fic anf, da in der ganjen 
Kunſt diefer Naffe das Bemiiben fag, ftatt der wenn aud nod fo interejjanten 
Anbdividualitat den Typus yu geben. Die nene Art des Sebens half ibnen, ftatt des 
Nonumentalen nun das Pittoreste zur Anſchauung ju bringen, das Vielfältige in der 
menfcbliden Natur; und das war damals notwendig, da die Zeiten fich geändert 
batten und fiatt des Typus des kräftigen Rriegers, den Cajtagno zeigte, jest eine 
neve Männerform liebenswert erſchien. Diefe neue Form war nicht mehr der Mann, 
jendern der Siingling, bel giovane, und in diefer Gejtalt erfcbeint uns der 

88 


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Ficaitien gum Mustrude Erinzen, me Batter die Eeiendere Reiguna, Mete vielieltigen 


— 


Eigenicheiten, wie *e im jedem einzelnen yom Loricheine fam, tetukalten, und fe 


wurde tre Abnlichlkeit ein Bedinants ber Kortraättun 


i aw 


rd 
2 a 

EKabtent fur tre Wannermatecet diciet Jeit et Austui: Quant e bella giovinezza! 
aft, tebt man ich noch cli 


geraume Jeit vergeblich nad ten Tatftellungen der ſchẽnen 
piauen um Wan mu 
7 


bie Kerzweiftlung des Roni. tigte zitieren, der gerade in 
oreny auiichrieb, er batte niemals eine Ration gefeben, in der es fo wenig ſchöne Frauen 
ache, und mun ſich nach Lenedig wenden, um das Bit i> dee weibliden Henaittance- 
iddnbett yu Cefommen. Tie üblichen Kroñlbildet der tonanackenden Florentinetinnen 
yigen andere Eigenſchaften als me térperlide Pract. Dieſe Xrauen haben eine große 
Kultur, eine veiche innerliche Bildung, jtarfen Sinn fiir deforative Erſcheinung, pracht⸗ 
vollen Schmuck. Und je naber die Biloniafunit dem menidlicen Weſen fommt, defto 
weniger faq ihr aud in Xloreny am Abiduldern einer befonderen phyſiſchen Anmut, 
deito mehr erſcheint es das Biel der grofen Kunnler, das Weib an ſich gu malen. 
Mian merft, dap itd die Beit des Lionardo anfiindigt, die Vorabnung der Mona Liſa. 
Tiefes ratſelvolle Gemalde muh ja gerechterweiſe im Miittelpuntt jeder Auslaſſung über 
bas Bildnis ſtehen. Wer Jahre bat Lionardo daran gemalt, und dann bat er es 
unvollendet gelaijen, Wir aber feben in ibm das größte Kunſtwerk, können mit menſch— 
lichen Worten qar nicht fagen, was es und alles bedeutet, und gar nicht daran denfen, 
bie Griinde dicher Wirkung anjudeuten. Es ijt ein gebeimnisvolle3s Bild, und je mebr 
man es anfiebt, defto weniger will man glauben, daß es nur ein Portrat einer 
Alorentiner Bürgerin war, von deren menſchlichen Qualitäten wir ja gar nidts Großes 
wiſſen. Als Yionardo fie malte, ließ er Muſikanten fommen, unt die Zeit yu kürzen. 
Manchmal bat man geqlaubt, dak er fie geliebt bat. Aber da3 ftimmt gar nicdt zu 
bem, was wir über das Liebesleben des Manned fonft wien. Und wenn man die 
Schriften des Lionardo anfieht, dann findet man, daß mit demfelben Ernſt und der: 
jelben Subtilitat des Erfaſſens wie die Mona Lifa von diefem Manne auch die 
fleinften Gingelheiten der Natur beobachtet und darageftellt werden. War fie ibm alſo 
nicht mehr als cin Grashalm oder cin Pferdekopf, nur ein Anlaß, feine Seele zu er— 
gichen, cin Vorwand zur Walerei, ein Problem, ein Teil der grofen Natur... . . 
cr war cin Pantheiſt, und vielleicht baben alfo jene recht, die died fagen. Mir aber 
ſcheint es, daß er in dieſer Frau einfad das große Rätſel aller weiblichen Natur aus: 
fprechen wollte, nicht es deuten, cine Lebre geben, cine Auflöſung, fondern nur das 
Bild deo Gebeimnisvollen, des Bedrängenden diefer dämoniſchen Unendlichfeit, ein 
Antlitz und eine Geberde, in der alles drin ijt, alle Möglichkeiten zum Leidenfcbaftlichen 
und zum Ruhigen, zum Erſchütternden, Schlechter und Grogen. 
Daß Liwnardo wie fein anderer die Vielfaltigkeit der weiblichen Naturen jener 
Seit gefaßt bat amd durch ibn die ganze Bildnismalerei dieſen Zug mithefommen bat, 


ein 
5 


Fy 


Das Florentiner Bildnis. 595 


bat auch ſchon Taine angedentet in feinen zwei Banden italieniſcher Reife, die jest 
übrigens in einer ſchönen deutſchen Nberfegung von Ernſt Hardt bei Cugen Diederichs 
in Sena erſchienen find. Er fagt da gelegentlich ber Nonne Lionardos: „Dieſe 
Bildniſſe erſchüttern mich mehr als die ganje übrige Malerei, parce qu'ils font 
saillir la particularité de la personne individuelle .... weil fie cine wirfliche 
Frau, die gqelebt hat, geben, cine Miſchung von Nonne, Prinzeſſin und 
Courtifane . . ..“ 

Andrea del Sarto, der als Frauenmaler nach Lionardo kommt, gelangt immer 
mehr dazu, den Typus, die Idealgeſtalt der Frau zu geben, um ſo mehr, als er ja 
immer nur ſeine eigene Frau malte und, wie Vaſari erzählt, ſelbſt wenn er andere 
Modelle benützte, ſo änderte er alle Frauenköpfe, die er malte, doch, „weil er ſeine 
Gattin beſtändig ſah, oft gezeichnet hatte und das Wichtigſte: ihr Bild in ſeinem 
Herzen trug“. Pontormo gibt in ſeinen Frauenbildniſſen ſchon das ganze Milieu 
einer femininen Atmoſphäre, malt nicht allein das Weib, ſondern auc die Künſte ihrer 
Kleidung, ihres Weſens, ihrer Koketterie. Das find aber ſchon Verfallzeichen. Auch 
dic Maännerbildniſſe bekommen nun den Ton von Lebensreſignation und Blaſiertheit, 
Der Die Mode der Heit ft. Cin Hak der Wirklichfeit geqeniiber erbebt fics, und man 
fingt an, dem Leben das Attribut „klein“ yu geben. Dadurch wird natiirlic aud 
die Bildniskunſt gedriidt, unbedingte Abnlichfeit wird als erſtes Geſetz gefordert, der 
Mater foll juriidtreten und die Porträtkunſt ausdrücklich von der ſozuſagen grofen 
Kunjt getrennt. Die Menſchen, die man nun darftellt, zeigen fic in den Pofen ſchwer— 
miitiger, gelangiweilter Menfchen, die ihre Seele verbergen, ſich vor jedem Hauch be- 
wabren, find gum großen eile Literaten. Wan fieht nun nicht mehr aus wie ein 
Krieger, auch nicht mebr wie cin geniefender und erwerbender Jüngling, fondern wie 
ein abgefpannter, angeefelter Werther der Nenaiffance. Seon ijt aber auch die 
Republik yerbrochen und cine neue Bildnisfunft ſchmiegt ſich dem ſpaniſchen Tone an, 
der mit der Gattin Coſimos, Cleonora di Toledo, in Florenz cingesogen ijt. Die 
Vildnijfe des Pontormo und feines Schülers Bronzino geben nun nicht mehr 
Perfinlichfeiten, fondern Standesperfonen, und der Hof ijt der Hintergrund, von dem 
ſich alles Hebt. Hochmütig feben die Menſchen auf den Maler herab und die Pofe, 
Die fle sum Ausdruck bringen, ift ein wiirdiger, zurückhhaltender Anſtand. Die Bildniſſe 
find Illuſtrationen zu dem Buche der Zeit, dem ,,Cortegiano”, dem berühmten Werfe 
des Conte Caſtiglione, in dem fich die Guperliche und formale Kultur, nad der man 
firebte, fpiegelt, und dieſes Brevier, das cin Bild der Zeit gibt, modelte dann dic 
Heit felbft. Hier endet die Linie, die Schaeffer fiir das Florentiner Bildnis gezogen 
bat. Man witrde ſich nun das Buch wiinfden, das fortfest, nicht mehr in Italien 
bleibt, fondern vom ſpaniſchen Bilonis erzählt, dads Frankreich des 18. Jahrhunderts 
in feinen Portrats erftehen läßt, das England vom Beginne des 19. und ſchließlich 
durch die ganze Flucht der Seiten yu uns geleitet und erzählt, was die Maler unferer 
Beit fiir Gebcimnifie in den Menſchen faben, die fie abmalten, und wie zu guter Letzt 
pon der VBildnismalerei verlangt wird, dak fie ftatt äußerer Abnlichfeit innere 
Wabrheit gibt. 


596 


— — Mapiann. — 


Roman 


von 


Lonife Schulye - Briick. 


Radbrud verboten. — 


1. 

Ss * nubt nichts, dab id mic zieh davor 
und von einer Winut’ gur anderen wart! — 
Geben muß ih doch!” 

Mariann fagte es gang [aut vor fid bin. 
Dann fubr fie erfdhroden gufammen und fab 
nad) dem Rorb, in dem dad Rind fdlief. Cin 
gan; junges Sind, faum drei Woden alt. Das 
rote Geſichtchen veranderte ſich nicht, — der 
Junge fcblief tief und feft weiter. — 

Mariann feufzte leife. Dann ftrid) fie vor 
bem winzigen Spiegeldhen ibr Haar zurecht. 
Gin blajjes Gefidht fab ihr aus dem triiben 
Glas entgegen, verhärmt und fummervoll. 
Nits mehr von der „ſchönen Mariann” von 
ebemal3. Qa, — ein Ungliid fommt fdnell 
und Kummer und Sdanbe — — 

„Herrgott, ber Paftor wartet ja!” 

Sie warf nod einen letzten Blid auf das 
Rind. Dann fdltipfte fie leife aus der Tür 
und podte nebenan bei der alten Nachbarin. 


„Wöhlerſch, wenn der Jung foreit, dann | 


fudt mal nad ibm, gelt?” 


„Ja, ja, Mariann, ich fud ſchon. Wber | 


er wird ja nicht. Der ſchläft jest wie ein 
Ratz!“ 

„Ich muß zum Paſtor.“ 

Die Alte ſah fie‘an. „Wirſt ja wiſſen, 
twas er will!” 

Mariann nidte. Sor blaſſes Geficht wurde rot. 

„Ja freilih, — aber’ — — 

„Mariann, fei nicht obſchternatſch! S'Un— 
glück iſt nun mal geſchehen, aber unſer Paſtor, 
der bringt alles wieder in die Reih. S'iſt ja 
ganz und ganz verdreht, wie du dich anſtellſt!“ 

„Wöhlerſch, das iſt meine Sache! Ihr 
meints gut, aber davon verſteht ihr nichts.“ 


— 


„Aber Mariann! Das iſt nu doch mal ſo 
auf der Welt! Du änderſt nichts dran! Du 
kannſt auch nicht mit'm Kopf durch die Wand.“ 

Mariann nickte nur. Dann ging ſie zur 
Tür hinaus mit müden Schritten. Sie war 
bod nod ſchwach, fie ging langſam und ſchwer⸗ 
fallig, bie Knie jitterten ibr. 

Uber fie trug dod den Kopf hod. 

„Ich tu's nidt und tu's nidt,” murmelte 
fie. „Und twenn er mir mit den zehn Geboten 
und ben adt Celigfeiten fommt! Davon jtebt 

| nichts in den zehn Geboten! Nein, gar nichts!“ 
Sie ging fiber ben Dorfplak unter den 





blithenden Linden hin, die einen betdubenden 
Duft ausſtrömten. Cinen Augenbli¢ rictete 
fie den Kopf auf und fog begierig den ftarfen 
Duft ein. So hatte die alte Linde in den 
fauen Sommernächten des vorigen Sabres aud 
geduftet, in den dunklen Radten, ba all ibr 
Leid begann und ibre Schande. Cinen Augen- 
bli ftocte ibr Fuh, fie madte eine Bewegung 
nad rückwärts. Aber fie rif fid) wieder herum. 
Was nubte es, den Gang aufjufdieben, der 
doch einmal getan werden mußte. Und der 
| Paftor würde glauben, ihre Scham fei ju 
| grof. Und das twar fie dod nidt. — So 
| viel fie aud nachgegrübelt hatte in diefer 
ſchrecklichen Seit, fie fand feine Scam in fic. 
| Lange war Hak, tödlicher Haf in ihr geweſen, 
| auf ben, der fie in Schimpf und Sdanbe ge- 
| bract hatte, vor dem fie auf den Rnien 
| gelegen, daß ev fle gu feinem Weibe maden 
| jolle. Einmal batte fie das getan, — ja nidt 
, ibrethalben, fondern um des nod) Ungeborenen 
willen. Und als er ſich verlegen gewunden, 
| — nad Ausreden gefudt und dann davon— 
geſchlichen war, feige wie ein Dieb, da war 


Mariann. 597 


faſt aud) ber Haß vorüber. Nichts war zurück— 
geblieben als eine Verachtung, die tief durch 
ihr ganzes Weſen ging, ſie ganz erfüllte. Und 
ein Zorn auf ſich ſelbſt, die ſich hatte betören 
laſſen von ſeinen funkelnden braunen Augen, 
von ſeinen gleißneriſchen Verſprechungen, ja 
nicht zuletzt ſeinen wilden Beteuerungen, daß 
er nicht mehr leben wolle, wenn ſie nicht ſein 
würde. Co dumm war ſie geweſen, fo leicht— 
gläubig, ſo vertrauensſelig. 

Das ſchwere eiſerne Tor gum Paſtoratshof 
knirſchte in ſeinen Angeln, als fie es aufſtieß, 
und weckte fie. 

„Nun kommt das Schwerſte“ murmelte ſie, 
„nun wird er mir zuſetzen und mir die Seele 
aus dem Leibe fragen. Aber ich will nicht! 
Und er ſoll nichts aus mir herauskriegen! 
Nichts und gar nichts.“ 

Die Pfarrköchin warf einen ſtrengen Blick 
auf ſie. Ja, für die war ſie eine Ausgeſtoßene, 
eine Verbrecherin. Die wußte nichts von Liebe 
und Sünde. Die war eine Heilige. Marianns 
Blid ging von oben bis unten über die magere 
Geftalt, den diirftigen Oberkörper, der in cinen 
ſchwarzen geftridten Schal eingewickelt war trotz 
bes warmen Commertages. Die fror immer, 
bas alte Fraulein Lifettdhen. Wh, wer es 
bod) aud) fo haben finnte, fo kühl und fo — 
fo fromm. Gie fonnte aud nidt mebr fromm 
fein, nicht mehr beten, nicht mehr in die Kirche 
geben. Alles in ihr war wie verfengt. Wie 
lange fie bier fland und warten mußte. — Das 
Rind war fiderlid) toad) geworden daheim, hatte 
Hunger, ſchrie. EF hatte immer Hunger, es war 
cin fo gefunbder, ftrammer Junge mit einem 
drolligen ſchwarzen Haarſchöpfchen, das ſich in 
einer einzigen Tolle ringelte. Cie hatte es 
aud erft gebaft, batte es nicht feben wollen, 
und bie Obren zugehalten, als fie feinen erften 
Edrei hörte. Wher dann war dod) die Mutter: 
liebe aufgewacht und war ſchnell allmadptig in 
ibr geworden. Es follte gang ibr gehören, 
das Kind, um bas fie fo viel Elend und 
Leiden ausgebalten hatte. Cr follte feinen 
Teil daran haben. Gelb hatte er the geben 
wollen — damit fie feine Not leide. Cie hatte 
ibm ind Geſicht geſchlagen. Geld fiir das, twas 
nicht mit allem Gelb und Gut zu bezablen 
war, nur mit Blut und Leben. Gelb, damit 
er tubig ſeines Weges gehen, rubig ſchlafen 





fonnte. Gelb, das man einem fdledten Weibe 
gibt, einer, bie ju faufen ift fiir ein paar 
Grofden. 

„Du follft zum Herrn fommen.” Fraulein 
Lifettchen wies mit einer ftrengen Geberde auf 
die Fubmatte, die vor der ſchneeweiß geſcheuerten, 
fin mit Cand und gebadtem Kalmus be— 
ftreuten Treppe Ing. — Wenn ſchon ,,folde” 
in das Pfarrhaus famen, mochten fie wenigſtens 
ibre Fiife vom Schmutz reinigen, wenn aud 
ihr Herg voll Schlamm blieb. Fraulein 
Lifettchen war nicht febr fiir chriftlide Milde, 
fie bielt es mehr mit beilfamer chrijtlider 
Strenge, befonders bei „ſolchen“. Das hatte 
fie auch vorbin ibrem „Herrn“ deutlich gu ver— 
fteben gegeben. Uber ibr Herr, — licber Gott, 
mit bem war ja nichts gu machen, dev fab ja 
in alle Menſchen wie in einen goldenen Kelch, 
enn aud, Gott ſei's geflagt, viele eher redt 
unreine Gefäße waren. Das fah man twieder 
an ber Mariann. Häuſer bitte Fraulein 
Lifettchen auf die Mariann gebaut, wenn fdon 
fie recht weltlid) ausfah mit ihrem ſchwarzen 
Haargewuſchel und den hellgrauen Augen unter 
den angen ſchwarzen Wimpern. Wber fo cin 
braves, fleipiges Madden, immer die Erſte bei 
der Arbeit und die Leste avon, immer adrett 
an fic) und in ibrem winzigen Stiibdben, bas 
fie bei einer armen Witwe inne hatte. Und 
nie hatte man twas Unredtes von ibr gehört, 
trogbem fie gang allein auf der Welt war und 
niemand hatte, der fie biiten und ſchützen 
fonnte. Und nun war dod) bas Ungliid ge- 
ſchehen, und eine brave Jungfrau, die auf Ehre 
und Reputation bielt, mute die Mariann in 
Grund und Boden verdammen. Das tat 
Fraulein Lifettchen auch, und nebenbei flucdte 
fie ben Mannern, durch die alles Leid, alle 
Siinde, alles Schlimme in die Welt fam, wie 
aud) bier wieder gu feben war. Und Fraulein 
Lifettchen dankte ihrem Schöpfer, der fie nie in 
Verſuchung und Gefahr geführt hatte. 

Mariann ſtieg mit zitternden Knien die 


Treppe hinan. Die Füße waren ihr ſchwer 


wie Blei. Sie war doch noch ſchwach und 
konnte noch nichts vertragen. Sie fürchtete 
ſich auch vor den Augen des alten Pfarrers, 
der ſie getauft und zur Kommunion geführt 
hatte. — Zitternd öffnete ſie die Tur. — Das 
Bimmer war von bläulichem Pfeifenrauch er— 


593 


jiillt, aber der Herr Paftor hatte die Pfeife | 
weggelegt, ftand aufredt am Schreibtiſch und 
fab fie ernſthaft an. 

Sie blieb gagend an der Tür fteben. 

„Komm nur berein, Maria Anna.” 

Sie tat ein paar Schritte ins Zimmer bin- 
cin, fie taumelte faft. 

„Nun, nun, Maria Anna! Fürchteſt du 
bid) fo febr vor deinem Seelforger? Warum | 
bijt du nicht längſt gu mir gefommen, bajt mir 
bein Herg ausgeſchüttet? Bijt nach Bersdorf 
zur Beidte gegangen, um nicht gu mir reden 
gu miiffen! Warum haft du das getan, Maria 
Anna?” 

Sie murmelte cin paar undeutlide Worte. 
Sie fühlte, wie ihr fibel tourde, wie falter 
Schweiß auf ibre Stirn trat. 

Der alte Herr merfie es aud. Er nahm 
aus einem Wandfdranfdhen cine Flafde und 
ein Glas und nötigte ihr den feurigen Wein 
auf. Das tat wobl. Neu belebt richtete fie 
fic) auf. 

„Und was foll nun twerden, Maria Anna? 
Wilt du did) mir nidt anvertrauen! Coll | 
nicht gut gemacht werden, twas nod) gut ju 
maden ift? Goll dein Rind mit dem Matel | 
unebelicher Geburt bebaftet aufwachſen? Willſt 
du felbft als Gejeichnete, als Entebrte durchs 
Leben gehen? Freilich, was geſchehen ijt, ift 
geideben, da ift nichts zu ändern. Wher wenn 
du heirateſt, ift bod in kurzer Beit alles 
anders.“ 

Marianns Augen fiillten fid) mit Tranen. 
Per alte Herr fah eS, und er fubr eilig 
fort: 

„Und dein Rind, dein Sohn! Aud gegen | 
ibn haſt du Pflichten. Er mup einen Erjieber | 
haben, nicht nur cinen Vater, Du bift zu | 
ſchwach dazu! Haft bu ja aud) der Verſuchung 
nicht widerfteben finnen, wober follteft du die 
Stärke nebmen yur Erziehung des Kindes?“ 

Da rictete ſich Mariann haſtig auf. Sie 
ftand in ibrer ganjen Gripe vor dem kleinen 
alten Herrn. 

„Hochwürden, Sie fagen, was fie alle 
fagen! Sd) foll Ihnen anvertrauen, wer der 
Vater des Kindes ift, damit fie ihm gureden, 
ihn zwingen, feine Schuldigkeit an mir zu tun! 
Ich weiß, Sie finnen das! Jeder weiß ja, 
bei wem Sie das febon fertig gefriegt haben! 








* “a 


a 


RMariann. 


Aber Hodiwiirden, fagen Sie felbjt, haben Sic 
Freude an den Ehen, die fie fo zuſammen— 
gebracht baben ?“ 

„Freude?“ Der Pfarrer fab fie ftreng an. 
„Wir find nidt auf Erden, um Freude zu 
haben, WMariann! Wir find bienieden, um 
unfere PBflicht gu tun. Und wenn Mann und 
Frau in folder Ehe fein Glück finden, fo ift 
das die Strafe Gottes! Unfer Herr ijt ein 
gerechter Gott! Er ftraft furchtbar in feinem 
Grimme! Nicht um der Gatten willen, dag fie 
Freude haben im Leben, find fie zuſammen— 
gefiigt, fondern darum, bag fie ibre Sünde 
büßen und darum, dah das unfduldige Rind 
nicht leide unter der Eltern Sünde.“ 

„Hochwürden!“ Mariann fubr auf. „Ich 
fann das nicht fo fagen, was in mir iſt. Aber 
mein Rind foll feinen Vater haben, der ſchlecht 
gebandelt bat an feiner Mutter. Auf den 
Rnien bab ic) vor ihm gerutſcht, mit blutigen 
Tränen hab id ihn gebeten, daß er ehrlich an 
mit bandeln foll! Cr bat fic fortgemadt, wie 
ein Dieb in ber Nat, — wie ein feiger 
Roter. Und der foll nun gezwungen werden, 


mich gu nebmen, — mid) ehrlich zu machen! 


Der foll mein Mann fein, mein ganged Leben 
lang, den id anfpeien möcht, den id fo ver: 
act, wie feinen Menſchen auf der Welt! Der 
foll meine Schande zudecken und meine Ebre 


wieder berftellen! Cine feine Ehre! Der foll 


mein Mind beſſer erzichen fonnen, wie ih! So 


_ Giner! Co cin Lump! Wenn er gejagt batt, 


— wein nidt, Mariann, ich geb zum Paftor 
und beftell’s Aufgebot und foll did feiner 
ſcheel anſehen, wenn du meine Frau biſt, ſonſt 
ſchlag id) ihm die Knochen entgwei, — — ja, 
Hodiwiirden, da wär meine Sünde cine Ebre 
geweſen, und ich wäre ſtolz geweſen, und wir 
hatter ben Himmel auf der Welt gebabt! Aber 
fo! So will id Lieber meine Schande tragen, 
als feine Ehre!“ 

Der alte Herr hatte erjtaunt zugehört. Er 
ſchüttelte langſam ben Kopf. 

„Maria Anna, Maria Anna! Du biſt ſtolz 
und hochmütig und ſollteſt doch gebeugt und 
demütig ſein! Du willſt nicht büßen und das 
Geſetz Gottes befolgen, ſondern du willſt dir 
ein eigenes Geſetz machen. Du willſt nicht 


um deines Kindes willen das Joch auf did 
nehmen und 


iy 


"* © © @ 


Mariann, 


ye 
Hi 


„Nein! Rein und nein!” Mariann war 
aufer fid. „Ich tu's nicht! Qh will nicht 
den gum Manne! Ich will ihn nicht sum 
Vater meines Kindes! Ich will mein Kind fiir 
‘nid allein baben, und feiner joll Anteil an 
ibm haben. Sh will arbeiten und fdaffen, 
dak mir dad Blut unter den Nageln heraus— 
fprigt, und mein Rind foll gebalten werden 
wie cin Pring! Und foll cin Burſch werden, 
ber fein Madden wverlodt und betriigt und 
unebrlid) macht! Und wenn ed ein Schandfled 
fiir bie Gemeinde ijt, dag ein [ediges Rind 
drin aufwächſt, ich fann’s nicht ändern. Die 
Gemeinde hilft mir nicht, und ich bin der 
Gemeinde nichts ſchuldig und will ihr nichts 
ſchuldig werden.“ 

Der Paſtor ſtand ratlos. 
dicht an ihn heran: 

„Sie haben's gut gemeint, Hochwürden, 
und ich dank Ihnen auch vielmals. Und ich 
weiß ja, wie gut Sie ſind, und wie Sie in 
die Herzen hineinſchauen. Aber Hochwürden, 
wie's in meinem Herzen ausſieht, bas, — das 
lönnen Sie doch nicht ergründen, und wenn 
Sie's lönnten, würden Cie ſehen, daß es da 
nichts zu ändern gibt.“ 

Sie war zur Tür hinaus. Der alte Herr 
ſchaute wohl eine Minute tief betroffen auf die 
Türe. Dann ſchüttelte er den Kopf und ſeufzte 
und ſann. Aber wie er auch ſann und grübelte, 
er fand nichts. Er konnte ihr nicht Unrecht 
geben, der Mariann! Sie hatte einen heim— 
lichen Schaden in ſeiner Gemeinde aufgedeckt. 
Ja, dieſe gewaltſam erzwungenen Ehen waren 
freilid) fiir die armen Frauen meiſt wahre 
Kreuz⸗ und Marterwege. Wher bid jest hatte 
ex immer daran feftgebalten, daß fie cine 
Sühne feien fiir begangene Schuld. War die 
Schuld wirklich fo grop, dah fie cin ganjes 
Leben zur Siibne braudte? Cr feujgte tief und 
trat an’ Fenſter. Der ſüße Lindendujt fam 
in ſchweren Wolfen yu ihm hinauf, unten in 
feinem Pfarrgarten blühten bie Rofen in allen 
Farben auf den fauberen Rabatten, ein ganzes 
Chor von Vogeln zwitſcherte feine Abendftrophe, 
iiberall war Friede in der Natur, mur die 
Menſchen — 

Fräulein Liſettchen fam nicht ganz gliidlid 
in diefe Betractungen hinein. Und darum 


Mariann trat 


wurde ir eine ziemlich fcharje Surectiveifung Vögel jagt. 


599 


guteil, als fie ibrem „Herrn“ fuggerieren 
wollte, daß „ſo cine” gang unmiglid die 
Gartenarbeit im Pfarrgarten weiter tun fonne. 

Der alte Herr wurde ordentlich böſe. „Weißt 
bu nidt, Clifabetha, da mebr Freude im 
Himmel ift über einen Sünder — — —“ 

„Wohl, wohl, Herr Pajftor,” fiel Fräulein 
Lijette ein, ,,aber die Mariann fiebt gar nidt 
aus wie eine, die Bufe tut. Und twenns 
wabr ijt, was fie erzählen, daß fie nidt fagen 
will, twer ihres Jungen Vater ift, dann ijt 
bas eine Siinde und Schande und cine ganj 
verdrehte Perjon, der einer mal orbdentlid) den 
Kopf zurechtſetzen miifte, bah fie fic darauf 
befinne, was ibre Schuldigkeit ijt. Hat man 
je fo was erlebt? Froh follte fie fein, wenn 
ber Hert Paſtor ihr dazu verbalfe, daß fie 
wieder die Augen auffdlagen fann vor an— 
ftindigen Lenten. Und wenn id) Herrn Pajftor 
raten foll, dann kommt fie nicht mebr in den 
Warten und” — — —“ 

»Glijabetha, Eliſabetha!“ Der alte Herr 
mußte dod ladeln. — „Und wen nebmen 
wir denn da? — Die Rotſahn, mit der du 
gleich Krakehl bekommſt ober die Müllerſche, 
die die Schürze voll gemauſtes Obſt mit heim— 
ſchleppt, oder die Schulzſche, die die Beete 
zertrampelt, daß ſie ausſehen, wie gewalzt 
oder” — 

Fräulein Lifettdhen zuckte hilflos die Achſeln. 
„Ich weiß ja, Herr Pajtor, daß es immer 
nach Ihrem Kopf geht, und ich kann mich bloß 
ärgern, wenn die Weiber aus dem Dorf ſo 
dumm daher reden, Sie haben's gut, Fraulein 


Liſettchen, der Herr iſt ja ſo gut, wie ein 





Rind, Cie können machen, twas fie wollen!’ — 
Sa, ſchön fann id das, — wenn fie nur mal 
hörten, wie der feinen Kopf durchſetzt, und 
wenn er fommt mit feinen Bibelfpriichen, wo 
id nidt dagegen fann, wenn ſchon die Bibel 
gu einer Beit geſchrieben worden ift, wo die 
Leute fider nicht fo ſchlecht und raffiniert 
waren, wie jest und’ — — —“ 

Der Herr Pajtor bob drohend den Finger. 

„Ich bin ja fdon ſtill! Aber ärgern 
kann's einen, daß man kein Wort ſagen darf 
und — —“ 

Der alte Herr machte eine ſcherzhafte 
Schwenkung mit den Armen, wie wenn man 
woud, huſch“ —— 


600 


Das half. Fräulein Liſettchen flatterte 
zur Tür hinaus wie ein ſehr mageres, bejahrtes 
Huhn. — Aber der alte Herr lächelte nicht, 
wie ſonſt wohl. Still ging er zu ſeinem 
Schreibtiſch zurück und zündete feine Pfeife 
an. — Aber, ob er aud mächtige Wolfen 
qualmte, es fdmedte ibm dod nicht recht. 
Und ſchließlich fegte er feinen Hut auf, rief 
den diden weifen Spitz und madte nod 
einen Abendgang. 


2. 

Mariann war mit eiligen Schritten beim: 
gelaufen. 
fie es getwagt hatte dem Paftor gu twider- 
ſprechen, daß fie fo viel Morte gefunden hatte. 
Das mochte wohl daber fommen, daß alles, 
was fid) feit Monden an Grol und Rummer 
in ihr angefammelt batte, nun mit Getwalt 
gum Ausbruch gefommen war. Und es war ibr 
förmlich leidjt und frei ums Herz. Nein, fie 
wollte ſich nicht zwingen laſſen gu einer Heirat 
mit bem Verhaßten. Sollte es ihr geben wie 
ber Marlene, die alle Tage Priigel von 
ibrem Manne befam, twenn er feinen Zorn 
auslafien wollte, oder wie der Lies, die feine 
gute Stunde hatte bei ihrem Mann und immer 
in taufend Ängſten war, bak er zu einer 
andern ſchlich, wie er frither gu ihr geſchlichen 
war? Bue follte fie tun? Sie hatte genug 
gebüßt; wenn eine Buße fein mufte, dann 
wollte fie bie Schande lieber als Buße tragen. 
Sie atmete auf, als fie vor dem wingigen 
Häuschen ftand, in bem fie toohnte. Es war | 
alled ftill, fein quarrended Rindergefdrei gu | 
hören. Der Qunge feblief nod. Sie ſchlüpfle 
in dad Stübchen und ftand vor bem RKorbe, 
in dem er lag. Ihr Herg ging auf. Er 
flict rubig, bas dice Fauftden am Maulden, 
das ſchwarze Schöpfchen geftraubt. Gott fei 
Dank, er glid ihr. Das blonde Haar feines 
Vaters, feine braunen Mugen hatte er nidpt. 
Aber fie hatte oft gebirt, bak die Haare 
augfallen, welde die Rinder mit gur Welt 
bringen und  anbdersfarbige nachwachſen. 
Modten fie bod. Bis dahin war Gras 
iiber alle3 gewadfen, und bis man eine | 
Ahnlichkeit merfen fonnte, fiimmerte ſich | 
niemand mehr um das ,,ledige Rind“. Cie | 
bielten ja mächtig auf Reputation im Dorf, , 








Es war ibr tie ein Wunder, dap | 


Mariann. 


aber fie toiirden fic) aud) daran gewöhnen. 
3a, wenn es ein Mädchen geivefen mare, 
dann hätte fie vielleiht nadgegeben. An 
Madden klebt fo ein Makel fid felt an. 
Aber cin Junge! Pab, er wiirde cin ftrammer, 
pridtiger Burfd) werden, der auf eigenen 


Füßen feft und fider im Leben ftand. 


Das Rind dehnte die Heinen Glieder, 
jtredte fid) und wurde tad. Die Augen 
blingelten mit bem leeren Bli€ gang fleiner 
Kinder, das Mäulchen machte cine faugende 
Bewegung. — Mariann nabm ibn gliidfelig 
aus dem Korbe. 

„Hunger bat der Schelm.” Cie legte ibn 
an die Brujt und fab ibm ftillfelig yu. Sie 
war jest gang reid, gang jufrieden. Sie fpann 
ibre Zukunftspläne weiter. — ,, Arbeiten werd’ 
id) fir did, Tag und Nacht. Die legte 
ſchwere Beit bat freilid viel gefoftet, bas 
Sparkaſſenbuch ijt gang leer. Aber dad frieg 
ih alles wieder, wenn id erft wieder ftarf 
und fréftig bin. Und du ſollſt ein Staatsjunge 
werden. Sie fagen ja, er will Millers Lena 
beiraten, bas piepjige, armfelige Ding. Wer 
weiß, ob er mic nicht mal {pater beneidet um 
did, um meinen Prachtjungen. Wer tweif, 
ob er fic) nicht mal wünſcht, du gehörteſt ihm 
nad allem Redt ju.” 

Sie fühlte orbdentlich, wie fie feft und ftarf 
wurde in dem Gedanlen. Der Weichmut der 
letzten Beit begann von ihr abjufallen. Das 
war ja aud) alles nur die Rranfheit geivefen. 


, Weidmittig tar die Mariann nie, nein iwabr- 


hajtig nidt. Immer ein ftoljes Madden mit 
aufrechtem Ropf und ſchnippiſchem Mundiwerf, 
bas die Burſchen ordentlich abfahren lief. 
Das war freilich nun auch vorbei, fie mufte 
den Ropf gang tief fenfen. Wd twas, fie 
wollte ibn ſchon wieder hoc) beben! Es follte 
ibe einer fommen mit Rebengarten oder 
Sticheleien. 

Wie der Menſch nur ſo weichmütig werden 
kann im Unglück, fo bange und verzagt, fo 
niedergedriidt und zerſchlagen. Co war fie 
geweſen monatelang wie in einem ſchweren 
Traum. Heute nod, — eben nod. Aber 
jest war alles von ihr abgefallen, jegt wollte 
fie wieder die alte Mariann fein. An Arbeit 
würde es ibr nicht feblen, bas wußte fie. 
Erjt wiirden die Weiber hadern und jtideln, — 


Mariann. 601 


bie mupte man nur einmal ordentlich abfertigen, — 
dann würden fie fie dod) wiederbolen zur 
Gartenarbeit und jur Hilfe bei Feftlidfeiten, 
bei Hochjeiten und Taufen. Qa, nur den 
Ropf hod) halten. Ganz bod! 

Es flopfte leife an die Tir. Mariann 
fubr gufammen. Wer fam da gu ihr? Es 
waren wenige gu ibe gefommen in der [epten 
Beit, und fie war ſchreckhaft geworden. Wher 
gleich nahm fie fic) gufammen. Wer fonnte 
ihr was anbaben. Sie rief ein lautes Serein. 

Cine blaffe Frau ſchob fic) burch die Tir. — 
Das war ja die Marlene, cine Rameradin 
Marianns. Die hatte freilich nod zur Zeit 
gebeiratet, das hatte der Herr Paftor fertig 
gebracht. Sie bot baftig guten Abend. Ihre 
Augen gingen auf das Rind. „Was cin 
ſchöner Jung! Co ftarf und fo flanges Haar!” 
Sie feufgte tief und ſchwer auf. Shr eigenes 
Rind war gejtorben fur nad der Geburt, nun 
wartete fie wohl ſchon zwei Sabre auf das 
zweite. — 

Sie ſah Mariann mit unruhigen Blicken 
an. „Sie erzählen, du wollteſt nicht heiraten, 
Mariann. Recht haſt du! Tu's nicht, tu's 
ewig nicht! Denk' an mich, ſieh mich an. 
Alle Tage ſchmeißt er mir's vor, was geweſen 
iſt. Auf jedes Butterbrot ſchmiert er's mir, 
was er ſich mit mir verplempert hat. Immer 
hält er mir vor, daß ich ihm auf den Knien 
dankbar ſein muß. Eine Höll' hab ich auf 
der Welt, eine Höll' ſag ich dir! Trag lieber 
die Schande und bleib für dich! — Ich hab' 
einen Haß auf ibn, — einen Hah — — 
Wenn er im Bett liegt und ſchläft, da möcht 
ich ihn erwürgen mit meinen Händen. Wenn 
fie dir zuſetzen, dann denP an mid, Mariann!“ — 

Sie war zur Tir hinaus, ehe Mariann 
reden lonnte, wie eine Spukgeſtalt in den 
grauenden Abend. 

Und Mariann ſchauderte zuſammen. Sie 
hatte damals all die Liebesſeligkeit zwiſchen 
den zweien geſehen, ein paar Monate lang und 
dann — und dann —! 

Damals hatte freilidy bas ganze Dorf um 
die Liebſchaft der beiden gewuft. — Er hatte 
es ſchlauer angeftellt, — ach, viel ſchlauer! 
Vor ben Leuten hatte er gleidgiiltiq getan, — 
gang gleidgiiltig! Wher wo fie in einem ent- 
Iegenen Garten gu tun hatte ober weit draußen 


auf einem Gemitjeftiid, da war er auf einmal 
aud, gang zufällig gegen Abend, wenn’s ftill 
geworden war, oder in der heißen Mittags- 
ftunde, wenn niemand fonjt draußen war. Und 
wie hatte er ihr's glaublid) gemadt, daß fie 
alles gang ftille balten miifte, bis er langſam 
jeinen Bater herumgebracht habe, weil ſich 
fonjt bie ganze Verwandtſchaft dabinter fteden 
und den Alten aufhetzen würde. — Zumal 
der Müller, deſſen Lena er ja heiraten ſollte, — 
damals ſchon. Und es war ja auch doppelt 
ſchön, all das heimliche Sommerglück, bis der 
Herbſt kam und es nichts mehr draußen zu 
tun gab. Und wie er dann in dunkeln Herbſt⸗ 
abenden, twenn das ganze Dorf ſchon ſchlief, gu 
dem abfeits gelegenen Häuschen fam, da mufte 
fie ibn einlaſſen in ibr Stübchen, damit Feiner 
was merfte. Dann fam er feltener und 
feltener, — und dann fam bie Beit, da fie 
wufte, was fommen mupte, und fie fab ibn 
faum mebr, er ging ihr aus bem Wege. Wher 
einmal hatte fie ibn doch erbajdt auf einem 
einfamen Felbwege, und da, als er twufte, 
was twar, ba war er davongefdliden. — 
Mariann ſchrak gufammen. Collten fie diefe 
Vorſtellungen immer verfolgen, fie fefthalten, 
ſodaß fie nidt davon [08 fam? — Gie 
jprang auf. Das Rind ſchlief feft. Sie nahm 
ihr Stridjeug und febte fic) auf die Bank 
por bem Hiusden. Es war febr ftill, der 
Abend war fdon duniler, das Wafer des 
Rihrenbrunnens plätſcherte leife. Bum erjtenz 
mal 30g wieder etwas wie Friede in ihre auf— 
gewühlte Seele. Cine Heine Geftalt im langen 
Rod fam dburd die finfende Nacht, — cin 
weifer Punft betwegte fic) nebenber. — Der 
Herr Paftor! Cinen Augenblid lang dadjte 
| Mariann an Fludt. Dann aber blieb fie 
| figen. Gie fiiblte fid) gang feft und klar innerlich. 
| Der alte Herr blieb einen Augenblick vor 
| ibe jteben. 

„Mariann, ich will dich gu nichts zwingen, 
| aber ich will fiir dich beten um Erleuchtung. 
Bete aud, wenn du fannjt, Mariann. — Und 
id) denke, du wirſt aud) wieder zur Wrbeit 
kommen ins Pfarrhaus, nicht wahr?“ 

In dieſer Nacht ſchlief Mariann zum erſten— 
mal wieder ſeſt und tief. Und träumte von 
ihrem Jungen, der ſie in einer goldenen Kutſche 
abbolte aus ihrem Häuschen. 








602 


Bier Monate fpater ging Mariann an 
einem Oftoberjonntag mit ibrem Kind langfam 
den ziemlich fteilen Pfad des Burgberges 
hinan, Das war ihr Sonntagsvergniigen bei 
ſchönem Wetter. Cie fag gar yu gern da 
oben unter den Triimmern der Burg zwiſchen 
den madtigen Mauerbroden, die durcheinander 
geworfen in bem einfligen Burghof lagen. 
Es twar fo ftill ba oben. Höchſtens ein paar 
Kinder famen einmal berauf, um Beeren ju 
fuden. Da ftirte fie niemand, frinfte fie 
niemand. Wenn bie Gonne ju heiß wurde, 
ſaß fie im Schatten des halbjerfallenen Turmes, 
ging der Wind, fand fie immer cin geſchütztes 
Plagden. Cs war fdin, da ju figen, auf 
das Dorf unten zu ſchauen, das ſonntäglich 
ftill ba Ing, und aus bem nur mandmal bad 
polternde Rollen der Kugeln von der Kegel= 
babn, bas Krähen eines Habnes, dad dumpfe 
Muben einer Rub hinaufdrang. Die Sonne 
blinfte in den fleinen Dachfenſterſcheiben, der 
Rauch kräuſelte ſich blau in der flaren Herbſt— 
fujt. Der wilbe Wein, der in [angen Ranken 
fiberall loſe berabbing, betwegte ſich fact, | 
wenn fic cin leiſes Lüftchen  aufmadte. 
Gr war fdon gelb und rot und ftad 
ſchön ab von den dunfelgriinen Cfeupolftern, 
die ſich allenthalben iiber die Trimmer 
breiteten. 

Mariann ſaß und ſann. Es war fonderbar, 
welche Gedanlen ihr jetzt famen in ſolchen 
einſamen Ruheſtunden wie dieſe. Niemals 
früher ware fie darauf gekommen. Damals 
war freilich aud) feine Zeit dazu. An Wochen— 
tagen hatte fie ihre Arbeit, und an Sonntagen 
ging fie mit dem ganzen Schwarm ihrer 
Sameradinnen, Das hatte alles aufgebirt, | 
feit baS Rind da war. Mande Demiltigung 
hatte fie dod) erdulden, manche ſchlimme Rede 
hören miifjen. Und mande beimlide Trine 
war fiber bem Lager ded Kindes gefloſſen. 
Aber immer wieder hob fic den Kopf hod. 
Sie fcbaffte fiir zwei, vom grauenden Tag 
big in bie finfende Nacht. Cin paar der | 
PBauerinnen Hatten fie freilid) zuerſt nicht 
wieder in dic Arbeit genommen, — gerade 
die, bei denen folcher Tugendjtol; am iiber- | 
fliffigiten gewefen ware. Wher was tat das. 
Mariann late. Sie hatte Wrbeit mehr als 











Mariann. 


| genug, fie batte fic) teilen miiffen, um alled 


au beforgen. Cold) eine Schafferin gab es 
fo bald nicht wieder, und bas andere war ja 
eine Cade fiir ſich. Ins Pfarrhaus war fie 
aud twieder gebolt worden, und bas war ibr 
freilid) cine grofe Hilfe geworden. Denn ibr 
Verhalten Hatten ihr die einen als Hodmut 
ausgelegt, die anderen als Rarretei und alle 
zuſammen al8 eine arge Unchriſtlichleit. Wher, 
wenn der Herr Paftor felber die Mariann 
wieder bei fic) arbeiten lief, ba fonnten die 
Bauern es ja aud rubig tun, jumal wenn 
es ihr Vorteil war. Nun war nod die 
Müllerin die eingige, die nichts von ibr wifjen 
wollte, Gerade, als ob fie twas ahnte. Und 
bie Lena fah fie aud) immer mit giftigen 
Augen an, Die Heirat war immer nod nidt 
feft beſchloſſen. Der Vater des Chriſtian 
Schlömer war ein zäher Filz, der mit dem 
Miller feilfdte um die Mitgift, um jeden 
Taler, um jedes Hubn, um jedes Stück Möbel. 
Sie haderten und ſchacherten allſonntäglich zu— 
ſammen, und derweil wurde die Lena immer 
magerer und gelber und ſpinöſer. Mochte 
ſie doch! Was lag der Mariann daran! 


Daran nichts und an dem Chriſtian nichts. 


Nein. Es ſollte und durfte ihr nichts daran 
liegen. Cie hatte das Rind, das ihr allein 
gehörte, Das jeden Tag dider und prächtiger 
wurde, bags fie ſchon fannte, [adte und tbr 
entgegenitrampelte. Cold) ein Rind gab es 
ja aud gar nicht mehr, fold einen Bradt: 
jungen! Und vie cin Pring war er gebalten, 
bas hatte fie wahr gemadt. Die Kinderwäſche 
ber Gutéfrau fam zu boben Ehren, und an 
den Sonntagen nähte die Mariann bis tief in 
bie Nacht Hemdden und Jäckchen. Nun follte 
er ſchon bald cin Röckchen fiber bie Widel be— 
fommen. Cie hatte bon ber Krämersfrau ein 
Stück roten Stoff billig befommen, daraus gab 
es cin prächtiges Rleidchen. Cie hatte es 
{fon am vorigen Sonntag jugefdnitten, und 
heute ſaß fie und nähte eifrig und geſchickt, 
wenn aud) die von der ſchweren Arbeit harten 
Winger nidt gerade flint waren. Dabei gingen 
ihr dic Gedanfen fraus durd den Kopf. Wenn 
ber Chriftian und die Lena Hochzeit madten, 
bas gab wohl eine luftige Ehe. Die Lena 


gönnte ja nidt ibver eigenen Mutter cin gutes 
Wort. Und fo cine Vogelſcheuche. — Sie fprang 


Marian. 


603 


auf, redte und dehnte fic). Cie war wieder ungekränkt berum. Nur auf den Madden, da 


voll und blühend geworden, etwas ftarfer und 
frauenbafter, aber wieder die „ſchöne Mariann!“ 
Sie wubte es auch wohl. Seder Blick in den 
Spiegel fagte ihr's, und aud genug andere 
betoundernde Blice. Freilich meinte aud) mand 
ciner ber Burſchen, die Mariann fei jest 
Freiwild und verſuchte fic) heranzupürſchen. 
Aber das focht ſie wenig an. Sie fertigte die 
Frechen kräftig ab, und es kam ihr auch auf 
eine Maulſchelle nicht an. Co hatte fie ſich 
ziemlich ſchnell Ruhe geſchafft. Mit dem 
Chriſtian hatte fie aud ſchon ein paarmal 
geredet. Das ging nicht anders in dem kleinen 
Dorf. Freilich hatte der reiche Bauernſohn 
nicht viel mit der armen Tagelöhnerin gemein, 
aber immerhin waren ſie doch Schullameraden, 
— es wäre gar zu auffällig geweſen, wenn ſie 
ſich gemieden hätten. Er freilich war ihr nach 
Kräften aus dem Wege gegangen, und das 
war auch gut ſo. Sie wollte nichts von ihm, 
er ſollte ihr nur fern bleiben. Ihre Blicke 
gingen über den Burgturm. In deſſen Innern 
war ein grauſiges Verließ, das ſeltſamerweiſe 
ganz wohlerhalten geblieben war. Keine Tür 
führte hinein, nur eine kleine Lule. Da hinein 
hatte vor vielen hundert Jahren ein Ritter ſeine 
untreue Frau eingeſperrt und ſie langſam ver— 
hungern laſſen. Jetzt fpufte fie in ſtürmiſchen 
Nächten in der Ruine umher, rang verzweifelt 
die Hände und ſtöhnte geiſterhaft. Auch in dem 
früheren Kloſter im Dorf war fo ein Gefäng— 
nis, wo auch einmal ein Ritter ſeine Tochter 
wegen einer Liebſchaft hatte einſperren und lang: 
fam zu Tobe bungern laſſen. Die frommen 
Monnen batten bei dieſem gottgefalligen Werk 
geboljen. Conbderbar, daß es immer nur die 
Frauen waren, die beftraft und eingefperrt und 
totgebungert twurden. Bon einem tegen Untreue 
beftraften Mann wußte niemand was, Co viel 
Ruinen und Klöſter es aud in dem cinfamen 
Hodlande gab, und foviel Geſchichten Mariann 
aud) von ibnen wußte, feine handelte davon. 
Höchſtens, wenn die Burgherren in Febde mit= 
einander gericten und fid) befriegten und einer 
den anderen fing, Dann fegte er den für einige 
Beit in fold) cin Rerferlod. Ob eS damals 
feine untreuen Manner gab? Mariann ladte 
bitter. Damals war's ja wohl grade fo wie 
beute, die Männer gingen ftraflos, frei und 








blieb bie Schmach ſitzen. 

Ein leiſes Raſcheln unterbrach ſie in ihrem 
Sinnen. Das Buſchwerk bewegte ſich, eine 
Männergeſtalt zwängte ſich an der Umwallung 
durch — fie ſchrak heftig zuſammen — der 
Chriſtian. Ihr erſter Gedanke war das Kind. 
Sie riß die Schürze ab und warf ſie über es. 
Dann ſah ſie an ihm vorüber. Was hatte er 
hier zu ſuchen. Brachte ihn der Zufall hier 
herauf, fo mochte er weiter gehen, hatte er fie 
aufgefudt, um fo ſchlimmer fiir ibn. 

Gr ftand einen Augenblick verlegen da. 
Dann gab er fics cinen Rud. 

„Tag, Mariann.” 

Sie antiwortete nidhts, er trat ungeduldig 
bon einem Fuß auf den andern. 

„Na, die Zeit fannft mir aud wohl nod 
bieten,” fagte er geärgert. 

Sie bob den Kopf und fab ibn ſcharf an. 
„Ich hab’ feine Urfade, dir die Beit zu bieten.” 

„Hoho! Die Zeit fann man cinem Wild- 
fremben bieten.” 

„Du bift mir fein Wildfrembder, aber aud) 
feiner, bem id bie Beit biet'.“ Sie fagte es 
gang gelaffen und rubig. 

Er madte eine Betvegung. Sie redte fid 
in ibrer ganzen Rraft auf. 

„Geh ein Haus weiter, du haſt did ge: 
Da driiben ift die Mühl'.“ 

Er madte einen Verfucd zu ſcherzen. „Biſt 

wohl eiferſüchtig, Mariann?“ 

Sie ſchüttelte ruhig mit dem Kopf. „Eifer— 
ſüchtig? Auf die Lena! Hab Liebſchaft, mit 


irrt. 


wem du willſt und heirat, wen du willſt. Und 


wenn du hier vor mir lägſt und wäreſt im 
Sterben, und ich könnt dich lebendig machen, 
wenn ich meinen kleinen Finger aufhöbe, ich 
tät's nicht!“ 

Sie hatte leiſe geſprochen mit unbewegter 
Stimme. Debt febte fie ſich, nahm ihre Näherei 
und packte ſie zuſammen mit gleichmäßigen Be— 
wegungen. 

Er ſtand da verlegen, klein. „So einen Haß 
haſt du auf mich, Mariann?“ 

„Auf dich? Einen Haß? Nein! Wenn ich 
einen Haß hab', dann hab ich ihn auf mich 
ſelber.“ Sie war aufgeſtanden und trat ganz 
dicht an ibn heran. „Auf mich ſelber“ wieder— 
holte fie. „Oder id) ſchäm mich vor mir 


604 


ſelber, daß ich ſo dumm war, ſo dumm und 
ſo leichtgläubig, daß ich einem Lügner geglaubt 
hab und einen Lump gern gehabt, daß mein 
Kind einen Vater hat, der ſo ein Lügner iſt 
und ein Lump!“ 

Sie hatte deutlich geſprochen, nicht über— 
ſtürzt, jedes Wort gleichſam auf ihn geſchleudert 
wie einen Pfeil. 

Er war kreidebleich geworden und un— 
willkürlich einen Schritt zurückgewichen. Nun 
ſtand er an der Mauer, die ihn nicht 
weiterließ. 

„Mariann,“ ſtammelte er. 

„Ja, das iſt's,“ ſagte ſie, „das iſt das, was 
mir das Ärgſte iſt. Aber ich werd' auch das 
überſtehen. Ich hab ja das andere auch über— 
ſtanden. Und ich wünſch' dir nicht mal eine 
Straf! Die kommt ſchon von ſelber. — Guck 
ba unten.” Sie wies nad der Mühle. „Da 
iſt deine Straf! Du weißt, es hätt mich nur 
ein Wort gekoſtet, nur zwei Worte, nur deinen 
Namen hätt ich zu ſagen brauchen, dann wär 
ich längſt deine Frau. Aber ich hab's nicht 
gewollt. Ich hab' keinen gewollt, der ſo einer 
iſt, wie du. Ich hab' dich freilich nicht zeitig 
genug kennen gelernt, daß ich meine Ehre ge— 
rettet hätt, aber doch noch zeitig genug, daß 
ich mich nicht hab' an dich anketten laſſen und 
unglücklich machen für mein Leben lang. Und 
darum hab' ich dich nicht gewollt, darum nicht! 
Ich ſorg' für mich ſelber, und ich ſorg' für mein 
Kind. Und mein Kind, das werd' ich auf— 
ziehen, daß es fein Mädchenverführer wird und 
fein Lügner und Lump!” 

„Mariann,“ ev {nirfdte mit den Zähnen, 
mad, dak id) mid nicht vergeß.“ 

Gie fab ibn falt an. ,, Berge? Was twillft 
du benn? Mir was antun? Ich fürcht' mid 
nicht! Go einer wie du, der ift nod viel ju 
feig fiir fo was!” 

Gr ballte wild die Fäuſte. 

Sie bob rubig bas Kind auf und wendete 
fi) gum Geben. 

„Bleib' nocd hier,” fagte fie beifend. „Ver— 
fted’ dich, bap feiner did) ſieht, fonft möcht's 
dod) nod auffommen, und dann gibt der 
Miller ſicherlich ſeinem Schwiegerſohn nidt fo 
bald bie Mühl'.“ 

„Treib's nidt gu arg, Mariann,” ſtieß er 
zwiſchen den Zähnen hervor. ,, Reig mich nicht, 


- N 











Mariann. 


daß ich mid) an bir rid)! Ich fonnt dir genug 
ſchaden im Dorf!” 

„Du mir ſchaden!“ Cie lachte. „Du mir! 
Ich rat’ dir, laß' bie Finger davon. Denn ſonſt 
red’ id) dod) nod! Verſuch's nur, mir einen 
Stein in den Weg gu legen! Ich bab’ ſtill ge- 
ſchwiegen um meinetwillen, nicht um deinet— 
willen. Ich kann auch reden um meinetwillen.“ 

„Satan du!“ knirſchte er. „Der Teufel 
iſt in dich gefahren, Mädchen.“ 

„Wer hat die Schuld,“ fagte fie gelafjen. 
„Nur du und wieder du, du, du.“ 

Sie wendete ſich zum Abſtieg. Aber er 
vertrat ihr den Weg in einer plopliden Ein— 
gebung. „Das Rind”, rief er beifer, „ich will 
bas Rind feben. Ich bab’ cin Recht auf das 
Rind!" 

Sie rig fich blitzſchnell [os und ſtieß ibn 
mit bem freien Urm zurück, daß er faft taumelte. 
Jest war fie aud kreideweiß. „Rühr es nicht 
an”, feuchte fie. ,,Unterfteh’ dich nicht, oder ich 
fpring dir an den Hals. Sieh es nicht an, 
oder id) kratze dir deine falſchen Mugen aus. 
Gin Recht willft bu haben, cin Recht? Wo iſt 
dein Recht? Du haſt ed verleugnet und ver- 
lajjen. Ich bab die Schande um eS getragen 
und die Sdmerjen. Ich nähr' es mit meiner 
Hinde Urbeit. Ich will es fiir mid allein, 
mir gehört's allein, mir! Wirſt ja Kinder mit 
der Lena haben, um die du did fiimmern must. 
Um meines kümmere did) nidt! Das geht did 
nichts an!” 

Sie lief faft ben Berg hinab, trotz der 
Laft des Kindes auf ibrem Arm. Als fie ein 
Stück abwärts war, bielt fie ftille und ſchaute 
um. Gr war ibr nicht nachgekommen. Er 
ftand oben an die Mauer gelehnt, keuchend 
por Zorn und vielleidt aud vor Sham. Da 
miipigte fie ihren Schritt und ftieg langſam 
ben fteilen Bergweg hinunter. Cie atmete 
tie. Ach, wie das gut tat, daß fie ibm einmal 
fagen fonnte, was in ihr war. Das er wußte, 
twas fie von ihm bielt. Sie driidte bas Rind 
feft an fich, wie ſchützend. „Ein Recht will 
er an dic) haben! Meh, er foll nur fommen 
und drauf poden!” — Cie ging den Talweg, 
ber an der Mühle voriiber fiibrte, die in ſonn— 
tiglicder Rube dalag. Das Mühlrad war 
abgeftellt, bas Waſſer ſchoß in braujendem 
Strahl feitwarts. Im Mühlgarten blühten 


Mariam. 


bunt die Georginen, und verſpätete Refeda 
buftete ſtarl. Im Mittelgang ging die Lena 
unrubig auf und ab. Gie war in grofem 
Staat. Auf ihrem blauen Kleide prunfte cin 
weißer Spitenfragen, und fie batte große 
Obrringe in den Obren. Cie twartete wohl 
auf den Chriſtian. Das grelljarbige Rleid 


machte fie nod) gelber ausſehend, und fie ſchien 


Mariann magerer und dürftiger als je. 

Mls fie Mariann erblickte, funfelten ihre 
Augen böſe. Cie drebte fid) auf dem Abſatz 
berum und wendete ihr den Rücken! Dabei 
lachte fie laut und höhniſch. Aber das focht 
Mariann nicht an. Cie redte fid) nur nod 
ftoljer auf und ging voriiber, obne ju cilen. 
Sn dem Augenblid drehte ſich die Lena um. 
Gin boshafter Triumph trat in ihre Wugen. 
„Biſt vielleicht dem Chriftian begegnet,” ricf 
fie ſcharf. 

Mariann ftand ftill. Es wurde ihr Mar, 
daß die Lena etwas wußte und bah fie fic 
jest verbibnen wollte. Sie ftand auf der Hut. 

„Wirſt ja felbft am beften wiſſen, two dein 
Schatz ijt,” fagte fie ſcharf. 

„Hihihi,“ fiderte die Lena. „Wer weiß 
denn immer, wo die Burfden find. Vielleicht 
hat er unterwegs cine gefunden, bie ſchön mit 
ibm tut. Es foll ja folde geben.“ 

Mariann fah fie rubig an. „Haſt wohl 
wenig Gewalt tiber deinen Hodhgeiter,” gab fie 


zurück. 
„Hihihi.“ Die Lena lachte laut. „Grad 
genug, um ibn feſtzuhalten! Das können 


andere freilich nicht! Nachher haben ſie dann 
bas Nachſehen und das ba — — —“ Sie 
zeigte auf das Rind. 

Mariann zuckte die Achſeln. „Sorg' ert, 
daß bu ibn fejthaltft, den deinigen. Und wenn 
bu ibn erjt an der Rette haſt, halt fie ftramm. 
Wirjt nod genug mit deinen eigenen Caden 
gu tun friegen, [af du nur andere Leute in 
Rub !” 

Die Lena fah aus wie eine boshafte gelbe 
Kage. Mariann fühlte cinen Wugenblid lang 
jaft Mitleid mit ibr. 
ber Chriſtian ibr Scag gewefen, dann mufte 
fie ja Hollenpein ausfteben. War's nicht aus 
Liebe, dann aus beleidbigter Hoffabrt. Und 
den Himmel auf der Welt befam die ficherlicd 
nicht. 





Wenn fie abnie, daß 


605 


Mariann ſeufzte. Es ging gar gu verlehrt 
gu auf der Welt. Da oben fab der Chriftian 
jetzt voll Grol und Born, bier unten lief die 
Lena wie eine eingefperrte Wildfage herum, 
und fie felber hatte aud) iby Teil an Kummer 
und Not. Aber ihr diinfte, als fei dads Ihre 
nod) am leichteſten zu tragen. 


4 


In der Mühle war Hochzeit. Der Dorjs 
badofen wurbe drei Tage lang gebeizt; der 
Landfdladter, her von Haus ju Haus ging 
mit feinem blanfen Schlachtmeſſer im Girtel, 
hatte adt Tage gu tun gebabt mit Sclachten 
und Wurfteln. Das ganze Dorf war in Auf— 
regung. So cine „reiche Hochzeit“ war jabre- 
lang nicht dageweſen. Der Miiller hatte nicht 
gegeigt bei der Hochzeit ſeiner Einzigen. Die 
Lena hatte ein Kleid von wirflider blauer 
Seide an, bas von felber geftanden bitte, 
wenn aud ibr ſchmächtiger Körper nicht darin 
ftedte, und einen Rrang von weißen Wachs— 
blumen mit einem echtſilbernen Flitterſträußchen 
auf ber Seite. — Dad fleine Madden, das dem 
Brautpaar vorausfdritt in bie Rirde, trug 
ftatt bed fonft üblichen Taſchentuches fiir den 
Paftor eine fleine Schachtel mit einem blanten 
Zwanzigmarkſtück darin. Es ging fo feierlid 
im Bewußtſein der Wichtigkeit feiner Miffion, 
daß es kaum vom Flede fam. Die künſtlich 
gedrebten Löckchen auf feinem Kopfe bingen 
wie Korkzieher, um fein fteif geſtärktes weißes 
Kleidchen war ein fnallblaueds Band gebunden, 
das in zwei egalen Scblupfen weit abjtand. 
Yon des Bräutigams hohem Sylinderbut flatterte 
ein ganzes Büſchel ſchmaler bunter Bander 
alg Freudenwimpel. Hinter dem Brautpaar 
fam die Müllerin zwiſchen den beiden Vatern. 
Sie hatte ein Kleid von ſchwarzer Seide an, 
bas {nitterte und raufdte. Ein gewirkter 
Schal hing wiirdig darüber, eine fdwarje 
Blondenhaube zwängte ihren Ropf ein. Da— 
nad famen die Ween, die Manner in langen 
feierlichen ſchwarzen Roden und Zylinderhüten, 
die Frauen in ſchwarzen Kaſchmirkleidern, in 
Umſchlagetüchern und weißen und ſchwarzen 
Hauben mit roten Roſen und blauen Blumen 
mit giftig grünen Blättern. Sie gingen 
würdig und wortlos mit ſchweren, ftampfenden 


Schritten, die die Arbeit langer Jahre müde 


606 Mariann, 


gemacht hatte. Dinter ibnen drängte fid das 
Jungvolk, die Madden in blauen und violetten 
RKleidern, das Haar glatt mit Pomade gemadt, 


daß eS glänzte, die Zöpfe um den Kopf gelegt, | 


ein ſchwarzes Sammtband darum gebunbden. 
Sie ſteckten die Köpfe zuſammen, hielten ihre 
großen Gebetbücher, auf denen das geſtärkte 
Taſchentuch lag, ſteif in der Hand und 
tuſchelten eifrig miteinander. Die Burſchen 
hinter ihnen gingen im gleichen Schritt, wie 
ſie's noch von der Militärzeit her übten, mit 
ernſthaften, etwas verlegenen Geſichtern. 
Die belle Januarſonne ſchien auf ben Sug, 
wie er fic) durd) den tiefen Schnee von der 
Mühle aus zur Kirche bewegte. — Es fab 
ſchön und feierlich aus. Alle Glocken läuteten 
wie am Weihnachtsfeſt. Das hatte der Müller 
für ſchweres Geld beſtellt, auch ein feierliches 
Hochamt mit Geſang und Orgelſpiel und 
ſogar mit einem Bläſerchor des Kriegervereins. 
Denn der Chriſtian war ja Soldat und ſogar 
Gardiſt geweſen, und ſie konnten ſich alles 
antun, fie hatten's ja dazu. 

Der alte Schlömer ſchritt mit einem ſauren 
Geſicht neben der aufgeblaſenen Müllerin. Es 
war freilich nicht ſein Geld, das da weg— 
geſchmiſſen wurde. Aber es war der Lena 
ihrs und ſo von Rechts wegen auch ſchon das 
des Chriſtian. Und warum man das ſo in 
die Luft ſchmiß fiir Glockengeläut und Orgel 
und Pofaunengeblafe, das twollte ihm nidt in 
ben Kopf. Verſtohlen ftreifte feine harte Hand 
mit ben langen Rrallenfingern das Reid der 
Miillerin. So eine Verſchwendung. Mindejtens 
einen Taler hatte das die Elle gefoftet. Über 


einen Taler fiir eine Elle Kleiderſtoff ging fein | 


drafter Argwohn nicht hinaus. Dann fab er 
auf die Braut, die dict vor ihm ging. Das 
hatten die Miillersleute nötig, die Lena, die 


Vogelfdeude, fo ju behängen und aufyupugen, | 


alg ob fie dadurch ſchöner geworden wäre. 
Nein, fie war nur cine , Blume im Goldſack“, 
cine febr diirftige, fiimmerliche. Wher fie hatte 


an jedem Finger einen Burſchen haben fonnen, | 


und am Goldfinger gleich nod ein balb 
Dugend ertra. Die Reichſte weit und breit. 
Gin Gli, dah fie fic) gerade auf den Chrijtian 
faprijiert hatte. Und der hatte nidt einmal 
mit beiden Handen zugegriffen. Ach, er wußte 
wohl, was bem im Kopfe geſteckt hatte. Nicht 


re 








umfonft war aud er in jungen Qabren ver— 
botene Schleichwege gepirſcht. Wher er wollte 
nidts twifjen, nein. Waren die Madden fo 
bumm und leichtſinnig, dah fie fic) von einem 
Burden beſchwatzen ließen, dann modten fie 
aud die Folgen tragen. Was ging’s ibn, 
den Wlten an. Nur feinen Jungen, den bielt 
er in eiſerner Sudt, bap er die Dummbeit 
nit gu weit trieb. Gr hatte ibn enterbt, 
feinen ſcheelen Pfennig hatte er von ibm be— 
fommen, wenn er fic nicht feinem Willen 
gebeugt hatte. Und nun war alles in Ordnung. 
Der Alte hatte Angſt gebabt. Wei der 
RKudud, was fo rabiate Weibsvilfer nicht ane 
ftellen. Wber eS war alles glatt gegangen. 
Gr hatte freilich fic fo lange geängſtigt, bis 
bie zwei bom VBiirgermeifter, von Redts- und 
Geſetzeswegen sufammengegeben waren. Irgend⸗ 
wo hatte immer nod die Mariann mit ibrem 
Rind auf dem Arm lauern können. Nun aber 
mochte fie dod) fommen, num gab es fein 
Zurück mebr, fie waren gujammengefiigt fitr 
Leben und Tod. Und die andern waren alle 
neidiſch, bie Burſchen, die die Lena nidt ge— 
friegt batten, und die Madden, die den 
Chrijtian gern gebabt batten. Gr war febr 
gufrieden, ber alte Schlömer, und er wäre 
nod jujriedener getvefen, wenn nidt beim 
Cintritt in die Kirche die Orgel gefpielt hatte. 
Da mußte er an den Taler denfen, den der 
Organift befam und fich wieder drgern. Und 
ber rote Teppid lag auch da, auf dem fonft 
nur an boben Feiertagen der Herr Paftor mit 
bem Weihwedel fdritt. Der Alte tappfte 
fraitig auf mit feinen befdmeiten Ctiefeln. 
€3 war ja bejablt, ba fonnte er aud mal 
auf dem roten Lappen geben, wie fonjt nur 
ber Paftor. Und er beſchloß dod, den Über— 
fluß bes heutigen Tages ju geniehen; wenn 
er ſchon einmal da war, dann wollte er aud 
fo viel wie möglich bavon haben. Er ledte 
fih bie Lippen. Der Miler hatte ihm ftol; 
erzählt, daß er fogar ein Fak Wein babe 
fommen laſſen. Da wollte er fid) den Guten 
antun, 

Nun Eniete bas Brautpaar vor dem Altar 
auf roten. Rijjen. Der Chriftian fab doppelt 
ftattlid) aus neben der dürftigen Braut. Gut 
fo, febr gut. Um fo mebr mute die Lena 
luſchen und fid) Duden und frob fein, daß fie 


Mariann. 
e 


fo einen Pradtferl jum Mann befommen 
hatte. Die Rinder würden ja aud nad) dem 
Chriftian fdlagen, gerade wie ber Chriftian 
nad ihm geartet war, nidt nad feiner Mutter, 
bie aud) fo ein verbubeltes Geſchöpfchen ge— 
wejfen war. Das war nun mal fo in der 
Familie, warum follte es beim Chriftian anders 
fein. Überhaupt, auf die Weiber fam es dod) 
nidt an, nur auf die Manner. 

Die Orgel ſchwieg, der Paftor fprad. Bon 
der Liebe, die nimmer aufhört, von dem Mit— 
einanderaushalten in guten und böſen Tagen, 
pon ber Demut des Weibes vor dem Manne, 
pon der Herrfdaft des Manned über bas Weib. 
— Dazu nidte der alte Schlömer bejabend. 
So war's, fo mufte e8 fein. — — Und dann 
von der Hand Gottes, die twaltet über dem 
Hause des Geredhten und Ungeredten, die die 
Geredten belohnt und den Ungeredhten beftrajt, 
und daß alles Gut der Welt nidts ift, wenn 
nidt der Herr feinen Segen dazu gibt. Der 
Alte lachte in fic hinein, Da hatte der Herr: 
gott viel ju tun, wenn er fitch um alles 
fiimmern follte. Der Himmerte fid) nur um 
bie grofen Untaten. So ums Taglicde, daju 
hatte er feine Zeit. Der Alte hatte fid) einen 
gang befonderen Gott zurecht gemadt in feinem 
ſchlauen Kopfe. Aber jest neigte ex ihn lauſchend 
bor. — est tat der Pfarrer die ſchwere 
Frage an bie verjammelte Gemeinde: „Und fo 
ermabnen wir eud, daß tenn einer von euch 
etwas weiß, was dieſe Che rechtmäßigerweiſe 
vor Gott und den Menſchen hindern könnte, 
er hervortrete und es uns anzeige.“ 

Barmherziger Gott! Daran hatte der Alte 
nicht gedacht! Mit einem Ruck fuhr ſein Kopf 
nach der Seite. Da ſaß drüben im Winfel- 
ftubl bie Mariann, — blab, mit hoderhobenem 
Kopf. — Wenn fie aujfpringe, wenn fie an 
den Wltar rannte, wenn fie ihr , nein” ſchrie! 
Gr fliblte, wie feine Rnic jitterten, wie ihm 
der falte Schweiß ausbrad. Cr fiiblte, wie 
der Bid der Mariann ſich auf ifn hejtete, feft 


und fragend. — Cie machte cine Bewegung. 
— Dest — jest fam es. — — — Nein — 


alles blieb ſtill. Sie fenfte den Ropf ein 
wenig, fie riibrte fic) nidt. Und der Paltor, 
ber nad alter Sitte ben Kopf wie lauſchend 
und erivartend vorgeftredt hatte, hob mit 
rubiger Stimme tvieder an: 


— —— — — — — — 


607 


„Da nun fein Hindernis vorfommt, fo 
frage ich dich, Chriſtian Schlömer, ob es deine 
Meinung und freier, wohlbedachter Wille iſt, 
die bier gegenwärtige Jungfrau Anna Magdalena 
Scherer als dein eheliches Weib anzunehmen, 
und ob du gewillt biſt, ſie zu lieben und zu 
ehren und ihr in allem getreu zu verbleiben, 
bis der Tod euch ſcheidet, wie es ein treuer 
Ehegatte ſeiner Ehegattin nach Gottes Gebot 
ſchuldig iſt?“ 

Der Chriſtian hob mit einem Ruck den 
Kopf. „Ja,“ ſagte er. Es klang rauh und 
ſpröd. 

„Desgleichen frage ich dich Anna Magdalena 
Scherer, ob du den hier gegenwärtigen Chriſtian 
Schlömer zu deinem ehelichen Mann nehmen 
willſt, ihn gleichermaßen lieben und ehren als 
ſein allzeit getreues Eheweib, bis der Tod euch 
ſcheidet?“ 

„Ja“. Die Lena ſprach es mit einer hellen 
Stimme, ſcharf wie ein Meſſer. 

Nun waren ſie Mann und Frau. Die 
Orgel brauſte, der Paſtor ſprach den Segen, 
dann kam das Brautpaar vom Altar herab 
und nahm ſeinen Platz in der vorderen Bank 
ein. Die Lena mit Triumph im Geſicht, der 
Chriſtian fabl und grau ausſehend. Der Alte 
atmete auf. Er konnte ihm das nachfühlen. 
Noch während des feierlichen Hochamts war 
ihm flau und ſchlecht zumute. Und beim 
Umgang zur Opferung um den Altar vergaß 
er faſt, ſich über die harten Taler zu ärgern, 
die da auf dem Opferteller lagen, ſo angeſtrengt 
ſpähte er nach der Mariann. Aber die kniete 
ganz ruhig da, den Kopf auf ihr Gebetbuch 
geſenkt. Und da wurde er auch allmählich 
wieder ruhiger. Da hatte er ſich mal unnötige 
Sorgen gemacht. Das paſſierte ihm ſonſt ſo 
leicht nicht, dazu war er ein viel zu hart— 
geſottener Schlauberger. 

In der Mühle dampften die Braten und 
Schinken, die Berge von Kraut und Reis, die 
Klöße und Nudeln. In allen Stuben waren 
die Tiſche aufgeſchlagen, die immer neu mit 
Speiſen belaſtet wurden. In großen Gläſern 
freijte der Wein. Die Gäſte, die erſt ſtumm 
und anbdadtsvoll bem Geſchäft bes Rauens 
obgelegen batten, wurden larmend lujtig. Cin 
Klarinettift und ein Geiger fpielten unermüdlich 
auf. Uber e8 war yu eng gum Tanz. Die 


608 


jungen Leute wurden unrubig. Mit erbigten 
Gefidtern drangten fie aus den engen qualmigen 
Stuben. Und die Mufif voran, zogen fie nad 
bem grofen Saal beim roten Ochſenwirt. Die 
Wirtin, die felbft mit bei der Hochzeit war, lief 
erſchreckt voraus. 

„Jeſſes, jeſſes! Nu hängt die ganze Wäſch' 
gum Trocknen im Tanzſaal. Und die Groß— 
magd ijt beim gu ibrer franfen Mutter. Und 
mein Mann, der hat aud ſchon einen gebdrigen 
Schwuppdich fiben. Und nun wollen fie Vier 
trinfen und tanjen und bedient fein, Und die 
Alten werden aud gleich nadhfommen. Die 
balten’3 auc) nidt [ang mehr aus und wollen 
felber noch mal einen Kurtrierſchen tanzen. Und 
feiner ba, der mir bebienen hilft. — Die 
Mariann muß berbei!” 

Sie lief, fo flinf es ihre anſehnliche Be- 
bibigteit und das flatternde Kleid erlaubten, 
gu Mariann. Die fag an der Wiege des 
Kindes und firidte bei einem winzig fleinen 
Lämpchen. 

nit, Mariann’, mad fir’, komm mit.” 

Mariann ſchaute erſchrocken auf. 

„Mit — wohin, was iſt denn?“ 

„Ach, die Hochzeitsleute wollen im Saal 
tanzen. Die Magd iſt fort, nur das kleine 
Mädchen da, mein Mann hat ſeinen Teil auch 
weg. Komm ſchnell, ſo wie du biſt.“ 

Mariann fiel das Strickzeug aus der Hand. 
Cie wor dunkelrot vom Bücken, als fie es auf— 
bob. 

„Ich,“ ftammelte fie. 
fann ich nicht!” 

Die Ochfenwirtin ware wohl aufmerkſam 
geworden, wenn nicht die genofjenen guten 
Dinge und die Aufregung ihren Kopf arg 
unflar gemacht bitten. Co aber war fie nur 
ärgerlich. 

„Kannſt nicht? Warum denn nicht? Die 
alte Wöhlern gibt auf das Kind acht. Ich 
hab’ ihr's ſchon geſagt. Mach' nur fir, Du 
wirſt mich doch nicht im Stich laſſen, Mariann, 
bas wär ſchlecht von dir. Du weißt, ich hab’ 
dich auch nicht im Stich gelaſſen.“ 

Das war wahr. Die Ochſenwirtin war 
die erſte geweſen, die Mariann beſucht hatte, 
ihr Wein und Fleiſch aur Starfung gebracht, 
fie wieder zur Arbeit geholt baite. Cie mufte 
bingeben. 


„Ich! — Ree, dad 





nur. 


Mariann. 


Mit zitternden Knien lieſ ſie neben der 
Frau her, die vom hundertſten ins tauſendſte 
ſchwatzte. Von der prachtvollen Hochzeit, vom 
blauen Seidenkleid der Lena, von ihrer ſpitzen 
Naſe und von des Chriſtians Gliid. 

Im Odjen dringte fic) ſchon die balbe 
Hochzeitsgeſellſchaft in der engen Gaftftube, 
Der Odfentwirt torfelte zwiſchen ihnen umber, 
verfdiittete bas Bier und trieb allerband 
Allotria. Ungeduldig verlangten die jungen 
Leute, dak ber Tanjfaal in Ordnung gebradt 
werde. 

Mit wirrem Kopf und unſicheren Händen 
arbeitete Mariann, riß die Wäſche von den 
Leinen, räumte allerhand Gerümpel weg. Cin 
paar ſchon reichlich angeheiterte Burſchen halfen 
und verſuchten zwiſchendurch, mit der Mariann 
zu ſcherzen. Die Petroleumlampen waren nicht 
gefüllt, kein Petroleum im Hauſe, der Krämer 
auch auf der Hochzeit, ſodaß Mariann ſich das 
Ol ſelber ausfüllen mußte. Es war ein heil— 
loſes Durcheinander. 

Endlich war alles ſo weit. Die beiden 
Muſikanten fiedelten und blieſen luſtig drauf 
los, ein Fäßchen Bier wurde aufgelegt; 
Mariann hantierte bei den Gläſern. Ihre 
Backen waren glühend rot vor Erregung. Der 
Ochſenwirt betrachtete ſie wohlgefällig. 

„He,“ rief er plötzlich der Muſik zu, „ein 
Solo für den Wirt.“ 

Alles lachte und ſchrie durcheinander, die 
Tänzer ſtellten ſich zur Seite, erwartungs— 
voll ſchauten ſie zu. Der Ochſenwirt war be— 


kannt als der beſte Tänzer weit und breit. Er 


fonnte nod alle alten Tänze, die nur ſelten 
nod) getangt wurden, er tanjte einen künſt— 
lichen Walser mit links herum und allerband 
Einzelſchwenkungen. „Los,“ ſchrie ex fröhlich, 
„los mit dem Walzer.“ 

Und die Muſik ſetzte ein, der Ochſenwirt 
tat einen raſchen Schritt auf die Mariann zu, 
und ba hatte er fie ſchon im Arme. Er hielt 
fie mit Rieſenkraft feft, fein Webren und 
Sträuben ball. 

Grft war's durch die Mariann gegangen 
wie ein Blitzſchlag. Tanzen auf des Chriftians 
Hochzeit! — Rein, das war ja cine Siinde, — 
cine Schmach und Schande. Uber ihr Sträuben 
und Webren balf hides, der Ochſenwirt lachte 
„Es hilft dir nidits, Mariann! Gegen 





e 


Marian. 609 


mid fommt nid) mal ein ſtörriſcher Bullen 
auf, viel weniger bu.” 

Da gab fie fid) drein. Nun ja, modte es 
denn fein. Etwas wie eine tolle Luft fam 
über fie. Go war's recht! Sie tangte auf des 
Chriftian Hochzeit. Ja dod! Der Chriftian 
heiratete die Miillerlena und ex war ihr bod 
ein rember, wie jeder andere. Und mit dem 
Odfentwirt gu tanzen, war eine Ehre. Er 
war bod angefeben im Dorf, ein reider 
und gefdeiter Mann. — Ja, — fie tangte. 
Mochte aud) gerade das Hochzeitspaar herein: 
fommen. 

Der Odjenwirt merkte, dak fie jest willig 
mit ibm tangte. Cr bielt fie Loder, er ſchwenkte 
linfs berum mit ibr, daß die Ride flogen. 
Hei, wie das ging. — Cin’ — zwei — drei, 
— eins, zwei drei. 

Und bann lief er fie [08 und tangte um 
fie in weitem Bogen herum, wabrend fie fid 
jierlid) im Kreiſe drehte. Eins, zwei, drei, — 
eins, zwei, drei. Und der lahme Geigentoni 
geigte feine allerfdinfte Melodie La lala — — 
lalalalala—lalala—la—la— —Ia—la, — — — 

Die angebeiterte Gefellfdhaft fdrie und 
larmte Beifall. Und der Ochſenwirt warf feine 
Füße immer jierlider und höher, und dann 
fate er wieder die Mariann und tvirbelte fie 
im Kreis umber. 

Wie durd einen feurigen Nebel ſah die 
Mariann, Die Lampen drebten fic) im Kreije 
um fie, bie bunte Rirmesfrone, die nod) an der 
Dede bing, — die Köpfe der Menſchen. — 
Und twie durch einen Nebel fah fie nur nod, 
wie die Tür aufging, und twie ber Cbrijtian 
berbeifam und fteben blieb, wie zu Stein ge: 
worden, und die Lena gelb und ſpitzig unter 
ibrem weißen Brauttrang, und die neugierigen 
Geficdter der Wlten. 

„Hurra! Tufd fiir das Ehepaar!” ſchrie 
der Ochſenwirt. Cr wirbelte feine Tänzerin 
in die Ede, wo das Bierfaß ſtand und feste 
fie fadt auf einen Stuhl. „Gottsdonner, 
Mariann! Du bift dod) nod) immer die befte 
Tänzerin!“ — — Und dann fcdbmetterte die 
Muſik einen Tuſch, und das gab cin allge- 
meines Hurra und Hod, während defjen 
Mariann ſich berausftabl. — Faſt taumelnd 
ftand fie bei der Ochſenwirtin in der Vorrats: 


faminer, wo diefe fiihen Schnaps bervorbolte. | das Gefcbirr geſpült werden. 





„Aus Rand und Band iff der Mann,” 
lachte fie gutmiitig. 

„Heim mug id,” ſtieß Mariann bervor. 

„Heim? Aber jebt gebt erft der Trubel 
edt an! Und nad dem Wbendeffen fommen 
fie twieder. Was foll id) denn obne did an— 
fangen, Mariann. Und hab’ nicht mal recht 
einen, der mir zur Hand gebt.” 

Es half nichts, Mariann mufte bleiben. 
Sie zapfte bas Bier und reidte es den über— 
luftigen Hochzeitsgäſten. Sie fab, wie der 
Sbrijtian blak und finfter neben ſeiner jungen 
Brau fag, die fid) zärtlich an ihn drückte. 

Jetzt gehörte er ihr ja, jest hatte fie vor 
Gott und Menfdien das Recht dazu. 

Als die ganze tiberluftige Geſellſchaft zum 
Abendeſſen gegangen war, lief Mariann heim, 
um ihr Kind zu ſtillen. Die alte Wöhlern 
hatte es gut verſorgt. Es ſaß auf ihrem Schoß 
und krähte luſtig ſeiner Mutter entgegen. Sie 
ſpähte ängſtlich in dem weichen unentwickelten 
Geſichtchen. Noch war da kein Zug von ſeinem 
Vater, den ſie heute für ewig verlor. 

Ein ſtechender Schmerz ging durch ihr 
Herz. — Was war das denn. Das war ja 
gar nicht möglich, daß ſie den Lump noch lieb 
haben konnte, — ihm noch nachweinen. Nein, 
ſie war nur aufgeregt, nur toll von all dem 
Hin und Her, von dem Anſehenmüſſen der 
Hochzeit. Längſt hatte ſie ſich die Liebe zu ihm 
mit Stumpf und Stiel aus ihrem Herzen aus— 
geriſſen. Kein Fäſerchen davon war zurück— 
geblieben. Kein winzigſtes. Und doch! 

Sie fiel auf einen Stuhl und brach in 
heiße bittere Tränen aus. Cie brannten ihr 
in den Augen, ſie verſengten ſie faſt. Die 
ſtarke Mariann ſaß ba, ganz ſchwach, ganz 
zerbrochen. 

Nicht lange dauerte es freilich. Dann 
raffte ſie ſich mit Gewalt zuſammen und kühlte 
ſich die Augen. Wenn ſie ſchon elend war, 
brauchte es wenigſtens keiner zu ſehen! Und 
ſie war nicht elend, ſie hatte ja das Kind! 

Sie küßte den Kleinen ſo heftig, daß er 
ſchrie. Wenn ſie nur bei ihm hätte bleiben 
können. Es ekelte ſie, noch einmal nach dem 
Wirtshaus zu gehen. 

Aber es half nichts. 
ſputen. 


Sie mußte ſich 

Der Saal mußte wieder aufgeräumt, 

Sie hatte alle 
39 





2 — A 
* 7 
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J 
⸗ rf 


610 Mariann. 


Hände voll gu tun. Als die Hochzeitsgeſellſchaft 
wieder fam, alle gliihend, iiberluftig, wein— 
und larmfelig, war fie wieder auf ihrem Poften. 

Sie fah mit feltjamen Bliden in dad 
Gewühl hinein. Da hätte fie nun fiben 
finnen, ftatt der Lena. Freilich, ein blaufeidenes 
Reid hätte fie nicht angehabt, und das halbe 
Dorf hatte wohl aud) nicht auf ihrer Hochzeit 
getanzt. Wher fie hatte bod) anders aus: 
gefeben, als die blajje Braut, die jet mit 
den unnatiirlid) roten Baden eigentlid) nod 
ſchmaler und fiimmerlider ausſah. Der junge 
Chemann mufte das wohl auch finden. Finfter 
faute er an feinem Gdynurrbart, dann tranf 
er wieder hajtig fein Glad leer. Seine Augen 
waren {don etwas ftarr, und feine Zunge ging: 
ſchwer. 

Sie ging hinaus in den Hof, um Waſſer 
vom Schöpfbrunnen zu holen. Eine kleine 
Ollampe brannte neben dem hölzernen Pumpen⸗ 
ſchwengel, er kreiſchte laut beim Auf- und Ab— 
ziehen. 

Plötzlich fühlte Mariann ihre Hand wie 
mit eiſernen Klammern feſtgehalten. Sie fuhr 
aufſchreiend herum — der Chriſtian war's. 

„Laß mich los, ſonſt ſchrei ich's Haus zu— 
ſammen.“ 

„Schweig' ſtill,“ herrſchte er. Sie ſah bei 
dem rötlich trüben Licht ſeine blutunterlaufenen 
Augen. 

„Laß mich los, ich ſchrei.“ 

Er ließ ſie los, aber er drängte ſie dicht 
an den Brunnen. 

„Mariann, warum biſt du hergekommen! 
Willſt mich verhöhnen und verſpotten, du?“ 

Sie ſah hocherſtaunt zu ihm auf. „Dich 
verhöhnen und verſpotten? Warum? Weil du 
die reichſte Frau im Dorf bekommſt? Weil du 
alles haſt, was du dir gewünſcht haſt? Wie 
käm' ich denn dazu?“ 

Finſter ſah er ſie an. „Ach, ſtell dich 
nicht ſo heilig. Ich hab's wohl geſehen, wie 
du ſie angeſchaut haſt. Schön iſt ſie ja nicht, 
nein. Aber was hab' ich denn machen können. 
Der Alte hat's ja nicht anders getan. Iſt 
mir ſauer genug geworden.“ 

Seine unſtäten Augen gingen über ſie hin. 
Er faßte ſie nach ihrem Arm. „Dir kann ſie 
freilich nicht's Waſſer reichen“ murmelte er. 
„Aber was ſollt ich machen! Mein Vater 


hätt's nie und nimmer gelitten, Mariann! Ich 
hab' nicht recht an dir gehandelt, ich weiß es 
gut genug! Und das bohrt auch an mir und 
frißt an mir! — — Aber Mariann, — du 
haſt mich einen Lump und einen Lügner 
— — geheißen. Das, — das iſt zu hart! 
— Nimm das zurück, Mariann. — Ich will 
ſorgen für dich, — für dich und das Kind. — 
Aber den Lump und Lügner laß nicht auf mir 
ſitzen, — Mariann!“ 

Sie ſah ihn an. 

„Aha! Regt ſich's Gewiſſen? Oder iſt's dir 
ein arger Gedanke, daß du vor mir als Lump und 
Lügner giltſt? Möcht'ſt gern von dem Gedanken 
los ſein! Möcht'ſt nicht, daß es eine gibt, die 
fo von dir denft? Meinſt, mit deinem Geld 
finnteft du dir Rub und Frieden faufen? Aber 
ich nehm’s nicht bon dir! Geh du vor aller 
Welt als der reidhe Mann der Miillerlena 
berum, und id als ein Madden mit einem 
vaterlofen Kinde! Du weißt's dod) befjer, dab 
du nidt der Ehrenmann bift und id nidt die, 
auf die man runterfeben darf! Gar nidts nebm’ 
id von dir! Wiles folljt du tragen! Und aud 
nod das, dah ich weiß, daß du der Gar nidts 
bift, der Hannebambel, der Urmfelige, der um's 
liebe Geld fein Mädel figen läßt, aus Angft, 
dah fein Vater ibn enterbt. — — Was war's 
denn getwefen, wenn er dir die paar Grofden 
vertragen batt’! Haft du nicht ein paar gejunde 
Hand’, die arbeiten können? Hatt’s nicht ge- 
langt fiir uns drei?” 

Sie ridtete fic) hod) auf. Sie war faft 
jo groß als ber Mann. Cie redte ibre 
Arme aus und zeigte ibre Hände. 

„Ich braud’ nicht mal jemand, der mid 
ernährt. Und id fürcht' mid nidt vor der 
Urbeit. Ich verdien’ genug fiir mid und 
das Kind! Ich brauch' fein Geld und Gut, 
id hab’ nicht nötig, auf andere zu [auern und 
mid) nad ihrem Willen gu kuſchen. Ich {pei 
auf dein Geld und id) veracht' did) bis in ben 
Erdboden hinein.“ 

Sie nahm die gefüllten Eimer und ging 
ins Haus. Und er ging auch. 

Drinnen waren die Lampen in einen röt— 
liden grauen Dunft gehüllt. Es rod nad 
Tabak und Bier, nad Staub und Schweiß. 
Stampfend drehten fic) die Paare im Kreis. 
Der wildefte war der junge Ehemann. Er 


Das Gemeindcivablredt der Frau. 611 


tanjte immergu, immerzu. Langit ſaßen die 


Alten ftumpf, balb fdlafend oder verivorrenes | 
Die junge | 
/ und bie jungen Parden ſchälernd ſich auf 


Zeug ſchwatzend in den Eden. 
rau fab verdroffen in ben Wirbel. Es 
pate fid), bak bas Ebepaar gegen zehn Ubr 
beimging. Und es war unerbirt, dak es 
zwei, drei Ubr wurde, während nod) immer 
der Ghriftian fid) im reife fdwang, uner— 





müdlich, immer weiter. Cie lehnte balb 
ſchlafend in cinem Winkel. Wher erjt, als alle 
nicht mehr fonnten, als die Lichter ausgingen 


den Heimweg madten, ba ging aud dads 
junge Ehepaar nad Haufe. Und es twar 
nod lange ein Gerede und Gemunkel dariiber 
im ganzen Dorf. 


Ieee 


Oas Gemeindewahlirecht Ser Brau. 


Dr Clifabeth Gottheiner. 


— — 


Nachdruck verboten. 


er die Geſchichte der letzten zwei Jahrtauſende überblickt, dem offenbart ſie 
ſich als eine fortdauernde Erweiterung der Rechte der Perſönlichkeit an der 
Mitbeſtimmung und Mitwirkung im Gemeinſchaftsleben. Der moderne Staat insbe— 
ſondere zeigt eine Entwicklung zur fortſchreitenden Ausdehnung des Wahlrechts, und 
ſeitdem er über die Ständeverfaſſungen hinauskam, iſt eine Tendenz zum allgemeinen 
Wahlrecht deutlich erkennbar. 

Man hat verſucht, das Wahlrecht aus den verſchiedenſten Gründen abzuleiten. 
Nach dem einen iſt es ein aus der menſchlichen Natur fließendes allgemeines Recht, 
das jedem Menſchen zuſtehen muß, nach dem anderen nichts, als eine öffentliche 
Funktion, die der Bürger im Intereſſe des Staates auszuüben hat, und die einen 
Pflichtcharakter trägt. 

Würde der naturrechtliche Gedanke vom Staate auf das abſtrakte Individuum 
folgerichtig übertragen, ſo müßte er ſchließlich zu einer völligen Gleichſtellung der Frauen 
mit den Männern, zu der Nberjeugung, von der abſoluten politiſchen Gleichwertigkeit 
der Individuen gelangen. Die naturrechtlide Anſchauung vom angeborenen Menfden- 
recht, mithin vom felbftverftindlidjen Rechte cines jeden Menſchen, zu wählen, fann 
aber heute trog der entſchiedenen Tendenz yur Verallgemeinerung des Wabhlrechts als 
ziemlich überwunden gelten. Cine ticfere Überlegung zeigt uns die Richtigfeit der 
u. a. von Bluntidli vertretenen Anjidt, daf das Stimmredt nicht als Ausflug des 
Naturrechts gelten, fondern erft der Staatsbiirger ein politiſches Wahlrecht be: 
fisen fann, und dag diejer unter einem befonderen Staatsrecht fteben mup, auf das 
Gründe der Zeit- und Zwedgemapbeit von Einfluß find. Die gleiche Auffaſſung ver- 
tritt Georg Mever') wenn er fagt: 

„Wie alle Rechte, fo ift auch die Befugnis zu wählen, Ausfluß der ftaatlichen 
Rechtsordnung. Die Gejeggebung des States befindet ſich daher in der Lage, das 








') , Das parlamentarife Wahlrecht“. Berlin 1901. S. 412. 


89* 


612 Das Gemeindewahlrecht ber Frau. 


Wabhlrecht nach ihrem Ermeſſen zu regeln. Cie ijt nicht verpflidtet, dasſelbe allen 
Staatsangehörigen 3u verleihen. Dies wiirde auch unmöglich fein, denn Kinder und 
Geiftestrante müßten doch jedenfalls ausgefeblofjen werden. Bei der Ordnung des 
Wahlrechts ijt vielmebr lediglich das Staatswohl als mafgebend zu erachten. Die 
Gefeggebung fann daber priifen, welche Klaſſen der Bevdlferung zur Ausübung des 
Stimmrechts befabigt find. Und fie wiirde pflichtwidrig handeln, wenn fie die Befugnis 
ju wählen, foldien Perfonen cinraumte, von denen yu befürchten ware, dak fie won 
derfelben einen dem Staat gefaibrliden oder dem allgemeinen Woble nadsteiligen Ge- 
brauch machten. Die Frage, welches Wablrecht in einem Staate beftehen foll, ift daber 
nicht von vorgefaften pringipiellen Gefichtapunften aus, fondern lediglich nach politi- 
{hen Zweckmäßigkeitserwägungen zu entſcheiden.“ 

Es wird zugegeben werden müſſen, daß man dieſe Ausführungen Wort für Wort 
anerkennen kann, ohne damit zu einem Ausſchluß der Frauen von allen politiſchen 
Rechten zu gelangen. Nur Böswillige können ohne weiteres vorausſetzen, daß die 
Frauen von ihrer Wahlbefugnis „einen dem Staat gefährlichen oder dem allgemeinen 
Wohle nachteiligen Gebrauch“ machen würden. Trotzdem gehören ſie in den meiſten 
Staaten noch zu den vier Klaſſen von Perſönlichkeiten, die das herrſchende Staatsrecht 
von der Teilnahme am Wahlrecht ausſchließt. Dieſe ſind: 1. Perſonen, die nicht 
handlungsfähig ſind; 2. Perſonen, welche die bürgerlichen Ehrenrechte nicht beſitzen; 
3. Fallite und öffentlich Unterſtützte; 4. das weibliche Geſchlecht. Bei den erſten drei 
Klaſſen liegen die Zweckmäßigkeitsgründe ihrer Ausſchließung klar zu Tage, die 
Beſchränkung der politiſchen Rechte der Frau aber läßt ſich nicht ſo ſelbſtverſtändlich 
mit Zweckmäßigkeitsurſachen begründen. Sie beruht vielmehr auf der hiſtoriſchen 
Entwicklung, auf einem durch die Jahrtauſende alte männliche Kultur der Menſchheit 
tief einwurzelnden Vorurteil, welches ſchließlich das „mulier taceat in eécclesia“ als 
das einzig Natürliche und daher Zweckmäßige erſcheinen ließ. 

Mit dem Erwachen des weiblichen Geſchlechts aus feinem langen Dornröschen— 
ſchlaf kam ihm aber das Unwürdige dieſer Stellung mehr und mehr zum Bewußtſein. 
Es erkannte die Sinnloſigkeit der Tatſache, daß eine Frau im Handel und Gewerbe 
dem Manne gleich geſtellt iſt, daß ſie ſelbſt Monarchin werden kann, aber daß man 
ihr nicht geſtattet, durch ihre Stimme ihr Intereſſe zu vertreten. 

Iſt dies ſchon im Staate unberechtigt, wo das Wahlrecht in der Regel einen 
rein politiſchen Charakter trägt, ſo erſcheint es noch viel weniger zu rechtfertigen, daß 
der Anteil der Frau am öffentlichen Leben ihrer engeren Heimat, der Gemeinde, in der 
privatwirtſchaftliche Intereſſen weit mehr in den Vordergrund treten, als im Staate, 
ein fo geringer ijt. Trägt dod) das Gemeindewahlrecht in den meiſten Kulturſtaaten 
einen plutokratiſchen Charakter. Grundlage der Teilnahme an der örtlichen Selbſt— 
verwaltung im allgemeinen, der kommunalen Wahlberechtigung im beſonderen ijt faſt 
überall urſprünglich der Grund und Boden, ſpäter häufig das Eigentum überhaupt. Bei 
einer objektiven Durchführung dieſes Prinzips müßte daher die Perſon, und mithin 
auch die Unterſcheidung der Geſchlechter, vollkommen zurücktreten. Nun zeigt es ſich 
aber ſeltſamer Weiſe, daß nicht nur in denjenigen Gemeinden, in denen der Beſitz des 
Gemeindebürgerrechts die Wahlberechtigung mit ſich bringt, die Frauen in der 
Regel vom Wahlrecht ausgeſchloſſen ſind, ſondern daß auch da, wo das Eigentum 
entſcheidet, das Wahlrecht der Frauen häufig verkümmert iſt. 

* * 


J 


Das Gemeindewabhlredht der Frau. 613 


Lafjen wir, um einen klareren Aberblid zu gewinnen, einmal in Kürze die ein- 
ſchlagigen Verhältniſſe in den Haupthulturjtaaten an uns voriiberziehen. In der 
Hoffnung, wenigitens irgendivo ciner frauenfreundlichen Geſetzgebung zu begegnen, richten 
ſich unſere Augen naturgemäß zunächſt auf die angelſächſiſche Ländergruppe, und 
zwar in erſter Linie auf das Mutterland, Großbritannien. Hier iſt allerdings die 
lokale Verwaltung ſo komplizierter Natur, daß wir uns nicht gar zu kurz faſſen dürfen, 
wenn wir darin eindringen wollen. Träger der engliſchen Selbſtverwaltung ſind: 


1. die Kirchſpielverſammlung und der Kirchſpielrat (parish meeting) und 
(parish council) 

. dev Bezirksrat (district council) 

. der Urmenrat (board of guardians) 

. die Schulfommiffion (school board) 

5. der Gemeinderat (borough council) 

6. dev Grafſchaftsrat (county council). 


Die Aufgaben des von der ländlichen Kirchſpielverſammlung gewählten 
Kirchſpielsrats find febr eng begrenzte. Cie beftehen hauptfachlich in der Veriwaltung 
der Hffentlichen Wegqe, des Beleudstungswefens, der Wafferzufubr ujw. Die gleicen 
Pflichten mir fiir ein weiteres Gebict liegen dem über mehrere Kirchſpiele eingefesten 
Bezirksrat ob, der ſowohl Lindlich als ſtädtiſch ſein fann, und deffen hauptſächliche 
Aufgabe die Verwaltung des öffentlichen Gefundheitswefens ijt. Der Armenrat, der 
die lokale Armenpflege auszuüben hat, fallt auf dem Lande mit dem Besirfsrat 
zuſammen und beftebt in der Stadt aus cinem Ausſchuß desfelben. Der Schul— 
fommiffion liegt die Verwaltung des Elementarſchulweſens ob. Die Gemeinderite, 
die nur in fogenannten Munizipalftddten gebildet werden diirfen, üben die Rontrolle 
über die Geſundsheits- und ſonſtige Poliset anus. Die Befugniffe der Grafſchaftsräte 
endlich, in denen die gefamte Lofalveriwaltung gipfelt, find ſehr umfaffend. Es würde 
yu weit führen, fie bier alle zu nennen. 

Was nun die Stellung der Frau in den genannten Körperſchaften anbetrifft, fo 
ift fie in den niedrigeren, d. h. in den Kirchſpiels-, Besirf3- und Armenraten, ſowohl 
al in den Schulfommiffionen der des Mannes durchaus entfpredend. Die Frau ijt 
ftimmberedbtigt, wenn fie dic Bedingungen erfiillt, die cinem Manne das Stimmredt 
fichern, wenn fie nämlich zu den Gemeindefteuern beitragt; fie ift aber auch berechtigt 
gewählt zu werden und fann fogar den Vorſitz führen. Zwiſchen verbeirateten und 
unverbeirateten Fraucn wird fein Unterfdied gemacht. An den Gemeinde: und Graf— 
ſchaftsräten dagegen haben nur unverbeiratete Frauen und diefe wiederum nur das 
aftive nicht aber dad paffive Wablredst. ') 

In den englifden Kolonien bat man die Frage des Gemeindewabhlrechts 
der Frau in demfelben Cinne entfchieden, wie im WMutterlande. Im grofen und 
ganzen gilt der Grundjag, dah, wer Gemeindejteuern entridjtet, aud wablberechtigt 
ift, In Canada befteben allerdings in den verfchiedenen Cinjelftaaten verſchiedene 
Beftimmungen. So ſchließen eingelne die verheiratete Frau aus, andere lafjen fie gu, 
und das franzöſiſch fprechendDe Quebec fennt, charafterijtifder Weife, überhaupt 


we oo to 


) In lester Beit waltet leider vielfad bie Tendeng vor, in Stadten, welche cinen Gemeinderat be: 
figen, ben Armenrat und die Schulkommiſſion diefem einzuverleiben. Dadurch haben in den letzten zwei 
Jahren 181 Frauen das paſſive Wablredt, das fie bereits beſaßen, wieder verloren. 


64 Das Gemeindewahlrecht der Frau. 


fein Frauenltimmredt. Wuftralien, NeusSeeland und Tasmanien febliefen 
fics eng an dad engliſche Vorbild an, gewabren aber gum teil der Frau weiter— 
gebende Rechte. 

Die Vereinigten Staaten von Nordamerifa, wo das Gemeindeftimmredt 
fajt nirgends an einen Cenfus getniipft ift, fondern ganz auf derfelben Grundlage ſteht, 
wie das politifdre Wablrecht, zeigen eine wahre Mufterfarte  verfchiedenartiger 
Einrichtungen. In den vier Staaten, in denen die Frauen das politifde Wahlrecht 
erkimpft baben, (Wyoming, Utah, Colorado und Idaho) ift ibnen aud) von felbft 
das Gemeindewabhlrecht zugefallen. Jn einem Staate (Kanſas) befigen fie dad aftive 
und paffive Gemeindewabhlrecht, in verfdiedenen anderen dad Recht, in Stenerfragen 
mitzjuftimmen und in 23 Staaten das Recht der Teilnahme an der Elementarſchul— 
verwaltung. Tber die Hälfte der amerifanifchen Staaten gewährt feinen weibliden 
Biirgern aljo in ciner oder der anderen Art das Stimmredt. Die fleinere Halfte 
feblieBt die Frau nod gänzlich aus. 

Von den flandinavifden Landern ijt Schiveden dasjenige, das den Frauen 
zuerſt das Gemeindewablrecht gewabrte, und gwar bereits durch Gefeg von 1862. 
Altem Brauche folgend, berubt das Stimmrecht bier auf Cigentum, und fo wurde ¢3 
aud) den felbjtindigen fteuerjablenden Frauen ju teil. Dagegen befigen fie das 
paſſive Wahlrecht nidt. Da fic in Schweden die Sahl der Stimmen nad dem 
Reichtum richten, fo fann es, befonders in Landgemeinden, vorfommen, dah die 
Halfte aller Stimmen fic) in der Hand eines einzigen befindet. Aft died zufälliger— 
weife eine Frau, fo wird ihre Meinung in den meiſten Gemeindeangelegenbeiten 
ausfdlaggebend fein. Die große Mehrzahl der ſchwediſchen Frauen, infonderbeit fajt alle 
Verbheirateten, find allerdings nicht felbftindige Steuerzahler und daber nicht wahlbe— 
rechtigt. Nur etwa der jehnte Teil aller Stimmberedhtigten find Frauen; während 
dieſe aber frither von ihrem Wablrecht faft gar feinen Gebrauch machten, waren im 
Jahre 1903 bereits 10 Prozent der Gemeindewabhler weiblichen Gefchlechts, d. h. die 
Frauen nugten ihr Wahlrecht in der gleichen Weife aus wie die Manner. 

Sn Finland, das fic) in feiner Gefeggebung nocd immer nach feinem ehemaligen 
Mutterlande richtet, gelten fajt die gleichen Beftimmungen. 1865 erbielten die Frauen 
das aftive fommunale Wahlrecht, 1900 aber auch dads paffive, das die Schwedinnen 
nicht befipen. Seit 1869 haben fie ſchon das Stimmrecht bei der Priefter: und 
Kirchenratswahl und feit 1889 bezw. 1893 das aftive und paſſive Wablrecht in der 
Armenverivaltung und im Sdhulrat. 

Ebenſo weit vorgefdhritten ijt heute Norwegen, wo die Frauen allerdings erſt 
jeit 1901 an der Lofalverwaltung teilnebmen. Bis dabin beſaßen fie nur fiir die 
Schulräte aftives und paſſives Wahlrecht. Nad) dem Geſetz von 1901 erbielten fie 
aber aud) das fommunale Wabhlredt in Stadt- und Landgemeinden. Bedingungen 
dafiir find: Zurücklegnng ded 25. Lebensjahres, fiinfjabriger Aufenthalt im Lande, 
Leiftung eines gewiffen Steuerfages oder Vermigensgemeinfcaft mit einem Gatten, 
ber cine Steuer in der Hobe dieſes Betrages zahlt. Sind die Norivegerinnen erft 
40 Sabre ſpäter als die Schwedinnen hierzu gelangt, fo find ibre Rechte dafür gleich 
febr viel weiterqebend. Sie befigen neben dem Stimmrecht die Wablbefabigung und 
find gleich bet der erjten Wahl, an der fie beteiligt waren, in grofer Bahl in dic 
Gemeindevertretungen gelangt. So ſitzen 3. B. in Kriſtianſand 7 Frauen in der 
Stadtverordnetenverfammlung, 


— * 





Das Gemeindewahlrecht ber Frau. 615 


Sn Dänemark, das im Gegenfag ju feiner Beſitzung Island, wo felbftindige 
Frauen feit 1882 das kommunale Wablrecht ausiiben, feine Biirgerinnen bis heute 
von der örtlichen Selbjiverwaltung gänzlich ausſchließt, liegt augenblidlic cin Entwurf 
zur Reform des fommunalen Wahlrechts vor. Nach der neuen BVorlage foll das 
kommunale Wahlrecht allen Steuerpflictigen und deren Chefrauen jufallen, ganz 
qleidigiiltig, ob fie an dem Erwerb fiir die Familie tätig beteiligt find oder nicht. 


. Sn diejer Form ift dev Gefesesentwurf am 14. Dezember 1903 vom Folkething 


endgültig befcloffen worden. Nun harrt die wichtige demofratifche Reform der Ent- 
ſcheidung des fonfervativen Landsthing, das den Entwurf aber nach der siveiten 
Yefung am 14. Januar 1904 an eine Kommiffion überwies. Was dort fein Geſchick 
jein wird, ift nicht abgufeben. In fiberalen däniſchen Kreifen fürchtet man jedenfalls, 
daß er fürs erfte nicht wieder auferfteben, vermutlich wohl gar fein Ende dort 
finden wird, 

In unſerem Nachbarlande Ojterreich find die Frauen kaum beſſer geftellt. 
Vom Gemeindewabhlreddt in den Stidten find fie gänzlich ausgeſchloſſen und auch in 
den Landgemeinden, wo fie zugelaſſen find, fofern fie von Grundbeſitz oder gewerblicen 
Unternehinungen Steuern zahlen oder zu den fogenannten Intelligenzwählern gehören, 
dD. b. auf Grund ibres höheren Bildungsgrades die Wabhlberedtiqung haben, müſſen 
ſich verbeiratete Frauen durch ibve Ehemänner, unverheirate durch VBevollmiachtigte 
und minderjabrige Madchen durch ibren Vormund vertreten laſſen. Jn Nieder- 
Ofterreich find den Frauen aber feit dieſem Jahre durch die neue Gemeindewabl- 
ordnung aud) Ddiefe geringen Rechte faft alle wieder genommen worden und nur den 
unverbeirateten Grundbefigerinnen dad Wahlrecht gelaffen. Qn Ungarn waren die 
Frauen bis 1900 an der drtlichen Selbjtverwwaltung gar nicht beteiligt. An dem 
genannten Sabre aber verlieh das Budapefter Gemeindegefes den felbftandigen, nicht 
yon einem Chegatten abhängigen Frauen wenigſtens das aftive Wahlrecht. 

Rußland iff von feinem aus uralten Zeiten ftammenden Gewohnheitsrecht allen 
Mitgliedern der Dorfgemeinfchaft, des fogenannten ,,Mir', Sis und Stimme in der 
Gemeindeverfammlung zu gewähren, auch heute nocd nicht abgewichen. Der einjige 
Unterfdied ijt der, Dah wabrend früher alle Intereſſenten fich beteiligen durften, heute 
die Mitgliedfchaft auf die biuerlichen Hausvater beſchränkt ijt, Dieſe find aber be- 
rechtigt, yu ihrer Vertretung irgend cin Familienmitglied, in der Regel ibre Chefrau, 
in die Verſammlung zu entfenden, was bejonders in Gegenden, wo die Männer 
oft monatelang auswarts auf Arbeit find, häufig geſchieht. Trager der Selbſtver— 
waltung aller nicht jum Bauernfiande gehörigen Landbewohner ijt die Kreisland— 
ſchaftsverſammlung. Bu diejer haben anc qrundfteuerpflichtige Frauen das Wahl— 
recht, dad fie allerdings nicht in ecigener Perfon, ſondern durd einen ſelbſtgewählten 
Bevollmachtiqten aus ihrer cigenen Verwandtidaft — nicht notwendiger Weife dure) 
den Gatten — ausiiben. Das qleice gilt fiir den ſtädtiſchen Gemeinderat. Adlige 
Grundbeſitzerinnen können das an den Grundbefig geknüpfte Wablrecht zur Standes- 
verſammlung ebenfalls einem männlichen Verwandten tibertragen. 

Im Gegenſatz zu den germaniſchen und ſlaviſchen Ländern iſt die Frau in den 
lateiniſchen Ländern vom Gemeindewahlrecht ausnahmslos gänzlich ausgeſchloſſen. 
Als Grund hierfür iſt anzuſehen, daß das Wahlrecht bier nicht abhängig iſt von Grund— 
beſitz oder Steuerleiſtung, ſondern von dem Beſitz der politiſchen Bürgerrechte, an 
denen die Frauen der alten Welt ja noch nirgends eine Anteil haben. 


616 Das Gemeindewablreddt oer Frau. 


Sn Frankreich war es die Revolution, welche den lesten Reſt der kommunglen 
Unabhängigkeit der Dorigemeinfebatten, und mit iby die Teilnabme der Frauen an der 
Selbjtverwaltung zerſtörte, indem jie allen Bürgern in Stadt und Land die gleichen 
politiſchen Rechte verlieh, trog alledem aber nicht auf den damalS jdeinbar fo nabe 
liegenden Gedanfen verfiel, auch die Frauen der allgemeinen Bitrgerrechte teilhaftig 
werden zu laſſen. 


Mud in Italien fallen die Bedingungen fiir das politiſche und kommunale 
Wabhleecht zuſammen, und alle Verjuche, das Gemeindewablredt wenigitens auf die 
Frauen auszudehnen, find bis jest gejdeitert. Dagegen hat die Frau in Otalien, 
Rumdnien, Velgien und Luremburg da8 Recht, ihre Steuerleijtung einem Manne 
anzurechnen, damit er Wahlberechtigung erlange. Bei Chefrauen ift die Anrechnung 
der Steuerleiftung nur zu Gunſten de3 Chemannes zuläſſig, verivitivete und unver- 
verbeiratete Frauen dagegen können das ihrer Steuerleiſtung entiprechende Wabhlrecht 
einem beliebigen männlichen Verwandten angedeihen laſſen. 

* * 
* 

Wenden wir uns nach dieſem Flug in die Ferne der Betrachtung der Verhält— 
nifje in unjerem eigenen Baterlande zu, fo febeint eS auf den erjten Blicd, als fei es 
unmöglich, den Wriadnefaden zu finden, der ung durch das Labyrinth verfciedenartiger 
und fomplizierter Beftimmungen führen farm, die im deutſchen Reich mit bezug auf 
das Gemeindewahlredt der Frau getroffen find. Bei näherem Zufehen beginnen fic 
aber die Schwierigfeiten bald zu lichten, und einjelne große Gefichtspuntte, unter dic 
fic) die aus der Kleinſtaaterei entfpringende Mannigfaltigkeit und Vielgeftaltigkeit ein- 
reiben läßt, treten mit Deutlichfeit bervor. Der Unterſchied zwiſchen Dorf und Stadt, 
Der in den ffandinavifden Landern jum Beiſpiel ſehr wenig ſcharf ausgeprägt ijt, beftebt 
fiir Deutſchland heute nocd tatſächlich fort und ijt in fajt allen deutſchen Staaten and 
durch das pofitive Recht anerfannt. Zwiſchen ſtädtiſchen und ländlichen Gemeinden 
ijt hier cine fcharfe Trennungslinie in bezug auf die Ausiibung des Wahlrechts ge— 
sogen. Jn den Städten find die Frauen regelmapig davon ausgefdlofien, auf dem 
Lande dagegen befigen fie eS in einer Reihe deutſcher Cinjelftaaten allerdings in febr 
beſchränkter Form. Cine Betrachtung der Stidteordnungen bleibt uns alfo erfpart, 
und wir werden eS in folgendem ausſchließlich mit Beſtimmungen der verfchiedenen 
Landgemeindeordmingen und folder Gemeindeordnungen ju tun haben, die fich fowobl 
auf die ſtädtiſchen wie auf die ländlichen Gemeinden besiehen und fic nur in einigen 
fleineren Staaten finden. 

Cine zweite wichtige Cinteilung ergibt fic) aus dem bereits angedeuteten Unter: 
ſchied zwiſchen Bürgergemeinden cinerfeits und Grundbefiger: oder Cigentumps- 
qemeinden andererfeits. Wihrend in den Bilrgergemeinden in der Regel entweder 
der Befik des angeftamunten oder erivorbenen Gemeindebiirgerrechts jum Wablen 
berechtiqgt und Frauen von dem Erwerb desfelben ausgeſchloſſen find, oder aber cin 
Unterſchied zwiſchen ſtimmfähigen und nicht ftimmfibigen Biirgern gemadt wird — 
wodurd die Frauen gleidfalls ansgefdloffen werden — genießen fie in den Grund: 
befigergemeinden, felbft in den Killen, two diefe fic) in Cigentumsgemeinden im wabren 
Sinne wverivandelt haben — dad heißt das Stimmrecht nicht mebr vom Grundbeſitz, 
fondern vow der Leiftung einer beftimmten Steuerfumme abhängt — foweit fie Grund- 


~ 


Das Gemeindewahlrecht der Frau. 617 


hefigerinnen find, regelmäßig das ative Wablrecht. Dies dürfen fie aber mit einer 
einzigen Ausnahme — niet ecinmal in Perjon ausüben. Vom paffiven Wablrecht 
find fie iiberall ausgeſchloſſen. Hieraus gebt hervor, dak uns die Sadhlage in den 
VRiirgergemeinden Hddftens dort zu beſchäftigen haben wird, wo fic) nicht der gan; 
reine Typus findet, oder fiir Frauen Ausnahmebeftimmungen beftehen. 

Gehen wir zunächſt auf die Verhaltnijfe in Preufen cin, wo der Typus der 
Cigentumsgqemeinde vorivaltet. Der Staat gliedert fid) in Provinzen, Kreife und 
Gemeinden, und diefe Glieder haben cine doppelte Bedeutung, einmal als Besirfe der 
ſtaatlichen Verwaltung und zweitens als Berbande yur Erreichung ſelbſtändiger 
wirtſchaftlicher Zwecke. In den Gemeinden tritt der wirtſchaftliche Swed ſtark in 
den Vordergrund. Ihre Organe waren urfprimglics zur Erfüllung wirtſchaftlicher 
Zwecke gejchafien und wurden erft ſpäter vom Ctaate feinen Verwaltungszwecken 
dienftbar gemacht. Umgekehrt ift in den Provingen und Kreifen, die anfänglich 
reine Verwaltungsbezirke waren, erft allmählich neben die fiaatlicbe eine fommunale 
Organifation getreten, die fie zu Selbftverwaltungsfirpern höherer Art umſchuf. 

Die perſönliche Grundlage der Landgemeinden, die uns in erfter Linie 
intereffieren, bilden — wenigften in den fieben öſtlichen Provingen, deren Verhältniſſe 
wir bier ju Grunde legen — die Gemeindeangebhsrigen und die Gemeindemitglieder. 
Für die Gemeindeangebdrigkeit ijt der Wobnfig, fiir die Gemeindemitgliedſchaft die 
Lange des Anfenthalts (mindeftens ein Jabr) und eine gewiffe Steuerleijtung beftimmend. 
Gemeindemitglicder haben das Stimmredt in der Gemeindeverfammlung, Diefe 
ift bas Organ der Landgemeinde und wird von fimtlichen Gemeindemitgliedern gebildet. 
Bei mehr alS 40 Stimmberechtigten oder auf Antrag tritt an Stelle der Gemeinde: 
verfammlung die von dieſer gewählte Gemeindevertretung. Aufgaben der Ge- 
meindeverjammlung bezw. BVertretung find die Beſchlußfaſſung über alle dem Gemeinde: 
vorfteher nicht ausſchließlich überwieſenen UAngelegenheiten, insbefondere über die 
Verwaltung und Benutzung des Gemeindevermigens, die Uberwachung der Verwaltung 
und die Feftitellung des Gemeindeetats. 

Die felbjtindigen Gutsbezirke, die hauptſächlich auf den Often beſchränkt find, 
haben in der urſprünglichen Cinbeit eines größeren Gutsbezirkes ibre Grundlage, dod) 
dedt fic) der Begriff des Gutsbezirks heute keineswegs mehr immer mit dem des quts- 
herrlichen Beſitzes. Die Gutsbezirke ſtehen den Gemeindebeszirfen öffentlich redytlich 
gleich, doch iſt der alleinige Träger der öffentlichen Rechte und Pflichten der 
Gutsherr. Von einer Kommunalverwaltung kann daher in Gutsbezirken nicht die 
Rede ſein. 

Die Landkreiſe, zu denen Landgemeinden und Gutsbezirke vereinigt ſind, 
werden durch den Kreistag vertreten. Dieſer geht hervor zu einer Hälfte aus den in 
Wahlbezirke eingeteilten Landgemeinden, zur anderen aus dem Verbande derjenigen 
größeren Grundbeſitzer, Gewerbetreibenden und Bergwerksbeſitzer, die zu einem Mindeſt— 
ſatze der Grund: und Gewerbeſteuer veranlagt find. Dem Kreistag liegt es ob, 
fiber die Kreis- und fonftigen ibm jugewiefenen MAngelegenheiten ju beraten und zu 
beſchließen. 

Die Vertretung der Provinz endlich hat der Provinziallandtag, zu dem 
jeder Kreis nad der Einwohnerzahl eine oder mehrere vom Kreistage gewählte Ab— 
geordnete entſendet. Seine Aufgabe iſt die Beſchlußfaſſung über provinzielle An— 
gelegenheiten, beſonders über den Provinzialhaushaltsetat. 


618 Das Gemeindewahlrecht der Frau. 


Seben wir uns nun die Rechte der Frau innerhalb der preußiſchen Selbit- 
verwaltung etwas näher an. Rach den Beſtimmungen der Landgemeindeordnung fiir 
Die 7 öſtlichen Provinzen der preugifdren Monarchie vom 3. Juli 1891 finnen Frauen 
das Gemeindeftimmrecht nur ertverben: 1. wenn der ihnen im Gemeindebezirk gebbrige 
Grundbhejig jum Stimmrecht befähigt (hierunter fällt jedes Wohnbaus und jedes 
Grundftiid, fiir das mindeftens 3 Maré an Grund: und Gebdudeftenern zu entrichten 
find); 2. wenn fie die fiir die männlichen Stimmberedtigten aufgeſtellten Erforderniffe 
(deutſche Reichsangehörigkeit, Beſitz der bürgerlichen Chrenrechte, einjdbrigen Wohnſitz 
im Gemeindebezirk und Zahlung der auf ſie entfallenden Gemeindeabgaben) ſämtlich 
erfüllen (545). Während alſo bei den Männern die Stimmberechtigung — auger von 
Den genannten Bedingungen — nur noch von der Leiſtung eines beſtimmten Steuer— 
fages (in der Regel 4 Maré im Jabr) abhängig ijt, wird fie Frauen nur zuerkannt, 
wenn fie Grundbefig haben, und felbft diefe dürfen ihr Stimmrecht nicht ſelbſtändig 
ausüben, jondern müſſen fic) dure) cinen Mann vertreten laſſen. Als Bertreter der 
Ehefrau gilt obne weiteres der Chemann, unverbeiratete und verivitwete Beſitzerinnen 
werden durch Gemeindeglicder vertreten. (§ 46.) Faft ebenfo find die Beftimmungen 
fiir die Provingen Weſtfalen (Landgemeindeordnung vom 19, März 1856), Schles— 
wig-Holſtein (Landgemeindeordnung vom 22, September 1867), Hannover (Land: 
gemeindegefes vom 18. April 1859) und Geffen-Naffau (Landgemeindeordnung von 
1897). Nur in der Rheinproving find infolge franzöſiſcher Einflüſſe zur Ausübung 
des Gemeinderechts ausſchließlich Männer befugt, obgleic auch bier das Cigentum zur 
Grundlage des Stimmrechts gemacht ijt. Es ijt dies die einzige Ausnabme von der 
oben aufgeſtellten Regel. 

In den Gutsbezirken diirfen Frauen, die ihnen als Gutsherrinnen zuſtehenden 
Rechte und Pflichten ebenfalls nicht perjdnlich ausiiben, fondern müſſen fich, falls fie 
verheiratet find durch ibren Ehemann, falls fie unverbeiratet oder verwitwet find, durd 
cinen Bevollmächtigten vertreten laſſen. 

Das Wahlrecht der Frauen yu den Kreistagen ijt noc beſchränkter als das zu 
den Gemeindevertretungen. Nur im Wablverbande der Grundbefiger und Gewerbe— 
tretbenden wirken fie unmittelbar mit, müſſen aber auch bier durch ibre Gatten oder 
männliche Berechtiqte vertreten werden. Im Wahlverbande der Landgemeinden dageqen 
üben fie mur mittelbar infofern cinen Einfluß aus, alS fie an den Wahlen der 
Gemeindevertretung beteiliqgt find, welche ibrerfeits die Wablmanner fiir den Krets- 
tag wählt. 

Noch feiner durchgeſiebt ift der Anteil der weiblichen Wahler an der Zuſammen— 
jebung des Provingiallandtags; er beſchränkt ſich anf die durch die Tetlnabme der 
Arauen an den Wablen zur Gemeindevertretung und zum Kreistag ausgeiibte 
Beeinfluſſung. 

Im Herzogtum Braunſchweig, wo ebenſo wie in Preußen das Syſtem der 
Grundbeſitzergemeinde gilt, kommt den Frauen oder, wie die Landgemeindeordnung 
vom 18. Juni 1892 ſich ausdriidt den „Frauenzimmern“ die Wahlbereddtiqung gleidfalls 
zu, wenn fie Bejigerinnen von Giitern, Gehöften, Wohnhäuſern, Fabriten, Hütten, 
Calinen, Gruber und anderen fiir fich beftebenden gewerblichen und landwirtſchaftlichen 
Vetrieben find, und außerdem die fiir die männlichen Wablberechtigten notwendigen 
Vorausfepungen erfillt find. ($16) Wählbar find fie aber, ebenſo wie die unter 
Ruratel ftebenden und die unter 25 Jabre alten Perfonen, in. deren Gefellfchaft fie 





Das Gemeindewahlrecht der Frau. 619 


in fajt allen Landgemeindeordnungen auftreten, ſelbſtverſtändlich nicht. Auch können fie 
ihr Wahlrecht nicht felbftandig ausüben. Faft gleichlautend find die Beſtimmungen fiir die 
zu den Hanfeftidten Hamburg und Liibed gehörigen Landgemeinden (Landgemeinde- 
ordnungen vom 12, Juli 1871 bezw. vom 16. November 1868), etwas weitergehend 
die fiir das Herzogtum Sadjen- Altenburg, wo ſchon der Beitrag su den Gemeinde: 
laſten der gropjdbrigen Frau die Stimmberechtigung gibt. (Dorfordnung vom 
13. Suni 1876.) 


Cine Ausnabmeftellung unter allen deutſchen Staaten nimmt in Bezug auf das 
Gemeindewahlredt der Frau merkwürdiger Weife das fonft nicht eben als fortſchrittlich 
qeltende Königreich Sachſen cin. Nad § 34 der Landgemeindeordnung vom 
24. April 1873 ijt hier die unverbeivatete Grundbeſitzerin, bis auf das ibr mangelnde 
paffive Wabhlrecdht, dem Manne ganz gleid) geftellt. Bon allen deutſchen Frauen ijt 
fie die einzige, Die ihr Wablrecht perfonlich ausiiben darf, während fitr die verheiratete 
Befigerin auch hier der Ehemann die Stimme abzugeben hat, und deren Stimmredt 
gänzlich rubt, wenn der Gatte nicht ftimmberechtigt ijt. 

Das Königreich Wiirttemberg, die bayrifde Pfalz, die Großherzogtümer 
Baden und Heffen, die Herjogtiimer Gotha und Sachſen-Meiningen, dic 
Fürſtentümer Sdhwarzburg-Sondershaufen und Reus j. &, fowie die Reichs: 
fande Elſaß-Lothringen machen fimtlid das Gemeindebiirgerredt zur Grund: 
lage der kommunalen Wahlberechtigung und febliehen entweder die Frauen vom Erwerb 
desfelben gänzlich aus, oder verfagen ibnen doc) die Stimmberedtiqung. Als ehemalige 
Rbeinbundftaaten, bezw. als frither gu Frankreid) gehörige Landesteile haben alle 
dieſe Lander längere oder kürzere Zeit unter franzöſiſchem Einfluß geftanden. Wuf ibn 
ift dieſe Entwidelung ebenfo wie in den Rheinlanden daber wohl zurückzuführen. 


Sntereffante Ausnahmen bilden das Großherzogtum Sadfen-Weimar-Cifenad 
und das Herzogtum Coburg, wo nad dev neuen Gemeindeordnung vom 24. Juni 1874 
besw. dem Gemeindegefeg vom 22. Februar 1867 zwar das reine Syftem der Biirger- 
gemeinde bejteht, Frauen aber nidt nur das Bürgerrecht unter denfelben Bedingungen 
wie Manner erwerben können, fondern aud) das gleice vom Beſitz gänzlich losge— 
lofte Stimmredt befigen. Wllerdings ijt ihnen auch bier eine perſönliche Ausübung 
nod verfagt, aber unter den deutſchen Gemeindeverfajjungen find diefe beiden zweifel— 
los die Den modernen Rechtsanſchauungen am meiften entfpredenden. Es fehlt nur der 
{este Schritt, um die weibliche Gemeindebiirgerin dem männlichen Gemeindebiirger 
volltommen gleichzuſtellen. ' 


Su der Staatengruppe, welche nur die Biirgergemeinde kennt, gehört ferner das 
Grofberjogtum Oldenburg. C8 verdient aber einer VBejtimmung wegen, die fic) in 
Feiner anderen deutſchen Landgemeindevrdnung jfindet, ebenfallZ, wenn auch nicht im 
guten Sinne, bejonders hervorgehoben ju werden. Auch in Oldenburg ijt eS Frauen 
qeftattet, Das Gemeindebiirgerredt zu eriverben, cine Wabhlberedtiqung bringt es fiir 
jie bier aber nicht mit fich. Dazu wird die Erwerbung des Heimatsrechts auger von 
den fiir Manner nötigen Erforderniffen fiir „Frauenzimmer“ auch davon abhängig ge: 
macht, daß fle wabrend der legten drei Jahre nicht außerehelich niedergekommen oder 
ſchwanger geworden find. (Art. 32.) Dies Hineinziehen biirgerlicher Chrbeqriffe in 
Gefebesheftimmungen berithrt den modernen Menfeben fo fonderbar, dak er gan; 
erleichtert aufblidt, wenn er fich vergewwijjert, daf die oldenburgifde Gemeindever: 


620 Das Gemeindewabhlrecht der Frau, 


fajfung bereits vom 1. Juli 1855 herrührt. Bei einer Revijion des Gemeindegefeses 
wird hoffentlich auch diefer vorfindflutliche Paffus in Fortfall fommen. 

Miſchtypen zwiſchen Cigentums- und Biirgergemeinden ftellen die Landgemeinden 
de8 rechtsrheiniſchen Bayern und der Fiirjtentiimer Walded und Reus a. L. dar. 
Während in Bavern diesfeits de3 Rhein Manner allein durch den Beſitz des Gemeinde- 
bürgerrechts jum Wählen berechtigt find, finnen Frauen das Stimmredt nur erwerben, 
wenn fie entiveder in der Gemeinde ein befteuertes Wohnhaus haben oder mit direften 
Steuern mindeftens in demfelben Betrage wie einer der drei höchſtbeſteuerten Einwohner 
angelegt find. Ferner müſſen fie fich, ebenfo wie ,minderjabrige und andere unjelb- 
ſtändige Perfonen” bei der Ausübung des Stimmrechts eines Vertreters bedienen. Fait 
wörtlich die gleiche Beſtimmung gilt fiir das Fürſtentum Waldeck. Im Fürſtentum 
Reuß a. L. find die Rechte der Gemeindebürgerinnen noc beſchränkterer Natur. Hier 
ſteht nämlich den grundbefigenden und perſönlich Steuern jahlenden Frauen nur bei 
jolchen Beſchlüſſen eine Stimme Stimmrecht zu, welche ,,mittelbar oder ummittelbar die 
Ausfehreibung von Gemeindeanlagen oder eine Erhöhung der bereits ausgeſchriebenen 
nad fic ziehen können“. (Art. 138 der Gemeindeordnung vom 28. Januar 1871). 


Als Kuriofum fei ſchließlich erwähnt, dak die Landgemeindeordnung des Fürſten— 
tum Schaumburg-Lippe vom 7. April 1870 keinerlei Einſchränkungen des Frauen— 
wahlrechts zeigt und damit dem Wortlaut nach, als die fortgeſchrittenſte Gemeinde— 
geſetzgebung ganz Deutſchlands erſcheint. 

Das Heimatrecht wird nad § 3 in Schaumburg-Lippe erworben: 1) durch 
Abjtammung von Heimatherechtigten Eltern, 2) fiir Frauen durch Verbeiratung mit 
einem beimatberechtigten Manne. Ws ftinunberechtigt gelten nad) § 13: 1) alle 
Heimatherechtigten, welche 


a) zu den Gemeindelaften beitragen, 
b) im Befig der biirgerlichen Ehrenrechte find, 
c) felbjtdndig find, 
d) das 25. Lebensjabr vollendet haben, 
e) feit einem Sabre ihren Wohnſitz in der Gemeinde haben, 
2, alle diejenigen, welche in der Gemeinde mit Grundſtücken angeſeſſen find. 

Das auf dem Grundbefig berubende Stimmrecht Fann in Perfon oder durch 
Bevollmächtigte, das Stimmredt der nicht anfajjiqen nur in Perfon ausgeübt werden. 
Guts: oder ſtättebeſitzende Witwen können (nicht müſſen) fic) durch ibre Sohne 
vertreten laſſen. 

Nach § 64 ift ferner jedes ftimmberechtigte Gemeindemitglicd  verpflichtet, 
unbefoldete Stellen in der Gemeindeverivaltung oder Vertretung anzunehmen. 

Aus allem dieſem fceint hervorzugehen, daß in Schaumburg-Lippe die weiblichen 
Gemeindemitglieder nicht nur wahlberechtigt, fondern auch wählbar, fury, den mann: 
lichen Gemeindebitrgern in jeder Beziehung gleicgeftellt find. Das Fürſtentum ware 
alſo das Jdealland, nad) dem die Verhältniſſe der übrigen deutſchen Gemeinden 
umzugeſtalten wären. Merfwiirdigeriveife aber ijt in Schaumburg-Lippe felber davon 
nichts befannt. Es wählen hier vielmebr, wie in Preufen, gewohnheitsrechtlich nur 
die grundbefigenden Frauen, und diefe nur durch Stellvertreter. Bei der Abfaſſung der 
Gemeindeordnung ijt anfcheinend niemand auf den Gedanfen verfallen, daf auf Grund 
des Wortlauts die Frauen die vollen Gemeindebiirgervedhte fiir fich fordern könnten; jo 


Irdiſche und himmliſche Liebe, 621 


jeht war man gewihnt, fie als quantite négligeable zu betrachten. Was gefdehen 
wiirde, wenn die Landgemeindebiirgerinnen von Schaumburg-Lippe, auf dieje Tatfadhe 
aufmertfam gemadt, auf ihrem Recht beftdnden, bleibt dabingeftellt. Vielleicht 


verfuden fie es einmal! " ‘ 


* 


Unjere Wanderung durch Deutfehland ift beendet. Was wir in den Land: 
gemeinden geſehen haben, find nichts als Anſätze, als Keime eines Frauenwablrechts, das 
zu feiner villigen Ausbildung noch nach vielen Richtungen hin der Ausgeſtaltung bedarf. 
Denno wird das, was bereits vorhanden ijt, vermutlic) die meijten mit ländlichen 
Verhdltniffen wenig vertrauten Nicht-Juriſten in Erſtaunen fegen. Cine genaue 
Kenntnis der Sachlage ijt jedenfallS die erfte Grundbedingung einer Reform. Wenn 
e3 dieſer Darjtellung gelingt, die Frauenvereine in den Cinjelftaaten dazu anzuregen, 
für cine Criveiterung dev Frauenrechte in der Gemeinde cinjutreten, fo iſt ihr Haupt— 
zweck erfüll. Mehr und mehr mus ſich die Erfenntnis Bahn brechen, dah nur der 
Bürger ein niigliches Glied feiner Gemeinde fein fann, dem es geſtattet ijt, feine 
Intereſſen felbjtindig zu vertreten. Die Frauen müſſen ſich dagegen erbheben, mit 
Unmiindigen und Geiſtesſchwachen in der gleichen Reihe gu fteben. Cie baben durch 
Die Beijpicle aus dem Ausland geniigendD Beweife in der Hand, dah die Frau über— 
all da, wo fie volled Bürgerrecht bejigt, ſich deſſen würdig gezeigt bat und hinter den 
Männern in feiner Weife zurückſteht. 


HY 


Jrdische und himmlische hiebe. 


Eine Studie fiber zwei Dichtungen 
Don 


Martha Striny. 


— 


Nachdrud verboten. 


Jaeterlinck, den man recht eigentlich den Dichter des Unbewußten nennen dürfte, 
3 der mit reinen Händen und Kinderworten die tiefſten Geheimniſſe unſerer 
Seele offenbar macht, der ſo vielen ein Argernis iſt, die die Blumenblätter einer 
Dichtung auseinanderreißen und rufen: „Sehet, es iſt nichts darunter!“ und höhnend 
davongehen und die Fetzen in den Wind ſtreuen — Maeterlinck kündet auch uns 
Frauen viel von unſerem Eigenleben. Uns, die wir Weſen einer alten und einer 
neuen Zeit in uns ringen fühlen, uns ſchafft er aus dieſen Regungen unſerer Seele 
Geſtalten, die mit inſtinktiver Sicherheit in dem Lichte wandeln, das wir ſuchen. Er 
zeigt uns, daß wir uns nur befreien, wenn wir wie Ariane die ſechs Schlüſſel zu den 
Juwelenſchreinen Blaubarts wegwerfen, um mit dem ſiebenten die verbotene Tür zu 
öffnen und ihn durch Stärke und Liebe zu überwinden. Er ſagt uns auch, daß wir 
trotz des Unglaubens der Welt und ihrer Schmähungen dem Sittlichkeitsgebot in der 
eigenen Bruſt furchtlos folgen müſſen, um aus dem böſen Traum, den wir jetzt für 





622 Irbiſche und himmliſche Liebe. 


unfer Glück und unfer Los halten, zu der ſchöneren Wahrheit gu erwachen. Wielleicht 
ijt es ungeredjt, daß wir in der kürzlich Durch die Wuffiihrungen de3 Neuen Dheaters 
in Berlin einem größeren Publifum befannt gewordenen ,,Schwefter Beatrir” nad 
dieſem unjeren Dichter fucben. Cr felbjt weiſt es ab, daß man darin nach philofophijden 
und moralifden Problemen fuche; „es find die beiden Singfpiele”, fagt er, (, Blaubart 
und Ariane” und ,,Schwejter Veatrir”) „im beften Fall die erften taftenden Schritte zu 
einer Schaubiibne ded Friedens, des Glückes und der Schönheit obne Tränen.“ 


Aber der jenfible Dichter wird uns fo nicht abweijen. Wir wollen ergriinden, 
was er uns fagt, denn inuner feben wir ibn mit uns im tiefften befchaftigt, und in 
dem einen diefer Singfpicle ijt, wie vorhin angedeutet, ein Stück Frauenfrage aufgerollt. 
„Schweſter Beatrir” ijt von allgemeinerem Gebalt. Es ift die dramatiſche Bearbeitung 
der alten Legende von der Nonne, die voll Verlangen nad) der Liebe aus dem Kloſter 
entiveicht und deren Amt bis zu ibrer reuigen Rückkehr durch die Jungfrau Maria 
ausgefillt wird. Im fatholifden Belgien mit feinem entiwidelten Rlofterleben war die 
Legende gewif noc) lebendig. Die Legende gibt nur Umriſſe, die Ausfüllung ijt des 
Dichters. 

Sm Neuen Theater wurde Maeterlinds Dichtung ftimmungsvoll ausgeprigt. 
Su der Ddmmernden Vorhalle des Klofters leuchtet das köſtlich geſchmückte Bild der 
beiligen Jungfrau. Zu Füßen des Gitters liegt die ſchluchzende Nonne und beidstet 
in ftammelnden Worten von der Leidenfdhaft der Liebe und fürchtet fids wor der Tod- 
jiinde. Das ijt Beatrix, die der Pring Bellidor heute entfiibren will, und die feit drei 
Tagen fo viel geweint bat, daß fie nicht mehr weinen kann. Und nun flebt fie, daß 
die Heilige ein Seichen gebe, dah fie bleiben foll, fo wird die Sünde nicht gefdeben. 
Aber die Heilige gibt fein Seichen. Da finkt fie fraftlos in die Arme des Mannes, 
Der fie über die Schwelle tragt. 

Fiinfundswanzig Jahre vergeben. Wieder fteht das Bild der Jungfrau und die 
Kerzen brennen auf dem Wltar. Da drehen fic) die ſchweren Torfliigel von felbjt in 
den Angel und öffnen fich lautlos auf die ſchneebedeckte Landfehaft. Auf der Schwelle 
erfcbeint, mager und fajt unfenntlich, ein Weib in Lumpen. Mit einem jitternden 
Schrei ſtürzt fie zu Füßen der Jungfrau. „Ich Fann nicht mehr beten, id) fann nicht 
mehr fpreden, und ich babe fo viele Tranen vergofjen, dah ich nicht mehr weinen fann. 
Ich bin die arme Beatrix. Schau nur, wohin mic) Liebe und Sünde gebradt 
haben und alles, was die Menfden Glück nennen.“ 

Liebe und Siinde eng zuſammen. Als miifte es fo fein. Schlimmes weiß Beatrir 
zu fagen von der Liebe. Die Ubtiffin fagt: „Die göttliche Liebe ift eine ſchwere 
Lajt.” Und Beatriz: ,, Nein, die Liebe des Mannes, das ift die grofe Biirde.” Keine 
Siinde fo tief, teine Schande fo groß, durch die fie nicht bat hindurch müſſen. Nad 
drei Monaten verlofd) des Prinjen Liebe. Alle Manner nacheinander entiweihten diejen 
Leib. Meine Kinder ftarben, als ic) nicht mehr ſchön war. Und das legte bab id 
des Nachts getitet, als der Wahn mich faßte, daß eS nicht mebr leiden ſollte. „Und 
andere, Die geboren werden follten, find nicht zur Welt gefommmen. Und die Sonne febien 
weiter, die Gerechtigkeit fcblicf, und nur die Schurken waren ſtolz und glücklich.“ 

Damit unterjtreiddt der Dichter das alte Wort der Kirche: An der Welt ift 
Siinde, aber bei mir ijt Friede. Die Liebe da draufen bringt Unbeil und Tod, die 
meine ijt das Ghid. 


— 


Irdiſche und himmliſche Liebe. 623 


Nun aber war in der Legende die Jungfrau felbjt berabgejtiegen und hatte das 
Amt der entflohenen Nonne in ibrer Geftalt verſehen und ibre Flucht fo liebreich 
sugededt. Macterlind läßt im zweiten Wet die} Wunder fic) vor unferen Wugen voll: 
ziehen. Damit verfiindete die Legende die zweite alte Kirchenlehre, daß de3 Sünders 
Reue ſeine blutrote Siinde ſchneeweiß macht. Die himmliſche Jungfrau fiebt den 
Gottesfunken auc) im Herzen de3 Verlorenen und Hebt ihn empor. ,,Gelobet feift Du, 
Maria!” 

Hier hat Maeterlind angekniipft, um fein Evangelium de3 Frieden und der 
Liebe zu verfiinden. Denn die Welt fennt diefe Liebe nidt. Sie hat nur Rache und 
Fluch fiir den Siinder. Und die fich dem Dienfte des Himmels geweiht haben, die 
qlauben aud) in feinem Auftrage da Racheſchwert fiibren gu müſſen. Daher zeigt er 
uns in einer abftofenden Szene den Fanatismus der Nonnen, der Mbtiffin, des Priefters. 
Sie erfennen die Géttliche nicht, deren Lidhtglany die arme Nonnenfleidung nicht 
verbergen Fann; fie drehen die Geifel, um an der Heiligtumsſchänderin die graufame 
Züchtigung zu volljieben, und ein Wander mug die Heilige ſchirmen. Sie würden auch 
die rückkehrende Sünderin Beatrir in den Abgrund ſtoßen, wenn nist die Himmliſche 
fie getäuſcht hatte, fodaf fie eine Geilige gu feben meinen. Daher bleibt der rid: 
Febrenden Beatrir der Schmerz erfpart, von ihnen verdammt zu werden. In den 
ſchrecklichen Geſtändniſſen der Sterbenden feben fie die fcblimme letzte Priifung, die 
die Damonen der Finfternis den Wuserforenen bereiten. Und Beatrix ſtaunt über 
ihre Milde: „Verzeiht ihr mir denn? Man verzieh doch nicht, als ich nod 
bier lebte.” Und fie ftirbt in dem Wahn, daß Liebe und Güte in die Welt zurück— 
gekehrt feien. 

Die Apoftafe de3 Siinders. Cr bat am meiften gelitten, darum ift er der 
Heiligſte. Nicht ibn gu verftofen fteht uns an, fondern ihn zuzudecken mit dem Mantel 
der Liebe, wenn er jitternd und blof heimkehrt aus dem furchtbaren Kampf mit der 
Welt. Denn das Leben ijt Leiden. 

Wiffen, Berftehen, Lieben, das ift alles. Das ijt des Dichters tajtender Schritt 
zu einer Schaubiibne ded Friedens, des Gliides und der Schönheit obne Triinen. 
Im Menſchenherzen foll fie aufwachen. 

Wir kennen dieſe Sehnſucht des weltflüchtigen Dichters. Des Dichters, deſſen 
erſte Werke die Angſt vor dem Leben mit hörbarem Herzſchlag durchpocht. 

* * 
* 

Aber in den fünfziger Jahren war bereits ein deutſcher Dichter beim Leſen von 
Koſegartens Legendenſammlung über die alte Erzählung geraten, und wer ihn kannte, 
dem ſtieg neben dem dämmernden Kloſterportal, das den Rahmen abgab fiir Macterlinds 
ringende und büßende Beatrix, eine lichte deutſche Frühlingslandſchaft empor, in der 
die Zinnen des Kloſters vom Berge glänzen, ferne Burgen winken und Jagdruf durch 
die Wälder ſchallt. Denn bei Gottfried Keller muß Waldluft rauſchen und die Welt 
im Maienkleide ftehen, wenn er von der Liebe der Menſchen reden foll. Der bat mun 
den dürftigen Rahmen der Legende mit feiner Fabulierfunjt evfiillt, und wie ſich feinem 
tiefen Ernſt ſtets der Schal€ gefellt, fo labt er fich im ftillen daran, jenen abgebrodjen 
ſchwebenden Gebilden das Antlig zugleich „nach der entgegengefegten Himmelsrichtung 
zu wenden, als nach welcher fie in der überkommenen Geftalt ſchauten.“ 


624 Irdiſche und himmliſche Liebe. 


Keller, dev das Schidjal hatte, ſich ftets in die grofen und ftarfen Madchen yu 
verlieben, läßt feine Beatrir nicht vom leidenſchaftlichen Berfiihrer über die Schwelle 
des Kloſters geriffen werden. Cr fympathifierte mit dem alteren Bug der ibm vor- 
liegenden Legende, daß ihr eigenes Berlangen die ſchöne Nonne Hhinaustreibt in 
die Welt. 

„Als fie es nun nicht Linger mehr yu ertragen vermochte, trat fie eines Nachts 
vor den Altar Unferer Lieben Frau und ſprach ju ibr: O, du allerliebfte Frau Maria, 
id) habe Dir bisher gedient auf das bejte, als ich nur vermodte. Aber jest nimm 
Du die Schlüſſel gu Dir; ich kann das Leiden in meinem Herzen nicht Langer ertragen. 
Mls fie das gefprochen, legte fie den Schlüſſel auf den Altar und ging yum Kloſter 
hinaus . . .“ Das Starke dieſes Schritts, mit dem fich obne viel Sammern cine 
Frau zu der unwiderftebliden Raturgewalt des Liebestriebes befennt, mochte Kellers 
qejunde Natur erfreuen. Aber hier ſchon mußte er mit jener Drehung de Antlipes 
einfegen. Die eng in die Schranfen kirchlicher Anſchauung gebundene Legende fann 
bet aller Naivetit nicht anders, als das Verlangen der Nonne al ein Werk des Böſen 
bezeichnen: „ſie ward von ſündhaften Gedanten gar heftig angefochten“. Daher beift 
es weiter: „Sie ging zum Nlofter binaus und ergab fic) dem gemeinen Leben volle 
fünfzehn Sabre”. Unjer Dichter aber, dem es darauf anfam, der Liebe ibre menſchliche 
Schönheit zurückzugeben, öffnet ein wenig die verſchloſſene Herzenstür ſeiner Beatrir 
und läßt uns in einen lichten Raum ſchauen, in dem nur die große Sehnſucht nach 
dem Leben ſchattend liegt. „Herrlich gewachſen von Geſtalt, tat fie edlen Ganges 
ihren Dienſt, beſorgte Chor und Altar und läutete die Glocke vor dem Morgenrot 
und wenn der Abendſtern aufging. Aber dazwiſchen ſchaute ſie vielmals feuchten 
Blicks in das Weben der blauen Gefilde; ſie ſah Waffen funkeln, hörte das Horn der 
Jäger aus den Wäldern und den hellen Ruf der Männer und ihre Bruſt war voll Sehnſucht 
nach der Welt.“ Und alles iſt mit denſelben lichten Maienfarben umkleidet: wie die 
ſchöne Nonne in der taufeuchten Stunde, da die Sonne aufgeht, am Waldquell den 
glänzenden Ritter trifft, der die ſchöne Beute eifrigſt an ſich nimmt, und wie ſie 
demütig und ſeiner Liebe voll mit ihm auf der Burg lebt „zwar recht- und namenlos, 
aber fie verlangte nichts Beſſeres“. 

Aber obwohl die Sache mun einem oberflächlichen Beobachter in ſchönſter 
Ordnung yu fein ſcheint, hat Meijter Gottfried dod noch andere Plaine. Denn mit 
dem illegitimen Liebeshund der beiden Leutchen ijt es doch nicht obne weiteres ab- 
getan. Gin böſer Zwiſchenfall, den er fich ertra dazu zurecht macht, foll ihnen dads 
zu Gemiite führen. Der gute Ritter Wonnebold, der als ehrenfefter Germane auch 
bei froben Feſten des Wiirfelfpiels mit derjelben Leidenfdhaft pflegt, die uns Tacitus 
von unferen Altvordern berichtet, fest im Ubermut feines Spielglücks die ſchöne 
Beatrix und verliert fie an den fremben Baron. 

Nun ijt es köſtlich zu feben, wie weiblide Schalfhaftigfeit und Lift ihr Garn 
ftellt, in Dad der Mann ohne weiteres hineingebt, und wie fie fic) felbft lächelnd aus 
den Schlingen zieht und dem Verdugten Zeit laft, fic) itber feine Dummbeit gründlich 
zu ärgern. Denn ein Fein wenig klüger find die Frauen bei Keller immer als die 
grofen und ftarfen Manner in ibrem naiven Selbjtgefiibl, die fic) jeden Rauſch an— 
trinfern und nachher jedesmal denfelben moraliſchen Ragenjammer erleben. 

Uber feben wir durch die beitere Oberflache des Epiſödchens auf ſeine tiefe 
Quelle, die der Dichter aus dem Gemüt der Frau berleitet, wo die einfache und keuſche 


~~, 


2 


Irdiſche und himmliſche Liebe. 625 


Liebe und Treue wohnt, die nur in dem einen geliebten Mann ihr Leben beſchloſſen 
fiebt. Und wie fein ijt der Sug, dag Beatrir ihrem Wonnebold nicht einmal zürnt, 
dah er fie fortgegeben, fondern ohne Klage und Vorwürfe in feine weitgedffneten 
Arme juritdeilt, der vor Scham und Reue „einen ſehr fcblechten Tag wverbracht hat 
und num erft merft, twas fiir einen Schah er aus den Händen gelafjen.” Und 
während er fiber die gelungene Kriegsliſt lacht, wird er febr nachdenklich über ibre 
Treue, denn jener Baron war ein ganz ſchmucker, anſehnlicher Gefell. Und um ſich 
nun gegen alle künftige Unfalle 3u wahren, machte er die ſchöne Beatrir gu feiner 
rechtmäßigen Gemablin. Und fo Lift der Dichter die ſchönſte Che aufbliiben aus der 
vom fiebenden Herzen gefühlten Notwendigkeit, den unjiceren Liebesbund aus aller 
Zufälligkeit heraus in die von der Liebe ſelbſt geforderte Dauer zu retten. 


Wir fehen hier die tiefere Abficht der fleinen Cpifode: es mute gezeigt werden, 
bak die Nonne, die aus dem Klofter ging, um ibr Verlangen zu ftillen, feine gemeine 
Bublerin ijt, wie in der Legende, nod eine baltlofe Betirte, wie bei Maeterlinck, 
fondern eine echte Frauennatur, bei der die eingeborene Sittlichfeit den Liebestrieb 
untrennbar umfdjlingt. Daher darf fie aud) getroft gur Jungfrau Maria fleben in 
dem Moment, two die Wiirfel über ihr Los entfcheiden follen. Die Heiligen felbft 
können nicht anderd als lächelnd und feqnend auf diefen Liebeshund herabſehen. 
Und wie ſchön zeigt der Dichter, obwohl er es mit feinem Worte ausfpricht, wie dic 
echte Weiblichfeit der Holdfeligen Frau auch den wilderen Trieh deS Mannes ihm 
unbewußt im ihre holden Schranken jiebt. 


Gin Lewtes aber blieh nocd zu löſen. Immerhin war die Nonne, die dem 
Dienſt der heiligen Jungfrau fic geweibt hatte, aus diefem Dienft treulos entwichen; 
follte die Himmliſche nicht zürnen, dah fie Weltluft ibrem Dienfte vorzog? Ach nein, 
Beatrix ift Abrer Lieben Frau niemals untreu geworden. Sie bat fic Urlaub von 
iby erbeten, und eines Tages fiiblt fie, da der Urlaub um ijt und febrt zurück. Hier 
liegt der tiefere Zuſammenhang fiir die Sdlupwendung der Gefchichte, die manchen 
Lefer befremden finnte: 


Nach zwölf Jahren, während deren fie ibrem Gatten act Sihne geboren hatte, 
„welche emporwuchſen wie junge Hirſche,“ „erhob fie fics in einer Herbſtnacht von 
der Seite ihres Wonneboldes, obne daß er es merfte, legte forgfaltig all ihren welt: 
lichen Staat in die nämlichen Truben, aus denen er einft genommen worden. Dann ging 
fie mit blofen Füßen vor da8 Lager ibrer Söhne und küßte leife einen nach dem 
andern; julegt ging fie wieder vor das Bett ibres Mannes, küßte denjelben auch, und 
erft jest febnitt fie fic) das [ange Haar vom Haupt, 30g das dunfle Nonnengewand 
wieder an, welded fie ſorgfältig aufbewahrt hatte, und fo verlie® fie heimlich die 
Burg und wanderte durch die braufenden Winde der Herbjtnacht und durd) das fallende 
Laub jenem Klojter ju, twelchem fie einft entflohen war. Unermüdlich ließ fie die 
Kugeln des Roſenkranzes durch die Fingern rollen und überdachte betend dag 
genofjene Leben.” 

Nun verſtehen wir, warum die Heilige Jungfrau fo bereitwillig berabjtieg, um 
Beatrir’ Stelle und Amt im Klofter einzunehmen, und warum fie yu der Heim: 
gekehrten fagt: „Du bift ein bißchen Lange weggeblicben, meine Tochter. Ich habe die 
ganze Zeit deinen Dienft als Küſterin verfeben; jest bin ich aber doch frob, daß du 
wieder da bijt und die Schlüſſel wieder übernimmſt.“ 

40 


626 Irdiſche und himmliſche Liebe. 


So zart hat der Dichter die feinen Faden wieder gekniipft, die dai Motiv der 
Stellvertretung in die Gefchichte verjdlangen. In der Legende vertritt die gnadenreiche 
Jungfrau die entflobene Sünderin, weil fie weif, daß Reue fie einſt zuriidtreiben wird; 
fo bat es aud) Maeterlind gehalten, er hat überdies nod) das mit der Stellvertretung 
perbundene milde Zudecken der Schuld als verſchüttetes Gold aus dem Schadt der 
Legende heraufgebolt; aber bei Reller ijt feine Reue und feine Schuld, und die 
Stellvertretung durch die Jungfrau ijt im cigentlicen Sinne eine Zujtimmung der 
Heiligen zu dem Sehritt der Nonne, den aber nur die Himmliſche Flarblidenden giitigen 
Auges zu durchſchauen vermag und den fie deshalh felbft fchiigt vor der Mipdeutung 
der ftumpferen Welt. 

Hier ſcheint mun die Geſchichte zu Ende gu fein, und die Legende ſowie dic 
meiſten Bearbeitungen haben auch bier in der Tat nichts mebr bingujufiigen. Gott— 
fried eller aber hat noch eines ju zeigen. Wenn das Weltleben der Beatrix gebeim 
bleibt, fo ijt damit jugegeben, daß ibre Tat dod) vor den Augen der Menſchen mit 
einem Makel behaftet bleibt, wenn auch die tiefer blidenden Augen der Himmliſchen 
fie nicht verwerfen wollen. Und wir ftaunen, ju welch einem prächtigen Finale er 
ſeine Melodienfolge yu diefem Swed binanwindet. 

Nach zehn Jahren feiern die Nonnen ein grofes Feſt yu Chren der Jungfrau, 
und jede bereitet ihr ein ſchönes Geſchenk. Nur Beatrir hat nichts bereitet, „da fie 
etwas mide war vom Leben und mit ihren Gedanfen mebr in der Vergangenbeit lebte 
alS in der Gegenwart’. Da sieht ein greiſer Rittersmann mit acht bildſchönen be— 
waffneten Jünglingen des Weges und ſteigt ab und fniet mit ibnen vor dem Altar. 
„Beatrix aber erfannte alle ihre Kinder an ihrem Gemabl, ſchrie auf und eilte zu ibnen, 
und indem fie ſich zu erfermen gab, verkiindigte fie ibr Geheimnis und erzählte das 
qrofe Wunder, das fle erfabren hatte. — Da mufte nun jedermann gefteben, dak 
Beatrix der Jungfrau die reichjte Gabe dargebradt hatte.” 

So tilgt diefer Dichter bas Rainsseichen, das die kirchliche Anſchauung der 
menſchlichen Yiebe aufgedriidt batte und fiibrt die Frömmigkeit aus den Rloftermauern 
zurück in dad Weltleben. 

* * 
* 

Der Gegenſatz beider Dichter könnte gar nidt größer fein: dort Schuld und Lafter, 
bier reine in Prüfung gelduterte Liebe; dort Versweiflung und Tod, bier die tiefe 
Rube eines ausgefiillten Lebens; dort die himmliſche Gnade das einzig Verſöhnende, 
hier die Verklärung der Frauenliebe im Leben ſelbſt. Und wo der Belgier die Tine 
weibevollen Ernjtes braucht, darf der Deutſche die Glanglicter feines verflarenden 
Humors fpielen laſſen. Wo jener vingt in Siwiefpalt und Sehnſucht, ftebt diejer feſt 
in erquicender Ganzheit. 

Natürlich vergleichen wir nicht, um andersgeartete Dichter und andersempfundene 
Werke gegeneinander abzuſchätzen. Wir dürfen Maeterlind neben Keller lichen. Aber 
wo fie cinmal beide denfelben Stoff behandeln, da ijt e3 doch, als ob damit die 
Wiinferelrute an den Boden febliige, um uns Deutſche zu mahnen an ungebobene 
Schätze. Und die Frauen mögen uns fagen, mit welchem Dichter fie e3 diedmal 
batten wollen. 


& Gd 
Se oe He? 





Die IJmkerei als Frauentdtigkeit. 


Don M. Heinz. 
(Nadorud verboten.) 


Es ift merkwürdig, daß unter den Erwerbs— 
arten für Frauen die Imkerei laum erwähnt wird. 
Mitunter wird der Gedanke wohl geſtreift: in den 
Landwirtſchaftsſchulen für Frauen in England und 
Norwegen wird Bienenzucht und die Herſtellung 
von Bienenwohnungen gelehrt; die Teilnahme von 
Frauen an deutſchen Imlkerlehrkurſen wird als 
Kuriofum erwähnt; es ift auch befannt, daß fic 
die miannliden Imker von ibren Frauen und 
Töchtern affiftieren laſſen, diefe Aſſiſtenz hod ein: 
fciiten und ihnen manche Nebenarbeiten — die 
unangenebinften — gang iiberlafjen. Dieje Beihilfe 
der Fraucn ijt aud) erwähnt in Dzierzons altem 
Bienenlebrbuch '), weldem der Herausgeber Bruckiſch 
cinige Auffage aus eigener Feder vorangeben (aft. 
Sn einem derfelben, der die fiir Das Jahr 1847 
merhwiirdige Uberſchrift „Emanzipation der Frauen” 
tragt, ſagt Bruckiſch: , Weder die Zuſtimmung noc 
bic Mithilfe des Gatten foll den lieben Frauen 
ferner von Noten fein, fich einen angenehmen, ſüßen 
Megenftand (einen bem cigentliden Bienenftod auf: 
zuſetzenden Honigraum) anjucignen. Er begriindet 
diefen — doch wobl anfecbtbaren — Rat damit, daf 
die Frauen der Imler ,,fich durch die Mühe und 
Plage des Ausſchmelzens cin unbeftreithares Anrecht 
an den Honig erwerben.” Er gebt nod) weiter und 
rat den Frauen, nach dem Dzierzonſchen Bienenbuch 
mit Dzierzons Stöcken felbftindig gu imfern „und 
fich damit dic größte Unabbangigkcit von der Willfiir 
und dem Geldbeutel ihres Gemahls yu verfdaffen”. 

Bruciſch hat alfo nicht nur viel Cifer fiir Fort 
ſchritt in der Bienenzucht, fondern aud) fiir Fort: 
ſchritt im allgemecinen gebabt; ſeine „Emanzipation 
ber Frauen” in der Imkerei ſcheint aber eins jener 
Samenfirner gewefen gu fein, die unter die Dornen 
ficlen. Die Meinung, daf die Frauen bei der 
Honiggewinnung , aller Manner Mitwirlung bequem 

ty Nene verbefferte Blenengucht des Pfarrers Dzierzon zu 


Carlémartt, berausgeqeben und erldutert bon dem Vienenbereins⸗ 
vorſteher Brudiih in KRoppiy 1855. 


werden entbebren können“, ſcheint bisher nicht 
Wurzel gefaßt gu haben, und cS ift beut, nad 
mehr als fiinfgig Jahren, von dem Vorbandenfein 
felbftanbdiger Imkerinnen weniger befannt als etwa 
von weibliden Tijdlern oder Schuhmachern. 

Und bod) ift die Imkerei nicht etwa cin Gebiet, 
dad fo weit abſeits lage, daß Frauen es nit 
leicht erreichen köͤnnten. Die Bienenzucht fiigt fic 
fogar ſehr gut in die hauswirtſchaftliche ober 
gärtneriſche Tatigfcit cin, und fie wire auch eine 
Art gewinnbringender Erholung fiir Frauen, deren 
Haupterwerb zu vielem Sigen zwingt. Für dic 
drei oder vier Sommermonate wird die Beſitzerin 
eines mittleren Bienenſtandes dieſem den größten 
Teil des Tages zu widmen haben; für weitere 
drei bis vier Monate wird das Nötige in einer 
Stunde tiglich (im Durchſchnitt gerechnet) zu cr: 
[edigen fein; im Winter hat man nur darauf ju 
adten, daß keine Stdrung an den Bienenftand 
fommt. Die Herftellung von VBienenivohnungen 
und Kunftwaben würde fic) gang gut an die 
Bienenzucht anglicdern laſſen und fiir ſolche Imke— 
rinnen gut paſſen, die ſich vor Handwerlerarbeit 
nicht ſcheuen und eine nutzbringende Ausfüllung 
ihrer freien Zeit wünſchen. 

Man wird wohl einwenden, daß die Bienenzucht 
nur betreiben könne, wer einen eigenen Garten 
habe. Das iſt nun nicht richtig. Einerſeits würde 
cin Marten, inmitten einer größeren Stadt gelegen, 
den Bienen zur Weide natürlich nicht genügen 
können; andererſeits kann der Schatten der Objt: 
bäume, unter dem man ſich einen Bienenftand ge- 
wöhnlich denft, aud) durd anderen Schuh erfest 
werden. Man möchte fagen, daß der Obftgarten 
ſchwerer den cigencn Bienenftand, als diefer den 
eigenen Obfigarten entbehren könne. Denn da der 
Fruchtanſatz der Obftbhaume in manden Jahren 
davon abhängig ijt, ob die Bienen von Bliite gu 
Bliite fliegen fonnen, und da die Witterung jur Heit 
der Baumbliite oft fo wechſelnd und ungiinftig ift, 
bah fie ben Bienen nur furze Musfliige zu den 
nächſtgelegenen Bäumen geftattet, fo tut jeder Obſt— 
züchter gut, fic) nicht auf fremde Bienen gu ver: 

40* 


628 


laffen, fondern einen eigenen Bienenjtand angulegen | 


und fiir deffen Bilege au forgen.") Wer nun einen 
Objtgarten bat, wird meiſt aud) den Bienenftand 
dort anlegen; wer aber feinen oder feinen gecigneten 
Objtaarten bat, fann ben Bienenftand auch an 
anbderem Orte berricdten. Qn Dzierzons wie in 
Ilgens Lehrbuch der Bienengueht ift whe von etwas 
Selbftverftindlidem davon gefproden, dah die 
Bicnenftdde in die Fenfterdffnungen von ruhig ges 
legenen Stuben und Dachfanumern cingebaut ober 
auf flade Dacher gefest werden könnten; nur 
dürfte bier nicht [oharfer Luftzug herrſchen, und die 
Bienen miiften freien Ausflug haben?) Sogar 
auf dent Vande werden die Bienenltide bisweilen 
auf bas flade Dach eines Schuppend 3. B. geftellt, 
und diefe Mafregel läßt fic) auch verſtehen, wenn 
der Garten Kindern als Spielplag dient, wenn 
man beim Ueftellen ded Gemiifegartens von den 
Bienen zu oft beläſtigt würde ober — bie Bienen 
belaftigte; ferner, wenn dad flade Dach etwa im 
Schutz cines dabinterliegenden höheren Gebäudes 
einen windſtilleren Blak böte als ein zugiger 
Marten. Daraus ergibt fic, daß Borftadt: 
wohnungen und Wohnungen im kleineren Städten 
ſich gang gut zur Aufnahme einiger Bienenſtöcke 
eignen können, da dit Bienen von ba aus ganz 
leicht Alleen, Baumpflanzungen, Garten, Wiefen, 
welder und Walder erreichen werden; fie ſcheuen 
weite Wege nicht, wenn fle nicht durch Kalte, 
Naffe oder Wind am Fliegen gebindert find. — 
So wiirden ſich nun Wohnungen in Bororten, 
ntittleren und kleinen Stadten oft yur Aufnahme 
ciniger Bienenftide cignen, und viele Frauen, die 
durch hauswirtſchaftliche oder andere Tatigleit fiir 
den grifiten Teil ded Tages an die Wobhnung ge: 
bunden find, würden durch dic Bienenpfleae Er: 
bolung und Anregung in dad Cinerlet ihres Lebens 
bringen können. 

Wenn id nun aud ber Meinung bin, bak die 
Imkerei febr gut in das Frauenleben paßt, fo will 
ich doch auch) erwähnen, in welchen Puntten die 


Imlerin gegen den Imker im Nachteil iſt. Die 
erfte Schwierighit iſt die Frauenkleidung. Der 


Mann in feinem anliegenden Angug von dichtem 
Stoff ift gut gegen Bienenftiche geſchützt. Die 
Imlerin finnte ja aud am Bienenftand cine Tuch— 
jade tragen; da fie aber an leichte Sommerkleidung 
gewöhnt ift, würde fie [leicht transpirieren, und 


) Der Thiſtertrag in einem belannten vomologiſchen Inſtitut 
Schlefiens tt febr ſparlich geworden und trey des Blutenreich⸗ 
tums fait anuj Nall geſunken, ſeit man dent friiber dort befinds 
lichen Btenenftand entfernt bat, 

% Die ſlädtiſche Bienenpficae oder Hawss und Stuben⸗ 
bienen: Birtidaft, Bulfag von Bruckiſch, S. 48 oes 
verbeiferten Bientubuches cee Pfarrers Dzierzon. 


Meuen 


Erwerbstãtigleit. 


Schweißgeruch macht die Bienen leicht zornig. Tragt 


| fie aber bie gewöhnliche leichte Kleidung, fo tft fe 


nicht gegen bie Stiche geſchützt. Vorteilhaft und 
nicht unſchön ſcheint mir cin ruſſiſcher Attel bon 
geraubtem Baumwollflanell,) der über dem Haus: 
Eleid getragen wird. Die Armel müſſen am unteren 
Rand nit Gummizug verfeben fein, damit fre die 
Handgelente felt umſchließen. Dieſer Kittel bleibt 
beffer obne Steb: ober Umlegekragen, weil am 
Halſe bas Heifiwerden am unangenehmiften ift. Der 
Hale kann gedectt werden burd den Stoffteil der 
Bienenhaube, bie ich, ebenfo wie den Rittel in 
Notfällen anlege. — Die Männerkleidung gibt, im 
Gegenſatz au der Frauenkleidung, Schutz gegen das 
Eindringen der Bienen von unten ber; bad Bein: 
fleid, in bie boben Stiefel geftedt oder über den 
Zugſtiefeln gufammengebunden, ſchließt vollſtändig 
ab. Loh könnte die imfernde Frau wohl eine Art 
langes Reformkleid tragen, deſſen unterer mit 
Gummizug verſehener Saum ſich dicht um den 
oberen Teil des Schnür- ober Kndpfftiefels legt. 

Außer ber swedmafigeren Kleibung bat der 
mannliche Imker nod) die Erleichterung, die ihm 
die Higarre ober Bfeife gewährt; er fann durch 
deren Haud die Bienen guriidtreiben und bebalt 
dod) bie Hände frei. Es find aber aud nicht alle 
Smiter Raucher, und mander Raucher verträgt nicht 
fo viele Bigarren, als zu längeren Arbeiten er: 
forbderlich find. In nod einem Punlt ſcheint die 
Imkerin gegen den Imler im Nachteil gu fein: fre 
wird nicht auf bébere Baume klettern fonnen, unt 
von ba einen Schwarm herabjubolen. Wie nun 
aber der Qmfer in dicfem alle cine Aſſiſtenz 
braudt, fo wird aud bie Sinferin cine folde in 
Unfprud nehmen können, und wie feblichlich der 
Imker auf bas Ginfangen von gat gu ungiinftig 
hangenden Schwärmen vergichtet, fo wird aud) die 
Imkerin auf einen Durchgänger feinen boben Wert 
zu legen brauchen. Eine Anpflanzung ven 
Johannisbeerſträuchern vor dem Bienenſtande zieht 
gewöhnlich die Schwärme fo an, dafi fie nicht erſt 
in bie Weite und Höhe ſchweifen; id babe fron 
vft an dem abgeſchnittenen Zweige eines ſolchen 
Strauches einen ſchweren, feftfigenden Schwarm in 
ſeine neue Wohnung getragen. — Nach Dzierzons 
Anleitung teilt man die ftarfen Mutterſtöcke und 
fann dadurch oft — nicht immer! — dad Schwärmen 
verbindern. 

Die Imkerei will natiirlich, wie fede andere 
Tatigtcit, erlernt und verftanden fein, wenn fre 
Erfolg baben foll. Es gibt ſtaatlich cingeridtete 
Imker-Lehrkurſe; twas dort geboten ift, iwird man 
erft dann qut ausnützen können, wenn man ſchon 





') Bielleicht gicbt es Stoffe, bic fid gu dieſem Swed nod 
beffer cignen. 


Erwerbstätigleit. 


Ubung und eigenes Urteil hat — ſo wie man zu 
einem Schneider⸗Kurſus Gewandtheit im Nähen mit: 
bringen muh. Die Elementarbegriffe der Bienen: 
sucht erwirbt man fich am beften unter der Anleitung 
eines tüchtigen Imkers. Wohlverftanden: nicht 
durch blinde Anwendung der Ratſchläge dieſes und 
jenes Bienenbefigers, fondern durch Lernen bei 
einem erfabrenen Bienenzüchter, bet dem der Erfolg 
die Richtigkeit ber Methode verbitrgt. 

Unter folder Anleitung wird fic) auch zeigen, 
ob bie fiir bie Imkerei nötigen Eigenſchaften vor: 
handen find. Heftiges oder furchtſames Wefen, 
Ungefcidlicbteit, Triigheit, Mangel an Ausdauer 
und an Gorgfalt ſchließen von bornberein von der 
Bienenpflege aus. Die Qmferarbeiten find nicht 
pon ber Art, daß man fie bet etwa eintretender 
Unluſt einfach abbrechen lönnte; fie müſſen aud 
bei ſchwierig werdenden Verhältniſſen mit Rube 
wenigſtens zu einem vorläufigen Ende gebracht 
werden. Es gehört ferner eine entwickelte Urteils— 
fabigteit dazu, um gu wiſſen, Did gu welder Grenze 
ntan ein Bienenvolf meiſtern darf. 

Es gibt auch fdrperliche Cigen{daften, die von 
der Bienenzucht ausſchließen fonnen: Schweißgeruch 
oder ſonſtige üble Ausdünſtung, Spirituoſen-, Bier: 
und Knoblauchgeruch, heftiges, puſtendes Atmen, 
fahrige Bewegungen, unſaubere, muffig⸗ oder fettig: 
riechende Kleidung bringt die Bienen ſo in Zorn, 
daß die Beendigung der Arbeiten manchmal faſt 
unmöglich wird), Ich bin aud nach mehrfachen 
unliebſamen Erſahrungen dahin gelommen, daß ich 
an Tagen, wo ich mich nicht wohl und friſch fühle, 
größere Arbeiten am Bienenftand nicht erſt beginne. 
Sonſt aber fann id) unbeläſtigt ohne Kittel und 
Pienenhaube arbeiten, wenn nicht grabe Gewitterluft 
herrfeht ober die Bienen durd) längere Storung 
ſchon gereizt find. 

Wenn ich nun von bem Erfolge ber Imkerei 
fprechen will, fo möchte id den Stoßſeufzer der 
Bienenzüchter voranjchiden: 

„Wenn wir verftiinden bad Wetter au machen, 

So fiunten wir Bienenfreunde wohl lachen!“ 

Man finnte wohl meinen, dak vie Gartnerci 
und die Landwirtſchaft ebenfo abbangig vom Wetter 
fet wie die Bienenzucht; dent ift aber nidt jo. Den 
Pflanzen ſchadet anbaltender Regen oder anbhaltende 
Diirre ebenfo wie ben Bienen; diefe leiden außerdem 


nod) ſehr durch ben Wind, der fie am Ausfliegen | 


— oder am Heimkommen binbdert. Vollkommen zu— 
treffend fcbeint mir der Ertrag der Bienenwirtſchaft 
durch ben ſchon mehrfach erwabnten Brucife ange: 
geben gu fein, der aud wobl bier in Dzierzons 





 Mobl alle dieſe Nbelfitinde, dic zudem nit von ben 
Bienen alcin ald laſtig empfunden werden, laſſen fich durch 


beiten find febr verſchieden. 





Sauberfeit, Selbſtzucht und naturgemdfe Lebensweife abſtellen. 


629 


Sinne fpridt, er ſagt): „Man kann obne (ber: 
treibung annehmen, bag die Bienen durchſchnittlich 
a) in guten Sabren . . 50—100 %, 
b) in mittleren Sabren 10O— 50°, Sibres Werted 
c) in ſchlechten Jahren 1— 10% 
an Honig, Wadhs und Schwärmen bei swe: 
mäßiger Behandlung licfern.” Ganz ſchlechte 
Jahre find felten, und wads mancher fo nennt, 
wire wohl eher ſchlechte Behandlung yu nennen. 

Von dem Wert der Bienenſtöcke komme ich nun 
auf dic Anſchaffungskoſten. Die Einkaufsgelegen— 
Man fann bisweilen 
bei Fortzug, Krantheit oder Tod eines Bienenwirts 
gute Stide mit ſtarlem Boll, Honig und leeren 
Waben fiir 15—25 Mark pro Volk faufen; cin 
ſolcher Ankauf ware wobl ber vorteilhaftefte, ba 
man vor ftarfen Stoden im ſelben Gommer ſchon 
ernten fann. Hat man zum Antauf befester Stöcke 
(quied Bolt mit gutem Borrat in gutem Stor) 
feine Gelegenbeit, fo fonnte man fich die leeren 
Wohnungen (3. B. die Kanitz Magazinſtöcke) faufen 
und fic bet Imlern der Umgegend frithe ftarte 
Schwärme ober ftarke Wbleger zu verſchaffen 
ſuchen. Ungenau gearbeitete, unpraltiſche Wohnungen 
und ſpäte, ſchwache Schwärme oder Boller ſollte 
man nicht einmal geſchenkt nehmen; an ihnen wäre 
Mühe und Futter verloren. — Da der Anfänger 
ein ſicheres Urteil über gute oder ſchlechte Be— 
ſchaffenheit der Bolter und Stöcke nicht haben kann, 
ſollte er beim Ankauf einen erfahrenen Imker zu 
Rate ziehen; es wäre auch vorteilhaft, ſich an einen 
Bienenzüchter⸗ Verein anzuſchließen und die Be: 
ſchaffung durch dieſen gu bewirlen; doch iſt es mir 
nicht wahrſcheinlich, daß in dieſen Vereinen Bruckiſch 
Ideen über die Emanzipation der Frauen in der 
Imkerei leicht Eingang finden ſollten; ich fürchte 
vielmehr, daß ſich Widerſtand und Ablehnung da— 
gegen zeigen würde, ſelbſtändige Imkerinnen als 
gleichberechtigt aufzunehmen und gu fördern. 

Da nun die Einkaufsgelegenheiten fo verſchieden, 
mitunter ſchwierig fein fonnen, läßt ſich die Höhe 


| ded Unlagelapitals nur ungefabr angeben. 


Ich veranſchlage: 
1, 4 Wohnungen, viereckige Kanitz-Magazine, 
& .4 5,50 = .422— 25 
2. 4 ftarfe Ableger ober frithe Schwärmer 
mit Bau... 2.4 5—10 = .@20- 40 
B. Unterfage, Geräte, TranSport . . ..418— 40 
4 1 Honigſchleuder nebſt Zubehörz) ..480-- 30 


Sa. 4 90—135 

lh S 1h bed von Dzierzons mehrfach erwähnten Bienenbud. 

% Die Ausgabe fiir Pofition 4 fann, falls nicht beſehle 

Stöcke getauft wurden, auf bad folgende abr verſcheben 

werden, weil man Schwarmen und Ablegern iim erſten Herbſt 
nicht viel nebmen kann. 





6a0 


Run könnte man wohl cinwenden, daß fiir 
dieſes Geld cine ganze Menge Honig obne Riſiko 
und obne Mühe gu faujen fei. Das ware aber dann 
cin fic) aufgebrenbded und fein zinstragendes 
Kapital. Ferner könnte man wohl viel Honig 
faufen, man tut es aber doch nidjt; es fommmt ja 
auch gar nicht fo viel reiner Honig in den Handel, 
alg cin allgemein vermebrter Verbrauch erfordern 
wiirde. Die wafferige, ſüßſäuerliche Flüſſigkeit, die 
man unter dem Ramen Honig leichter befonunt, 
wird nicht als Ocifls und Rabrungsmittel yu 
betracdien fein. Angenommen aber, man fonnte 
bei einent als zuverläſſig befannten Imker gleicd 
nad der Ernte 20 Pfund Honig bekommen: aud 
in Familien mit reichlichem Wirtſchaftsgelde ent: 
ſchließt man fich faum gu diefer Ausgabe, obgleich 
der Betrag an Spirituofen, Wurft, Fleiſch, Kuchen 
und Ledereien febr bald erfpart fein fnnte. 

Bielen Familien würde durch cinen eigenen 
Vienenftand der fiir die Gefundbheit fo wichtige 
Honiggenuß gefichert iverden; die Koften waren 
fon in ben erften Jahren hereingebracht allein 
durch Abſtrich an den vorber genannten ſchäblich 
wirfenden Genuf- und ſogenannten Ctarfungs- 
mitteln. Much wiirden bie Roften fiir Arzt und 
Upotheter fier erbeblich eingeſchränkt; wenn bas 
bejonders bei Kindern beftebendbe — und = wabr: 
ſcheinlich berechtigte — Bediirfnis nah Süßigleiten 
nur mit Honig ſtatt mit Zuckerwerk, Kuchen und 
dergleichen befriedigt würde. Ich erwähne noch die 
Heilkraft des Honigs bei Halstrantheiten, Heiß— 
hunger, ſchwachem Magen, Blutarmut und anderen 
Leiden, die wohl allbekannt iſt. 

Ich kann meinen Aufſatz nicht beſſer ſchließen 
als mit den Worten Dzierzons: ,, Klein iſt das 
Kapital, das zur Anſchaffung eines Bienenftodes 
erforderlich ift; aber gu einer bedeutenden, hundert⸗ 
fachen Grohe fann es in wenigen Sabren beran: 
wachſen und died bet qeringer Mühe, wenn über— 
Haupt die Bienenpflege cine Miihe und nicht viel 
mebr die angenehmſte, erbabenfte und edelfte 
Erholung zu nennen ijt.” 


* 


Uber die Tätigkeit einer ſtädtiſchen 
Armenpflegerin. 


Aus dem Verwaltungsbericht ber Stadt Bern: 
burg entnehmen wir folgende interefjante Mit: 
teilungen: Seit bem 1. Ottober 1900 ijt bier eine 
Diakoniſſin aus bem anbaltifeen Diakoniſſenhauſe 
Deffau, 3. St. Schweſter Alma Cumme, in ber 
ſtädtiſchen Armenpflege tatig. 
einer Schweſter in der offiziellen Armenpflege nur 
in wenigen Orten vorhanden ſein wird, ſollen über 
die allgemeinen Aufgaben unſerer ſtädtiſchen 





wollen. 
Da die Mitwirkung 





oder zu ermäßigen iſt. 


Erwerbstätigleit. 


Schweſtern nachſtehend einige Mitteilungen gegeben 
werden. 

Die eigentliche Tätigkeit der Armenſchweſter, 
bie ben Kernpuntt aller ihrer Arbeit bildet, beſteht 
in der Unterſuchung aller Fälle, in denen ſich 
bedürftige Perſonen mit ber Bitte um Unterſtützung 
an dic Armenverivaltung gewendet haben. Die 
Schwefter erfährt jeden Morgen im Armenburean, 
welde Leute ant vorbergebenden Tage cine Unter: 
ſtützung beantragt baben; falls ihr bic betreffenden 
Perfonen nod nicht befannt find, notiert fie ſich 
zugleich die nitigften Perfonalien. Dann ſucht fie 
jede iby geimeldete Familie bezw. Perfon auf und 
orientiert ſich durch eingehendes Befragen moglichſt 
genau über die Arbeitsfähigkeit, den Gefundbeits- 
zuſtand und die Hilfsbedürftigleit der Betreffenden. 
Bu dieſem Swed hat ſich die Schweſter Kenntnis 
zu verſchaffen von den wichtigſten Beſtimmungen 
und Geſetzen, die für die offene Armenpflege in 
Betracht kommen, z. B. fiber Alters-, Anvaliden: 
und Unfallverſicherung, über den Unterſtützungs— 
wohnſitz, über Fürſorge und Zwangserziehung, 
fiber gewiſſe Beſtimmungen des bürgerlichen Geſetz 
buches uſw. Die Schweſter begibt fic) dann zu 
dem Armenpfleger bes betreffenden Bezirks und in 
Gemeinſchaft mit ihm berat fie, was an Unter: 
ftiigung zu gewähren, bezw. ob und unt wieviel 
vie ſchon fritber bewilligte Unterftiigung gu erhöhen 
Gin vidtiges Handinhand: 
achen der Armenpfleger und der Schweſter fann 
fiir bie Armenpflege nur forderlid) fein. Die 
Tatighcit ber Armenſchweſter, die ja mehr ergänzender 
Natur fein foll, bat den Armenpfleger befonders 
in den Fallen gu unterſtützen, wo cine Beurteilung 
der Dinge durch cine weibliche Perſönlichleit an: 
gebradt erſcheint, waihrend die Schivefter andcrerfeits 
in Beurtcilung geſchäftlicher Fragen ſich gerne bem 
befferen Verſtändnis der Armenpfleger unterordnet.(¢) 

Mus der urfpriingliden Tatigleit der Armen: 
ſchweſter beraus find nun mit der Seit cine Menge 
anderer Pflichten und Arbeiten erwachſen, die alle 
eng incinanbdergreifen und von denen bier nur 
cinige weſentliche erwähnt feien. Bor allen Dingen 
foll fics die Schwefter im Antereffe ber Armentajfe 
und bes cingeinen HilfSbediiritigen bemithen, den 
armen Leuten Arbeitsgelegenheit zu verſchaffen. 
Wenn auch im der Mehrzahl der Fälle Alter, 
Siechtum oder Krankheit das Arbeiten ausſchließen, 
ſo bleiben dennoch eine Menge von Leuten, die 
entweder keine Arbeit finden oder keine finden 
Hier mit Rat und Tat zu helfen, iſt eine 
der wichtigſten Aufgaben der Armenſchweſter. 
Naturgemaäß kann fie faſt ausſchließlich nur Frauen 
Arbeit verfcbaffen, und aus dieſem Grunde iſt im 
Herbſte 1902 der Beſchäftigungsverein entſtanden, 


Eriverbstatighcit. 


ber Hilfsbediirftigen Frauen mit Nah: und Strict: 
arbeit verforgt. Im übrigen vermittelt die 
Sehwefter den Fraucn und Madden je nach dem 
Alter und ber Leiftungsfabigkeit der Arbeitſuchenden 


Stellungen ald Dienftmadden, Rinderfraulein, 
Wufwartung, Waſchfrau, Sebeuerfrau, Woden: 


pilegerin und dergl. Gn ſolchen Fallen macht es 
ſich die Schweſter gur Regel, nach Verlauf ciniger 
Beit ſich bei den betreffenden Herrſchaften nad ber 
bert arbeitenden weiblichen Perfon zu erkundigen. 

Hernerbin hat die Schweſter mit baran zu 
arbeiten, daß unter der drmeren Bevilferung mehr 
Sinn fiir Ordnung und Reinlidfeit erwedt wird, 
fowie daß bie Leute wenigſtens die nötigſten Be- 
griffe von Hygiene und vernunftgemäßer Lebens— 
weife und Wirtſchaftsführung erfaffen. Liegt bier 
cine der febiwerften und ſcheinbar hoffnungsloſeſten 
Aufgaben ciner Armenſchweſter, fo bat fie ſich dieſer 
Arbeit grade deshalb mit doppelter Energie gu 
untergichen. Sie felbft foll den Frauen zeigen, 
wie cine Wobnung reinjumaden ijt, ſie foll dic 
griferen Hinder, falls bie Mutter bettlagerig ift, 
beimt Fegen, Scheuern, Fenſterputzen helſen laſſen, 
bezw. fie dazu anlernen; fie ſoll in den Fallen, 
wo fie Ungesiefer bet den Leuten merkt, energiſch 
dagegen vorgeben und den Leuten zeigen, wie man 
dasſelbe entfernt und fic davor ſchüßt. In Armen— 
ſachen bat die ſtädtiſche Schweſter 3880 Befuche 
gemacht. Die ſtaädtiſche Schweſter wohnt mit den 
Schweſtern der Gemeindedialonie in einer Wohnung, 
ſodaß auch hierdurch die wünſchenswerte Verbindung 
der offiziellen Armenpflege mit der Privat— 
wobltitigteit gefördert wird. 

Die Aufwendungen der Stadt fiir die Armen: 
ſchweſter betragen pro Dabr 1183 M. — Die 
voritehend geſchilderte Einrichtung hat fic) bis jetzt 
qut bewährt und foll daher auch fiir die Zukunft 
beibebalten werden. 

Das Rieblinderivefen bat im Berichtsjahre 
feitend der Arinenverwaltung bejondere Beachtung 
geſunden. Es wurden Grundfake aufgeltellt, nach 
welchen Sichfinder feitens ber Armenverwaltung 
untergebradt werden follen, und den Pflegeeltern 
wurden ſchriftliche Verhaltungsmaßregeln, die 
Ziehlinder betreffend, gegeben. Die Beaufſichtigung 
der Ziehlinder wurde der ſtädtiſchen Armenſchweſter 
übertragen, wads ſich bis jeyt gut bewährt bat. 
Die Schweſter ſucht in der Regel jedes Mind alls 
monatlich in der Wohnung der Pflegeeltern auf, 
und zwar finden dieſe Befuche gu gang verfdicdenen 
Tagesaciten ftatt, damit die Schweſter cinen 
möglichſt genauen Einblick in den Hausftand und 
die Wirtſchaftsführung der Pflegeeltern gewinnt. 
Sie vrientiert ſich bei dieſen Beſuchen nach 
Möglichkeit über den Geſundheitszuſtand des 


— — —— — — — — —— — — — — — — — 





631 


Kindes, über ſein Betragen, ſeine Schulzeugniſſe, 
ſie überzeugt ſich, daß in der Wohnung der 
Pflegeeltlern die nötige Reinlichkeit und Ordnung 
herrſcht, ſie erkundigt ſich auch beſonders nach der 
Schlafgelegenheit des betreffenden Kindes. Falls 
es ihr nötig erſcheint, fet fie fic) mit bem 
zuſtändigen Armenarzte in Verbindung wegen der 
Gejundheit bes Kindes und vermittelt dic Gewährung 
von Heilmitteln und Bädern durch die Armen: 
veriwaltung. Auch mit dem Geiſtlichen der 
betreffenden Gemeinde, fowie mit dem Rektor bezw. 
dem Klaffentebrer ded Kindes beſpricht fie fic, 
fallS befondcre Griinde dazu vorliegen. Etwaige 
Wbanderungen in der Pflege oder Behandlung des 
Ziehlindes werden durch gütliche Beſprechung mit 
ben Pflegeeltern zu erreichen geſucht. Liegen 
ernftliche Griinde vor, die den weiteren Aufenthalt 
des betreffenden Kindes in einer Familie nicht 
mehr tunlich erſcheinen laſſen, ſo beſpricht ſich die 
Schweſter vor allen Dingen mit dem Armenpfleger 
desſelben Bezirks und holt ſich auch deſſen Rat 
bei ber Wahl newer Pflegeeltern ein. 

Die ſtändigen Befuce ber Armenſchweſter bei 
ben Pflegeeltern haben in den meiften Fallen ein 
beiderſeitiges gutes Einvernehmen hergeftellt. Die 
Pflegeeltern ſehen, daß die ihnen übergebenen 
Kinder unter ſteler Aufſicht ſtehen, was im ver— 
ſchiedenen Fällen die erwünſchten und notwendigen 
Folgen einer beſſern Pflege hatte; fie erblicken 
aber zugleich in der Armenſchweſter eine Perſön— 
lichtcit, an welche fie ſich in allen Fallen, wo es 
ſich um dad geiſtige oder forperlice Wohl des Kindes 
handelt, vertraucnévoll wenden fonnen.  Diefe 
Melegenbeiten werden reichlich benugt, Für die 
Heinen heißt es meift, den Arzt zu tonfultieren; 
fiir bie Griferen verjucht die Schweſter, Auf— 
nabme int Rnaben: oder Mädchenhort zu finden; 
sutvcilen feblt es an ben nötigen Kleidungsſtücken, 
und dann gilt es, freundfiche Geber qu finden, welche 
bie Lücken ausfiillen. Für die heranwachſenden Maden 
verſucht bie Schwefter, leichte Aufwartung gu finden, 
aud) erfunbdigt fie fic) dann bei den Herrſchaften 
nad der Fiihrung ded Mädchens. Der regelmabige 
Verkehr ber Schwefter in den Familien, wo Zieh: 
finber find, fragt nicht wenig dazu bet, die 
ſtädtiſche Schweſter in den Kreiſen der armeren 
PBevdlferung befannt zu machen. Sie felbft ver: 
größert dadurch ibre Perfonalferminis ber armen 
Leute gang betradtlih, wads bei der Art ibrer 
Arbeit von grofem Wert erſcheint. Aud) haben 
fic) durch dic regelmäßigen Ziehkinderbeſuche ver: 
ſchiedene Mißſtände herausgeſtellt, die mit Hilfe 
der Armen Deputation leicht beſeitigt werden 
fonnten. Die Sahl der Sichtinderbefude im Sabre 
1903 betrug 600. 


aoe 


632 





Nachdrud mit Cucllenangabe erlaubt. 


* Die Frauen und die Kaufmaunsgerichte. 
Die gweite Beratung des Gefegentwurfs 
betreffend dic Raufmannsgeridte fand in 
den Tagen bes Frauenfongreffes ftatt. Sum § 9a, 
welder beftimmt, dak Perfonen weiblichen Geſchlechts 
nicht alS Mitglieder ded Kaufmannsgerichts berufen 
werden fonnen, [agen zwei Abanderungsantrage 
vor, welche die Zulaſſung der Frauen forbderten. 
Ebenfo wurde beantragt, das wabhlfabige Alter von 
25 auf 21 Sabre berabyufesen und ben Fraucn 
aud das paffive Wahlrecht zu geben. Graf 
Pofadowsly erflarte, daß bas Geſetz 
fdecitern miifte, wenn bas aftive oder 
paſſive Wablredt der Frauen angenommen 
wiirde. Der Abgeordnete Trimborn  erflirte 
daraufbin, daß das Sentrum an diefem Puntte 
die Borlage nicht fcheitern faffen wolle und darum 
gegen die Abanderungéantrige ftimmen werde. 
Der fozialdemofratifde Abgeordnete Lipinsti be— 
jcicbnete die Haltung bes Abgeordneten Trimborn 
alS duferft verwunderlich. Derfelbe habe friiber 
genau das Gegenteil vertreten von dem, was er 
jest befiirworte. Das Zentrum ſchrecke vor dem 
Macdhtwort der Regierung juriid. Den gleiden 
Vorwurf erhob der Abgeordnete Dr Miiller: 
Meiningen, welder lebhaft für die Gleichftellung 
der Frau in den Kaufmannsgeridten cintrat. Wenn 
das Geſetz an bem Widerftand der Regicrung 
fcbeitere, fo werde diefe allein die Verantwortung 
tragen. Heutzutage, wo die Frauen faft gu ſämtlichen 
Studien gugelaffen feien, erſcheine es doppelt un: 
verſtändlich, die Frauen bier einfach „auf dem Altar 
des Kompromiffes gu opfern“. Abg. Bed führte aus, 
daß die national:liberale Fraftion in diefer Frage von 
jeher geteilter Anſicht geweſen fei; er perſoönlich 
babe früher ebenfalls fiir die Ausdehnung ded 
Wablrehts auf die Frauen gefproden und nur 
nad ſchwerem Entſchluß feine Anſchauung ver: 
anbdert. Wenn das Haus auf der Qulaffung der 
Frauen bebarren würde, fo würde das cin Ver: 
ſchwinden des Gefeges auf Nimmertviederfeben 


bedeuten, und dod) fei in erfter Linie alles an | 


— — 


dem befdbleunigten Suftandefommen der Vorlage 
qelegen. Wud) dic iibrigen Redner bedauerten dic 
Haltung der Regierung. Es wurde ſchließlich das 
attive Wablredt der Frauen angenommen. 

Die Verbandlungen der dritten Lefung, die am 
17, Suni ftattfand, geben wir im Auszug wieder. 

G8 liegt ber in zweiter Lefung abgelebnte An: 
frag vor, bas aflive Wahlrecht der Frauen und 
die Feſtſetzung des aftiven und paffiven Wahlrechts 
auf 21 und 25 Sabre (ftatt 25 und 30 nad der 
Vorlage) wieder gu befeitigen. 

Abg. Singer (fos.) ertlart, im Fall der An- 
nabme dieſes Antrags werde feine Partei gegen 
den Geſetzentwurf ftimmen. Die Gerabfesung des 
Wablalters fei eine alte ſozialdemokratiſche 
Forderung, der Ausſchluß der Frauen von der 
Wählbarkeit ein Unrecht und ein Hohn auf die in 
Berlin tagenden Frauenfongreffe, deren Abordnungen 
von der Kaiferin und den Frauen der Minifter und 
Staatsſekretäre empfangen worden ſeien. 

Ubg. Trimborn (Rtr.) bittet um Annahme bes 
RKompromifantrageds; feine Partei alte das Gejeg, 
wie es fid) dann geftalte, fiir cinen wefentliden 
Frortidritt und werde deShalb dafiir ftimmen, 

Abg. Dr MiklLer-Metningen (fr. Bp.) erflart 
namens feiner Partei, dah mit der Annabme des 
fogenannten Rompromifantrages das Qntereffe an 
dem Gelege fiir die Parte’ verloren gegangen fet. 
Die freifinnige Partei werde gegen dads Geſetz 
ftimmen. (Beifall [infs.) 

Ubg. Henning (fonf.): Wir werden fiir das 
Gefets ftimmen auch nach Annabme des Kompromif- 
antrages; wir bedaucrn auf bas lebbaftefte die 
Haltung ber verbiindeten Regierungen gegeniiber 
der Erteilung des aftiven Wahlrechts an die Frauen. 

Abg. Bed Heidelberg (math): Das Gefeg ift 
aud nad Annabme des Kompromifjantrages 
brauchbar. Deshalb werden wir fiir dad Gefeg 
ftimmen, 

Abg. Schrader (fr. Vg.): Meine Freunde 
werden gegen dic Rompromiffantrage ftimmen und 
mit deren Annabme aud gegen das Gefeg. Wir 
Iebnen jede Verantwortung fiir dad Gefey ab, weil 
wir es fiir eine Ungeredtigheit balten, die Frauen 
hier zu entrechten. (Unruhe rechts.) Ich fann 
nur bedauern, daß dieſes wichtige Geſetz in ſo 
ſpäter Stunde beraten wird. Unterbrechen Sie 
mich, ſo werden Sie doch nicht erreichen, was Sie 
wollen. Das Verhalten der Regierungen iſt in 
jeder Weiſe dem Parlament gegenüber ungerecht 
fertigt. Die Regierung begründet ihre Haltung 


— —— — — 


Bur Frauenbewegung. 


nicht; fie fagt einfach: | Wir wollen nicht!” Ich babe | 


bie Chre, dem Berbande der weiblichen An— 
aeftellten angugebdren, und ich fann nur bedaucrn, 
daß die Regierungen in ſolcher Weije berechtigte 
Fyorderungen der Frauen abgelehnt haben, Wenn 
der Staatsfelretir auf dem Frauenkongreß die 
hervorragenden Frauen aller Stände gefragt bitte, 
jo würde er gehört haben, daß alle fiir die Er: 
teilung des Wahlrechts an die Frauen find. Wir 
fdnnen nicht filr bad Geſetz ftimmen, da es nur 
fiir einen Teil der Handlungsgebilfen gemacht ift. 
(Beifall links.) 

Staatsſekretär Graf Pofadowsty: Der Bor: 
redner bat gejagt, er ftimme gegen dad Geſetz, 
weil es mur fiir cinen Teil der Handlungsachilfen 
gemacht ſei. Bei den Gewerbegerichten haben dic 
weibliden Arbeiter auch fein Wablredt, trogdem 
ift ftetS von allen Parteien geriibmt worden, daß 
die Gewerbegerichte ausgezeichnet wirlen, und das 
Gewerbegeridtsacies gilt chenfo, wie das Kauf— 
mannsgeridtsgefes fiir dic Ungeftellten und Urbeiter 
beiderlei Geſchlechts. Man Fann alfo nicht fagen, 
dieſes Geſet ift nur fiir cinen Teil der Handlungs— 
achilfen geſchaffen. Die weiblichen Arbeiter find 
zum Teil auch Konfurrenten der männlichen Wrbeiter. 
Es ift aber nie bebauptet worden, dak deshalb dic 
Gewerbegeridte, bei denen nur männliche Arbeiter 
fungicren, irgendivic nur fiir einen Teil der Arbeiter 
wirfe und ungerecht urteilen. Zweitens möchte ich 
dringend bitten, den Antrag Itſchert angunebmen. 
Soh würde es in der Tat fiir cinen weſentlichen 
Mangel des Geſetzes halten, wenn den Handlungs— 
aebilfen in ſchwierigen Fragen der Konkurrenzklauſel 
nicht cin Rechtsanwalt zur Seite fteben fann. 
Man hat ſich auf den Frauenfongref berufen. Die 
Frauen find glingend und gaſtlich aufgenommen 
worden. Daraus folgt nod nicht, da wir mit 
jedem Teile ibres Programms cinverftanden find; 
das politifde Stimmrecht der Frauen lehnen alle 
Regierungen ab, (Beifall.) 

Abg. Yattmann (wirtſch. Bg.): Wir ftimmen 
fiir die Kompromißanträge und den Antrag JItſchert 
und aud dann fiir das ganze Geſetz. Wir wiirden 
uns freuen, wenn diefes mangelbafte Geſetz jum 
Segen bes Handelsftandes zu ftande kommt. 
(Beifall.) 

Abg. v. Kardorff (Rp.): Ach glaube, dap die 
RKompromifantrage die Unvollfonumenbeit ded Geſetzes 
erhöhen. Uber beffer ift doch, das annehmen, was 
qeboten wird, als nits befommen. Ich bedauere, 
daft den Frauen das Wablrecht nicht gewabrt werden 
foll. Wher aus ben Griinden, die die anderen 
Herren bereits ausgeführt baben, ſtimmen auch wir 
fiir das Geſetz. (Beifall.) 





Abg. Simmermann (Reformpartei): Wir be: | 


bauern die ablebnende Oaltung der Regicrungen 
qegeniiber ber Wltersqrenge. Man bat es verftanden, 
die beften nationalen Stinde vor den Kopf yu 
ſtoßen. Crft tat man es mit den Handiwerfern, 
dann mit den Landivirten, jest mit den Handlungs: 
aebiljfen. Der Not gebordiend, nicht dem cigenen 
Triebe ftimmen wir fiir dad Gefes, damit etwas 
qu ftande kommt. (Beifall.) 


Damit ſchließt die Hauptbeſprechung. 


633 


Das Gefes wird mit bem RKompromif: 
antrage und nad Ablebrung des Wntrages Itſchert 
qegen bie Stimmen ber Sozialdemofraten, Polen, 
Freifinnigen, mit Ausnahme der Abga. Dr Mugdan 
und Gidboff (fr. Bp.) und des Abg. Semler (natl.) 
angenommen. 

So ijt alfo der lange Rampf der weiblicen An: 
geftellten vergeblich geweſen, und die deutſche Frauen: 
bewegung bat während der Tagung des Kongreſſes 
{elbjt cine empfindliche Niederlage auf einem ihrer 
wichtigſten Gebicte erlitten. Es ift unbegreiflid, 
wie die verbiindcten Regicruugen geaen die Ma: 
jorität des NeichStages auf einer Anfehauung ver: 
barren fonnten, die den Verhältniſſen der arbeitenden 
Frauen im HandelSgewerbe und der Tüchtigleit, 
die gerade fic in der Bertretung ibrer Standed: 
interefjen bewieſen haben, fo abfolut nicht Rechnung 
trägt. Wei die Regierung nicht, was diefe Ent: 
rechtung fiir die im Konkurrenzkampf obnebin fo 
ſchwer ringenden Frauen bedeutet, und bat fie 
feine Ahnung, twas fiir einen moraliſchen Cindrud 
es madt, wenn dic Regierung das brutale Vor: 
geben der HandelSgebilfen gegen ibre weiblichen 
Kollegen beim Kampf um bas Geſetz nunmehr be: 
frijtiqt? Oder ift es die Furcht vor dem premier 
pas qui coate? Sedenfalls lehrt uns die Er— 
fabrung, in der begreiflicden Freude iiber das Ge: 
lingen des Kongreſſes nicht zu überſehen, wie iweit 
wir auf den nächſtliegenden Feldern unferer Urbeit 
nod vom Riel find. 


* Die QYmmatrifulation der weiblidjen 
Studenuten ijt nunmehr auch fiir die Wiirttem: 
bergijebe Landesuniverſität bejdloffen worden, Es 
ift nun wohl ſicher gu crivarten, daß Preußen bald 
folgen wird. 


* Gin ſtädtiſches Realgymnaſinm zu griinden, 
bat nunmehr die Stadt Berlin befdlofien. Es 
werden von ibr die Realgymnaſiallurſe, die von 
Frl. Helene Lange begriindet find und jest von 
Herrn Prof. Dr Wydgram geleitet werden, iiber: 
nonunen und zu cinem ſechsklaſſigen Syſtem 
eriweitert werden. Für die Sache der Madden: 
gymnaſien itt damit cin febr wertvoller Erfolg 
ersielt, der ſicherlich auch weiterbin ſeine vorbildlide 
Wirfung nicht verfeblen wird. 


* Totenfdau. Bei Schluß der Redattion 
erreidht uns die Nachricht von dem Tode von 
Marie Mellien, der langjährigen Schriftfiibrerin 
bed Berliner Fraucnvereins. Wir fommen in der 
nadften Nummer auf die Tatigfeit diefer cifrigen 
und vielfeitigen Witarbeiterin in der Frauen: 
bewegung zurück. 


Fae a 


= => Biicherschau. — 


„Geſtern“, Dramatifde Studie in cinem Wt 
in Verfen von Hugo von Hofmannsthal. 2. Aufl. 
„Der cinfame Weg. Schaujpiel von Arthur 
Schnitzler. S. Fifeher, Verlag, Berlin 1904. 

Hugo von Hofmannsthals Erſtlingswerl in 
neucr Muflage. CS frojtelt uns cin wenig, wenn 
wir denfen, das febrich cin ſiebzehnjähriger: „Alt— 
Tluger Weisheit voll und frühen Zweifels“. Die 
jugendliche Unreife dieſer dbramatijden Studie in 
Verfen verrät ſich nur in der allgubellen Deutlicd: 
feit, der allju programmatifden Entwickelung des 
Problems durd) drei, vier Pbhafen, im bewuften 
Sicerplijicren des Helden. Wir gedenfen der ver: 
febleierten Fülle, des vollbebenden Klanges in Hof: 
mannsthals reifer Kunſt, ded köſtlichen Verſchweigen⸗ 
könnens. Und doch: auf dieſes Jugendwerk trifft nicht 


zu, was George von ſeinen erſten Verſen ſagt: 
Das tft noch die Aamoene 
Die blaß und zagend fic empért, 
Durch viele fremde Tone, 
Bang vor ſich felbit, die eignen hört. 


Hier iſt ſchon ein ganz eigener Ton, nicht nur 
in einzelnen Verſen und Bildern. Es lebt ſchon 
eine Grundmelodie von Hofmannnsthals ſpäterer 
Dichtung in dem Werk. Es offenbart uns das 
Glück und das Elend deſſen, der voller, reicher, 
tiefer erlebt als die gewöhnlichen Menſchen, und der 
doch nicht lebt. Und ibn ergreift zuletzt die Sehn— 
ſucht nad dem Leben, das er von ſich ſtieß. 
Andrea, der Held, ift cin Rind der Renaiffance. 
Bur Zeit der großen Maler fpielt das Stic, zur 
Heit der taufendfaltigen neuen Lebensmiglichteiten, 
von denen friibere Geſchlechter nichts wußten. Cin 
Yeben umgibt ibn, farben: und formenfatt, ge: 
fpiegelt von einer grofen Runft. Und in ibm ift 
die Sebnfucht, hinabjufteigen in die ratfelbaften 
Tiefen jedes Momentes. Seine Fiille will er aus: 
foften. Koſtet er dod) damit nur ſich felbft aus, 
den unerſchöpflichen Reichtum feiner Stimmungen. 
Es gibt ja nichts außer uns. Nicht die Natur mit 
ihren Wundern: „iſt nicht die ganze ewige Natur 
nur ein Symbol für unſrer Seele Launen? Was 
ſuchen wir in ihr als unſre Spur? Und wird nicht 
alles uns zum Gleichnisbronnen, uns auszudrücken: 
unſre Qual und Wonnen?“ Was find die 
Freunde, die Menſchen, die wir lieben? Sie haben 
nur Wert, weil wir in der Ausprägung ihres 
Wefens Siige unferes Selbft klarer erfennen, 
traftiger erleben. Sie find uns nichts anderes als 
der Degen, in deſſen blantem Blitz unicr Born 
aufflammt, die Geige, deren „rätſelhaftes Bluten“ 
dem unbeftimmten ſchmelzenden Berlangen der 
Seele antwortet — tote Dinge im Grunde, 
plebendig nur durch unfrer Laune Leben”. Diefem 


Allmachtsgefühl der Perjontichteit feblt der Stachel | 
Andrea fennt nidt das Gefühl ſelbſtloſer 


nicht. 
Hingabe an eine Begeijterung. Sein friiberer 
Freund, der entflammte Aéfet, der das Evangelium 
Savonarolas durch die Lande tragt, ſucht Schutz 
bei ibm. Cr gewahrt ibn —, denn er verſpricht 
ſich neue Lebensreije von dem Rauſch der Bue, 
den jener entfeffeln wird. Hinabſteigen in die un: 
ermeflichen Tiefen des Moments — und immer 
dod) bleibt die Angſt, das Tictite zu verfeblen, den 
Moment, ber uns das Herrlichfte unſeres cigenen 
Wefens erhellen wird, yu verfiumen. Und darum 
die Angft vor der Feſſel der Vergangenheit, die 


- liebte. 








hemmend am Fufe klirrt: Das Geltern fiigt, und 
nur das Heut ift wabr. Wahrheit — Lüge — 
Worte! ,, Wir fiigen alle und ich felbft wie gern!" 
Dem Meniden, der fein Leben „fühlen, dichten, 
machen” will, wie finnte ibm bie Lüge verhaßt fein, 
bie Freundin des Dichters, des Sdhaufpiclers. Am 
Moment, da Liige und Wahrheit ineinanderfließen, 
ift die Cigenart ſeines LebenS am lebendigſten: er 
ift Dichter, Schauſpieler, Zuſchauer in einer Perfon. 

Als ein Tor ftebt Andrea am Enbe der Did 
tung vor ung. Ihn betrog das Weib, das er 
Und er, ber fo ſtolz bie Macht des Geftern 
verf{pottete, dem vergangenen Moment feinen Cin: 
fluß auf den gegenivdrtigen ginnen wollte, er muß 
nun fiiblen, wie unfterblic) bad Geftern im Heute 
ift: ,in meine Arme miift ich's taglich prefien. 
Im Dufte faug ich's cin aus deinem Haar und 
heute — geftern ijt cin feereds Wort, was einmal 
war, dad lebt auch ewig fort.” Und feine Linderung 
iſt's feiner Qualen, daß er aud bier verfteben 
fann und daß auch diefe Tat feines Weibes ibm 
nur Wünſche, Requngen der eigenen Seele deutet, 
lebendig macht. Das Leben war ftarfer als cr, 
der es zu meiftern meinte mit ber Nraft un: 
erſättlichen Empfindens, — 

Das tragifde Problem diefer Jünglingsdichtung 
ift ſeitdem fo oft beriibrt worden. Überall, wo 
die Tragödien des modernen Kiinftlers erlebt, 
gelämpft werden. Und ewig unverſtändlich wird 
eS nicht nur dem Philiſter bleiben, fondern and 
grofen Naturen, die in einer Begeifterung auf: 
achen, etwas wollen mit allen Kräften und allem 
Vermögen — etwas, das nicht im Element des 
Täuſchenden gu Gaus iit. 

Konflitte Sider Seelen enthüllt uns Schnitzlers 
neueftes Drama: „Der cinfame Weg". Sehnigler 
und Hofmannsthal find verwandte Naturen. Frei 
aus fic) beraus geftalten fie Möglichkeiten ibres 
inneren Zwieſpalts zu Kunftiwerfen. Und ibre 
Werke haben geſchwiſterliche Züge. Man braucht 
nit nad Beeinfluffung ju fpaben. Bewußt und 
flar fiber fein Wejen und fein Schickſal, fein Glüd 
und feine Grengen ift der Mann, der den inneren 
Sinn von Schnitzlers Werk verfrpert. Ber: 
férpert — nicht mur ausfpricht: nicht alljuoft 
ift aus LebenSftimmungen und Wnfehauungen des 
Dichters mebr als cin Dialog geworden, Und 
barum qlaube ich: in der Geftalt des Herrn von Sala 
liegt ber Kern des Dramas, nicht im Schickſal des 
Malers Julian Fichtner. Den Naturen, die als 
qeftaltende CErleber dem eigenen Dafein gegen 
iiberjteben, werden die tiefmenſchlichen Beziehungen, 
die in die Bruſt anderer Menfehen unlösbare 
Wurzeln gefentt haben, bedeutungslos. Sittliche 
Werte, aus denen das Leben der anderen Würde und 
Beſtimmung empfängt, find ihnen feine Pemmungen 
im Augenblicke, da neue Lebensmöglichkeiten ſich 
ankündigen. Das iſt fiir fie fein klühnes ber: 
fpringen bon feffelnden Schranfen, wie fiir den 
Tatmenſchen. Die Dinge entgleiter ihnen cinjad 
zwiſchen den Handen, werden farb: und Lictlod, 
jprechen nicht mebr. Run aber fonnen die 
Stunden kommen, in denen die Seele gerade nad 
dicfen Beziehungen verlangt. Qulian Fichtner iit 
der müde Crleber, der Schaufpieler, dem man 
jcine Holle aus der Hand gewunden bat und der 


Biicerfdan. 


zwiſchen leeren Ruliffen fteben bleibt. Er fann 
dic Lebenseinſamleit nicht ertragen, ev ift webleidig, 
und darum befinnt er ſich auf die menſchlichen 
Beziehungen, die ibn von deer Leexe feines Dafeins 
erldjen, ibm die erlöſchende Riinftlerfraft beleben 
follen. Ginem Sobn, den er bisher der Sorge 
eines anderen iiberlafjen bat, wird er feine Vater: 
ſchaft offenbaren — ven verpflichten jene Be- 
sichungen, auf ibn gu hören, bei ihm ausgubalten. 
Und eine unbewufte Rartlichfeit sieht ja den Sohn 
ſchon, der ibn fiir den Freund der Eltern halt, gu 
ibm. Wor 30 Qabren hat er die Braut feined 
Freundes verfiibrt und verlafjen. Den ftillen 
abnungSfofen Freund, ber fie cin Leben fang in 
Liebe gebalten bat, charatterifiert er mit der Wn: 
mafung des Egoiften: „Leute von der Art Wegraths 
find nicht dazu geſchaffen wirtlich zu beſitzen — 
weder Frau nod Kinder. Sie mögen Suflucht, 
Aufenthalt bedeuten — Heimat nie.” Dem Sobn 
offenbart er fic) rückhaltlos, erfldrend, nicht be: 
ſchönigend. Der urteilt nicht moralife, begreift — 
und wendet fid) ab. Die Liige, im der er [ebt, ift 
von der Liebe gebeiligt, zur Wahrheit geworden. 
Jene Wabrhcit aber ift obne Kraft. „Ihr 


Sohn. . . Es ijt nichts als cin Wort. Es klingt 
ind Leere . . . Sie find mir frember geworbden, feit 
A CB WMT aoa ida) eens ea er ae ae ae ee 


Julian Fichtner begretft fein Schickſal nicht. 
Stephan von Sala deutet es ihm. Der ift nicht 
webleidig wie er, bat nichts von der gierigen Haft, 
von ber vergebrenden Unrube und inneren Un: 
ſicherheit eines Andrea. Auch ibn loden dic 
unermeßlichen Ticfen des Moments. Er erzählt 
von der verſunkenen Stadt Baktriens, die er aus— 
graben ſehen wird. „Dreizehnhundertundzwölf 
Stujen, glänzend wie Opale, die im eine un: 
befannte Tiefe binabfiibren . . . Ich Fann Ihnen 
gar nicht fagen, wie diefe Stufen mich intriguieren.“ 
Gin Symbol wie dieſes ... man fühlt Abfens 
Nabe mandmal. Sala will um [einen Moment 
feines Lebens betrogen fein, aud nicht um 
bas Bewußtſein feiner Sterbeftunde: „Ich 
finde, man bat dad Recht, fein Dafein voll aus— 
juleben mit allen Wonnen und mit allen Schauern, 
bie barin verborgen liegen.“ Er bat aud dic 
Schmerzen ſeines Dafeins genoffen. Und = cr 
fiirchtet fic) nicht vor dem Geſtern. Denn alle 
tieferlebten Momente vermag er gu geniefen wie 
die Gegenwart. Gegenwart, Vergangenheit find 
nur Worte fiir ihn. Aber ex ift ſich bewußt, daf 
er fic nie an ein Erlebnis, an cinen Menſchen 
verforen bat, denn er hatte der Liebe nicht: ,, Liebe 
beift, fiir jemand anders auf der Welt fein.” Er 
hat, was Qulian, was Andrea nicht beſitzen — 
Stil. Er haſcht nicht nach dem Glück der 
Ultruiften, auf das cr Fein Hecht bat. Er be: 
lächelt Julians Halbbeit. Darfft du, fagt er ibm, 
der du feine Stunde deines Dafeins an cinen 
Menſchen wirklich verloren baft, ohne dich dafiir 
bejablt gu machen, irgend etwas juriidfordern? 

Er hat fich beizeiten auf die Einſamkeit cin- 
acridtet, bat den Mut und den Stolz gum Allein: 
fein: „Ich bin ftets fiir gemeſſene Entfernungen 
geweſen; daß es die anderen nicht merfen, ift nicht 
meine Schuld.“ „Und wenn cin Sug von 
Bacdhanten uns begleitet, den Weg hinab geben wir 
alle allein . . . wir die felbft niemanbden gebdrt 
haben.” Er verachtet nicht wie der haltloſe Julian; 
ex bat Verftdndnis und Wiirdigung fiir die frembde 


635 


Lebensform, Ehrſurcht vor Menſchen wie Wegrath, 
Freude am Sohne Julians, dem Reprajentanten 
eines neuen Geſchlechts: weniger Geift und mehr 
Haltung.” Um ibn und die ihm wefensverwandte 
Todhter Wegraths, cine feltfam verſchleierte Geſtalt, 
webt der Rauber, den der Dichter nur denen ver: 
leiht, bie er Lliebt wie feine Seele. Simmer aber 
war in Schnigler cin tapferer Sug zu den 
Menfden, die fich gang geben können, die ju 
lieben’ vermögen. Und fo wird das afthetijde 
Problem, Geftern, Heut, Liige, Wahrheit ein 
ethiſches. Der fiife Rauber des Spiels, der 
fiinftlerifebe Reig der Liige: „wir fpielen alle, wer 
es weiß, ift fig”, dad durchtönte friibere Werle 
Schnitzlers. Qn dem Verfliefen von Wahrheit und 
Liige lag Entzücken fiir den, der nur erleben will. 
Aber als der, der Wabhrbeit und Liige nicht nad 
Art ber Pflichtmenſchen zu ſcheiden wufte, nun 
nad der Wahrheit ruft, da muh er erfennen, daf 
dic Wahrheit, der dic Weihe ber Liebe nicht wurde, 
fic in Lüge wandelte, und die Liige, in bie 
Menſchen ihr Herzblut ſtrömen ließen, sur Wahr— 
heit. Gegenwart und Vergangenheit wirren fid .. . 

Ibſens Nähe fühlt man zuweilen: im Dialog 
wie in den Geſtalten des Stiids. Irene Herms, 
die Frau, in der Julian Fichtner das Glück der 
Mutter tötete, trägt nicht nur den Namen von 
Rubels Irene — ſie trägt gleiches Schickſal als eine 
ſentimentale Wienerin . . . Seltſam ... fiir Ibſen 
begann das Problem: Wahrheit — Lüge — im 
Ethiſchen, er war jung in der Zeit des ethiſchen 
Pathos. Es endete ihm im Problem des Künſtlers, 
ber das Lebendige tötet im Menſchen, um Kunſt— 
werle zu ſchaffen. Epiſode iſt ihm alles — und er 
erwacht vom Tode und ſieht, daß er nie gelebt hat. 
Das ethiſche Moment ſchwingt noch immer mit. Die 
jungen Wiener begannen da, wo Ibſen aufhört. H. H. 


„Singende Bilder“ von Anna Schapire. 
E. Pierſons Verlag, Dresden. In dem kleinen 
Heft offenbart eine junge und ſehnſüchtige Seele 
ihr Ringen mit dem Leben. Daher haben die 
meijten dicfer kleinen Dichtungen die Form von 
Zwiegeſprächen; Zwiegeſprächen mit dem Leben, 
bem riitfelvollen, das fie anflagen wegen feiner 
Mraujamteit, und wiederum jauchzend umſchließen 
wegen ſeiner Suße, und Zwiegeſpräche mit der 
cigenen Seele, der der Menſch fich ſchuldet und 
die ibm entflieht und wiederfebrt, ibn verflagend 
und ibn fegnend. Gedante und Empfindung, 
zuweilen mit dem ſchmalen farbigen Rabmen eines 
duperen Erlebniſſes, verdichten fid) zu kleinen 
Bildern, die jedes für ſich abgeſchloſſen und nur 
aufgereiht am Faden verwandter Grundſtimmung 
im rhythmiſchen Gang der Worte, in einem gewiſſen 
Parailelismus der Zeilen und ihrer Glieder fic) 
die Form jener poetiſierenden Proſa erwählen, der 
unſere Neueren in der Sehnſucht nach freieſter 
RKunjtform fo gern ſich überlaſſen. Daf manche 
der Eleinen Bilder in unferem Biichlein cine {tart 
maleriſche Kraft der Sprache entfalten, und, wo 
fie ſchildern, ihnen ein ftarfer StimmungSgebhalt 
entjtrdmt, joll nicht unerwähnt bleiben; ich nenne 
bie fleine Idylle: ,, Die Sommergottin.” Die 
Verdichtung ju geſchloſſenerer Kunſtform ſcheint der 
Verfaſſerin nicht in gleichem Maße zu gelingen; 
die wenigen mitgeteilten Stücke ſtehen meines 
Erachtens hinter den andern zurück. Doch möchte 
ich aus den „freien Rhythmen“ das als „Die 


— — 


636 Bücherſchau. 


große Stille“ bezeichnete hervorheben, wegen der 
Kunſt, mit der hier die Schar der unterlegenen 
Freiheitslämpfer, die Koscinslos Grab tiirmen, und 
bie Schar der Geknechteten, die 8 fiir die Tyrannen 
befeftigen, wie Bifionen im fich ballenden Nebel 
am Auge ded Horirs voriibergefiibrt werden. Die 
legien Stiide der Sammlung verfteden cine humor: 
voll parodiſtiſche Ader in einen anfebeinend harm— 
fofen Erzählerton. Cin Fertiger wird den Heinen 
Band nicht lefen, der auch in feiner ausſchließlich 
jubjeftiven Färbung fic) als Rind feiner eit 
prifentiert; ein Ringender wird nicht ohne acheime 





Erſchütterung bier im Wobllaut feiner eigenen | 
aber eben nicht feblicht genug fiir cin Marden und 


Schmerzen ſchwelgen. Wir möchten dem ſchönen 
Talent der jungen Dichterin ein Ausreifen wünſchen, 
ein Hervorwachſen aus der lyriſch geſtimmten Enge 
der Subjektivität gu weiterer Umſchau unter ent 
ſprechender Entwicklung des Formtalents. M. 


„Das Granatapfelhaus“. Bon Oskar Wilde. 
Inſelverlag, Leipzig 1904. (Preis 7 WM.) Die mit 
Wildes Kunſt vertrauten Lefer und aud) die ibm 
etwa bloß aus den Salomeauffiibrungen des Neuen 
Theater$ in Berlin fennen, diirfen ibren Wilde in 
dieſem Buch nit ſuchen. Denn zur Abwechſelung 


hat er fic) den träumeriſch frommen Märchenſtil 


ausgeſucht und erzählt darin gar rührſame We: 
ſchichten: vom jungen Konig, der das foftbare 


Krönungsgewand nidt tragen will, weil Schweiß 
und Blut feiner Untertanen es gewebt baben; vom 
budligen fleinen Siverg, der die ſchöne Anfantin 
liebt, bid die Erfenninis feiner Häßlichkeit ihm das 
Her; bricht; vom Fiſcher, der ſeine Seele von ſich 
ſchickt, aus Liebe gu dem Meermädchen, und ibret 


willen auch allen Berfuchungen der in ber weiten 
Welt bdfe gewordenen Seele widerftebt; endlich pom 
Sternentind, das in feiner Schönbeit grauſam und 
ftol; ift und feine arme Mutter veradtet, bis e— 
durch HAflichleit qedemiitiqt, qut und liebevol wird 
und fie und ben verjauberten Vater erldjt; alles 
gar gute und lehrſame Geſchichten, vom reiden 
und bifen und armen und guten Kinde, ausgeftarter 
mit bem flingenden orientalifden Juwelenſchnuck 
einer farbenreichen Bbantafie, mit  minutiofen 
Belebretbungen von wunderbaren Königspaläſten 
und fremden Gogentempeln, fo daß man ſich in die 
Zauerwelt von Scherezadens zurückverſetzt wähnt, 


nicht wahr genug im Grundgefüge, gut fonftruiert, 
aber nicht gewachſen. Wundert man ſich ſchon, 
was die Seele des Fiſchers als ſelbſtändiges Weſen 


S. | fiir ſeltſame Abenteuer beſteht, von denen fie ihrem 


Herrn Bericht erftattet, jo tut man’s nod mebr, 
wenn fie nun aud noch das Herz mit haben will und 
erflart, daß fic durch das Feblen desfelben fo bofe ge: 
worden fei. Und das Moralzöpfchen banat ſchief, 
wenn der feelenlofe Fiſcher fich nun mit oer Liebe 
zu dem toten Meermaddyen wappnet gegen die Ver— 
lodungen feiner bdjen Seele. Aber wer dag Denfen 
ſchlafen laſſen mag und ſich berauſchen an fhinmmern: 
dem Farbenglanz und Duft von Phantaſieblumen, 
der lommt auf feine Rechmung, und was cd an 
Dichterifehem bei Wilde gibt, befommt er dabei 
mit au ſpüren. Vogelers graziöſer Stift bat jeder 
Geſchichte cin dem Weſen diejer Kunſt fein an 
empfundencd Titelbild gegeben, und der Verlag der 
Ausſtattung des Buches feine rühmlichſt befannte 
Sorafalt angedeihen laſſen. M. 











Bücherſchau. — Wngeigen. 4637 


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Unternebmungen hineingehört, 
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ſchiedenen Gebiete ber Frauen: 
frage und Frauenarbeit, die, gum 


zgen tn folt ſämtlichen Ap 








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Mitarbeiterinnen geſchrieben, zur 
erſten Orientierung über all 
dieſe Gebiete gute Dienſte leiſten 
finnen. Natürlich findet ſich 
neben Gutem und Zuverläſſigem 
auch allerlei Lückenhaftes und 
Oberflächliches; da abſichtlich alle 
Richtungen aufgenommen ſind, 
auch mancherlei parteiiſch Ge— 
färbtes, das als objeftive Cr: 
lenntnisquelle mit Vorſicht gu 
benutzen iſt. Im ganzen aber 
fann das Jahrbuch als cin 
zwecmäßiges PBropagandamittel 
aud im Sinne der Fraucnbe: 
wegung begrilft werden. 

„Die mündliche Sprachpflege 
als Grundlage eines einheit— 
lichen Unterrichts in der Mutter⸗ 
ſprache“ von Ernſt Lüttge. 
Preis 1,40 Mark; geb. 1,80 Mark. 
Leipzig. Crnft Wunderlich. Der 
ſehr intereffant geſchriebenen, ſehr 
lehrreichen Arbeit iſt eine weite 
Verbreitung herzlich zu wünſchen, 
damit die ſo berechtigte Forderung 
des Verfaſſers, der Lautſprache 
eine ihrem Weſen und ihrer Be— 
deutung angemeſſene Stellung im 
Lehrplan einzuräumen, bald ihre 
Verwirklichung fände. 

C. Hoffmann. „Zeichnen — 
ſtunſt“. J. Kinderzeichnen Heft 4 
von K. Walter. Verlag von 
Otto Maier, Ravensburg. 

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beqleitung fiir Familie und 
Kindergarten.” Zuſammengeſtellt 
von Adelaide von Gottberg— 
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Hausbibliothef, Band 11.) Preis 
ineleg. Origin. Leinenband 1 Marl. 
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wird mit grofem Erjolge geqen Nhawits Foaenaunte enalifce Rranfhett) 

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aroͤßtinbgliche perſonl. Selbſtbeftimmung. 
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638 


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ſprochener Bilder ift nit maglid.) 
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lberfeyung aus bem Diinifden von 
Mathilde Wann. Albert Langen, 
Minden, 1902. 

Bimmer, Projeffor. Das erfte Jahrzehnt 
bes Ev. Diatfonievereins. Cine Dent: 
ſchrift zum 11. April 1904. 50 Pi. 
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in friſchem Wafer gewaſchen, 
in bodjwallendem Salzwaſſer 
weich gekocht, abgeſeiht, mit 
friſchem Waſſer abgelühlt und 
ſehr fein gewiegt. In gutem 
Bratenfett oder Butter läßt man 
eine fein geſchnittene Zwiebel 
gelb anlaufen, gibt den Spinat 
dazu, dünſtet ihn einige Minuten 
durch, ſtaubt cin Kochlöffelchen 
Mehl darüber, gießt etwas 
Waſſer daran, fügt Salz, weißen 
Pfeffer und wenig Muskatnuß 
dazu und kocht das Gemüſe 
unter ſtandigem Umrühren dic: 
lich cin, Beim Anrichten durd- 
zieht man ben Spinat mit 
10—12 Tropfen Maggi's Würze 
und garnicrt ibn mit Segeiern 
oder hartgekochten Eiervierteln. 

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Curse in allen Zweigen der Kiche und Haushaltung fir Téchter héherer Stande, fir Burgertéch 
Hocheurse fir Schulkinder. 
Ausbildung zur Sttitze der Hausfrau und Dienstmddchen. 
— Auskunft Uber Haus II erteilt Fri. D, Martin. * 
Haus I. S Pensionat: 
gegriindet 1870: — — * — 
Seminar . 
far heim. 
Kindergirtnerinnen Kinderhort. 
Kind * — Arbeitsschule 
inderpflegerinnen. : 
: : Elementarklass 
aap Vermittlungsklasse. 
junge Madchen Kindergarter, ~ 
zur Einfithrung in den Siiuglingspfes:. 
hiuslichen Beruf. Kinderspeisunz 
Curse laut Specialprosye: 
zur — 
Vorbereitung Anfragen 
for for Haus I sind zu rich 
soziale Hilfsarbeit. an Frau Clara Richter 


Im XVL Jabrgange erscheint: 


# # Vereins-Zeitung des Pestalozzi-Frébel-Hauses « * 


Expedition im Sekretariat, W. 30, Berlin-Schoneberg, Barbarossastr. 74. Die Zeitung erscheint vierteljahrlich im ersten Monat jeden Quara! 
und geht den Abonnenten unter Kreuzband zu. Der jahrliche Abonnementspreis betragt einschliesslich Porto; For Berlin a M. Mr Deutscal— 
aso M., far das Ausland 3 M. Anfragen, Bestellungen, Beitrage (auch die Geldbeitrage) und Mitteilungen sind an die Expedition ww richie 


————— — —— —— eee 
Verantwortlich fur die Redaktion: Helene Lange, Verlin. — Verlag: W. Moeſer Buchhandlung, Berlin 8. — Drud: W. Moefer Buchdrugderei, Serin 








Bf 1.200. 11 OM Pee _ fiasust 1304 af 
4 


DIE FRAU 


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— 
bon 


Moelene Cange. 


W. Meeſer Buchhaubdlung. 


Berlin S&S. 


Vie Beteiligung der Brau an der Wissenschaft. 


Yortrag, gehalten auf dem Jnternationalen Frauenfongref zu Berlin. ') 


Bon 


Warianne Weber. 


Radhbrud perboten. — — 


eit ſich die Univerſitäten den Frauen erſchloſſen haben, mehren alljährlich 

glänzend abſolvierte Examina und Promotionen die Beweiſe, daß Frauen 
befabigt find, wiſſenſchaftliche Studien mit Erfolg ju betreiben und diejenige Stufe 
intelleftueller Schulung und jftofflicher Beherrſchung eines beſtimmten Wiſſensgebiets ju 
erreicben, die jur Ausübung der fogenannten liberalen Berufsarten erforderlich ijt. 
Es mehren ſich aber auch die Zeichen, daß Frauen fic) in diejen Berufen bewahren, 
und als Arztinnen, Beamtinnen, Juriſtinnen, Theologinnen, akademiſch gebildete 
Lebrerinnen u. dgl. eigenartige Aufgaben erfiillen, durch die fpesiell von unferem 
Geſchlecht ſchmerzlich empfundene Lücken unferes Kulturlebens ausgefiillt werden. Aber 
noch mehr: die zunehmende Anglicderung von Frauen an die akademiſchen Lehrkörper 
als Uififtentinnen an mediziniſchen, phyſikaliſchen, zoologiſchen, chemiſchen Anitituten und 


Dieſer Vortrag, der bie Verhandlungen fiber dad Frauenſtudium in der Sektion Frauenbildung 
einleitete, wurde der „Frau“ von der Verfaſſerin zur Veröſſentlichung übergeben. Sum großen Erſtaunen 
der Redaktion wie der Verfaſſerin brachte die „Frauenrundſchau“ vom 23. Juni unter dem Titel „Die 
Frau in der Wiſſenſchaft, Kongreßvortrag von Frau Marianne Weber“ eine Zuſammenfaſſung, die 
abgeſehen von zahlreichen Druckfehlern, auch den Sinn des Vortrags ganz entſtellt wiedergibt. Der 
Auszug war nur durch eine Fußnote als ſolcher gelennzeichnet. Im Inhaltsverzeichnis dagegen wird 
durch die Angabe „Die Frau in der Wiſſenſchaft. Von Marianne Weber“, der Anſchein erweckt, als 
handle es fic) um einen Driginalbeitrag. Dieſe in der Preſſe ſonſt wohl faum übliche Form bringt 
uns in die Lage, den Leſern unſerer Zeitſchrift ausdrücklich erllären zu muſſen, daß bier der Original: 
artifel vorlicgt. Die Redaktion. 


4] 


642 Die Beteiligung der Frau an der Wiſſenſchaft. 


ihre Zulaffung aur afademifden Lehrtatigfeit in einigen Ländern, jeigt, daß 
Frauen aud) diejenige höhere Stuje intelleftueller Schulung erreichen können, von 
ber aus das Wiſſen fich burch Wort und Schrift lehrend an Andere übermitteln (apt. 

Dieje Tatfaden beantworten uns aber nod) nicht die Frage, ob die Frau fabig 
it, aud) zur Vermehrung der wijjenfdaftliden Kultur, und de3 Erkenntnis— 
{cages in irgend einer Weiſe Cigenartiges und Unerfeglices beijutragen. Dürfen 
wit boffen, daß ibe aud) im Reiche der intelleftuell fchaffenden Geifter befondere 
Aufgaben zufallen, deren Erfüllung die Kultur eigenartig bereichert? Jn diefem Punfte 
ijt, wie mir feheint, unſere Zuverficht noc) nicht fo fejt an unjweideutigen Tatjachen 
verantert, wie in bezug auf den Wert der Frauenarbeit in vielen anderen Gebieten 
menſchlicher Kulturtätigkeit. 

Befragen wir zunächſt die Vergangenheit. Sie lehrt uns, daß der Verſuch der 
Frauen zu ſelbſtändiger wiſſenſchaftlicher Arbeit keineswegs erſt ein Produkt 
unſerer Zeit iſt. In allen Epochen hoher geiſtiger Kultur fühlten ſich auch Frauen 
trotz aller Schranken, die ihrer ſyſtematiſchen Geiſtesbildung entgegenſtanden, zur 
Wiſſenſchaft getrieben, und beſonders Begabte wußten ſich auch in jeder Epoche ein 
gewiſſes Mak zeitgenöſſiſcher Bildung anzueignen. Wurde doch auch der Schatz der 
Erkenntnis von jeher nicht nur in den Gelehrtenſchulen, deren Benutzung den Männern 
reſerviert war, ausgeteilt, ſondern daneben auch — leichter zugänglich — in den 
Schriften jeder Zeit. Und was bei dem heutigen Stande der Wiſſenſchaft und ihrer 
Hilfsmittel unmöglich erſcheint: die fruchtbare Förderung der denkenden Erkenntnis 
ohne ſyſtematiſche Einführung in irgend eine Fachdisziplin, war es früher nicht in 
gleichem Maße. 

Bur eit des klaſſiſchen Altertums und der Renaiffance waren auch manche 
ſchöpferiſche männliche Geifter „Autodidakten“. 

Wenn wir dieſe größere äußere Gleichheit der Chancen begabter Manner und 
Frauen zunächſt bei der Bewertung der wiſſenſchaftlichen Tätigkeit antiker Frauen 
in Betracht ziehen, ſo fällt notwendig auf, daß ihre produktiven Leiſtungen uner— 
meßlich weit hinter denen der genialen männlichen Geiſter zurückbleiben. Dabei war 
die Zahl der gelehrten Frauen, die in Griechenland als „Philoſophinnen“ bezeichnet 
wurden, nicht klein. Cin modernes, ihnen gewidmetes Werk!) nennt mehr als 
hundert; davon haben ſogar mehrere als Lehrerinnen der Dialektik, Rhetorik und Logik 
ant den offiziellen Akademien die Anerkennung und Bewunderung ihrer Zeitgenoſſen 
gefunden, aber leider hat uns keine von ihnen Schriften mit ſelbſtändigen wiſſenſchaftlichen 
Gedanken hinterlaſſen; ſelbſt von Hypatia, die im 5. Sabrhundert n. Chr. in 
Alexandria einen Lehrſtuhl bekleidete, wiſſen wir nicht, ob ſie eine ſelbſtändige Denkerin 
war, denn von ihren mathematiſch-aſtronomiſchen Schriften ſind nichts als die Titel 
erhalten. 

Und doch hat man den Eindruck, daß der Beteiligung der Frauen an der Wiſſen— 
ſchaft ſelbſt in damaliger Zeit eine eigenartige Kulturbedeutung beigelegt worden iſt. 
Worin ſie beſtanden hat, ſuchen wir auch aus der Geſchichte zu deuten. Faſt alle 
gelehrten Griechinnen werden als Anhängerinnen ſolcher philoſophiſcher Schulen be— 
zeichnet, die danach trachteten, aus der denkenden Erkenntnis des Zuſammenhangs der 
Erſcheinungen zugleich die Normen und Zwecke des menſchlichen Handelns abzuleiten, 


) Poeſtion, Griechiſche Philoſophinnen. 


Die Beteiligunug ber Frau an der Wiſſenſchaft. 643 


Die fid) Den Verftand jum Fiihrer auf dem Wege zur Tugend und zur Gottheit 
wablten. Namentlich die pythagoreifde Schule, der die meiften PBbhilofophinnen an— 
gehörten, trug das Geprage ciner ethiſch-religiöſen Sefte, ihre Philofopbhie war Ethik, 
ihre Mathematif und Aftronomie religivfe Myftit, ihre Anhanger lebten in enger 
ſeeliſcher Gemeinfchaft und unterivarfen fic einer bid ind kleinſte geregelten Lebens— 
ordnung, 

Hier waren die Frauen eben Prophetinnen und Diingerinnen des Meijters, die 
für deſſen praktiſche fittlich-reformatorifche Ideale nicht nur lehrend, fondern vor 
allem aud durch die vorbildliche Entwidlung der eigenen Perfinlidfeit warben. 

Aud) in den ſpäteren Epodyen der Antike finden wir die wiſſenſchaftlichen Frauen 
faft ausnabmslos als Anhangerinnen folder Schulen und Lehren, die aus ihrer Cinjicht 
in das Weltgefcheben unmittelbar den Sinn de3 menſchlichen Dafeins erfajfen zu 
finnen glaubten und was Hvpatia den Epigonen der antifern Kultur verfiindete — die 
neuplatonifde Lehre — war feine auf Grund der Erfabrung gewonnene Welterfenntuis, 
fondern cin tieffinniger Verfud, den Sinn des Lebens und fein Verbaltnis zum 
Ewigen zu deuten und darin Richtlinien fiir das menſchliche Gandeln zu finden. 

Die griechiſchen Philoſophinnen haben offenbar den Schag der Crfenntnis nicht 
ſelbſtſchöpferiſch erweitert, aber fie Lebten das als wahr Erfannte und verliehen der 
Wiſſenſchaft ihrer Seit dadurd) die Blutwärme lebendigen Fühlens. — 

Cine abnliche, wenn auch weniger umfajjende Bedeutung gewann das Verhaltnis 
der Frau jur Wiſſenſchaft im auffteigenden chriſtlichen Mittelalter, als die chrijtliden 
und kirchlichen Ideale zur Vorausfepung aller wiſſenſchaftlichen Forſchung geworden 
waren. Wud) ibre Produftionen find jum größten Teil verdienter Vergeſſenheit 
anbeim gefallen, dDagegen müſſen fie ihrer Zeit wertvolle praktiſche Dienfte geleijtet 
haben. Denn es ſteht nicht vereinzelt da, dak aus der Stille ded Kloſters Päpſte und 
Könige fic) Nat holten, oder daß cin Weib, wie Katharina von Ciena, in die Politif 
des Papſttums Richtung gebend eingriff.: 

Als dann der Humanismus die Wiſſenſchaft aus dem Dämmerlicht der Kirche 
in die Helle der weltlichen Rultur juriidfiibrte, nabmen auch weltliche Frauen an 
dem wachſenden Crfenntnisftreben teil. In Jtalien und vereingelt aud in Spanien 
lafjen fürſtliche und reide Familien ihre Töchter zuſammen mit den Knaben huma— 
niftijde Studien treiben; die Sabl der Frauen, die fich gelebrten Berufen widmeten, 
war nicht Flein, und nicht wenige beftiegen mediziniſche, juriftifde und mathematifde 
Lehrſtühle. Die Frauen der RNenaiffancejeit haben min vereingelt auch gelebrte 
Arbeiten hinterlaſſen, allein ibre Gedanten bewegen ſich in den iiberfommenen Gleijen, 
und unter denjenigen Geiftern, die gerade Damals gan; neue Forſchungsmethoden fanden 
und durch cine ganz neue Art der Welthetrachtung die moderne Wiſſenſchaft ſchufen, 
jindet fics fein weiblicher. Uber der jene Frauen umſtrahlende Ruhm kann nicht 
grundlos geweſen fein. Und wiederum ſcheint 3, daß fie nicht als ſchöpferiſche Ge- 
lehrte, wohl aber als intelleftuell durchqebildete Perſönlichkeiten fiir die Geſamt— 
tultur ibrer Seit bedeutjam waren. Sie ſchufen jum erftenmale Besiehungen zwiſchen 
den Gefchlechtern, aus denen fich die feinjte Bliite geiftiger Freundſchaft und diejenige 
Fille des ſeeliſchen Daſeins entividelte, die jedes Gebiet ſchöpferiſcher Kulturtätigkeit 
befruchtete. — 

Als dann die beginnende Arbeitsteilung in der Wiſſenſchaft die wiſſenſchaftliche 
Tätigkeit des Einzelnen auf immer kleinere Ausſchnitte des Geſamtwiſſens beſchränkte, 

4i* 


644 Die Beteiligung der Frau an der Wiſſenſchaft. 


treten auch vereingelte weibliche Gelebrte mit quten fac wiffenfdbajtlichen Werferr an 
die Offentlichkeit. Zeigten ſich dabei nun ſpezifiſche Veranlagungen der Frauen fiir be— 
ftimmte Fachgebiete? — Bei diefer Frage begegnet uns zunächſt dads fo häufig be- 
ftaunte Bhanomen, daß gerade in den mathematiſch-phyſikaliſchen Wiſſenſchaften, die 
anfdjeinend der größten Abſtraktionsfähigleit und der fteengiten logiſchen Schulung bediirfen, 
cine Anzahl von Frauen mit Erfolg arbeiten. Aber freilich auch bier, ſoweit 
ſchöpferiſche Arbeit in Betracht kommt, mit begrengtem Erfolg. Unter den ziemlich 
jablreichen, gum Teil mit akademiſchen Preiſen ausgezeichneten mathematifcen Frauen- 
arbeiten find die Leiftungen von Sonja Kowalewska wohl die einzigen, die auch heute 
nod) Bedeutung haben. Wher als Stern erfter Größe erſcheint auch fle nicht unter 
dent mathematijden Geiftern. 

Nächſt den mathematifden haben dann am friibejten philologijdhe Frauen 
Tüchtiges geleiſtet. Wir finden da auch einige wertvolle ſelbſtändige Arbeiten, fo 
etiva die von Thereje Robinjon (genannt Talvy) und = Caroline Michaelis 
de Vasconcelos, aber die wichtigiten Dienfte leifteten Frauen der Sprachwiſſenſchaft da- 
durch, daß fie überſetzend und erklärend literariſche Denfmaler der Bergangen- 
beit oder frembder Nationen ibrem eigenen Volke zugänglich machten. Co wurde, nach 
manchen anderen Frauen, im vorigen Sabre zwei ſchottiſchen Schweſtern für ibre Ent- 
dedung und fcarffinnige Nberjepung und Erklärung alter bibliſcher Terte von der 
theologiſchen Fakultät in Heidelberg der Chrendoftorgrad erteilt. 

Gine nur den Frauen eigene, ſpezifiſche wiſſenſchaftliche Betrachtungsweife fann 
auf den bisher genannten Gebicten jedenfals nicht in Anſpruch genommen werden. 
Was Frauen und Manner hier leiften, ift das Nefultat gleidartiger aber nicht 
ſpezifiſch verſchiedener geiſtiger Fähigkeiten. 

Anders vielleicht auf dem Gebiete hiſtoriſcher Kulturwiſſenſchaften. Hier 
könnte die Frau zunächſt kraft eigenartiger ſeeliſcher Fähigkeiten: ihrer beſonderen Gabe, 
ſich in die Gefühlswelt Anderer zu verſetzen und deshalb die Motive ihres Handelns 
nacherlebend zu verſtehen, der Wiſſenſchaft eigenartige Dienſte leiſten. In einzelnen 
bedeutenden Leiſtungen auf biographiſchem, literar- und kunſtgeſchichtlichem Gebiet tritt 
das ſchon jetzt hervor. 

Aber weit wichtiger kann und wird die Mitwirkung der Frauen dann werden, 
wenn fie gelernt haben, auf Grund einer eigenartigen Stoffauswahl nach beſonderen 
„weiblichen“ Geſichtspunkten in das Gewebe der geſchichtlichen Erkenntnis einen neuen 
Einſchlag einzufügen. Denn die Eigenart der Kulturwiſſenſchaften im Gegenſatz zu 
den Naturwiſſenſchaften beſteht ja darin, daß ihre Analyſe der Wirklichkeit an Wert— 
geſichtspunkten und an Kulturidealen verankert iſt, welche aus der Tiefe des 
unmittelbaren Erlebens in ſtetem Wandel und in ſtets neuer Färbung aufſteigen. 
„Objektivität“ der Geſchichte und aller Kulturbetrachtung im Sinne des Abſehens 
von ſolchen letzten Wertideen iſt ein Phantom. Iſt dem aber fo, dann muß gerade 
derjenige, der von der grundſätzlichen Verſchiedenheit der Geſchlechter durchdrungen iſt, 
es als eine Lücke empfinden, daß die wiſſenſchaftliche Betrachtung der menſchlichen 
Kulturentwicklung ſich ausſchließlich durch die Brille der einen Hälfte der Kultur— 
menſchheit vollzieht. 

Daß ſich bisher ſo wenige Frauen in den politiſchen und Kultur-Wiſſenſchaften 
betätigt haben, iſt zweifellos weniger Folge mangelnder Begabung als mangelnden 
Intereſſes. Die Geſtaltung der lebendigen Staats: und Rechtsordnung war von 


Die Ueteiligung der Frau an ber Wiſſenſchaft. 645 


jeher das Monopol de3 Mannes, fer Wunder, dap überall da, wo die Frauen vom 
Mithandeln ausgeſchloſſen waren, fie aud Feinerlei Antrieh zum wiſſenſchaftlichen 
Mitdenken fühlten. VBielleicht wird aber die Zufunft hier Wandel ſchaffen. Schon 
mehren fic) die Beiden, daß diejenigen Probleme unferer Beit, welche die Frauen aus 
ibrem Dämmerzuſtande im Schatten des Hauſes zur gefteigerten praftifden Teilnahme 
an der allgemeinen Rulturarbeit treiben, auch ihr geiſtiges Auge fiir einen umfaſſenderen 
Kreis wiſſenſchaftlicher Probleme erſchließen, als in der Vergangenheit. Geht doch überall 
das Handelnin der Wirklicdfeit ihrer Ordnung durch den denfenden Verftand voran! 

So verdanfen wir dem Emyportauchen der „Frauenfrage“ in unſerem Bewußtſein 
ſchon unmittelbar aud eine Bermehrung unferes Erkenntnisſchatzes, fo namentlich cine 
Reihe feinfinniger, wiſſenſchaftlicher Unterſuchungen fiber die Lage unferes Geſchlechts 
in Vergangenheit und Gegenwart und ibre Bedingtheit durch religidje, fittliche, foziale 
und ökonomiſche Faktoren. Gerade folche Arbeiten aber diirfen den Anſpruch auf 
ſpezifiſche Bedeutung machen, weil eS mit der bloßen Tatfachenfeftitellung in den 
Rulturwiffenfchaften nicht getan ift, fondern weil bier die geiftige Arbeit in der Auf: 
findung cigenartiger Gefidtspuntte liegt, unter denen die Tatfachen jufammengefaft 
und gegliedert werden, und weil es auger allem Sweifel fteht, dab bier die Frauen 
je Langer je mebr ibre Arbeit an neuen Rulturwerten orientieren werden, Der neue 
Standpunkt der VBetrachtungsiweife ijt es, der Bekanntes im neuen Lichte zeigt, 
und bisher Unbeachtetes als fulturbedeutjam erfennen läßt. 

Diefe Momente beſtimmen aud) fpeziell die beginnende Bedeutung der Frauen: 
arbeiten fiir die Sozialwiſſenſchaften im engeren Sinne. Cigenartige und wertvolle 
Arbeiten wie die über Genoffenfehaftswejen und Gewerfvereine von Mrs. Webb befigen 
wir bier ſchon heute. Aber die Bedeutung der Frauenarbeiten muh bei der Jugend 
dieſer Probleme notivendig in der Zukunft nod fteigen. Gerade bier wird die Mit- 
arbeit der Frau fosiale und wirtſchaftliche Crjcheinungen und Einrichtungen in ibrer 
Beziehung sum weiblichen Gefehlecht erkennen und dadurch Cinfichten vermitteln können, 
die männlichen Forſchern verborgen bleiben. . 

Jene Cigenart der Wiſſenſchaft von der menſchlichen Kultur: ibre VBeranferung 
an dem Fühlen und Wollen lebendiger Menſchen gibt uns die Hoffnung, daß gerade 
auf diejem Gebiet Frauen in Zufunft Wertwolleres für die Wiſſenſchaft leiften können 
als in der Vergangenheit, felbjt wenn ibre ſchöpferiſche Denkfraft aud dann nicht 
die Der führenden männlichen Geifter erreicht. Jeder Schritt, der die Frauen aus der 
Enge ibres bisherigen Wirkungstreifes hinaus und in die praktiſche Rulturarbeit 
hincinfiibrt, wird auc) ibren Trieb zur denkenden Bemeiſterung der Erſcheinungen 
jteigern. Die praktiſche und theoretiſche Tätigkeit ftammen ja ſchließlich aus denfelben 
Wurzeln: aus dem Streben de3 Menfchen, Der Wirklic Feit Herr zu werden, fie zu 
formen und ju geftalten nach den Gefegen des Geijtes. 

Aber der Schwerpunkt der Kulturbedeutung geiftiger Frauenarbeit liegt wabr- 
ſcheinlich, ebenſo wie in der Vergangenheit, fo aud in Zukunft, nicht in der Förderung 
de3 objeftiven Kosmos unferes Wiffens. Cine feelifebe Cigenart der Frau ſcheint ja 
darin zu bejteben, dah ſich ihr Intereſſe und Verſtändnis allem Perſönlich-Menſchlichen 
unmittelbarer als den Objekten zuwendet. Wie die Mehrzahl ihrer wiſſenſchaftlichen 
Arbeiten aus unſrer Epoche zeigen, wird ihr im allgemeinen erſt das an ihr und 
Anderen Erlebte Ereignis, deſſen Zuſammenhang mit anderen Ereigniſſen ſie ſcharf— 
ſinnig zu erforſchen weiß. 


646 Die Beteiligung der Frau an der Wiſſenſchaſt. 


Ihre intenfive Teilnabme an dem Wollen [ebendiger Menfchen läßt fie nun viel- 
leicht flarfer als den Mann das Bedürfnis empfinden, die aus Erfenntnijfen gewonnenen 
Uberzeugungen wieder in die Wirklichkeit hineingutragen, dem Wiffen durch 
Handeln l[ebendige Wirffamfeit zu verleiben. Dieſes Strebens bedarf aber gerade 
die moderne Kultur in höherem Mage als die irgend einer anderen Zeit. Wir ver- 
danten die ungeheuere Vermehrung unferes Erkenntnisſchatzes der gefteigerten wiſſen— 
ſchaftlichen Arbeitsteilung. Diefe verſchuldet e3 aber andererfeits, dah das Wachs- 
tum der geiftigen Kultur der Yndividuen weit hinter dem Wachstum des objeFtiven 
Wiffensquantums jurtidgeblieben ijt, wie man ja mit Recht die Cigenart unferer 
Rulturentwidlung in dem SZuriidtreten der Kultur der Menſchen Hinter derjenigen der 
Sachen erblidt bat. Nur wenige profitieren heute fiir ibre geiftige Erijten; von der 
ungeheueren WAuffpeicherung menfdlicer Geiftesarbeit, nur ein verſchwindend kleiner 
Kreis fann fein Tun und Sein durch die wachfende Erfenntnis erleudjten laſſen. Und 
vor allem: „die Wiffenfchaft” ijt heute cin ungebeurer Kosmos fiber Millionen Biicher- 
ſchränke und menſchliche Köpfe verftreut. Jeder einzelne Arbeiter ijt bier nur cin 
fleines Had in der gewaltigen Mafcine, jeder Einzelne hebt nur einen kleinen Zipfel 
des Schleiers, der die Wahrheit verbhiillt. Nicht mehr die Wiſſenſchaft fteht im Dienfte 
de8 Erfenntnisjtrebens des cingelnen Menſchen, fondern dic Erkenntniſſe des Einzelnen 
find zur Schaffung eines Wiffens da, welches in feinem einzelnen menſchlichen Geifte 
mehr Unterfunft findet. 

Sind wir fider, dah dieſe Wiffenfdaft, die niemand mehr zu umfpannen vermag, 
dauernd den Menſchen alS Kulturivert gelten wird? Wird fie in ibrer Lebensfremdbeit 
und Ungreifbarteit dauernd die Macht haben, den Cinjelnen in ihren Dienjt ju 
zwingen? — 

Vielleicht wird es einmal die beſondere Aufgabe derjenigen Frauen ſein, welche 
das Weſen wiſſenſchaftlicher Arbeit kennen gelernt haben, das von dem ſchöpferiſchen 
Genius entzündete Feuer von einſamer Höhe hinab in das verſchleierte Tal des 
Lebens zu tragen, um den im Halbdämmer handelnden Menſchen Erleuchtung und 
Einſicht zu bringen, ſodaß ſie das Wertvolle vom Wertloſen unterſcheiden und die 
Swede, für die es fic) lohnt, zu kämpfen und zu leben, erkennen lernen. Trüge fie 
dadurch zur Verminderung der Kluft zwiſchen ſachlicher und perſönlicher Kultur bei, 
jo könnte das, was ihrer intellektuellen Tätigkeit an Bedeutung fiir die objeftive 
Kultur etwa auch in Zukunft abgeht, aufgewogen werden durch ihre Bedeutung für 
die Kultur der Perſönlichkeiten. 

Und wie alle Kulturgüter, ſo erhalten doch auch die Schätze der Wiſſenſchaft 
ihre letzte Bedeutung erſt dadurch, daß ſie zum Material der vollkommeneren menſchlichen 
Entwicklung werden. Je beſſer es deshalb der wiſſenſchaftlichen Frau gelingt, ihr 
intellektuelles Leben zunächſt und vor allem in den Dienſt ihrer eigenen Geſamt— 
perſönlichkeit zu ſtellen, um ſo unabhängiger wird die Kulturbedeutung ihrer Arbeit 
von der Zahl und Beſchaffenheit ihrer theoretiſchen Werke ſein. Die ſeeliſche Eigenart 
der Frau: ihre größere Unteilbarkeit und innere Einheit, die ſie treibt, ihr ſachliches 
Schaffen immmer in irgend einer Weiſe mit ihrem Geſamtſein in Einklang zu bringen, 
läßt uns hoffen, daß ihr die Verwertung ihrer Erkenntnis zum Aufbau ihres geiſtigen 
und ſittlichen Selbſt leichter gelingen wird als dem Manne, der es verſteht, ſein 
perſönliches Leben ganz von der Sache, die er ſchafft, zu ſondern. Auf dieſer größeren 
Leichtigkeit, Berufsarbeit und perſönliches Sein ju trennen, beruht ja jum Teil feine 


Ridard Magners künſtleriſche Sendung. 647 


Rraft, objeftive Rulturwerte von fich loszulöſen, daraus erflirt ſich aber auch vielleicht 
die Tatfache, daß fo viele fihrende männliche Geijter, die fiir die objeftive Rultur 
Höchſtes feiften, als Perfinlicdfeiten fo klein und wertlos bleiben. Vielleicht 
gelingt ¢3 nun der Frau beſſer, fowohl in der fie umgebenden Wirklichkeit wie aud) 
vor allem an fic felbft, die Diffonanjen zwiſchen Erkennen und Handeln, zwiſchen 
bober intelleftueller und geringer ſittlicher Nultur zur Einheit yu bringen. 

Und jedenfalls foll es die wiſſenſchaftliche Frau als ibre befondere eigen: 
artiqe Aufgabe begreifen, den Strom der Erfenntnis derart durch iby ganzes Sein ju 
leiten, daß er alle kleinlichen und unedlen Beftandteile mit fic) fortreift und nicht nur 
durch ibre Werke, fondern vor allem aud durch ihr Sein unmittelbar befrudtend 
wieder in dic Umwelt zurückſtrömt. Indem fie fo an ibrer eigenen Perfinlichfeit und 
an denen, die threm Einfluß zugänglich find, arbeitet, fcbalft fie Rulturgiiter, die zwar 
irdiſch vergdnglicber find, als die objeftiven Kulturwerke, aber doch jum Höchſten und 
Beſten gebdren, was das Jndividuum al folches überhaupt ſchaffen fann, und welche 
geſchaffen werden müſſen, fol nicht die Geiftesfultur der Menſchheit durd den unge- 
beueren Mechanismus des von feinem Einzelnen mebr zu beherrſchenden Wiſſens 
ſchließlich in Erſtarrung und in bloßem Fachmenſchentum enden. 


ESS 


Richard Wagners Rinstlerische Sendung. 


Bon 


Felix Poppenberg. 
Aachdruck verboten. 


n Richard Wagners Briefen an Mathilde Wefendonk, die von pictitvoller Hut 

jest der Offentlichfeit gegénnt werbden,') enthiillt fic) in feltener Fille das 
Schauſpiel cines künſtleriſchen Lebens, cine vie intérieure in Monologen. Dieſe 
Briefe eines Künſtlers an cine tiefgeliehte Frau find, trog leidenſchaftlicher Zwiſchen— 
blitter, feine LiebeSbriefe, fondern Ausſtrahlungen, Manifeftationen eines Weſens, das 
jo ftar€ und ſchickſalsvoll mit der künſtleriſchen Berufung gejeichnet ijt, dah jedes 
Erleben, jeder Ajfeft ibm nur in der fiinjtlerifden Umivertung, als Element der 
fiinftlerijcben Welt bedeutungsvoll wird, und dak der Menſch in dem CErfennen diefer 
Romplerion mandymal fie) aufbäumt und die Kunſt verfludt. Reine Liebes- 
briefe leſen wir, fondern eine in folder Reftlofigkeit feltene Autopſychologie des 
Riinftlers, der, im Herzenszwang ciner jur Refignation bejtimmten Neigung, fein 
Inneres weit Sffnet und fein Geheimſtes opfert. Das Taſſowort gilt hier: C8 führt 
did) alled tiefer in dich felbjt. Diefe Frau, der Wagner fern bleiben mugs, bringt 
feinem Leben zu einem an fic) ſchon überwachen Crfenntnistrieh die Stimulany, feine 
Zuſtände, die wechſelnde Stimmung, die Vibrationen feftyubalten, und wie andere fich 
ibre Bilder fcbenten, fo ſchenkt er diefer Frau die Spiegelungen feiner états d’Ame. 


1) Herausgegeben von Prof. Wolfg. Golther. Berlag von Alerander Duncker. 


648 Richard Wagners künſtleriſche Sendung. 


Momentan find diefe Aufzeichnungen, aus der Zufallsjtunde, ,,berausgerifjen aus 
dem ewigen Wechſeldrang des Lebens, der Cindriide, der Stimmungen“. Chaotiſch 
erfcbeinen fie in ihren Widerfpriichen, in ibren verſchiedenen Rlimaten, in ihren ertrem 
entgegengefesten Eraltationen. Die mannigfaden inneren Stimmen ciner vielfialtig 
zuſammengemiſchten Natur ſchreien hier aus der Tiefe, fie begebren gegeneinander ibr 
Recht, und der Menſch in der unbewupten Dumpfheit feines Schickſals fann zunächſt 
nichts anderes tun, als fie rufen laſſen, ibnen zuhören und aufzeichnen, was fle 
haſtig und jab durcheinandertinen, — klingt's aud) ihm felbft wirr und widerſpenſtig. 

Für den Lefer wie fiir den Sehreibenden begibt ſich aber weiter- und fort: 
febreitend das große Erlebnis, daß all diced cinjelne, im Beginn Uniiberfichtliche, 
Mifwerftindliche, Natfelvolle, Problematiſche diefes Dramas, mit dem der [cidende 
Held fic felbjt in versweiflungsvoller Deuterſehnſucht abmiibt, fic in Cinbeit und 
Harmonie Frijtallijiert, dag vom Ausgang flare Vichter auf die Wirren des Anfangs 
fallen und dah gum Schluß erfenntnisreif fic offenbart, wie das Schickſal des 
künſtleriſch Starfen vingend gegen die Welt, ringend auch gegen den oft wideritrebenden, 
menſchlich-irdiſchen Teil der Cigennatur fics geftaltet, wie ihm alles CErleben des 
Menſchen nur Stoff feiner „höheren Zwede” wird und wie felbjt Hemmungen ſich 
zu fruchbtbaren Reizungen umfegen. An Strindbergs Wort vom „bewußten Willen 
in der Weltgefchichte” denft man bier mandmal. Cine ganz neue, wiſſensreichere 
Diſtanz ftellt fics mim cin, und alle dieſe Griefe bekommen hinter ihren oft qual: 
verzerrten Siigen de momentanen Zuftandes cin dem Schreiber zur Heit, da er fie ſchrieb, 
felbjt noch unfichtbares zweites Geficht, bas mit weiten Augen in die Zukunft blidt. 

Wagner fagte zwar, ein Muſiker ift fein Weiſer, nur in raſendem Wahnſinn fei 
er zu Haus, er felbjt aber war eben mehr als ein Mufifer, und bei aller leidenfcbaft- 
lichen Hingabe an feine Stimmungen blieh gleichzeitig fein Antelleft ftets angefpannt, 
um feinen barométre spirituel feftjtellen zu können, foiweit es der menſchlichen 
Augenblidsgebundenbeit miglich iſt. So ward er fich auch felbjt darüber Flar, daß 
fein Leben dramatiſch als Totalitét aufzufaſſen fei und dah die ijoliert heraus— 
geriſſenen Szenen irre führten, weil fie erjt durch die vorwärts und riidiwirts 
geſchlagenen Verbindungsbriiden die bedeutungsvolle Beziehung bekämen: 

„So ein Yebenslauf wie der meinige muf den Zuſchauer immer täuſchen; er 
jieht mid) in Taten und Unternehmungen, dic er fiir die meinigen halt, während fie 
init im, Grunde ganz fremd find.” Diefer Lebenslauf ijt ein „Exempel, deſſen 
Zablen jeden verwirren“, „das ift alles nur zu verfteben, wenn einmal die Summe 
und das Fazit vorliegen wird; dann wird man finden miiffen, daß diefes Ungewöhnliche 
eben nur fo zu bewirfen war.” 

Solche Erfenntnispjade öffnet nun diefer Briefband. Dod) ehe man fie gebt, 
ijt es nötig, die äußere Situation, die fichtbare Szenerie, die Oberflächen diefer 
ſeeliſchen Hintergrüunde und unterirdiſchen Vorgänge zu zeichnen. 


* * 
* 


Ricard Wagner hatte Otto Weſendonk und Frau Mathilde 1852 in Dresden 
Fennen gelernt. In Zürich, das Wagners Evil nach der Revolution wurde, war ibr 
Verkehr immer fompathifder geworden, und ſchließlich, als Weſendonks fich ihren 
patriziſchen Landjig auf dem „Grünen Hiigel” gründeten, richteten jie fiir den Freund 
und deffen Frau Minna ein hübſches Häuschen daneben yu einem, wie fie alle bofften, 


Richard Waaners künſtleriſche Sendung. 649 


Dauernden „Aſyl“ ein. Den Nachhall glücklicher Zeiten voll Cinvernehmen und 
gläubigen Verftehens empfingt man in den Briefen. Schon vordem hatte man in 
einer Publifation Wagnerſcher Briefe an Otto Weſendonk!) von diejer Freundſchaft 
geleſen. Später in der Erinnerung entlodte fie Wagner den enthujiaftifdhen Ausruf: 
„Kinder, Dap wir Drei find, ijt doch etwas wunderbar Gropes. C8 ift unvergleichlich, 
mein und eurer größter Triumph.” 

Im Spiegel jener früheren Veröffentlichung erkennen wir in dem Mann Mathildens, 
dem Großkaufmann, eine vornehme Natur, die dem Künſtler gegenüber, faſt ſelbſt— 
verſtändlich, ohne Zaudern und Zweifel, ſeinen Reichtum als Berufung empfand, die 
nie etwas halb tat, die, da ſie einmal Anteil an einem Werk und einem Schaffenden 
genommen, nicht wieder abließ, und gerade dann, als die äußere Situation heikel und 
kritiſch wurde, im Stützer- und Helferamt unter taktvollſter Wahrung der Empfindlichkeit 
Der Leidenden und Kämpfenden doppelte Pflicht fab. Charakteriſtiſch fiir beide, für 
den Gebenden und Empfangenden, ijt der Dank’ Wagners, der mit einer königlichen 
Handbewegung geqgeben wurde und den nicht die gliubigerverfolgte, notleidende äußere 
Menſchlichkeit ſprach, fondern das ftolje, halluzinatoriſch-ſichere, genialijde Gefühl, das 
ſeiner Beſtimmung gewiſſe Dämonion des Künſtlers: „Ich danke Ihnen für Ihr 
Anerbieten kaum, da ich ſicher weiß, daß das Gefühl, ein ſolches Anerbieten ſtellen zu 
können, eine Wonne ſein muß, die ſich ſelbſt mehr belohnt, als jede Dankesbezeugung 
dies vermöchte. Käme es dazu, daß Sie Ihre Abſicht mit mir ganz ausführen könnten, 
ſo dürften Sie, wenn ich je in der Geſchichte der Kunſt eine Rolle ſpielen ſollte, 
wahrlich keine geringe Stelle ebenfalls einnehmen, und dieſe Ihnen mit Energie und 
aller Rückhaltloſigkeit zu wahren, ſollte mir eine wahre Herzensgenugtuung ſein. Haben 
Sie Luſt, ſich mit mir ſo hoch zu ſtellen?“ Wer ſolche Worte verſtand und aufnahm, 
konnte kein Kleiner ſein. 

Doch ein Vorläufer im Wegebahnen des Genius war Otto Weſendonk nur, ſein 
Werk vollendete cin Mächtigerer, cin König, ebenſo wie Mathilde Weſendonks Aufgabe, 
dem Meiſter das ihm ſo notwendige Element weiblichen Mitſchwingens zu bieten, 
anhängenden Glaubens und aufgehender Weſenshingabe, in ſeinem zweiten Leben in 
einer Frau von königlicher Art ſich ſchöpferiſcher und kongenialer erfüllte. 

Mathilde Weſendonk war, wie ſich ihr Bild hier aus Einzelzügen zuſammen— 
ſetzt, eine Unbewußte. Eliza Wille ſchildert fie als „Jart, jung, voll idealer Anlagen, 
mit Welt und Leben nicht anders bekannt, als wie mit der Oberfläche eines ruhig 
fließenden Gewäſſers“. Raphaeliſch-Iphigeniſch wie ihre Bilder erſcheint ihr Weſen, 
ruhevoll in edeln Maßen. Wagner ſchreibt in drangvollen Pariſer Tagen an fie, die 
Betrachterin der Loggien und Stanzen in Rom, und beglückwünſcht ſie, daß ihr ein 
„ruhig ſanftes Genießen gegönnt ijt’: „die Bedeutung dieſes Genuſſes wird Ihnen jest 
tief aufgegangen fein, vielleicht ijt er fiir Sie, was fiir mich meine Tätigkeit, vielleicht 
meine Not it”. Und ein andermal fagt er: „ich bleibe dabei, daß es mir ein Trojt 

_ it, fle mit Neigungen ausgeſtattet und in einer bürgerlichen Lage befindlich zu wiſſen, 
die Ihrem Leiden einen idvllifden, ſanften Charakter ermiglichen.” 

Die ſchwärmeriſche, idealiſche Art diefer jungen Frau empfing mum in jenen 
Jiricer Tagen aus Wagners Nabe, aus feinem Bertrauen, aus den „Gaben feines 
Wefens, wie fie mir ibm verlieben find gu fpenden’, eine neue ungeabnte Nahrung. 


") Charlottenburg, Verlag der Allgem. Muſitzeitung. 


650 Richard Wagners künſtleriſche Sendung. 


Und ihm, an der Seite der nüchternen, alle ſeine Pläne mit der Hausfrauen-Elle 
ängſtlich und zugleich höhniſch-bitter meſſenden Minna, war dieſe bebende Enpfänglichkeit 
nach langem Darben Genuß und Wonne. Mathilde ſchrieb ſpäter erinnerungsvoll 
von der „ganzen reichen Welt, die er dem Kindergeiſt erfdloffen”. Und Wagner ſprach 
in gleicher Crinnerung von der „wundervoll weichen Stimmung jener Zeit”, „die ibm 
nod jest den Atem benimmt”. 

Es ijt hier auf feiten der Frau nicht jenes fichere Crgreifen und Verſtehen, jenes 
bewupte Erfaſſen von Kunſtwerk und Lebensaufgabe, dad fpater die wabre Gefährtin 
des Meiſters ibm brachte. Es ift vielleicht nicht einmal bas Nadhfiiblen des WiderFpruchs- 
vollen, Zwieſpältigen, mit fic) Gadernden der menfeblich-fiinjtlerifeen Natur. Mathilde 
war einfacer organifiert, fie ſchrieb einmal mit ſchematiſcher Pfodologie ziemlich ver— 
wundert: fie verftehe nicht, wie man den Beifall gleichzeitig weracdhten und doc fuchen 
fann. Uber Mathilde beſaß das, was Wagner in jener Zeit des Rreifens und Werdens, 
da all fein Sufunftswirfen ibm felbjt nod balb im Unbewußten fich verbarg, not— 
wendiger war als intellektuelles Aufnehmen, als geiftige Gefabrtenfchaft und produftive 
Anregung: Mathilde beſaß jened unfaghare ahnungsſchwebende Gefiibl fiir jedes Wort 
und jeden Ton aus Wagner Schopfungsivelt. Cr fiiblte, wie fie vibrierte, und 
wenn Gedanfen zu fern ftanden, fo war dads Fluidum ihrer Gefiiblgempfinguis fiir 
ibn ein Genießen obne gleicen. Gr war der Gebende, aber im Geben ward er 
doppelt bereichert. 

Ihre Nahe bewirkte ihm Napporte, wie er fie friiher nicht gefannt, fie brackte 
— ,ibm lauſchend wie Brunbhilde dem Wotan” — fein innerſtes Wefen gum Klingen, 
fie lodte obne Wiffen und Wollen aus ihm das Tieffte und Befte heraus. Wabrend fie 
gläubig und bingegeben ihm lauſchte, ward fie eine Erlöſerin und Enthinderin fiir ein 
chaotiſches, duntel-verworrencs Snnere. Sie fand rein und unbewußt zu feinen 
Quellen, und ibe gegeniiber ward ibm die Gabe rückhaltloſen, ſich ſelbſt klärenden 
Mitteilens. 

Darin liegt die Bedeutung Mathilde Wefendonfs fiir Wagner. Und es ift 
eigentlich etwas febr Feines, dah fie nicht aus den Cigenfebatten ftammt, die ein 
Menſch felbfttatiq bewußt an fich ausbildet, die cin Produft feiner Geiſtes- und Willens: 
mitarbeit find, fondern daß dieſe Bedeutung in dem undefinierbaren Perſönlichkeitshauch 
fag, der von Mathilde ausging und daß fie fics ciner Macht, die fie gar nicht überſehen 
und umfaffen fonnte, gliubig-verehrend unterwarf, wie die unfebuldsvollen Frauen der 
Mythe dem unbefannten Gotte. 

Cine Liebe war es, die, wie Wagner feiner Schwefter ſchreibt: ,,anfangs und 
lange jagend, zweifelnd, zögernd und ſchüchtern, dann aber immer beftimmter und 
ſicherer ſich ihm näherte“. Cine Liebe, die unansgefproden blieb, bis fie ſich endlich 
aud) offen enthüllte, „als ic) vorm Jahr den Triftan dichtete und ihr gab. Da jum 
erftenmal wurde fie machtlos und erfldrte mir, nun fterben zu müſſen ...“ 

Die letzten Gebeinmiffe dieſer feingefpounenen Cinheit sweier Menſchen — „was 
fie fidy Flagten und verfagten” — aufzuſpüren, darauf kommt es fiir uns nicht an, 
jondern auf die menſchlichen und fiinftlerifehen Ergebniſſe diefes feltenen Erlebens. 

Die Mitwelt aber hatte ihre peinlichen Gegenwartsintereffen an diefer Gemein- 
ſchaft. Mit plumpen Händen wurden die jarten Faden aufgegriffen, der Klatſch zer— 
jajerte fie, Wagners Aſylrecht ward untergraben, nicht Otto Weſendonk wehrte es ibm, 
aber die Atmofphare ward unbeilbar zerſtört. Minna Wagner, die in wadhfender Eifer— 


Ricard Wagners künſtleriſche Sendung. 651 


Jucht abjeits gejtanden — (Wagner war übrigens aus feiner fiberlegenen Erfenntnis 
heraus immer gerecht gegen fie, wenn ibm auch das Sujammenleben mit ihr unmiglid 
wurde) — die in Den engen Bedrängniſſen ibres fleinen Weſens feinen anderen nobleren 
Ausweg wußte, briisfierte Frau Weſendonk. C3 fam zu entivitrdigenden Debatten; 
Dinge, die unausgejproden, etwas Sartes und Befonderes bedeutet hatten, wurden 
durch nackte rückſichtsloſe Herausftellung, dadurch, dak Maßſtäbe und Gefichtspuntte 
aus dem Wiltagsniveau fie vergewaltigten, fo verjerrt, daß die Menſchen, die in ibnen 
etwas Heiliges zu hüten glaubten, felbjt erfdrafen, fich diefen fo ganz anders be- 
leuchteten Cituationen nicht mebr gewadhfen fiiblten und in wiirdigem Einverſtändnis 
Die anſtändige Trennung allem vorjogen. 

poder Reſt ift Schweigen und fic neigen in Ehrfurcht“, fagt Mathilde Weſendonk 
in ihren Crinnerungen, 

So beginnen wieder die Wanderjahre Richard Wagners. Ihre Stationen balten 
die Briefe und Tagebuchblatter feft, die er fiir Mathilde ſchrieb. Sein äußeres Leben 
verfolgen wir in ibnen auf mannigfadhen Szenen. Mit befonderer Liebe ausgemalt iſt 
Die erjte: Benedig und fein neues Afol in dem großen ftillen Palazzo am Canale 
grande, wo der Trijtan, das „tönende Schweigen” nun fomponiert wurde, wo es um 
ibn wie Verjauberung ijt, wenn er abends in breitem Mondesfdhatten heimkehrt, am 
ftummen Palaſte ausſteigt: „weite Räume und Hallen, von mir allein nod bewohnt. 
Die Lampe brennt; ich nehme da3 Bud) zur Hand, leſe wenig, finne viel.” Gondel— 
lieder, bunte Lichter, eine Luft wie „weicher langgebaltenerGeigenton”, endlices Ber: 
jtummen, und der „letzte Ton löſt fic wie in das Mondlicht auf”. 

Dann folgt Luzern im Schweizerhof mit Triftan-Vollendung; die ſchlimme parifer 
Zeit, die fo hoffnungsvoll und überraſchend fiir ibn im Enthuſiasmus der franzöſiſchen 
Freundesgemeinde begann und mit der graufamen Niederlage des Tannhäuſer endete, 
cine Beit der Hebjagd, der Unſtäte, de3 völligen Mufgeriebenfeins, ſchwerſter Geldnöte, 
voll Versweiflung und Leidensiveihen, voll ſchleichender Freudfofigfeit in ,,bleichen 
feelentojen Tagen”. Die Cpifoden von Biebrich und Wien, unterbrochen durd) 
ruſſiſche Konzertreiſen, „um das Leben aufrecht zu erhalten”. Dazwiſchen Aufdämmern 
der Meifterfinger und dann mit einemmal Minden und die Königsſonne; und die 
Partitur des Rheingold und der Walküre, das heilig gebiitete Befigtum Wefendonks, wird 
zurückgewünſcht fiir Ludwig den Bollender, und Frau Weſendonk wird von Frau 
von Bülow um die Wagnerſchen Manuffripte ibrer Mappe gebeten. Und die lepte 
Station der Briefe ift Triebfchen, wo de3 Meiſters Wähnen Frieden fand, und von wo 
ex in Der Stimmung der Erfüllung an Clija Wille von feinem neuen Leben und von 
Cofima der Gefabrtin, die er errungen, ſchrieb: „ganz unerbirt, feltjam begabt, 
Liszts wunderbares Ebenbild, fie wußte, daß mir zu belfen fei, und fie bat mir 
gebolfen. Cie hat jeder Schmach getrogt und jede Verdammung über fid) genommen. 
Sie hat mir einen wunderbar ſchönen und kräftigen Gobn geboren, den ich kühn 
Siegfried nennen fonnte; der gedeibt nun mit meinem Werfe und gibt mir ein neues 
langes Leben, das endlich einen Sinn gefunden bat...“ 


* * 
* 


Situationen, Schauplätze und Vorgänge ſind das. Das Weſentliche dieſer 
Dokumente aber ſtellt ſich nun darin dar, wie dieſer Erlebensſtoff in einem formenden 
und geſtaltenden Geiſt verarbeitet und umgeprägt wird, wie er ſich zu fruchtbarer Nahrung 


652 Richard Wagners künſtleriſche Sendung. 


fiir die innere Vorſtellungswelt umbildet, wie aus ihm fic) Weltanſchauung kriſtalliſiert. 
Transparent werden in dieſen Briefen die Gegnerſchaften in der eigenen Bruſt, die 
Kämpfe zwiſchen menſchlichen Wünſchen und dem künſtleriſchen Trieb, der den von ibm 
Vefejjenen unbarmberzig fteilfte Leidenspfade treibt. Rückſichtslos, den Moment aus- 
ſchöpfend, zeichnet Wagner die Phafen diefer innerliden Kämpfe bis aufs Blut auf. 
Was ifm, dem CErlebenden, fonvuljivifdy erfcheint, wird aber uns in dieſem Zufammen- 
hang, in dieſem überſchauenden Sujeben ein überraſchendes Schaujpiel organiſch fid 
vollziehender, endgiltiger Klärung zuſtrebender Prozeſſe. 

Zwei ſtarke Tendenzen treiben Wagner, die eine iſt, „daß er bis in die feinſte 
Verzweigung Mitwiſſer ſeines Schickſals werden will, nicht um es gegen den Lauf zu 
wenden, ſondern um täuſchungslos ihm gegenüberzuſtehen“, es auf ſich zu nehmen. 
Die andere iſt die Leidenſchaft, ſo viel wie möglich ſich „auf der höchſten Höhe ſeines 
Weſens zu halten“; ein Drang über das Menſchliche hinaus zum Intelligiblen iſt das, 
und aus dieſem Drang erklärt ſich, daß Wagner viel mehr für Schiller als für Goethe, 
den „Augenmenſchen“, übrig hatte. 

Jene erſte Tendenz trieb ihn yu der ſtändigen Analyſe ſeiner Suftinde, zu dem 
raſtloſen Eifer, aus ſeinen Stimmungsmoſaiken immer neue Verſuchs-Abbilder ſeines 
inneren Weſens ratend, kombinierend zuſammenzuſetzen, um der Wahrheit ſeines 
Ichs näher zu kommen. 

Cr ſtellt ſich ſcharf alle ſeine Widerſprüche vor. Wie er müde und bhoffnungs- 
los die Ruhe, das Alleinſein ſucht, wie der Gedanke an Weltflucht ihn beglückt, wie 
er einſieht, daß ihm doch nicht zu helfen ſei, daß die neuen Werke unausführbar ſeien 
und daß ihm ein ſtiller Platz, fern und einſam, am beſten tauge. Und wie er dann 
erkennen muß, daß er die Einſamkeit gar nicht verträgt, daß die Ruhe nur Unruhe 
für ihn wird, daß er, der ſich für die Zurückgezogenheit geſchaffen glaubt, immer 
wieder unwiderſtehlich von der Welt an ſich geriſſen wird: 

„Alles ijt mir fremd und ſehnſüchtig und oft blicke ich nach dem Land Nirwana. 
Doch Nirwana wird mir ſchnell wieder Triſtan. Sie kennen die buddhiſtiſche Welt— 
entſtehungstheorie. Cin Hauch trübt die Himmelsklarheit, das ſchwillt an, verdichtet 
ſich, und in undurchdringlicher Maſſenhaftigkeit ſteht endlich die ganze Welt wieder 
yor mir. Das iſt das alte Los, fo lange ich noch unerlöſte Geiſter um mid babe.“ 

Som wird Far, dah der Künſtler „ſo rect der Narr feines eigenen Bewußtſeins 
ijt, aber er ijt dabei febr fiinjtlicdy fo gemacht, den ewigen Widerftreit ausjubalten. 
Ja immer im Widerftreit fein, nie yur vollſten Rube feines Annern zu gelangen, 
immer gebept, gelodt und abgejtofen gu fein, dad ijt eigentlich der ewig brodelnde 
Lebensprozeß, auf dem ſeine VBegeijterung wie eine Blume der Verzweiflung bervortreibt.” 

Das Unnatiirliche dieſer Exiſtenz fühlt er: „ein natitrliches Leben führt man 
nun einmal nicht; um nun halbwegs wieder natiirlics zu werden, müßte e3 viel 
Fiinftlicher fein, ungefibr wie mein Kunſtwerk felbjt, dad auch ſich in der Natur und 
Erfahrung nicht wieder findet, jein neued höheres Leben aber eben durch die vollendetite 
Anwendung der Kunſt erhalt.” 

In diefem angefpannten Belauern und Belauſchen feiner ſelbſt, diefem Erkennen, 
dah er fic) trotz des Widerſtrebens, immer wieder von dem fiinjtlerifden Damon bis 
jum Glücksgefühl berauſchen, ſich bis zum Vergeuden aller Kräfte hinreifen läßt, gelangt 
ex zur Einſicht feiner Beftimmung. Cr merft: nicht er wirft, fondern in ibm wirkt es. 
Das Wünſchen und Wollen des beſchränkten dumpfen Bewußtſeins wird nicht qefragt, 


Ricard Wagners künſtleriſche Sendung. 653 


ex bat nur yu geborden und feine Aufgabe auf ſich zu nehmen. Weltgeift-Sujammen- 
bang, Berufung fühlt er, und als Werkzeug beugt er jich demiitig. „Dem eigentlichen 
Leben gegeniiber, laſſe ic) mich getrojt von meinem Inſtinkt leiten, mit mir wird etwas 
gewollt, was höher ijt, als der Wert meiner Perfinlichfeit. Dieſes Wiſſen ijt mir 
fo eigen, daß ich lächelnd oft kaum nod) frage, ob ic) will oder nicht will, Da forat 
der wunderliche Genius, dem ich fiir dieſen Lebensreft diene, und der will, dah ich 
vollende, was nur ic) vollenden fann.” Schon in Venedig ſchrieb er: „ich will aus- 
balten, denn ich mug. Ich gehöre nicht mir, und meine Leiden und Bekümmerniſſe 
find die Mittel eines Siweds, der all dicjer Leiden fpottet.” 

Diefe teleologiſche Auffaffung und jene andere Tendenz, ſich miglichjt auf der 
höchſten Hobe feines Weſens yu halten, jie beide verarbeiten nun aud die Mathilden— 
liebe und ziehen fie in jene myſtiſchen ſchickſalsvollen Rreife, in denen, wie Wagner 
abnte, fein wahres innerlices Daſein fid) gebeim, ſelbſttätig, notwendig vollzog. 

Gleich Schopenhauer Fam er auf den Gedanfen einer Metaphyſik der Liebe. 
Nur dah bier nicht die Geſchlechtsliebe gemeint ijt, und daß nicht das Lebensverlangen 
der nächſten Generation, das Rind, das Treibende ijt, fondern künſtleriſch-genetiſch 
wird die Deutung. Wagners Griibeln kommt zu dem Saw, dah die „Idee Anteil an 
der Geftaltung der Erfahrung bat”, und diefer Sag bedeutet fiir diefes Erlebnis nichts 
andere alS dak der im Unterbewußtſein ſeines Weſens ſchlummernde Triftan yum 
Leben, jur Bejahung verlangt und ibn in diefe Liebe geführt habe, wn ibm in 
Erregung und Aufſchwung jene „äußerſte große Lebensftimmung” zu bereiten, die 
zum Werden und Geftalten unendlicder Sebnfucht und auflöſenden Liebestodes 
fruchtbar wäre. 

So ringt der demiurgiſche Trieb Wagners ewig um Bedeutung und Zuſammen— 
bang, im Einswiſſen mit ſolchen unterirdiſchen Beziehungen des äußeren Geſchehens 
fühlt er ſich auf der „höchſten Höhe ſeines Weſens“. Peinlich herabgezogen aber wird 
er, wenn das konventionelle Alltägliche ſich einmiſcht und ibm rückſichtslos auch einmal 
das irdiſche offizielle Geſicht der Dinge zeigt. Das kann er, deſſen Weſen in einem 
tiefwurzelnden Pathos liegt, gar nicht vertragen. 

Der künſtleriſche Abſolutismus in ihm zwingt und dirigiert alles in die philoſophiſch— 
äſthetiſchen Sphären, er wertet und wandelt es dahin um, daß es den Erhabenheits— 
tendenzen des Werkes taugt. „Das war ja eben immer das Ausgezeichnete unſeres 
Verkehrs“, ſagt er, „daß der eigentliche Inhalt des Tuns und Denkens in geläuterter 
Form uns unwillkürlich einzig als beachtungswürdig erſchien und wir gewiſſermaßen 
vom eigentlichen Leben uns ſofort emanzipiert fühlten, ſobald wir nur zuſammentrafen.“ 

Aus ſolchem Geiſt heraus will er jetzt auch die Trennung von Mathilde verſtanden 
wiſſen. In Schönheit ſoll die Entſagung geſchehen, „reicher, geiſtvoller, edler“, „immer 
mehr auf den Inhalt und das Weſen der Liebe gerichtet’ ſollen ſie dadurch werden. 
Als Tat des Erhabenen will er das Scheiden, nicht als Folgſamkeit gegen ein Gebot 
des Sittenkodex. Schwer enttäuſcht iſt er daher, als ihm Eliza Wille von Mathilde 
ſchreibt, ſie ſei „gefaßt, ruhig, entſchloſſen, die Entſagung durchzuführen! Eltern, 
Kinder, — Pflichten . . .“ Und ſehr charakteriſtiſch ſpricht ſich jener in ſeinem Eigen— 
willen ſo beharrende und ſelbſterhaltende künſtleriſche Abſolutismus Wagners aus, wenn 
er darauf ſagt: „Dachte ich an dich, nie kamen mir Eltern, Kinder und Pflichten in den 
Sinn, ich wußte nur, daß du mich liebteſt, und daß alles Erhabene in der Welt 
unglücklich ſein mug. Bon dieſer Höhe aus erſchreckt es mich, genau bezeichnet zu 


654 Richard Wagners künſtleriſche Sendung, 


feben, was uns ungliidlid macht“ . . . „Ich fann und mag das nicht feben umd 
biren, wenn icy mein Erdenwerf würdig vollenden foll”, und einige Dage fpater: 
„Die erhabene Schinheit meiner Stimmung war jerftirt; fie muß ſich nun mühſam 
erjt wieder erbeben.” 

Genugtuung empfindet er aber dann, als er aus Mathildes Bricfen, die in gläubiget 
Siingerfdaft natürlich zu ibres Meifters Weife dann fic) ftimmte, Einklang bert. 

Seine Natur ijt es, wie er felber fagte, ,aus dem gemeinen Zuſtand aufzuregen“, 
Treiber höherer Menſchlichkeit zu fein. Hier ruben die Befriedigungen, JFreuden unt 
Geniiffe feiner geijtigen Exiſtenz. Und fo febreibt er in äußerlich traurigwebvoller Seti 
des Meidens: ,, Mit dir, Kind, babe ich mun auch fein Mitleiben mehr. Dein Tage: 
buch, das du mir nod zuletzt gabjt, deine neueften Briefe zeigen dich mir fo boc, 
fo echt, fo durch dad Leiden verflirt und geldutert, deiner und der Welt fo mächtig, 
daß ic) nur nod) DMtitfreude, Verehrung, Anbetung empfinden fann. Du fiebft dae 
Leid nicht mehr, fondern das Leid der Welt; du kannſt es dir fogar in feiner anderen 
Form mehr vorftellen, als in der des Leidens überhaupt.“ 


* * 
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Aber man kann ſich nicht immer auf der höchſten Hohe ſeines Weſens halten, 
befennt fic) Wagner ſelbſt. Dieſe Philofophie, diefe Syſteme überſchreien manchesmal 
nur mühſam fein Menſchliches. Es ijt die alte Klage: „Sollte ich gedeihen, ſo müßte 
mir meine Kunſt und ihre Ein- und Rückwirkungen auf mich bis zur Berauſchung, bis 
jum vollen Selbſtvergeſſen ſtets nahe fein. Immer aber bleibt gerade mir mur 
eigentlich) das Leben vorliegen, das Leben, in dem ich cine fo unnatiirliche traurige 
Rolle fpiele. Das ift eben nicht, wie es fein follte; und bleibe ich bet meinem Willen, 
jo muß mir endlich faft eine Art von Gigenfinn helfen. Natürlich, und von ſelbſt 
macht fic) dabei nichts, ſelbſt mein Kunſtſchaffen nicht.“ Dies Wort — übrigens cin 
Beweis des Wahrhaftigheitstriebes Wagners — gejteht cin, wie er wohl oft unter 
heftiqgem Widerftand feinem Irdiſch-Menſchlichen die Erhabenheitstendenzen abgewinnen 
muß und wie er mit dem „Aufregen aus dem gemeinen Zuſtand“ bei ſich ſelbſt begann. 
Dabei konnten natürlich die Reaktionen nicht ausbleiben. Das Menſchliche empörte 
ſich, es empfand die Kunſt und die Stimmungsgebote, die aus ihrer Sphäre kamen, 
als Tyrannei und Despotismus. Das Geſchöpf empörte ſich gegen den Dämon und 
wollte nichts von ſeinen erhöhenden, abſtrakt- ideologiſchen Umwertungen und Ver— 
wandlungen wiſſen. „Selbſttäuſchung und Selbſtbetrug“ ſchrie es auf, und es klagte um 
feine verlorene Liebe; wie Plato fab es dann in der Kunſt das Lügneriſche, und 
Buddha gibt eS recht, der ftreng die Kunſt ausſchloß: „Wer fühlt es deutlicher als 
ich, daß dieſe unfelige Kunſt es ijt, die mic ewig Der Qual des Lebens und allen 
Widerſprüchen des Daſeins zurückgibt.“ 

In ſolchen Perioden zertrümmert Wagner ſein ganzes Weltgebäude und gibt ſeiner 
Anſchauung das entgegengeſetzte Geſicht. Jenes Metaphyſiſche ſtößt er fort, er ver— 
leugnet als Trug ſeine Erkenntnis, daß die Liebe Mittel zum höheren Zweck, Mittel 
zur Kunſt geweſen fei. Die Liebe und Mathilde ijt ibm dann allein das Höchſte, 
Kunſt erfebeint ibm ,nur ein Spiel, mein wahrer Ernſt iſt nicht dabei, wie er eigentlich 
nie gan; in ihr war, fondern dariiber binaus, in dem was ich erfebnte, und nur in 
dem, was mic einzig gum Leber und Kunſtſchaffen noch fabig machte! O, glaube, 
qlaube mir, daß nur du mein Ernſt bift.” 


— — — — 


Ridard Wagners künſtleriſche Sendung. 655 


Dies Menfechliche findet auch einen gewiffen behaglich-gemiitlicheren, an Stimmungen 
des Goethe- Charlotte: Brichwedsfels erinnernden Ausdruc im wweiteren Berlauf der 
Korreſpondenz, wenn Wagner die Freundin als Schutzgeiſt des duperen Lebens bemüht, 
ihr Befjorgungen und Betreuungen anvertraut. Ziwiebad, der richtige, „ſüße, altgewobnte, 
in Milch getancht”, kommt als Nothelfer, die feidenen Betten erfcheinen und die Fojt- 
baren meifterjingerliden Hausfleider, die Wagner fo notwendig waren (an Flaubert 
und Baljac erinnert diejer Kultus der duferen Weihezeichen). Die feidenen Uberzüge 
müſſen erfegt werden, und Mathilde foll ihm in Zürich Stoff dazu beforgen: „ſie 
waren grün, könnten aber jur Not aud) rot werden, wie das Laub im Herbft es 
wird”; auch die Beforgung eines Dieners, „eines guten Hausgeijtes”, legt er ihr ans Her}. 

Dod aus diefem rubhevoll gleicherem Map der Freundſchaft — in diefer Zeit 
(1859) wird aud da8 Wort von der „wunderbaren Dreiheit” dem Freund und der 
Freundin geſchenkt — fommt nod) einmal ein qualvoller Rückfall in die alte Leidenfcbaft. 
Cin Wiederfeben in Venedig rückt das ganze Erlebnis aus der Ideenſphäre in die 
menſchliche Wirklichfeit, und deren Cindrucd gegeniiber ſchweigt das Künſtleriſche und 
Philofophifese und der leidende Menſch muß auffdreien. Und dann fommt die Wende 
pom Jahre 1861 zum Jahre 1862, an deſſem 16. Juni Weſendonks cin Sohn geboren 
wird, ibr letztes Rind. Wagner ſchreibt in diefen Zeiten: „ich erwidere Ihnen mit 
cinem Befenntnis. Es wird unniig fein es auszuſprechen: alle3 in und an Ihnen 
jagt mir, daß Sie alles wiffen, und doch treibt es mich, Ihnen auch meinerfeits 
Sicherheit yu geben. — Mun erjt bin ich ganz refigniert!” Aber wie aufgewiiblt er 
damal3 war, geht dDaraus hervor, dah vom Juni 1862 bis Mai 1863 mit Ausnahme 
eines kurzen Gliidwunfehes zu Mathildes Geburt8tag fein Schreiben ftodt und dah 
in dieſer Lücke bedeutungsvoll cin Brief an Eliza Wille fteht, in dem ein belajtetes 
Hers fich erleictert: „Ich will diefer Tage endlich) einmal wieder Weſendonk ſchreiben. 
Allein — ich Fann nur ibm ſchreiben. Ich liebe die Frau zu fehr, mein Herz ift fo 
fiberweid) und voll, wenn id ibrer gedenfe, daß id) unmöglich an fie in der Form 
mich wenden kann, die nun zwingender als je mir gegen fie auferlegt fein müßte. 
Wie mirs um das Herz ijt, kann ich ibe aber nicht febreiben, obne Berrat an ibrem 
Manne zu begehen, den ich innig fdaipe und wert halte.“ Und er ſtrömt fein ganzes 
Gefühl aus in der Crinnerung der ,bangen, ſchön beflommenen Jahre“, - die alle 
„Suüße feines Lebens enthielten’: Sie ift und bleibt feine erjte und einzige Liebe: 
„Wie kann ich mit diefer Frau fo reden, wie es jest fein foll und muh? Unmiglic! 
— ja, ic fühle fogar, ich darf fie nicht wiederſehen.“ — Und es dauerte eine Zeit, 
bid er fics ans feinen menſchlichen Wirren wieder in die Befeſtigungen feines künſtleriſchen 
Wejens zurückretten und wieder halten fann, was er fic) vorgenommen: 

„Von meinem Leben erfabren Sie immer nur das Notwendighte — Außerlichſte. 
Innerliches — feien Cie das verfichert — geht gar nichts mebr vor; nichts als 
Kunſtſchöpfung. Somit verlieren Sie gar nichts, fondern das einzig Wertvolle 
erhalten Sie, meine Arbeiten.“ 

* * 
* 

Wahrheiten des Wagnerſchen Weſens waren beide, das Menſchliche und das 
Künſtleriſche. Das Künſtleriſche aber war die höhere, ſtärkere, fruchtbringendere Wahrheit; 
fie ſcimolz das Menſchliche ein und ließ es im Kunſtwerk auferſtehen. Alles Ringen, alles 
widerſpruchsvolle Für- und Gegenſtreben, alle die Täuſchungen des Moments, in denen 


656 Mariann, 

Leben und Kunſt den Platz getauſcht zu haben febeinen, in denen das Leben bejabt 
und die Runft verneint wird, das alles find nur GCinjelphinomene, Wetterzeichen 
diefes gewaltigen unfidtharen Prozeſſes. Wie aus der wunden Sehnſucht der Triftan, 
jo wuchs aus reifer Nefignation der Hans Sachs der Meijterfinger, in feiner mit 
Nietzſches Worten „goldhellen, durchgegorenen Miſchung von Cinfalt, Tiefhlid der 
Viebe, betrachtendem Cinn und Schalkhaftigkeit, wie fie Wagner allen denen als 
köſtlichen Trank eingeſchenkt hat, welche tief am Leben gelitten haben und fics ibm 
gleichfam mit dem Lächeln des Genejenden wieder jufebren.” Und am Biel des 
Weges erfiillt ſich wirklich mit feierlider Notwendigkeit jene Cinheit, die Wagners 
Banderjabre fuchten, die Cinheit von Welt, Liebe und Kunſt im Lebensounde zu 
Wahnfried und auf der Feſtſpielhöhe, auf einem anderen ,,Griinen Hügel“, der jest 
fein Gigenreich und gu dem alle Völker der Erde wallfabren. 


SR LUE 


— —Mariann. — 


Roman 


von 


Touiſe Schulze- Brück. 


Nachdruck verboten. 


5. 

Du alte Müller war rein närriſch ge- 
worden. Die Leute im Dorf redeten nun 
ſchon ſeit Woden von nidts anderem. Im 
WirtShaus fagen die Wlten und lachten und 
madten derbe Wige in die blauen Tabafs- 
wolfen binein, und in den Cpinnftuben 
ſchmälten die Weiber und fagten’s immer 
wieder, daß es eine Ciind’ und Scand’ fei 
und bah ber Alte in den Rarrenturm gehöre. 
Seit die Müllerin gejtorben, war faum ein 
abr berum, und nun wollte er ſchon wieder 
beiraten. Von Rechts wegen fonnte man ibm 
bas ja gar nicht fo übel nebmen. Die 


Müllerin war feit der Hochzeit der Lena frank | 


geweſen und batte faſt fieben Sabre fejt im 
Bett gelegen und ihre Leute mit Jammern 


und Klagen und Zanken faſt aud ins Toll: | 


haus gebradt. Das ift fein Spaß fiir einen 
riiftigen Bierziger, der ſelbſt nod) [ebensluftig 
ift, acht Sabre fang eine franfe Frau yu 
haben. Und nist mal ein Erbe war da fiir 


| bas ſchöne Miiblengut. 


(Fortlegung von Seite 6115 


Die Lena hatte freilich 
vier Kinder gebabt, fie batten alle eine furje 
Beit lang in der alten Wiege gelegen, in der 
jon des Millers Vater und Grofvater bem 
Leben entgegengefdrien und als ftramme 
Buben ibr erſtes Lebensjahr verfdlafen batten. 
Aber diefe waren alle vier Madden geiwefen, 
_ und fo kleinwinzig und verfdbrumpft batten 
ſie in ber grofen Wiege mitten in einem 
Dutzend Federfifjen geftedt, dak man fie faum 
finden fonnte. Und die tweife Frau, die feit 
zwanzig Sabren allen Rindern im Dorfe yum 
| Licht des Daſeins gebolfen hatte, — ſah mit 
einem beimliden Entſetzen jedesmal der Zeit 
entgegen, wo fie nad der Mühle gebolt tourde. 
Es war fajt yu viel fiir Menfdenfraft, was 
die Lena jedesmal auszubalten hatte, und 
man mufte ja nun dod feben, dak es immer 
fiir nichts und wieder nidts war. Denn nad 
ein paar Woden oder längſtens Monaten, 
während die armfeligen Dinger nicht gunabmen, 
| fondern immer armfcliger und twingiger wurden, 





Marian. 


waren fie auf einmal bin, — wie fleine dünne 
Lichter, die eine Weile lang ängſtlich fladern 
und dann auslifden. 

Dann bimmelte bas fleine Glidden, dad 

bie Kinderleichen anläutete, befonders ſchrill 
und grell, — als wollte es in das Dorf hin— 
ausſchreien „wieder eins“ — „wieder eins” — 
und der Eidam des Müllers ging am zweiten 
Tag danach hinter dem winzigen weißen 
Sarge, der auf dem Kopfe einer Trägerin vor 
ihm hinausſchwankte, nach dem Friedhof 
draußen am Fuß des Burgberges, wo nun 
ſchon die Grabſtätte der Müllersleute wie ein 
Garten war mit kleinen Hügeln. Die beiden 
erſten Male war auch die Müllerin noch mit— 
geweſen. Mit dem Trauertuch, das ſtraff um 
die Schultern gezogen war, ſah ſie ſelber faſt 
aus wie eine, die ihren letzten Weg geht, und 
ſie ſchluchzte und jammerte herzbrechend an 
dem kleinen offenen Grabe und wollte nicht 
wieder weggehen, und warf ſich auf die friſchen 
Schollen und klammerte ſich mit ihren Armen 
um den Erdhaufen, daß die Weiber ſelber alle 
anfingen, in ihre Taſchentücher zu ſchluchzen 
und ſelbſt ben Männern die Augen feudht 
wurden. Nur der Vater der fFleinen Toten 
ftand tränenlos und finfter daneben. Cr bif 
fid auf die Lippen, daß fie bluteten und frallte 
feine Hinde ineinander, und fein Blick fiel auf 
feine jammernde Frau. Der alte Miller 
führte fie dann zuletzt mit Gewalt bintweg, 
das Heine Grab wurde zugeſchaufelt, und der 
Totengraber mag dann fdon ab, wieviel 
Raum er nod daneben laffen müßte fiir das 
nächſtemal. Als aber bas dritte begraben 
wurde, ba mußte die Lena gu Haufe bleiben. 
Der Doktor hatte fic) ins Mitte! gelegt und 
es ftrengften$ verboten. Und dann batte er 
mit ben Zweien eine ernjthafte Unterredung 
gehabt, und der Chriſtian batte gleichgiltig 
und ſtumm zugehört und zuſtimmend genickt. 
Aber die Lena hatte ſich auf den Boden ge— 
worſen und ſo laut geſchrien, daß man's in 
ber ganzen Mühle gehört hatte, hatte Krämpfe 
belommen, und man hatte ſie ins Bett bringen 
müſſen. 

Dann hatte der Doktor wieder auf den 
Chriſtian eingeredet, und der hatte die Achſeln 
gezuckt: „Wenn aber die Frau nun meint, ſie 
müßt's erzwingen?“ 


657 


„Die Natur läßt ſich nichts abzwingen“, 
hatte der alte Doktor geſagt „und ihr werdet 
ſeh'n, daß ich recht behalte. Ihre Kinder 
ſind nun einmal nicht lebensfähig, und ſo 
wird's auch bleiben. Und ſie wird nur immer 
ſchwächer und kränker dabei. Lange geht das 
nicht mehr ſo.“ Nach ein paar Monaten war 
die Lena dann mit dem Chriſtian zu einem 
berühmten Arzt gereiſt, der verordnete, daß ſie 
jeft im Bett liegen müſſe, kräftig eſſen und 
guter Dinge ſein. Und der Chriſtian mußte 

für den Rat einen blauen Schein auf den 
Tiſch legen. 

Schwerer, ſtarker Wein war in ganzen 
Kiſten in die Mühle gefommen, und es ward 
| gefotten und gebraten wie zur Kirchweih. Sie 
taten alles, was fie fonnten, und twas fic fiir 
Gelb faufen ließ, ward herbeigeſchleppt. Nur 
das ,,guter Dinge fein”, das fonnte man nidt 
kaufen fürs ſchwerſte Geld. Go lag die Lena 
denn im Bett und fujonierte bas ganze Haus 
und machte denen, die um fie fein muften, 
das Leben zur Hille. Dbrem Mann freilic, 
dem fonnte fie nicht viel antun. Der war 
pom friiben Morgen bis in die ſpäte Dunfel- 
beit binein draußen auf dem Felbe oder in 
ben Stallen und Scheunen, oder er fubr fiir 
den Müller über Land. Wenn er aber ju 
Haufe war, dann hielt er ſich unten in den 
Stuben, damit die junge Frau feine Schritte 





und wenn 


nidt hörte. Denn dann rief fie nad ibm, 
ex nidt fam, fo begann fie 
qu weinen und au jammern, bis er an ihrem 
Bett fap. Viele Freude hatte fie freilich niche 
davon, denn er bérte nur ftumm auf ihre 
Klagen und Zanfen. Und febr bald jtand er 
auf und ging wieder binaus feiner Arbeit 
nad. 

Die Zeit ging bin! Dann, als an einem 
hellen Quniabend cin Bote aus der Mühle 
nad der tweifen Frau lief und ein anderer 
nad) bem Doftor, und als dann eine Nacht 
poriiber war, die fo voll Schrecken und 
Qualen war wie nie eine vorber, — ba war 





| immer wieder mit 


ein neued Leben in der Miible aufgewacht, ein 
gang ſchwaches, erlöſchendes. 

Stundenlang hatte ſich der Doktor um 
das Kind bemüht, während die fiebernde Frau 
faſt erloſchener Stimme 
fragte: „Iſt es ſtark und geſund? Iſt es ſchön?“ 

42 


658 


Es war gut fiir fie, dah fie in ſchwerem 
gieber lag, als endlich das häßliche, ſchwäch— 
lide Geſchöpfchen in feiner Wiege fag. Und 
e3 war gut, daß ihr Mann nicht feben fonnte, 
wie an dieſem felben Morgen am anderen Ende 
des Dorfes die Mariann ihren Qungen bez 
fonders herzte. War er dod) heute jieben Sabre 
alt geworden. Sie betrachtete ibn mit Mutter: 
ftol;, und fie hatte alle Urjache baju. Cin 
Pracdtterl war er, Hofen und Kamifol waren 
ſchon wieder gu kurz und eng, obgleich fie erft 
pom Frühjahr herjtammten. Die febwarjen 
Haare fielen ihm wirr bis in die Augen, fie 
mupte fie wahrhaftig jdon wieder ſchneiden, 
— mit feinen fejten weißen Zähnen zerbiß er 
heißhungrig die großen Brotidnitten. Sie fab 
ibn lange an. — Gr glich ihr, — ihr ganj 
allein. Nur cin einziges Merfmal hatte er 
an fic), das fie mit einem jähen Schreck ge- 
feben batte, als fie es juerft entredte. Cin 
erbjengrofes dunkles Mal an der rechten 
Schläfe, halb vom Haar verborgen. 
fannte das Mal gut genug, — fie wufte 
genau genug, wer an derſelben Stelle gang 
genau dadsfelbe hatte. Und fie ftrid) das 
Haar des Kindes an der Schläfe berunter, 
ſodaß man den Fle nicht fab. 

Sie nabm den Jungen auf ben Scho} 
und 30g ihn befonders forgfaltig an. Immer 
war er ja befjer gebalten, alg die andern 
Kinder. Cie fonnte dad ja aud. Sie hatte 
eine Eleine Erbſchaft von einem Bruder ibrer 
Mutter gemadt, einem wunderlichen, alten 
Sonbderling, der gang einſiedleriſch fett langen 
Sabren ſchon fiir fic) baufte, niemand in fein 
Haus ließ und mit aller Welt in Feindfcbaft 
lebte. Es hieß, in feiner Jugend fei ibm 
fein Schatz gejtorben, irgendiwo weit in der 
Welt. Ws er ftarb, da ftellte fics heraus, 
dap er fein Hab und Gut der Mariann ver- 
macht hatte. Es war nicdt viel, aber es war 
genug, dak fie fic) nicht mehr zu qualen 
braucte. Cie hatte in dem ererbten Haufe 
einen fleinen Yaden aufgetan und ganz quien 
Zuſpruch gejunden. Nun fonnte fie ſich apart 
halten und bei ihrem Jungen bleiben. 

Die fleine Ladenſchelle bimmelte, eine Nach— 
barin fam herein, um Schuhriemen yu faufen, 
Nur um drei Pfennige, aber fie mute dod 
bie grofe Neuigkeit los werden, dap es in der 


Sie 


Marian. 


Mühle ſchon wieder ungliidlid gegangen fe 
Sehredlih hatte die Lena ausgeſtanden. Und 
bag Rind fei twieder tot. 

Ginen Augenblick verftummte die Gr 
zählerin. „Ein Kreuz ift’s, ein arges Kreui. 
Nu wird’s wohl das lestemal fein. Wit 
fünf Grabern werden fie wobl mun gqenug 
haben. Für den Chriſtian iſt's ein argeé 
Schickſal. Fiinf tote Kinder und eine immer 
franfe Frau. Na, lang wird fie’Ss ja wobl 
nicht mehr madden, die Lena. Co Frank und 
elend, wie fie immer ijt, Sa, ja, 's Geld 
tut's and nidt allein. Die Reichen haben 
aud) iby Biindel gu tragen.” 

Sie war weg. Cie mufte die Neuwiafeis 
nod weiter erzählen. Mariann fag gang zer— 
fdlagen ba. Nun würde der Chriftian wieder 
vorbeigehen an ihrem Häuschen binter dem 
fleinen Garge, in dem wieder cin Stück Hoff⸗ 
nung eingegraben twurde in die Erde. Sik 
fiiblte feinen Triumph, daß dad Schickfal fid 
fo bitter an ihm rächte. Das erftemal frei— 
lich, Da hatte fie mit trodenen Mugen und zu— 
fammengepreften Lippen binter bem Geranim: 
topf am Fenfter geftanden und gelauſcht und 
von dem blafjen Mann und der ſchluchzenden 
Frau hinter dem weißen Carglein auf tbr 
cigenes geſundes Rind geſchaut. Aber dann 
war's wie cin eisfalter Schauder über fie ge— 
gangen. Was den beiden heute das Her 
zerriß, fonnte ihr's morgen zerreißen. Und 
fie hatte die Hinde gejaltet und ein „Vater 
unfer” gebetet und giveimal geſagt: „Führe uns 
nidt in Verſuchung!“ 

Aber wider alles Erwarten blieb das Kind 
am Leben. Ob das freilich cin Gliid war? 
Cin fo ſchwaches Geſchöpf, das monates 
lang zwiſchen Leben und Tod ſchwebte, bas 
Gichter und Fraifen batte und engliſche Krank: 
beit, bas immer war wie cin Licht, das aus— 
löſchen wollte. Die Lena ſchlich im Hauſe 
berum, in dice Tücher getwicelt, immer 
frierend, in fic) zuſammengezogen, wie cine 
gang alte Frau, immer in der Tobdesangit 
um das Kind, — nun ſchon über drei Sabre. 
Wis ihre Mutter ftarb, war fie nod cinmal 
aufgefladert. Cie wollte aud mit ju dem 
Begribnis geben. Aber auf dem halben 
Wege wurde fie ohnmächtig und mußte beim: 
qebradt twerden, Und feit ber Seit war fie 


Marian. 


gan; rubig geworden, gang teilnahmlos, aud 
gan; gleidgiltig gegen ihren Mann. Nur 
bas Rind, das Tag und Nacht faſt Wartung 
beburfte, bielt fie nod am Leben feft. Und 
am UWlerfeelentag, wenn in der frühen nebelig- 
falten Dammerung des Rovembertages die 
Lichter auf den Grabern angezündet wurden, — 
dann iar fie draußen. In ibre Tücher ein- 
gewidelt ſaß fie an den fleinen Gräbern, auf 
denen die Lichtflämmchen unrubig zuckten, 
wie irrende Seelchen. Cie ſaß bis in den 
fpaten Ubend binein, bis ihr Mann fam und 
fie mit halber Getwalt twegfiibrte. Uber fie 
betete nicht, wie fie aud) nicht mebr jur Kirde 
ging und nicht zur Beidte. 

Der alte Miller hatte feine Frau redt- 
ſchaffen betrauert, wie es fic ſchickte und 
pafte. Cr batte ihr fieben Ceelendmter lefen 
lajjen und jededmal beim Opfergang einen 
blanfen Taler auf den Teller gelegt. Cr trug 
alle Sonntage jur Rirde den ſchwarzen Rod 
und den Flor um den Zylinderhut, der ſchon 
fein Brauthut gewefen war. Dann hatte er 
mit der Lena abgeteilt und ihr ihr ganzes 
Mutterteil herausgegeben, obgleid) er das 
nidt nötig gebabt hatte, da feine Frau ibm 
bie Halfte zur Nutznießung vermadt batte. 
Uber ber Müller hatte den Grundfak: Leben 
und [eben laſſen! Und vielleicht machte es 
doch der Lena noch Spaß, daß ſie nun das 
Geld hatte. „Meine Tochter und ihr Mann 
ſollen mich um keinen Groſchen ſcheel an— 
ſehen“ hatte er zum alten Schlömer geſagt. 
Dem war's recht geweſen, er hatte nicht viel 
Freude an der Heirat gehabt, die er doch mit 
allen Kräften erzwungen hatte. Es war nicht 
ſo gegangen, wie es hatte gehen ſollen. Statt 
eines halben Dutzend geſunder Rangen, die 
dem Chriſtian gleichen ſollten, die vier fleinen 
Grabhügel und das elende Würmchen, die 
Lena immer elend, — der Chriſtian finſter 
und wortkarg, — nein, viel Segen war nicht 
dabei. So war's wenigſtens gut, daß die 
Lena das Geld befam, denn wer weiß, fie 


fonnte ibm nod) den Tort antun, ju ſterben 


mit famt dem Kinde und dann bebielt der 
Miller fein Gelb und dem, — dem traute 
der fdlaue alte Fudd noch alle Dummbeiten 
yu. Er war ja aud) faum fitnfjig, — und 
cin Kerl wie cin Baum. Der fonnte nod 





659 


jeden Tag Heiratsgedanfen friegen und wer 
weif, wo dann die gefunden Rangen auf: 
wudfen, die ded Chriftian Erbteil ſchmälern 
follten. Und als das alles geordnet tvar, da 
war's, al8 babe ber Ute nun eingefeben, daß 
er nidit mebr nötig fei auf der Welt. Cines 
Tages madte er fid) fort daraus, — ganj 
ſchnell und ftill, Der alte Hühnerhannes, der 
am Morgen binging, um ein Hubn ju bolen, 
das er ihm verfauft batte, fand ibn falt und 
ftarr in feinent Bett. 

, Die gelebt, — fo geftorben” erjablte er 
im Dorf. „Das Hubn, das er mir verfaujt 
hatte, das batte er ſchon am Abend vorbher 
nidt gefiittert, bad arme Vieh, das war halb 
verbungert. Und den Doftor hat er um’s 
Seinige betrogen, hat's eingeridt’t, daß er 
nicht mal ein einjigesmal gerujen gu werden 
braucht. Coll mid wundern, ob er unferm 
Herrgott nicht aud) fo einen geizigen Streich 
fpielt, wenn er in’n Himmel fommt. 's Totene 
bemb, twas er fid) bat maden lafjen bei Leb— 
gciten, ijt eine Hand lang gu fury getwefen, 
fagt die Totenbanne. Da wird unfer Herr: 
gott eine Freud’ haben, wenn der Schlömer 
mit bem Hemd fommt, das ibm nur bis an 
bie Waden reicht!” 

Es flojjen nist viel Tranen bei der Be- 
erdigung ded alten Filzes. Und feltfiam! Ws 
ber Sarg ing Grab gejenft werden follte, da 
hatte ber Tolengräber die Grube gu fury ge— 
macht, — er ging nicht binein. Unter der 
Trauerverjammlung entitand cine arge Auf— 
requng. Mit Schaufeln und Haden mußten 
bie Leute ſchnell nod nadbelfen, um den nötigen 
Raum ju ſchaffen, wabrend der Pajftor {chon 
ben Weihwedel gum letzten Segen eingetaudt 
hatte und warten mupte. 

„Kuck, fud!" meinte der Hiibnerbannes, als 
fie fid) nad dem Begribnis im Wirtshaus 
ftarften. ,,Sein Leben lang bat der Schlimer 
gegeigt und gefiljt und ſich nichts gegönnt! 
Sein Leben lang hat er in einem ju furjzen 
Beit gefdlaien, — Leut’, sift mir ordentlich 
graulich getvefen, wie id ibn lest’ gefunden 
hab’ — die Füß gang jteif tiber die Bettfant . 
nausgeftredt, — fein Totenbemd hat er ſich 
ju kurz maden laſſen, — und nu ijt gar aud 
fein Grab ju fury gewefen, — grad’ als ob 
unfer Herrgott wollt’ fagen, — folljt fiir dein’ 


42* 


660 


Geiz geftraft twerden, follft in meiner Crd’ 
nidt genug Pla finden! — Wann’s bloß 
oben im Himmel Plas gibt fiir den Geij- 
fragen.” — Das war ded alten Schlömers 
Leichenrede. 

Gs hieß, ber Chriftian habe unmenfdlid 
viel Geld in lauter barten Talern gefunden 
und yu unterft in dem fiebenmal verjdlofjenen 
Schrank einen Kaſten mit lauter blanfen Gold: 
ſtücken. 

Nicht lange danach hatte der Müller dann 
den Flor von ſeinem Hute abgetrennt und 
angefangen, wieder lebensluſtig und munter 
zu werden. Das Jahrgedächtnis der Müllerin 
war noch gebührend feierlich und mit an— 


ſtändiger Trauer begangen worden, wenn auch 


der Müller bei der Ausſegnung der Tumba 
nur den Hut vor die Augen gehalten hatte 
und ſie nicht mit dem Taſchentuch abzuwiſchen 


brauchte, — Gott, man konnt's ibm nidt fo | 
übel nehmen, daß er der ewig franfen Frau | 
Die Lena hatte | 


nidt fo arg nadtrauerte. 
aud wie eine lebendige Leich' im Rirdenftubl 
gefniet, — lange machte die's aud) nicht mebr, 
Und als die Leut’ aus bem Traucramt beim- 
gingen, da batten die Weiber gemeint, es 
wiirde bald zwei Witwer in der Familie geben, 
wenn nidt der Miller nun bald die zweite 
nebmen würde. 

Tiber den war's dann mit einemmal wie 
ein Fieber gefomimen,- wie eine Hererei. 


Spitzen ju dreben, fein Haar zu pomadifieren, 
am bellen Werftaq im beften neuen Anzug 
berum ju geben. Die alte Bauerin, die ihm 
die Wirtſchaft führte, fah es mit hellem Ent- 
ſetzen. Unb als fie erft herausgefpiirt hatte, 
wem gulicbe all dad gefdab, da ſchlug fie 
hundertmal bie Hande iiber dem Kopf jue 
fammen und fonnte fid) gar nidt fajjen. Sie 
verfudte einen Tag lang, die Sache fiir fid 
gu bebalten. Cie lief gur Nachbarin. Und 
als fie der ergablte, twas fie ausfpioniert hatte, 
ba ſchlug die aud) die Hände zuſammen und 
wunderte fic) ebenfo, und die beiden ſchimpften 
einträchtig zuſammen über die Dummbeit des 
Mannsvolfes. 

„Und wenn's an die Wlten fommt, dann 
if'$ nu gar! Dann find fie blind und taub 
und wie vom Teufel beſeſſen. — Dann ift 


> “Ri 
4 
“ 


Gr 
begann feinen Schnauzbart flott in zwei lange | 


Mariann. 


ibnen alled egal! Ob fie ihrer Familie eine 
Shand’ antun und ibr das Geld vertragen, — 
und was mal fpater aus fo einer verriidten 
Sad’ werden foll, bas ſcheert fie all nicht. 
Sie fegen ihren Kopf durch, wenn's aud durch 
zwei Wande geht. Und fo wird’s der Miller 
aud) maden, und bie Lena ijt bann um ibre 
Sad’ !" 

„Man tat fid einen Gotteslobn verdienen, 
wenn man’s der Lena fteden tat!” 

„Oder dem Chriſtian!“ 

„Nee, dem Chriſtian nicht, der iſt ein 
Stolzer, der wär' imſtand und würfe einen 
zum Tempel hinaus. Aber der Lena! Die 
geht's ja auch zuerſt an.“ 

„Wer hätt' das gedacht! Der Müller in 
ſeinen Jahren! Ja, wenn er ſich cine geſetzte 
Witwe ausgeſucht oder des Schlöſſers Marie 
genommen hätte, die paßt in den Jahren zu 
ihm, — und eine, der man nichts nachſagen 
kann. — Aber grad' die, die! 

„Hihihihi!“ Die Nachbarin lachte 
ſchmitzt. 

Nu, der will aud) mal twas fürs Her; 
| haben! Lang genug hat er ja aud) die kranke 

Frau gebabt. Und alles was Recht ift! Die 
| Mariann ijt 'ne ſtaatſche Perfon! Das muß 
_ ibr der Reid laſſen. — Cind die zwei denn 
| einig miteinander 2” 

„Einig?“ Die alte Wirtfdafterin war 
ganz; emport, „Wie follen fie benn nicht 
einig fein. Die Mariann war ja dreidoppelt 
berriidt, wenn fie ibn nicht mit Handen und 
Füßen fefthielte. Rriegt den reicften Mann 
und einen chrliden Ramen, und dad Rind 
friegt einen Vater!” 

„Na, wer weiß! Weißt du nod, wie 
die Mariann fic damals angeftellt bat? Was 
die will und tut, weiß feiner!” 

„Aber er figt dod) alle Taq im Laden. 
Cine gefdlagene Stunde lang, geftern. Die 
wird ihn ſchon fefthalten!” , 

„Eine Scand’ ift’s, eine wahre Scand’! 
Sind genug im Dorf, die ihr gang Leben 
ebrbar und brav gewejen find, und nun 
judt er fid) die aus! So find bie Manns- 
bilder!“ 

Wie ein Lauffeuer ging die Neuigfeit im 
| Dorf herum. Die Manner ladten, die Weiber 
ſchimpften. Die Manner fanden’s gar nidt 





ver⸗ 





we? 
wh * 


Mariann. 


fo dumm von dem Miller. Gelb genug hatte 
er, wenn er nun aud nod fein Plaiſier an 
einer ſchönen Frau haben wollte, wer fonnte 
ihm's denn verivebren. Es hatte ihm feiner 
toads drein gu reden. Wenn er felber fid 
nidts daraus madte, daß der Junge da war, 
dann fonnte es den anderen ja aud) egal fein. 
Das war feine Sache. Und je mehr dic 
Weiber ſchimpften, defto mehr lachten die 
Manner, fauten an ihren Pfeifen und ſtießen 
fide) ſchmunzelnd an: Gin Hauptferl, der 
Miller! 

Die Ladenfdelle an Marianns Tiir fam 
in den letzten Tagen gar nidt aus dem 
Bimmeln heraus. Und jebde, die fam und fiir 
cin paar Pfennige etwas faufte, ftarrte die 
Mariann an wie ein Wundertier. Und jede 
hatte fo eine fonderbare Urt, allerband wunder: 
liche Fragen gu tun, bap es der Mariann 
ordentlich unbeimlich tourde. Aber, wenn fie 


bann felber fragte, was [og fei, gab es feine | 


Antwort. 

Dann ließ das nach, und der kleine Laden 
blieb ſehr lerr. Die Weiber waren überein— 
gcfommen, daß die Mariann eine ausgemachte 
Unverſchämte ſei. Daß ſie nur darauf ge— 
wartet habe, bis die Müllerin unter der Erde 
läge, um dann den Müller zu heiraten. Und 
wer weiß, was da noch alles heimlich ge— 
ſchehen iſt. Wer weiß, ob die Mariann es 
nicht ſchon vorher mit dem Müller gehalten 
hat, wer weiß, — ja, wer kann wiſſen, was 
geweſen iſt. 


661 


| wenn der Wind durchs Kornfeld geht. Und 
bie Nachbarin im Kirchſtuhl riidte von der 
' Mariann ab, wie von einer, die ein ſchweres 
| Berbreden begangen bat. Und gang verftirt 
| ging die Mariann nad der Kirche heim, 
allein, — cine Gemiedene. 
Nicht, dah fie fic gar zu viel daraus 


machte. Cie wußte aus Erfabrung, daß Dorf: 





Erft war bas alles wie ein beimliches | 


Fliiftern von DMtund gu Mund. Aber es 
wurde ſchnell lauter. 
Tagen wußte es das ganze Dorf: Der Müller 
heiratet die Mariann, weil die Mariann ihn 
am Faden hält und auf ihr Recht pocht, jetzt, 
wo er Witwer iſt. 

Die Mariann wurde gemieden wie eine 
Ausfagige, 
jieben, weil es ihr Unglück war, aber ald die 


Und nad ein paar 


Wiles frithere hatte man ihr ver: | 





Bauern glaubten, nun fee fie fid) ins Glid, | 


in ben Reichtum hinein, ba wurde alles Ver— 
gangene aufgetodrmt und twar wie eben Ge— 
ſchehenes. Und alé die Mariann am nadften 
Conntag zur Kirche ging, da neigten ſich die 
Köpfe der Weiber dicht zuſammen, und cin 
Flüſtern und Tufdeln ging bhindurd, wie 


geſchwätz cin paar Tage bauerte und dann 
wieder vergefjen wird. Wber fie hatte gu viel 
durchgemacht, gu viel gegriibelt in den acht 
Sabren, feit bas Kind ba war. Befonders in 
der letzten Beit, feit fie nicht mebr auf Tage— 
arbeit ging. Wenn fie ftundenlang mit Strid: 
firumpf ober Nähzeug hinter dem fleinen 
Fenſter fap, dann gingen und famen die Ge— 
banfen gar kraus und bunt durdeinander. 
Langfam war aller Hak in ibr ausgelifdt. 
Mit jedem Sarge, der in der Grabjtatte der 
Müllersleute eingeſenkt wurde, hatte fle ein 
Stiid davon begraben und jedesmal cin 
griferes. Cin anderes Gefiibl war geboren 
und groß geworden. Mitleid mit dem Mann, 
ber fie um ibr Lebensglück betrogen hatte und 
felber fo ungliidlid) war, Mitleid mit der 
Frau, bie fo viel ärmer und elender war, als 
fie felber. Sie mit ihrem feften Sinn und 
ftarfen Mut. Und dann hatte fie aud den 
Sungen, ihren Augapfel und Herzenstroſt. 
Das Herz ging ibr auf, wenn fie ibn anſah, 
obgleich ibr im Laufe der Beit mandmal 
bang der Gedanfe aujftieg, was werden würde, 
wenn der Junge groß wurde und eines ſchönen 
Tages vor fie hintrate und ju fragen begänne. 
Aber das war ja nod lange bin! Warum fic 
jest damit quilen. Freuen wollte fie fid an 
ibm, fo [ange es noc Beit jum Freuen war. 
Sa, und die war jest. — Das war ein 
Sunge! Wie ein Pring! Um Halbfopfgrdfe 
fab er fiber die anderen tweg, wenn er am 
Sonntag auf den Kinderbanken fniete. Ceine 
didten ſchwarzen Haare waren lodig, die 
grauen Augen umfaumt von langen fdwargen 
Wimpern, — die Baden fo rot, als ob bas 
gefunde Blut daraus bervorfpriten wollte vor 
Ubermut. Seder Vater hatte müſſen unbändig 
ſtolz fein auf einen ſolchen Jungen. Wie er 
ſich boc ftredte und redte, wenn er durd) die 
Kirche ging, wie er den Kopf in den Naden 
warf und frei und ftol; umberfab. Cte hatte 


662 


immer der BVerjuchung widerftanden, ihn wie | 


ein Stadttind anzuziehen, obgleich die Geſchäfts— 
reifenden oft genug allerband Berlodendes 
vor ibr ausbreiteten. Er follte nur ein Bauern: 
junge fein, twie die andern. Aber fein Kittel 


war vom teuerften und beften Stoff, den ed | 


gab, fein Hembe am iweifeften, und das Hals- 
tud am ſchmuckſten gebunden. Und feine 
Schuhe glangten und fpiegelten, und er ging 
darin mit ſchnellen feſten Sdiritten, genau fo 
wie — — ja wie — — Ihre Hinde fielen 


mit bem Stridjeug in ben Schoß, und ihre | 


Gedanfen gingen weit zurück. Und ibre Mugen 


füllten fic) mit Trinen, ihr Herz flopite ftark, 


und cin wunderliches Gefühl ftieg in ibr auf, 
fiir bas fie einen Namen toute. 

Sie hatte fo lange geſeſſen, nun {drat fie 
zuſammen. Der Junge fam mit eiligen Sagen 


die Gajje binunter, bas Haar fiel ihm in die Stirn, | 


in feinen Mugen gligerte es erwartungsvoll. 
„Mutter,“ feudte er, ,, Mutter” — 
„Junge, bift du gerannt” — 
„Ja, Mutter, aber — fag’ Mutter, ift das 
wahr? Iſt das gewiß wahr?“ 
„Was denn?“ 
„Sie ſagen, du heirateſt den Müller! 
Den alten Müller! Der Toni von der Brücke 


ſagt es und ſagt, der wär' dann mein Vater. 


Und der tät mich dann hauen. Und du wärſt 
ſeine Frau. Und der wär' immer mein Vater 
geweſen. Du hätteſt es bloß nicht geſagt, 
weil der eine andere Frau gehabt hatte. — 


Cag’ Mutter, — wär denn da die andere | 
Ich will feine | 
andere Mutter! Ich nehm' eine Rute und jag’. 
Sie fol nicht fommen, der Miller | 


Frau meine Mutter geweſen? 


fie fort! 
aud nidt. Ich will feinen Vater. Wenn 
einer mid hauen foll, dann follft du mid 
ganz allein bauen. Und icp twill feine andere 
Mutter, Mie und nie. Ich jag’ fie fort.” 
Mariann hordte erferoden auf das 
kindiſche Geſchwätz. Cie hatte fein Arg ge— 
habt bei den Beſuchen des Müllers, der jetzt 


als Witwer vieles für ſich beſorgen mußte 
Das war ja 


und gern Rat bei ihr holte. 
auch dummes Zeug, was der Junge da redete. 
Kindiſches Geſchwätz. Aber nun fing er 
wieder an: 


„Des Toni Mutter hat geſagt, das war. 


eine Scand’ und dürſte nidjt gelitten werden. 


Mariann. 


Und bes Qafob Vater hat gefagt, ber Müller 
hatte ret und wir cin fdlauer Fuchs 
Mutter, warum ift das cin Fuds und eme 
Sdhand? Und bes Toni Bruver aus per 
erften Bank bat mid geftumpit und ~ gefagt: 
‚Na nu friegft du ja aud endlid einen ehr— 
liden Namen.’ — Was ift das, Mutter, und 
warum hab id’s nidt gebabt bis beut ? — 
Sh will nidts vom Miller, er faßt mic 
immer fo feft an, und bann gibt er mir einen 
Secupps. Und dann fist er fo lange Da bei 
bir. — Gr foll fortgeben, — er foll nicht 
mein Water fein!” 

Mariann fap jitternd ba. Alſo darum! 
Darum died Getufchel und Geraune, darum 
die Weindfdaft ber Weiber. Qa, fie formnte 
fich bas gut genug denfen, fie fannte die Bartrers. 
Die Frau des reichen Millers zu werden, Das 
ginnte ibr feiner, Wenn fie nur alle gewußt 
batten, wie unnötig fie ſich boften und giftetert. 

Den Miller heiraten! Das wäre freilich 
ein Streich, den fie bem Cbriftian fpielen 
finnte. Seines Schwiegervaters Frau werden! 
Ihm das Vermögen nehmen, wegen deſſen ex 
ſich verfauft hatte! Sodaß nidts fiir ibn 
iibrig blieb, alé die franfe Frau und die vier 
Griber. Das wire freilich cine Strate, wie 
fie fein Teufel bogbafter hatte audsdenfen 
finnen. Einen Augenblick fpielten ibre Ge— 
danfen mit folder Hache. Aber aud nur 
cinen Mugenblid lang. — Mein, fie wollte 





und braudite feine Race! Gott im Himmel! 
hatte gerächt! Und nicht einmal bas wollte 
fie glauben. Es twar eben gefommen, trie es 
fommen mufte. Die Yena war fo ſchwach 
| und fiimmerlich, wie fonnte es da anders 
| fein, Nein, nein! Sie wollte nicht daran 
| denfen, nicht darüber nadfinnen. 

Gin anderes hatte fie mehr erfdredt! Da 
war ja ſchon die erfte Frage des Jungen ge- 
wefen, die fie fo febr fiirdtete. 

, Was ift das Mutter, cin ebrlicder Name, 
und warum ſoll ich den erjt friegen?” — — 
Cie ſeufzte tief und dngftlid auf. Der Junge 
hatte ſich an fie gedrangt und fab fie mit 
unrubigen Augen aufmerffam und forfdend 
an. Sie verbarg ihre Unrube und Angft. 

„Das iſt ja alles dDummes Geſchwätz. Das 
jind dDumme Qungen. Der Müller wird nicht 
| dein Vater,” 





Mariann. 


In feinen Mugen blitzte es auf. „Das iſt 
gut, Mutter! Ich hätt' ihn auch nicht ge— 
wollt. Nie! Ich bau den Qafob, wenn er 
das nod mal fagt. Dd bin viel ftarfer, wie 
der,“ 

Sie feufste. 
einen Unband zu ergieben. 
ablenfen von dieſen Dingen. 

„Komm, wir geben nad der Burg.” 

„Ja, ja,” jubelte er. „Und ich nehm' mein 
Schwert mit und erftedhe die Gefpenjter.” 

Nod immer ging fle mit bem Dungen an 
Sonntagnadmittagen nad der Ruine. Er 
fpielte gar zu gern da oben berum und 
kämpfte mit eingebildeten Rittern und Ge— 
fpenftern. 

In tiefen Gedanfen ging fie den Berg 
binan, während der Junge um fie berum: 
fprang. Oben twar es fill und friedlidh, ein 
Herbfttag, wie jener vor acht Jahren. Wieder 
bingen bie Ranken des twilden Weins rot 
iiber bem Epheu, und wenn fie auf das Dorf 
binabblidte, quoll ber blaue Raud aus den 
Schornſteinen, wie damals. Wher in ihr und 
um fie war es anders getvorden. In ibr 
war Berlangen nad) Frieden. Wenn heute 
der Ghrijtian gefommen tare, fie bitte Frieden 
mit ihm gemadt. Cie hatte ihm verziehen 
und ibm nod etwas Glück fiir fein Leben ge- 


Es war bod fdwer, fold 
Sie wollte ibn 


wünſcht. — Sie glaubte faft, er miiffe 
fommen, — fie fubr gufammen bei jedem 
Geraufd. 


Uber es regte ſich nichts, fein Schritt er- 
flang, feine Geftalt jeigte fich zwiſchen dem 
Brombeergerant. 
von Brombeeren, mit rotem Mund. Und dann 
driingte er jum Heimgeben. 


G3 dammerte, als fie den Berg binab | 
berbe Oftoberluft war voll | 


gingen. Die 


Mur der Qunge fam, fatt ; 





Friſche, ein ftarfer Erdgeruch ftieg von den | 


gepfliigten Feldern auf. Drunten auf der 


Straße gingen die Madden und Burfden in 


langen Reihen ſpazieren. — Sie fangen, — 


flay und deutlich famen die Tone in die Hobe, | 


die Worte des alten Volfslicdes: 


pote gingen in dem roten Walb — — 

Und fommt ber falte Winter bald, 

Da muh ich von dir ſcheiden, — ja ſcheiden, 

Denn cine andere, vie mag ich leiden, — 
viel lieber leiden.“ 





663 


Gine frijtige, jauchzende Burſchenſtimme 
fang es nod einmal allein nad: 


„Denn cine and're, die mag ich feiden, — 
viel fieber leiden.“ 


Mariann nidte leiſe mit bem Ropfe den 
Taft. Da unten fangen fie ihr Leid, — ihr's 
und das fo mander bon denen felber, die 
jest fo fröhlich ſangen. 

Aber jest hob eine ſtarke, Helle Mädchen— 
jtimme an: „Und magſt bu eine and're leiden, 
ja viel lieber Leiden 


„So wollen wir zwei febeiden, ja ſcheiden. 
Und es gibt ja viel fpitige Meffer blank, 
Ind es gibt ja viel tief, tiefe Wafer falt, 
Wenn id von div muß ſcheiden, — ja fir 
immer ſcheiden.“ 


Ein Dutzend Stimmen fielen ein, es klang 
wehmütig und bod ſüß: 


„Und es gibt ja viel tief, tiefe Waſſer lalt, 
Wenn ich von dir muß ſcheiden, 
Ja für immer, für immer ſcheiden.“ 


Mariann ſchauderte. Wn das tief, tiefe 
Waſſer hatte ſie auch damals gedacht, eine 
Zeitlang. 

Die Singenden hatten einen Augenblick 
geſchwiegen. Aber jetzt fingen ſie wieder an: 


„Es iſt ſich fein ſchön'res Leben, 
Als wenn fic) der Sommer annabt, 
Da blühen die Rofen im Garten, 
Solbvaten, bie ziehen ins Feld. 


Und alS er nun wieder nad Haufe fam, 
Feinsliebchen ftand binter der Tür, 
Gott grüß dich, du Liebe, du Heine, 

Du Herzallerliebſte, du meine, 

Bon Herzen gefalleft du mir. 


Was brauch' ich denn dir gu gefallen, 
Sc) hab’ einen anderen Shag, 

Ich bab’ cin lieberes Leben, 

Ich weiß einen beſſeren Platz 


Was zog er aus ſeinen Taſchen? 

Ein Meſſer, war blank und war ſpitz, 

Er ſtach es ihr in das Herze, 

Das Blut wohl über ſie ſpritzt.“ — — — 


Dann hob der Sänger von vorher 
wieder an: 


„So gebt’s, wenn zwei Knaben 

Ein Mädchen lieb haben, 

Das tut ſich ja ſelten ein gut — 

Wir beide, wir haben erfahren, — erfahren, 
Was untreue Liebe tut!" 


Jawohl! Mariann wußte das aud. Nur, daß 
fie die Berlafjene war, — fie hatte aud Seiten 
gebabt, two fie ein Meſſer hatte nehmen finnen 
und es bem Ungetreuen „wohl in das Herze“ 
ftofen, daß „das Blut wohl iiber ihn ſpritzt“. 

Aber bas war vorbei. Lange vorbei. Cie 
febte fic) pliglic auf einen Stein am Weg: 
rand und brad in ſchluchzendes Weinen aus. 
Warum? Sie wufte ed felbft nicht recht. 
War e8 bie Herbftlujt, die Erinnerung, der 
Gefang? — — — 

Der Junge ftand unrubig daneben und 
verfudte ibr bie Hande vom Geficht gu nebmen. 

„Mutter! Gat dir einer twas getan, 
Mutter!? Tut dir was web? Mutter, twein’ 
nidt fo, Mutter!“ — — — 

Das bradte fie wieder gu fid. Sie 
trodnete bie Tränen und ging ben Berg 
binab, Um Rirdhof ftand bas Tor offen. 
Cie ging binein. 

€3 war bald Allerjeelen, ba mußte man 
aud an das Sdmiiden der Graber denfen. 
Cine Weile ſaß fie an den Gräbern ibrer 
Gltern. Wie hatte fie ihrer Mutter nach— 
getrauert! Und doch, wie gut war's, daß die 


alte fromme Frau das nicht mehr erlebt 
hatte, — bas — — — 
Die Bitterfeit, die wor der weichen 


Stimmung des Nachmittags gewiden war, 
wollte mit ganzer Macht wiederfommen., 

Sie ging zwiſchen den verwahrloften Hiigel- 
reiben hindurch. Langes, verdorrtes Gras 
rajdelte leiſe im Abendwind, die  diirren 
Blumen bes Thymian ftanden braun da: 
zwiſchen. Da hinter bem fleinen Tannen: 


gebiifd waren bie Graber ber Miillersfamilie. | 


Mariann fehrte um. Cie micd den Plas, 
foviel fie fonnte. Aber ein fonderbarer Ton 
lief fie ſtill ſtehen. Halb cin Stöhnen, balb 
ein Schluchzen. — — Das war bie Lena, 
bie da gwifden den Gräbern {niete. 

Sie tat einen Schritt nach der Stelle, 
aber fie zog den Fup wieder zurück. Was 
follte fie ba? Die Lena trijten? Cie ware 
dod) wobl die [este dazu! 





| poll das Händchen. 


Mariann. 


Aber ba hörte fie cin Kinderwetmen. Hex 
Gott, die Lena hatte das Heine Mädchen mit, 
das franflide, ſchwächliche Dingelchen. Und 
es wurde fdon kühl, ber herbſtliche Abend— 
wind machte ſich auf. Sie ſtand ſtill und 
horchte. 

Nun war wieder alles ſtill. Sie würde ja 
heimgehen mit bem Kinde. Wariann gina 
langfam weg, jur Kirchhoftstür hinaus, cin 
Stiidden die Straße entlang. 

Dann blieb fie ftehen und fdaute zurück. 
eine ganje Seitlang. Wber bie Lena fam 
nicht. Und es war ifr, alé hörte fte Das 
ängſtliche Schreien eines Kindes. 

Sie lief den Weg zurück, der Junge 
binter ihr. Ja, bad Rind fdrie jammervoll. 
Und da, givifden ben Grabern lag die Lena 
sujammengefauert, blab, ohnmächtig — Das 
Kleine ſaß hilflos im verborrten Gras, mit 
verfdiwollenen Augen, heifer geiweint. 

Sm nächſten Augenbli€ hatte Marian 
bie Lena im Arm. Herr Gott, wie dünn fie 
war, wie federleicht. Wie fein und gelbblaß 
das Geſicht, wie fpigig die Nafe, wie dDunfel 
die Schatten unter ben Mugen. Cie war 
nidt ganz betwuftlos, fie öffnete die Augen 
cin wenig. 

Was follte Mariann tun? — Bis der 
Sunge in das Dorf gelaufen war und Hilfe 
geholt hatte, das dauerte gu lange. Und die 
Bauern wuften ja nidt einmal, twas not 
tat. Cie lief gum Brunnen und taudte ibs 
Tud ing Waffer. Mls fie der Lena die 
Schläfe damit rieb, fam fie ein wenig au fic. 
Am beften war's ſchon, fie trug bie Lena 
einfad) ing Dorf, in ihr Haus. Das war ja 
das nächſte, die Mühle viel gu weit. Der 
Sunge fonnte das kleine Madden fiibren, ex 
war ja groß und verſtändig. 

Sie nahm einfach die Lena auf den Arm, 
wie ein Kind. Die ließ ſich ruhig heben, ſie 
wußte wohl nicht, was mit ihr vorging. 

Das Meine gab bem Jungen vertrauens- 
Es weinte nicht mebr, 
fondern fab mit fonderbar altflugen Augen 
ben Gefcbebniffen gu. 

Eo fdnell fie fonnte, ftrebte Mariann 


nad Haufe. RNiemand begegnete ihr. Die 
Leute waren alle beim jum Abendbrot. 


So leicht die Lena aud) war, es wurde bod 


Mariann. 


eine ſchwere Laſt, bis ſie an der Haustür 
angelangt war. 

Sie atmete tief, als ſie glücklich drinnen 
war. 

Gut, daß niemand ſie geſehen hatte, ſonſt 
ware gleich dad halbe Dorf aufrühreriſch 
geworden. Die Lena würde ſich erholen und 
heimgehen, und dann wußte niemand davon 
und es gab kein endloſes Geſchwätz. Sie 
legte die leichte Laſt auf ihr Bett und lief 
in den Laden. Da hatte ſie Meliſſengeiſt 
fürs Schwachwerden. Sie rieb der Lena 
die Schläfe damit, daß ſie wieder zu ſich 
kam. Sie öffnete ihr die Kleider und 
deckte ſie warm zu. — Herr Gott, die war 
ja gang kalt und verklammt. Und bas 
Rleine, das war ficherlid) gang durchfroren. 
Sie lief ſchnell in die Ride, wo in ber Afde 
nod) Glut war und ftedte Reiſer binein. 
Das fladerte bell auf, und im Nu war etwas 
Mild warm. 

Sie fab nad der Lena. Die Augen hatte 
fie geſchloſſen, aber fie atmete wieder fraftiger. 
Nun mußte fie fiir das Rind forgen. Gie 
widelte e& in ein warmes Tuch, gab ihm die 
heiße Mild, redete ibm gut ju. Lieber Gott, 
was fiir ein armfeliges Rind! Gin Geſichtchen 
wie ein altes Mannden, zwergenhaft, grau 
und flein. Diinne graublonde Harden flebten 
feudt um bas Köpfchen. Und fold über— 
grofe blajje Mugen, ju blaß, fo als ob alle 
Farbe, alles Leben aus ibnen geiwiden wire. 

Sie reichte ihm die Mild, wabrend fie 
vor ihm am Boden fniete und der Junge mit 
großen erftaunten Mugen zuſah. Es tranf 
begicrig, und fagte zufrieden: 

„Warm.“ 

Sie rieb ſeine falten dünnen Händchen. 
„Ja, Herzchen. Tante macht Feuer im Ofen, 
und dann wirſt du ganz warm.“ 

Gin ſchwacher Ton vom Bette her ſchreckte 
fie auf. 

Die Lena hatte fid) im Bett aufgerichtet. 
Mit weit aufgeriffenen Augen, in denen ein 
unendlider Schreden, eine graufige Angſt war, 
fab fie auf Mariann! Und mit weißen 
jitternden Lippen ftammelte fie! „Jeſus 
Maria! Wo — was ijt das?’ — 

Die Mariann war fdon bei ihr. Cie 
driidte fie fanft in die Kiſſen nieder. 


665 


„Da leg’ dich wieder, Lena. S'ift alles 
gut. Dui bijt auf dem Kirchhof ſchwach 
getworden und da bab’ id did mit beim 
gebolt. Es war gut, bak id grad’ vorbei 
fam. Dem Rind iſt nichts palfiert, es ift 
nur ein bifden verfroren.” 

Die Lena richtete fich mit fajt übermenſch— 
lider Anftrengung im Bett auf. Auf ibre 
Baden famen rote Flede, ibre Hände flogen. 
Sie ftredte fie nad dem Kinde aus. 

„Das Rind,” ftammelie fie. „Gib mir 
bas Kind! Tu dem Rinde nichts!” 

Mariann fab fie erfdiroden an. 
ſprach wohl irre, im Hieber. 

„Du, — was willft du mit bem Rind?” 
wiederholte bie Lena. 

Das Mitleid fam fiber Mariann. Cie 
nabm das Rind auf ben Arm und trug es 
an das Bett. 

„Da ifs ja! Es ift ibm ja gar nidts 
paffiert, nur ein bißchen falt iſt es. Armes 
Schäfchen du. Wilft noh was Mild? 
Warme gute Mild mit Zuder drin.” 

Der Junge fam ſchon mit der Milchtaſſe. 
„Da trinf,” fagte er tapfig, gutherzig. — 

Die Blide der Lena gingen von dem 
fleinen Madden auf den Jungen. Sie zuckte 
jujammen. Dann fabh fie argwöhniſch auf 
Mariann, 

„Es wird dir gleich wieder gut werden, 
dann fannjt du beimgeben,” fagte die. ,, Dap 
dein — — deine Leute fidd nicht angftigen.” 

Lena fab unrubig umber. Das Blut jtieg 
ibr jest heiß gu Ropfe. Cie fab argwibnifd 
auf bie Mariann. Was, hatte die fie bierber- 

geidleppt in ihr Haug? — Wollte fie ibr 

/ was antun? Wd, die Lena wußte wohl, 
bag die Mariann fie haſſen mußte. — Und 
bas Rind mupte fie aud baffen — dad 
Rind, das ihrem Qungen den Vater weg: 
genommen atte. 

Ängſtlich befühlte fie das Reine. Aber 
e3 war gan; munter. Herrgott, was hatte 
| geideben fonnen, wenn die Mariann fie nidt 
gefunden hatte. Auf dem einfamen Kirchhofs— 

weg ging jo fpat am Abend fein Menſch, fie 
hätte vielleidjt ftundenlang daliegen können. 


Cie 











Und bis in ihr Haus hatte fie fie getragen. 


Ihre argfte Feindin! — — Jn dem Herzen 
der Frau regte es fic feltfam. Sie [ag da 


666 


auf bem Bette bes Mädchens, dem fie fo viel 
Urged getan. Und das ihr wieder Arges 
getan hatte. — Denn dak die Mariann an 
ibrem Leid ſchuld war, bas ftand fiir fie feft. 
Die Mariann hatte ihr gefludt und Bofes 
gewünſcht, fiderlidh. Sie atte ihr den | 
Chriftian weggenommen, — ja, den Cbriftian. 
Sie war tol in den Chriftian verliebt gewefen, 
die Lena! Sie hatte ibm nadfpioniert auf 
Weg und Steg, wo er ging und ftand. Und 
oft unb oft genug hatte fie bie Zwei belauſcht 
mit einem Herjen voll giftiger Ciferfudt, voll 
Wut und Groll, Was niemand wußte, fie, 
bie Lena, wußte es nur gu genau. Aber fie 
wollte den Chriſtian dod. Cie haßte ibn 
darum, aber fie ließ night von ifm. Cie 
wollte ibn der Mariann wegnehmen, wollte 
ibn fiir fid baben. Und fo bobrte und 
ftocberte fie an ihrem Vater, daß ber des 
Chrijtians Vater aufhetzte. Der Chriftian, acd, 
ber mußte ja feinem Vater folgen, was wollte 
er denn machen. Und fie triumpbierte, als 
es nad ibrem Willen ging. Und als dann | 
bie Strafe fam, — ja, es war die Ctrafe, 
bas fiiblte die Lena dDumpf in fid, da haßte 
fie bie Mariann nod mehr, und fie twufte, 
bak die fie aud haſſen mufte. 

Und gerade heut, da war ibr wieder der 
ganze Grol gefommen. Wm Nadmittag war 
die Wirtſchafterin ihres Vaters mit der grofen 
Neuigteit angefommen, mit der Heirat des 
Vaters. Das war ibr getwefen wie ein 
Schlag ing Geficdt. Wie, — die Mariann 
follte ibres Vaters Frau werden, bas Rind 
pielleidt gar ibres Baters Namen befommen?! 
Mein, bas würde fie nicht gugeben, niemals. 
Das hatte fie noc am Nadhmittag gedacht, 
und als fie auf bem Kirchhof zwiſchen den 
Griibern fniete, da war das Gefühl nod | 
ſtärker geworden. 

Und nun mußte fie der Mariann danfbar | 
fein, fie batte fie und ibr Kind vielleicht vor 
bem Schlimmſten bewahrt. Und wie fie fic um 
bad Rind forgte! Es fing an, weinerlich gu 
werden, es hatte wobl Schlaf. Cie nabm es 
auf den Schoß, fie wiegte es ſanft, die Schuhe 
und Strümpfe hatte fie ibm ausgezogen und 
rieb unermiidlid die Füßchen. Mitleidig fab 
fie es an, Lena fab e3 wohl. Ya, es war 
ein armfeliges Dingelden, cin Geſchöpfchen 








— 


WMenſchenherz. 


Mariann. 


gum Umblaſen. Weld ein Prachtlerl war 
der Junge dagegen. Ach, ſie ſah ihn ja oft 
genug, den Jungen. Mit Neid und ver— 
zehrendem Kummer. Ihre eigenen Kinder 
ſtarben und ſiechten hin, und der Mariann 
Rind war geſund und prächtig. 

Sie verſank in unruhiges Grübeln, während 
fie mit geſchloſſenen Augen auf bem Bette Lag. 

Vielleiht war es beffer, ja ſicherlich war 
es befjer, twenn die Mariann ibren Water 
heiratete. Dann wurde ein Teil Unredis 
gut gemadt, bas Rind befam einen ebrlicden 
Namen, und die Mariann würde eine reicde 
Frau, Vielleicht, vielleicht ſah ber Herrgott 
dann ihr Unrecht milder an, vielleicht kaufte 
ſie ſich damit die Geſundheit des Kindes und 
den Frieden im Hauſe. Und die Mariann 
müßte ihr noch dankbar ſein, wenn ſie ihr 
die Wege ebnete. 

Mit einem plötzlichen Entſchluß richtete ſie 
ſich auf. Sie wollte der Mariann gleich 
ſagen, daß ſie nichts gegen die Heirat habe. 
Damit trug ſie dann auch gleich überreichlich 
ihren Dank ab für das, was Mariann heute 
an ihr getan hatte. 


Mariann hielt noch immer das Kind. Es 


| war eingeſchlafen, aber es ſchlummerte unrubig, 


bie dünnen Handden judten, bie mageren 
Fingerchen griffen im Schlaf, die Mugenlider 
waren fo fdwer und gelblich über Den Wug- 
apfeln, wie von Wachs. 

Chriftians Rind! Der Lena Kind! 

Ad, es ift ein, feltjam Ding um das 
Mariann fiblte in dem ibrigen 
feinen Groll mebr, feinen Hap, nur Mitleid, 
tiefes Mitleid mit den beiden. Mit dem 
Chrijtian, der feine Schwachheit und Un— 
männlichkeit mit einem freudlofen Leben büßen 
mupte und mit ber Frau, die fic felbft und 
ibren Mann ungliidlid machte. Und zwiſchen 
den beiden bas arme Kind, bas die Sünde 
ber Eltern ſühnte. 

Da fing die Lena an gu reden. Überſtürzt, 
eilig mit rauber Ctimme. Erſtaunt hörte 
Mariann ben fraufen Worten gu: 

„Ich hab's nicht leiden wollen, Mariann, 
id bab’ mid ftemmen twollen dagegen aud 
Leibestraften. Wber du folljt fehen, dak id 
nicht undanfbar bin. Ich will nichts dagegen 
jagen, fein Wort. Wenn mein Vater meint, 








Marian. 


e3 war’ fein Gliid auf feine alten Tage, id 
will’s ibm ginnen. Gine andere würd' fid 
webren, aber du follft feben, dak ich nicht fo 
bin. Ich gönne dir’, dak du feine Frau wirſt 
und bab der Junge einen Namen friegt.” 

Mariann ricdtete fic) auf. We Weich— 
heit war wie weggetvifdt aus ihrem Gefidt. 
, Was foll das heifen, Lena?” 

Die fah ungewif auf Mariann. — „Das 
mußt du ja felbft am beften wiſſen. Das 
ganze Dorf erzählt's ja, dab mein Vater bid 
beiraten will, Und id follt’ meinen, es finn’ 
bir nicht einerlei fein, ob das mir rect ift 
oder nicht. Ich follt’ meinen, du könnteſt es 
mir hod anrednen, daß ich nichts dagegen 
ſagen will.“ 


Mariann ſetzte ſanft das Kind auf den 


Boden. Mit zitternden Fingern ſtrich fie über 
ſein Geſichtchen. Sie mußte fic) zuſammen— 
nehmen. 

„Dein Vater will mich heiraten? Ich 
weiß nichts davon, aber möglich iſt's ja wohl 
ſchon. — Und du willſt nichts dagegen ſagen —, 
das fommt dir wohl bart an, Lena! Ich, 
die Frau von deinem Vater. Aber du fannijt 
gang rubig fein, braudft dich nicht gu fiber: 
winden, — Ich beirat’ deinen Bater nicht!” 

Lena fab auf Mariann. Die ftand vor 
ihr mit bligenden Mugen. „Ach, das fommt 
Dir wohl fonderbar vor, gelt? Das fannft du 
nidt begreifen? Du meinft, ich müßte mit 
allen zehn Fingern jugreifen und mit zwei 
Händen halten, dab ich ihn fefthalte. Du 
meinjt, fo eine Ehr' und fo einen Vorteil 
fonnt? id nidt ausjdlagen? — —“ 


nit? — —“ 

Mariann lächelte ſchon wieder cin wenig. 
„Du denfit, die Mariann iſt narriſch. Und 
ich nehm' dir's nicht übel, weil du eben gar 
nicht anders denlen kannſt. Heiraten, — einen 
reichen Mann heiraten, das müßte für mich 
bas Höchſte auf der Welt fein, meinſt du. 
Und nod dazu einen, der mid gern baben 
mug, weil er mid fonft nicht nabme.” 

Lena nidte unwilltiirlid), 

„Siehſt du wohl. Wher ich, ich denfe 
anders. Ich fann dir das nidt fo ſagen, 
und du würdeſt ¢3 auch nidt fo verjteben, 
wie ich's meine. Und es ijt befjer, man 











667 


redet nicht dariiber. Aber wenn's dir einen 
Stein vom Herzen nimmt, dann will id dir's 
nodmals beteuern, id) beirate deinen Bater 
nicht!“ 

„Einen Stein vom Herzen?” — Die Lena 
öffnete die Augen tweit. Nein, einen Stein 
nabm's ibr nicht vom Herzen. Gern hatte 
fie ja die Mariann nicht gefeben, als Frau 
in ihres Baters Haus, — aber fie hatte fid 
das ja als Bue auferlegen wollen, hatte 
den Herrgott damit beſchwichtigen wollen, den 
Herrgott und aud) — — bas in ibrer Bruft, 
was bobrte und mabnte und fie immer wieder 
rief. Qa, dad rief ſchon jabrelang, — erſt 
ganz leife, bann immer Lauter, — fie batte 
es nur nidjt Boren wollen. 

Unrubig blidte fie auf Mariann. Die 
ftand da, gelaſſen, ftill. Es wurde ihr beif 
und falt. Gie wollte fort — feinen Mugen: 
blid wollte fie Ianger unter bem Dadhe der 
Mariann bleiben. Fort, nur fort. 

„Ich mug beim,” ſtieß fie bervor. ,, Meine 
Leute forgen fic) ſonſt.“ — Cie fonnte ibres 
Mannes Namen nidt iiber die Lippen bringen. 

„Du kannſt das Rind nicht tragen,” fagte 
Mariann gepreft. „Ich, — id rufe die 
Nachbarin, — id fann nicht fort.” — — — 

Lena nidte ftumm. Gie war gan; ftill 
geworden. 

Mariann ging zur Tür hinaus, Lena 
blieb allein mit den Kindern. Der Junge 
ſaß wieder neben dem Mädchen ganz ein— 


trächtig. Lena beugte ſich tief und fab ihn 


an mit forſchenden eiferſüchtigen Augen. Er 


glich ſeinem Vater nicht, da war fein Zug, 
„Du Mariann, — du willſt meinen Vater 


den ſie kannte, er hatte die Augen und Haare 
ſeiner Mutter. — Unwillkürlich ſtrich ſie ihm 
das dicke dunkle Haar aus der Stirn. — Da 
ſah ſie das Mal, — ſie zuckte zuſammen und 
fuhr zurück. 

Ein leiſer Laut kam von der Tür her. 
Da ſtand die Mariann hoch aufgerichtet mit 
funkelnden Augen. 

Einen Augenblick lang ſahen ſich die 
beiden Frauen in die Augen, — dann kam 
die Mariann näher und legte wie zum Schutz 
ihren Arm um den Jungen. Und dann ſagte 
ſie mit leiſer Stimme: 

„Was brauchſt du zu erſchrecken? 
haſt's ja gewußt!“ — — — — 


Du 


668 


Es war gang ftill in ber Stube. Der 
Junge fah ängſtlich von einer gur anderen, 
bann bdriidte er fic) feft an feine Mutter. 

nSie foll weggeben,” fliifterte er, „das 
Madden foll dableiben.” 

Die Frau fab ihn an. ,,Dableiben,” fagte 
fie, ,warum?” „Ich will 'ne fleine Schweſter,“ 
murmelte er verſchüchtert. 

Die Tür wurde eilig aufgerifjen, und die 
Nadhbarin fam herein, gang gliibend vor 
Neugier, mit geſchwätzigem Bebauern. Nun 
follte fid) bie Müllerin nur warm einpaden, 
es wär' febr falt draugen. 

Wortlos wwidelte Mariann mit gitternden 
Handen das Kind in ein Tuc ein und gab 
e3 ber Frau auf den Arm. — Wud) die Lena 
ſprach nichts. Sie fagte nidt Dank nod 
Adieu. Cie ging mit ſchwankenden Schritten 
neben ber Frau, die eifrig ſchwatzte und nidts 
merkte. — Das Rind weinte. 

Die dunfle Dorfftrake hinab ging die 
grofe ftarfe Frau mit dem Ripde auf dem 
Arm, — neben ihr haſtete die fleine magere 
Geftalt der Miillerin. 

Mariann ftand auf der Türſchwelle und 
fab ibnen nad, bis fie im Dunkel verſchwanden. 
Sie ftand fo lange, bis fie die feudjte Herbjt- 
kälte fühlte. Dann fdauberte fie zuſammen 
und ging in die Stube. Cie jog den 
Jungen an fid und küßte ibn beftig. Wber 
der twebrte fid) mit Handen und Füßen. Gr 
war gang erfiillt von dem Greignis, Warum 
das Heine Madden nicht dageblieben fei? Es 
hatte in feiner alten Wiege fdlafen finnen. 


Mariann. 


Er wollte aud eine Schweſter. Mit der 
finnte er Pferdchen fpielen den ganjen Tag. 

Warum es mit der franfen Frau fort- 
gegangen fei? Warum die ibn immer fo an- 
gegudt habe? Cr ftellte bundert Fragen. Cr 
modte gar nidt einfdlafen. — Es war fdon 
fpat, als er endlich rubig atmend dalag! 
Aber feine Mutter fam dann nod) immer 
nidt gur Rube. Sie fab, mit brennenden 
Augen in die fleine Lampe ftarrend, bie halbe 
Nadht. Dann ging fie unrubig bin und ber, 
eine lange Beit. Zuletzt holte fie das alte 
große Gebetbuc) ibrer Mutter. Cie ſuchte 
eine Weile an einer Stelle, wo die Blatter 
nod) jiemlid) weiß und unbenutzt waren. 
Dann hatte fie gefunden, twas fie fudte: 
„Gebet fiir meine Feinde“. Und mit jitternden 
Lippen, mit brennenden Augen darauf hin— 
ftarrend, murmelte fie leife die frommen Worte : 

pind follte dod in meinem Herzen noch 
Bitterfeit und Hak fein, dann, o Gott, fieh 
meinen Willen gnädig an und made mein 
Herg rein und beuge meinen Willen, damit 
geſchehe, wie du willft, nicht wie ich will.” 

Sie fah vor fid bin. „Ich bab’ feinen 
böſen Willen in meinem Herzen.” 

„Und fieh es fo an, dab id ibnen bon 
Herzen verzeihe, o Gott, wie id hoffe, daß 
aud) mir meine Sünden verziehen werden. 
Amen.“ 

Sie ſaß nod) eine Weile rubig ba. Dann 
atmete fie tief auf. — Die grofe alte Uhr 
ſchlug raffelnd dreimal. Cie erfdraf. Morgen 
mufte fie früh beraus. Echluß folgt.d 





669 


Berufliche und soziale Pragen auf dem IJnternationalen 
Prauenkongress. 


Bon 


Rlice Salvmon. 


Nachdruck verboten. meee 


ie Frage der Frauenarbeit hat bei der Crbrterung der Frauenfrage ftets 

den breiteften Naum eingenommen. Handelte es fich aber in fritheren Jahr— 
zehnten zunächſt darum, neue Berufs: und Erwerbsmöglichkeiten fiir die Frauen de3 
Mittelftandes, der biirgerlicen Kreiſe yu fcbajfen, fo wurde die Frauenbewegung im 
lepten Sabrjehut mehr und mebr darauf bingelenft, fic) mit den Verhältniſſen der 
arbeitenden Frauen zu beſchäftigen, denen die Berufstitigheit nicht erſchloſſen zu 
werden braudt, fondern die vielmehr eine Befreiung von übermäßiger Arbeit begehren. 
Ganj naturgemif mufte die Frauenbewegung ſich zuerſt der Eröffnung neuer Berufs— 
gebiete, neuer Criverbsmiglichfeiten fiir die Frauen des Miitteljtandes guwenden. Dann 
erft, als dieſe wirtfchaftlid) befreit waren, als fie durch die Berufstitigheit einen 
weiteren Blic, ein tiefered Berftindnis fiir alle Gebiete ded öffentlichen Lebens ge— 
wannen, dann erſt fonnten fie bie Not der Frauen erfennen, die ſich das Recht auf 
Arbeit nicht mebr zu erkämpfen brauchen, die unter der doppelten Laft der Berufs- 
und Familienpflichten nur allju oft zuſammenbrechen. Die eriveiterten Bildungs: 
miglichfeiten, der Cintritt der biirgerlichen Frauen ins Crwerbsleben, der durch die 
Frauenbewegqung herbeigefiihbrt wurde, haben den Frauen erft die beiden Seiten des 
Problems der Frauenarbeit klargelegt. 

Die Berufsfeftion des Internationalen Frauenfongrefjes mute denn and 
diejen beiden Seiten des Problems Gerechtigheit widerfabren laſſen. Sie hatte fic) 
mit den Frauenberufen yu befchaftigen, in denen cin befferer Shug wor Aus— 
beutung fiir die Arbeiterinnen notwendig ift, im denen befjere Arbeitsbedingungen 
erfiimpft werden miifjen, wie aud mit den Bernfen, die den Frauen nod 
ganz verſchloſſen find, in denen die Frauen neue Arbeits: und Entwidlungs- 
miglicfeiten, oder den Aufgang zu höheren Stellungen begebren. Co 
gegenfaglich Ddiefe beiden Seiten de Problems der Frauenarbeit auf den erjten 
Blick erſcheinen müſſen, ſo boten die Verhandlungen der Berufsfeftion dod) ein ge- 
ſchloſſenes einheitliches Bild. Ob man von der Landarbeiterin fprach, die in 
Deutſchland, wie in vielen anderen Liindern, durch cine Ausnahmegefeggebung ſogar 
nod) de3 Rechts beraubt ijt, für fic) felbjt bejfere Arbeitsbedingungen zu erftreben, ob 
man einen geſetzlichen Schutz für die Heimarbeiterin forderte, die nod immer 
„jede Stunde arbeiten darf, die Gott gibt”, oder ob man den Advofatenberuf, den 
Beruf der Predigerin, der in neueren Kulturftaaten von Frauen ausgeiibt wird, 
aud fiir die Frauen unſeres Landes freigegeben wünſchte, überall waren die Ver- 
handlungen von dem einen Gedanten befeelt: von dem Wunſch, den Franen jury 
vollen Entfaltung ihrer Perfinlidfeit, sur gefunden Entwidlung ibrer 
Krafte, zur Teilnahme an der Kulturarbeit gu verhelfen. 


670 Berufliche und fosiale Fragen auf dem Bnternationalen Frauenfongres. 


Nicht alle Verhandlungen und Referate diefer Seftion waren gleichwertig; nicht 
alle wurden von den Angehdrigen der betreffenden Berufe felbft ausſchließlich geführt 
Aber das Bejtreben der Kongrefleitung, die Referate in die Hinde derer gu legen, Die 
am nichften beteiligt, die am bejien informiert und am meijten beredtigt ſind, 
Forderungen und Wünſche auszufprechen, hatte doch im grofen und ganjen Erfolg gebabt. 

Das erfreulichſte Bild in diejer Beziehung bot twobl der Tag, der einer 
Erérterung des KRrankenpflegerinnenberufs gewidmet war. Aus allen Ländern 
batten fic) Rranfenpflegerinnen eingefunden, um über die Wusgeftaltung diefes Berufes, 
über die Schaffung von Ausbildungsmöglichkeiten, fiber die Notwendigfeit fraftiger 
Crganijation 3u beraten. Am ſtärkſten waren neben den deutfden Krankenpflegerinnen 
die Englands und der Vereinigten Staaten vertreten. Und wer an dem Wert inter: 
nationaler Beratungen sweifelt, der hatte in dieſer Sitzung belebrt werden können, wie 
einbeitlich, wie gleidartig die Bejtrebungen der Frauen in allen Landern fic geftaltet 
haben, trotz aller Befonderbeiten; die die fosialen Berhaltnifje einzelner Kulturftaaten 
bedingen müſſen. Erſt in den letzten Jahrzehnten — fo wurde von ſämtlichen 
Rednerinnen berichtet —- hat man den Verſuch gemacht, die Rranfenpflege zu einem 
freien Beruf fiir gebildete Frauen zu machen. Nberall war man vorber ausſchließlich 
auf die Angehörigen religidjer Körperſchaften oder anf Wärterinnen mit völlig un: 
geniigender Aushilbung angewiefen. Die großen Fortfchritte, die die medizinifche 
Wiſſenſchaft gemacht hat, lichen aber die Arzte nach einer verftindnisvollen Hilfeleijtung 
durch Pflegerinnen verlangen. Dem gefteigerten Bedarf nad folchen Kraften haben 
die religidfen Körperſchaften, die katholiſchen Ordenshäuſer und die evangelifden 
Diafonievercine nirgends begegnen können. Cicherlich mag das jum Teil auf die 
freiheitlichen Ideen unferer Beit zurückzuführen fein. Die Unterordnung, die von 
Diejen Körperſchaften verlangt wird, mag mance Frauen von dem Cintritt in einen 
Beruf yuriidbalten, deſſen cigentlider Kern ibren Neigungen und Fabigkeiten wobl 
zuſagen würde. Aber aud) die wirtſchaftlichen Verhältniſſe, die vielfach Frauen nötigen, 
einen Erwerb zu ſuchen, der ihnen die Gelegenheit zur Unterſtützung ihrer Angehörigen 
bietet, mußten viele Frauen hindern, in Anſtalten einzutreten, die ihnen wohl den 
eigenen Unterhalt, aber keine Gelegenheit zu ſelbſtändigem Erwerb gewähren. 

Dem neuen Bedürfnis haben überall zuerſt private Veranſtaltungen von 
Frauen zu entſprechen verſucht. Aber in allen Ländern geht jetzt von den Rranfen- 
pflegerinnen ſelbſt das Beſtreben aus, dieſen immerhin ſehr ungeregelten Verhältniſſen 
ein Ende zu machen. So wurde von den Vertreterinnen aus den Vereinigten Staaten, 
als auch von engliſchen und deutſchen Krankenpflegerinnen das Verlangen nach einer 

ſtaatlichen Regelung laut, die Vorſchriften über die Ausbildung der Kranken— 
pflegerinnen ſchaffen ſolle. Schweſter Agnes Karll, die Vorſitzende der Berufs— 
organiſation der deutſchen Krankenpflegerinnen, legte einen ausführlichen Plan dar, 
Der Die Forderungen ihrer Organiſation enthielt. Sie fordert nicht nur eine ftaatliche 
Regelung fiir die eritmalige Mushildung der Rrankenpflegerinnen, fondern auch gefeslice 
Vorſchriften, die einen obligatoriſchen Beſuch von Fortbildungskurſen fiir Kranken— 
pflegerinnen vorſchreiben. Beſonders erfreulich ſiel in dieſer Verſammlung die Tatſache 
auf, daß die Angehörigen der religiöſen Pflegerinnenverbände an den Verhandlungen 
teilnahmen und auch ihrerſeits die Notwendigkeit des Ausbaus der Krankenpflege als 
eines weltlichen Berufes anerkannten. Auch Frankreich und Italien, die Länder, in 
denen nod bis vor kurzem die religiöſen Pflegerinnenverbände den Krankenpflegeberuf 


Berufliche und foziale Fragen auf dem Yuternationalen Frauentongref. 671 


allein beherrſchten, batten Wertreterinnen entfandt, die bericdten fonnten, dap bei 
ibnen die Beftrebungen fic in gleicher Richtung wie in Deutfebland und England 
bewegen. Der kleinen Scar deutſcher Rrantenpflegerinnen, die feit einigen Jabren 
unter großen Opfern und mit bewunderungswerter Hingabe fiir die Verbejjerung der 
Lage ibrer Berufsgenofjen eintritt, wird cine neue Kraftquelle ans dem Zufammentreffen 
mit den Frauen anderer Lander erwadfen fein, mit denen fie fid) eins in thren 
Beftrebungen wijjen, deren Erfolge ibnen eine wertvolle Hilfe in ibrer Agitation fein 


können. * 


* * 


Soweit es ſich um die Beteiligung Berufsangehöriger an den Verſammlungen 
handelt, müſſen die Beratungen über die Lage der Arbeiterinnen als weniger 
erfreulich bezeichnet werden. Es liegt auf der Hand, daß die Landarbeiterinnen, 
die noch jeglicher Berufsorganiſation entbehren, an die bisher eine Agitation noch 
kaum heranreichte, die ihnen das Drückende ihrer Lage bewußt macht, keine Ver— 
treterinnen ans ihren eigenen Reihen zu den Verhandlungen ſtellen fonnten. Co 
mußte die Lage der Frauen in Landwirtſchaft und Gartenbau beſprochen werden, 
ohne daß eine Arbeiterin dabei zu Worte kommen konnte. Neben intereſſanten Aus— 
führungen über die Möglichkeiten, die ſich der Frau als Gärtnerin und als Landwirtin 
eröffnen, blieben aber doch die Intereſſen der Arbeiterinnen nicht unberiidfichtiat. 
Frau Wegner-Breslau und Frau Altobelli-Bologna berichteten über die Lage der 
landwirtſchaftlichen Arbeiterinnen, und Frau Wegner wies ebenſo, wie Fräulein Elſe 
Lüders im einleitenden Referat es getan hatte, darauf hin, welche großen Aufgaben 
der Frauenbewegung noch zur Verbeſſerung der Lage dieſer Kreiſe geſtellt ſind. Frau 
Altobelli, der es gelungen iſt, 30000 Landarbeiterinnen, die unter den elendeſten 
Verhältniſſen ihr Leben friſten, zu organiſieren, berichtete fiber die italieniſchen Ver— 
hältniſſe. Und ſo war denn auch der Vorwurf, den Frau Lili Braun in der Ver— 
ſammlung vorbrachte, daß die bürgerlichen Frauen nur ihre eigene Lage bedächten, 
nicht berechtigt. 

Die Verhandlungen über die Dienſtbotenfrage boten ein Bild von der 
wachſenden ſozialen Einſicht ſowohl der Hausfrauen, als der häuslichen Angeſtellten. 
An und fiir ſich kann es ſchon als ein Erfolg in bezug auf die ÜUberbrückung ſozialer 
Klaſſengegenſätze angeſehen werden, daß nach einigen Referaten, die von Frauen der 
bürgerlichen Kreiſe gehalten wurden, eine Dienſtangeſtellte ſelbſt das Wort ergriff, um 
ihren Standpunkt zu der Frage darzulegen. Und wenn alle Hausfrauen, die zu Worte 
kamen, die Anſicht ausſprachen, daß nur die Frau gute Dienſtangeſtellte erlangen kann, 
die ihnen auch mit gutem Willen, mit Können und mit Verſtändnis entgegen— 
tritt, fo dürften fie volles Verſtändnis fiir dieſe Anſicht bei der Vertreterin der Dienſt— 
angeſtellten gefunden haben, die ihre Ausführungen ganz übereinſtimmend mit den 
Worten ſchloß: Treue könne von den Dienſtboten gefordert, müſſe aber auch von ihren 
Arbeitgeberinnen gewährt werden. „Treue um Treue; aber für 20 Mark monatlich 
kann man ſie nicht kaufen.“ 

Der Lage der Fabrikarbeiterinnen und der Heimarbeiterinnen war ein 
Verhandlungstag gewidmet. Die traurigen Lebensbedingungen der Angehörigen dieſer 
Berufe ſind den Leſern der „Frau“ hinlänglich bekannt. Sie wiſſen auch, daß es ſich 
hierbei nicht um Mißſtände handelt, die unſerm Lande eigentümlich find, ſondern daß 
ſich in allen Induſtrieſtaaten gleiche Schäden herausgebildet haben. So konnten denn 


672 Beruflice und fojiale Fragen auf bem Ynternationalen Frauentongrep. 


die Berhandlungen hieriiber nicht viel Erfreuliched bringen. Aber fie waren überall 
von dem Gedanfen, von dem ernften Streben beherrſcht, Abbilfe gu fcbaffen, Be— 
dingungen herbeizuführen, die auch diefen Frauen die Arbeit nidt mehr als Fluch 
erſcheinen laſſen. Daß Anſätze zur Verbefferung der Lage der Arbeiterinnen überall 
vorhanden find, und daß die ſozialpolitiſchen Beſtrebungen auf dieſem Gebiet Hand 
in Hand mit der Frauenbewegung gehen, zeigte ſich darin, daß die badiſche Fabrik— 
inſpektorin und eine engliſche Sanitätsinſpektorin über Mißſtände und Abhilfs— 
mittel auf dieſem Gebiet berichteten. Aus ihren Worten ging hervor, wie unendlich 
viel trotz aller Bemühungen der letzten Jahre, trotz der Fortſchritte der Geſetzgebung 
und der Anſtellung von weiblichen Aufſichtsbeamten zu tun bleibt. Noch um eine 
Schattierung dunkler war das Bild, das über die Lage der holländiſchen Arbeiterinnen 
entrollt wurde, die über einen Mangel jeglicher Schutzgeſetzgebung zu klagen haben. 
Es ſollte dod) den Anhängerinnen der holländiſchen Frauenbewegung, die tn der 
vierten Seftion fo energiſch gegen befondere Schutzgeſetze fiir Arbeiterinnen fprachen, 
qu denfen geben, ob nicht die Vorteile, die eine folche Gefesqebung fiir die Frauen 
mit fic bringt, die Nachteile aufiviegen diirften, die fie darin ju erbliden glauben. 
Wenn fiber die Lage der Arbeiterinnen die Berichterftatter aller Lander nur 
cine Meinung Hatten, fo famen in bezug auf die Wege, die man einfdlagen foll, 
um ibre Lage yu verbeffern, verfcbiedene Anfichten gum Ausdruck. Namentlid& in 
bezug auf die Heimarbeit ftanden fich zwei Richtungen gegeniiber, die fiir dic Ab— 
fhaffung und die fiir Canierung der Heimarbeit wirfen wollen. Da— 
neben wurde dure die eingige antwefende deutfde Sozialdemofratin die Frage in die 
Disfuffion gezogen, ob die Hilfe bürgerlicher Frauen fiir die Beljtrebungen der 
Arbeiterinnen von Vorteil fein fann oder nicht. Die deutfehen Sozialdemofratinnen 
febnen befanntlic) die Hilfe biirgerlicher Frauen in fehroffer Weife ab. Dak ibr 
Standpunft aber in andern Landern nicht gebilligt oder getcilt wird, bewies dic 
Distuffion, in der eine Schweizer Urbeiterin, die gleichfalls der fozialdemofratijchen 
Partei angehort, die unumwundene Erklärung abgab: „Auch fie babe frither geglaubt, 
die Hilfe biirgerlicher Frauen ablehnen zu müſſen; aber fie babe ibren Irrtum erfannt 
und wiffe jest, daf fiir alle Teile aus gemeinfamer Wrbeit ein Gewinn erwachſen 
fann. Gie fenne feine Arijtofratin und feine Broletarierin in der Wrbeit, fondern 
nur Schweſtern, mit denen fie gemeinjam fiir die Verbefjerung ihrer Lage ftreben wolle.“ 
Auf die pringzipiell ablehnende Haltung der deutſchen fozialdemofratijden Frauen 
ift es auch zurückzuführen, daß die induftriellen Arbeiterinnen auf dem Kongreß 
nur in geringer Zahl vertreten waren. Wenn von Frau Braun in einer Sigung, 
in der die Schreiberin diefer Zeilen leider nicht aniwefend war, der Vorwurf gegen die 
Rongrepleitung erhoben wurde, fic babe den Kongreß mit einer goldenen Mauer 
umgeben und babe durd den Cintrittspreis von 6 refpeftive 8 Mark fiir Dauerfarten 
und 2 Mark fiir Tagesfarten den Arbeiterinnen die Teilnabme unmöglich gemadt, fo 
muß diefer Voriwurf zurückgewieſen werden. Bei aller Anerkennung der Tatfache, dah 
cin miedrigerer Cintrittspreis oder die Abhaltung öffentlicher Verſammlungen wünſchens— 
wert gewejen wire, dürfen wir uns dod) nicht daviiber täuſchen, daß dadurd die Be- 
teiligung von Urbeiterinnen keineswegs herbeigefiihbrt worden ware. Und fo ijt es 
denn unter diefem Gefichtspuntt nicht zu bedauern, dah die Rongrefleitung Feine 
Möglichkeit zu finden glaubte, um die Schwierigkeiten einer Crniedriqung des Cin: 
trittageldeS jn iiberwinden. Die Arbeiterinnen haben an den Verhandlungen 


Berufliche und ſoziale Fragen auf dem Snternationalen Frauenkongreß. 673 


nidt in gréferer Zabl teilgenommen, weil die Urbeiterinnen, die über— 
baupt an folden Rongreffen Intereſſe nehmen, die Wufgeflarten, die 
großenteils den fojsialdemofratifden Organifationen, den von ibrem 
Geiſt beeinfluften Gewerffdaften angebiren, nicht fommen durften. 
Als an die Vertrauensperjon der Genoffinnen Deutſchlands die Aufforderung erging, 
in das weitere Rongreffomitee einjutreten, wurde dieſe Aufforderung mit einer febr 
ſchroffen Zuriidweifung beantwortet, die cine Beteiliqung der ſozialdemokratiſchen Frauen in 
irgend einer Form ablebnte. Damit war fiir die Arbeiterinnen diefer Rreife eine 
Beteiligung ausgefdloffen. Hatten die Genoffinnen Deutſchlands fic anders zu der 
Abhaltung des Kongreſſes geftellt, Hatten fie geglaubt, dort fiir ihre Sache wirfen zu 
fonnen, hätten fie die Teilnahine fiir ihre Pflicht gebhalten, fo wäre ſicherlich die Wuf- 
bringung der Mittel fiir das Rongrepbillet ebenfowenig ein Hinderungsgrund geweſen, 
wie die Abhaltung der Sigungen in den Vormittagsftunden. Diefe Argumente fonnten 
nur auf den Teil de3 Publifums Cindrud madden und finnen aud) durch Verbreitung 
in der Preffe nur bei folchen Lefern den Schein der Beredhtigung erweden, die mit 
den Verhältniſſen der WUrbeiterwelt nicht vertraut find. Wer ſelbſt an Arbeiter— 
fongrefjen teilgenommen hat oder ibre Verhandlungen verfolgt, der weiß, dah es den 
Arbeitern niemals an Geld gefehlt bat, wo es te darum handelte, einen Kongreß 
zu bejuchen, dev von fozialdemofratifecher Seite einberufen wurde oder bei dem fie cine 
Förderung ihrer Ynterefjen erwarteten. Der weiß, dah die AWrbeiterorganifationen 
immer die Mittel aufbringen, um ihre Delegierten zu Kongreſſen zu entfenden, dah 
fie fowobl Reifefoften, al den Aufenthalt in ciner fremden Stadt fiir cine Woche 
bejablen können. Weſſen Gedächtnis auch mur wenige Monate zurückreicht, der muh 
fid) erinnern, daß beim allgemeinen Heimarbeiterſchutzkongreß die ärmſten und elendeften 
der deutſchen Arbeiter durch Hunderte von Delegierten aus allen Teilen deS Reiches 
vertreten waren, fiir die die Reifefoften und Unterhaltsimittel durch ihre Organijationen 
aufgebracht wurden, Summen, die ficerlid) 6 bis 8 Marf, die fiir den Kongreß ndtig 
gevejen waren, weit iiberjteigen. Daf die organifierten Arbeiterinnen, die dod) in 
erjter Linie in Betracht fommen, die Koften hätten aufbringen können, gebt auch daraus 
hervor, daß die Organijationen des Auslandes (Schweiz und England) Arbeiterinnen 
jum Kongreß geſchickt batten, und daß die deutſchen nichtſozialdemokratiſchen 
Arbeiterinnen-Organiſationen gleichfalls Vertreterinnen entſandt hatten. Es iſt das 
gute Recht der ſozialdemokratiſchen Frauen, ſich ihre Stellung zur bürgerlichen 
Frauenbewegung zu wählen, ein gemeinſames Arbeiten abzulehnen. Aber wenn 
eine ſolche Ablehnung erfolgt iſt, dürfen nachher nicht Scheingründe für die 
Agitation verwandt werden, die falſche Vorſtellungen über die Motive des Fern— 
bleibens erwecken müſſen; dürfen nicht Gründe vorgebracht werden, an die ſelbſt die— 
jenigen Mühe haben werden zu glauben, die fie vertreten. Was zu bedauern 
bleibt, bas iſt die Tatſache, daß die ſozialdemokratiſchen Frauen geglaubt 
haben, auf dem Kongreß kein Verſtändnis für ihre Angelegenheiten, 
keine Förderung fiir ihre Intereſſen finden zu können. Der Ernſt, der 
durch die Verhandlungen über die Arbeiterinnenfrage ging, ſollte ſie belehrt haben, 
daß es an dem guten Willen und wohl auch an der nötigen Einſicht hierfür in unſeren 
Kreiſen nicht gefehlt hat. 


* * 


43 


674 Beruflide und ſoziale Fragen auf dem Ynternationalen Frauenkongreß. 


Ahnliche Schwierigkeiten haben an den anderen Tagen der Berufsfeftion nicht obge— 
waltet. Der Tag, der der Lage der Handelsangeftell(ten und der Poftheamtinnen 
qewidmet war, ftand unter dem Beichen der Empirung fiber die Ablehnung des 
Wablrehts der Frauen bei den Kaufmannsgeridten. Was fiber die Lage 
der Beamtinnen vorgebradt wurde, gipfelte im allgemeinen darin, dah die Veamtinnen 
fajt nirgends nad demſelben Prinzip wie ibre männlichen Rollegen bezahlt werden, 
jondern da aud) vom Staat verjucht wird, durch Frauenarbeit Erſparniſſe zu erzielen. 

Soweit die Verhandlungen der Berufsfeftion bisher gefchildert wurden, trugen 
jie einen ausſchließlich ſozialen Charafter. Und wer ſchließlich erwartet batte, 
an den lebten Tagen bei den Verhandlungen iiber die Frauen in der Kunſt andere 
Gejidtspunfte zu finden, der diirfte auch Hier feine Rechnung nidt gefunden haben. 
Denn auch hier zeigte fich wieder, wie alles Streben der Anhingerinnen der Bewegung 
fic) in fosialer RNichtung bewegt; wie die Frauenarbeit, wo fie fid) auch freie Babn 
gefcbaffen bat, nun zu höheren Stufen und Formen auffteigen muß. Wuch hier galt 
e8, den Frauen beffere Dafeinshedingungen zu fecbaffen. So fcbilderte Marie von Bilow 
in meifterbafter Form die ſchmachvollen Zuſtände, der die Mebrheit der weiblichen 
Biibnenangeftellten sum Opfer fallt, Co jah Sabine Lepfius cine Beſſerung 
der wirtfdaftlichen Lage der Malerinnen im Ankämpfen gegen den Dilettantismus, 
dev die Leiftungen fo vieler Frauen auf cin tiefes Niveau herabdrückt. 

Den Schluß der Seftion hildeten die Verhandlungen über wiſſenſchäftliche 
Berufe. Konnte von den Wr3tinnen aller Lander berichtet werden, was fie erreicht 
haben, fo fab man aud bier das Beftreben, nene Aufgaben im Dienfte dea 
Gemeinwohls aufzugreifen, wie die Erteilung von hygieniſchem Unterricht an die beran: 
wadhjende Jugend. Den größten Cindrud ersielten an diefem Tage die Mitteilungen, die 
Fräulein Dr van Dorp, die junge holländiſche Wdvofatin und Reverend 
Anna Shaw, die amerikaniſche Predigerin tiber ihre Berufstätigkeit machten. Die 
Ausführungen beider können als charakterijtifd fiir die Auffaſſung der Berufstätigkeit 
von Seiten der Frauen gelten. Für die Frauen ift der Beruf nicht nur „Erwerb“; 
die Frau ſucht mehr darin als ihren Lebensunterbalt, fie fucht einen Lebensinhalt, 
und läßt fic) vom äußeren Vorteilen nur ſchwer beeinflufjen, wenn die Tätigkeit als 
ſolche ihr feine Bejriediqung gibt. Co fiibrte Fraulein Dr van Dorp aus: Die 
Anſchauung, dag die Advokatur ein männlicher Beruf fei, binge vielfad damit 
zuſammen, daß fie als eine gute Gelegenbeit yur Geldmacherei gelte, die die Frauen 
nicht in gleichem Make wie die Manner nbtiq Hatten. Aber diefe Anficht fei falfd, 
denn die Advofatur verlange viel Liebe, Gerechtigkeit; werlange, daß man die Lajten 
und Sorgen anderer Menſchen auf ſich nehme. Das alles feien Eigenſchaften, die der 
Frau eigentiimlich find. Dazu forme, dah in der Frage der Kriminalitdt des Kindes das 
Strafpringip dem Erziehungsprinzip weichen müſſe. Hierbet fei die Frau vor allem berujen, 
mitzuwirken. Auch bei den mit der Eheſchließung zuſammenhängenden Zivilprogeffen würde 
die Leidende Frau ihrer Geſchlechtsgenoſſin eher Vertrauen entgeqenbringen. Und febr 
ähnlich flang e3 durd) Reverend Anna Shaws Worte hindurch: die Manner verlaſſen 
den Predigerberuf mehr und mehr, weil er nicht mehr lufrativ genug fei. Die Frauen 
aber follen nur auf die Kanzel treten, wenn innerfter Beruf fie dazu treibt, Fir dic 
Seeljorge feien fie geeiqneter als Manner. Die Welt von heute hat Logi genug, aber 
jie braucht Trojt fiir die Seele, den die Frau gu foenden ihrer Natur nach geeignet iſt. 

* * 


* 


— “wl 








Beruflide und fojiale Fragen auf dem Qnternationalen Frauenkongreß. 675 


Wenn in der Berufsfeftion tiberall das Streben der Frauen hindurchklang, ſich 
felbjt zu beſſeren Lebensbedingungen durdjuarbeiten, wenn man bier vielfach hörte, 
daß die Staatsbhilfe, die angerufen wird, nur die Grundlage febaffen foll, wm den 
Frauen cine wirkfamere Selbjthilfe yu ermöglichen, fo mufte die foziale Seftion 
von all den Bemühungen handeln, die denen Hilfe bringen follen, die fic nidt felbft 
belfen finnen. So beſchäftigte fie fic) mit Theorie und Praris der fozialen 
Hilfsarbeit im weiteften Sinn, mit der Armenpflege und Jugendfürſorge, mit 
Gefangenenpflege und Rechtsſchutz u. a. m. Auch bet diefen Berhandlungen mufte 
e3 auffallen, wie dieſelben Bedürfniſſe fics aller Orten heransbilden, und wie 
fics gleichzeitig in den verſchiedenſten Kulturländern Beftrebungen zeigen, die in einer 
und Dderjelben Richtung geben. Das fam bei den Verbandlungen über die Armen— 
pflege jum Musdrud, bei der cine Sentralifation aller Veranftaltungen auf diefem 
Gebiet, der Hffentliden wie der privaten, überall angeftrebt wird. So wurde aus 
Schweden von ähnlichen Cinvichtungen beridtet, wie aus Deutſchland, fo wurde aus 
Ojterreich, aus Atalien, aus England und Amerifa die Notwendigkeit gemeinſamer 
Organifation, wie aud) das Bediirfnis ciner Ausbildung fiir die foziale 
Arbeit betont. 

Die Beratungen fiber die Jugendfiirforge ftanden unter dem eichen der 
porbeugenden Arbeit. Hat die Wohlfabrtspflege ſchließlich das Prinzip erfannt, 
dem heranwachſenden Menſchen zu belfen, ihn ju einem tüchtigen, leiftungsfabigen 
Piirger gu erjiehen, um die Armut zu bekämpfen, um die Armenpflege an erwachſenen 
Perfonen möglichſt einzuſchränken und überflüſſig ju machen, fo führt jest überall die 
wadhfende Einſicht in große fogiale Zufammenhange dazu, daß man ſchon mit dem 
Shug der werdenden Mutter beginnen muß, um dem Kind febon bei feiner Geburt 
geſunde Lebensmöglichkeiten zu ſichern. Gleichfam als ob in den verſchiedenen Landern 
pliglicy eine neue Idee fic) durchbrict, fo wurde von mebreren Seiten tiber die 
Errichtung von Heimen file ledige Mütter berichtet, die den Hujammenbang von Mutter 
und Kind pflegen, da Mutterſchaftsgefühl ween und ſtärken follen. Befondere Auf— 
merffamfeit verdiente unter den Verbandlungen auf diefem Gebiet der Bericht über 
amerifanifcbe Heime fiir ſchwachſinnige Madchen, die durch den Schutz, den fie gewähren, 
perhiiten follen, daß diefe widerftandsunfibigen Geſchöpfe gemifbraudt werden und 
als halbe Kinder unglücklichen Wefen das Leben geben. 

Die Verhandlungen iiber die Sittlidfeitsfrage, tiber Gefangenenpflege, fiber 
die Beftrebungen zur Bekämpfung des Alkohols zeichneten fic) gleichfalls durch cine 
Fille quter Referate aus. Tberall erfernen die Frauen, dah fie fich eine tiefere Bildung, 
gründliche Sachkenntnis aneignen müſſen, wenn fie auf fogialem Gebiet helfen und 
beilen wollen. 

Mud) in diefer Seftion ftand ein Teil der Arbeiterinnenfrage auf der Tages: 
ordnung, nämlich die BerufsSorganifation der Frauen. Die Entiwidlung der 
Organiſation ift eine Frage der Erziehung der Frauen, dDarum auch der Frauenbewequng. 
Daritber waren fic alle Rednerinnen klar. Im allgemeinen wurde gemeinfame 
Organifation von Mannern und Frauen empfohlen. Immerhin bricht fich mehr und mehr 
die Erfenntnis Bahn, dah man aud auf diefem Gebiet nicht generalifieren darf, dak in 
einjelnen Fallen vielleicht gefonderte Organifationen der Frauen am Plage find. 
Wenn man aber das Gefamtrefultat der Erörterungen ziehen will, die yur Frage der 


Berufsorganijation ftattfanden, fo fann man fich doch nicht verbeblen, daß das Ergebnis 
43* 


676 Berufliche und fogiale Fragen auf bem Ynternationalen Frauenfongres. 


unendlicer Bemiihungen immerhin nicht groß genug ift, um der Hoffnung auf eine 
Löſung der Lobhnfrage durch die BerufSorganifation Raum ju geben. Und wenn man 
erfannt bat, daf für die Frauen bier eine Hilfsmöglichkeit, die fid) bet Den Männern 
zu bewabren ſcheint, geringer und ausſichtsloſer iſt, ſo wird man darauf hingewieſen, 
fiir fie eine Vefferung ihrer Lage durch ftaatlidhe Lohnregulierung zu erhoffen, 
wie Fraulein Dhyrenfurth in ibren Schlugworten ausſprach. 


* * 
* 


Die ſoziale Seftion hatte weniger als alle andern Verbandlungen des Kongreſſes 
von Beftrebungen ju berichten, die ausſchließlich im Yntereffe der Frauen verfolgt 
werden. Hier handelte es fic) mehr um die Arbeit von Frauen, die dem Dienjte ded 
Gemeinwobhls, die den Fort{chritten der Kultur, die der gefamten Menſchheit qewidmet 
find. Aber das, was hier angeftrebt wird, das fand man bei näherer Betrachtung 
aud in den andern Sektionen des Rongrefjed wieder. Denn die Bemühungen yur 
Befreiung der Frau, wie fie in der Berufafeftion, in der Bildungsfeftion und 
RechtSfeftion zum Ausdrud famen, follen ja aud nur den Teil der Menſchheit, 
der unter Ausnabmebedingungen lebt, yur Tetlnabme an der Rulturarbeit 
fähig machen. Das mufte man aus allen Verbandlungen entnehmen. Das ijt aud 
denen flar geworden, die in der Frauenbewegung bisher einen Kampf der Frauen 
gegen die Manner gu feben glaubten. Nirgends hörte man einen einfeitigen Stand: 
puntt vertreten, der im Intereſſe einer Frauenforderung das große Ganze aus dem 
Auge verlor, Aber die Rückſicht auf das Ganze darf nie fo weit gehen, dap das 
Einzelne unverhiltnismapig, mehr als billig gefchadigt wird. 

Jn Deutſchland ijt dem Gedanfen der Wohlfahrt der Nation wvielleicht mebr 
Frauenglück geopfert worden, als nötig gewefen mire. Man hat fic bier fchwerer 
dazu durchgerungen, beredstigte Forderungen zu erfiillen; man bat einen längeren und 
Heftigeren Widerſtand den Bejtrebungen der Frauen entgegengefest. Die Verhandlungen 
des Kongreſſes haben gezeigt, daß die Frauen fiir eine Befreiung kämpfen, die dem 
ganzen Bolfsleben zugute fommen fann, dap fie Krafte löſen wollen, die 
qgebunden waren und die nugbar fiir die Rulturentwidlung gemacht werden fonnen. 
Der Kongreß bat geseigt, dah die Frauen den Weg hierzu nicht in einer Gleid- 
maderei von Mann und Frau, nicht in einer Verdoppelung der Kräfte und 
Cigenfcaften, die Mannern eigentiimlich find, erbliden, fondern daß fie nach , equality 
of opportunity“, nad gleichen Chancen im Wettbewerb ftreben, nad 
gleidhen Miglisfeiten, um ihre befonderen Fähigkeiten im Dienfte des 
Gemeinwohls gu verwerten. Mége dieſes Rulturideal der Frauen aller Linder 
bald in Erfüllung geben. 





677 


Vie Anfange der SittlichKeitsbewegung in Deutschland. 


Bon 


Marie Hofman. 
Nachdrud verboten. ——— 


KR Jahr ijt verfloffen, feit eine unferer Bejten im fremden Lande die letzte Rube- 
ftiitte gefunden hat. Nur wenige gedenfen heute nod) der einſt VBielgenannten 
und Vielgefehmiabten, die Mut genug beſaß, als erfte in Deutſchland den Kampf gegen 
ein unfittliches Geſetz aufzunehmen, eine qleichhe Moral fiir Mann und Weib zu fordern 
und diefe ihre Überzeugung öffentlich zu verfechten. 

Gertrud, Grafin Sdad, hat cine freie Kindheit und Jugend auf dem Lande 
genofien, der auch das ſchönſte Glück nicht feblte — die liebevolle Leitung eines Vaters, 
der allen feinen Kindern ftets ein Vorbild edlen Menſchentums geblieben ijt. Auf 
einer Reife in die Schweiz lernte fie Den jungen Künſtler fennen, dem fie als Gattin 
nad Paris folgte, und von dem fie nad) der bald erfolgten Trennung felten ſprach; 
fie flagte nicht fiber den, der ihr fo nabe geftanden, defjen Eltern lebenslang ibre 
beften Freunde blieben. 

Der Aufenthalt in Paris wurde auch in anderer als der rein perſönlichen Weife 
fir ihr Leben bedeutungsvoll, denn hier wurde fie durch den protejtantijden Paſtor 
Fallot mit der Arbeit des ,,Britijd- Continentalen und allgemeinen Bundes“ 
(Fsderation) befannt, und eine neve Welt des bitterften Clends, der entwiirdigenden 
Rechtlofigkeit weiblider Wefen zeigte fic vor ihren entſetzten Augen. Der Bund 
fordert die Aufhebung der fogenannten Cittenfontrolle der Polizei und vor allem der 
damit verbundenen ärztlichen Zwangsunterſuchung, welche die Polizei auch über ibr 
verdächtig Erſcheinende verbingen fann, während bei eingeſchriebenen Projtituierten dic 
Verfaumnis derfelben mit Gefingnid und Arbeitshaus geftraft wird. Als neu an: 
geworbenes Mitglied lernte Frau Guillaume: Schad auf Dem Kongreß des Bundes ju 
Lüttich Frau Butler fennen, feine Griinderin und eifrigfte Vorkimpferin in England, 
deffen Verhältniſſe freilich die Agitation febr erleichterten. Denn das infamierende 
Geſetz war erft wenige Sabre zuvor unter dem ganz unfehuldigen Namen eines Geſetzes 
gegen anftedende Rranfheiten durd das Parlament heimlicheriveife durchgedriidt worden 
und erregte lebbafte Empörung, als feine Bedeutung allgemein befannt wurde, ſodaß 
jeine Abſchaffung im Jahre 1886 fiir die gebrachten Opfer reichlich entſchädigte. An 
den RKontinentalftanten dagegen ſchwang das Geſetz feine Geifel über der weiblicen 
Bevölkerung feit Anfang des Jahrhunderts und war fomit Gewobhnbeitsredt geworbden, 
ebe man fic) der Schmach dieſes Herfommens bewupt wurde. So blieb aud die 
lebbafte Proteſtbewegung, welde fic) nach engliſchem Vorbild in Frankreich und 
Stalien, in Golland und Belgien, fpater in ber Schweiz und in Amerifa entfaltete, 
lange ohne greifbaren Erfolg. 

Frau Guillaume-Sdad bejdlop, die Bewegung in Deutſchland zu entfacen, 
und ihr begeijterter Mut half iby iiber die erſten Schwierigfeiten hinweg; Profeſſor 


678 Die Anfänge der Sittlichkeitsbewegung in Deutſchland. 


Stuart aus Cambridge half mit gutem Rat und mit genauer Kenntnis der deutſchen 
Verhaltniffe, wie ſeine Briefe aus diefer Beit beweifen. Cinen Sweigverein Des 
Britifdy-Continentalen Bundes ju griinden, verbot das preupifde Vereinsgeſetz, Da 
der Bund fid) mit Affentliden WAngelegenbeiten befaßt. Der deutſche Verein trat 
felbftindig in die Erſcheinung; als „Kulturbund“ erblidte er in Beuthen das Licht 
der Welt. Hier lebte die Gründerin bei ihren Eltern; hier im fleinen Ort reichte 
der Einfluß einer hodgeadteten Familie zunächſt aus, um einen Mittelpunft fiir die 
Agitation im Deutſchen Reiche zu ſchaffen. 

Die Fihrerinnen der Berliner Frauenbewequng, Frau Meorgenftern, Frau 
Dr Tiburtius lichen ihren Beiftand und den Einfluß ibres Namens, aber ttotzdem 
ging e3 langſam vorwärts. Als in ciner Verſammlung im Rathausjaal ein paar robe 
Burſchen ſich ungehirige Bemerfungen geftatteten — cin unbedeutender Zwiſchenfall, — 
erflarte der Magiſtrat, er gebe feinen Saal nicht mebr yu Frau Guillaumes Verſammlungen 
her. Und er bielt fein Wort, fonnte fic freilid) aud) darauf berufen, dak fein 
angefehbener Mann die anrüchige Cade auch nur mit einem Finger beriibren wollte. 
Die wenigen, die anfänglich Sympathie zeigten, traten ſehr bald wieder zurück, und 
wibrend iiberall anderwärts Profefforen und Arzte, Juriſten und Politifer, vor allem 
Geiftlide, unter ibnen Biſchöfe der Landesfirchen fic) der Bewegung anſchloſſen, 
deutete man bei uns beftenfalls höflich an, es ſchicke fic nicht fiir anſtändige 
Menſchen, dergleichen öffentlich zu beſprechen. 

Welcher billig Denkende kann von der Frau mehr ſozialpolitiſche Einſicht 
als von dem Manne, mehr Mut dem Ungewöhnlichen gegenüber fordern? Nicht 
ſpurlos ging die feurige Mahnung an ihrem Gewiſſen vorbei, aber ſtatt ſich an dem 
Kampfe um das Recht zu beteiligen, gründeten ſie wohltätige Anſtalten. Almoſen 
geben iſt anſtändig und erlaubt; gegen die Polizei anzukämpfen ſchwierig, Partei für 
die Straßendirnen nehmen — das ſchickt ſich nicht. 

In ganz Deutſchland wiederholten ſich dieſe Erfahrungen, bis die Polizei im 
Jahre 1882 in Darmſtadt eine Verſammlung auflöſte, worauf cine Anklage 
wegen groben Unfugs gegen die Rednerin und die Vorſitzende folgte. Die Klarſtellung 
vor Gericht ergab die Wahrheit aller Behauptungen des Referats, ſowie einſtimmige 
Anerkennung der würdigen und ernſten Redeweiſe der Referentin; es wurde feſtgeſtellt, 
daß Kinder von dreizehn und vierzehn Jahren in die Liſte der Proſtituierten eingeſchrieben 
werden, daß bei keiner Minderjährigen die Eltern je benachrichtigt werden, daß ihr Kind 
die Proſtitution gewerbsmäßig betreiben darf, ſolange ſie den polizeilichen Vorſchriften 
folgt; daß alſo dies das einzige Gewerbe iſt, welches eine Unmündige ohne Erlaubnis 
der Eltern betreiben darf. Ein anderes iſt die Behauptung einer angefeindeten Frau, 
ein anderes die gerichtliche Feſtſtellung einer Tatſache. In Wahrheit befand ſich die 
Sittenpolizei auf der Anklagebank und wurde nicht, wie die beiden Verklagten, frei: 
geſprochen. Frau Guillaume ijt nicht wieder in die Lage gekommen, die Wabrbeit 
ibrer Behauptungen vor Gericht ju eriweijen. 

Allmählich fant Leben in die Bewegung. Berlin erbielt 1883 einen Ziweiqverein 
des Kulturbundes, man petitionterte an den Reichstag, antichambrierte bei Rultus: und 
Juſtizminiſter, bielt Verfammlungen und verteilte zablreiche Flugblitter und Broſchüren. 
In den zumeiſt ſehr befuchten Verſammlungen qab ſich ftets die lebhafteſte Teil: 
nabme fund, und mancher Gingelfall, in dem die Gefranften fid) bei Frau Guillaume 
befchwerten, fand Beriicfidtigung und Abbilfe. Daß von da an die böſeſten Aus— 


Die Anfänge der Sittlichleitsbeivequng in Deutſchland. 679 


wüchſe des Syſtems cinigermafen beſchnitten worden find, ift allein der tapfern Frau 
au verdanfen, die mit dem Lichte unbeftecblider Wahrheitsliebe guerft in die dunfelften 
Tiefen Leuchtete. 

Bei den orthodoren Kreijen, deren Bekämpfung der Unfittlichfeit fie mebrmals 
rühmend bervorbob, ſuchte Frau Guillaume Anſchluß und Unterjtiigung. Ihrer ein: 
fachen Aufrichtigkeit galt es als felbjtverftandlich, da der ‘herbe Tadel gegen die Un- 
ſittlichkeit, das hohe Lob fiir Frau Butlers Tatigheit die Bereitſchaft in fich febliefe, 
aud in Deutſchland Frau Butlers Werk yu fördern. Aber als in Diiffeldorf ein 
Brweigverein des Kulturbunds gegründet werden follte, vereitelten die einflupreicen 
fonfeffionellen Rreife fein Zuftandefommen und traten jeder Agitation dafiir in feind- 
feligfter Weife gegeniiber. Sie gründeten in den Rheinlanden einen chriftlichen 
„Verein zur Hebung der Cittlichfeit”, und ibr Organ, der ſchon vorher beftehende 
„Korreſpondent“, fuchte die Bewegung gang it das orthodore Fahrivafjer yu leiten — 
e3 lobte Frau Guillaume mit leiſen Vorbehalten. Die innere Miffion verdffentlicte 
eine Broſchüre, die fic) mit voller Scharfe gegen den Rulturbund und die Fideration 
richtete. Das Organ diefer legtern, Bulletin Continental, war jtarr über diefen An- 
griff eines vermeintlichen Freundes. Die englifchen Geiſtlichen  verftanden 
nicht, warum ibre deutſchen Amtsbriider eine CittlichFeitsbewequng bekämpften, 
fobald fie fich gegen polijeiliche Schäden richtete. Ihnen ift die unbedingte Partei— 
nabme fiir die Polizei ebenfo fremd, wie die engherzige Unduldfamfeit, die einem 
fittlich oder geiſtig notwendigen Kampf den Riiden kehrt, wenn fic Auden oder Freiz 
denfer daran beteiligen. Die verſchiedene Haltung der berufenen Schützer der Moral 
bat denn aud) in England und Deutſchland febr verfchiedene Friichte gezeitigt. 

Wer ſich mit Ernſt und Cifer einem fozialen Problem widmet, der fann fic) dem 
Andrängen weiterer Fragen nicht entsiehen. Das heiß umiftrittene Gebiet der Frauen: 
arbeit, Deven Freigebung von den Viirgerlichen gefordert wurde, während die Wrbeiterinnen 
Einſchraänkung verlangten, offenbarte den Klaſſengegenſatz in ſchroffſter Weije. Die 
bürgerlichen Frauen forderten Einlaß in die vornehmen und einträglichen Berufe, und 
die Arbeiterin hat dagegen durchaus nichts einjuwenden; daß aber auch abfolute Frei: 
beit der Arbeit im allgemeinen gefordert wurde, fand ihre lebhafte Gegnerſchaft, denn 
jie wußte wohl, dak damit in Wahrheit nur Freiheit der Ausbeutung erreicht wird. 
Heute liegt der Beweis hierfür flar ju Tage in der geſchützten Fabrif:, der un- 
geſchützten Heimarbeit. Damals galt es zu fernen, und Frau Guillaume, die ibre 
Agitation allmählich mehr ing Volk trug, wo fie beffer verjtanden wurde — die Petition 
fand in Urbeiterkreifen mehr Unterfchriften als bei den Gebildeten —, lernte den hohen 
Wert der Arbeiterinnenbewequng ſchätzen. Nach eingehenden Beratungen mit Sach— 
verftiindigen grimbdete fie mit ihrer energiſchen Anitiative einen , Verein zur Vertretung 
der Intereſſen der Urbeiterinnen”, der fic) ſehr raſch entwidelte, beteiligte fic) an dem 
erfolgreiden Kampf gegen den Nähgarnzoll und wurde durch diefe Tatigfeit 
cijrige und itberzeugte Sozialdemofratin. Daw die Förderung des materiellen Wobhles 
der Proletarier die beſte Befimpfung dev Proftitution bilde, hatte fie einfeben gelernt; 
aid, dah der Kampf mit der Allmacht der Polizei in der Beit des Sozialiſten— 
qefebes ausſichtslos ſei. Trogdem war fie weit entfernt, die Bekimpfung der 
Sittenfontrolle aufzugeben, oder ibre bisberigen Erfolge zu unterſchätzen; freilich wurde 
iby die Arbeit immer ſchwerer gemacht, da Vorurteil und Rückſtändigkeit jest die 
Sosialdemofratin denungierten, um die verhahte Sittlichkeitsbewegung ju distreditieren, 


680 Die Anfänge der Sittlichteitsbewegung in Deutſchland. 


Die Kataftrophe erfolgte 1886. Der Arbeiterinnenverein wurde gefdlofjen, die 
Wochenſchrift „Die Staatsbhiirgerin”, welche Frau Guillaume feit Anfang des Jahres 
redigierte, verboten, fie felbft aus Geffen, wo fie gulegt wobhnte, als „läſtige Fremde“ 
ausgeiviefen; ibr Geimatsredjt hatte fie durch die Heirat mit einem Schweizer verloren. 
Yon England, ihrer zweiten Heimat, fam fie nur nod nad) Deutfdland, wm die 
geliebten Eltern gn beſuchen; jede öffentliche Tätigkeit war ihr verfagt. 

Bei Deutfchen, welche Lange in England leben, wedt die große perſönliche Freibeit 
zuerſt frobe Begeifterung und reinen Enthufiasmus, der allmablic vor der Cinficht ver: 
blagt, daß diefe Freiheit dod nur perſönlichem Egoismus dient, der freilich eines groß— 
artigen Zuges nicht entbebrt. Nur ein Genius erjten Ranged entzieht ſich ganz der 
{abmenden Cinwirfung diefer praktiſchen Selbſtſucht, die nur nächſte Biele fennt; die 
meiſten paſſen fid) an; andere refignieren [till und ſchließen fic) mehr oder weniger ab 
So aud) Gertrud Guillaume, die ibre deutſchen Ydeale nie ganz abjtreifte, aber fortan 
nur nods in engliſcher Weife fiir das Volkswohl weiter arbeitete. Die Führer der Gewerk— 
vereine fannten und ebrten die deutſche Rednerin. Waifenfinder fanden in ihrem 
Haufe Suflucht und liebevolle Pflege, bis ein fchweres Leiden, das fie lange jdweigend 
getragen, fic) verſchlimmerte. Die theofophifde Weltanfdauung, die fle fic) in England 
angeeignet, gab ibr, nach den Worten der Abrigen, ungetrithte Heiterfeit und reinen 
Seelenfrieden. 

Cine Norwegerin, Fraulein Clara Tſchudi, fobreibt in ihrem Werk über die Frauen: 
bewegung: „Aber feine deutſche Frau hat den moralifden Mut und die eiferne Mua: 
bauer gejeigt, wie Gertrud Guillaume, geborene Gräfin von Schad. Berfolgt und 
verhöhnt, ift fie jabrelang von Stadt zu Stadt gereijt, um die Unfittlichfeit zu be: 
fimpfen. — — — Frau Guillaume-Schad wirkt auferdem mit Borliebe fiir” die 
Frauen der Arbeiterklaſſe und fie bat kürzlich, veranlaft durch Vorfehlage der Re: 
gierung, zu mebreren fiir die Arbeiterin ungiinftigen Gejepen, die Forderung auf 
Stimmredt der Frauen erhoben.” 

Selten wird in dent furjen Zeitraum von fieben Jabren (1879 bis 1886) fo viel 
energiſche Arbeit geleiftet, fo viel Anregung gegeben, fo febr ins Weite gewirkt worden 
fein — nod feltener wohl eine ſolche Wirkſamkeit fo febnell vergeffen. Gertrud 
Guillaume felbjt bat nie Ehrungen oder Anerfennung gefucht. Ihr galt die Cache 
alled, die Perſönlichkeit nichts. Cie ftreute den Samen mit vollen Handen über das 
Vand und freute ſich der Goffming, dah die Erntezeit fomme, wenn aud) fiir andere. 

Gibt aber diefe ſchöne Selbftlofigkeit andern das Recht, fie totzuſchweigen, wie 
es fo bald, jo energiſch geſchah? Nur ein Cinjelbeijpiel fei bier angefiibrt, weil 3 
febr geeignet ift, bie Art gu kennzeichnen, wie man fie, unmittelbar nad ibrer Aus— 
weifung, bei Seite ſchob. Im Jahre 1888 gab Dr Victor Böhmert eine Broſchüre 
heraus: ,, Der Kampf gegen die Unfittlicfeit.” Sehr wortreid) preift er Dr Pelmann, 
der ſich „vor einigen Jahren“ iiber den Gegenftand gedupert; er rühmt Frau Butler, 
deren Titigfeit der Regulierung des LajterS in England ein Ende bereitete und 
fabrt fort: 

„In Deutfchland ift die Bewegung gegen die Projftitution nod ziemlich jung. Die 
Rheiniſch-weſtfäliſche Gefaingnisgejellidaft bat fich durch) ibre im Oftober 1884 ftatt- 
gefundenen Verhandlungen tiber die Proftitution das Verdienft erivorben, den feit 
langerer Beit rubenden Kampf wieder von neuem öffentlich aufgenommen yu 
baben, Hierauf ijt im Herbſt 1885 ein befonderer ,Chrijtlicher Verein zur Hebung 





Die Anfänge ber Sittlichtcitsbewegung in Deutfdland. 681 


der Sittlichfeit fiir Deutfdland' gegriindet worden. Derfelbe gibt eine befondere 
Monatsfhrift: Der RKorrefpondent' in Mülheim a. d. Rubr heraus.” 

Der Kampf, der 1884 feit längerer Seit geruht haben foll, wurde feit 1879, 
alfo in den fünf vorausgebenden Jahren, mit Cifer und Hingebung von Frau Guillaume 








Gerirud Guillaume - Sajak. ' 


gefiibrt. Ihr Name war in jeder Zeitung genannt; der „Korreſpondent“, der vordem 
jelbftindig in Gernsbach (Großherzogtum Baden) erfchienen war, fann nicht umbin, 
fie beſtändig zu jitieren. Das Jahr 1884 war eins ihrer arbeitsreichjten; in tiberfiillten 
Salen fprad) die raſtloſe Rampferin in vielen Stadten Norddeutſchlands; in Hannover 
und Elbing bildeten fich Zweigvereine des Kulturbundes, in Danzig und Königsberg 
bereitete man den Anſchluß vor; in Berlin fanden fiinf Verſammlungen ftatt, alle 


682 Die Anfange dex Sittlichteitsbewegung in Deutſchland. 


ſtark befucht, alle viel befprochen. Uberall wurde eine Refolution gegen die Sitten- 
fontrolle angenommen; iiberall die Petition an den Reichstag vorgelejen und deren 
Weiterverbreitung dringend ans Herz gelegt. Cie erbielt aud) aus allen Teilen 
Deutſchlands Unterfdriften. Hat Dr Böhmert den Namen der Frau, die 1879 als 
erjte den Offentlichen Kampf aufnahm, nie gebdrt? Wie Hat das jemand juftande 
bringen finnen, der fic) fiir die Frage intereffierte? Seine Broſchüre datiert zwei 
Sabre nad der Ausweifung von Frau Guillaume, zwei Jahre nad) dem Ende des 
Kulturbunds, deſſen Leste Mitglieder dem von Dr Böhmert allein gefannten 
auf einfeitig fonfeffioneller Grundlage arbeitenden Verein beitraten. 

Gertrud Guillaume hat fieben Jabre lang in Deutſchland geivirtt, fie ijt verfannt 
und verfegert, verlacht und verfpottet, auch bewundert und geliebt worden —, unbefannt 
ift fie nicht geblieben. Aber fie war Sozialdemokratin, Wusgewiejene, und als ſolche 
eine unliebfame Perſönlichkeit. 

Wer die beiden Brofciiren von Frau Guillaume — Vorträge, die in Berlin 
und Darmftadt gebalten find — lieft, findet darin die bejte Darjtelung der „Sitt— 
lichfeitsbewegung”. Die rubige Sachlichfeit, die fic) nie in wortreiche Phrajen verliert, 
in der die feblichte Herzenswarme neben dem klaren Verftand ſich fo ſicher bebauptet, 
kennzeichnet das eigenſte Weſen der Autorin. Von anmutiger Heiterfeit im Umgang, 
fröhliche Gefpielin der Kinder, deren erwablter Liebling fie war, Fannte fie dod) bei 
der Arbeit nur beiligen Ernft und unermiidlichen Fleif. In der Offentlichfeit bewirkte 
die liebenswürdige Beſcheidenheit ihres Auftretens, der Wohlklang ihrer Stimme, der 
hobe Adel der Geſinnung, der aus ibren Worten fprach, ein allmabliches Hinſchwinden 
dev urſprünglichen Borurteile. 

Che e3 Arzte unternabmen, die Offentlichfeit aufzuklären, hat jene Frau die 
ſchweren gefundbeitlichen Schäden beleuchtet, welche die ſtaatliche Regelung des Lafters 
nicht beffert, fondern verfdslimmert. Den engen Sufammenbhang der wirtſchaftlichen 
Not mit dem Verkauf des eigenen LeibeS überſchauend, fühlte fie nicht Entrüſtung, 
fondern Teilnahme auch jenen gegeniiber, denen der Antrieh feblt, fich aus dem Sumpf 
zu retten, in den fo viele von friihefter Jugend an durch erbarmungslofe Hinde 
geftopen worden find. Ehrgefühl und moraliſche Kraft werden ja durd das Syſtem 
der Rontrolle ebenfo wirkſam untergraben wie die Gefundbeit. 

Tiber dic Rettung der Opfer des ,,notiwendigen Übels“ fagt fie: „Es ift un- 
erläßlich, daß das Rettungswerk die Hreiheit der Frauen nicht beſchränkt. An das 
freiejte und zügelloſeſte Leben gewdbhnt, werden fie immer, ſelbſt vor dem bejten an— 
ſtändigen Lofe, das man ihnen bieten fann, zurückſchrecken, wenn es mit Swang 
verbunden ift. Es ftebt an uns, ibnen den Cintritt in die Sufluchtitdtten zu erleidtern —, 
freiwwillig darin bleiben werden jie nur dann, wenn ibnen der Austritt offen ftebt. 
Gebe man ihnen Menfehenrechte, und fie werden wieder Menſchen werden. Frau 
Butler, dic Begriinderin unferes Bundes, fagte mir, in dem von ihr begriindeten 
Heime Hatten die Madden Tag und Nacht Zutritt, und fonnten geben, wann e3 ihnen 
beliebte, aber obwohl fie darin arbeiten muften, gingen fie nicht, denn fie waren fo 
glücklich. Wenn ihre Reit, drei Monate, glaube ich, um war, und fie anderiveitig 
untergebradt werden follten, fcbieden fie mit Traner von diefem Haufe, in dem fie 
vielleicht jum erjtenmal ein geordnetes Leben Fennen gelernt batten.” 

Wiiren unfere Rettungshdufer nach diejem Syſtem cingerictet, dann wiirden fie 
wobl weniger Ungebefferte und weniger Heudlerinnen entlafjen. Daf der freie Wille, 


Weibliche Kunft und die Frau ale Mäcen. 683 


nicht der übermächtige Zwang das befte Erziehungsmittel bildet, follte nie vergefjen 
werden. Für Gertrud Guillaume iſt die oben angefiibrte Stelle aus einer ihrer 
Ayitationsreden befonders fennjeichnend; ihr Kampf gegen das gefegliche Unrecht, ihre 
politiſche Überzeugungstreue, alle ihre reiche Tatigfeit zeugen in gleicher Weiſe von dem 
Grundton ibres Weſens — der Verbindung von Sittlichkeit und Freibeit. 


“GE 


Weibliche Ranst und die Brau als Macen. 


Bon 


Anna I. Plehn. 


Nachdrud verboter. 





Benn es wabr wire, daß weibliche Künſtler im beften Falle nur bildeten, was 
“© die mannliden Sdaffenden auc ans Licht bringen, und wenn weibliche 
Kunſtmäcene — fofern e3 folche gibt, was nod die Frage ijt — nur fammelten, 
firderten, nachfiihlen fdnnten, was die Manner eben fo gut zu ſchätzen wiſſen — 
dann könnte man fagen, dah fie beide von Feiner befonderen Bedeutung fiir die 
Menſchheit feien. Immerhin diirfte ibnen iby Tun trotzdem nicht verleidet oder erſchwert 
werden, da fie Darin jedenfallS fich ſelbſt cine Quelle der Bereicherung erſchloſſen bitten. 

Da nun aber die Natur der Frau anders ijt als die des Mannes, fo muß fie 
auc, wenn fie nur ibrer Perfinlichfeit vertraut, andere Dinge ſchaffen als er. Und 
wenn die Fran in der Würdigung von Runftwerten andere Maßſtäbe anlegt als der 
Mann — und da fie anders ijt ald er, wird fie nicht umbin finnen, fo yu verfabren — 
jo wird fie eine andere Art von Kunſt zu fordern ſuchen. Ich fiige gleich hier bingu, 
daß es nicht notivendig weibliche Kunſt fein mus, dem died beſonders gerichtete Ver: 
ſtändnis zugute kommt. Wllerdings ift gu vermuten, dak die bis jest nod fo 
vereinzelten Laute, zu denen die weibliche Seele das Anftrument der Kunſt in Bewegung 
fest, leichter yu den Frauen dringen werden als ju der Mebrjabl der Manner. Darum 
ſchien es mir erfprieflich, mein Thema fo zu fajien, wie ich es getan babe und von 
den produftiven Leiftungen der Frau in Verbindung mit dem hegenden Beſchützertrieb 
ju fprechen, der unferem Geſchlecht fo wohl anjteht und bei ibm fo haufig gefunden wird. ° 

Sch bin durchaus darauf gefapt, dah ſchon die vorftehenden Sage bier und da 
auf Widerſpruch ſtoßen. Man wird vielleicht bebaupten, daß die Kunſt nur eine fei 
und bleiben folle. Man wird auf die bisheriqen Verhältniſſe verweijen, auf die der 
Menge nach geringe Beijteuer, welche die cine Menſchheitshälfte bisher zu dem geiſtigen 
Eriverb der Gefamtbeit geleiftet bat und auf die große Zahl von weiblichen Kiinjtlern, 
deren Empfindung und Ausdrucksweiſe nichts war als cin ſchwaches Bächlein, das fic 
eilig dem breiten Ctrombett der Kunft des Mannes anzuſchließen ſtrebte. 
Es wäre auch ganz ausſichtslos, leugnen zu wollen, daß weibliches Kunſtſchaffen bisher 
nur in vereinzelten Fällen einen eigenen Stil hatte und daß es nur in dieſen Ausnahme— 
fällen fähig war, einen Strahl aus der Wirklichkeitswelt, umgeſtaltet durch das Medium 
der beſonderen femininen Empfindung, als ein eigenes Bild den Augen darzubieten. 
Dann aber war das ein neues Geſchenk, weil bisher das Gefühl des Mannes faſt 


684 Weibliche Runft und die Frau als Mäcen. 


lediglich die Vermittlerrolle fpielte. Nur wer die vom Manne abweidende Art der Frau 
allein in feblenden Geiſteseigenſchaften fucht, fann abftreiten, daß wir von einer 
felbftandigen Betätigung der Frau auf künſtleriſchem Gebiet — wovon wir nur bisher 
nicht genug faben — Überraſchungen zu erwarten haben. 

Aus dem optifden Gebiet mag ein Beifpiel zu maberer Crflarung dienen: 

Obgleich die bunte Welt, die uns umgibt, fiir unfere Auffaffung keine Liiden 
hat, wiffen wir dod, daß es nur ein Teil der möglichen Erſcheinungsformen ijt, die 
uns jum Bewußtſein fommen. Die Phyſik fpricht von Farben, welche uns unſichtbar 
bleiben, weil die Neghaut des menſchlichen Anges fiir fie fein Cmpfindungsvermigen 
bat. Wire fie anders organijiert, fo müßte fie aud) das Ultraviolett auffaffen können, 
dem auf der entgegengefesten Seite des Spektrums ein Ultrarot entſprechen könnte. 
Wir beſäßen dann Märchenſcheine, diefe neuen Farben, die man als Kind eines Tages 
zu entdeden boffte, bis Dann wachſende Erfenntnis die Gefängnisgitter offenbarte, zwiſchen 
denen uns unfere Sinne jeitlebens einſchließen. Vielleicht braucht dem geiſtigen Schauen 
der Menfchbeit nicht immer vorenthalten zu bleiben, twovon dads körperliche Seben aus: 
geſchloſſen iſt. Ich meine, man diirfte das weibliche Empfindungsvermögen einer Neg: 
haut vergleiden, welche einen Teil der unſichtbar bleibenden Farben auffangen könnte, 
waährend ihr dafür fretlich manches entginge, was die Sebnerven der anders organifierten 
Wejens trifft. Wenn fic) das fo verhalt, dann muß e3 eine Bereicherung der Runft 
fein, wenn der männliche und der weibliche Künſtler jeder nach feiner Gonderart jfeine 
Erfenntnijje aus der gleichen Wirflichfeit ableitet. Denn die Nerven, mit denen fie 
auffajjen, liegen nicht bet beiden auf demfelben Felde. Cie haben nicht abſolut 
getrennte Gebiete, aber die Grenzen find anders gefiibrt. Manches wird von beiden 
ungefaibr in der gleichen Weife aufgenommen, aber wie es Empfindungen gibt, die 
dem Manne fremd find, fo muß es künſtleriſche Erfenntniffe geben, zu denen er nicht 
yordringen fann. Um in meinem Bilde zu bleiben: es wire möglich, daß der Mann 
wobl die ultravioletten, aber nicht die ultraroten Gefiiblswerte au faſſen wüßte, mabrend 
bie Frau zwar jenfeits des rdtlich werdenden Blau nichts mebr wahrnehmen fonnte, 
Dagegen zur Vertiinderin des Lebens würde, das fics fo lange verborgen diesſeits 
des Hot abfpielte. Beiden gemeinjam wäre die Zone, welche fich zwiſchen den Grenzen 
des Speftrums ausbreitet. 

Was irgend cin eingelner Künſtler fieht, das macht er gum Gemeingut der 
Menfchbeit. Co finnte denn die Welt durch die zukünftige Kiinjtlertitiqkeit der Frau 
um eine ganze Anfchauungsregion ertweitert werden. Und dariiber binaus muß aud) das 
Gefamtbhild ein anderes Ausfeben gewinnen. Striche man einige Farben aus dem 
Regenbogen und könnte man dafür einige neue hinzuſetzen, ſo würden auch die, welche 
befieben blieben, ihre Wirfung auf das Auge verändern. Denn eine Farbe ijt nidt 
durch fich felbft da, fondern fie ijt weſentlich beeinflugt durd) ihre Genojfen. Und jo 
wird aud) der Regenbogen einer künſtleriſchen Weltfpieqelung einen anderen Wusdrud 
annebmen, je nachdem ihm die ſpezifiſch männlich oder die ſpezifiſch weiblich überlegene 
Feinfühligkeit die Ausdehnung nach diefer oder jener Richtung gab. Und jo bebaupte 
id) denn, es wird nidt nur eine perſönlich geftempelte Auffaſſung derfelben Kunft fein, 
wie die Welt fie bisher von den Schaffenden fab, fondern wenn einmal Frauenfraft 
recht ſchöpferiſch tatig fein wird, dann wird es eine andere Art von Kunſt gu fein ſcheinen. 

G3 wire yu viel verlangt, wenn die Art, wie diefe neue Erſcheinung beſchaffen 
fein wird, jest ſchon genau bezeichnet werden follte. Und dod) werden viele mir 


Weibliche Kunft und die Frau als Mäcen. 685 


zuſtimmen, daß jest bin und wieder Dinge fommen, die Manner nidt fo hingeſtellt 
Haben würden. Unfere Ausdrudsmittel diefen Dingen gegeniiber find mur gar zu 
Hilflos. Sonſt müßte man fagen können, worin die ſpezifiſch weibliche Art gu feben 
in der Schilderung der Lagerlof liegt. Oder man miifte die Behauptung gan; 
unangreijbar machen finnen, dah Rate Kollwig cine befonders ſtark frauenbaft 
empfindende Natur ijt. Und zwar wiirde es nicht etwa allein oder auch nur vorzugs— 
weife in der Stoffwahl liegen, durch die wir die Welt unter einer anderen Beleuchtung 
feben, fondern es muh die Urt fein, wie das Geiftige hörbar und dad Körperliche 
ſichtbar gemacht wurde, worin fic) die weibliden Cinpfindungsnerven der Künſtlerin 
verraten. Wortwahl und Sagfonjtruftion dort, Linienfprade und Körpermaße bier 
wiirden darither MAustunft zu geben haben. Denn bisher ijt man mit Unrecht 
mit unkritiſcher Beharrlichkeit von der Anſicht ausgegangen, dah die weichere, 
webmiitigere oder heiterere, aber jedenfalls flacher bewegte Außerung von der 
Brau zu ertwarten fei. Hatte eine Tat Kraft und Tiefe, dann mufte fie von einem 
Manne fommen, oder fie wurde als eine Ausnabme, als eine „männliche“ Leiftung 
der Frau bezeichnet. Wir werden etwas vorfichtiger mit ſolchen Feftitelungen umgeben 
und erjt abwarten miifjen, wie die Künſtlerin der Zukunft fic) ausfprechen wird, und 
wir werden dann, wenn wir einmal ausreichendes Material zur Gegeniiberftellung 
haben, zugleich genauer erfabren, was dag eigentlich mannliche Künſtlertum ijt. Einſt— 
weilen, um dod) zu beweifen, daß ich nicht in die Leere Luft bineinfpreche, cin Vergleich: 

Wie haben die modernen Maler, die vorzugsweiſe das Seeliſche darſtellten, 
Weibtum und Mutterſchaft geſchildert? Ich laſſe die Namen fiir fic) fprechen. 
Millet — CSegantini — Carriére (wenn man ibn mit jenen jufammen nennen foll). 
Die Hobeit deS ganz Cinfacen, die wehmütige Ergebenheit in cin ſchweres Los und 
cine myſtiſche Weidbeit, die fic) vom Sichtbaren aus auf die Empfindung iibertrigt. 
Das ijt die Auffafjung des Manned. Co fieht er die Mutterjdaft. Und ich ftelle 
dem gegeniiber Kite Kollwik mit ibrer Rückſichtsloſigkeit des Elementaren. Und id 
erinnere zugleich an die Auffaſſung von Mutterliebe und ihrer Betdtigung, die 
Ricarda Hud) in der ,, Triumphgafie” fo ohne Weidhlicfeit dar tut. Wird man noch fo 
fidver fein, dah die Frau als Künſtlerin zu der empfindjameren Schilderung neigen muß? 

Sh habe abjidtlich das Thema herangezogen, in dem fich der Unterſchied der 
Auffaffungen notwendig am deutlichften find tun muf, aber es wird feinen eingigen 
Stoff geben, der nicht in andere Beleuchtung fommen müßte durch eine von wefentlich 
anderen Eigenſchaften gefarbte Darftellung. Wie die Mutter und überhaupt ihr 
eigenes Gejcledt wird die Frau aud) den Mann und das Kind anders feben, als fie 
bisher gefdildert wurden. Das Gefchehen der Welt trifft fie unter einem anderen 
Gejichtswinkel, ihr leuchten die Geftirne nicht gleid) Dem Manne, und die Blumen 
haben fiir fie neue Diifte und Liebfofungen. Wie fie das Rind als befonderes 
Cigentum der Mutter auffagt, fo wird fie aud mit einem gefteigerten Berftindnis 
bemerfen, wie der Blick des Vaters auf feinem Sohne rubt. Das alles verjpricht 
Cntdedungen im Bereiche des Menfehlichen, die den uns bisher zugänglichen Ceelen- 
erfabrungen nichts von ibrem Werte nehmen, die fie nur vermebren und verftindlicher 
machen werden. 

Wie foll nun die neue Kunjt, die wie wir hoffen, fommen fol und deren erſte 
Vorboten wir jest begrüßen, ibren Einzug in die Welt balten? Wird man ibr wie 
einer Erwünſchten mit frober Begrüßung willig entgegentommen? Das diirfen wir wobl 


686 Weibliche Munft und die Frau ale Mäcen. 


nidt erwarten. Wie alles Neue wird fie unerfannt und unjdeinbar ibren Cinjug 
halten, durch Nichtbeachtung getrantt, durch Verfermung und Befehdung bedroht. Sie 
wird viel Beit verlieren, indem fie im Schatten kümmert wie Frühlingspflanzen, die 
fic) durch das tote Laub des vergangenen Winters mühſam ans Licht kämpfen müſſen, 
wenn ibnen nicht eine achtfame Gand die Hinderniffe fortrdumt und dadurd den jungen 
Sprofien den Weg zu Sonne und Luft öffnet. Mir ſcheint, es ware nicht unnatür— 
lich, wenn fic) Frauen dieje Beſchützeraufgabe ftellten. Denn es ift nicht zu verlangen, daß 
Manner fie ibnen abnehmen follen, befonders da fie der Frau fo viel leichter werden miifte. 

Denn hier handelt es fich in erjter Linie um die Feinheit des Unterjcheidens; 
wo ijt denn die Betatigung der Frauenfecle und wo ijt nur eine gewandte Anpaſſung 
an die beiliqgefprodenen Werte der männlichen Kunſt? Man miifte vom weiblicen 
Inſtinkt fordern, dah er unbejtecdblid) die Stimme fiir das erbeben wiirde, twas feines 
eigenen Wefens ijt, und daraus die Pflicht folgerte, fic) diefes Ringenden anjunehmen. 
Man follte nicht umſonſt bei diefer Gelegenheit auf die Fürſorge derjenigen rechnen, 
ju deren ſchönſten Ruhmestiteln von jeber der Trieb gezählt wurde, fic) des Hilfe: 
bediirftigen anzunehmen. 

Es gibt gewiß Frauen, welche die Muße und die Mittel haben, Macene zu fein. 
Wenn fie ſich bisher in diefer Richtung betitigten, war häufig ein perſönliches Motiv 
ber treibende Faftor. Man fagt es den Frauen nach, daß fie cine Sache nicht häufig 
um ibrer felbjt willen firbderten, wenn nicht ibre Teilnabme erivorben hatte, wer die 
Sache verfirpert. An fich ware folche menfchliche Crivarmung etwas nur Natürliches, 
aber wir haben leider zuweilen gefeben, daß aud die Sache fallen gelafien wurde, 
wenn in den perſönlichen Beziehungen WAnderungen eintraten. Andererfeits wurden 
oft die menſchlichen Verdienſte des Künſtlers oder auch jufallige gefellfchaftliche oder 
vertrauliche Beziehungen zu ibm über die Qualitdten feiner Leiftungen gejtellt, und man 
ſchraubte ſeine Kunſtanſchauungen auf das Niveau deffen, was der zufällig befreundete 
Menſch leijtete. Will die Frau als Forderer der Kunſt ernft genommen werden, fo 
wird fie dem Guten die Unterjtiigung nicht verjagen ditrfen, aber fie wird mit derfelben 
vorſichtig umgehen müſſen, und fie follte Hilfe unbedingt da veriveigern, wo fein Kunſt— 
interejje in Frage fommt. Denn der Ruf der Frauenfunjt verlangt entichieden eine 
qewiffe Harte gegen das, was fic) dieſe Bezeichnung nur anmaßt. Der Dilettantismus 
fol bingewiejen werden, wohin er gehört, in das Brivatleben, aber man foll ibn nict 
dadurch zur Äberhebung ermutigen, daß man ibn mit Kunſt gleichſtellt. 

Wenn die Frau als Mäcen in ihrer Bilderſammlung, in der Ausſchmückung 
ihres Hauſes der weiblichen Kunſt einen bevorzugten Platz einzuräumen bereit iſt, ſo 
wird ſie ſich gewiß fragen, wie ſie ſich denn dabei ſteht. Wer will es ihr verdenken, 
wenn ſie auch Rechenſchaft darüber wünſcht, ob die Gemälde, die ſie erwirbt, in ihrer 
anderen Art doch gleich hochſtehend ſeien, wie die Werke männlicher Künſtler? Dieſe 
entwickelten ſich, geſchützt von der langen Tradition, kraftvoll, während die weibliche 
Künſtlerin überlieferungslos, da ſie ihr eigenes Innere erſt zu entdecken im Begriff 
ſteht, der Sicherheit oft entbehren wird, die jene auszeichnet. Es gilt da auch jenen 
minder entſchiedenen Naturen zu helfen, welche nicht in dem Neuland gleich die rechte 
Spur finden, wenn ſie nur überhaupt einen Entdeckungszug antreten. Mir ſcheint aber, 
daß zu einem beſonders wertvollen Beſitz gelangt, wer dieſe erſten Taten einer neuen 
Menſchheitsäußerung ſammelt. Cie werden einmal geſuchte Dokumente ſein. Wie 
man, von den Primitiven jeder Kunſt ausgehend, die künftige Entwicklung umſo beſſer 





Weibliche Kunſt und bie Frau alS Mäcen. 687 


verftebt, und umgefebrt aus den reifen Cpoden heraus die erſten taftenden Schritte 
künſtleriſchen Bildens ſchätzen lernt, ſo wird man einmal jeden Verfuch yu felbitandigem 
Schajfen, den die Frau heute unternimmt, mit bejonderer Aufmerffamfeit anfeben. 
Das Weib befindet fich gegenwartig in einem Zeitpunkt ibrer Entiwidlung, der etwa 
bem eines jungen Bolles leicht, wenn es ſeine hiſtoriſche Laufbabn beginnt. Bon 
dem erften Aufſchwung der Menſchheit über das bloße Vegetieren Hinaus wwiffen wir 
nichts. Wo wir durch die Gefebichte Völkerneulinge fennen fernten, oder wo wir yu 
ben tieferen Stufen der heute lebenden Stämme berantreten, iberall finden wir fie 
bereits umgeben von der Mutoritdt einer tiberlegenen Kultur. Wie fie gegen die Nbermacht 
ihre Cigenart zu bebaupten wiffen, danach mefjen wir ibnen unfere Schagung gu. Je 
urfpriinglider die Zeugen folder Selbithebauptung gegeniiber dem Fremden find, dejto 
höher bewerten wir fie. Die Gelebrten bedauern, dak die febnelle Musbreitung der 
höher fultivierten Rajfen die primitiven Außerungsformen des Menſchlichen bald von 
der Erde vertrieben haben wird, fo dah wir von ibnen fein Beobactungsmaterial 
mehr werden fammeln können. Jn gleicer Weife wie dic unentiwidelten Völker findet 
fics das weibliche Geſchlecht von der feitftebenden Kultur de3 männlichen umgeben. 
Die Frau ijt in einer größeren Gefabr, von Ddiefer Autoritdt dauernd überwältigt yu 
bleiben, als irgend ein RNegerftamm von den Weifen gu fitrehten hat. Obgleich der 
Unterfdied jwifcen Mann und Frau — ic) meine natürlich nicht an Intelligenz und 
Fähigkeit, fondern an Charaktereigenſchaften und Perſönlichkeitsinhalt — id) fage, 
obgleich dieſer Unterfcbied zwiſchen den beiden Gefchlechtern der weifen Raſſe größer 
ift als der zwiſchen Weißen und Wilden, fo ijt gerade der Entwicklungsgrad der 
weibliden Intelligenz ein Umftand, der fie fabiger macht zur Vefolqung feines Vor— 
bildes. Um fo intereffanter wird man einmal die erſten Verſuche finden, der Menfchbeit 
jene zweite Form der Kultur zu erobern, welche die Frau der Welt fduldig ijt. 

Mit ihren Geſchlechtsgenoſſinnen, die fich anſchicken, dieſe Pflicht in Angriff yu 
nehbmen, würden Ddiejenigqen fic) cin Verdienſt erwerben, welche veritiinden, was in der 
von Frauen geleijteten Kunft in diefem Cinne das Verheifungsvolle und das Not- 
wendige ijt, Denn man joll nicht glauben, diefes werde fic ja obnebin durcharbeiten, 
wenn ibm dazu die Kraft innewobne. Wiſſen wir etwa, wieviel Leiden von 
Möglichkeiten auf dem Wege der Menſchheit fliegen? Das Vorurteil, dah das Gute 
uniiberwindlich fei, bat fcbon vielem Guten das Leben gefoftet. Sicherlich wird feine 
Proteftion jemals die Genics aus der Erde loden, aber fie fann die Kraft, welche 
jich felbjt beraufrang, vor dem Schidfal ded Crliegens bewahren. Verſtändnis 
ermutigt; der Erfolg bat eine befliigelnde Kraft. Wie oft bat Mutloſigkeit zerſtört, 
was fein Eco fand, weil die Wand im richtigen Abſtande feblte. Vielleicht hatte 
der Schall fonft von Höhe zu Hobe bis in die Ferne getragen werden können. 
Künſtler find felten unfeblbare Beurteiler der eigenen Were. Glauben fie fich 
unverftanden, fo fommt ibnen in einer Stunde des Zweifels leicht ein Zorn gegen 
das Werk felbjt. Da wird ohne Nberlegung vernichtet oder im Beftreben zu beſſern — 
verdorben. Gegen ſolchen Vandalismus follten Frauenwerfe fo viel als möglich 
gefchiigt werden, indem fie in fremdem Beſitz der Laune der Urbeberin entritdt würden. 

Und nod einmal: Manner werden died Amt nur ausnabmsiveife fibernehbmen, 
und darum brauden wir die Frau als Kunſtmäcen. 


1g WR Se 


688 


Cin Crzichungsverein von Clfern in @ngland. 
(The Parents’ National Educational Union.) 


Beridit, erftattet auf dem Jnternationalen Frauenkongrek zu Berlin 


Mrs. E. I. Franklin. 


Nachdrud verboten. - eee 


An England ſtößt man, wobin man fic) auch wenden mag, auf da8 Wort ,, Erziehung’. 
Fy Nan ftann feine Zeitung in die Hand nehmen, fein Gaus betreten, wo nidt 
Erjiehungsfragen in irgend welder Form beſprochen würden. So erfreulich diefes 
Intereſſe ift, fo mug man dod jugefteben, daß in der Hitze der politifden und 
polemiſchen Distuffionen die wahren Aufgaben der Erziehung leider oft aus dem Auge 
verloren werden. In dem Vereine, den ic) heute yu vertreten die Chre babe und dem 
ich alS Mutter fo viel verdanke, lenfen wir hauptſächlich die Aufmerkſamkeit auf dic 
Erziehung, fofern fie fics mit der Charafterbilbung befchaftigt, und auf den Cinflug 
der Eltern, und gwar beider CEltern auf das heranwachſende Kind. Wir beſchäftigen 
uns mebr mit der Erziehung als mit dem Unterricht, mehr mit dem Elternbaufe (dem 
Lebensfreife, den man bei uns ,home“ nennt, und der durch ein deutſches Wort nidt 
ganz umfecbrieben werden fann), mehr mit dem Clternbaufe als mit der Schule. Damit 
will id) nicht gefagt baben, dak wir den Cinflug der Schule im geringften unter: 
ſchätzen. Im Gegenteil, wir nehmen Lehrer und Lehrerinnen nur ju gern als Mit: 
qlieder unſeres Vereins auf und hoffen dadurcd ein Sufanunenwirfen von Eltern und 
Lehrern ju erjielen, das beiden niiglich fein mug. Wir verſuchen aud) die Aufmerkſam⸗ 
feit der Eltern auf Unterridtsfragen zu lenken, damit fie Die Methoden verſtehen und 
wirklich verfolgen finnen, nad denen man ibre Kinder unterrichtet. Aber die Grund: 
lage unjerer Arbeit bildet die Aberzeugung, dah es hauptſächlich die häusliche Erziehung 
ijt, Die den Charafter des Kindes und durd) ibn den Charafter der Nation bejtimmt. 
Was verftehen wir unter dem Worte Charatter? Gemiit, Geijt und Phantaſie 

find Naturanlagen; ehe der Charafter aber errungen werden fann, müſſen dieſe Natur: 
anlagen von den durch alle Sinne und von allen Seiten berbeijtrémenden Einflüſſen 
durchdrungen werden. Welcher Art mun diefe Einflüſſe fein follen, liegt größtenteils 
in der Eltern Macht zu entjdeiden. Zuerſt müſſen wir uns flar madden, dah die 
Kinder in gewiffem Sinn das fein werden, was wir felber find; dah unſer Charafter 
auf der Grundlage vererbter Anlagen und Cigentiimlichfeiten auf fie einwirft. Was 
wir find, ift obne Zweifel weit widhtiger als was wir ſagen und tun. Die erſte 
erziehliche Aufgabe der Cltern ijt die Arbeit an fich felbjt, um ſich gang mit dem 
Bewußtſein ibres heiligen Amtes und ibrer Verantivortlicteit zu durchdringen. Wir 
haben gewiſſe Inſtinkte, wie unfere Kinder bebandelt werden jollen; wir baben die 
große Liebe, die jedes Kind als fein Geburtsredt beanſprucht; das geniigt aber nidt. 
Man weiß heutzutage viel von dem Zujammenwirfen des Körpers und des Geiſtes, 
pon den Gefegen der Charafterbildung, won der CSeelenlebre und Phyſiologie, der 
Heranbildung unſerer Lebensgewohnheiten. Yn der ,,Parents’ Union* beftreben wir 
uns, fo viel wie miglich daraus ju lernen, um unferen Pflichten voll geniigen ju können. 
Die Reit der Inſtinkte ijt vorüber, Dilettanten duldet man auf feinem — ernſter 
Arbeit mehr. Wir meinen, daß der Elternberuf nicht der einzige ſein darf, für den 
man keiner Bildung bedarf. Wir wollen unſere Erfahrung nicht erſt durch Experimente 
an unſerem Alteſten erkaufen, und womöglich dabei der uns von Gott anvertrauten 


— 


Gin Erziehungsverein von Eltern in England. 689 


Seele unfereds Kindes Schaden jufiigen. Wir verjuchen, uns die Tragweite ded 
Gedankens flar 3u machen, daß durch unrichtige Behandlung alles verdorben werden 
fann, wo riditige Behandlung Vollkommenheit ergielt hatte. Das Leben wird von 
Taq yu Taq febwieriger; man eriwartet mehr von uns, und wird von den Kindern 
nocd mehr erwarten, wenn fie fpater ibre Stellung als Weltbürger würdig ausfiillen follen. 

Diefer Überzeugung verdanft die P. N. E. U. ihr Entiteben. Die Erziehungs— 
philofopbie, die Charlotte Mafon, ibre Gründerin, in verfchiedenen Biichern Home 
Education® ,Parents and Children“ uſw. entwidelt bat, dient ibrer Urbeit als 
Grundlage. Der Verein hat fich, wenn auch im jtillen, raſch und ſtetig vergrößert. 
Wir zählen jest über 2000 Mitglieder in 35 Zweigvereinen in Grofbritannien und 
den Kolonien. Ich fenne die Verbaltnijje in Deutſchland nicht geniigend, um beurteilen 
yu finnen, of ein folder Verein hier Anklang finden würde, aber bei und ift er eine 
einflußreiche Macht geworden. 

Ich komme foeben von unferem achten Jahreskongreß, der in Edinburg gebalten 
und von unferen Prafidenten, Lord und Lady Wberdeen, eröffnet wurde. Er vereinigte 
viele der bedeutendjten Denfer unferes Landes: berühmte Arzte, Geiſtliche, Schulleiter uſw. 
kamen aus nab und fern, wm vor zirka 300—400 Zuhörern — meijtens Eltern — 
zu reden.') Bon der Aberzeugung durchdrungen, daß aud) fie viel lernen fonnten, 
zeigten ſich Diefe Fachleute gerne bereit, denen gu helfen, die ihred Beijtandes bedurften 
und ibn wünſchten. Cie batten vollfommen eingefeben, daß heutzutage die Pflichten 
der Eltern mit dem Sablen des Schulgeldes nicht zu Ende fein dürfen. Unſere 
verſtändnisvolle Mitarbeit, unfere Kritif wird verlangt; unfere beftimmende und aus: 
ſchlaggebende Macht fiber des Kindes Charakter wird von der pädagogiſchen Wiſſen— 
ſchaft gewertet. Wir ditrfen nicht faumen, daraus erwachſenden Anforderungen yu 
geniigen. 

In unſeren Sweigvereinen veranftalten wir monatlide Borlefungen und 
Distufjionen fiber die fdrperliche, geijtige, moraliſche und religidfe Erziehung der 
Kinder. Wir haben eine niigliche Monateſchrift ,The Parents’ Review", eine Leib: 
bibliothe® von padagogijden Werken; wir veranitalten Ausfliige, um den RKleinen 
Liebe und Verſtändnis fiir die Natur einjuflopen. Ferner halten wir einfache Vor— 
lefungen fiir Rinderfrauen (denn in England werden die Kinder zu viel den Kinder: 
frauen itberlafjen), ſodaß diefe cinen Begriff von der Heiligfeit und Verantwortlicfeit 
ihres Berufs befommen können. Auch eine Erjichungsanjtalt fiir Lebrerinnen haben 
wir begründet. Wer fic fiir die Tätigkeit unfered Verbandes intereffiert, fann in 
unjerem Bureau, 26 Victoria Street, London, jede nähere Austunft erlangen. 


) Es ijt fiir unfere deutſchen Lefer gewiß interciiant, durch das Programm dieſes Kongreſſes 
einen Eindruck von dem Arbeitsfrets ded Verbandes zu erhalten. Wir laſſen es deshalb hier folgen: 
Friday, 27th May— Evening, 8.80. Opening Meeting. The Earl of Aberdeen in the 
Chair. — ,The Education of Character. Dr A.T. Schofield, London, — ,Nature and Nurture.* 
Professor J. Arthur Thomson, M. A., Aberdeen University. — Saturday, 28th May— Forenoon, 
10. 30. The Countess of Aberdeen in the Chair. — ,Normal Growth in School Age.“ Dr Leslie 
Mackenzie — ,Nervous Diseases and Symptoms of the School Age.“ Dr Clouston, President, 
Royal College of Physicians. — Developmental Exercise at School.“ George Smith, M. A. 
Oxon., Headmaster of Merchiston Castle School. — Monday, 30th May— Forenoon, 10. 30. 
Mrs Franklin in the Chair. — ,Relation of Home and School.“ Paper contributed by Dr Burge, 
Headmaster of Wiochester College. — ,Parents and Lessons.“ Mrs Clement Parsons, London. — 
„Ou the Teaching of Mathematics and its Place in General Education.* T. J. Garstang, M. A., 
Science Master at Bedales School. — Afternoon, 2.30, Mrs Howard Glover in the Chair. — 
»Some Hints for Reading with our Children. Dr Alexander Whyte. — Field Excursions in 
Relation to Nature Study.“ Dr R. Stewart Macdougall, M. A., Heriot- Watt College. — ,The 
Educational Value of the Habits of Observing Nature.“ Rev. ‘Canon Rawnsley. — „The Place 
of Music in Education.“ Professor Niecks, Mus. D., Edinburgh University. — An Ambleside 
Kvening. A Paper on ,Scottish Ballads* (with Ulustrations). By a Former Student at the 
House of Education, Ambleside. — Tuesday, 31th May— Forenoon, 10.30. ,Training in the 
Service of Man.“ J, Lewis Paton, M. A., Highmaster of Manchester Grammar School. — +The 
Modern Girl’s Demand for Work.“ Miss Bannatyne, Glasgow. — ,Children and National Ideals.“ 
Arthur Sherwell. — Afternoon, 2.30. Meeting in co-operation with the Scottish Mothers’ 
Union. — ,A Vital Edacation.* Mrs Clement Parsons, London. — ,Some Good Gifts for 


Children.“ Rev. Dr Hunter, London. — ¢ 


44 


690 Gin Erziehungsverein von Eltern in England. 


Unſere ganze Tätigkeit aber fteht, wie ſchon erwabnt, auf dem Boden beſtimme 
pädagogiſcher Anſchauungen, deren Leitgedanfen ich gern flüchtig andeuten mode 
Wir glauben, daß Kinder als Heine Perſönlichkeiten geboren werden; weder als fdor 
Blumen, nod als Engelchen oder Teufelchen, ſondern als menſchliche Weſen; abgeſebe 
von ihrem Mangel an Welterfahrung, kaum von uns verſchieden. Cie werden wede 
vollfommen gut, nod) durdaus böſe geboren, find aber des Guten fowie Des Bojer 
fähig, und die Entiwidlung diefer Fabigkeiten ijt jum großen Teile von uns abbangia 
Wir fordern die Cltern auf, an fic felbjt gu glauben und ibre Mutoritat met 
abzutreten. Wir ſchärfen unferen Mitgliedern ein, daf man dem Nervertfettem der 
Kinder die Erregung des beftindigen Disfutierens und Fragens nicht erlauben Dart 
Sie miijjen von den Kindern den frohlich-bereiten Geborjam verlangen, den man cine 
geachteten und gelichten Autorität gerne leiftet, der einer Stiige gleicht, an Die fd 
eine jarte Pflanze fejtflammert, und der von dem erjwungenen Weborjam, Den Der 
Autofrat erheiſcht, himmelweit entfernt ijt, Wenn wir als Autoritat den Kindern 
mit der rubigen, vollfommen felbjtficheren Erwartung ibres Geborjams gegenüber— 
treten, werden wir von ihnen erreichen, was wir verlangen. Wir achten die 
Perjonlichfeit des Kindes und ſuchen es weder durd) Furcht nocd durch Liebe zu 
beeinflufjen. Unfere Achtung verbietet uns, von feinen Feblern gu denfen, daß „e— 
ja nichts ſchadet“, dak „es fic ſchon von felbjt geben wird” und ,dah es feine 
fleinen Unarten mit der Zeit auswachſen wird’, Wir machen es uns zur Regel, 
nie im Beijein der Kinder etwas yu fagen, was fie nicht hören oder bebaltert follen. 
Wir unterlajjen alle Bemerfungen über ibre dicen Beinchen oder hübſchen Vocken— 
köpfe; wir lachen nicht iiber ihre Sprechverfuche, fur3 und gut, wir bemühen uns, 
fie eben jo wenig durch Mangel an Lebensart und unhöfliche Manieren zu verlesen, 
wie wir die} von ihnen Ddulden würden. Dies wird keineswegs die natitrliden 
Beziehungen zwiſchen Cltern und Kindern ſtören. Wir feben in unferen Kindern 
weder ,, Studienobjefte”, noch Spielzeug, mit dem man ſich amiifiert, vielmebr We fen, 
die unferes Beiftandes und unjerer Erziehung bediirfen. Unjer Dichter Matthew 
Arnold fagt: ,Education is an Atmosphere, a Discipline, a Life* (Crjiehung ijt cine 
Atmoſphäre, eine Disziplin, ein Leben), und dieſe Worte haben wir zum Motto gemablt. 

Wenn wir fagen, dah „Erziehung eine Atmoſphäre ijt”, meinen wir nicht, dap 
das Rind in eine feinem Alter bejonders angepafte, vom häuslichen Leben getrennte, 
fiinjtliche ,,Rinder-Umgebung” verfegt werden foll, fondern dak wir den Erziehungs— 
wert feiner häuslichen Atmofphare in Betracht ziehen, ſowohl hinſichtlich der Perfonen, 
wie der Gegenftinde, und dak wir es frei unter natürlichen Umſtänden leben Laffer. 
Es verdummt ein Kind, wenn man fich fortiwabrend ju ibm berablaft und fic ibm anpage. 

Der Sag , Erziehung ift eine Dissiplin” bezeichnet uns die Schulung der Ge: 
wobnbeiten, die, migen es körperliche oder geijtige fein, mit Beftimmtbeit und Sorg— 
falt ausgebildet werden ſollen. Phyfiologen belebren uns über die Anpafjung der 
Gehirnſubſtanz an die oft wiederbolten Gedanfenginge, d. h. an unjere Gewobnbeiten. 
Se mehr wir einfeben, wie wir in unferen Rindern Güte, Selbſtloſigkeit, Freundlichkeit 
in Wort und Tat, ebenfo wie Reinlichfeit, Ordnung, Pünktlichkeit ufw. zu ſelbſt— 
verftdindlichen Gewobnheiten machen können, deſto mebr erfparen wir uns die nuglofe 
und ermiidende Arbeit des beftdndigen Ermahnens, Scheltens und Befeblens. Es liegt 
cine tiefe phyſiologiſche Wahrheit in dem deutſchen Sprichwort, das, wenn ich mid 
nicht irre, fo lautet: ,,im Sommer lernt man Seblittichublaufen, im Winter ſchwimmen“. 
Das Gebirngewebe wächſt und verändert fich, uns felber unbewupt, um fic den neuen 
Anforderungen anzupaſſen. 

Von befonderer Wichtigkeit — wenn es mir geftattet ijt, bier etwas eingebender ju 
werden — ijt Dabei das Verſtändnis dafiir, wie der Wille arbeitet. 

Wir miijjen unfere Kinder Selbſtbeherrſchung und Selbſtdreſſur lehren, damit 
fie freie Menſchen werden, die ihren Willen in ibrer Gewalt haben; eigenwillige 
Menſchen find Sflaven ibrer Leidenfechaften und Begierden. Um dies zu erzielen, 
follten wir uns bewußt fein, daß, wenn man ein Rind lebrt, das Rechte yu tun, man 
es zu gleicher Beit Iebrt, das Boje yu unterlafjen; man darf keinen Febler wadsjen 





Gin Erziehungsverein von Eltern in England. 691 


fafjen und dann fpater verſuchen, ifn durch Strafen auszurotten, man mug ibn von 
Anfang an im Keime erftiden. Wir wiffen aus eigner Erfabrung, dap wir die böſe 
Lat nur durch Vermeidung böſer Gedanfen verhindern können. Das gan; Eleine Kind 
fann jfeine eigenen Gedanfen nocd nicht leiten, und wenn es in Verſuchung fommt, 
etwas Unrechtes zu tun, müſſen wir ihm hilfreich beijteben und ibm friſche Intereſſen 
verfdajfen. Go wird ¢3 die Gewohnheit der Selbſtbeherrſchung erwerben, und den 
Unterſchied swifehen dem Wunſche „das möchte ich wohl’ und dem Entſchluß „das 
will ich aber nicht“ erlernen. — Ein Teller Obſt iſt auf dem Tiſche, das Kindchen auf 
unſerem Arm. Es will das Obſt haben. Es nützt nichts, nur „nein“, „nein“ yu 
ſagen und es, wenn es fortfährt, danach zu weinen, vielleicht zu ſchlagen, oder es 
heulend davonzutragen; wir müſſen klar und nachdrücklich „nein“ ſagen, ſodaß es 
weiß, daß damit „nein“ gemeint ijt, und dann müſſen wir ſeine Aufmerkſamkeit auf 
etwas anderes lenken, die Blumen auf dem Tiſche, das Schlüſſelbund, oder ſonſt etwas 
ebenſo Bezauberndes. Das Kind merkt nicht, in welcher Weiſe es geleitet wird; wenn 
es das merkt, ſo iſt unſer Verſuch durch unſere eigene Ungeſchicklichkeit mißlungen; 
jedoch in fein Bewußtſein gedrungen ijt der Begriff: „nein“ heißt „nein“, und fein 
Verlangen nach dem Verbotenen ijt nicht durch ein Widerjtreiten der beiderjeitigen 
Willen gereiszt worden. Späterhin, wenn der heranwadjende Knabe an dem ver: 
lockenden Schaufenfter der Nonditoreien ſtehen bleibt, wird er fein Verlangen, binein- 
augeben, beherrſchen können. Cr wird wijjen, daß gegen die Verſuchung, etwas Un— 
rected zu tun, die bejte Hilfe darin bejtebt, jeine Gedanfen auf etwas Intereſſantes 
und Grlaubted ju lenfen. Außerdem wird fic der Cindrud einer bekämpften Ver— 
fuchung mit den Fajern feines Charafters verwadjen und mit feiner Gehirnſubſtanz 
verwebt haben. Es liegt auf der Hand, wie dies den Trieh zur Trunfjucht und 
anderen leidenſchaftlichen Begierden beeinflujjen wird. — 

In den Worten ,, Erziehung ijt ein Leben” liegt fiir uns die Wahrheit, daz 
der Geijt fic von Jdeen, wie der Kirper von phyſiſchen Lebensmitteln nabrt. Wir 
dürfen ibn nicht verhungern laſſen, fondern müſſen ihm ein umfajjendes Ideenmaterial 
als Nahrung darbieten. In England ſind wir uns bewußt, daß unſere Schulpenſen 
zu einſeitig ſind; ich glaube, daß in Deutſchland der Schulunterricht einen aus— 
gedehnteren Gedanken- und Intereſſenkreis umfaßt. Um mun dieſem Spezialiſieren in 
den Schulen entgegenzuwirken, muß das Elternhaus während der erſten Kinderzeit, 
wenn die Kinder uns ſo ganz angehören, und ſpäter neben der Schule, ſie mit dem, 
was die Schule ihnen nicht gibt, dem Beſten in Kunſt, Muſik und Literatur bekannt 
machen. Wir wirken auf die Eltern ein, daß ſie ihren Kindern die beſten Bilder 
zeigen, ſie die beſte Muſik hören laſſen, und ihnen die beſte Proſa und die ſchönſten 
Dichtungen laut vorleſen. Wir ſehen ein, daß zur wahren Erziehung viel mehr gehört, 
als das Einpfropfen von totem Leitfadenwiſſen über allerlei Gegenſtände. „Erziehung“ 
öffnet die Pforten, durch welche man in die Welt eintritt, ſie ſtillt den angeborenen 
Hunger nach dem Großen und Guten. 

Natürlich bleibt es trotz aller Prinzipien keine leichte Aufgabe, jedem neuen Fall 
gewachſen zu ſein — das Kind iſt, wie ich ſchon geſagt habe, eine kleine Perſönlichkeit — 
wir haben mit einer menſchlichen Seele zu tun, die ehrfurchtsvoller und zurückhaltender 
Behandlung bedarf. Unſer Verein kann deshalb nicht darauf Anſpruch machen, fertige 
Rezepte zu verteilen, wie man einen Menſchen bildet; es wäre traurig, wenn er das 
tun wollte. Wir können unſeren Mitgliedern nur unſere Grundſätze darbieten, die ſie 
in ihrem eigenen Leben und in ihrem eigenen Heim ausarbeiten mögen. Selbſt mit 
aller erworbenen Erkenntnis ijt unſer Amt das allerſchwierigſte, das es gibt. Wenn 
wir bei dem Werke, unſere Kinder für den Kampf des Lebens ausrüſten zu wollen, getroſt 
und guten Mutes bleiben ſollen, haben wir beſtändiges Gebet, beſtändige Liebe und 
beſtändige Geduld nötig. Dann dürfen wir vielleicht hoffen, daß die Welt durch unſere 
Arbeit und durch unſer Streben ein wenig beſſer und glücklicher werden wird. 


— 


44* 


692 


Marie Mellien 7. 


Nachdruck verboten. — — 


ls die Sektion fiir ſoziale Fürſorgetätigkeit und Wohlfahrtseinrichtungen auf dem 
y internationalen Frauenkongreß über Gefangenen-Fürſorge verhandeln wollte, 
erreichte ſie die Nachricht, daß die eine der beiden deutſchen Vertreterinnen 
dieſes Gebietes, Fräulein Marie Mellien, durch den Tod an der Teilnahme, die ſie 
zugeſagt hatte, verhindert ſei. Wie der Kongreß ein Geſamtbild der Frauenbewegung 
und der ſozialen Frauenarbeit geben ſollte, ſo bedeutet die Lücke, die der Tod in ſein 
Programm geriſſen hat, zugleich eine Lücke in dem großen Arbeitsgebiet, das die 
deutſche Frauenbewegung umfaßt, und wir dürfen ſagen, eine Lücke, die nicht obne 
weiteres wieder auszufüllen ſein wird. Iſt doch angeſichts der immer noch ſo geringen 
Hilfskräfte, über die wir verfügen, jede Frau, die mit wirklicher Sachkunde und auf— 
richtiger Hingabe auf einem Cinjelqebiet arbeitet und dod jugleid das Ganze der Be— 
wegung geiſtig iiberfieht, von unſchätzbarem Wert. 

Cine ſolche Mitarbeiterin in unjerer Cache war Marie Mellien. Bon Haus aus 
Lebrerin, beſaß fie ein auferordentlich vieljeitiges Wiſſen und eine Menge ebenjo 
lebhafter als ernſter geiſtiger Intereſſen. Sie bat dadurch der Frauenbewequng in 
Berlin, wo ſie als Schriftführerin des Berliner Frauenvereins lange Jahre tätig war, 
als auch dem weiteren Kreiſe der deutſchen Frauenbewegung manchen Dienſt geleiſtet. 
Durch Aufſätze und Broſchüren, mit denen ſie hier und da kräftig und klar in den 
Kampf für unſere Sache eingriff, iſt ſie von Anfang an für die Frauenbewegung in 
jenem hiſtoriſch klarſichtigen, ruhig aufbauenden Sinne eingetreten, dem allein der 
wirkliche Fortſchritt und der endliche Sieg unſerer Sache ſicher ſein wird. Für 
Einzelgebiete der weiblichen Erwerbstätigkeit, den Apothekerberuf, die Stenographie, 
hat ſie beſonders gearbeitet. Der Vergangenheit der Frauenbewegung gehörte ihr 
lebhaftes Intereſſe, und ſie hat in manchem kleinen Aufſatz beſonders die Frauen— 
bildungskämpfe des 18. Jahrhunderts beleuchtet. 

Die Gefangenen-Fürſorge war nur eines, aber das hauptſächlichſte der vielen 
Cinjelqebiete, auf denen Marie Mellien tatiqg war. Und man fann wobl fagen, daß 
fie bier Das Verdienjt ciner Pionierin nnd Babnbrecerin beanfpruchen darf. Cie bat 
es erreicht, daß in Berlin einer Kommifjion von Frauen des Berliner Frauenvereins 
jeiten3 des Juſtizminiſteriums die Erlaubnis gegeben wurde, die weiblichen Gefangenen 
zu beſuchen und ſich wabrend der Beit ibrer Gefangenſchaft ibrer angunebmen, um 
dadurch Die Vorbedingungen einer wirkſamen Fiirjorge nach der Entlaſſung zu ſchaffen. 
Unermüdlich hat ſie als Mitglied und Leiterin dieſer Kommiſſion die einmal über— 
nommenen Pflichten ausgefüllt und immer noch erweitert. Sie hat dann auch in all 
den Zweigen der ſozialen Fürſorge gearbeitet, die mit dem Schickſal der Gefangenen, 
vor allem des jugendlichen Verbrechers, in irgend einer Weiſe in Beziehung ſteben. 
Die Vereine gegen die Mißhandlung von Kindern, der freiwillige Erziebungsbeirat, 
alle die Vereine und Einzelperſonen, deren reger Tätigkeit wir die Einführung der 
Zwangserziehung verdanfen, baben aus ibren Erfabrungen guten Rat und aus ibrer 
warmen Begeifterung fiir ibre Sade Mut und Zuverſicht ſchöpfen können. Cin weites 
Gebiet menieblicher Hilfstatigkeit, echter Fraucnarbeit, das ihre Intereſſen umfpannten, 
mug nun ihrer ftets bereiten Tatfraft, ibrer fiir jeden Schritt vorwärts leicht ju 
gewinnenden Initiative entbebren. 

Ihre Arbeit auf diefem, wie auf allen anderen Gebieten wird aber unvergeſſen 
fein. Sie wird ſich der Erinnerung aller Dever, die bier wirkliches Intereſſe einſetzen, 
immer wieder aufdrangen aus den Erfolgen, Die file qebabt bat, aus dem Vergleich 





ao 


Criverbstitigheit. 693 


zwiſchen dem, twas cinft war und was jest ift, aus der lebendigeren Aufmerkſamkeit, 
Der ſachverſtändigeren Hilfe, die jebt da eingefest wird, wo Marie Mellien die erften 
Unrequngen gegeben, Die erſten Kräfte geworben bat. Und auch der weitere Rreis 
Der deutſchen Frauenbewegung wird ibren Namen in der großen Reihe derer auf— 
— die durch gewiſſenhafte Arbeit unſerer Bewegung die feſten inneren Grund— 
lagen ſchaffen halfen. Hy; 


PIC 


Erwerbstatigkeit. 


Konigl. Handels« und Gewerbeichule bietet bie Schule die mannigfadfter Ausbildungs— 
fir Madden 2 zu Potsdam. | gelegenbeiten in den verichiedenften praktiſchen 
Radhbrud verboten. Berufen. 

Die feit linger als 10 Jabren in Potsdam So befteben in der Gewerbefdule befondere 
beftebende Hausbaltungs:, Kod: und Induſtrieſchule Kurfe fiir 1. cinface Handarbeit, 2. Maſchinenähen 
ber Fraulein Juſt iſt anfangs April vom Staate | UN Wafdeanfertigung, 3. Schneidern, 4. Putzmachen, 
iibernommen und zu einer Königlichen Gandels. | 5. Kunfthandarbeiten und Zeichnen, 6. Waſchen 
und Gewerbeſchule fiir Madchen erieitert worden, | und Platten, 7, Roden und Vaden, 8. Zeichnen 

Die Schule tft dic dritte ihrer Urt in Preugen und Ralen, iiber deren Unterridtédauer und bas 
und in erfter Linie dazu beftimmt, dad Gewerbe- hierfür im einzelnen feſtgeſe dte Schulgeld das 
ſchulweſen für Mädchen in den mittleren Programm naheren Aufſchluß gibt. 

Provinzen unſeres Staates zu fördern und ſeine gir Mädchen, welche fic) dem Handelsfache 
Weiterentwidlung dure Ausbilden geeigneter Lehr: | widmen wollen, ijt cine Handelsſchule mit zwei 
frifte vorjuberciten, wodurd fie den Rang einer Abteilungen beftimmt, in welchen die Schülerinnen, 
Zentralanſtalt gewinnt. Sie umfaßt Abteifungen | it nach ihrer Vorbiloung, entipredende fadhliche 
fiir die Erlernung des Haushalts, fiir dic Aus: | Unterweifungen erhalten, Zum Bejuch ber einen 
bilbung in gewerblicen Berufszweigen und ju Abteilung, der Handelsſchule, wird nur ein Alter 
faufmannifden Betrieben, fowie fiir die Aus: | von fünfzehn Jahren und Volksſchulbildung verlangt ; 
bifbung von Lebrerinnen an gewerblicen | zum Beſuch der anderen Abteilung, der höheren 
Mädchenſchulen und verbindct alſo eine Reige wich. | Handelsfdule, muß das 17, Lebensjabr guriid: 
tiger Aufgaben, die der Frauenwelt teils neue | gelegt fein und der erfolgreiche Befuch ciner höheren 
Gebiete crdffnen, teils alte erhalten follen. Tochterſchule bezw. Mittelſchule nachgewieſen werden. 

Als vornehmſten und wichtigſten Unterricht ſtellt Das Schulgeld für die erſtere betragt 50 Mark, 
die Schule in ihrem Programm die Aneignung der für die letztere 70 Mark halbjährlich, die Kurſusdauer 
zur Führung eines guten Hausweſens er- ſelbſt je ein Jahr. 
forderlichen Fertigkeiten und Kenntniſſe an die Spige. | Ebenſo erjreulich ift es, daß mit der Schule cin 

Dic Ausbildungsdauer in der Haushaltungs: | Seminar zur Ausbildung von Handarbeits:, Koch-, 
ſchule betriigt ein Jahr; in diefer Beit werden | Hauswirtidafts- und Gewerbefdullehrerinnen 
junge Wadden gegen ein Schulgeld von 150 Mart | verbunden ift und damit nod) cine andere Gelegenbeit 
fiir den ganzen Kurſus im Rochen, Walden, Platten | für Madchen, fic) gu einer ſicheren Lebensftellung 
fowie in der Führung de3 Hausweſens unterrichtet | die Kenntniſſe aneignen gu können, geboten wird. 
und in den cinfaden Handarbeiten, int Nabhen, Für auswärtige Schülerinnen beftebt ein 
Stopfen, Maſchinenähen rc. angeleitet. Außerdem Penſionat, in welchem fie nicht nur cin an— 
wird nod cin ergänzender Unterricht im Deutſchen, genehmes und geſundes Heim, ſondern aud cine 
Rechnen, Zeichnen, Gejang und Turnen nebft liebevolle und doch ſtreng geregelte Erziehung finden. 
Belebrungen in der Gefundheitslebre, Kinder und | Der Penfionspreis betriigt 1000 Mark jährlich. 
Sranfenpflege erteilt. Anmelbungen werden im provijorifden Schul— 

fiir jene Madden und Frauen, welchen die | gebäude, Moltteftrake 4, entaegengenommen, ded: 
Griindung eines cigenen Hausftandes verfagt bleibt, | gleiden wird dort jede Austunft erteilt, 


oh 








(4 





Der Diiffeldorfer Franentag 


wurde am 23. Sunt von Frau Profeffor Krulen— 
berq-Kreugnad, der Leiterin der Tagung, mit 
folgenden Worten eröffnet: 
arbeitéreichen Tagen, dem grofen internationalen 
Berliner Frauenfongreh; aber auch diejenigen blicken 
auf arbeitéreiche Tage zurück, welche die Diiffel: 
dorfer Verſammlung vorbereiteten. Jedoch nicht 
alg Mühe und Laft wollen wir unjer gemeinfameds 
Tagen empfinden. Es ijt das alte Vorrecht der 
Frau, aud die Arbeit durch Anmut und Schönheit 
gu aden, es ift das Privileg des Rheinländers, 
aud am Alltag Feiertagsgewand angulegen, in 
Feiertagsſtimmung froh ſeine Pflicht zu erfiillen. 
Trigt dod auc) die Natur in unferen rheiniſchen 
Landen leuchtend ein ſchönes Gewand, obwohl fie 
Werte bervorbringt, obwobl darin gearbeitet twird 
ebenfoviel oder mebr noch wie in anderen Teilen 
unferes deutſchen BVaterlandes. Freude und Schonbeit 
nicht iiber Mühe und Arbeit zu vergeffen, tft bei 
unjerer Tagung befonders am Plage. Handelt es 
ſich doch darum, fiir die Frau zwei Arbeitsgebiete 
umzugeſtalten, dic fie in engſte Fühlung bringen 
mit dem, was uns alljeit die befte Crquidung be— 
deutet, alS Gartnerin, als Landiwirtin mit der 
Natur, als tunjtgewerblid ober Hinftlerifd tatige 
Frau mit der Kunft. Gartenbau und Kunſt haben 
ſich in Diiffeldorf zu einem Ganjen  vereinigt, 
Wartenbau und Kunſt fuchen aud das Intereſſe 
der Frauen zu erweden, fucken fie angujpornen, 
fic) in ibre Dienfte gu ftellen. Männer erbaten 
diefe Verſammlung. Laffen Sie uns zeigen, dag 
wir Frauen immer und ganz jur Stelle find, 
wenn der Mann unferer zur gemeinfamen Arbeit 
fiir die Wobhlfabrt und fiir die Beredelung unfered 
Bolkes bedarf. 

Mad einer Reihe von tweiteren Begriipungen 
bielt Frau Marie Wegner: Breslau einen febr ein: 
achenden Gortrag über: „Schul- und Arbeitergarten”. 
Pret GefichtSpuntte feien eS, welche Veranlaſſung 
acben, die Ugitation fiir die Schulgärlen aufyunehmen 
und die Errichtung von Arbeitergdrten und Yauben- 
folonien in Stadt und Land gu befiirworten: 1. Die 
enorme, viele Millionen umfaffende Einfuhr von 
Obſt und Gemiife nad Deutſchland, 2. die mangel- 
bafte BollSernabrung und die Volfsgefundheit in 
den Stadten und 3. das Zuſtrömen der ländlichen 
Urbeiter, befonders der Frauen in bie Stabte und 
ibr Erſatz durch minderwertige Arbeitskräfte aus dem 
Auslande. Die Referentin forderte die Cinfiibrung 
yon Schulgärten an jeder Schule, ihrer natur- 
wilfenicbaftlichen, fittlid-ergicberijden, hygieniſchen 


Wir fommen von | 


und volkswirtſchaftlichen Bedeutung wegen, damit 
gum Heile Deutſchlands fic) Roſeggers Worte er: 
fiillen: „Aus der Scholle ſprießt die Kraft fiir den, 
der fie beriibrt und fiir bie ganze Welt.“ 

Die Vortragende erntete fiir ihre feffelnden 
Ausführungen [ebbaften Beifall. 

Frau Lang: Aweibriiden ſprach hiernach iiber 
das Thema Alfobol und Objtverwertung. Sie 
wandte fic hauptſächlich an die Frauen; in thren 
Händen liegt unfere gange Sufunft, in ibrer Cigen: 
{daft als Mütter baben fie ben gréften, weit 
tragendfien Cinfluf auf die fommende Generation. 
Um bem Alloholgenuß zu fteuern, tritt bie Bor: 
tragende fiir alfobolfreie Getränke ein. Auch die 
Ernabrungsiweife miiffe beffer geregelt werden. 
Fleiſchſpeiſen reigen den Durft, an ibre Stelle 
miiften vornebmlich Gemiife und Obft treten. Hat 
fic erft überall die Erfenntnis Bahn gebrocben, 
daß gerade in ber verfdicbenartigen Verwertung 
ded Obſtes cin cintraglider Beruf der erwerbstätigen 
Frauen gefunden ijt, jo werden fich die aegenfeitiqen 
Intereſſen begegnen, und die beute aufgeftellten 
Forderungen werden yu ibrem Rechte fommen. 
Gin [ciftungsfabiges, geſund empfindendes Geſchlecht 
wird heranwachſen, dad den Miittern danfen wird, 
daß fie dic Errungenfebaften modernen Forſchens 
allen alten Uberlieferungen jum Tro mutig in ibr 
Haus und in des Haufes Heiligftatt, die Kinder: 
ftube, getragen haben, 

Fraulein Erdmann: Godesberg referierte über 
bie neu gu errichtende Gartenbaufdule fiir Frauen 
in Godesberg, deren Leitung fie fibernebmen wird. 

Tarnad ead) Fraulein Auguſte For fter-Cajiel 
über die Anfiedlung der gebildeten Frau auf 
dem Gand. Es banbelt fic) um eine Ubertragung 
ber Idee der Social Settlements auf das Land, 
gu ber fie in der Nabe von. Caffel cinen Verſuch 
gemacht bat. 

Daran ſchloſſen fic nod Vortrage von Fraulein 
de Leeuw- Holland über den Einfluß der Frau auj 
die Landſchaftsgärtnerei und Fraulein Dr Castner 
iiber den Gartenbau in hygieniſcher und vollswirt 
ſchaftlicher Bedeutung. 

Der gweite Tag der Verbandlungen gebirte der 
Stellung der Frau yur Kunſt. Nach einer Rede 
in engliſcher Sprache ber Mrs. Pauls, die die 
Spympathien des Frauen-Aderbau: und Gartenbau: 
vereins darlegte und in deſſen Namen den Frau: 
tag begriifte, nabm Frau Direltor Frauberger das 
Wort ju ibrem Vortrag über die funftgewerbliden 
Veftrebungen der Frauen. Die Bortragende ver 
weift zunächſt darauf, daß fie bie Bedeutung ded 
Wortes ,Runftgewerbe” nicht allzu eng bearenjt 


Verſammlungen und Vereine. 


auffaffen finne, wie es im allgemeinen gefchebe. 
Dic Forderungen an Städte und Staat, den Frauen 
die Wfademien und Kunſtgewerbeſchulen zu Hffnen, 
müßten weiter ausgebaut werden. Schon beute 
ſtänden allerdings mehrere Schulen den Frauen 
offen; fo in unferer Gegend die Kunſtgewerbeſchule 
im Elberfeld, die Tertilfdulen in Barmen, Krefeld 
und Rhevdt und die von der Bortragenden geleitete 
Stidereifdule in Düſſeldorf. Es wäre aber febr 


au wiinfden, wenn aud an Eleineren Orten zwed⸗ 


entſprechende Schulen vorhanden wären. Wenn 
man den ſtatiſtiſchen Auskünften nachgehe, ſo finde 
man, daß die Frau, wenn ſie gründlich in irgend 
einem kunſtgewerblichen Fache ausgebildet ſein 
wolle, auch Gelegenheit hierzu habe. An dieſem 
Willen fehle es aber noch vielfach. Während es 
bei dem Sohne ſelbſtverſtändlich ſei, daß er einen 
Beruf erwähle, würden bei dem Mädchen die beſten 
Jahre durch Unterhaltung und Dilettantismus 
verſchwendet. Es heiße aber auch bei der Tochter 
daran zu denken, für ſich zu ſorgen, und daß ſie 
das, was ſie lernt, ſo gründlich erlernt, daß es 
ihr ſpäter nützlich ſein kann. Wenn es ſich darum 
handele, ein junges Mädchen von Talent und 
wirklichem Ernſt in das kunſtgewerbliche Fach ein— 
zuführen, ſo ſei vor allem der Beſuch einer guten 
Zeichenſchule, möglichſt eines ſtaatlichen Inſtituts, 
empfehlenswert. Da jedoch das Kunſtgewerbe, 
mehr als die Kunſt, in der Praxis eine große 
Handfertigleit erheiſcht, ſo habe fic die junge 
Dame wohl yu prüfen, ob ibe Körper dieſe Arbeit 
aud aushalt. Träfen dieſe Borbedingungen gu, 
dann fet nur zuzuraten. 

Qu der Distujfion erklärte fid) Herr Profeffor 
Behrens fiir Sulaffung der Madden gu allen 
ftaatliden Musbilbungsanftalten. 

Hierauf wurde Herrn Redalteur Freiberrn Karl 
von Perfall-Ciin das Wort erteilt yu cinem Bortrag 
iiber ,, Die Erziehung dev Frau zur Kunſt“. Der 
Redner betonte cinleitend, daß er bei Behandlung 
dieſes Themas von einem anderen Standpuntt 
ausgebe, ald feine Borrednerinnen. Gr gehe aus 
nidt von ber Frauenfrage, von dem Intereſſe 
der Frau, fondern von dem Intereſſe der Kunſt; 
ba ergebe fich cin anderer Geſichtspunkt, als wenn 
man bie Frage von feiten der Frauenbewegung 
aufwerfe. Er fpreche auch nicht iiber die 
Grjiehung yur Kiinftlerin, fondern über die 
Erjiebung yur Kunftpfleqe, jum Kunſtverſtändnis. 
Selbſtverſtandlich müſſe die Frau an der Kunft: 
fultur mitarbeiten, Dafür muß fie aber anders 
erjogen werden. In der Bildung der jungen Madden 
herrſche zu biel Dreffur, dabei hätten fie feine 
Beit, ſich rechts und link die Welt angufeben. 
Die Erjiehung, namentlich der Geſchichtsunterricht, 
ber mebr die Kulturgeſchichte umfaffen foll, miiften 
anders gebandhabt werden. Der Umgang mit der 
Runft folle jedoch nicht allein Modeſache fein. Er 
folle etwas fein, was die Seele formt und glücklich 
madt, was ingbefondere die Frau auf ibrem 
Lebendiwege febr notivendig brauden fann. So 
tonne auch eine ebdlere Form der Gefelligheit und 
bobere Anfordcrung an geiftiqe Bildung erreicht 
werden, 

GS wurde cine Rejolution angenommen, nach 
ber die gum Frauentag in Diiffeldorf ver— 
ſammelten Frauen die —9 der ſtaatlichen 
Kunſtanſtalten fiir notwendig halten, da die Brivat- 
anftalten das Studium verteucrten und erfebiverten. 


695 


Ulsdann fprad Frl. Ika Freudenberg-Miindes. 
fiber „Die fogiale Bedeutung der Kunſt“. Die 
Rednerin ging aus von der Griindung des Goethe: 
bundes vor einigen Jahren anlaflich der lex Heinse- 
Bewegung. Damals habe man in Miinden, wo 
bie Wogen am höchſten gingen, der Frau nicht 
erlaubt, dem Gunde beizutreten, weil ex cin politifder 
Verein fei, wahrend man in Preufen den Frauen 
den Beitritt geftattet babe. Dem Geifte einer 
tunjtfeindlidjen Engherzigleit fei viel beffer von der 
menſchlichen alS von der politifden Seite bei- 
jufommen. Wenn man daran gehen wolle, Ber- 
ftandnis fiir echte Kunſt und fiir Kunſtweſen im 
Bolte eingubiirgern, dann finne man fic nicht 
auf die Mitwirfung der offiziellen Inſtanzen verlaffen, 
fondern dann miiffe man fuden babin zu wirken, 
daß man im Bolle der Runft ſchon von Haufe aus 
Gefühl und rechten Sinn entgegenbringe. Um cin 
folded Empfinden zu ween, könne man aber nichts 
befferes tun, alS fic) der Mitwirkung der Frau ju 
verfichern, bie ben Geift ded Hauſes diftiere. Wher 
gerade weil es lange gebcifien, daf die Runft Sache 
ded Mannes fei, habe fie bid jest in Frauenkreiſen 
nidt die volle Reſonanz gefunden. Generationen 
hindurch bat die deutſche Frau fich felbit nicht genug 
tun können in der Unterdriidung ibres eigenen 
perfinlichen Wefens So hat aud die deutſche 
rau fiir Kunſt und Kunſtweſen wenig tun fonnen. 
Und bod) fei eine Starfung der fogialen Macht 
der Kunſt im Augenblick cine Kulturaufgabe erften 
Ranges. Die Ynduftrie, die auf der einen Seite 
durd) gang neue Mufgaben die Kunft fördert und 
auf fie cinwirft, droht ibr auf der anderen Seite 
mit dem Untergang dburd dic Tendeng, immer mehr 
die menſchliche Urbeitstraft durch die mechaniſche 
zu erfegen. Die Maffenfabrifation in der Kunſt 
febe nur eine neue Lüge an die Stelle der alten. 
Die künſtleriſche Maſſenware habe raſch ihren Weg 
in bas Deutſche Biirgerbaus gefunden. Jn Menge 
würden bier die Nippesfachen angehäuft, ftatt durch 
Cinfacbeit und Cehtheit gu glänzen. Im weiteren 
bedaucrte die Bortragende das immer mehr ju: 
nebmende Verſchwinden der Volkstrachten und das 
Verdrangen der einfachen Volksmuſik durch die 
feelenlofe Volllommenheit der Mufitautomaten, die 
in feinent Dorfe mehr feblten. Das Abnehmen 
der volfStiimlidjen Kunſt fet nicht dad unwichtigſte 
Kapitel von der ſozialen Not der Gegenwart. Wenn 
bie Politifer und Nationalökonomen rect bebalten, 
fo geben wir in Deutſchland ciner ungebeuren Ver— 
mebrung der Volkszahl entgegen und zählen in etwa 
20 Sabren 80 Millionen Cinwohner. Dieſe werden 
fid) in der Hauptſache auf die grofen Stadte und 
Qnbuftrie-Sentren zuſammendrängen und ber grofte 
Teil wird heimatlos und von jeder Tradition los— 
geviffen fein. Der Staat fommt diefer Entwidlung 
entgegen, indem er durch feine Schulen cine Gleich— 
artigfeit erjtclt. Uber Stadte und Staat fangen 
bereits an eingufeben, daß fie nod) mebr tun 
müſſen, um qu verbiiten, daß es nicht nur unter: 
ſchiedsloſe Haufen von Menſchen gibt, die nur 
verdienen follen. Man muf ihnen Erſatz ſchaffen 
für die Freude an der Heimat; ſie ſollen nicht 
nur eine Nummer im Vollsleben fein. Welche 
Macht wäre aber zu einer ſolchen Wirkung mehr 
berujen, als bie Kunſt? Daf man in der Kunſt 
eine —— Möglichkeit beſihe, die Un— 
zufriedenheit gu bekämpfen, fet auger allem Zweifel. 
Die Familie des Arbeiters könne fic) freilich feine 


696 


teueren Kunftwerle taufen und ſchlechte folle fie ſich 
nicht faufen. Wber fie könne fic) an ihnen erfreuen 
dburd den Anblid in den Sammlungen, ficd an 
ibnen ergötzen im Theater. Hierzu müſſen Stadt 
und Staat auSreichende Gelegenbeit bieten. So 
ferne auc) ber Urbeiter fein eigenes Dafein be: 
deutſamer einſchätzen. Die CErinnerung an dads 
Gejdaute und Genoffene fei bas Beſte, was die 
Runjt den größeren Kreifen ins Haus mitgeben 
finne. Man finne boffen, daß fo auf die Dauer 
aud das eigene Gefiihl ded ArbeiterS wieder 
produjiere. Bei all diefen Mufgaben gebiihre der 
Frau cin Sauptanteil. 


Sãuglingsheim. 


Schöneberg bei Berlin, Alazienſtraße 7. 

Einer der Hauptgedanken bei der Errichtung 
unſeres Säuglingsheims war der, vie Trennung 
des Kindes von der Mutter für die Dauer der 
erſten Monate, wenn tunlich der erſten Jahre, zu 
verhindern. Rad) laum dreimonatlichem Beſtehen 
unſerer Anſtalt ſehen wir zu unſerer großen Freude, 
daß ein größerer Teil der ſcheidenden Frauen 
gewillt iſt, die größten Opfer gu bringen, um nur 
mit ihren Kleinen vereint zu bleiben. Jede von 
ihnen fürchtet die Gefahren der heißen Sommer— 
monate, miifte fie jest ihr Kind entwöhnen und 
dasſelbe bet künſtlicher Ernährung einer frembden 
Pilege anvertrauen. Den dringenden Fragen und 
Bitten diejer Mütter Folge gebend, haben wir 
beſchloſſen, ein Mütterheim gu organifieren, dad 
in einer unmittelbar an unfer Säuglingsheim 
anſchließenden Wohnung cingerictet wird. Dasſelbe 
ſteht in ſittlicher Hinſicht unter der ſtrengen Aufſicht 
unſerer Frau Oberin v. d. Oſten, in ärztlicher 
unter der Kontrolle unſeres Arztes, des Herrn 


! 
; 


| 
| 


erbeten. 





Zur Frauenbewegung. 


Dr Liſſauer, doc fei gleich hier ausdrüdlich betont, 
daß dieſes neue Heim keine Wobltitigteits-, ſondern 
lediglich eine Wohlfahrtseinrichtung iſt, die ſich durch 
die monatlichen Zahlungen ihrer Bewohnerinnen 
völlig ſelbſt erhalten ſoll. Nur die erſte Einrichtung 
müſſen wir zu beſchaffen verſuchen. Für 6 Mütter 
und Kinder ift fie dem Mutterheim bereits geſchenlt 
worden. Dieſe 6 Betten find aber ſchon vergeben, 
und es find nod) mehr Meldungen von ausſcheidenden 
Frauen vorhanden, die wir gern berückſichtigen 
würden, zumal der Blok fiir 12 Betten reicht. 
Unſere ſehr dringende Bitte geht nun keineswegs 
um Geld, ſondern dahin, die ausſcheidenden Mütter 
ber Säuglinge mit Arbeit zu verſorgen, bie es 
ihnen ermöglichen ſoll, das Koſtgeld ſtatutengemäß 
monatlich pränumerando zu bezahlen. Es ſind 
Wäſcherinnen, Plätterinnen, einfache Köchinnen, 
Näherinnen und Bluſenſchneiderinnen unter unſeren 
Schützlingen, und wir wollen durch geeigneten 
Unterricht jede in ihrer ſpeziellen Branche weiter 
ausbilden laſſen. Meldungen und Beſtellungen 
dieſer gewiß in manchem Haushalt willkommenen 
Arbeitslräfte werden an das Säuglingsheim, Schöne⸗ 
berg, Akazienſtraße 7 (Telephon: Amt IX Re 5490) 
Ebenſo dantbar waren wir fiir jede Gabe 
an Einrichtungsſtücken, wie alte Kinderwäſche und 
Rinderwagen, Betten, alte Bettwäſche, ausrangierte 
Schränke und Kommoden, Stiible und Tifedbe, kurz 
alles was fiir cine einfache Wirtſchaſt nötig ijt. 
Auf cine Poftfarte bin werden die betreffenden 
Gegenſtände fofort abgebolt. 

Die moralijche Tragweite dicler neuen Cinridtung 
liegt auf ber Hand, und wir boffen, dak fic) wieder 
viele Ginnerinnen finden werden, die unferen 
Schützlingen den Kampf um das Dafein erleicbtern 


| und ibnen ibe Muttergliid erhalten belien wollen. 


Der Arbeitsausſchuß des Säuglingheims. 


Zur Frauenbevegung. 


Raddrud mit Quellenangabe erlaubt. 


* Den allgemeinen Wünſchen ſowohl der in: 
ländiſchen wie der ausländiſchen Teilnehmer ded 
Quternationalen Frauenkongreſſes in Berlin 
Rechnung tragend, bat der Vorſtand des Bundes 
deutider Fraucnvereine als Organifationsfomitec, 
entgegen feinem diesbezüglichen früheren Beſchluß, 
nun doch die Herausgabe eines Kongreßwerkes in 
Ausſicht genommen. Es ſollen darin jedoch nicht 
die vollſtändigen Verhandlungen, ſondern nur aus— 
gewählte Referate der vier Sektionen und der 
allgemeinen Verſammlungen gum Abdruck kommen. 
Das Werk wird im Verlag von Carl Habel Berlin 
erſcheinen und cinen ftarfen Band umfaſſen, deſſen 
Preis fid vorausſichtlich auf 5 Mark ftellen dürfte, 
fiir Rongreftei{nebmer und Mitglieder von Bundes— 
vereinen bei Subſtription entſprechend  billiger. 
Mit der Auswahl ded Materials wurden die 


— 


ae 


”~ 


Secftionsvorfisenden, mit der Redaftion die Bundes— 
vorfitende, Frau Marie Stritt, betraut. Das 
Werf wird vorausfidtlicy fdon Anfang Herbjt 
erſcheinen. 


* StaatSfinder oder Mutterrecht? Unter 
dem Titel verdffentlicht die , Gegenwart” cinen 
Urtifel von Ruth Bre, im dem fie die Theorien 
ihrer Broſchüre „Das Recht auf die Mutterſchaft“ 
propagicrt. Man wei nicht, worüber man fid 
mebr twundern foll, iiber die naive Unbildung, mit 
ber die Berfafferin ibre kulturhiſtoriſchen Phantaſien 
unentivegt iweiter fpinnt, oder fiber den Geſchmack 
ber Zeitſchrift, die foldem Dilettantismus an die 
Offentlichkeit hilft. 


*Lehrplan einer Reformſchule für Madden. 
Wir machen darauf aufmerkſam, daß der von der 


Sur Frauenbewegung. 


Seltion fiir höhere Schulen ded Alfgemeinen deutſchen 


Mebrecinnenvereing veriffentlidte Lebrplan nunmebr | 


in endgiltiger Faſſung erſchienen ijt. Cr ijt von 
der Rorfigenden der Seltion Frl. Poeh{ mann, 
Tilfit, Fabrifenftr. 41, zu beziehen. 


Lords verbandelt. Die von Earl Beauchamp ein: 
gebradte Bill, die den Frauen diefes Recht, Mit— 
qlieder ded Grafichaftérates zu werden, ſichern 
follte, wurde mit 57 geaen 38 Stimmen abgelebnt. 


* Aber die Tatighcit der ſtädtiſchen Sanitäts— 
infpeftorinnen in Dundee, die auf Betreiben der 
Frauen von Dundee angeftellt worden find, enthält 
bas Scottish Liberal Women’s Magazine 
(Mat 1904) folgende intereffante Mitteilungen: Die 
Sanitatsinipeltorinnen find feit dem Sanuar 1903 
in Tätigkeit und baben in dem erften abr 
12 828 Wohnungen befucht, d. h. fie haben in den 
Wrmenvierteln der Stadt Haus bei Haus infpisiert. 
Ihre Uufgabe befteht hauptſächlich barin, die Frauen 
an Reinlicfeit, gute Luft und Schamgefühl yu 
gewöhnen. Sie fanden zuerſt bie beklagenswerteſten 
Zuſtände, ſchmutzige Wände, ſchmutzige Lagerſtätten, 
die manchmal nur aus einer eiſernen Bettſtelle 
mit einer ſchmutzigen Matrahe und mit Lumpen 
zur Bedeckung beſtanden; die Fenſter konnten oft 
gar nicht geöffnet werden, weil man ſie zugenagelt 
hatte. Sie ſetzten in ſolchen Häuſern durch, dah 
die Wände ſo geſtrichen wurden, daß man ſie ab— 
waſchen konnte; ſie verlangten, daß die Wohnungen 
gereinigt wurden, ehe neue Mieter einzogen. Sie 
verſuchten zunächſt, alle ihre Verbeſſerungen durch 
Aberredung und guten Hat durchzuſetzen und erſt, 
wenn das verfagte, berichteten fie an die Sanitits: 
fommiffion, die dann durch ibre Beamten mit Zwang 
vorging. Cine befondere Cinrictung, 
Sanitätsinſpeltorinnen yu verdanten ift, tft die 
SauglingSfirjorge; in iiber 200 Häuſern fanden 
fie gang fleine Kinder obne Aufſicht; dad aAltefte, 
das dazu bejtimmt war, fpielte auf der Strafe, 
wabrend bas Kleine auf dee falter Treppe fag. 
Manchmal waren auch alte Frauen, die nicht im 


ftande waren, fiir fic) felbft ordentlich gu forgen, | 


mit der Aufſicht über drei ober vier Kinder be: 
auftragt. 
Fußboden oder in einer ſchmutzigen Wiege; ibre 
Flaſchen waren oft mit faurer Wile und faltem Tee 
ober Haferſchleim gefüllt. Manchmal beftand auch die 
Nahrung ber Säuglinge in cingeweidtem Brot, bad 
bic Mutter am Worgen vorbereitete, ehe fie zur 
Urbeit ging. In vielen Fallen hatten die Sanitäts— 
injpeftorinnen die Flaſchen felbft yu reinigen. Much 
als eine Unterftiigung der Schule haben dieſe 


Die Hinder lagen auf dem ſchmutzigen 





697 


Refuche der Sanitätsinſpektorinnen fic bewährt; 
eS war ein febr häufiges Erlebnis, daß man feds 
oder ſieben ſchulpflichtige Rinder unter dem Bett 
fand, die bic Sanitatsin|pettorinnen fitr Beamten der 
Schulbehörde gehalten batten. Meift verfuchten 


die Sanitätsinſpeltorinnen überall, wo fie vernach— 
* Das Wahlrecht dex Frauen fiir den Graf— Ip : —— 


laäſſigte Kinder fanden, die Familien nod einmal 
fdjaftsrat wurde am 29, Juni im House of | ie | . —* 


Abends aufzuſuchen, wenn die Eltern zu Haus 
waren. Sie verteilten Flugblätter des Geſund— 
heitsamtes über die Vorkehrungen bei Maſern, 
Diphtheritis und Tuberkuloſe und verſuchten vor 
allen Dingen, dic Mütter über die Erforderniſſe 
der Säuglingsernährung aufzuklären. 

So haben ſich die Sanitätsinſpektorinnen als 
ein ſehr wertvolles und nützliches Organ der 
öffentlichen Fürſorgetätigkeit erwieſen und die 
Vermittlung zwiſchen Behörde und Publitum iſt 
gerade in ihren Händen ganz ausgezeichnet auf: 
gehoben. 


* Die Zulaſſung der Frauen ju Sffentliden 
Amtern in Ungarn ift bid jest durch keinerlei 
acfewliche Beſtimmungen beſchränkt; es fommt nur 
darauf an, daß die Frauen im eingelnen Fall mit 
ibren Unfpriichen und Bewerbungen bherbortreten, 
So beſchloß das Komitat Bibar, unter das Ber: 
waltungéperfonal Frauen als Subalternbeamte 
aufzunehmen. Das Minijterium genehmigte diejen 
Beſchluß mit dem Hinweis darauf, daß cine gefes: 
fiche Beſtimmung wohl deshalb nicht getroffen fei, 
weil damals nod niemand baran dachte, die 
Frauen iiberbaupt in Betradt zu ziehen; nichts: 
deftoweniger fonne ein ſolches Hindernis jest nicht 
tonftatiert werden, umd die Frage fei nur nad 
Zweckmäßigkeitsgründen gu entieheiben. Im Acker— 
bau⸗Miniſterium find Frauen ſchon ſeit längerer 
Zeit in ähnlichen Stellungen tätig. Das Gehalt, 


| bas ihnen im niederen Verwaltungsdienſt in Aus— 
die den 


ſicht ſteht, beträgt 1400 bis 3200 Kronen mit 
Wohnungsgeld und Penſionsberechtigung. Da auch 
die Zulaſſung von Frauen zu höheren Staats— 
ämtern durch keine geſetzlichen Beſtimmungen aus— 
geſchlojſen iſt, fo wird auch bier, wenn erſt einmal 
cine geniigende Unjabl qualifizierter Frauen vor: 
handen ift, ibre Witarbeit ſich vielleicht obne 
Schwierigkeiten erreichen laſſen. 


* Totenſchau. In Paris ſtarb Marie Laurent, 
bie ehemals berithmte Parifer Schauſpielerin und 
zugleich cine der Vorkämpferinnen fiir Wohltätigleits— 
beftrebungen in der Schaufpielerwelt. Marie Laurent 
ift jebr alt gemworben: fait 80 Sabre. So gibt es 
verhältnismäßig nur wenige, die ſich nod) ihrer 
Glanzzeit erinnern, und doch bat fie lange Sabre 
bindurd das Pariſer Publifum hingeriffen. Sie 
fpielte vom Gretchen im „Fauſt“ und der Agrippina, 


698 Bücherſchau. 


in dem „Britannieus“ des Racine bis gu Zolas 
Thereſe Raquin“ alles, was die Bühne ihrer Zeit 
an großen Aufgaben bot — und ſie konnte es ſpielen. 
Marie Laurent war mit dem Kreuz der Ehrenlegion 
deloriert und trug die atademifden Palmen. 


Berichtigung. 
Yn dem Artikel 
„Die Ymferei als Franenerwerb<’ 


(Julinummer der Frau) lies S. 628, Spalte 2, 
19. Zeile von oben Reformbeintleid ftatt Reformrfleid. 


~efur 


= => Biicherschau. — 


„Das ſchlafeude Heer’. Roman von Clara 
Viebig. Egon Fleiſchel & Co. Berlin 1904. 
Gin neuer Roman von Clara Biebig hat ein ſtarles, 
wie foll man fagen, biographiſches oder pſychologiſches 
Intereſſe fiir jeden, der die merfiwilrdig rafde und 
glückliche Entwidlung ihrer Runft verfolgt hat. Dieje 
Entwidlung berubt vor allem in ciner Cinfdulung 
ihres Auges auf ausdrucksfähige, caratfterifierende 
Einzelheiten, auf die Mittel packender Darſtellung. 
Auf dieſem Wege, von außen, durch die wachſende 
Treue und Schärfe des Sehens, iſt es Clara Viebig 
gelungen, ihren Geſtalten ein immer ſtärkeres Relief 
zu geben, ein Relief, das auch ſeeliſche Eigenart 
kräftiger wiedergibt. Immerhin bat dieſe mehr auf 
ſcharfer äußerer Beobachtung, als auf tiefſtem 
inneren Miterleben beruhende Seelenkunde ihre 
Grenzen. Glänzend erfaßt fie ben Typus, einfach 
fonftruierte Raturen, primitive Menſchen. Die 
Verfenfung in labyrinthifche Seelenticfen ift ibr ver: 
fagt. Clara Biebig hat cin ſicheres künſtleriſches 
Selbſtbewußtſein: fie baut das Feld an, auf dem 


ibr die ſchönſten Früchte reifen fonnen. Wieder ift 
eS cin Sulturbild, das fie gibt. Wuf grofem 


hiſtoriſchen Ointergrund fpielt das politiſche Drama 
ber Gegenwart: der Kampf um die Oftmarten. 
Aus diejem Kampf — und nur aus ibm — fommen 
ihren Helden ibre Schickſale: der rheiniſchen Bauern: 
familie, bie von der Anfiedlungsfommiffion in die 
unendliche Ebene gelodt ift, dem deutſchen Edelmann, 
ber auf dem Boden, unter dem nach polnifder 
Sage das jcblafende Heer auf den Tag der Rache 
wartet, cinen ſchwer gu bebauptenden Loften vertetdigt 
und die Hand an der Fabne fallt. Wie in der 
„Wacht am Rhein“, fo ift auch bier das Elementare, 
dad den Raffencharatter ausmacht, meijterbaft auf: 
gefaßt und wiedergegeben. Und meifterbaft ift es, 
wie die Gigenart ber Landſchaft mit dem Vollsleben, 
bas ſich in ibr abſpielt, gu einem einheitlichen Bilde 
verſchmilzt. — Sn dem diden Bande ijt nicht alled 
gleichmäßig durchgeſführt. Es finden ſich Szenen, 
die cin wenig auf den Effelt herausgearbeitet find 
— eine Erſcheinung, ju der ein fo ftarfes, plaſtiſches 
Talent leicht verleitet. Cinen Forticdritt gegen den 
lulturgeſchichtlichen Roman, der fich faft unwillfiirlid 
gum Vergleich darbictet, gegen ,,die Wacht am Rhein” 
bat Clara Viebig in der Kompoſitionstechnik erreicht. 
Die innere Gefehloffenheit ded ſehr umfangreicden 
Ganzen ift vollfommen. Und fo reiht ſich der Noman, 
beim das ftoffliche Antereffe vermutlich grope Gufere 
Erfolge ſchafſen wird, feinem aAjthetijden Werte 
nad in die Entwidlung der Kiinjtlerin aud als 
cin innerer Erfolq cin. — Den Wunſch freilich, 
dah Clara Viebig ibr großes Talent cinmal durd 





rubigere Arbeit in einer nod tieferen und echteren 
Leiftung zur Geltung bringen möchte, fann man 
nicht gang jum Schweigen bringen, wenn man die 
Reihe ibrer fo ſchnell aufeinanderfolgenden Werte 
von 1896 bis heute überſchaut. 


ptidard Feverel“. Cine Geſchichte von Sater 
und Gobn, von George Meredith. Autorifierte 
Uberiegung von Julie Sotted. Berlin 1904. 
S. Fijder Verlag. Eins der interefjanteften Biber 
ber mobdernen englifden Literatur ift durch dieſe 
Uberfesung einem größeren deutſchen Publikum 
zugänglich gemacht. Richard Feverel iſt cine Satire 
in jenem eigentümlichen, bedeutenden Stil, der die 
Satire nicht nur als geiſtreiches Spiel oder als 
Stimmung, ſondern als cin Stück Weltanſchauung, 
eine Philoſophie wiedergibt. So iſt fie cin befonderes 
Element des englifden Geiftes von Shakefpeare bis 
Swift, Sterne, Beacod, Thackerah. Meredith zeigt 
diefes Element in der Verſchmelzung mit modernem 
piodologijden und äſthetiſchen Empfinden. Seine 
Menſchen find weniger einfach, als die Helden von 
Dickens und Thaceray: fie find menſchlicher in dem 
Jneinandergreifen von Leidenſchaften und Gebdanfen, 
Berechnung und gebeimer Willfiir, Sinnlichfeit und 
Kultur. Der ſchon 1859 erſchienene Roman ijt ein 
Seelendofument, das ben Menſchen der Jahrhundert⸗ 
wende nod gan; verwandt ift. Es dem deutſchen 
Leſer nabe gu bringen, wird ficber ber ausgezeichneten 
Uberſetzung gelingen, die das Kapriziöſe, Schillernde, 
Leichte mit feinem Verftandnis wiedergegeben bat. 
Ubrigens ift es febr intereffant yu beobachten, wie 
dem Noman ber Stil einer um ein balbeds Qabr: 
bunbdert fortgelcbrittenen literariſchen Entwicklung 
zugute kommt. Die deutſche Sprache der fünfziget 
Sabre hatte ſich faum den beſonderen Nuancen des 
Meredith gewachſen gezeigt, die ber Jabrbundert: 
wende ift es vollfommen. 


, Gottfried Steller’ von Ricarda Hud. 
Verlag von Scufter und Loffler, Berlin und Leipzig. 
In einer Sammlung von kleinen Monograpbhien, 
die ſämtlich von Dichtern iiber Dichter geſchrieben 
find, ſpricht Ricarda Oud von ibrem Meifter 
Gottfried Meller, Sie ift alS feine Siingerin 
felbftandigq getworden, fie bat feine Cigenart in 
vollftem Maße durch ibre überwunden, fo dag fie 
nun ganz beſonders vorbereitet ift, das Wefen des 
Hilricder Meiſters refleftierend gu erſaſſen und dar 
zuſtellen. Das kleine Buch ift weniger cine Biograpbic, 
alS ein Eſſah über Gottfried Keller als Künſtler. 
Gibt boc aud fein Leben, dad nad ciner an 
Verfuchen und Unternehmungen reichen Jugend in 


2* 


Bücherſchau. 


ein ſtilles, gleichſörmiges Geleiſe cinmiinbdete, weniger 
Stoff zur literarhiſtoriſchen Analyſe, als ſeine 
dichteriſche Perſönlichkeit, die mehr als bei vielen 
anderen Künſtlern ſich von dem, was er im Leben 
war, löſt. Was Ricarda Huch, die als Künſtlerin 
ſo viel weicher und ſenſitiver, man möchte ſagen 
romantiſcher iſt, an Gottfried Keller ganz beſonders 
anzieht, iſt ſeine lernige Kraft und die ſichere 
Geſundheit ſeiner Lebensauffaſſung, die ihm für 
die Betrachtung aller menſchlichen Dinge eine ſo 
unerſchütterliche kunſtleriſche Baſis gibt. Dieſer 
Rug in Kellers Perſoönlichkeit beherrſcht die ganze 
kleine Studie, die auch in der ſchönen, von aller 
Effeltſucht ſo merlwürdig befreiten Sprache der 
Ricarda Hud) ſich dem Meiſter gewachſen zeigt. 


„Bauernſtolz“. Dorfgeſchichten aus dem Weſer— 
lande von Lulu von Strauß-Torney. Verlag 
von Sermann Seemann Nachf., Leipzig. Es ift ein 
Stück Heimatsfhinft, das die Berfafferin in dem 
fleinen Novellenbande bietet. Bon den Bauern des 
Weſerlandes erzählt fie, die mit ibrer VollStracht 
eine urwüchſige Eigenſchaft Langer bewahrten, als mand 
anberer deutſcher Stamm, die mit ſchweren Schritten 
ſelbſtbewußt und cigenfinnia über die ſchwere Scholle 
ſchreiten, — von onfliften, die fic) aus den 
primitiven, elementaren Charafterjiigen jener 
Menſchen und aus den ftarren und unumſtößlichen 
Formen ibres Lebens ergeben. Man merft ¢3, dah 
die Verfajjerin im dem Lande gu Haufe ift, über 
das fie ſchreibt. Nicht nur die Echtheit ded nieder: 
deutſchen Dialeftes, fondern auch jenes ſchwer 
definierbare je ne sais quoi, das der Darſtellung 
von Menſchen und Landſchaften ihre ganz beſondere 
Echtheit gibt, macht den Novellenband zur Heimats— 
funft im beſten Sinne bes Wortes. Nehmen wir 
hinzu, daß dic Dichterin, die in der Ballade ſchon 
Gules acleiftet hat, die Knappheit und Plaſtik befist, 
die dic Novelle im bejonderen Mae erfordert, fo 
ijt dic Heine Sammlung cin in jeder Hinſicht 
erfreuliches Heiden der werdenden Fraucnfunft. 


Die PBiydologie der Fran’. Bortrag, ae: 
halten auf der Generalverfammlung des Deutſch— 
evangelifcben Frauenbundes gu Bonn von Marie 
Martin, Verlag von B. G. Teubner, Leipzig 1904. — 
Ein fo fchwieriges Gebiet, wie der feelifche Ge: 
ſchlechtscharalter bei Mann und Weib, cin Gebiet, 
auf dem alle Urteile nocd keineswegs den Wert 
wiffenicbaftlicher Ergebniſſe beanſpruchen  diirfen, 
cignet ſich ſicherlich in mancher Hinficht wenig 
baju, im einer furjen Abhandlung und vielleicht 
noch weniger, in einem Vortrage behandelt zu 
werden. Erlennt man dieſe Schwierigleit an und 
nimmt man zugleich an, daß auf dieſem Gebiete 
die feinfinnige Intuition vorlaufiq nod eine ge: 
wiſſe Berechtigung hat, fo muß man gugeben, dah 
Marie Martin ibre Aufgabe gut gelöſt bat. Cine 
bejondere Gefchiclichfeit des popularen Ausdrucks 
hat ibe gebolfen, ibre Wufgabe gu bewiltigen. So 
wird der Vortrag auch als gedructes Wort mande | 
Anrequng geben, auf die unverriidbaren pſycho— 
logiſchen Richtlinien alleS Frauencinflufjes bine 
weifen und mande Verſchwommenheit zu laren 
imjtande fein. Nur die Thefen, die dem Vortrag 
nacdhgeftellt find, möchte man befeitigt wiffen. Cin: 
mal treten folcbe Leitjabe mit dem Anfprud 
wiffenfdaftliden Wertes auf, cin Anfpruch, der 
auf dieſem Gebiet chen noc nicht geftellt werden 


699 


barf — und anbdererfeits befommen dic ſelbſt— 
verſtändlich fubjeftiv und aus individueller Lebens: 
erfabrung und Lebensanſchauung gewonnenen Ge— 
banfen des Vortrages durch ſolche Zuſammen— 
faſſung in Theſen etwas Starres, Dogmatiſches, 
das zu den feinen ſeeliſchen Werten, die hier in 
Frage gezogen werden müſſen, zu den vieldeutigen 
pſychiſchen Erſcheinungen, die hier in Betracht 
fommen, wenig paſſen will. 


„Das Seidene Buch“. Cine lyriſche Damen: 
ſpende von Otto Julius Bierbaum. Mit 12 Voll: 
bilbern von Hans Thoma und Ornamenten von 
Peter Behrens. Qn Seide gebunden 6 WM. Stutt: 
gart, Deutſche Berlagsanftalt. Die ſehr apart 
ausgeftattete Sammlung ift cine Art lyriſches 
Tagebuch. Die leichtfliigeliqen Verſe Bierbaums 
tragen uns durch den Sabreslauf. Sie jubeln 
dem neuen Sabre entgegen, fie beten in der Chrift: 
nacht, fie lachen und weinen mit und über allerlei 
menſchliches Erleben und kämpfen mit uns die 
froblichen RKampfe der Zufunftfideren. Die Mus: 
wabl zeigt Bierbaum von der liebenswürdigſten 
Seite. Allerlei Bilder nach Thoma gejellen fid 
ben Liedern aufs befte, und der äußere und innere 
Schmuck des Buches nad Entwiirfen von Peter 
Behrens vervollſtändigt den einheitlich originellen 
und friſchen Eindruck des Ganzen. 


adn Stellung“. Bon Marie Trommers— 
hauſen. Verlag von C. A. Schwetſchke & Sohn. 
Das, worauf es der Verfaſſerin ankommt, verrät 
ſich im Titel; künſtleriſch ziemlich wertlos, bietet 
der Roman dod) ein lebensvolles und wirklichkeits— 
treueds Bild von dem Dajein der fogenannten 
„Stütze“, bie alS Tochter einer gebildeten Familie 
nichts gelernt bat und nun plötzlich auf fic felbft 
angetwiejen, den befannten dornenvollen Weg einer 
Fräuleinexiſtenz yu fucden bat. So hat das Buch 
ein nicht geringes ſoziales Intereſſe, das ibm viel 
leicht im rein ſozialen Sinn cine gewifje Wirkung 
ficbert, wo lehrhafte Abbandlungen und Mabnungen 
nichts gu fruchten pflegen. 


„Deutſche Vollsabende“. Cin Handbuch fiir 
Volksunterhaltungsabende von Dr Paul Luther. 
Verlag von Alerander Dunder, Berlin W. (Preis 
geh. 3 Mark, geb. 4 Mark. Das Buch wird 
jedem, der fich mit den VolfSbifoungsbejtrebungen 
beſchäftigt, wertvolle Dienfte leiſten können. Es 
enthält zuerſt cine kurze Darſtellung der Grund: 
ſätze, die den Verfaſſer bei der Einrichtung von 
Vollsunterhaltungsabenden geleitet haben, Grund: 
ſätze, von durchaus liberalem und geſundem Geiſte 
durchweht. Die Volksunterhaltungsabende ſollen 
nicht in den Dienſt irgend welcher beſonderen, ſei 
es kirchlichen, ſei es im engeren Sinne moraliſchen 
Veſtrebungen geſtellt werden. Das Künſtleriſche, 
der Genuß ſoll durchaus im Vordergrunde ſtehen. 
Das zeigen dann deutlich die Programme von 
Vollsunterhaltungsabenden, die der Verfaſſer ded 
‘Buches im zweiten Teil versffentlict. Unter einem 
gemeinjamen Geſichtspunkt werden fowobl dichteriſche 
alS mufifalifde Darbictungen ausgewählt; bevorzugt 
ift dabei die moderne Dichtung. 3. B. beift die 
UAberſchrift eines Wbends „Auf wogender See”. 
Das Programm umfaft folgendes: König Haralds 
Roſſe: Wildenbruch. — Aus Sturm und Not: 
Julius Wolff. — Bo: Liliencron. — John Mayard: 


700 . 


Fontane. — Jan Bart: Fontane. — Bei Nacht 
auf frembem Meere: Wildenbruch. — Lebende 
Bilder aus dem Seemannseben. — Arie aus 
Hans Heiling. — Am Meer: Schubert (Solo). — 
Die Himmel rithmen: Beethoven. Sechs altnieder: 
ländiſche BoltSlieder (Chor). Auf, Matrofen, die 
Anler gelichtet (qemeinjames Lied). Das fleine 
Beifpiel mag geniigen, um die Bielfeitigteit dieſer 
Programme ju eigen. Der Hauptteil des Buches 
gibt dann cine Musivahl von Material fiir Unter: 
baltunggabende: Profaftiide und Gedichte von 
Gerhard Hauptmann, Hugo von HofmannStbal, 
Gottfried Keller bis gu Marie von Ebner-Efden: 
bad, Annette von Drofte, Anna’ Ritter, Marie 
Croifjant:Ruft. Wir fSnnen dad Buch nur allen, 
die in diefer Sache arbeiten, aufs wärmſte empfehlen. 


„Das letzte Kind’, Bon Hermann Stebr. 
S. Fiſcher Verlag, Berlin 1903. Die lite Schönheit 
der Seele und die grobe und graufam Ddiirftige 
Alltagswirklichkeit, in der Angft und Tod herrſcht — 
das ift der Gegenfag, der den Künſtler ergriffen 
hat. Macterlind und der Dichter des „Hannele“ 
fteben der Dichtung gleich nabe. Das letzte Kind 
ded armen Schneiders ftirbt. Das Hier und das 
Dort, die Welt der darbenden Sorge und die Welt 
bed himmliſchen Fricdens ringen um die fleine 
Seele. Der Todesengel legt ſchon feine Hand auf 
bie gequalte eine Geftalt; die Mutterliebe aber 
reifit ibr letztes Kleinod immer wieder yu fic in 
ibr eigenes armed Leben, bis den himmliſchen 
Boten das Mitleid iiberwindet und er beide erlöſt. 
Diefe unfafbaren feelifden Vorgänge an der 
Schwelle von Zeit und Ewigkeit bat Hermann Stebr 
mit cigenartiger künſtleriſcher Kraft geftaltet. Qn 


(0? 2 Boe ee —— 


Bücherſchau. — Anzeigen. 


ber mit kräftigem Naturalismus gezeichneten 
armen ——S — mit dem dürftigen Schneider 
und der platten Frau Nachbarin gewinnest Die Hald 
viſionären Scelenerlebniffe der Mutter Geftals umd 
Wefenheit. Cine zweite, lidte und reine Welt 
mitten in der alltaglicben, mit cigenem flaren Leben, 
tut fic) auf — nicht wie im ,,Oannele’ mur dae 
Traumland bes fterbenden Mindes. Wr Olive 
Schreiner fühlt man fid) crinnert, und etwas 
Allegoriſches lommt in die Dichtung binetrr, Wag 

das in künſtleriſchen Sinne eine gewtyfe Un— 

cinbeitlichteit in ſich ſchliehßen — die lleine Brofa 

erzaͤhlung ift dod) Seugnis einer ftarfem und 

eigenwüchſigen dichteriſchen Begabung. 


„Vaul Heyſe, Novellen“. Wohlfeile Auſsgabe. 
60 Lieferungen A 40 Pfg. Alle 14 Tage cine Liefe run 
Verlag der J. G. Cotta'ſchen Buchhandlung Nachf. 
G. m. b. H. in Stuttgart und Berlin, Im Anſchluß 
an dic foeben vollftiindig gewordene woblfeile 
Ausgabe von Paul Heyſes Romanen beginnt die 
Cottaſche Buchbandlung nun aud mit der Heraus: 
gabe einer Novellenferic, welche ctiva fiebsig NoveLen 
Paul Heyſes in ciner wohlfeilen coe ie ee 
ben weitejten Areifen zuganglich maden foll. Die 
Sammlung ift auf zehn, von dem Dichter felbfe 
zuſammengeſtellte Bande berechnet und wird uw. a. 
aud feine „Troubadournovellen“, das ,,Buch Der 
Freundidaft’, fowie swei Binde Italieniſche 
Novellen” enthalten, alfo gerade die Schdpfungen, 
durd) welche Hebje feinen Ruhm als Weifter der 
Novelle begriindet bat. Dak Hevfe auc m der 
Gattung, in ber er als Klaffiter gelten darf, der 
Haushibliothel zugänglich gemacht wird, ift warn 
zu begrüßen. 





Bücherſchau. — Anzeigen. 








Man 






—A 


red Gorldrift vom GehNath Vrofeſſer Dr. O. Liebreich, beſeitlgt binnen kurzer Jett Verdauungs— 
beſchwerden, Sodbrennen, Magenverſchleimung, de Folger von Unmosigteit tor Gfjen 
und Trinfen, umd tt gang heforbers Frauen und Madden gu empfehlen, die rnjolge Bleichſucht, Hviterie und ahnlichen 
Suitinden on nervofer Magenſchwäche teiven. Qreis Fl. 3 WM., %, Rl. 1.50 M. 
A ’ fe act? Bertin N., 
Scheringa's Griine Apotheke, chawiee-Seeaie r0. 
Niederlagen tn faft famtliden Apotheken und Drogenbhandlungen. 
verlonge austridlid 









Tas neucrrictete Lehre: 
rinnenheim in Darmftadt, cin 
mit allen Beaquemlichferten aus: 
aeftaiteter Bau mit 
Garten, nimmt als Paſſanten 
ouf: Lehrerinnen, je nad Wabl 
der Summer filr 3—3,50 Mart 
den Tag, andere Damen fiir 
4—4,50 Markt. Darimitadt bietet 
als Kunſtſtadt und durch feine 
her⸗ liche Waldumgebung in Winter 
wie im Sommer angenehmen 
Aufenthall. 


„Cottaſche Handbibliothel“. 
Hauptwerle der deutſchen und 
auslandiſchen Literatur in billigen 
Einzelausgaben. Nummer 83—97. 
Stuttgart und Berlin, Verlag der 
J. G. Cottaſchen Buchhandlung 
Nachfolger, G. m. b. H. Von der 
Cottaſchen Handbibliothet“ iſt 
ſoeben eine Anzahl weiterer 
Nummiern erſchienen, deren Aus— 
wahl als eine ſehr glückliche 
bezeichnet werden kann. Wieder 
hat eine Reihe von Werken, deren 
Verlagsrecht dem Cottaſchen Ver: 
lage ausſchließlich zuſteht, Auf— 
nahme gefunden und iſt nun zu 
außerordentlich billigen Preiſen 
bet guter Ausſtaitung gu haben. 
So wird Berthold Auerbachs 
„Edelweiß“ in einer neuen wohl— 
ſeilen Ausgabe geboten, eine Aus— 
wahl aus verſchiedenen Werfen 
Rudolf Baumbachs, eine ſehr 
gute Ubertragung von Molieres 
Luſtſpiel „Die gelebrten Frauen” 
burd) Ludwig Fulba, Mottfried 
Kellers Erzahlung „Pankraz der 
Schmoller“ und Adolf Wilbrandts 


Beitrag „Novellen aus der 
Heimat”, Werle von Hebbel, 
Schiller und Schopenhauer, 


endlich eine menue Ausgabe von 
Goethes Unterbaltungen mit dem 
Aanzler Friedrich von Müller, 
herausgegeben von C. YW. H. 
Vurkhardt. 


„Die Tiere der Erde“. Von 
Prof. Dr W. Marſhall. 
Deutſche Verlagsanſtalt, Stuttgart. 


ſchönem 











M3 


there Medetenschule, Selekta, 


Vorbereitungsklasse fiir das Seminar, 


Lehrerinnen-Seminar mit eigener Ubungschule, 
Vorbereitung zur Erginzungspriifung. 


Turnkurse, 
SW., Dessauerstrasse 24 


{nahe dem Anhalter, Potsdamer 
und Ringbahnhofe). 


auch zur Ausbildung 
von Turnlehrerinnen. 


Frau Xlara fessling 


Vorsteherin. 
1—2, Freitags 1—4. 


OSININEIMSININISINEININESESESESESESESESES 





bie ſich Studiumes balber 

amen, (aud voriibergebend) in 
Berlin aufubalten gebdenten, finden 
immer mit a. ohne Penfion bei 
rau Seemann, Roniggrigerfir. 52 LITL 


Der Vereinsbote, 


Organ bes Vereins Deutſcher 
Yeorerinuenu. rgieverinnen 
in England, 


erſcheint ahrlich 
viermal. 


Hu besieben durch das Bereine⸗ 
bureau 16 Wyndham Place, 
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Verantwortlich fur die Nedattion: Helene Lange, Verlin. — Verlag: W. Woefer VPudhandlang, Merlin 8. — Dud: W. Moecfer Budoruderet, W.' 


ap 11. — eft 12 an fe ay. day September 1904 ab 












CITT) ate 


th arw2e * Verlag: 
Vs Ze W. Mocler Buhhandlung. 






von 


Melene Cange. Berlin S. 


Vas Cndziel Jer Prauenbewequng. 


Rede, gehalten auf dem Jnternationalen Frauenkongref zu Berlin 


bon 


Helene Lanne. 


Nachdruck verboten. 






an bat in den Rreifen der Frauenbewegung felbjt in den letzten Jahren öfter 
die Anficht ausgefprochen, dak in der allgemeinen theoretifecben Crirterung 
der Frauenfrage nun genug gefdeben fei, und dah es jest nur darauf anfommen 
müſſe, ibre Spezialgebiete mit Cachfunde und Energie ju bearbeiten, im einjelnen ju 
verivirflichen, was man im grofen erreicjen will. In diefer Anſicht liegt sweifellos 
cin Stück Wahrheit. Aber fie hat auch ihr Bedenkliches. Je mehr die Arbeit der 
Frauenbewegung ſich fpesialijiert, je mehr ihre Trägerinnen fich auf Einzelgebiete ver- 
teilen, um fo grifer ijt die Gefabr, dah fie die Fühlung unter einander verlieren, 
und dah das, was ſchließlich im einjelnen geleiftet wird, dod dem Ganjen nicht mebr 
dient. Darum, meine ich, iſt es immer wieder notivendig, die breite Fille unferer 
Cinjelarbeit durch die Ideen zuſammenzufaſſen, die in der Frauenbewegung einen ein- 
heitlichen geſchichtlichen Werdeprozeß erfennen laſſen. Und ein Augenblick, wie der 
heutige, Da das impojante Bild diefer Leiftungen in buntem Wechſel an uns voriiber- 
gezogen ijt, leqt es uns befonders nabe, ebe wir uns trennen, noc einmal jtill yu 
jteben und zu fragen: Wohin fiibrt all die? Schajfen und Ringen, was ijt das End- 
ziel Der Frauenbewegung ? 

Die befonderen wirtſchaftlichen und ſozialen Verhältniſſe, unter denen fich die 
Frauenbewegung bei uns und in manchen anderen Landern entividelt hat, verleiten 
heute dazu, fie lediglich auf wirtſchaftliche Urſachen zurückzuführen und fie nur im 
Sujanunenhang mit diefen Urſachen zu erfafjen. Im Hinblick auf das Endziel der 
45 


706 Das Endziel der Fraucnbewegung. 


Franenbewegung würde fic) aus diejer rein materialijtifden Betrachtung der Schluß 
ergeben — cin Schluß, der in der Tat vielfach gejogen wird —, dak mit Der swirt- 
ſchaftlichen Frauennot, gleichviel, wie fie befeitigt wird, aud Frauenbewequng und 
Frauenfrage aus der Welt gefchafit waren, cine Muffaffung, aus der heraus man fogar 
das draſtiſche Mittel der Zwangsheiraten plaujibel gu machen gefucht bat. 

Diefe Auffajjung ſchaltet die geiftigen Urfachen der Bewegung einfach aus Wie 
febr aber Ddiefe Urſachen mitgeſprochen haben, weiß jeder, der die Entwidlumg der 
Frauenbewegung aus dem Gedanfenfreis ihrer erjten Vertreter und Bertreterinnert bis 
in die Gegenwart binein verfolgt bat. Läßt fid) dod) überdies geſchichtlich leicht nach— 
weijen, daß ohne dieſe Urfachen aus der blofen wirtſchaftlichen Frauennot feine Frauen: 
bewegung wird. 

In feiner Studie fiber die Frauenfrage im Mittelalter weift einer unferer 
bedeutendſten Nationalbfonomen, Karl Bücher, nach, dag das deutſche Mittelalter 
unter einer wirtſchaftlicheu Frauennot litt, die viel weitgreifender und troftlofer 
geweſen zu fein ſcheint, als die des 19. Jahrhunderts. Qn den Stadten, von denen 
fiatijtifde Wngaben erhalten find, zählte man durchfdnittlid 1200 Frauen auf 
1000 Manner. Die vielen Unverjorgten, Nberfliiffigen aber fanden ſchon damals 
nur zum fleinen Teil in der Hauswirtſchaft ein Unterkommen. Die Getwerbe ftraubten 
fic) gegen die weibliche Arbeit. Das Kloſter wurde doch nur von verhältnismäßig 
wenigen Frauen aufgeſucht, und dasſelbe gilt von den Beghinenhäuſern, einer Art 
weiblicher Hausgenoſſenſchaft, zu der fic) die notleidenden und beimatlofen Frauen 
damals zuſammenſchloſſen. So finden wir denn Taufende von Frauen als „Fahrende“ 
auf den Landjtrafen oder als die ungliidliden Inſaſſen der ſtädtiſchen Frauenhaufer. 
Was fie da Hineintrieh, dafiir haben wir cin ergreifendes Zeugnis in der Gefchidte 
jened Predigers Rudolf, der im 13, Jahrhundert fein Leben der Rettungsarbeit unter 
Diejen Unglitdlichen widmete. Es wird uns berichtet, daß fie ibm antworteten: ,, Herr, 
wir find arm und ſchwach, wir können uns auf keine andere Weije erndbren; gebt 
un3 Wafer und Brot, dann wollen wir euch gern folgen”. 

Alſo cine Frauennot mit all jenen furdtharen Folgen für Familie und 
öffentliche Sittlichkeit — und dod feine Frauenbewegung. C3 geniigt yur Erklärung 
diejer Tatſache nit, auf die Atomiſierung der Frauen unter den alten Formen des 
wirtfdaftlidien und fosialen Leben hinzuweiſen, auf die Schwierigkeit, mit cinander 
Fühlung yu gewinnen, das Einzelſchickſal als cin Maſſenſchickſal fennen zu lernen, die 
allgemeinen Urjachen dafür ju ſuchen und ibnen gemeinjam entgegenjuarbeiten. Wo 
eS fich um die wirtſchaftliche Notwebr handelt, haben wir ja ſolche Gemeinſchafts— 
bildungen; aber niemals gebt da8, wads dieſe bezwecken, wofiir fie unter Umſtänden 
kämpfen, über die wirtſchaftliche Notwehr binaus, niemals erfafjen die Frauen ibre 
Lage unter dem Gefichtspuntt einer prinzipiellen Kritik an der Verteilung von Erijten;: 
möglichkeiten und Rechten unter die Geſchlechter, einer Kritif, die notwendig fiber das 
wirtſchaftliche Gebiet binaus auf andere Lebensverhaltnijfe hiniibergegriffen bitte. Es 
feblt das geiftige Moment, das dieje rein wirtſchaftlichen Kämpfe erjt zur Frauen— 

bewegung im modernen Sinn gemacht bitte. 

Und aud das andert an diejer Tatfache nichts, daß auch in friiberen abr: 
hunderten bier und da einmal cine ſtarke weibliche \ndividualitat den für ihr Geſchlecht 
gültigen Normen ihr inftinftives Selbſtbewußtſein entgegenfest. Ich evinnere nur an 
die hübſche Hoddseitsjjene in dem alten Spielmanngsroman von Ruodlieb, Der Brautigam 


Das Endjiel ber Frauenbewegung. : 707 


reicht der Braut auf der Schwertſpitze den Ming und ſpricht dazu: „Wie der Ring 
den Finger von allen Seiten umfaßt, fo verpflichte ich dich gu fefter und unwandelbarer 
Treue, die Du mir bewabren muft oder das Leben laffen.” Die Braut aber antwortete: 
», Was Hem einen recht ift, ift bem andern billig. Warum foll ich div bejjere Treue 
bewabren als du mir? Wdam hatte nur eine Eva, fo foll ber Mann mur ein Weib 
haben. Du läßt dich mit Bublerinnen ein und willſt dod nicht, daß ich eine fei. 
Ich werde mid) bitten, auf diefe Bedingung eingugehen. Geb’, leb’ wohl und fei jo 
Liederlidh, wie du willft, aber obne mid.” Da mufte er denn wohl nachgeben und 
fagte: „Wenn ich eS jemal3 wieder tue, fo will ic) die Giiter verlieren, die ich dir 
geben werde, und du ſollſt Macht baben, mid) zu enthaupten.” — „Unter diefer 
Bedingung”, antivortete fie, „wollen wir uns offen und ehrlich verbinden.” 

Sit es nicht, als horten wir Svava in Bjirnfons „Handſchuh“? Und doc ift 
bier eine weite Kluft. Denn aus der Frau der Spielmannsdichtung fpridjt nicht das 
Gefchlecht, fondern die einzelne Qndividualitat, die im Bewußtſein ihres befonderen 
Wertes ihre eigenen Bedingungen jtellt. Es ware ungeſchichtlich gedacht, wenn man 
in ihrem feden und fligen Vorbeugen gegen ihr wohlbekannte Gefabren eine bewußte 
Kritif an den Cinrictungen fehen wollte, die die Lage ihres Geſchlechtes beftimmten. 
Bu einer jolden Kritik feblen, wie ſchon gefagt, dem Mittelalter die getitigen Vor— 
bedingungen. 


* 


Worin beſtehen dieſe geiſtigen Vorbedingungen, und wie kam es dazu, daß ſie 
auf die Auffaſſung der Frauenfrage einwirkten? 

Das kann uns erſt klar werden, wenn wir die Frauenbewegung im Zuſammenhang 
der menſchlichen Geiſtesgeſchichte betrachten, wenn wir feſtzuſtellen ſuchen, wie die 
Frauenfrage ſich hineinſchob in die Reihe der großen Probleme, die das menſchliche 
Denken im Lauf ſeiner notwendigen Entwicklung nacheinander aufgeworfen und zu 
bewältigen geſucht hat. 


Bei dem erſten Schritt von dem naiven, dumpfen Hinnehmen der gegebenen 
Verhältniſſe und Lebensumſtände zu einem kritiſchen Erfaſſen der Wirklichkeit wandte 
ſich die Reflexion zunächſt den weiteſten, allgemeinſten Fragen zu: den letzten Urſachen 
der Erſcheinungswelt, dem Zuſammenhang der kosmiſchen Vorgänge. 

Der zweite Schritt führte dann dazu, die hiſtoriſch gewordenen Formen des 
Gemeinſchaftslebens, die ihrer Natur nach ſo viel komplizierter, regelloſer und willkür— 
licher zu ſein ſchienen, durch das Denken ordnenden Prinzipien zu unterwerfen. 
Vor dieſem Schritt, den Plato fiir die Antike getan hat, bleibt der Menſch des Mittel— 
alters ſtehen. Cr vermag nod) nidt den Gegenſatz von Qndividuum und Gefelljdajt 
yu _erfaffen, er gelangt noch nicht gu einem Standpunft, von dem aus die Frage nad 
der Vernunftgemäßheit der geſellſchaftlichen Cinrichtungen geftellt werden fann, die Frage: 
leiftet die Gefellfdhaft in ihrer augenblidliden Verfaſſung dem einselnen, was er 
beanſpruchen darf, und wie miifte fie befchbaffen fein, damit dies geleiftet wird? Erſt 
die Nenaiffance Hat diefe Frage von neuem — fiir die germaniſchen Völker zum erſten— 
mal — geftellt, und die franzöſiſche Revolution ift der große Proteft des zur Kritif 
erwachten bitrgerlichen Bewußtſeins gegen ftaatlide Cinridtungen, die ihren Wert vor 
diefer Kritik nicht zu erweifen vermochten. 


46° 


708 Das Endjiel der Frauenberwequng. 


Und mim erft fonnte cin dritter Scbritt geſchehen. Das denfende Bewußtſein, 
bas erft das Verhältnis des Menſchen gum Kosmos, dann ju dem engeren Kreis der 
ibn umgebenden ſtaatlichen Ordnung betrachtet hatte, wandte ſich min den innerſten 
Beziehungen zu, im denen der Menſch ſich fand: dem Verhältnis der Geſchlechter inner: 
halb der ſozialen Ordnung. 

Es iſt natürlich, daß dieſes erſt auf einer ſpäten Entwicklungsſtufe des menſchlichen 
Denkens zum Problem werden konnte. Hier ſchien durch die Natur ſelbſt alles ſo 
durchaus beſtimmt. Das Inſtinktleben, das perſönliche Empfinden hatte an dieſen 
urſprünglichſten ſozialen Beziehungen einen ſo entſcheidenden Anteil, daß ſie ſich als 
Problem des Denkens zunächſt gar nicht darboten. Und vor allem, das praktiſche 
Intereſſe, das der ſtärkſte Antrieb zur Kritik der ſtaatlichen Ordnung geweſen war, das 
Gefühl der Unbefriedigung, ſprach bei dem, der bis dahin allein den Träger des 
denkenden Bewußtſeins darftellte, beim Mann nicht mit. Er empfand fein Verbaltnis 
zur Frau als jo durchaus befriedigend, daß ihm nicht im entfernteften der Gedante 
auffteigen fonnte, auch bier fei cin Problem, aud) bier etwas, was einer Kritik nad 
Den neu gewonnenen ſozial-ethiſchen Mahitiben nicht ftand hielt. Und fo ftellt denn 
auch Rouffeau, als er feinen Staatsbau nach BVernunftpringipien auffiibrt, das Ver— 
hältnis der Gefdblechter einfach unter die Formel: La femme est faite spécialement 
pour plaire 4 Vhomme. Dah diefe Forme! mit den Grundlagen feiner Geſellſchaäfts— 
theorie in Flaffendem Widerfpruch ftebt, iiberfieht er. Mit dem JInſtinkt de3 Beſitzenden 
Halt er feine Prinjipien von diefem Gebiet fern. Nur die Frauen ſelbſt fonnten 
jie auf ibre eigene Stellung in der Geſellſchaft anwenden. Denn mur fiir fie bedeutete 
das berrjdende Syſtem, wie fiir den tiers état im Staat, Druck und Cinengung. 
Von ihrer Seite mufte die Nritif einfegen. Mary Wolftonecraft tat dieſen Schritt 
mit den Waffen des Jean Jacques felbjt. Aus feinen Vorausfegungen zog fie dic 
Schlüſſe fiir ihr eigenes Geſchlecht. 

Fajen wir nun zuſammen, twas dieſe Betrachtungen flar gemacht haben: Im 
Mittelalter Haben wie Frauenfrage und Frauennot, aber feine Frauenbewegung, weil 
der geiſtige Unterbau dafiir nod nicht vorbanden ijt, weil dem menſchlichen Denfen 
auf feinem Wege von außen nach innen die geſellſchaftliche Stellung der Gefchledter 
sucinander nod nicht jum Problem geworden war. Wir baben cine Frauenbewegung 
im 19. Sabrbundert, weil dieſe Vorbedingungen jest erfüllt find, weil aus der voran— 
gegangenen Kritik der Gefellfcaft die Maßſtäbe fiir die moderne Gejtaltung der Frauen— 
Trage getwonnen find. In der Fornuilierung des 19. Qabrhunderts beift nun die 
Arauenfrage nicht: wie find dieſe oder jene Gruppen vow Frauen, die unfere wirt: 
ſchaftlichen Verhältniſſe um ihre Exiſtenzmöglichkeiten gebracht haben, zu  verforgen? 
ſondern: wie iſt die Lage der Frau in ihren wirtſchaftlichen und ſozialen Beziehungen 
in Einklang zu bringen mit dem Selbſtbewußtſein der vollgiltigen ſittlichen Perſönlichkeit, 
das den eigentlichen Inhalt der Menſchenwürde ausmacht? 

* * 
* 

Die Frauen der Revolution, wie Olympe de Gouges und Mary Wolſtonecraft, 
die in der Sprache der Zeit die „Menſchenrechte“ fiir die Frau forderten, dachten ſich 
die Erfiilling ihrer Forderung leicht. Brauchte doch der Mann nur die Rechte, de 
er felbjt errang, aud der Frau zu gewähren. Was diefer begrifflich fo leicht aut: 


Das Endziel der Frauenbewegung. 709 


zuſtellenden Löſung tatſächlich im Wege ſtand, war jenen Jdealijtinnen nicht klar. Es 
lag in dem, was Burke damals der auf die Menſchenrechte gerichteten Geiſtesbewegung 
entgegenhielt: daß die geſellſchaftliche Ordnung nicht allein auf die Vernunft gegründet 
werden müſſe, ſondern auf die menſchliche Natur, von der die Vernunft nur ein 
ſehr kleiner Teil ſei. Und wenn irgend eine ſoziale Reform mit der Natur des 
Menſchen zu rechnen hatte, ſo war es dieſe, die in die perſönlichſten, mit dem Inſtinkt— 
leben am engſten verbundenen menſchlichen Beziehungen eingreifen mußte. Und eben hier 
lagen die ſtärkſten widerſtrebenden Mächte. Gewiß war der Gedanke ſehr plauſibel, 
daß der Mann die Frau zur gleichberechtigten Bürgerin machen könne, wenn er nur 
wolle. Aber es gehörte mehr geſchichtlicher Sinn dazu, als jene Zeit beſaß, um zu 
begreifen, daß er es noch gar nicht wollen konnte. 

Jahrhunderte hindurch hatte die geiſtige Perſönlichkeit der Frau — immer von 
einzelnen feinen und hochſtehenden Naturen abgeſehen — für den Mann keine ent— 
ſcheidende Rolle geſpielt. Sein perſönliches Verhältnis zu ihr erhielt ſeine Färbung 
durchaus durch die Vorherrſchaft des Inſtinktlebens. Dem geiſtlich gerichteten Asketen 
erſchien das Weib als das fiindige Gefäß; dem, der ſich unbefangen zu ſeiner 
Menſchlichkeit bekannte, immer doch vor allem als Geſchlechtsweſen, deſſen Beſtimmung 
in ihm ihren Mittelpunkt hatte. Auf der einen Seite fragte man, ob ſie eine Seele 
haben könne, auf der andern Seite brachte der Sprichwörterſchatz der Völker in 
unendlichen Wendungen lange Haare und kurzen Verſtand zuſammen. Wie ſollte man 
dazu kommen, der Frau plötzlich eine ſoziale Stellung zu geben, als ſei ihre geiſtige 
Perſönlichkeit dem⸗Manne in jeder Hinſicht ebenbürtig? Co mächtig ſich der voraus— 
ſetzungsloſe Rationalismus gezeigt hatte, als er die Jahrhunderte alten feudalen 
Herrſchafts- und Dienſtverhältniſſe in Trümmer ſchlug — hier konnte ihm kein raſcher 
Sieg zufallen. Er konnte nicht mehr als einen Umbildungsprozeß einleiten, der dieſes 
letzte Stück Inſtinktleben allmählich vergeiſtigte. 

Und ſo beginnt der Kampf, vielleicht der tiefgreifendſte, den die Menſchheit 
gekannt hat. Es gibt kaum ein Lebensgebiet, das er in ſeinem Verlauf nicht berührt hätte. 


* * 
* 


Zunächſt waren es die wirtſchaftlichen Umwälzungen, die dieſem Kampf einen 
breiten Schauplatz gaben. Sie ſchufen wieder eine Frauennot, die wirtſchaftliche 
Frauenfrage des 19. Jahrhunderts. Und damit wurde der Kampf der Geiſter in den 
Lüften übertäubt durch den raſch entbrennenden Konkurrenzkampf auf heiß umſtrittener 
Erde, in dem alle jene ideellen Anſprüche ſich zu ſehr realen Forderungen verdichten 
mußten. 

Es war ſelbſtverſtändlich, daß ſich hier, wo es um das nackte Daſein ging, die 
Gegenfätze ungeheuer verſchärften. Maſſen von Frauen waren plötzlich, auch ohne 
ihren Willen, in das öffentliche Leben hinausgedrängt, fie hatten den wirtſchaftlichen 
Mächten iby tägliches Brot absuringen wie der Mann. Das Leben legte ihnen feine 
Yaften und Pflichten auf, ohne Rückſicht auf ihr Gefeblecht; wollten jie nicht unter: 
liegen, Jo mußten fie die gleichen Mittel haben, diefe Laften zu bewaltigen: Bildungs- 
und Berufsfreibeit, und ſchließlich die öffentlichen Rechte, die im modernen Staats: 
leben mehr und mebr auch das Mittel wirtſchaftlicher Selbjtbebauptung wurden. Co 
prigte das moderne wirtſchaftliche Leben die allgemeinen Pringipien, die feit Olymype 


710 Das Endziel der Frauenbewegung, 


de Gouges und Mary Wolftonccraft aufgeftellt waren, in eingelne praftifdhe Forderungen 
um, und teilte ibnen etwas von der mechaniſchen Wucht realer wirtſchaftlicher Not— 
wendigkeiten mit. 

Es war gewiß nicht zu verwundern, dak der Mann gewöhnlichen Schlages, Der 
dieſen Anſprüchen der Frauen auf feinem eigenen, durch die Vorgänge im Wirtfdafts- 
leben felbft arg bedrängten und erſchütterten Berufsgebiet begeqnete, nur an Die 
Wabhrung feines Beſitzſtandes dachte und fic) gu allen Mitteln wirtſchaftlicher Notwebr 
berechtigt glaubte. Aber eS mufte aufs tiefite erbittern, wenn die Frauen aud) da 
nur auf Geringſchätzung und ironiſche Abwehr ftieBen, two cin objeftived, über 
perjontichen Intereſſen ſtehendes Verjtindnis fiir ihre Lage gu erwarten gewefen ware. 
Auch die Wiſſenſchaft ſprach von der , Weiberemanjipation”, die aus dem ,,Sdlamm 
der fberbildung” aufgeſtiegen fei, und ſchlug mit dem Hinweis auf den befannten 
Feblbeftand von 8 Lot Hirngewidht vor den Frauen die Tür zu. 

Dieſe zuerſt untiberivindlicde Oppojition im Zufammenbhang mit den fo ſchwierigen 
und vieldeutigen wirtſchaftlichen Verhaltnijjen ließ aud) das eigentlide Wefen der 
Frauenbewegqung nicht immer rein bervortreten. Überſehen wir fie in ibren erjten 
Anfingen, fo erſcheint fie uns felbft nod) vielfach ihres Weges nicht ſicher. Ihr 
Programm entwidelt fic) im Kampf, und es leidet an den Cinfeitigfeiten eines Kampf— 
programms. Wan erfafte wirtſchaftlich mechaniſche Vorgänge, wie fie 3. B. die 
Regelung der Frauenlöhne beftimmten, als perſönliche Ungeredtigtciten, man täuſchte 
fidy dilettantiſch über das Gewicht männlicher Rulturleijtungen; man überſah, von 
einzelnen ftarfen Andividualititen auf die Wlgemeinbeit ſchließend, wie weit der Frau 
in ibrer Beſtimmtheit durd) die Mutterſchaft für die Erfüllung voller mannlider 
Berufsſphären Schranken gefest waren, und hielt an dem Dogma der vollen Berufs- 
freibeit aud gegenitber den Ddringendften’ Forderungen de3 Arbeiterinnenſchutzes felt. 
Man fegte überhaupt die Mannerleijtung als abſoluten Maßſtab und überſah, dak das 
jtirfite Argument fiir die Anfpritche der Frauen die Cigenart ibrer Leiftungen iſt. 

Nicht minder ſcharfe Formen nahm der Kampf an, al¥ er aus dem engeren 
Kreis der einjelnen Berufsgebiete auf den weiteren de3 Staatslebens binaustrat. Die 
Arauen faben und ſehen alle Tage, wie eingiq der feine Anſprüche durchſetzt, der dic 
Hand auf die Klinke der Gefeggebung zu legen vermag, und fo wird aud von der 
wirtſchaftlichen Seite her eine Forderung bekräftigt, die in Landern mit ausgeprägt 
demokratiſchem Bewußtſein ſchon im Anfang der Bewegung praktiſch verfolgt wurde. 

Der wirtſchaftliche und der ſozialpolitſche Anhalt ihres Programms machte die 
Frauenbewegung zur Maffenbewegung, nétigte fie, ſich Schlagworte zu prägen, 
Organiſationen zu ſchaffen, und ſammelte eine Gefolgſchaft von Tauſenden um ihre 
Fahnen. ES liegt etwas Impoſantes in der unbeirrten UÜberzeugtheit, die ſich in 
eindrucksvollen Maſſenkundgebungen gegen Jahrtauſende alte rechtliche und ſittliche 
Begriffe wendet und mit der Zuverſicht jenes alten „Gott will es!“ der Kreuzfahrer 
das Land der Zukunft ſucht. Daß dabei zugleich eine gewiſſe Senkung des Niveaus 
eintreten muß, daß das Gold in kleine gangbare Münzen umgeprägt wurde und nicht 
eben die feinſten Naturen zuweilen im Vordergrund ſtanden, das iſt eine Erſcheinung, 
welche die Frauenbewegung mit jeder anderen Maſſenbewegung teilt. 

An dieſem Punkt aber bat ſich cine Reaktion entwickelt, die i dem letzten Jahr— 
zehnt das vielgeſtaltige Gewirr des Kampfes mit neuen Tendenzen durchkreuzt hat. Es 
iſt jener aſthetiſche Individualismus, wie ibn Ellen Kev in die Frauenbewegung eingeführt 





Das Endziel der Frauenbewegung. 711 


hat. So lange dieſe Individualiſtinnen dem großen ſozialen Kampf gewiſſermaßen 
vom Bagagewagen aus zuſehen nnd über die Häßlichkeiten darin etwas preziös die 
Naſe rümpfen, haben ſie für die Frauenbewegung wenig zu bedeuten. Sie ſollten ihr 
unbefriedigtes äſthetiſches Empfinden, das ſich von der „Frauenſache“ verletzt abwendet, 
mit dem Wort Hölderlins zum Schweigen bringen: Wie kann man die Schönheit 
ſeiner Haltung wahren, wenn man im Gedränge ſteht? 


Aber dieſe Richtung, die aud) der Frauenbewegung mit den Forderungen der 
„Lebenskunſt“, de3 ſchönen Egoismus, gegeniibertritt, droht dod, den Mittelpuntt ibres 
ganzen Programs ju verfdieben, indem fie da individualiftifche Pringiy da an die 
Stelle deS fozialen fest, wo es am verhingnisvollften werden mup, auf dem Gebiet 
ber ſexuellen CSittlichfeit. Denn geht die Frauenbewegung ibrem Urfprung und ibrem 
ganzen Wejen nad) darauf hinaus, das Verhaltnis der Gefchlechter durch die Betonung 
der geiftiqen Perſönlichkeit der Frau neuen fittlichen Anfehauungen zu unteriwerfen, 
fo muß fie auf dieſes Gebiet ſchließlich ihren ſchärfſten Nachdruck legen, wie fie bier 
Dem ſchärfſten Widerftand begeqnen muß. C3 ift cine Lebensfrage fiir fie, ob bier 
an Stelle der Rückſicht auf die Gefamtheit cin individuelles Sichausleben cingefest 
wird, ob man bier tiber dem gum modernen Schlagwort gewordenen „Schrei nach 
dem Kinde” das Rind felbjt und feine Entwidlungsmiglidfeiten vergift. Und eben 
darum muß die Frauenbewegung auc) innerhalb ibrer eigenen Reiben den Kampf 
aufnebuten gegen alle, die das Vorrecht des Inſtinkts, dad fie beim Manne bekämpft, 
bet der Frau wieder proflamicren wollen. 


So wogt der Kampf bin und her, auf den verjcbiedeniten Gebieten, fo drängt 
die Bewegung vorwärts, nicht immer den inneren Gejegen ihres Fortidrittes folgend, 
nicht immer die Sterne im Auge, die ihr die Richtung geben miifjen, auch darin feine 
Ausnahme von den allgemeinen menfchlichen Gefegen. Auch von diefem Kampf gilt 
das Wort des Didhters: 


Wer in der Sonne fimpft, cin Sohn ber Erde, 

Und feurig geifelt das Gefpann ber Pferde, 

Wer briinftig ringt nach eines Zieles Herne, 

Bon Staub umwöllt — wie glaubte ber die Sterne? 


Doch, jo heift es weiter: 


Dod bas Gefpann erlahmt, die Pfade dunkeln, 

Die ew'gen Lichter fangen an ju funteln, 

Die heiligen Gefeke werden ſichtbar, 

Das Kampfgeſchrei verftummt — der Tag ift ridtbar. 


Die eit ift nicht fern, da auch unfer Tag ridthar fein wird. Shon feben 
aud) wir durd) dad Staubgewölk die ewigen Lichter funteln. Und ſchon ijt es uns 
möglich, die Formel zu finden, in der das in der Frauenfrage geftellte Problem fich 
löſen wird. 

* * 

Man hat wohl gemeint, diefe Löſung fei mit dent Tage gegqeben, der die volle 
Rechtsgleichheit der Gefcblechter bringt. Ich fann in diefer Rechtsgleicbeit nichts 
weiter erbliden alg eine — und nicht cinmal die einzige — notwendige Voraus— 
ſezung fiir das Biel, keineswegs das Ziel felbjt. Sie ijt die Schale, nicht der 


712 Das Endziel der Frauenbewegung. 


Kern; fie febafft der Frau nur cinen Raum, und es font darauf an, wie fte thn 
ausfüllt. Und diefed „Wie“ kann nur aus der Verpfliditung abgeleitet werden, Die 
allein dem Menſchenleben Sinn und Wiirde gibt: die fittliden Gefewe Der eigenen 
Perſönlichkeit in Lebensformen gum Ausdrud ju bringen. 

Auf die Frauen angewandt bedeutet das nichts anderes, als die volle Wirfung 
ihres Frauentums, ihrer Cigenart, anf alle Lebensiuferungen der Geſamtheit. Nicht 
darauf fommt es an, dak ibnen bier und da cin Teilgebiet der Manneswelt frei: 
gegeben wird, nicht daranf, ob fie dieſen oder jenen Beruf ausüben oder nidt, ſondern 
auf etwas viel Größeres und zugleich Innerlicheres: darauf, daß die Frau aus Der 
Welt de3 Manned eine Welt ſchafft, die das Gepräge beider Gefehlecdter trigt. Die 
Frau will nidt nur äußerlich die qleichen Möglichkeiten haben, ju wirfen, am Leben 
teilzunehmen, fondern fie will in died Leben ihre eigenen Werte tragen, fie will dadurch 
eine neue foziale und ſittliche Geſamtanſchauung ſchaffen, in der ibre Maßſtäbe diefelbe 
Geltung haben wie die des Mannes. 

In der Empfindung dafür, daß dies, die Verwertung der cigenartigen Frauen- 
fraft fiir bie Rultur, die letzte Mufgabe der Frauenbewegung fei, liegt das Berechtigte 
und Fruchtbare jener vorbin gefennjeidneten individualijtijden Richtung. Nur mugs 
fie fic) bitten, ihre Forderungen utopijtijd auf Gebiete anzuwenden, die unter Der 
Herrſchaft volkswirtſchaftlicher Notwendigkeit ftehen. Cie fann weder mechaniſch 
beftimmte Gebiete der Criverbstitigfeit fiir die Fran. vorbehalten oder fperren, noch 
barf fie vergeſſen, daß unfere beutigen Verhaltniije mur febr wenigen Menſchen das 
(lid gewabren, in ihrem Beruf ibre Perſönlichkeit sum Ausdrud ju bringen, fo 
ſehr das natürlich eine Forderung feinjter menſchlicher Kultur wire. Angeficte 
unjerer modernen Arbeitszerlequng it es cine unberechtigte Einſeitigkeit, über „miß— 
brauchte Frauenfraft” iiberall da ju flagen, wo die Frau im Beruf nicht ibre 
befondere Kraft werwerten fann, Mit dem gleicen Recht fann man von „miß— 
brauchter Männerkraft“ reden. Aus einer großen amerikaniſchen Schweineſchlächterei 
wird berichtet, daß ein Mann dort ſeit 38 Jahren nichts tut, als täglich mit dem— 
ſelben Handgriff zahlloſe Male die an ihm auf einem Triebrad vorbeigeführten Tiere 
zu töten. Das iſt ein beſonders kraſſes, aber für das Weſen der induſtriellen Arbeit 
doch typiſches Beiſpiel. Wenn ſo das Leben von Millionen von Arbeitern ſich um 
einen und denſelben Handgriff dreht, ſo kann die Frau nicht erwarten, davon eine 
Ausnahme zu machen. Ob und wie dieſe Zuſtände zu ändern ſind, ob der größte 
Teil der Menſchheit dauernd darauf verzichten muß, in der Berufsarbeit zugleich die 
volle innere Befriedigung zu finden, kann niemand vorausſagen. Einſtweilen aber 
darf man nicht für die arbeitende Frau Ideale aufſtellen, die auch für den Mann 
unter den heutigen wirtſchaftlichen Verhältniſſen gar nicht verwirklicht werden können. 
Deshalb bleibt es natürlich doch mit die wichtigſte ſozialpolitiſche Aufgabe, durch einen 
den Verhältniſſen vorſichtig angepaßten Arbeiterinnenſchutz die Frau aus der ungeheuren 
Tretmühle der Induſtrie für ihren Mutterberuf zurückzugewinnen. Sonſt würde hier 
allmählich ein Stück weiblichen Einfluſſes verloren gehen, das an keiner andern Stelle 
zu erſetzen, auf keine andere Weiſe wieder einzubringen wäre. 

Da aber, wo die Arbeit noch Perſönlichkeitsausdruck ſein kann, wo wirklich 
geiſtige und ſeeliſche Werte in ihr Leben gewinnen können, wo es ſich um den Aufbau 
der Kultur im eigentlichen Sinne handelt, ſoll das weibliche Prinzip überall neben 
das männliche treten. Wäre die Welt des Mannes die beſte der Welten, erfüllte fie 


Das Endziel ber Frauenbewegung. 713 


tatficlich, wenigſtens in ihren grofen Nichtlinien, ein fittliches Ideal, fo finnte man 
dieſen Anſpruch der Frauen bheftreiten. Wher wenn die gewaltige wiſſenſchaftliche und 
technifde Kultur unferer Zeit als ſpezifiſche Leiſtung des Mannes anerfannt werden 
muß, fo tragen doch aud) die großen fosialen Mißſtände, die mit diefer Kultur empor- 
gewachſen find, ebenjo fein Gepräge. Und vieles von dem, was diefen fozialen Miß— 
fttinden zugrunde fiegt, bat feinen natiirlichen Gegner in der Frau. Nicht ihr ent}pricht 
e3, dak immer nod) das Fauftrecht zwiſchen den Volfern herrſcht, wenn aud) unter 
rechtlichen Formen; nicht fie ijt verantwortlic, wenn Verwahrloſung und Alkohol die 
Gefängniſſe fiillen und der Staat das fittliche Bewußtſein der mannlichen Jugend 
vergiftet durch das von ihm geduldete und unterftiigte Lafter. Mit dent Männerſtaat 
find diefe Zuſtände gu furchtbaren Schäden erwadjen, die jest als dunkle Probleme 
Der Kulturmenſchheit febier unlösbare Aufgaben ftellen. 

Nicht als ob von dem Tage an, wo dem öffentlichen Einfluß der Frauen Fein 
äußeres Hindernis mehr entgegenfteht, dieſe Aufgaben fofort gelbjt fein witrden. Die 
Frau hat unter Drud und Verwabrlofung fo mance Eigenſchaft in fich groß werden 
lafjen, die erſt unter der Verantiwortlichfeit des Sffentlichen Lebens allmählich verſchwinden 
muß. Auch find die Rrafte, die hier ing Spiel fommen, zu fein, zu innerlich, um 
diupere Cinrichtungen ſchnell umgubilden, die ibnen mit der ganzen Wucht Jabrtaujende 
alter Nberlieferungen gegeniiberitehen. Und dennoch ift in diefen Kraften ein Korrektiv 
von höchſter Bedeutung gegeben. Und fo ficher, wie im organifeben Leben neue Kräfte 
neue Lebensformen fcbaffen, wird der Einfluß der jum Selbſtbewußtſein, gum Glauben 
an fic) erwachten Frau andere, iby gemäßere foziale Verhältniſſe yu ſchaffen vermigen. 
Vielleicht ſehr langſam — nicht durch wenige dufere Siege der organijierten Frauen: 
bewegung, fondern durch die von innen heraus jtill und allmählich wachſende Macht 
eines neuen Willens. Qe ſtärker er wird, um fo weniger wird er de3 äußeren Kampfes 
beditrfen, um ſich durchzuſetzen. Den Menſchen felbft unbewußt, in jenem heimlichen 
Spiel geiftiger Kräfte, das hinter jedem Werturteil, hinter jeder Willensäußerung und 
jedem Glaubensſatz der Menſchheit fteht, wird diefer neue Frauenwille wirkſam werden. 
Wie weit e3 ihm gelingen wird, fic in den ſozialen Lebensformen der Sufunft yur 
Beltung zu bringen, und wie diefe Lebensformen beſchaffen fein werden, das können 
wit jetzt nicht vorausfagen. Aus einer ernfthaften Betrachtung folcher Probleme müſſen 
alle billigen Sufunfts-Utopien ausſcheiden, um fo mehr, als unter dem langſamen 
Einfluß diefer Kräfte ſelbſt ſich allmählich die Maßſtäbe ändern werden, die die jebige 
Generation allzu eilfertig mit der Gehirnwage in der Hand beſtimmt hat. Aber der 
Richtung, in der ſich der Einfluß der Frau auf das Kulturleben äußern wird, iſt 
ſich die Frauengeneration der Gegenwart ſchon bewußt. Er wird in die große 
Geſellſchaftsordnung nod einmal alle die Kräfte einführen, die den geiſtig-ſittlichen 
Untergrund der Familie gebildet haben: die feine menſchliche Rückſicht auf den andern, 
gleichviel ob er ſtark oder ſchwach, ob er geiſtig reich oder arm iſt, die liebevolle Achtung 
vor dem Einzelleben überhaupt, die geiſtigere Auffaſſung des ſexuellen Lebens und 
das immer gegenwärtige Bewußtſein, daß wir hier im Dienſt der Zukunft ſtehen und 
der kommenden Generation verantwortlich find. 

Dieje Kräfte werden denen des Manned zur Seite treten, nicht an ibre Stelle. 
Nur ein ganz unpſychologiſches und ungesligeltes Denfen fonnte darauf verfallen, die 
Mapitibe des Mannes durch die der Frau verdrängen und in der Frau ein neucs 
„führendes Geſchlecht“ an den Platz des alten ſetzen zu wollen. Nicht wm eine neue 


714 Detlev von Liliencrons Kriegslyril. 


Majorifierung der einen durch die andern handelt es fic, fondern um die Verſchnielzung 
der mit den beiden Geſchlechtern gegebenen geijtigen Welten. Vielleicht wird dieſe 
Verſchmelzung den geijtigen Faktor in der Menfchheitsentwidlung fo ftarf maden belfen, 
bah er den wirtſchaftlich- mechaniſchen Triebfriften die Wage zu balten vermag. Wiel 
leicht finnte fo die gewaltige Cinbufe an allgemeiner perfinlider Kultur, mit der 
unſere mächtige dupere Entwidlung erfauft worden ijt, wenigitens yum Teil wieder 
eingebracht und der den materiellen Fortſchritt beberrfdenden Maſchine der Menſch 
wieder entrijjen werden. 

Diefe BVereinigung der beiden geiftigen Welten gu einer ſozialen Gejamtanidauung, 
in der feine etwas von ibrer Kraft einbiift, das ift Das Endziel der Frauenbewequng. 
Wenn es erreicht ift, fo wird es fein führendes Geſchlecht mehr geben, fonder nur 
nod führende Perſönlichkeiten. 


setae 


Vetley von hiliencrons Kriegslyrik. 


Dr phil. Helene Herrmann. 


Nadbrud verboten. 





(Los find nicht nur die Biele ded Kampfes, nicht die patriotiſchen Ideale, die in 
yy j Niliencron das Feuer der Kriegspoefie entziinden. Das erfennt man am bejten, 
OGe® wenn man feine Kriegsdichtung mit anderer patriotiſcher Poeſie vergleicht. 
Sparjamen Gebraucd macht er von den Worten Vaterland, Chre, Rubm, Heldentum, 
von denen fonft ſolche Dichtung überfließt. All das lebt fo ftarf in feiner Seele 
wie in der irgend eines Geſinnungsdichters. Cr aber ijt nie Poet der Gefinnung, 
immer Poet des Lebens. Das bat fich den Betrachtern feines lyriſchen Schaffens 
aufgedringt: wieviel mehr das gefamte Lebensqefiihl des Kampfes Gegenitand feiner 
Didtung ijt. Das Zerjtreuende, Verzettelnde des Alltags ijt bier aufgeboben, die 
Cinjtellung des Menſchen in eine einbeitliche Reibe von Willensanftrengungen und 
Handlungen vereinfacht das Leben nicht nur, es macht es fo intenfiv, fo primitiv 
nachdrücklich, daß es in jeder Sefunde als gegenwärtig und wirfend empfunden werden 
faun. Selbſt die äußerſte Erſchöpfung erfebeint in diefem ſtürmiſchen Rhythmus nicht 
als eine tote Strecke; es iſt der notwendige Abſtieg, dem bald ein ſteiler Anſtieg folgen 
wird. In allen Dingen reißt den Dichter das am meiſten fort: die Stärke, mit der 
ſie das Leben offenbaren. 

Aber man darf nicht nur dieſe Erhöhung der eigenen Lebensenergie, die ihm 
der Krieg ſchenkt, als das treibende Gefühl betrachten. Liliencron, ſo ſehr er eigen— 
williger Einſamkeitsſucher iſt — er hat doch auch wieder und nicht nur in den Stunden 
leidenſchaftlichen Genießenwollens das heiße Intereſſe an den Erlebniſſen der anderen, 


⸗— 


Detlev von Lifiencrons RKriegdlorit. 715 


den Drang, fic in eine Bewegungswelle gemeinfamen Seins aufnebmen zu laſſen. 
Gr, der es vermag, fo oft er will, nur den Stimmen in feinem Innern ju laufden, 
ift doch auch ein bungriger Beobadter der anderen, aber einer, der nicht auf dem 
Bufdhauerpoften bleiben mag. Neben den ſozialethiſchen Tendenjen, die bei ibm, dem 
adelafroben Junkerblut, fo liebenswert find, befigt er wohl aud ftarle, ich möchte 
fagen, ſozialäſthetiſche Inſtinkte. Und die befriedigt der Krieg. Er fühlt nicht nur 
in fic) felbft dieje Vereinfacung und Verſtärkung des Lebens wie ein pofitives. Gliid, 
das nad Ausdrud verlangt, er fiebt um fics, ſieht die anderen, Die Rameraden, die 
Vorgejesten und Untergebenen in dem jelben unanjbaltjamen Gang des Lebens, fiebt 
jein Eigenes vielfach gefpiegelt, von taufendfacer Refonan; verſtärkt. Dies fdeint mir 
cin wichtiges Moment, das ibm, alles Vielfache und Wirre der Geſchehniſſe mit grofen 
Linien umfpannend, den Krieg in die Sphäre künſtleriſcher Criften; riidt. Man bat 
recht gebabt, feinen Schlachtenraufd mit dem Sturm feiner Erotik, mit der feurigen 
Spannung der Jagdftunden yu vergleiden — das aber ſchenkt ibm der Srieg über all 
jene Erlebniſſe hinaus. — 

Daß ibm das Waffenhandwerk ritterlich Erbe iſt, die Waffenfreude Urinſtinkt 
des Blutes, ſpürt man in ſeinen Liedern: schildes ambet ist min art. Und noch eins 
fommt dazu, was ibm die Lebensgefiible des Krieges fo wohl vertraut macht: er, der 
Giitige, Herjwarme fennt auch die entgegengelesten Regungen nicht nur vom Hören— 
fagen; er ift ber Gerferferwut fähig, der erſt villige Vernichtung des Gegners genugtut. 
Gedichte wie „Die gelbe Blume Ciferfucht’, Cpifoden wie die Meſſerſtechſzene in 
wit bav di lev”, Ausdrücke perfinliden Haſſes wie „Unüberwindlicher Widerwille” 
verraten das jähe Emporzucken folcher Berferferinftinfte in feiner Volnatur. Solche 
Urgefiible mochten wohl im Moment de3 „An den Feind fommens” in ibm mebr als 
in anderen practvoll auflodern, und feine blofe Gefte find und darum Verſe wie die 
folgenden aus Poggfred: 


„Und nun Trompeten, Trommel(n, Schwerterſtunden, 
Bringt mir den Helin, die Sharpe: Sorn und Sant, 
Die Weiber ins Verließ, bis fie die Wunden 

Uns wafden. Dank, ibr Himmliſchen, babt Dank. 
An meineds Hengſtes Schweif den Feind gebunden! 
Heraus bie Plempe! An die Fleifcherbant! 

Die Dörfer brennen, beulend ftirbt die Wut, 

Der Abend flirbt getaudt in rote Glut!“ 


Ebenſo wie diefe blutdiirjtige Schlachtenfreude bat ihm fein tiefes Mitfühlenkönnen, 
fein inniges Erbarmenmiifjen das Caitenjpiel geftimmt. Go wenig er die lebenfcbaffende 
Kraft des Schlachtgetümmels, feine ftarfen Errequngen und feine wilde Poefie enthehren 
möchte, fo wenig bat er je das Entſetzliche, Erbarmungslofe des Krieges vergefjen 
können. Schauerviſionen, wie fie der apokalyptiſche Reiter auf ſeinem Wege ausſtreut, 
fieigen ibm nod nach Jahrzehnten empor. Nicht immer ijt in feinen Verfen Melodie 
des Schlachtentodes erflungen, die das fterbebheitere Vollslied anſchlägt, das er fo ſehr 
licbt: „Kein ſchöner Tod ijt auf der Welt, als wer auf griiner Heide fällt!“ Nicht 
immer nur ijt fie vom letzten Friedensfchimmer erbellte Elegic, wie im köſtlichen 
„Tod in Abren”, nicht immer erhaben wehmütiger Tobdesfriede wie in der Kriegs— 
novelle „Verloren“ oder Todesichinbeit, wie im Bild des blutjungen Coldaten, der 
im Todesſturz den vollen Roſenſtrauch ergriffen und auf feine Bruft berabgezogen bat, 


716 Detlev von Liliencrons Kriegslyrik. 


iiber ifm „die unendlich feine, blaugelbe Sichel ded erften junehmenden Mondes“. 
Die Troſtloſigkeit cines ſolchen Jugendgeſchickes, dads junge Lied eines frifden Lebens, 
das echolos im Schlachtgewühl verhallt, erqreift ibn oft im tiefſten. „Kolin. Mein 
Sohn verſcharrt im Sand, wer weif wo?” Dann wieder gibt er mit furchtbarſtem 
Realismus den Tod des von der Granate Zerfetzten, des Schwerverwundeten: „Sabt 
ibr den Sterbenden? fein Auge jtiert: Wafer, Wafer, die Sonne will ibn braten”. 
Das Grauenbild des fterbenden Kameraden, der verduritend, furchtbar verſtümmelt, 
pom Freunde den lepten Liebesdienft, die erldfende Kugel erfleht, das Huge des 
Verfciedenen „anklagend und leer“, das Cinfrallen dex Hände ing feuchte Erdreich, 
„die nadten Arme in bechtgrauer Farbe mit ineinandergeframpften Fingern”, der Todes- 
ſchrei des angefetteten, halbverfoblten Pferdes in der brennenden Scheune — all das 
hat unauslöſchliche Male in jeine Seele gegraben, und auch diefe Partien feiner Kriegs— 
dichtung haben Gewalt über uns. Wie er fic) bei aller wilden Lebensluft nicht mit 
feichtem Optimismus den Scbhrednijien und Gemeinbeiten des Dafeins verſchließt, mite 
fie ibm notwendiges Gegenbild der höchſten Lebensſchönheit find, die er zu finden 
wei, fo fann feine Seblachtentuit ibn auch nicht blenden, wo die Greucl des Rrieqes 
ibn angrinfen. Dah feine Seele nicht fo geartet ijt, daß er mit der Wucht Govafcher 
Geſinnung die letzten unbarmberzigen Tiefen de3 Grauens auszuſchöpfen vermöchte, 
fann nicht überraſchen. Seinem blitzenden Leichtſinn blibt nods am Hande des Ab— 
grundes wildeſter Kriegsgefahr eine ſchnell erhaſchte Blume. 
peichtfinnig bab ic) bas Leben genoſſen, 
Deffen bin ich froh; unter allen Poſſen 
War mir immer am meiſten guwiber der Narr, 
Der ben Kopf hangen liek im furchtbaren Wirrwarr, 
Der nicht bas wenige Begehrenswerte fich fijehte, 
Das unter Greueln der Tag ihm tifehte!” 
So wie es beinahe ſcheint, daß ihm dev lebte feinjte Ausdrud jeder voll durchlebten 
Naturfituation, jedes Runfterlebniffes irgend cine LiebeSftunde ijt, die Damit in feinem 
Erinnern fich verfnitpft, fo ware aud) feine Kriegsdichtung nicht zu denken obne folche 
Stunde, wie er fie in dem frifdden Widmungsgedidt an Klaus Groth bejdreibt. 
Sie wirft ibren Glanz über die Crinnerung an raubes Winterquartier im Feindes— 
and. Gr im verfallenen Hüttchen, drin die Ziqeunerin mit dem hübſchen ſechzehnjährigen 
Enkelkind hauſt, am ſchnell entfachten Feuer dic erftarrten Glieder warmend, bingeftredt, 
den Kopf in beĩde Hände geſtützt, aus dem mitgefiibrten Quidborn „die gold'ne Fiille 
jeiner Ocimatlicder” fcbliirfend. Und ibm gegeniiber das Mädchen „zaghaft erft, dann 
dreijter, 
poaupt gegen Haupt, diefelbe Stellung findend, 
Das Kinn auf die geballten Fäuſtchen laſtend ... 
Und ich [a8 ihr von ,,Unrub Hans", nod feb ich ihre Augen 
Die dunfelbraunen, ftaunend mid) betrachten, 
Seb auf der bronzefarbenen Stirn cin Liddjen, 
So ſchwarz, als war' es aud der Nacht gefprungen . . .” 


Und echt Liliencronifch: in died febnell erblühte Idyll feblagt der Donner ciner 
in der Nähe plagenden Granate cin und wirft das erfebrodene Madden dem Dichter 
in die Arme und zugleich als ein ſtets beivahrtes Erinnerungszeichen ein Stückchen 
Ralf von der Dede in das Bud, ein Stückchen, dads vielfagend ſchalkhaft gerade auf 
der Stelle liegt: „Ik fprung nods in de Kinnerbür, da weir if all en Daugenix“. — 


J 





Detley von Liliencrons Kriegslyrik. 717 


Dies herzhafte Erfaſſen vieler Seiten, vieler Möglichkeiten der Crlebniffe — 
De Tragiſchen, Grofen, wie des Heiteren und Genrehaften — dieſes Charafterijtifum 
Liliencronſcher Dichtung, offenbart auch die Kriegslyrik. Und dieje jubelnde Lebensluft 
in aller Todesnähe, die uns aus ſolchem Idyll entgegenflingt, aud) fle iſt Grundton 
von Lilienerons Kriegslyrik: „Tod ift des Lebens höchſtes Unterpfand”. 

So wie dem Menſchen Lilieneron der Krieg ein Erlebnis von unvergeßlicher 
Fülle war, ſo war er's auch dem Künſtler, der in dem jungen Soldaten ſchlummerte. 
Seine ſtärkſten und feinſten artiſtiſchen Inſtinkte hat der Krieg befriedigt. Wir haben 
darüber intereſſante Bekenntniſſe von ihm ſelbſt. Ich nenne den Begleitbrief, mit dem 
er vor vierzehn Jahren ſein ſchönes Gedicht „Ich ſtand an eines Gartens Rand“ 
an ein Organ der jungdeutſchen Dichter einſandte: „Es iſt mir“, ſo ſchreibt er, „das 
kleine Schlachtenzwiſchenſtück faſt wörtlich begegnet. Ich entſinne mich genau. Ich 
ſtand, als die Oſterreicher in leuchtendſter Juniſonne anrückten mit dem Radetzkymarſch 
Den ganzen Tag mit Sack und Pac, auf meinen Säbel gebeugt, mit weiten Mugen 
und offenen Lippen und ftarrte die Schönheit dieſes Bildes: den in wundervoller 
Haltung beranfommenden Feind an. Erſt mein bald darauf durch die Brut gefchoffener 
practiger Hauptmann rif mic) aus meiner, ich möchte fagen Lähmung . . . beraus 
mit den Worten: jum Satan, Liliencron, wir figen bier nicht im Theater’. 

Mund wie er hier in Kitnjtlerfreude aufgebt, in Freude an der bligenden Schönheit, 
an der Kraft und an der bellen Mufif, ſodaß ihm fiber dem äſthetiſchen Gebalt dieſes 
Moments alles andere ſchwindet, fogar das tiberwiltigende Gefiibl, daß nun das große 
Spiel beginne, fo hat er auch mitten in den Pflichten und Errequngen des Dtenjtes 
Den Hunger des Beobachters geftillt, des Künſtlers, den es nad) neuen Offenbarungen 
menſchlicher Erſcheinung und menſchlichen Wefens verlangt Der Krieg zeigt die 
Menſchen, auch die undifferengierten Naturen, deren inneres Leben im Alltag gebunden 
ijt, die nur cin geringes Negifter von Ausdrucksbewegungen befigen, im ganz neuen, 
unerhörten Situationen, die dad äußere wie das innere Leben entfefjelu, Funfen aus 
dem Stein ſchlagen. Wie fic der Charafter und das Temperament der verfdsicdenen 
Individuen im Kampf entfaltet, das bat uns Liliencron in feinen Kriegsnovellen mit 
raſchen, ficheren Strichen ſkizziert und gescigt, wie fich dad gleiche Erlebnis in der 
Seele des Generals, des jungen Offiziers, des gemeinen Coldaten fpiegelt. Er hat 
aber auch mit dem Blick des Bildners Bewegungen, Mienen erhaſcht, wie fie nur die 
äußerſten phyſiſchen Spannungen und Erſchöpfungen des Kriegslebens bervorrufen 
können. Dinge, die uns anmuten wie die der Erſcheinung nachjagenden Studien eines 
Zeichners, obwohl der Lilieneron der Kriegsjahre ſein Künſtlertum noch nicht entdeckt 
hatte. Ein äſthetiſches Verlangen befriedigt ihm der Krieg mit ſeinen ewigbewegten 
Wogen des äußeren wie des inneren Lebens beſonders: das Verlangen nach Bewegung. 
Welch ein ſtarker Reiz für Lilieneron nicht nur von der fühlbaren, ſondern 
auch von der ſichtbaren Bewegung ausgeht, das zeigt ein Blick auf ſeine Naturpoeſie. 
Man fühlt, daß er ein Kind der holſteinſchen Knicklandſchaft iſt, und daß ſein Auge mit 
den Wellen und Wolken der Nordſee zu wandern gelernt hat. Jene Landſchaft, deren 
lineare Gliederung kaum ſpricht, die eintönig in der feſten Form iſt, die tauſendmal 
mehr lebt von den Akzenten, die ein ziehender Vogelſchwarm, wandernde Luftgebilde, 
windbewegte Baumgruppen hineinbringen, die Wechſel des Lichtes, die wir ſo gern 
alg Bewegung deuten, und der ewige Gang des Waſſers. Jam bat zwar Liliencron 
auch rubende Landſchaftsbilder von Formenreiz und groper farbiger Schönheit wie diefes: 


718 Detlev von Liliencrons Kriegslyrik. 


pund im Lilaſchimmer ftand die ganze Fläche, 

Blüt an Blüte, und bem Lilaſchimmer ſchenkte 
Stumpfen Glanz die Sonne, dic gum müden Abſchied 
Sich verſteckte hinter weißen Riefeniwolten, 

Deren Spitzen gleich wie höchſte Bergesſpitzen 

Sich umrandeten mit Gold und roten Tinten. 

Eben noch im dunkelklaren Dämmer hob ſich 

In der Schweigſamkeit der leeren Heidelandſchaft 
Eine einz'ge Fichte ...“ 


Aber mehr noch ſcheint er mir der Meiſter der bewegten Landſchaft, ſo wie etwa 
Conrad Ferd. Meyer, dem auch Wind und Welle nicht ſtumm blieben, die ruhende, 
formenſtrenge Landſchaft am vollendetſten ausdrückte. „So ein einſames, von Knicken 
eingerahmtes Feld: Sie glauben nicht, welche Poeſie su jeder Jahreszeit eS in ſich faßt 
Die Wolfen wechſeln driiber hin, der Wanderfalfe, das Rebhubn, die Wilbente, dic 
Krähe, die kleine bewegliche Kornmaus, der Fuchs, der Maulwurf, der eilende Kater 
machen es lebendig.” — Und ebenfo bezeichnend fiir die Freude an der Bewegung, 
namentlich wo fie im Gegenfag zur grofen Stille und Rube in ihren feinften Anfagen 
nod empfunden werden Fann, febeint mir folgended: Cr notiert ſich einmal ein 
trivial reimendes Gedicht von ſchwächlicher Bildfraft, das ibm jufagt, offenbar nur um 
de Motives willen. „Dieſe brennende Stille, fein Hauch! Und plötzlich hebt cine 
Schlange das Haupt aus dem Grafe, wie erſchreckt durch cin Geräuſch. Cie fiebt id 
um, jie züngelt — und fallt in den Schlaf zuriid. Die Bewegung in der ungeheuern 
Rube, die plötzlich entitebende und wieder erjterbende Bewegung ift es, die das fleine 
Gedidt fo warm macht”. Man würde fein Ende finden, wollte man all die Natur: 
eingdnge feiner Liebesgedichte, all die ſchnell hingetuſchten Landfdaftsffigzen nennen, 
deren gebeimfter Reiz die Bewegung ijt. Cr liebt die große, braujende Bewegung von 
Sturm und Meeresaufrubr, aber er hat den Blid offen fiir alle Ruancen bis jur 
letfeften, Wind und VBogelflug fpielen cine grofe Rolle bei ihm: 


„Die Wafferlifie glüht im Graben, 
Die Sonne zögert aus der Welt, 
Dicht über mir zieht cin Bolf Raben, 
So dict, daß mir ing Muge fallt, 
Wie lester Abend ihre Fliigel, 

Bon unten febillernd überglänzt . . .” 


„Drei, vier Riefern, fo weit auseinander, 
Daf fie g'rad den Arm fich reichen fonnen, 
Mit den Fingerfpisen ſich beriibren. 

[ber ibnen ſteht die milde Venus. 

Zwiſchen Stern und Baumen gieben oſtwärts 
Fligelfdbwere, müde Kranichſchwärme.“ 


© os Ideres: 

„Die Flut erreichte den höchſten Stand. 

Der Regen tropft leife auf See und Gand 

Mus Friiblingswolken, dic ſchwammig und ſchwer 
Trige wandeln iiber das leere Meer, 

Uber des Deiches cijerne Bander, 

Uber ben Reichtum der Marſchenländer.“ 


* 


Detley von Liliencrons Kriegslyril. 719 


Sch brauche nur an die ,Geidebilder” gu erinnern: wie er da dem Wolfenjug 
mit dem Auge folgt, die brütende Rube des Mittags erldfend breden läßt vom 
Gewitterfturm, an den ,Reiberflug” und die ſchwankende fable Birke im Heidewind. 
Endlich an folche Lieder wie , April”, wo die Wonne an der Bewegung fic) auslebt 
Lis in die feinften Veraftelungen de3 Rhythmus, weil Bewegung, Unrube, Beleudtungs- 
wedjel Sinn folder Upriltage ift: 


„Wie der Südwind pfeift, in ben Dornbuſch greift, 
Der vor unferm Fenfter ſprießt . . . 

Schießt ein Gonnenbli¢ über Feld und Knick, 

Wie der Blitz vom Goldhelm huſcht 

Und auf Baum und Gras 

Schnell im Tropfennaf 

Tauſend Silbertiipfel tuſcht.“ 


Im eigenſten Schöpfergebiet des Dichters, in Rhythmus und Wortausdruck aber 
beherrſcht Lilieneron die Bewegung als ein ſehr individuelles Stilmittel. Er iſt als 
Rhythmenſchöpfer ſehr ungleich; mir ſcheint er da nicht Meiſter, wo er ſich fremder 
Maße bedient. So ſchön ſeine Sizilianen zuweilen ſind — in den Stanzen und 
Terzinen ſpürt man auch rhythmiſche Lahmheit. Aber unwiderſtehlich iſt er zuweilen, 
wenn eine innere oder dufere Bewegung in der ganz individuellen Belebung heimiſcher 
Mage Erſcheinung gewinnt. Gedichte wie „Zwei Meilen Trab“, , April” und das 
entzückende „Beppi“, in dem alle Unrube des verliebten Blutes pulft, find vollfommene 
Bewegungsſuggeſtionen. 


Als vor zehn Jahren die „Blätter für die Kunſt“ zuerſt den Uneingeweihten 
bekannt wurden, da ſtiegen vor unſeren ſtaunenden Augen die Eigenſchaftsworte 
unſerer Sprache in unerhörter Jugendſchönheit empor. Liliencron hat ein ähnliches 
Verjüngungswerk mit den Zeitworten vorgenommen und hat ihre Ausdruckskraft, 
namentlich ihre Fähigkeit, Bewegung zu ſuggerieren, geſteigert. Das ſtarke Bevorzugen 
des verbalen Ausdrucks vor dem gleichbedeutenden, ja ähnlich klingenden Eigenſchafts— 
wort iſt cin Charakteriſtikum Liliencronfder Formenſprache, in dem ſich dieſe Tendenz 
sur Bewegung offenbart. Cr ſchafft neue, kühne Bildungen oder ſchnellt mit einem 
Fingerdruck eine abgegriffene, lähmende Vorſilbe fort. Durch dieſes Stilmittel wirken 
auf mich ſeine bewegten Naturſchilderungen, verglichen mit denen des in manchem 
Zuge ihm verwandten Storm, wie überzeugende Verkürzungen eines jüngeren neben 


dem gedehnteren, archaiſchen Ausdruck eines älteren Meiſters, der dieſelbe Bewegung 
anders gibt. 


Aus der Fülle der Beiſpiele nur wenige: „Der Tag geht ſturmbewegt und 
regenſchwer, auf allen Gräbern fror das Wort Geweſen!“ — „Ein Dezembertag verkroch 
ſich totſtil in den Sad der Nacht, den großen dunkeln.“ — „Langſam graut der 
Abend nieder.“ Wie iſt hier durch Verſchmelzung zweier veralteter Bilder: „Der 
Abend ſinkt nieder“ und „Der Abend graut“ ein neues, zugleich bewegtes und getöntes 
Vild gefdhajfen! — „Die Sommernacht ſtummt überall.“ — „Nun ängſtet in den 
Waldern eine Leere.“ — „Ein Frühlingsmorgen friedet keuſch und ſtill“, und das unglaublich 
kühne und anſchauliche: „Empor durch milde Abendröte ſchrägen ſich ſeine Schwingen.“ 
„Von überall Her flattert, flügelt, ſpringt cin Heer mit farbigen Fittichen groß und 
klein, das munter durcheinander ſchmetterlingt.“ 


720 Detley von Liliencrons Krieg dlprit 


Diefe Bewegtheit alfo, die das Auge deS Dichters reijt, die er als cin phyſiſch 
Begliicendes fühlt, und die er felbjt als eigentümlichſte Ausdrudsform befigt, gibt er 
uns in feiner Kriegspoeſie in allen Formen. Er hat den Sturm der grofen Schladt, 
des Reiterangriffs, der Verfolgung, aber auch das fachte, gedudte Schleichen, den 
trigen, ermatteten Marſch. Und twenn er cine ftiirmende Reiterfolonne durch ein Feld 
jagen Lift, vergift er nicht die Bewegung der Halme, die ihre Schabraden vorbei- 
fegend gejtreift haben, nicht das Schwappen des bufgefdlagenen Bodens. Auch im 
Rhythmus vieler feiner Kriegsgedichte ijt jenes verhaltene Leben, von dem wir fprachen: 
ich denfe an die Schilderung des Rittes nach dem Tempelbaus im „Heidegänger“, an 
„Attacke“, „Zapfenſtreich“, vor allem an , Mit Trommeln und Pfeifer”. 

Nod) andere rein äſthetiſche Reize Hat das Kriegsleben fiir thn, die man aus 
feiner Geſamtart begreift. Man bat Liliencron den Dichter des Moments genannt, 
feinen Wortimpreffionismus bervorgeboben. Bemerfenswert ſcheint e3 mir, daß er 
den Moment bejonders liebt, in den ſich eine Fille von Cindritden ſo zuſammen— 
driingt, dah es, fie feſtzuhalten, aller abfiirjyenden Prägnanz bedarf, deren fein Stil 
fähig iſt. Solche Momente voll hunter Fiille, in denen durch die ungewöhnliche 
Situation des Schauenden die Dinge als bizarre Jmpreffionen ſichtbar, hörbar, fühlbar 
werden, bietet die Schlacht. Den Moment feiner Verwundung Hat Liliencron als 
einen folchen öfters Ddargejtellt: 

„Zu Boden ſtürz' ich, einer ſticht 

Und zerrt mich, ich erraff' mich nicht, 
Und um mid, vor mir, unter mir, 
Gin furdthar Ringen, Gall und Gier, 
Und iiber unferm wüſten Knaul 
Baumt ſich cin ſcheu geword'ner Gaul, 
Ich ſeh' der Vorderhufe Blig, 
Blutfeſtgetrochneten Sporenritz, 

Den Gurt, den angeſpritzten Kot, 

Der aufgeblähten Nüſtern Rot, 

Und zwiſchen uns mit Klang und Kling 
Platzt der Granate Eiſenring.“ 


Das jähe Wechſeln, das verblüffend ſchnelle Sichablöſen der Bilder iſt ein Zug, 
den ſeine Kriegsſchilderung mit der ſonſt anders gearteten Frenſſens teilt. 

Neben dem Realiſten Lilieneron ſteht uns der Phantaſt. Derſelbe, der eine 
Landſchaft in die ruhigen, rein geſtimmten Organe des Schauenden aufnahm, konnte 
fie umdeuten zu Bildern ſeiner Phantaſielaune, hat „wunderbare Geſichte“, in denen 
er etwas fühlt vom „Spökenkieken“ ſeiner Heimatbrüder. Derſelbe, der die Wirklichkeit 
eines Liebeserlebniſſes in allen Nuancen durchkoſtet, und gerade in der beſcheiden 
treuen Wiedergabe wirklichkeitsechter Züge Meiſter iſt, dem kommt wohl auch die Laune, 
das liebe Ding, das er im Arm hat, mit buntem Flitterkram der Phantaſie zu behängen. 

So ergeht's auch dem Kriegsdichter Lilieneron. Das iſt hier nichts Zufälliges. 
Denn gerade dies impreſſioniſtiſche Sehen beflügelt die Phantaſie, bietet ihrer Um— 
deutungsluſt mehr Anhalt als ein rationales Sehen, das ſich über das Weſen der 
Erſcheinung Rechenſchaft gibt. Unmittelbar neben den eigentümlichen Wirklichkeits— 
impreſſionen ſtehen grandioſe Phantaſiebilder, ſteht ſymboliſches Ausrecken geſchauter 
Dinge. So gewinnt die große Viſion im Poggfred: der Leichenhügel, aus deſſen 
Spite der erſtarrte Arm des toten Zuaven drohend gen Himmel gereckt ijt, phantaſtiſch— 


Teuer erfauft. 721 


fombolifden Wert. Von der plagenden Granate heißt es: „Ein Drache briillt, die 
Erbe birft — Einſtürzt der Weltenhimmelfirſt!“ — — „Ein einjelner feindlicher 
Küraſſier raft auf uns ein. Sein Geſchrei iſt Gebriil . . . Es ijt der Antichriſt ... 
fünfzig, dreißig, zehn Schritt . . . bei uns ... Kein Gewehr gegen ibn von uns 
hebt ſich. Wir ſind im Bann... . Jetzt ... jetzt . . . die Nüſtern ſeines Rappens 
ſprühen Feuer. . . . Jetzt . . . und er haut mit einem Hieb, als holte er aus den 
Sternen aus zur Erde —.“ 


Endlich jenes wundervolle Cingeben aus dem Wirklicfeitsjeben in frembdartightes 
Phantaſieſehen, die ſchönſte Stelle im „Heidegänger“. Er beſchreibt den Ritt nach dem 
Tempelbaus durd die abendlide Heide: „immer weiter, immer rubig yu, ſchon feit 
Stunden”, 

„Spaniſch tingelnd, fprigt mein Hengft ben Schaum 
fiber Saum und Siigel, auf Sattel und Saum. 

Nber feinen Gals halt id) den Degen quer, 

Reite wie der Dei von Tunis baber. 

Tragt eines Feindes abgehauenen Kopf 

Meine Linke, den wolligen Haarjdopf . 
Langsſeits ber Dede? Tripfelt neben meinem Pferde 
Mus bem verzerrten Haupte das Blut auf die Erbe?” 


5 


= Geer erkauft. —— 


Bon 


Cyvriel Buylle. 
Autorifierte Uberfegung aus dem follandifchen von Rhea Sternberg. 


Naddrud verdoten. — 


Qn Kreuzpunkt von vier tweihen Cand: | fie mit ihrem reifen Reichtum an leife brandende 
wegen ftand mitten auf den weit fid) debnenden  Wogen. Wie eine ferne, fteile Küſte begrengten 
Kornfeldern Cleves einfamed Häuschen. Cine — rings dunfle Baume ben Horizont. 

Gruppe bober Pappeln umgab die miedrige, Sn all ibrer golbenen, roten, blauen und 
fleine, gelblich-weiß getünchte Hiitte, bon der | violetten Farbenpradt reifte die Saat dem 
ſich das rote Siegeldad und die griinen Fenfter- | Tode entgegen. In luftigen Höhen jubelten 
laden fraftig abboben. die Lerchen ihre letzten ſüßen Weifen. Und 

Das Hiusden [ag da wie eine fleine Jnfel | Manner und Frauen famen in Scharen, be— 
im offenen Meer. Die weiten Flächen rings | waffnet mit Sicheln und Senfen, und ächzend 
umber waren im Frühling ebenmäßig glatt, | fiel bas goldene Korn nieder auf dad helle 
von zartem Griin, twie cin unbetwegter Meeres- Erdreich. 
fpiegel; im Quni glicen fie mit ben vom Wind Nun glid das Feld einem ricjenbaft großen 
bewegten hohen Halmen der wallenden, Kirchhof. Wo monatelang unjiblige Halme 
tojenden Eee, und unter der Gonnenglut ded | gelebt und gejittert batten, erboben fich jest 
tiefblauen Juli: und Auguſthimmels gemabnten | iiberall unbeweglice, lebloſe Buppen. Cie 

46 





722 


ftanden da wie graugelbe Grabjteine auf 
einem weiten Schlachtfeld, auf dem viel 
Schmerz und Trauer gelitten: worden war. 
Und etivas von dieſer Trauer fcbien zurück— 
geblieben gu fein in all den totenjtillen Häufchen. 
Auf dem öden Stoppelfeld hörte man nun 
fein anderes Geräuſch als den ſtill melancho— 
liſchen Geſang der Grille, ſah man keine andere 
Bewegung als ab und zu einen taumelnd hin— 
und herflatternden, ſtumpfbraunen, einſamen 
Schmetterling. 

So ſtanden die Haufen etliche Tage 
trauernd da. Dann kam wieder ein fremdes 
Leben und neue Bewegung hinein. Die einen 
fanfen hintenüber, wie mannhafte Kämpfer in 
ſtolzem Zorn, andere fielen kreuz und quer 
durch einander, wie Schlachtopfer in qualvoller 
Stellung. Manche von ihnen ſchienen zu 
lämpfen, wieder andere einen wilden Rundtanz 
aufzuführen, wie eng geſchnürte Frauengeſtalten 
mit weiten, wallenden Röcken. Hier und da 
lag einer platt auf dem Boden, wie ein elend 
gedemütigtes Weſen, das mit gefalteten Händen, 
die Stirn zur Erde geneigt, um Gnade bittet. 
Und über all dies fremd phantaſtiſche Leben 
zitterte die Dämmerung in ihrer ſchweren, be— 
engenden Stimmung, als ob dort hinten am 
fernen Horizont eine große, ſtille Hand all die 





im ſtolzen Bewußtſein ſeiner Stärke. 


ſchimmernden Farben: rot, blau, grün, purpur 


und orange zu einem trüben, ſtumpfen Grau 
in einander gemiſcht hätte. 

Dann wurden die Leichen auf Wagen ge— 
laden und nad fernen Scheunen gefabren. 
Andere blieben auf dem Platz, wurden zu großen 
Haufen geſtapelt und ſtanden da wie ganze 
Dörfer aus grauen, kleinen Hütten mit ſpitzen 
Strohdächern. Rings umber lag in Toten: 
tube der braune, fette, umgetviiblte Boden, 
bis die Herbjtiaat ihn aufs neue jartgriin 
farbte und endlich der Schnee feine grofe 
weiße Dede dariiber breitete. 


* * 
— 


Und Cleves einſames, niedriges Häuschen 
lebte dieſes ganze ſtille Leben mit. 

Es ſchien die weite Ebene mit ſeinen viel= 
teiligen kleinen Fenſtern wie mit menſchlichen 
Augen zu überſchauen. Altmodiſche Blumen, 
braune und gelbe Levfojen, rote Kreſſen und 
ein. üppiger Straud) leuchtend roter Roſen 


Tener erfauft. 


prangten und dufteten längs bes Bitters der 
tleinen BVorderfront. Um die bogige niedere 
Tiir rankten fid cin paar Weinftraucher empor, 
die mit ibren Trauben und Blaitern den 
ganzen oberen Rand des Häuschens zierlich 
ſchmückten, bid gu bem roten Ziegeldach hinauf 
flommen und den fleinen Schornſtein in eine 
Vaſe mit herabbangenden Siveigen verwandelten. 
Hinter bem Haufe ftand ein fleiner Stall aus 
roten Badfieinen neben cinem baufalligen 
Sdhubbad fiir den Handwagen und die Zieh— 
bunde, und cin wenig tveiter vorn, unter den 
boben, raujdenden Bappeln, befand ſich neben 
einem Holzſtoß in einem gang fleinen Verſchlag 
der Badofen, in welchem einmal wöchentlich 
bas Roggenbrot gebaden wurde. 

Das Häuschen lebte ftill wie feine Um— 
gebung. Es lachte nnd firablte im Glanz der 
milden Friiblingsfonne, und abends ſchloß es 
getrojt feine grünen Fenfterladen wie treue, 
miide Augenlider, um im bellen Mondenſchein 
zu ſchlafen und zu träumen. Seine gelbweifen 
Mauern leuchteten mit faſt durchſcheinender 
Helligkeit, als ſtrahle der Mond ſelbſt aus 
dieſen ſtillen Wänden. 

So erhob ſich's eine ganze Weile hoch über 
den ganzen Umkreis, ihn gleichſam beherrſchend 
Aber 
allmählich wuchſen die Halme rings umher 
höher und höher, und dann ſchien das 
Häuschen immer niedriger und kleiner zu 
werden, bis es ſchließlich nur noch die Spitze 
des Daches zeigte, die wie ein Feuerfunke 
zwiſchen dem wallenden Grün der Kornfelder 
und dem zitternden Himmelsblau leuchtete. Die 
mehr und mehr anſchwellenden Kornwogen 
wollten das ſchwache, kleine Ding ſcheinbar 
völlig vernichten, und ſelbſt die hohen 
Pappeln, die es ſonſt bejdiigten und beſchirmten, 
ſchienen es nun unter den ſchweren Maſſen 
ihrer dunkeln Kronen zu erdrücken. Aber 
wenn die Halme fielen, erhob ſich's plötzlich 
wieder hell und triumphierend von der Erde, 
als alleinige Siegerin auf den öden Feldern 
zurückbleibend, und der einſt ſo ſtolze Schmuck 
der hochaufragenden Baumgipfel umgab nun 
rings ſeine Mauern wie ein prächtig goldenes 
Kleid. 


* 


Tener 


Zu fiinfen wohnten fie da: Cleve, feine 
Frau und drei Kinder. ,, Drei und ein halb,“ 
fagte Cleve feit einiger Beit, wenn er in guter 
Yaune war, 
erwartet. Cleve lebte bom Handel mit 
Ranindenfelen. Jeden Morgen madte er 
fich mit feinem Gundewagen auf, um Kaninchen 
cingufaufen, Gr fubr oft ſtundenweit nad 
unjaibligen Bauernbifen und fernen Häuſern 
und fam erjt mit bem finfenden Tage beim, 
den Wagen vollgeladen mit Weidenfirben, in 
denen die Iebenden Kaninchen ſaßen. An 
demfelben Abend nod) twurden fie in dem 
Heinen Stall getitet und abgeyogen. Das 
wleif ging an einen grogen Kaufmann im 
naben Dorf; die Felle wurden, auf Stiden 
ausgefpannt, in die Sonne jum Trodnen 
geftellt und fpater, wenn viele, febr viele, 
Hunderte, Taujende zuſammen waren, in der 
Stadt an eine Pelzfabrik verfauft. 

Inzwiſchen forgte bie Frau fiir das Haus 
und die Kinder, Irma, das zwölfjährige 
Madchen, war eine Zeitlang yur Schule 
gegangen, blieb nun aber gu Hauſe, um der 
Mutter ju helfen. Sie mußte auf Pierken, 
den kleinen Bruder, und auf Seelevie, das 
Secwefterden, aufpafien. Und bet ſchönem 
Wetter fagen fie ganze Tage zu dreien im 
Gras unter den hohen Baumen oder mitten 
auf dem Kreuzweg vor dem Häuschen im 
Sande und fpiclten. 

Mud fie febten in ibrem ganyen Tun 
und Spiel bas ftille Leben ihrer Umgebung 
mit. Bald waren fie grau und feudt wie 
Schmutz, bald gelb wie Sand; bald waren jie 
mit weißen Kränzen, bald mit folchen aus roten, 
blauen, gelben oder violetten Blumen geſchmückt, 
je nachdem fie auf den Feldern rings in Bliite 
ftanden. Es fam cine Beit, da waren ibre 
Hände und Gefidter tiber und über beſchmutzt 
von bem fdiwarjroten Caft der reifen Wein: 
firfden, und dann fam eine andere, da faben 
fie gang grün aus von dem übermäßigen 
Genug unreifer Apfel und Birnen. Es gab 
aud) Tage, da fie ciner Art abſcheulicher 
befiederter ober bebaarter Tiere glichen, 
weil fie ihre Gejicter und Hände mit den 
aus den hohen Pappelfronen maſſenhaft nieder⸗ 
ſchwebenden weißen Wattefloden  beflebten. 
Bald banden fie Maikäfer mit den Beinen 


benn bas bierte wurde balb | 


erfauft, 


723 


an bdiinnen Drabt, bald ſpießten fie Sdymetter- 
linge auf oder fingen junge Vögel, die nod 
faum fltigge waren. Wenn das Korn gemäht 
war, liefen fie mit ibren geſchwänzten Papier: 


| draden fiber die fablen Felder, und im Herbft 





gogen fie junge Rartoffeln aus der Erbe, 
brieten fie in beifer Wide und verjzebrten fie 
mit Bergniigen. Es waren Rader, alle drei. 
* * 
* 

Cleve war ein Mann von fünfundvierzig 
Jahren, klein von Geſtalt, mit einem gelb— 
lichen, durch Pockennarben entſtellten Geſicht, 
dem die großen, klaren, graublauen Augen 
einen einnehmenden Ausdruck von Milde gaben. 
Er liebte ſeine Beſchäftigung, die er von dem 
Vater übernommen hatte, durchaus nicht. 
Seiner ſanften Natur widerſtrebte das 
beſtändige Hinſchlachten bilflofer Tiere. Seine 
große Illuſion war, einmal genug zu beſitzen, 
um einen ganz kleinen Bauernhof zu beziehen, 
auf dem er eine — und wär's auch nur 
eine einzige — Kuh halten könnte. 

Eine halbe Stunde von ſeinem einſamen 
Häuschen entiernt lagen in den fruchtbaren 
Niederungen all die ſchönen, großen, reichen 
Bauerngüter mit ihren Baumgärten und hellen 
Wegen. Alle Tage faſt kam er vorbei an 
den weißen, roten, blauen Häuſern, den hohen 
Scheunen und Ställen, den alten, knorrigen, 
unter der ſchweren Laſt ſich krümmenden 
Obſtbäumen, den ſaftigen, ſonnenbeſchienenen 
Wieſen, an ſoviel Fruchtbarkeit und Schönheit. 
Und im ſtillen verglich er das alles voll Weh— 


mut mit ſeiner eigenen kleinen Hütte und 


ſeinem ganzen ärmlichen Dafein. 

„O, wie ſchön iſt hier doch alles, und 
wie glücklich ſind die reichen Bauern, die hier 
leben können,“ ſprach es in ihm. 

Doch nicht Neid und Mißgunſt regte ſich 
in ſeinem Herzen, nur ein unbewußtes Gefühl 
der Freude über ſoviel Schönes lag in ſeinen 
bewundernden Blicken, wenn er zu den reichen, 
dicken, fröhlichen Bauern ſagte: „Ach, bier iſt's 
aber ſchön! Ihr wohnt hier aber ſchön!“ 

Und die Bauern pflegten dann wohl—⸗ 
gefällig zu lachen und ſpottend mit ihm zu 
ſcherzen: 

„Warum kaufſt dir nicht aud 'n Hof, 
Cleve, fiir all bas Gelb, das du an unſern 


Raninden verdienſt?“ 
46° 





Ri 


Aber Cleve fonnte nit mitladen, Cr 
antiwortete ernſthaft mit einem hellen Blid 
feiner guten, ebrliden Yugen, bab er nur 
gerade genug verdiene jum täglichen Brot fiir 
feine Frau und Kinder, und dah feine einzige 
Hoffnung fei, vielleicht einmal in einem gang 
befonders guten Jahr ein kleines Siimmaden 
iibrig gu bebalten, um eine junge Rub daſür 
zu kaufen. 

„Na alſo“, rief da mal Bauer Trooſter, 
der reichſten und luſtigſten einer, „willſt Du 
vielleicht die Färſe bier kaufen?“ 

Und er wies auf eine junge milchweiße 
Kuh, die in luſtigen Sprüngen mit wedelndem 
Schwanz durch den ſonnigen Baumgarten lief. 

„Wenn ich nur das Geld hätte! Wenn 
id nur die Gent dazu hätte“, ſeußzte Cleve. 

„Mußt borgeh”, lachte Troofter, der fid 
gerade in befonders guter Stimmung befand. 

Aber Cleve fditttelte den Kopf und feufgte 
wieder. Der Winter war zwar nicht ſchlecht 
geweſen, und er hatte aud ſchon ein Sümmchen 
beijeite gelegt, aber doch nod nicht genug, und 
dann . . . dad Kleine, das nun bald fommen 
mute. Wd nein, es ging nicht, er wollte 
lieber gar nicht daran denken, es war ſchlecht 
von Trooſter, ihn ſo zu verſuchen. Und mit 
Bedauern und Verlangen betrachtete er noch— 
mals die graſende junge Kuh. Wie ſchön weiß 
ſie war, mit ſo apart orangefarbenen Linien 
um die Augen und an den Schenkeln, und 
wie frifd) und geſund. Der durchdringende 
Milch- und Mofdusgerucd, den fie ausftrimte, 
ließ Cleve dads Wafer im Munde gufammen: 
laufen, Cr jtreicelte ihr fanft den Rücken 
und befiiblte alg Renner Schultern und Lenden. 

„Na“, ladte Troofter, „gefällt fie Dir?” 

„Ich will’s wohl meinen”, antwortete Cleve 
mit einer Urt fromimer Scheu. 

„Kauf fie, fag’ ics Dir, wirft Deinen Nutzen 
davon haben, zwanzig Liter Mild per Tag”. 

„Wieviel foll fie foften?” Mebr aus Neus 
gier als um des Kaufes willen fragte er danach. 

„Fünfhundert Fran, sieferon '), weil Du's 
bift, und feds Monat Beit gu bezahlen“, fprad 
der Bauer offenbergig. 

Cleve tiberlegte einen Augenblick. 
frangofifde Wort, das der Bauer da hinzu— 


) Chiffre rend. 


—— 


Das | 


— —— —— — Eee — — —— — — — 





Teuer erfauft. 


gefiigt hatte, verſtand er zwar nicht, aber er 
nabm an, dah es bedeuten follte: ohne Handel. 
Es war aud nidt gu viel fiir fold) ſchönes 
Tier, nur fiir ibn war's gu viel. 

„Ich fann nidt, ich fann nicht, id dari 
nicht”, ſeufzte er, fic) mit Selbſtüberwindung 
pon der Berfuderin abwenbdend. 

Und aus einer gewiſſen Sham, um den 
Bauern nicht merfen ju laſſen, wie febr er es 
bedauerte, fpielte er's beim Abſchied auf einen 
Scherz binaus: 

„Ich bab’ ja gu Haufe aud ’ne Rub, die 
bald wieder Mild geben wird”. 

Und fdnell entjernte er ſich, während der 
reihe Bauer fic) fiber ben guten Wi vor 
Laden ſchüttelte. 


* * 
* 


Die ſchöne weige Färſe des Bauern Troofter 
ließ Cleve feine Rube mehr. In jeder weißen 
Rub am Wege fah er fie wieder, nachts 
träumte er von ibr. 

Gr ſprach mit feiner Frau dariiber. Un— 
beweglich hörte fie ibm gu, ihr Berlangen 
war ebenfo groß wie das feine, Cie hatte 
cin Inodiges, mageres Geſicht voll Sommer: 
{proffen, fiber bas fic) die glänzende Haut fo 
ftraff fpannte, bag die grofen Mugen und ber 
breite Mund wie Riffe und Löcher erſchienen. 
Das gab ibrem Geficht beſtändig einen Aus— 
druck von Verwirrung und Angſt, als fabe fie 
fortwährend entſetzliche Bilder. Ihre Bruſt 
war eingefallen, und unter den furjen Roden 
jab man bie dürren Knöchel; nur ihr Leib 
war iibermagig rund und ſchwer, als ob fid 
die ganze Kraft ihres Körpers darin gejammelt 
babe. 

nad, ja, batten wir nur’s Geld! Hatten 
wir nur 's Geld!” twiederbolte fie fort: 
während als Antwort auf feine verlodende 
Beſchreibung. 

Doch im Gegenſatz zu den meiſten Menſchen, 
die unangenehme Hinderniſſe wegphiloſophieren, 
um einen ſehnlichen Wunſch erſüllt zu ſehen, 
blieben ſie ruhig und klug genug, ihr Begehren 
dem Zwang der Wirllichkeit zu opfern. 

„Laß uns nicht mehr davon ſprechen und 
unſere Zeit abwarten,“ ſchloß er weiſe mit 
einem Kopfſchütteln der Entſagung. 


* 
- 


Teuer erfauft. 


Inzwiſchen ging ber Sommer zu ende, 
und die Kirmeszeit brad an. Die herrliche 
Septemberfonne lacdhte und ftrablte fiber den 
reichen Bauerngiitern, die friſch Toilette gemacht 
au haben ſchienen, um felbjt teilgunebmen an 
ben Freuden und Späßen der Kirmes-Fröh— 
lidfeit. Die Bauern gingen ſchon vom friiben 
Morgen an in weifen Hemdsärmeln umber, 





und die Bauerinnen ließen die leuchtend bunten | 


Binder ihrer Hauben im Winde tweben. 


Auf der Ehene zwiſchen dem nachften Dorf | 


und den Bauernbifen follte in diefem abr 
ein Pferde-Rennen ftattfinden. Das war 
etwas Neues, cin Plan bes Bauern Troofter, 
der eben gum Biirgermeifter ernannt worden 
war. Gr wollte nun aud mal die Dorf: 
bewohner nad feinem Hof loden, und 
fon am jriiben Morgen waren bie fonjt fo 
ftillen, einfamen Sandwege didt mit Spajier: 
gangern und Sufchauern befest. 

Cleve war in bellem Entzücken. Die 
Pferde mupten an feinem Häuschen vorbei, 
und er hatte ſchnell die gute Gelegenbeit 
benubt, um unter dem dichten Schatten feiner 
Pappeln Tiſche, Stühle und Bänke aufzuſtellen 
und eine Art Laubenherberge zu improviſieren, 
in der er Bier und Jenever verkaufte. Er 
durfte es eigentlich nicht, denn er hatte feinen 
Konſens, aber wer würde denn darauf achten! 
Es gab in der Nachbarſchaft fein fonfurrierendes 
Wirtshaus, und Troofter würde gewiß nichts 
bagegen haben. Nur der Feldwadter hatte 
ein bißchen ſchief geguckt, aber Cleve batte 
ibn ſchnell mit einem guten Seblud traftiert, 


und nun ftand ber Beſchützer der dffentliden | 


Rube mit leudtender Nafe am Cingang des 
Ausſchanks und hielt Wade, auf daß alles 
in Drdnung vor fid gebe. 

Das fonnte ein guter Tag fiir Cleve 
werden. Vielleicht verdiente er gar fo viel, 
daß er dod) noch bie ſchöne Rub faufen fonnte. 
Er ftand binter dem erjten Tiſch, ſprach 
lebhaft und ſcherzte Laut mit ben Gajten, 
wabrend er einfcanfte und bebdiente. Seine 
Frau bediente mit Armas Hilfe den gweiten 
Tifh. Heute mußte Pierfen auf Seelevie 
adtgeben und vor allem aufpaffen, daß fie 
beide nicht unter die Pferdehufe gerieten. 

Gin erjtes Wettrennen war ſchon vorbei- 
geftiirmt: feuerrote, ächzende, ſchreiende, 








725 


ſchwitzende und peitſchende Bauern auf dicken, 
ſchäumenden Pferden in Wolfen von Staub. 
Aufgeregt vor Entzücken fiber fein wohl— 
gelungenes Feſt erſchien Troojter mit einer 
gangen Schar reider Bauern und Bauerinnen 
am Schanktiſche, um zu trinfen und zu traf: 
tieren. Er beobachtete, wie gut der Berfauf 
bei Cleve ging und rief ibm lachend mit 
jdhallender Stimme ju: 

what... Sollt’s nod nidt bald geben? 
Kommft morgen twegen ber Farfe? Sie haben 
mir geftern fecbShundert Franf dafiir geboten, 
aber Du ſollſt fie nod immer fiir fünfhundert 
haben, sieferon. Gin Mann, ein Wort.“ 

Gleve jitterte . . . 8 ging gut, 's ging 
gut... nod ein paar Stunden fo tweiter. . . 
dann vielleiddt morgen . . . wer wei... 

„Ich bab’ ja fein Frefjen fiir fie”, rief er 
dem Bauern ſcherzend au, fic) mit den Hembd< 
ärmeln den Schweiß vom Geſicht wiſchend. 

„Daran ſoll's nicht fehlen. Kannſt ſie auf 
meinem Wieſenrand weiden laſſen“, rief Trooſter, 
ſich vor den Anweſenden mit ſeinem Reichtum 
und ſeiner Freigebigleit blähend. 

Cleve war in ſeinem Glückstaumel im Be— 
griff, den ſo beſonders mild geſtimmten reichen 
Bauern ſofort beim Wort zu nehmen. Er 
ließ ſeine Käufer ſtehen und ſchritt auf ihn 
zu, als draußen plötzlich ein Geſchrei entſtand. 

„Sie find ba! Sie kommen! Sie fommen!” 

Und alles fprang auf und ſtürzte binaus. 
Mud Cleve lief mit, um wenigftens von 
biefem Wettlauy, dem ſchönſten und widtigiten, 
aud etwas ju feben. 

In zwei didten, fangen, bunten Reiben 


ſtanden gu beiden Seiten des Weges die Sue 
ſchauer wie lebende Menfdcbenbeden und fpabten 


| mit verrenftem Hals in die Herne. 


Hier und 


| da lagen Kinder platt auf ber Erde, die Köpfe 





zwiſchen den Beinen der Grofen. Und gang 
fern fam etwas an, eine dide gelbe Staub: 
wolfe, aus der bin und wieder ſchwenlende 
Arme mit fligenden Peitſchen hoch empor- 
ſchoſſen, während ber Boden unter dem Ge— 
trappel von Hunderten von Hufen dröhnte. 
In groper Cile näherte fid) ber Bua, immer 
deutlicher wurden Reiter und Pferde ſichtbar, 
und die Menſchen ſtürmten hinterdrein. Zwei 
Pferde ſtoben voraus, rechts und links vom 
Wege. Einer von den Reitern hatte ſeine 


726 


Miike verloren, und die wallenden Haare 
ftanden ibm gu Berge. Dann fam plötzlich 
cin drittes Pferd nachgeraſt, ein grofer, ſchwerer 


Schimmel, der die beiden anderen nod) mehr | 


zur Seite drängte. Es drohte Gefabr, 
und ſchreiend flüchtete die Menge ins offene 
Feld hinein. Da ſtieß eines der Pferde wuchtig 
mit der Flanke gegen das Gitter von Cleves 
Häuschen, man hörte die Hufe gegen einander 
ſchlagen und gleich darauf einen kurzen Schrei. 

Nun fam man herbeigelaufen und gewahrte 
in dem Cand einen blutigen Rnabenfdrper. 
Zwanzig Mann zugleich ftiirgten fic) darüber 
und hoben ihn auf, aber er gab kein Lebens— 
zeichen mehr von ſich. Der kleine Kopf war 
vom Hufſchlag zerſchmettert. 

„Wem gehört er? Wem gehört er?” rief 
man ängſtlich von allen Seiten. 

Bleich und ſtöhnend, mit einer fürchter— 
lichen Vorahnung ſtürzte Cleve auf die dicht— 
gedrängte Menſchenmaſſe gu... 

Und mit einem ſchmerzvollen Schrei der 
Verzweiflung erfannte er in dem toten Rind 
jein Pierfen! . . 

* ‘ * 

In diejer Nacht ftand das einfame Hausden 
unter ben Pappeln in ticfem Leid. Die Fenſter— 
laden waren nicht geſchloſſen, und Lichte 





Teuer erfauft. 


fie fanden Cleve bleich und miide, mit ftumpfen 
Augen, leiſe redend oder ab und ju angftvoll 
aufſtehend und auf Striimpfen ſchnell durd die 
Hiitte ſchleichend. Er ſchien finnlos vor 
Schmerz und erzählte eintinig und heimlich, 
wie im Traum all den ihn mitleidig um— 
ringenden Menfden, dak Pierfen nun tot 
fei, von Pferdehufen getötet, und dah ihnen 
nadts ein anbdered Rind, aud cin Jungchen 
geboren worden fei. Dann begann er plötzlich 
laut zu ſchluchzen und klagte, daß ibm gu Mut fei, 
alg ob er Pierfen nie gefannt babe, und dap 
er ibn jetzt erft fo recht fenne in feiner ganjen 
Lieblichkeit, jest, ba er tot fei. 

„O Pierfen, mein Pierfen, mein liebes, 
braves Sungden, und nun bift du fiir ewig 
tot!” 

Immer und immer twiederbolte er diefelbe 
jammernde Rlage, unter Handeringen auf und 
nieder laufend, und im nächſten MWugenblid 
ſank er dann wieder ftumpf auf einem Stuhl 
zuſammen, twie vernidtet. 

Der Doktor fam ju dem toten Kinde, 

„Das arme Geſchöpfchen ift tot, nicht wabr, 
lieber Herr Doktor?” fragte Cleve ſchluchzend, 
alg ob nocd ein Zweifel möglich fei. Und 


, neben der Eleinen Leiche befam er pliglid 
' wieder eine wilde Krifis, ſodaß die Anweſenden 


fladerten binter ben Scheiben und irrten Hin . 


und wieder. Und die febnell aufjudenden und 
ebenfo fcbnell wieder verſchwindenden ellen 


Punfte waren wie feurige Tranen, die dad | 


arme Häuschen weinte, in dem gefolterte Seclen 
in rubelofer Berjweiflung umherzuſchwärmen 
ſchienen und vergeblich gu entfommen ſuchten. 

Das ganze Kirmesgewiihl hatte fich ſchnell 
fortgefliicdtet von bem Haufe des Unbeils, und 


wer nod) etiva in der Nabe vorbeifam, hirte | 


mitten in bem Todesſchweigen hin und wieder 
plötzlich fremde, bedngftigende Laute. Die 


Menſchen fürchteten ſich vor dem Häuschen und 


vor dem entſetzlichen Unglück, das ſo ſchnell die 





blühende Freude zerſtört hatte; und fie ſtanden 


pon ferne in der Racht und beobachteten es in 
banger Erivartung, als barrten fie in aber: 
glaubifdem Grauen auf ein nod) größeres, 
gänzlich vernichtendes Unbeil. 


klaren Tageslicht wagten ſie hinzugehen. 


angeſteckt wurden von ſeinem jämmerlichen 
Heulen und Schreien und mit ihm weinten. 

Der Arzt fuchte ihn mit praftifden Er— 
wägungen zu tröſten. 

„Wiſſen Sie, Cleve, daß Sie dem Geſetz 
zufolge ein Recht auf Schadenerſatz für dieſes 
Unglück haben?“ 

„Schadenerſatz! An wen ſoll ich mich da 
wenden? Wir wiſſen ja nicht, weſſen Pferd 
ihn umgerannt hat!“ ſchluchzte Cleve, deſſen 
laufmänniſcher Sinn dod) ſofort einigermaßen 
zur Verteidigung ſeiner Rechte angeregt wurde. 

„Das iſt gleich, die Unternehmer des 
Rennens und vor allem der Bürgermeiſter 
ſind verantwortlich. Sie müſſen einen Rechts— 
anwalt nehmen und werden viel Geld be— 
kommen,“ verſicherte der Arzt. 

Unbeweglich ſtand Cleve da und dachte 
nach. Trooſter war alſo verantwortlich. Er 


mußte ifn nad dem Geſetz ſchadlos halten. 
Erſt am frühen Morgen, beim nüchternen, 


Und 


Der Gedanke, daß er vielleicht Geld genug 
befommen würde, um die Rub zu kaufen, 


Teuer erfauft. 


ſchoß ihm wie ein Blip durch den armen, 
gequalten Kopf. Aber wenn er cinen Rechts. 
anwalt nabme, würde Troofter böſe werden 
und ibm bie Rub nicht verfaujen. Und er 
fiiblte aud einen gebcimen Widerivillen, den 
Bauern fo au zwingen. Gr fonnte ibm dod 
nidt die Schuld daſür aufbiirden, daß PBierfen 
unvorfictigeriveife unter die Pferdehufe gera- 


ten war. Enttäuſcht und traurig ſchüttelte er 
ben Ropf. Er wupte nicht, was er tun 
follte. 


Raum war ber Argt fort, fo fam der 
Feldwächter. Cr fame in Troofters Namen 
fagte er, und wünſchte Cleve allein gu fpreden. 
Der Bauer bedaure das Ungliid tief und 
wolle es Cleve vergtiten. Cr wolle ibm als 
Entihadigung eine pradtvolle junge Farfe 
geben, die wohl fiebenbundert Frank wert fei, 
damit Cleve Abftand nebme von allen tweiteren 
eventuell gefesliden Forderungen. 

Gleve jitterte. Trooſter mupte fid dod 
aljo voll und gan; verantivortlid fiiblen, ba 
er ibm von felbft einen folden Vorſchlag 
machte. 

„Die Färſe iſt fünfhundert Frank wert, 
aber keine ſiebenhundert“ ſprach er endlich. 
„Trooſter hat fie mir fiir fünfhundert verkaufen 
wollen.” 

„Ich weiß es,“ antivortete der Feldwächter, 
„aber ſie iſt mindeſtens ſiebenhundert wert. 
Heute morgen erſt hat ihm ein Viehhändler 
aus dem Dorf ſiebenhundert dajiir geboten.“ 

Gleve zögerte. Auf dem Redtswege würde 
er vielleiht nod mebr befommen, aber dann 
jider auf die ſchöne weife Rub verzichten 
miiffen. Er fab fie im Geifte vor fid in 
ibrer Kraft und Sebinbeit nnd fonnte die 
Wedanfen nidt davon abwenden.  Celbft 
Pierken vergaß er dariiber. 

„Und id fol Euch nod befonders bejftellen, 
dag fie big Oftern auf Troofters Weide getrieben 
werden kann,“ beeilte fic der Feldwächter bin: 
zuzufügen. 

Die Verſuchung wurde immer verlockender. 


„Ich will mal die Frau fragen,“ ſagte Cleve. 


Gr ließ den Feldwächter allein und lam 


nach einigen Minuten wieder. 
„Die Frau fagt, dab wir uns nod nicht 


727 


„Das ift unrecht,“ meinte der Feldwächter 
mißbilligend. „Ihr miiftet Euch fonft mit viel 
weniger bejablt halten, und Shr ſäet Zwiſt 
und Feindſchaft.“ 

„Er foll bis iibermorgen warten,” befdlof 
Eleve niedergeſchlagen, plighd wieder an 
Pierfen denfend. „Übermorgen, nad dem 
Begriibnis, werden wir fo oder fo beftimmen.” 


> * 
* 


Zwei Tage fpater, zur fejigefesten Beit, 
fam der Feldwächter wieder. Gedriidt und 
nadpenflid fa Cleve am Riichenfenjter und 
jtarrte hinaus. Pierlen lag nun in der Erde, 
in der fleinen Grube, fiir ewig. Es war 
etwas von feinem eigenen Leib und Leben, 
bas nun da unten fag, und unfeblbar würden 
nad und nad) aud alle andern folgen: er, 
feine Frau, feine andern Kinder. 

„Na, babt Ihr nod dariiber nadgedadt 2” 
fragte der eintretende Felbwadter, 

D ja, bas hatte er getan, frank gedadt 
hatte er fidh. Der Arzt hatte ihm nod einmal 
lebbaft geraten, Troofters Vorſchlag abzuweiſen 
und die Cade einem Rechtsanwalt ju über— 
geben, Auch andere batten ibm diefen Nat 
erteilt, Aber e& ging thm wider das beſſere 
Gefitbl, und er mar aud qu unglücklich und 
mutlog, um fic jest nod in Ctreitigfeiten gu 
verwickeln. Die ſchöne Rub, nad der er fic 
fo lange ſchon febnie, war feine eingige DHoff- 
nung, fein eingiger Troft, nur fie, nichts 
tweiter. 

Der Feldwächter merfte etwas von feinen 
widerſtreitenden Gefiiblen und fam nun mit 
einem allerlegten, unwiderſtehlichen Vorſchlag. 

„Hört, Cleve, Troofter hat gefagt, dak er 
fogar die zweihundert Franf, welche die Rub 
mebr twert ijt als fiinfbunbert, in bar geben 


will, Das ift fein letztes Wort. Sind wir 
nun einig? 
„Jawohl,“ anttwortete Cleve plötzlich, 


gewiſſermaßen inftinftiv, um ſich von feinen 
Sweijeln zu befreien, 
Der Feldwächter reichte ihm die Hand. 
„Recht fol” rief er. „Nun fommt nad 
bem Hof, mit Troofter den Bertrag unter: 
zeichnen, er wird Euch das Geld geben, und 


ip — 
entſcheiden können, daß wir noch ein paar Tage She fort die Farfe mitnehmen. 


warten wollen,” beridtete er. 


‘ # 
* 


728 


Die Conntagsgloden läuteten über bas 
ftille, fonnige Land. Auf allen Wegen und 
Pjaden gingen die Leute zur Kirche. 

Auf dem ftillen Feld war Cleve ganz allein 
mit feiner Rub . . . Gejtern war der Vertrag 
geſchloſſen worden, und heute hat er fie gum 
erftenmal auf Troofters Weide geftibrt. 

„Ach, was fiir eine Freude hatte Pierfen 
an unferer Rub gebabt,” feufgte er vor fic 
bin. Ceine Lippen begannen gu jittern, und 
Trinen rollten ibm über die Wangen. 

„Ach Pierfen, mein armer, Lieber, fleiner 
Junge, meinen letzten Cent und mein letztes 
Stic Brot micht’ id hergeben, wenn ih Did 
wieder am Leben feben könnte!“ 

Die Verwirflidung feined heißeſten Wun— 
ſches, der herrlich reine, ſchöne Tag, das 
feierlide Glodenlauten, ein ſpäter Commer: 
pogel, ber bier und da nod fein einfames 
Lied fang — alles ftimmte ihn tief webmiitig 
burd) ben Kontraſt mit feiner innigen Trauer 
um Pierfens Tod. 

Dod) gleidhgiltig grafend lief die ſchöne 
Rub neben ihrem neuen Befiger her, und das 
einténige Geräuſch ihres rubigen Kauens 
wiegte Cleve ſchließlich in ein dumpfes Gefühl 
melancholiſcher Rube. Er dachte an fein neu- 
geborenes Kind, dad aud Pierfen hieß, und 
bas ibm vielleiht gum Troft und zur Ent— 
ſchädigung fiir bas verlorene gefdenft war. 
Gr badie an feine Frau und feine andern 
Rinder und an feinen pligliden Woblftand. 
Die leife Hoffnung erwachte in ibm, bah er 
vielleicht bod) nod mal fein einfames Hausden 
verlafjen und wie die reiden Bauern bier 
auf den fetten, frudtbaren Griinden, mitten in 
all diefer Pradt und Scinbeit einen Heinen 
Hof fein eigen nennen wird. 

Da ftand unertvartet Bauer Troofter vor 
ihm. Das gewohnte offene Laden war von 
dem roten Geſicht verſchwunden, und feine fleinen 
Augen, die ex fonft im Übermut zuſammen— 
zukneifen pflegte, ftanden nun mit einem Aus— 
brud bon Furcht und Argwohn weit auf. 

„Na, Cleve, ift Bellele brav?” begann er 
mit etwas unfiderer Stimme, während er mit 
einem Seitenblick in das bleiche Geficht des 
ſchwer beimgefudten Vaters defjen Gemüts— 
ſtimmung zu erforſchen ſuchte. Doch Cleves 
ſtille und freundliche Antwort beruhigte ihn 


Teuer erlauft. 


ſchnell, und gleich zogen ſich ſeine Augen 
wieder zum Lachen zuſammen. 

„Ich hab' heute Hauswache,“ ſcherzte er, 
„unſere Leute ſind alle zur Meſſe, und ich 
hab’ für und zwei 'n guten Tropfen mit— 
gebracht.“ 

Damit holte er eine Flaſche Jenever und 
ein Glas aus der Taſche hervor. 

ld, dad war’ nicht nötig, Bürgermeiſter,“ 
antwortete Cleve liebenswürdig, mit mattem 
Lächeln. 

„Doch, doch, auf Deine Geſundheit, und Du 
mußt Courage haben,“ ſprach der Bauer und 
reichte ihm ein volles Glas. 

„Danke, Bürgermeiſter,“ ſagte Cleve dumpf. 
Doch als er das Glas zum Munde führte, 
zitterte ſeine Hand fo, daß er nicht zu trinken 
vermochte. 

„Na, na, trinP man, 's wird Dir gut tun,“ 
berubigte Troofter. „So, nod) einen?“ 

„Nein, nein, dank ſchön, das fteigt mir ju 
Ropj.” 

„Ach was, einer gebt fdon nod, id nebm 
aud immer givei.” 

Dann rief er plötzlich ohne jeden Übergang 
mit bebender Stimme und feierlich, als ſchwöre 
er einen Gib: 

Kein Pferderennen mehr im Dorf, folange 
id Biirgermeifter bin! Nie mehr, nie!” 

Cin Schluchzen ftieg ihm im Halfe auf, 
und wie gefoltert rang er die Hinde, und 
Tränen traten ihm in die Augen. 

» 8 ift Eure Schuld nicht, 's ift niemands 
Schuld,“ murmelte Cleve faft unhörbar. 

„Nie mebr, nie mehr!” wiederbolte Troofter 
nadbdriidlid. Und von feiner Bewegung iiber- 
waltigt, floh er ins Haus, die Hinde vor das 
Geſicht gedrückt. 

* ‘ * 

Es tat Cleve twobl, den reichen Bauern 
weinen gu feben, um fein liebes Pierfen; cine 
weide Warme fam ibm ins Herz. Rube und 
Frieden in der Seele kehrte er heim, wo feine 
rau und die Madden ungeduldig  feiner 
harrten, denn fie batten die neue Rub nod 
nicht gejeben. 

Die Kinder famen ihm entgegen gelaufen, 
als er fo ftoly wie cin Cigentiimer neben bem 
ſchönen Lier über die Felder ſchritt, mit einem 


Die Frau ald fojiale Erzieherin. 


Gefiihl, als fei er nun in der Achtung all diefer 
reichen Bauern geftiegen, als gehöre er nun 
au ibnen, an deren Gebdften er vorüber fam. 

„Ach Herr Gott, was fiir 'n ſchönes Tier,” 
rief feine Frau und ſchlug vor Bewunderung 
die Hände zuſammen. 

Ihre Lippen zitterten vor Ruhrung, und 
eine ganze Weile ſtand ſie ſprachlos und 
unbeweglich neben den andern vor der weißen 
Kuh im Schatten der hohen Bäume. Dann 
begann ſie plötzlich bitter zu weinen und 
ſtotterte ſchluchzend: 

„Ach Herr Gott, unſer Pierlen! 
Pierken! Unſer Pierken!“ 

Und Cleve, der ſo viel von der Kuh erzählen 
wollte, und die Kinder, die mit Ausrufen der 
Bewunderung um ſie herum liefen, weinten 
mit ihr in Schmerz und Verzweiflung um das 
tote Pierken. 


Unſer 


729 


Das war ihre letzte grofe Trauer um dads 
Rind. Sie bradten Bellefe in den Stall, two 
fie ein weides, friſches Strohlager beforgt 
batten, betradjteten es nodmals mit bewun—⸗ 
dernden Bliden und fehrten dann zu ibren 
gewohnten Beſchäftigungen zurück. 

Sm Jahr darauf batten fie ein ſchönes 
weif und rot gefledtes Salb von ihrem 
Belleke. 

Im nächſten Jahr wieder eins. 

Und im folgenden Mai verließen ſie ihr 
einſames Häuschen auf ber weiten Ebene 
unter den ſtolzen Pappeln und bezogen ein 
kleines Bauernhaus, hellgrün geſtrichen, mit 
weiß und blauen Fenſterläden und rotem 
Ziegeldach, mitten in den fetten Gründen, auf 
welchen die reichen Gehöfte ftanden. 

In der Zwifdenjeit war ihnen nod ein 
Sungden geboren worden . . 


ie Brau als soziale @rzicherin. 


Aniprachie auf dem Jnternationalen FrauenkongreB zu Berlin. 


fo a Raddrud verboten. 





Leben im weiteſten Sinne bedeutet. 


Lady Aberdeen. 


Jenn die Frau die Crzieherin fiir dad foziale Leben fein foll, und die Vildnerin 
PY derer, die es zu geftalten haben, fo muf fie felbft verjtehen, was foziales 


Sie muß einen Begriff davon haben, daß es nicht allein die Familie umfaßt, 


die Nachbarn, cine Gruppe von Freunden, den gefellfchaftlichen Kreis oder die Klaſſe, 
zu Der fie felbjt gebdrt, fondern daß e3 das vielfach verſchlungene Leben der ganzen 
Gemeinſchaft bedeutet, von den Geringſten bis zu den Höchſten, die bitrgerliden und 
die politifcben Angelegenbheiten, die öffentlichen und nicht öffentlichen, Männer und 
Frauen, mit allen Sitten, Inſtitutionen, Jdealen und Borurteilen. 

Um fich für ihre Aufgabe auszurüſten, mug fie deshalb vor allem ihren cigenen 
Geift bereichern und erweitern, muß fie fic) über die Tatfachen ded fozialen Lebens 
unterrichten, die menſchliche Geſchichte und das menſchliche Leben in feinen mannig— 
jaden Verhältniſſen ftudieren. Sie muß aufhören, ſich in enge Cliquen abzuſchließen 
und muß, wo ſie Gelegenheit dazu findet, Beziehungen zum menſchlichen Leben in 


730 Die Frau al fojiale Erzicherin. 


feinen verfdicdenen Rundgebungen pflegen. Sie muß, foviel fie irgend fann, vont 
fosialen Leben Lernen, in all feinen Wbftufungen nach oben und unten, wenn ¢3 ihr 
gelingen foll, es zu dem au madden, was e3 fein follte. 

Und wenn fie fid) tiberjeugt bat, wie groß die Aufgabe ijt und wie febr es 
augerhalb ihrer Macht liegt, fie auszufiibren, jo darf fie jid) nicht im Bewußtſein 
ihrer Unjuliinglichfeit abwenden, fondern fie muß den Mut haben, ihren Anteil an 
Diefer Aufgabe fo gut und erfolgreich wie möglich zu erfiillen. 

Wir find ja alle nur wie eine kleine Biene in einem großen Stod; aber wenn 
wir alle friedlich zuſammenarbeiten in freundſchaftlichem Zuſammenwirken, bei dem einer 
des anderen Ziele verfteht, fo wird die Zeit uns elfen, und iwir werden allmählich 
Großes vollbringen können. 

Vor allem müſſen wir dafür ſorgen, daß unſere Arbeit wirklich aufbauend und 
nicht zerſtörend iſt. Wir wünſchen, daß ſich eine neue ſoziale Ordnung durch eine 
wirkliche, geſunde Entwicklung herſtellt, aus dem Innern der alten Verhältniſſe heraus. 
Alte Ideale zu zerſtören, ehe die neuen feſtgewurzelt und imſtande find, ihre Stelle 
einzunehmen, heißt nur die Geſellſchaft mit ſtörenden und unruhigen Elementen füllen, 
Saaten der Zwietracht, die geſundere Pflanzungen erſticken werden. 


a * 
* 


Wir ſtimmen alle darin überein, daß die wahre Aufgabe der Frau nicht die iſt, 
eine Sklavin, eine bloße Arbeitskraft im Haushalt, ein Spielzeug, eine hübſch angezogene 
Puppe zu ſein oder etwas ähnliches. Nicht einmal nur die Mutter der Kinder oder 
die Leiterin des Hauſes. Wir geben zu, daß ſie dem Wohl der Allgemeinheit einen 
wirklichen Beitrag an ſittlicher und intellektueller Kraft leiſten kann und leiſten ſoll 
und daß ſie an der Seite des Mannes ihren Teil bei der Löſung der ſozialen Probleme 
der Gegenwart zu erfüllen hat. 

Aber wir müſſen dabei zweierlei im Auge behalten. Einmal, daß die alte Rolle 
der Mutter, der Hausfrau nicht aufgegeben oder gering geſchätzt, ſondern nur auf ein 
höheres und weiteres Niveau erhoben werden ſoll. Die Mütterlichkeit iſt immer noch 
der eigentliche Mittelpunkt des Einfluſſes der Frau im ſozialen Leben. Und dann, 
daß wir Frauen doch nur die eine Hälfte der Menſchheit ſind. Wenn wir die 
Geſellſchaft geſtalten wollen, ſo können wir die andere Hälfte, unſeren Gefährten, 
den Mann, nicht übergehen. Entweder müſſen er und wir Seite an Seite arbeiten, 
mit im großen und ganzen gleichen Zielen, indem wir unſere Methoden unſeren beider— 
ſeitigen Erfahrungen und Anſprüchen anpaſſen, oder es iſt — da die Männer noch 
immer wenig bereit ſind, die Notwendigkeit unſerer Mitarbeit im geiſtigen Leben 
anzuerkennen — nur zu wahrſcheinlich, daß wir in einen bitteren Antagonismus hinein— 
geraten, deſſen Wirkung nur die ſein kann, die Verwirklichung unſerer Ziele aufzuhalten, 
und — ſchlimmer noch — gerade den Charakter, den wir all unſerer Arbeit aufprägen 
wollen, zu zerſtören, den Charakter weiſer, geduldiger, weitreichender Verſöhnung und 
Einigung. 

Denn ehrlich wollende Frauen kommen nicht, um für alte Tyrannei und Nicht— 
achtung flammende Rache zu nehmen. Wir kommen vielmehr in dem Glauben, daß 
die Wohlfahrt des Ganzen unſere Dienſte verlangt und daß es unſere Pflicht iſt, ſie 
zu leiſten. Wenn wir die Männer dafür gewinnen wollen, unſer Verlangen nach 
Möglichkeiten, unſere Pflicht zu tun, zu unterſtützen, — und wir können ohne ſie nicht 


Die Frau alS ſoziale Erzieherin. 731 


viel weiter fommen — wenn wir fie fiber die felbjtfiichtigen Inſtinkte und Borurteile 
des Geſchlechts, der Klaſſe, des Berufs erbeben wollen, fo müſſen wir uns an das 
Geredhtigkeitsqefibl in ihnen wenden. Und das können wir nicht, tenn wir nicht 
ſelbſt in Beziehung auf fie volle Geredhtigheit üben. Alle Bitterfeit, alle Feindfeligheit 
ijt einfach cin Schaden, den wir unferer eigenen Cache zufügen. 


of ve 
* 


Wenn wir nun fragen, durch welche Lebenskreiſe im einzelnen der Einfluß der 
Frau auf das ſoziale Leben wirkſam wird, ſo können wir im großen und ganzen die 
Familie, die geſellſchaftliche Sphäre, in die eine offizielle Stellung verſetzt, das Vereins— 
leben als die wichtigſten unterſcheiden. Ich glaube, daß dieſe Wirkenskreiſe unauflöslich 
miteinander verkettet, daß dieſelben Prinzipien für alle giltig ſind und daß Mängel 
und Mißerfolge in einem von ihnen alle anderen in Mitleidenſchaft ziehen. 

Was zunächſt die Erziehung der Kinder betrifft, ſo ſagt man oft, daß der Einfluß 
der Mutter während jener früheſten Jahre der herrſchende bleibt und unverwiſchbar 
iſt; daß ſie mit dem Kinde tun kann, was ſie will, wenn ſie nur die Gelegenheit zu 
benutzen verſteht. Später, wenn der Knabe zur Schule und zur Univerſität vor— 
geſchritten iſt, zum Heer oder zu einem bürgerlichen Beruf, darf fie nicht erwarten, 
noch viel Einfluß auf ihn zu haben, während auf der anderen Seite die Mädchen 
ganz unter ihrem Einfluß bleiben, bis ſie heiraten. Mir ſcheint in dieſer Betrachtung 
der Dinge viel Unrichtiges zu liegen. Der frühe Einfluß der Mutter auf ihre Söhne 
mag unverwiſchbar ſein in dem Sinne, in dem die urſprüngliche Schrift eines Palim— 
pſeſtes unverwiſchbar iſt; irgend eine chemiſche Verbindung mag ſogar eines Tages 
ihre Lesbarkeit wieder herſtellen; aber wenn unterdeſſen die männlichen Einflüſſe von 
Schule und Univerſität, von Kaſerne oder Bureau die Meinungen und Handlungen 
des Knaben und des Mannes während der ganzen Zeit ſeines tätigen Lebens 
beſtimmen, ſo kann die Mutter ſich kaum zu dem ſozialen Einfluß Glück wünſchen, 
den fie durch ihre Söohne ausübt. Und andererſeits kann der Verſuch, ihren Einfluß 
durch Ubertreibung und zu große Eindringlichkeit unverwiſchbar zu machen, oder dadurch, 
daß Stufen ſeiner geiſtigen Entwicklung und Intereſſen vorweg genommen werden, die 
nicht fo früh einſetzen können, nur cine Reaktion hervorrufen. 

Was kann dann aber die Mutter ohne Furcht, ihren eigenen Zweck zu vereiteln, 
verſuchen, um ihre Kinder für das ſoziale Leben zu erziehen? 

Das Wichtigſte ſcheint mir zu ſein, die Gewohnheit der Selbſtverleugnung und 
des Selbſtvergeſſens zu erziehen, die Rückſicht auf andere als eine Sache einfacher 
Gerechtigkeit, tatkräftige Güte und Hilfsbereitſchaft, Heiterkeit als eine Pflicht gegen 
andere, die Gewohnheit, niemanden, ſei er arm und gering, oder ſogar ſchlecht, mit 
Verachtung zu betrachten; Höflichkeit und Achtung vor des anderen Rechten und 
Neigungen, beſonders zwiſchen Brüdern und Schweſtern: das alles iſt eine gute 
Grundlage und eine, die früh gelegt werden kann — ich möchte noch hinzufügen 
Beſcheidenheit und Zurückhaltung und den Ehrgeiz, alles um ſeiner ſelbſt willen gut zu 
machen, nicht um andere zu übertreffen. Das alles ſind keine geringfügigen Dinge, 
ſie liegen an der Wurzel jener Fähigkeit, ſich ſelbſt in die Lage anderer zu verſetzen, 
die das Geheimnis der ſozialen Gerechtigkeit iſt, und ſie ſind, in vielen Arten ſozialer 
Arbeit, das Geheimnis des Erfolges. 


732 Die Frau alS foziale Ergieherin. 


Die gemeinfame Erziehung von Knaben und Madchen Fann cine gute Schule der 
Gerechtigkeit und des gegenfeitigen Verftindniffed fein. Jedes follte angebalten werden, 
die befonderen Vorzüge des anderen zu achten; jedes follte lernen, die befonderen 
Pflichten bes Bruders ober der Schweſter zu erfiillen, „durch Liebe einander yu dienen”. 
Cine wirkliche Kameradſchaft ywifeben Bruder und Schweſter bereitet wie nichts 
anderes beibe vor, andere Männer und Frauen ju verftehen, und der Unteil der 
Schweſter an der Geftaltung des weiblicen Ideals ibres Bruders ift eine Ver— 
antwortung, die nicht ftarf genug betont werden kann. Den Knaben befonders follte 
Achtung vor aAlteren Frauen gelehrt werden, wie iiberhaupt Rückſicht auf Wlter und 
Schade. Man follte die Kinder ermutigen, fo viel als möglich, die Freunde ibrer 
Eltern, Manner wie Frauen, als die ibrigen ju betracdten, fo gut fie junge Freunde 
fiir fic) haben, damit fo ibr Ausblick ing Leben friih geiweitet und vertieft werbde. 
Der Cinflug, den diefe Gewohnheit freimiitigen Verkehrs mit alteren Leute auf die 
Empfinglicbfeit und auf die Intereſſenwelt junger Menſchen hat, auf ihr Verſtändnis 
fiir da fojiale Leben, bem fie angebdren werden, und die Fähigkeit, fic ihm 
anzupaſſen, iſt unſchätzbar. 

Unſere Kinder ſollten auch früh in freundſchaftliche Beziehungen mit Menſchen 
gebracht werden, die ihren Lebensunterhalt ſelbſt verdienen, und mit Arbeitern aller 
Berufszweige. Sie ſollten Fabriken und Werkſtätten beſuchen, um die Stellen zu 
ſehen, wo die Arbeit der Geſellſchaft getan wird, und die Menſchen, die ſie leiſten, 
um etwas davon zu wiſſen, was der Daſeinskampf für dieſe Arbeiter bedeutet. 
Alles das hilft dazu, unbewußt den ſozialen Sinn zu erweitern, ihm Tiefe und 
Wirklichkeit zu geben. Es gibt dem Kinde einen Begriff von der weiten Mannig— 
faltigkeit menſchlichen Weſens, menſchlicher Bedürfniſſe und menſchlicher Gemeinſchaften, 
unter denen es zu leben hat, und es gibt Gelegenheit, die Idee einer weitreichenden 
ſozialen Verpflichtung einzuflößen. 

WViel kann aud dadurch getan werden, dah große Tagesereigniſſe im Familien— 
kreiſe beſprochen werden. Für aktuelle Ereigniſſe, die ſich von Taq zu Tag in des 
Kindes Umgebung entwickeln, wird faſt immer ſein Intereſſe erweckt werden können. 
Richtige Ideale von der ſozialen Ethik, der inneren Vornehmheit, die wir von 
Männern und Frauen im öffentlichen Leben verlangen, können ſo am ſicherſten und 
natürlichſten eingepflanzt werden, zugleich mit dem Sinn für das, was recht und 
billig iſt zwiſchen den verſchiedenen Klaſſen, zwiſchen Unternehmer und Arbeiter u. ſ. w. 

Und dann ſollte von Zeit zu Zeit, ſowohl mit Knaben als mit Mädchen, in 
ganz ruhiger Weiſe die Frage der Beziehungen zwiſchen Mann und Frau beſprochen 
werden, das gegenſeitige Nehmen und Geben, die Gründe von Erfolg und Mißerfolg 
in dem Beſtreben, ein reines und volles Glück durch gegenſeitige Hilfe und Kameradſchaft 
zu finden, und, wenn ſie älter werden, ſollten wir ſehr ernſt und früher als die 
meiſten Eltern von dieſen Dingen mit ihren Söhnen ſprechen — von der Ver— 
antwortlichkeit der Manner reden fiir die Exiſtenz jener ſozialen Probleme, die fiir 
junge Männer und Frauen jedes Alters ſolche furchtbaren Schwierigkeiten und 
Verſuchungen in ſich ſchließen. 

Viel hängt ſicherlich von der Art und Weiſe ab, in der dieſe Fragen berührt 
werden. Es ſollte immer jartfiiblend geſchehen, immer mit dem Appell an das 
Gerechtigkeitsgefuhl des Knaben. Die fittliche Reinheit, fiir den Mann fowobl als 
fiir die Frau, follte friih in ihrer Wiirde der Jugend nabe gebracht werden, und 


Die Frau ald fosiale Erzieherin. 733 


glücklich iſt die Mutter, die ſagen fann: „ich verlange nur von dir, dab du bijt, tas 
dein Vater gewefen ijt,” „ich möchte, daß deine Frau fo gliiclic) wird wie ic es 
bin.” Sie darf ihrem Sohn auch nicht verbeblen — was er felbjt bald erjabren 
wird —, dak das nicht das Gewöhnliche unter Männern ijt; aber fie fann ibm fagen, 
dak einige der größten Manner dies Ideal aufgeftellt und erfiillt haben und dah jede 
Generation gebildeter Diinner ihm näher kommen könnte — und vielleicht auch wirklich 
näher kommt. 

Iſt dies eine zu milde Form, dieſe Dinge zu behandeln? Würde nicht eine 
leidenſchaftliche Anklage des Unrechts, eine begeiſterte Verteidigung des höchſten 
Rechtes eindrucksvoller ſein? Es mag in manchen Fällen ſo ſein. Aber im allgemeinen 
iſt es gut, daran zu denken, daß man in der ſittlichen Erziehung am weiteſten kommt, 
wenn man wenig redet und viel dem eignen Nachdenken des Zöglings überläßt, und 
daß es ſich weniger darum handelt, einen ſchnell verfliegenden Enthuſiasmus zu erregen, 
ehe das wirkliche Leben mit ſeinen Verſuchungen überhaupt beginnt, als darum, die 
Gewohnheit gerechter, ehrlicher und mutiger ſittlicher Cntfebliifie gu ſchaffen, die ſich 
den Lebensproblemen, wie und wann fie fic) auch darbieten, gewachſen zeigt. 

Vor allem fceint es mir widtig, die Kinder ju unſeren cigenen geiftigen 
Gefährten zu machen — foweit das irgend möglich ift —, fie Schritt fiir Schritt ins 
Vertrauen zu ziehen bei den Dingen, die uns felbjt innerlich beſchäftigen, das Ver— 
baltnis zu ihnen zu einem höchſt natiirlichen und offenen ju machen, und wenn fie 
alter werden, ihnen eber Fragen nahe ju legen, als fertige Anſichten über alles zu 
bieten. Chen dadurch, daß allmählich das Verhaltnis der Eltern gu ibren Kindern 
den Charafter geiſtiger Gemeinfdajt und guter Kameradſchaft anninunt, in dem die 
Eltern fo gut von ibnen nebmen als ihnen geben, in dem jie verfuchen, die Gefichts- 
puntte der jungen Generation ju finden und die Dinge fo anjufeben, wie fie ihr 
erſcheinen müſſen, — nur auf diefem Wege dürfen die Cltern boffen, einen wirflichen 
Cinfluj auf ibre Kinder zu bebalten, wenn fie in dad Leben Hinausgejogen find. 
Glücklich ift die Mutter, deren bejte Freundin ibre eigene Todster ijt und die weiß, 
daß ibre Söhne zu allen Lebenszeiten zu ihr fonumen werden, wenn fie in irgend einer 
Schwierigkeit find. 


* * 
* 


Es bleibt mir nicht viel Zeit, um über den Einfluß der Frau in der Geſellſchaft 
zu ſprechen. Er iſt in unverantwortlicher Weiſe mißbraucht worden, und doch ſollte 
jedes heranwachſende junge Mädchen darauf hingewieſen werden, dieſes ihr Königreich 
yu verwirklichen. Denn die Geſellſchaft wird immer das fein, was ihre Frauen daraus 
madden — cine Wabrheit, dic nur yu oft zugleich ein ernfter Vorwurf iſt. Es ijt in 
der Tat etwas Schönes, in unferem eigenen geſellſchaftlichen reife cine Atmoſphäre 
zu ſchaffen, die jeden, der fie atmet, beffer macht, und die in allen jungen Menſchen die 
Hoffnung erwedt, einmal felbjt ein ſolches Heim yu befigen. 

Und ſchließlich haben wir den Einfluß zu beriidfidtigen, den die Frau auf die 
ausübt, mit denen fie in ihrer dffentlichen Tatigfeit in Beriibrung fommt. Aud bier 
wird die Frau, die mit der einzigen Wbficht kommt, Cinfluk yu gewinnen und ibren 
Einfluß durchzuſetzen, weniger erreiden, als die rubiqe und befonnene Frau, die nicht 
durch ibre Nberjeugungen gezwungen it, fied felbjt immer im Recht und die andern 
immer im Unrecht zu feben. Sie mag eine ftille Führerſchaft des Herjens und 


734 Die Frau ald fogiale Erzieherin. 


Gewijjens unter den Männern ibres Arbeitskreiſes ausiiben, von deren Macht vielleicht 
weder fie felbjt nod die anderen cine volle Vorftellung haben. Cine „fortſchrittliche“ 
Frau yu fein — d. b. die Dinge in weitblickendem und fortſchrittlichem Geijte zu 
erfajjen und ju beſprechen — und dod) dabei keinen aggreffiven Ton, ſondern aud 
hier nur den Reig und Talt, die Verbindlichfeit und Unbefangenbeit der anmutigen 
und liebenswürdigen Frau ju haben, das tit, fo weit unfer Wirken in unjerem alltiglichen 
LebenStreife in Betracht fommt, die wahre Kunſt der Propaganda, und bei weitem die 
befte Urt, die Frauen ju gewinnen, die oft ſchwerer zu befebren find als die Manner. 
G8 ftellt ihnen cin Beifpiel vor Augen, deſſen Reiz fie empfinden und das fie willig 
macht zu glauben, daß fo vertretene Anfichten gerecht und richtig find. 

Die Beziehung, in die wir, bei unjerer Arbeit in der Wobhlfabrtspflege, mit den 
öffentlichen Körperſchaften der verſchiedenſten Art gebracht werden, ift wieder eine 
wichtige Gelegenbeit, unjere Grundſätze ju verbreiten und ihre Berechtigung zu jeigen. 
Aber auch hier ijt unendlicher Talt notwendig. Wir müſſen offiszielle Grenzen 
anerfennen, indem wir jugleid) Wohlwollen, Achtung und die Hilfe und Mitarbeit zu 
gewinnen fuchen, die die Behirden unjerer eigenen Arbeit im Dienft des Ganjen 
gewähren finnen. Wir müſſen ibnen begreiflich machen, dak wir gwar Enthuſiaſten 
und Optimijten find, mit einem grenzenloſen Glauben an die Möglichkeiten der menſch— 
lidhen Natur — und ftol; darauf find, uns fo yu nennen —, aber feine unwiffenden 
Fanatifer. Wir können jeigen, dah wir unfere eigenen Grengen fo gut kennen wie 
die ihren, dah wir gefonnen find, geduldig yu arbeiten an Reformen, die, wie wir 
wiffen, nur febr allmählich fommen fonnen, und dah wir nicht erwarten, unfere 
„Ewige Stadt” an einem Tage gu bauen, 

Die Schwierigkeit dabei ijt, dah die idealiftifde Frau — und wir brauchen 
idealiftifde Frauen —, geneigt ift, das taufendjabrige Reich fofort zu begebren, und 
wenn fie es nicht baben Fann, fo erklärt fie dem ganzen gegenwärtigen Zuftande den 
Krieg. Die Jdealijtin, die wir brauchen, ijt anderer Art. Ihr Haupt muh allerdings 
unter den Sternen fein, aber ibre Füße auf feftem Boden, Sie wird nicht ibr altes 
Haus niederreifen, ehe fie das neue gebaut bat. Cie Darf das Kleine, das heute 
qetan werden kann, nicht verſäumen, indem fie verſucht, große Dinge gu tim, die erft 
morgen geſchehen finnen. Cie weif, dah fie durch Weisheit und Liebe fiegen muß; 
daß Weisheit befjer ift als Waffen, und daß Liebe immer das Größte in der Welt bleibt. 





735 


Pariser Wohlfahrtseinrichtungen. 


Bon 
Anna Plothoviv. 


Nachdrud verboten. — 


ie meiſten Fremden, die nach Paris kommen, kennen es nur als die Stadt 

des Vergnügens, allenfalls als die Stadt der Kunſt und der Kunſtſammlungen, 

der literariſchen Zirkel und Theater, der geiſtigen Anregung und der gelehrten 
Gefjellfchajten, vor allem aber als die Stadt des Lurus und des geſellſchaftlichen 
Glanzes. Wenige nur feben fic) die Fiille von ernjter Arbeit an, die in diefer Stadt 
geleijtet wird, und nocd weniger lernen den barten Kampf ums Dafein fennen, den in 
Der Riefenjtadt täglich Millionen von Exiſtenzen kämpfen. 

Es ijt nicht immer dad bejte Nenommee, das die nur oberflächlich Zuſchauenden 
von Paris und den Parifern, vor allem von der Pariferin dann überall in der 
Welt verbreiten. Und docs hätten fie bei näherem Zuſehen aud) gerade bier recht viel 
ernjt arbeitenden Frauen und bei dieſen wahrem Wobltatigteitsjinn und erwadendem 
Solidaritatsgefiihl begeqnen können. Tatſächlich ift die Wobltatigkeit ſchon eine uralte 
Parifer Cigenfcaft, die Angehörigen vieler religiöſen Orden wie die Mitglieder weltlider 
Vereine haben fich ftetS die Fiirforge fiir die Armen jur Aufgabe gemacht. WAber vieles 
daran war veraltet und unzulänglich. 

Die Wohltätigkeit im modernen Sinne, die vor allem Wohlfahrtspflege fein, 
deren Hilfe mebr vorbeugen als unbeilbare Schaden lindern will, dieſe nabm, wie mir 
jceint, in Paris ihren Ausgang erjt von dem Jabre 1870/71. Diefe Zeit des Elendes 
und Krieges, der Schreden der Kommune und des Kummers der nationalen Niederlage 
wurde, wie öfters folche Seiten der Not fiir die Völker, auch fiir Paris cine eit der 
jozialen Wiedergeburt und Erjtarfung. Wenn wir die Berichte der heute am 
bedeutſamſten wirfenden Vereine nachleſen, fo finden wir es beftatigt, daß fie um jene 
Seit oder bald darnach entftanden find oder wenigitens von damals an einen neuen 
Aufſchwung nabmen. Da auch diefe Zeit zugleich die der Geburt der republifanifdsen 
Verfaſſung war, mit der in Frankreich) die Trennung von Staat und Kirche begann, 
fo ging jest auch die Woblfabrtsfiirforge mebr und mebr in weltliche Hände über 
und wurde konfeſſionslos; wenigſtens macht die freie Armenpflege der firchlichen ftarfe 
Konkurrenz. 

Die ſtädtiſche Armenpflege (Assistance publique) gibt jährlich 56 Millionen Francs 
aus, wovon die Stadt faſt die Hälfte zuſchießt. Sie erhebt den Zehnten von den 
Einnahmen der Theater, Konzerte, Schauſtellungen. 

Ihr unterſtehen 20 Krankenhäuſer, mehrere Altersverſorgungshäuſer, 5 Irrenhäuſer 
und cin Findelhaus. Es werden jährlich 275 000 Perſonen unterſtützt, 165 000 Kranke 
verpflegt, 43000 Kinder meiſt auf dem Lande unterhalten. In jedem der 
20 Arrondiſſements beſtehen ein Bureau de bienfaisance und mehrere Hilfshäuſer. 

Dennoch bleibt der Privatwohltätigkeit noch unendlich viel zu tun, denn wir 
dürfen nicht vergeſſen, daß die ſoziale Geſetzgebung in Frankreich noch ſehr im 
Rückſtande iſt. 

Es beſtehen mehrere hundert teils kirchliche, teils weltliche Wohltätigkeitsvereine, 
über 200 kirchliche Anſtalten für Waiſen, Kranke, Greiſe, Krüppel und Verlaſſene. 
Auch haben die Fremdenkolonien Unterſtützungsvereine für ihre Nation. Die kirchlichen 
Unterſchiede ſind in Paris, das in ſeiner Bevölkerung einen ſtarken Prozentſatz von 


736 Parifer Wohlfahrtseinrichtungen. 


Katholifen aujweift, größer als bet uns. Die ftreng firchlich gerichteten Katholifinnen 
ſchließen fich gegen die von Proteftantinnen und Jiidinnen unternommenen BVeftrebungen 
polljtindig ab. Cie nahmen deswegen auch nicht am Anternationalen Frauenfongref 
pon 1900 teil. 

Nicht fo groß ijt die Spaltung zwiſchen den politiſchen Parteien. Die Frauen 
der verſchiedenen Richtungen arbeiten mit den Sozialdemofratinnen zuſammen; bejonders 
fuchen die legteren bet Geldnot Anſchluß an die biirgerlichen Frauen. Die auf dem 
Wobhlfhartsgebiet herrſchende Zerſplitterung fcheint mir durch die fonfeffionellen 
Unterſchiede und die gleichlaufenden Bejtrebungen noc weit größer als bei ung zu fein. 

Aus der Fiille der Pariſer Wohlfabrtsbejtrebungen fann ich natürlich nur einiges 
herausgreifen, wie es denn auch nur ein fleines Teilgebiet war, in da8 ich bei meinem 
Hujentbalt einen tieferen Cinblid gewinnen fonnte. Da find zuerſt die Cinridtungen 
für die jungen Madchen, Es ijt allbefannt, dag das junge Madchen in Paris eine 
wejentlich andere Stellung einnimmt als bei uns, daß diefe weit entfernt ijt von der 
ſchönen Freiheit und Ungeswungenbeit des Verkehrs, welche moderne Anfchauung und 
Erziehung in edlem Vertrauen der Jugend gewahren. Das junge Madden der hiheren 
Gefelljchaftstreife wird in fajt klöſterlicher Abjperrung gebalten, es darf niemals allein 
ausgeben, niemals allein Beſorgungen machen oder in Unterrichtsftunden geben. 

Dadurch feheidet die junge Dame natiirlich von jeder Selbftbetitiqgung in der 
Wobhlfabrtspflege aus. Solche fegensreichen Cinridtungen wie die ,, Madden: und 
Frauengruppen fiir foziale Hilfsarbeit” mit ihrer fiir die Beteiligten fo febr erzieheriſch 
wirfenden Arbeit auf den verſchiedenen Woblfabhrtsgebieten wire auf Parijer Boden 
vorliufig nocd ganz undenkbar. 

Wir begegnen aljo nur wobltitigen Frauen. Cin gitnftiger Zufall lies mic bei 
einem Beſuch der Prajidentin eines der größten Wohlfabrtsvereine grade in eine Komitee- 
jigung bineingeraten. Die Form war dabei weniger parlamentarifd) ſtraff und arbeitfam 
niichtern als bei uns. Es war mehr ein swanglofes Kommen und Geben, eine Art 
Empfang der Präſidentin, bei dem die Interna des Vereins verhandelt wurden und der 
Dem und jenem Gelegenbeit zu einer fleinen, ſchwungvollen Rede bot. Tro’ der 
eleganten, ein wenig oberflächlich erfcheinenden Form fonnte ich mich aber fpater über— 
zeugen, daß in diefem Verein tüchtig gearbeitet wurde. Das meifte allerdings von der 
hervorragenden Vorfigenden und ihren beiden Sefretirinnen. Neben den *o überaus 
ängſtlich behüteten jungen Mädchen gibt es nun die große Zahl der jugendlichen 
Arbeiterinnen, worunter ich in dieſem Sinne jedes einen Beruf ausübende Mädchen 
begreife, gleichviel, ob es Lehrerin, Studentin, Künſtlerin, Buchhalterin, Verkäuferin oder 
Arbeiterin in einem Atelier, einer Fabrik iſt. 

Dieſe jungen Mädchen haben meiſt niemand, der ſie behütet; allein müſſen ſie 
ihres Weges gehen, allein ihr Lebensſchifflein durch die brandenden Wogen ſteuern und 
wollen fie anſtaändig bleiben und ihr Renommee wahren, fo zwingen die Verhältniſſe fie 
erſt recht au einem abgeſchloſſenen Leben, zu äußerſter Zurückhaltung. In ſchrankenloſer 
Ungebundenheit oder wie eine Nonne leben, dieſe beiden Wege gibt es nur für das 
junge Mädchen in Paris, die geſunde, glückliche Zwiſchenſtufe Nott 

Cinfichtige Frauen bemühen fic) neuerdings, diefe foziale Harte aussugleiden, und 
die Einrichtungen zum Schutze und zur Fiirforge fiir die jungen Madchen nehmen einen 
jebr breiten Naum in der Wohlfahrtspflege ein. 

Klubs fiir Fabrifarbeiterinnen wie in London und Berlin erijtieren nods nicht. 
Die ganze Jdee der Heime ijt nod) febr jung fiir Paris; friiher waren wobl die Klöſter 
die einzigen fiir alle Swede dienenden Zufluchtsftitten. 

Beſondere Heimſtätten fiir junge alleinftebende Madchen wurden Anfang der fiebsiger 
Sabre von geiſtlichen Frauenorden in Paris cingerichtet. Das erjte Geim diejer Art 
war das fiir junge Arbeiterinnen errichtete ,Maison de famille* im Klofter der 
Religieuses de Marie-Auxiliatrice, in der Rue de Maubeuge 25. Es befteht nod 
beute und fann bis 140 Penſionärinnen aufnehmen. Der Penfionspreis betragt 
monatlid) 50—65 Francs. Ahnliche Anjtalten wurden auc) in anderen Teilen von 
Paris errichtet. 


Parifer Wohlfahrtseinrichtungen. 737 


Für die berufliche Aushildung der jungen Madchen find von katholiſch-kirchlicher 
Seite 18 Gewerbefchulen eingerichtet; 6 weltlicse dienen dem gleichen Bwed. 

Von evangelifcher Seite ridtete die zur Zeit der Kommune im Vorort Boulogne 
entftandene ,Mission Evangelique aux femmes de la classe ouvriére“ 
neben anderen Woblfabrtseinrictungen wie Arbeitsnachweis, Sparkaſſe, Volksbibliothek 
und Miitterverfammlungen auc an den freien Donnerstagnacmittagen eine fogenannte 
„Puppenſchule“ fiir die fcbulpflichtigen Madchen und Sonntagszuſammenkünfte für 
jugendlice Arbeiterinnen, befonders Wafderinnen, ein. Es wird dabei wie in unferen 
Marienbeimen vor allem das kirchlich-religiöſe Moment betont. 

Religidfen Charafter tragt aud das gleidfalls fiir die Opfer der Rommune 
geariindete ,Oeuvre de Belleville*, das Werf der treffliden, warmherzigen 
Englinderin Miß J. de Bro€n. Es nimmt ſich in materieller und ſittlicher Hinſicht 
aller Armen, gleichviel welchen Alters, Geſchlechtes, Standes und Glaubens an. Außer 
einer Klinik, in der mehr als 24000 Perſonen jährlich freie ärztliche Hilfe finden, 
einer Arbeitsſtube für beſchäftigungsloſe Frauen und einer Armenſpeiſung unterhält es 
ein Waiſenhaus für 20 Mädchen, eine Fortbildungsſchule und eine gut beſuchte 
Sonntagsſchule. 

All dieſe Einrichtungen ſtellten aber doch nur vereinzelte und deshalb wenig 
wirkſame Verſuche dar. Der erſte Verein, der ſich umfaſſend und ſyſtematiſch der 
jungen Mädchen annahm, war der bekannte „Internationale Verein der Freundinnen 
junger Mädchen“, deſſen Pariſer Sektion zuerſt eine Art Klub für die Verkäuferinnen 
gründete. Bald wurde cine Bahnhofsabholung, ein Sonntagsheim für Alleinſtehende, 
eine koſtenfreie Stellenvermittlung, eine Arbeitsſtube, ein Frauenreſtaurant und endlich 
ein Heim hinzugefügt. Anſchließend daran wurde ein Klub gegründet, der ,Cercle 
amicitia‘, der das gleiche Haus bewohnt. All diefe Stiftungen find jest in dem 
neu erbauten Haus, Rue du Pare Roval 12, in der Nabe des Place de la Bajtille 
vereinigt. Cs enthalt im Erdgeſchoß das nett eingerichtete Frauenrejtaurant und nad 
dem ſchönen grofen Garten — defen Benugung ebenfalls den Bewobnerinnen fret: 
jtebt — ju gelegen cin Unterbaltungszimmer, ein Leſezimmer mit reichbaltiger Bibliothek 
und Zeitungen, ein Schreibzimmer, wo Studentinnen ungeſtört arbeiten fonnen. Die 
Zimmer der Penjiondrinnen find gwar febr flein, aber gemiitlic& und bei aller Cin: 
facbeit mit Geſchmack ecingerictet. Cin Zimmer koſtet mit erſtem Frühſtück monatlid 
35 bis 45 Francs. Das Haus hat elektrijche Beleuchtung und Dampfheizung. Natiirlid 
find bei dem fiir Paris außerordentlich niedrigen Preis die Zimmer ſchon immer lange 
im voraus vergeben. Auch im Frauenreftaurant, das jeder anjtindigen Dame offen 
jtebt, find die Preiſe mäßig; cin Frühſtück, unſerem Mittageſſen entſprechend, koſtet 
komplett 1 Franc, mit Wein, Milch oder Kaffee 10 Centimes mehr. 

Nur für Wohnungszwecke lehrender, lernender oder arbeitender Frauen iſt das 
„Hotel meublé* auf dem äußerſten Montmartre, Rue des Grandes-Carriéres 37, 
eingerichtet. Es bietet Raum fiir 120 Inſaſſen. Das ganze Haus ift bequem, bebagqlich, 
mit einer bellen Farbenfreudigkeit eingerichtet und ſtrahlt förmlich von Sauberfeit. Cs 
enthalt ebenfalls Speiſeſaal und Leſezimmer. Cin fleines Simmer in der 1. oder 
2. Etage koſtet bier 30 Francs, cin Kämmerchen in der 3. oder 4. 18 Francs 
monatlich. Ebenſo billig find alle Mahlzeiten. Es ift daber fein Wunder, dag trog 
der etwas abgelegenen Lage auf der Hobe des Montmartre bier alle Zimmer ftets auf 
Monate im voraus vergeben find. Cin zweites ,Hotel meublé“ ijt jest im Stadtteil 
Ya Roguette im Bau begriffen, und die ,Société Philantropique“, der diefe Griindung 
ibre Entftebung verdantt, will nad und nad in allen Stadtteilen von Paris gleiche 
Häuſer fiir die arbeitende Frauenwelt errichten. Um untiebjame Clemente fern ju 
balten, bat man eine etwas ftraffe Hausordnung eingericbtet, fiir deren Aufrechterbaltung 
die Bewobnerinnen felber forgen müſſen. Conjt aber fragt man weder nad dem 
@lauben, nocd nad) Stand oder Herkommen. Die Bewohnerinnen refrutieren fic aus 
allen Standen. MNeben der beſſeren Arbeiterin, der Schneiderin, der Verfauferin findet man 
aud oft Privatlebrerinnen, denn diefe find in Paris in ibrem Cinfommen oft weit ſchlechter 
geftellt als cine einfache UArbeiterin. Dies Haus nimmt aud) Frauen mit Rindern auf. 

47 


738 Parifer Wobhlfabrtseinridtungen. 


Ganz den Anterefjen der arbeitenden Frauen, beſonders der kaufmänniſch An— 
qeftellten widmet fic) der ,Cercle du travail féminin“. Er bat fein Domijil 
mitten im Herzen de eleganten Paris auf dem Boulevard des Capucines 35. Hier 
finnen die Angeftellten der Gefchafte die Mittagspanfe, die freien Abendſtunden und 
Sonntage aufs angenebmfte verbringen. Chine, elegant cingerichtete Raume mit der 
Ausſicht in den Garten des Jockeyklubs fteben ihnen hier yur Verfiiqung. Neben dem 
qrofen Salon befindet fic) cin Schreibzimmer und cine Bibliothek. Die Mablyeiten 
fonnen die jungen Madchen in dem Tür an Tür grenzenden Frauenreftaurant des 

»Yoyer de lOuvriére“ cinnebmen. Auger den gefelligen Sufammenfiinften an den 
Donnerstagabenden und Sonntagen gibt es unentgeltlicde Fortbiloungs: und Unter: 
rictsturfe fiir Deutſch, Engliſch, Franzöſiſch, Gefang, funftgewerblides Zeichnen, 
Zuſchneiden, Mufit, Stenographie und Buchführung. Ferner erhalten die Mitglieder 
in Rranfheitsfallen freien Arzt und Arznei, aud ijt fiir Ferienerholungsheime geſorgt. 
Zwei angefebene Advokaten erteilen Rat in Rechtsangelegenbeiten. Cine CStellen- 
vermittlung ijt im Entſtehen beqriffen. Wir ſehen alſo cin Pendant zu unferem „Kauf— 
männiſchen Verein für weibliche Angeftellte” fic) entwickeln, das dank feiner energifden 
Leitung den erfreulichjten Aufſchwung nimmt. 

Der ,,Cercle” ijt von 10 Ubr Morgens bis 10 Ubr Abends geöffnet. Das regſte 
Leben herrſcht natürlich zwiſchen 12 bis 2 Ubr. Hier ift das Pringip der Gegen- 
jeitigfeit bereits am ſtärkſten entwidelt, und die Verwaltung de3 Klubs rubt in den 
Handen von Frauen, die felber WUngejtellte find. Der Dabresbeitrag betragt 6 France, 
die in Monatsraten gezahlt werden Foren. 

Allen jungen Damen, die irgendwie als Angeftellte nach Paris geben, ijt der 
Cintritt in diejen Klub dringend zu raten. Er ninunt fic auch der Intereſſen der 
Atemden warmberzig an. An den Unterbhaltungsabenden am Donnerstag und an den 
Sonntagnachmittagen finden fie hier geiftige Forderung und den in Paris fo ſchwierigen 
freundſchaftlichen Anſchluß. „Wenn wir den Cercle nicht Hatten,” fagten mir ver- 
fchiedene junge Damen, „würden wir uns nod viel vereinfamter bier fühlen. Gaſt— 
freundjchaft fiir Fremde fennt der Parijer nicht. Wir leben hier ſchon vier, fünf 
Sabre, ohne jemals Familienanſchluß gefunden ju haben. Die Parifer Familien Lichen 
eS, Fetertage und Mufeftunden im Neftaurant zu verbringen; auch find die Wohnungen 
jebr beſchränkt, das alles ſchränkt die Gaftfreibeit ein. Dann verfebren fie intim nur 
mit Der eigenen Familie.” 

/» Man veranftaltet uns aud) Tanzfeſte im Winter,” ſagte mir eine andere, „aber 
natürlich find wir dabei ganz unter uns, Nie haben wir Gelegenbeit, Herrenbefannt- 
ſchaften zu machen!“ 

Das iſt auch eine Kehrſeite des luſtigen Paris. Die unſchuldigen Jugendfreuden 
ſind da ſehr ſparfam zugemeſſen! 

Der Cerele iſt ae der erfte Verein, der mit anderen Woblfabrtseinrictungen 
Fühlung ſucht und ju einer ganzen Anjabl ähnlich gericteter Beziehungen unterbalt. 
Von dieſem ebenſo interfonfeffionellen wie internationalen Verein aus dürften fic) nod 
einmal baltbare Faden zu unferen ſozialen Beftrebungen knüpfen laſſen. Zu feinen 
Donatoren gebiren ebenjo die in der Woblfabrtspfleqe von Paris befannteften Manner 
und Frauen wie die Cigentiimer der grofen Warenbhaufer. 

Freundnachbarlich mit dem Cercle du travail féminin“ haujt das ,Foyer 
de POuvriére*. Diefe Frauenreftaurants find fo nett und zierlich cingerichtet, dag 
fie auch höheren Anſprüchen geniigen. Auf den tadellos gededten Tiſchen fteben Blumen, 
die Wufiwirterinnen tragen cine febr Eleidfame Uniform. An der Kaffe fist cine Dame, 
die dieſen Poften ebrenamtlich verwaltet und die Speijemarfen verkauft. Jedes Gericbt, 
wie Brot, Suppe, Fleiſch, Gemüſe, Kompott wird einzeln berechnet. Die Küche ijt 
qut, aber die Portionen find fleiner als bei ung, ſodaß fic) der Preis fiir ein Früh— 
jtiid auf 60 bid 80 Pfennig ftellt. Bei legterem Preis find cin Glas Wein und cine 
Taſſe Kaffee cingerechnet, die fic hier eben auch jede beſſere Arbeiterin leiſtet. 

; Noch muß icy bier der jreundlichen Schoͤpfung Charpentiers, des Komponiſten 
des Muſikdramas „Louiſe“, gedenken, des ,Oeuvre de Mimi Pinson“. Es vermittelt 


Parifer Wohlfabrtseinridtungen. 739 


Den jungen Arbeiterinnen den Befuch quter Theater. Täglich werden auf die ver: 
ſchiedenen Parijer Ateliers cine Anzahl Billetts. verteilt und unter den UArbeiterinnen 
verloft. Jede in die Liften Cingeseichnete kommt ein oder mebreremale im Jahre an 
die Reihe und erhält dann 2 Billetts für fich und cin Familienglied, da die gute Sitte 
verlangt, daß das junge Mädchen in Begleitung ins Theater gebe. 

Ferner werden von diefem Oeuvre auch Liebbabertheaterauffiibrungen und ebrbare 
Kränzchen veranjtaltct, wobet die jungen Madchen dann Gelegenbeit jum Tanzen haben. 

Die, von denen ich bisher gefprochen habe, find die Glücklichen, es fd die, die 
jung und gefund find und Arbeit haben. 

Aber es gibt viel Elend in Paris, vom Unglück angefangen bis herab zur tiefiten 
moraliſchen Verkommenheit. Nirgends habe ich das traurige: „J'ai faim“ ſo oft und 
ſo herzzerreißend von blaſſen Frauenlippen hauchen hören, wie in den eleganten 
Straßen von Paris. 

Da ſind die unglücklichen Geſchöpfe, die aus St. Lazare und den anderen Frauen— 
gefängniſſen entlaſſen werden, da ſind die ledigen Miitter, die Rerfiibrten und 
Betrogenen und die ärmſten der Armen, die Obdadlofen. 

Paris bat mebhrere ſtädtiſche Frauenajyle, doch dieje gewähren nur drei Nächte 
Unterjtand. Da mußte denn PBrivathilfe eingreifen. Das ,OQeuvre des libérées 
de St. Lazare“ nimmt fic) vornehmlich dieſer Frauen und Madden an. Es 
unterftiigt die Frauen während der Schwangerſchaft, nimmt fich ibrer bei der Geburt 
des Kindes an, unterftiigt die ledigen Miitter, bezahlt oft Miete fiir die Ungliidlichen, 
{ijt ibre verpfandeten Sachen ein u. ſ. w. Bon dem fleinen, unſcheinbaren Bureau, 
Place Dauphine 14, ſtrömt eine Fille von tätiger Nachjtenliebe, von Ermutigung und 
Kräftigung aus, die ſich als cin rettender Damm ins Meer des ſozialen Elends 
hineinſchiebt. 

Die Seele des Unternehmens ijt die Präſidentin, die ehrwürdige Mme. Iſabelle 
Bogelot, die dem vor dreißig Jahren gegründeten Verein ſeit langem vorſteht und 
durch ihre raſtloſe Arbeit und unermüdliche Hingebung zur hohen Blüte verholfen hat. 
In ihrer Perſon wurzelt zum großen Teil das Vertrauen, das die Regierung dem 
Vereine bezeigt, und das ihm bereits amtliche Rechte erwirkt hat, wie die Auerkennung 
der Pariſer Geſellſchaft, aus der heraus große Summen für ſeine Zwecke bereit 
geſtellt werden. 

„Ich habe dreißig Jahre lang über alle wichtigen Fälle, die durch meine Hand 
gingen, Buch geführt,“ ſagte mir Madame Bogelot in einer Unterredung, „und an 
der Schwelle des Greiſenalters ſtehend, benutzte ich die Muße des letzten Sommers, 
um zu überleſen, was ich geſchrieben. Ich brauche nichts auszulöſchen; müßte ich 
meinen Lebensweg noch einmal gehen, ich würde ihn ebenſo gehen.“ In dieſem ſtolzen 
Selbſtbekenntnis liegt der Charakter der hervorragenden Frau, deren Weſen zu gleichen 
Teilen Klugheit und Güte ausſtrömt. Unermüdlich hat ſie mit ihren beiden 
Sekretärinnen und einigen Helferinnen die Gefängniſſe von St. Lazare und Fresnes 
ſowie das Depot im Palais de Juſtice beſucht, unermüdlich ihren unglücklichen Mit— 
ſchweſtern in den Gefängniſſen Troſt geſpendet. Den großen erzieheriſchen Einfluß 
dieſer Frauen erweiterte die Regierung durch Gewährung von allerlei Rechten. So 
vermitteln dieſe Frauen den Verkehr zwiſchen den Gefangenen und ihren Familien, ſie 
erwirken ihnen die Erlaubnis des Briefwechſels mit Angehörigen und bahnen Ver— 
ſöhnungen an. Cie unterſtützen die unglücklichen Geſchöpfe in der inneren Umkehr, 
indem ſie ihre Verzweiflung löſen helfen. Sie nehmen ſich der hilfloſen Kinder und 
Angehörigen dieſer Frauen an. Aber auc auf die Gefängnisſtrafe ſelbſt find fie von 
Cinflug. Mit ibrer Hilfe breitet fich das in Franfreich cingefiibrte Syftem des Straf- 
auffebubs und der bedingten Begnadigung immer mebr aus. Beide Kategorien Ver— 
urteilter find ibrer Fürſorge unterftellt. Bei den erſteren tritt eine Beſtrafung nur 
dann cit, wenn fie fic wabrend einer feftgefesten Frift einer neuen Verfeblung ſchuldig 
maden; die Llegteren werden bei guter Führung vor Ablauf der Strafzeit aus der 
Haft entlajjen, unter der Bedingung, daß der Verein Aufſicht und Berantwortung fiir 
fie itberninunt. Unter der gleichen Borausfegung wird neuerdings vielen Angeflagten 

47* 


740 Pariſer Wohlfahrtseinridtungen. 


die Unterſuchungshaft erfpart. Für alle diefe Frauen befigt der Verein cin cigenes 
Ajol. Es ijt cin im Vorort Billancourt hübſch geleqenes Haus, in dem die aus dem 
Gefängnis entlaffenen Frauen — haufiq mit ibren Kindern — nicht allein vorläufige 
Unterfunft, fondern ein wirfliches Heim finden, bis fie imftande find, fic wieder 
durch cigene Arbeit yu erhalten. Der Hauptteil der Arbeit des Vereins beginnt 
natiirlicy mit der Rückkehr der Verurteilten in die Freibeit. Hier Hilft ein größerer 
Kreis von Frauen, den Ungliidlichen Stellung und Arbeit zu vermitteln, die Kranken 
in Hofpitdlern untersubringen, die Minderjabrigen Erziehungsanſtalten zu übergeben, 
den ledigen Müttern die Sorge um ihre Kinder zu erleichtern, fiir die Erziehung der 
unverjorgten Kinder einzutreten. Dank dieſes von perjinticer Fürſorge durchdrungenen 
Schutzſyſtems ijt es miglich, cine große Anzahl entaleijter Frauen yu rebabilitieren, 
betrogene, verzweifelte, in der Verzweiflung yu Verbrecherinnen gewordene Frauen in 
geordnete Verhältniſſe zurückzuführen. Co ijt es mebr als einmal gelungen, aus Kindes— 
morderinnen treue Dienjthoten und aufopfernde Pflegerinnen fremder Kinder zu machen. 
Aber nicht alleim an der Vermittelung dauernder Stellungen, fondern auch an Che: 
ſchließungen, bei denen fie als Tranjeugen figurieren, haben die Schugdamen Anteil. 
Ihre wichtigite Arbeit ijt aber jedenfalls die bewabrende, durch die fie wanfende 
Individuen, die nod einen Strafaufjdub erlangt baben, vor dem vollftdindigen Hinab- 
gleiten ſchützen. 

Cin Haus, von dem viel Segen ausgeht, ijt das „ODeuvre de Fhospitalité 
du travail“, 52 Avenue de Berfailles. Es gewährt unterfdiedslos allen Frauen, 
die obdachlos jind und ihr Brot durch Arbeit verdienen wollen, längeren oder kürzeren 
Aufenthalt, Arbeit und vermittelt ibnen Stellungen. 

Die Manner, die in einem gejonderten Haufe jenfeits der Straße wobnen, er- 
halten 20 Tage, die Frauen 40 Tage freien Unterftand. Einzelne, befonders moraliſch 
oder phyſiſch ſchwache Frauen bleiben monatelang, ja fogar abr und Tag dort. 
Die Frauen erhalten die Schlafftitte in großen Salen und die Wäſche frei. Die 
Mahlzeiten Finnen fie zu ſehr mäßigen Preijen aus der Kiiche entnehmen. Sie bezablen 
fie von dem Gelb, das fie verdienen, dad gibt ibnen fofort einen moralijden Halt. 

Ihr Tagesverdienft betrigt durchſchnittlich 1 Franc 50 Centimes (der der Manner 
2—3 Francs). Mit guten Empfehlungen verſehen, hatte id das Vergniigen, von der 
Oberin felbft empfangen und umbergefiihrt yu werden. Diefe mére St. Antoine ijt 
ein weiblider Napoleon. Cine Matrone zwiſchen 50 und 60, in der Ordenstracht der 
soeurs de Notre Dame de Calvaire mit einem Bärtchen auf der Oberlippe und 
ftarfen, energijden Siigen, aber einem Augenpaar, aus dem lautere mütterliche Giite 
ftrablt. „Mein Wablipruch ijt: Liebe und Gerechtigkeit, damit fomme ich gum Ziel”, 
jagte fie mir, Die Faltchen in den Augenwinkeln bewiejen mir, dag fie die Klugheit 
al drittes verſchwieg. Sie beſchäftigt die Manner mit Tiſchlerei und der Anfertiqung 
von Poljterarbeiten, die Frauen mit Waſchen. Große Werkſtätten und gerdumige 
Mobbelfpeicher geben Zeugnis von der Ausdehnung des Gefchafts. Ju der Tat ijt fe 
Die Lieferantin der grofen Warenhäuſer. 

Revolten unter den Arbeitern fommen nie vor, obwobhl die Werkmeifter friihere 
Afvliften find. Manchen davon hat fie dem Leben juriidgewonnen. ,,Seben Sie,“ 
fagte fie, heimlich auf einen hübſchen Burſchen zeigend, der eifrig an einem Salontiſch 
polierte, „das war ein arger Trunfenbold, als er yu uns fam. Aber feit Jahr und 
Zag Halt er ficd gut. Und nun wird er eins unferer Madchen bheiraten, glaube ic, 
id) babe gejeben, dak er cin Auge auf fie geworfen, und fie ijt ibm aud gut Ich 
forge dann fiir die erjte Cinrichtung.” Und fie lachte ſchelmiſch über ihr breited, 
rotes Geſicht. 

Die Waſchanſtalt verſorgt einen großen Teil von Pariſer Haushaltungen mit 
ſauberer Wäſche. An den verſchiedenen Abteilungen der Wäſcherei finden alle weiblichen 
Arbeitskräfte Verwendung. Nonnen leiten die verſchiedenen Reſſorts des Waſchens, 
Trocknens, Legens, Rollens, der einfachen und der Glanzbügelei, der Kunſt- und 
Spitzenwäſche, des Ausbeſſerns und Stopfens. Jede Arbeit iſt in einem beſonderen 
Pavillon untergebracht; die in Gärten gelegenen Räume ſind hell, hoch, luftig. Jeder 


Parijer Woblfabrtscinridtungen. 741 


Urbeitsraum ijt mit den beften und modernfien maſchinellen Einrichtungen zur Er— 
leichterung der Arbeit ausgeftattet. 

Ich erinnere mic) beſonders des Bügelraums — welche Phyſiognomien fah ich 
da! Gefichter, in die bundert Erlebniffe ibre Spuren eingedriidt, bis das Elend fein 
graues Tuch dariiber breitete, weiße Hände, die nie wirklich gearbeitet Hatten und fic 
nun mitbten, es dennod gu lernen! 

Im Jahre 1902 waren in diefem Aſyl 3754 Frauen und 1315 Manner; erftere 
leiſteten 48 802 Arbeitstage, letztere 18059. Ahnlichen Sweden, wenn auch in febr 
befcbeidenem Mae, dient dad , Asyle temporaire protestant pour femmes“, 
48 Rue de la Villette. ES nimmt nur Frauen auf, fiir die ein Wobhltater einen 
Teil der Unterhaltungsfoften dect. Das iibrige müſſen die Afyliftinnen durch ibre 
Arbeit hingu verdienen. 

Von den zahlreichen Maternités® ift die befteingerichtete die Der Assistance 
publique in der Rue port royal. 

Das neve Haus, in dem fic) auch eine Hebammenfebule befindet, ijt mit allen 
neuften hygieniſchen Erfindungen ausgeltattet. Die Operationszimmer, die Gebärſäle 
und die Kranken- und Schlafſäle find bod, luftiq mit einem gewiſſen Romfort, zu dem 
id) auch die lichte Farbenfreundlichfeit rechne, eingerichtet. Tberall in den Korridoren, 
in den Wobhngimmern find Stander mit lebenden Pflanzen und bliibenden Blumen 
aufgeitellt. Das ſchien mir ein ſehr pafjender Schmuc und eine ſeeliſche Medizin fiir 
die arnten Frauen, denen die Mutterfchaft nur Not und Sorge bedeutet. 

Die meijten find natürlich ledige Miitter, aber wie mance fagte mir: „Wir find 
fo gut wie verbeiratet, aber die Schwierigkeit, in Paris eine Exiſtenz yu erringen, bat 
uns bisher gebindert, unjern Bund legalifieren ju laſſen.“ Sebr interefjant ijt der 
Saal der Couveufen. Yn diefer Brutanjtalt fanden ſich Dubende Fleiner Kinder. In 
Frankreidy, wo die Kinder feltener find alS bei uns, bemüht man fic anſcheinend 
cifriger, die fleinen voreiligen Gefchopfe, die gu friih ans Licht drangten, am Leben zu 
erhalten. 

Für unfere Auffaſſung fonderbar ift es, dah in der Hebammenfdule junge 
Madchen von 19 Qabren fiir diefen fehwierigen Beruf ausgebildet werden. 

Cine Mujteranjtalt ijt die evangeliſche Diafoniffenanjtalt in der Rue de 
Reuilly, der die ausgezeichnete Mille. Monod als Chrenpriijidentin vorſteht. Sie umfaßt 
cine Diafonijfen-Lehranftalt, eine mufterbaft eingeridtete Frauen: und Kinderflinif, eine 
»Hcole correctionelle* und eine ,, Ecole pénitentiaire’, etwa unjerer Zwangserziehung 
und dem Magdalenenbaus entfprechend. 

Für die Zöglinge diefer beiden WAbteilungen ift auch eine Elementarfeule im 
Hauſe. Die Ecole correctionelle ijt eine Erziehungsanſtalt mit ftrenger Hausordnung. 
In den Freiftunden fpielen die Zöglinge im Anjtaltsgarten und machen auch mit den 
Diafoniffen weite Spagiergdnge ins Bois de Bincenne. Die Inſaſſen der Ecole 
pénitentiaire Diirfen während der vom Richter vorgeſchriebenen Zwangserziehung das 
Haus nicht verlajen. Sie ſchlafen auch nicht gemeinfam in Salen, fondern in ver- 
ſchloſſenen Einzelzellen. WLS ich mir eine folche Belle aufſchließen ließ, war ich aber 
angenebm überraſcht. So einfacd die Cinridtung war, hatte fie doch nichts Gefängnis— 
haftes. Außer Bett, Stubl und Kleiderviege! gab es da einen jierlichen Waſchtiſch und 
daritber cin Wandbrett mit Nippes, Photographien, Bildern, ja einigen friſchen Blumen 
in einer Vaſe. Man lies alfo den jungen Biigerinnen etwas Freude an hübſchen 
Dingen. Und mit echt franzöſiſchem Geſchmack nutzten ſie dieſe Erlaubnis aus und 
brachten den Schleifenſchmuck, der ihnen ſelber unterſagt war, an ihren Nippes, ja ſogar 
am Henkel des Waſſerkrugs an. 

Nach beendeter Strafzeit bringt man die Zöglinge fern von Paris in ländlichen 
Dienſten unter und macht recht gute Erfahrungen damit. 

Ein „Beſſerungshaus fiir verwabhrlofte israelitiſche Madden” befindet 
ſich in Neuilly, ein „ Homeé israelite francais* 38 Rue de fa Tour d'Auvergne. 

Die ,Ecole Bischoffsheim*, 13 Boulevard Bourdon, nimmt 12—15- 
jabrige Mädchen fiir 3-5 Fabre auf, gibt ibnen eine gewerbliche, fommersielle oder 





742 Parifer Wohlfahrtseinrichtungen. 


Lehrerinnen-Aushildung. Sie hat viele ausländiſche Schülerinnen aus Konſtantinopel, 
Adrianopel, Tanger, Tunis, Veyruth, Damaskus u. fj. w. Nach ibrer Ausbildung 
Febren dieſe Madden in ihre Heimat zurück und wirken dort als Lehrerinnen und 
Rulturtrdgerinnen. 

Damit waren wir beim Studium angelangt und id) michte vor allem das Heim 
der deutſchen Lehrerinnen in Paris, 8 Rue Villejult, erwähnen, das der Anhalts- 
puntt aller deutſchen Lehrerinnen ijt, die fic) ftudierendhalber in Paris aufbalten. 
In dem behaglich eingerichteten Heim finnen Mitglieder des Bereins Deutſcher 
Lehrerinnen in Frankreich (jede Lebrerin fann Vereinsmitglied werden) voriibergehend 
volle Penfion finden, deren Preis wichentlih nach Lage des Zimmers 23 Francs bis 25 Francs 
50 Centimes betrigt. An dem Mittagstiſch können fich aud) Auswärtswohnende beteiligen. 
Der Verein unterhalt Sprechftunden fiir Raterteilung, eine Stellenvermittlung und Ferien: 
furje im Franzöſiſchen; ebenſo hat er Vorbercitungsturje fiir das Sprachlebrerin-Cramen, 
die Ddreiviertel Sabre dauern und mit einer Priifung ſchließen. Auch Penfionen fiir 
Externe vermittelt der Verein. 

Ahnlichen Studiensweden dient die ,Guilde internationale“, Rue de la 
Sorbonne 6. Witten im Quartier latin, dict bei der Sorbonne und dem College 
de France gelegen, will fie den nach Paris fommenden Studentinnen, fei e3 welder 
Nationalitdt immer, einen Mittelpunkt und Rückhalt gewähren. Cie veranftaltet in 
ibren Räumen felber Jahreskurſe fiir franzöſiſche Sprache, Gefchichte, Literatur und 
Sozialwiſſenſchaft, die mit einem Eramen abſchließen, das bereits von der engliſchen 
Regierung anerfannt wird, und Ferienfurje von Juli bis Oftober fiir Auslinderinnen, 
die nur ibre Kenntnis des Franzöſiſchen ertveitern wollen. Sämtliche Rurje werden 
von Univerfititsprofefforen geleitet. Außerdem fteht es den Teilnehmern frei, die 
öffentlichen Vorleſungen der Sorbonne yu befuchen. 

In der ,,Guilde” finden die Mitglieder einen den ganzen Tag gedffneten Arbeits- 
faal, einen Speiſeſaal, in dem fie Friibjtiid oder Tee erhalten finnen, einen 
Ronverjationsfaal und endlich Räume fiir die Unterridtsftunden und Vortrage. Das 
Wichtigite fiir die Studentinnen aber ijt das Austunftshureau, in dem fie über alle 
ibr Studium, ihr geijtiges und materielles Wohl betreffenden Fragen die weitgehendjte 
Auskunft erhalten fonnen. Penfionen werden von hier aus verimittelt, auch ijt ein 
fleine3, von der Sekretärin der Guilde geleitetes Penjionat im Hauſe felbjt, in dem 
etwa zwölf Damen Aufnabme finden fonnen. (Penfionspreis 150 bis 200 Francs 
pro Monat.) Weitere Studiengelegenbeiten bicten die von den Pariſer Hochſchul— 
profefjoren veranjftalteten Unterrichtskurſe der „Alliance française“, die ebenfalls Fremden 
zugänglich ſind und nach zweimonatlicher Dauer mit einem Examen abſchließen. 

Auch eine „Volkshochſchule“ iſt in Paris neuerdings eröffnet worden. Es 
iſt die „Dniversité populairé“ in Belleville, über deren Wirkſamkeit id von 
Anton Nyſtröm, dem Gründer der Volkshochſchulen in Schweden, viel Rühm— 
liches hörte. 

Dieſe Überſicht über Wohlfahrtseinrichtungen in Paris macht durchaus keinen 
Anſpruch auf Vollſtändigkeit, ſie iſt nur ein kleiner Ausſchnitt aus dem reichen 
Betätigungsgebiet der Nächſtenliebe. Und wenn die Verhältniſſe dort zum Teil anders 
liegen als bei uns, wenn eine faſt zweitauſendjährige Kultur manche Roheit und 
Gemeinheit, unter der wir leiden, abgeſchliffen hat, wenn dafür häßlichere Laſter, 
tiefere Entartung, größerer Leichtſinn und wildere Leidenſchaft an der Tagesordnung 
ſind, fo iſt der Wille yu helfen und die warmherzige Nächſtenliebe an der Seine dieſelbe 
wie an der Spree. Die ſtete Sunahme der Veranjtaltungen fiir die Jugend beweiſt, 
dak man aud dort einſieht, daß ſtark machen beſſer ijt als Wunden beilen. 


743 


Vom Sfudium dep Persdnlichkeif. 


Bon 


Elfe — 


Radbrud verboten. — — 


achdem jahrzehntelang das Studium der unperſönlichen Gewalten, der Natur— 
geſetze und phyſikaliſch-—chemiſchen Kräfte im Vordergrund der Betrachtung ge⸗ 
ſtanden hat, nachdem ſelbſt die Geſchichtsforſchung ſowohl die Ereigniſſe als die 
handelnden Perſonlichkeiten aus dem Zuſammenwirken ethnologiſcher, ſoziologiſcher, 
geographiſcher und räumlicher Faktoren reſtlos zu erklären ſuchte, hat man gegenwärtig 
mit einer entſchiedenen Schwenkung ſein Hauptintereſſe wieder der Perſönlichkeit zu— 
gewandt. Die Pſychologie iſt, wenn nicht ſchon die führende, ſo doch die grundlegende 
Wiſſenſchaft; die Seelenkenntnis das Haupterfordernis für den Menſchen, der ſich im 
Leben zurechtfinden will; die wahren Werte des Lebens wie auch ſeine dunkelſten Ratſel 
ſind nur in der Innenwen zu ſuchen und zu finden. 

Wie das gekommen iſt, daß wir die letzten Ziele unſeres Beobachtens und 
Forſchens nicht mehr in das blaue Dämmer des Alls hinausverlegen und ſie auch 
nicht mehr im Lebensprozeß des Protoplasmakügelchens aufſuchen? Es ſind ver— 
ſchiedene Strömungen im Geiſtesleben, die darauf hingearbeitet haben. 

Mit den Rätſelbeſtänden der Welt aufzuräumen, das war weder Karl Marr 
noc Ernft Häckel famt ibren bedeutenden Vorarbeitern und Nachfolgern verginnt, tro 
all ihres Gejege aufſpurenden Scharfſinns. Aber was ſie nicht wollten, das wirkten 
ſie; denn gerade die Entwicklung des Denkens, die darauf hinführte, in der Welt ein 
Ganzes mit unterſchiedlichen Kräften zu ſehen, hat dazu geholfen, auch den Menſchen 
als ein Ganzes zu erfaſſen und all ſeine hinausprojizierten Gaben, Kräfte, An— 
ſchauungsformen wieder in ihn hineinzuverlegen. In ſeinen Sinnen liegt die Schönheit 
der Welt, in ſeinem Denken ihre Rätſel; auf den Widerſprüchen ſeines Seelenlebens 
beruhen die Gegenſätze der Außenwelt; die allergrößte Menge der beſtimmenden Ur— 
ſachen und zugleich die Fahigkeit zur Veherrſchung und UÜberwindung der Natur liegen 
in un — der Kosmos fonunt erjt in zweiter Linie, in erfter Limte gehen uns die 
ſeeliſchen Nrafte etwas an. Was ſich in Nonen entwidelt bat, was in Taufenden 
von Jahren vielleicht auf unſerem Planeten erfolgt, das bat feine nahe Besiehung zu 
und. Die Leiden des Lebens werden uns immer auf uns ſelbſt zurückwerfen, an unfer 
Innerſtes verweijfen und dort fangen die Rätſel wieder an; da Hilft uns feine Welt- 
anſchauung — wir müſſen mit dem Ich fertig werden. Die rechte Weltanſchauung 
beginnt erft mit der Selbjterfenntnis. 

Für eine tiefere Anſchauung der Innenwelt bat auc) die neuere Literatur gewirkt, 
nicht sulegt die Franendichtungen, weil der Frau das Intereſſe am Perjontlichen 
befonders nabeliegt. Sa felbft der Franfhaft nervöſe Zug an unferer Lyrif, Dramati€ 
und Romanſchriftſtellerei, der ſich in der ſubtilſten Analyſe aller Nervenſchauer und 
Blutwallungen, in der feinſten Unterſcheidung mattſchillernder Empfindungen kundgibt, 
alle die modernen Selbſtzerfaſerungen haben mitgeholfen, daß das weite Ausmaß, die 
Tiefen und Untiefen der Menſchennatur neu entdeckt wurden. Nun ſtehen auch die 
Helden der Vergangenheit, die Gottmenſchen, die genialen Naturen, die Kunſtler in 
anderm Lichte vor uns. Heldenverehrung hat einen neuen Sinn erhalten. Vielleicht 
dürſtete man noch nie ſo ſehr nach dem Anblick großer Menſchen wie heute, wo nicht 
mur das bürgerliche Leben, wo auch die hochmütigen Gleichmachereien dev Kleinen, 


744 Vom Studium der Perfinlichfeit. 


Engherzigen, Chrfurdhtslofen die ganze Menfchbbeit herdenmäßig nivellieren möchten. 
Wohl ftehen Helden und RKiinftler nicht mehr in gitterhafter Pofe vor uns, aber es 
find Menjchenbriider, die fic) durch Weite, Größe, Tiefe ihres Erlebens durdaus vom 
Durchſchnittsmenſchen unterjdheiden. Das Genie, das höchſte Naturerzeugnis, wird 
gum Beherrſcher und Verklirer der Natur, und der Held ift fein blokes Ergebnis 
geſchichtlicher Komponenten, fondern er macht Gefdichte. Religion, Kunſt, Rultur, 
Politit erſcheinen uns als Gewebe von Lauter Perjinlicfeit. 

Es ift richtig, daß „der Menſch nur durch menfchlidhe Gemeinſchaft gum Menſchen 
wird”, doch wird er es vor allem durch die Gemeinſchaft mit den Groen und Über— 
ragenden. Lernen wir uns felbft und unfere Rleinbeit erfennen und wir werden ihre 
Größe begreifen. Lernen wir unfere Hilflofigkeit fihlen und wir werden ibre Kraft 
verebren. Lernen wir e3, unfere Blindbheit zu beflagen und wir werden ihren Klarblic 
bewunbdern. Letnt es, dak ibr Kinder feid und ihr werdet die Reifjten und Reinften 
zu euern Lehrern und Fithrern madjen! 

In folder Stimmung pilgern fo manche wieder zu den erbabenen Geftalten der 
Religion, Kunft und weltlichen Geſchichte. Der Biichermarft ijt heute überſchwemmt 
mit saat eth bedeutender Perfinlichfeiten. Aber wenig Biicher diirfte es geben, 
die in fo knapper, durchſichtiger Darftelung, mit den Mitteln eindringlicher Menſchen— 
fenntnis einen wabren Feſtzug groper Perſönlichkeiten an uns vorbeiziehen laſſen wie 
das neuerfchienene Buch von Dr. Robert Saitfdhid: „Menſchen und Runft der 
italienifden Nenaifjance.“') Burfhardts „Kultur der Renaiſſance“ ftellt ein 
individualiſtiſches Zeitalter unter den folleftivijtijden Gefichtspunft und wird fic mit 
diejer fein durchgeführten Geſchichtsauffaſſung immer als ein klaſſiſches Werf einer 
beftimmten Zeit, eines beftimmten Anſchauungskreiſes ausweiſen. Saitſchicks Buch ijt 
ein Prodult unjerer Zeit, unferer Betrachtungsweife. Es enthalt in der Hauptſache 
-Seelenfchilderungen. 

Der Verfaſſer Halt e3 fiir die erfte Bedingung der Menfchenfenntnis, obne fein 
Yeh, d. h. ohne die Belaftung mit perjonlicher Voreingenommenbheit oder mit Theorien 
und Idealen an einen Andern bheranjutreten. Dadurd wird es ihm möglich, zu 
urteilen ohne jemal3 abzuurteilen, obne an fremde Art den Maßſtab der eigenen Art 
oder eines Schemas ju legen. Cr bemüht fich, wie er felbjt im Borwort fagt, die 
Abftufungen in der Wertſchätzung der Menſchen, die das moderne Empfinden leider 
faum ate fennt, aud) durch ein richtiges Nuancieren der Worte, durch den bezeichnend— 
ften Ausdruck deutlich zu machen. So bleibt er ,der falſchen Begeifterung, der 
fliichtigen Smpreffion” fern. Cin Wiffen wie das feine erfliigelt und erlernt man 
nicht, man erlebt es. Dah der Verfaffer fähig ijt, uns die weiteften Nberblide über 
die Welt des Annern yu vermitteln, das danfen wir der Spanniweite feiner eigenen 
Natur. Der Lefer hat das Gefiihl, dak die verfchiedenen Pole des Erlebens mit ihren 
iiberfpringenden Funken, dak zwei Seelen in ibm wohnen und durch ewigen Kampf 
und Austauſch feine Selbjterfabrung fortlaufend erweitern. 

Vor allem befigt der Verfaffer die Fähigkeit, fic) in den gebeimnisvollen Mittel- 
punkt einer fremden Perfinlichfeit bineinzuverfegen und von dort aus, wo das Lebens- 
feuer lodert, das ganze Wefen zu durchleuchten. Er gibt uns feine Zufammenftellung 
eingelner Wefensfeiten, keine vorbedachte Verteilung von Licht und Schatten, fondern 
ein fchauendes Crfaffen der runden und bewegliden, bunten und widerfprudsvollen 
frembden Welt, deren Leben und Schaffen aus dem ewig verborgenen Heiligtum der 
Seelentiefe bervorquillt. Mit wenig feften Stricken zeichnet er den angeborenen 
Charafter, an welchem das Schidfal nur die Belebungsarbeit vollbringt, die Pygmalion 
an @alathea vollbracdte. Der Verfaffer enthiillt das Ewigkeitsgeſicht und auch die 
Alltagsmaske des Menfchen, und trogdem er am Liebjten die tiefften Regungen erforſcht, 
hat er dod einen fo bellen Blid fiir die Oberfläche des Lebens, dah ſich feine 
Schilderungen ausnehmen wie Beridte eines eitgenoffen, der mit allen intimen 
Einzelheiten der Schidjale, Beziehungen und Yntereffen feiner Helden befannt ijt. Es 


1) Berlin. Ernſt Hofmann & Co. 


Vom Studium der Perſönlichkeit. 745 


ift, als hatte er felbjt mitgefponnen an dem Ranfenwerk von Anefdoten, womit der 
Plaudergeift eines lebhaften Volkes bedeutende Perſönlichkeiten erfinderiſch umflicht; 
obwohl aber ſeine Phantaſie all' die vorüberfliegenden Zeitſtimmungen und Seelen— 
ſtimmungen wieder heraufbeſchwört und ſie uns miterleben läßt, wird das künſtleriſche 
Naturell des Verfaſſers doch von ſtrengem Forſchergeiſt gezügelt. 

Vermittelſt umfaſſender und gewiſſenhafter Quellenſtudien iſt der Verfaſſer im— 
ſtande geweſen, jede Einzelheit, jedes Requiſit der im I. Bande entworfenen 
Bilder, all die Schilderungen und Charakteriſierungen auf verbürgte und wohl— 
verbriefte Außerungen zu ſtützen. In den Regiſtern des Ergänzungsbandes tritt uns 
eine Fülle von Gelehrſamkeit entgegen: die Belegſtellen und Beglaubigungszeugniſſe 
dort ſind ebenſowohl aus dem Briefwechſel, der Memoirenliteratur und den Original— 
werken zeitgenöſſiſcher Perſönlichkeiten hervorgeholt worden, als auch aus literariſchen 
Dokumenten ſpäterer Zeit und aus kunſt- und perſonalhiſtoriſchen Werken derjenigen 
europäiſchen Gelehrten, die ſich mit der Kunſt und den Menſchen der Renaiſſance 
befaßt haben. Auch befindet ſich in dieſem Bande neben der ausführlichen Bibliographie 
ein Verzeichnis der Werke aus dem Renaiſſancezeitalter nebſt Angabe ihrer Entſtehungs— 
zeit und ihres jetzigen Aufbewahrungsortes. 

Wenn der Ergänzungsband ein ſchätzbarer Führer für diejenigen iſt, die gelehrte 
Studien treiben wollen oder ſich für die ſeltenen und wertvollen Zitate (zumeiſt in 
italieniſcher Sprache) intereſſieren, fo ijt der J. Band mehr fiir ſolche beſtimmt, die, mit 
vpſychologiſchem Verſtändnis begabt, fid) an künſtleriſch entworfenen Seelenbildnifjen 
erfreuen und ihre LebenSfenntnis dadurch bereichern wollen. Den Frauen find 
befonders die Lichtvollen Charafterfdilderungen der Künſtler zu empfehlen. Dem mit: 
fiiblenden Auffaffen des weiblichen Geiftes erſchließen ſich Seelengeheimniſſe ja leichter 
und vollftindiger als der verſtandesmäßigen Forfdung — iſt doch die Frauenfeele 
pon jeber raſch in Fühlung getreten mit allem, was groß und erhaben werden wollte. 
Um das Grofe frühzeitig in feinem Wert gu erfermen, dazu gehört ein gang feiner 
Kulturinftinft, der mütterlich veranlagten Frauen eigen ijt und den fie in fich 
pflegen müſſen. 

Was fiir ewig in die Kultur der Volker iibergeht, das ijt nach Goethes Wort 
nur das Beifpiel der großen Perfinlichfeit; lebendiq wird eine Kultur erft dann, wenn 
fie fic) um grofe Seelen berumgruppiert, Seelen, die wie die Welteſche der germaniſchen 
Mothologie aus dem Erdmittelpunkt aufwachfen und ibre ewighliibende Krone über 
alle Natur erheben und ausbreiten. Dieſe Seelen haben uns die einzige Wabr- 
heit gegeben, welche wir feft in Handen halten: die Lebenswabhrheit, die Crfenntnis 
defjen, was Wert und Unwert im Leben hat, und fie haben uns Ziele gefest, an denen 
fein Menſch und fein Kulturzeitalter nichtachtend voriibergeben darf. Jn Zeiten, wo 
der Fraueneinfluß fic ſtärker fühlbar gemacht bat, find dieſe Ziele immer deutlicher 
ſichtbar geweſen als dann und dort, wo Herrſchſucht und Gewalt, Berechnung und 
Krämergeiſt, Chrfurchtslofigteit und Nivellierungsfudst die Oberhand gewannen. Um 
die verwirrten Begriffe über das ju klären, was wir im Leben erſtreben follen, ijt es 
gerade heute wieder notwendig, daß Frauen fic dem Studium grofer Menſchen, der 
Betrachtung wabrer Seclengréfe und getwaltiger innerer Erlebniffe hingeben. Denn 
notivendiger als die Erzeugung wirtſchaftlicher Werte ijt heutsutage die Erzeugung und 
Pflege eines neuen Idealismus. 

Solchen Cuchenden, die das Führen erlernen möchten, bietet das Buch von 
R. Saitſchick febr viel. Und fie werden nicht ohne beife Anteilnahme leſen können, 
wie der Verfaſſer beifpielsweife die Koloſſalnatur Michelangelos fehildert, mit ihrem 
ungebeuren inneren Reichtum und dem grofen Wollen, das wie auf Sturmivolfen 
fernen, höchſten Zielen nachjagte, wie er fich in die Seelenreinheit des Fra Angelic 
vertieft oder die gebeimniasvolle Seelenwelt de3 Botticelli und Leonardo da Vinci nach 
allen Richtungen durchſtreift. 


et 


746 


— — Mariann. — 


Roman 


von 


Touiſe Schulze-Brück. 


Raddrud verboten. ——— 


6, 

D. Ullerfeelentag war falt und triibe. 
Gin fdneidender Nordiwind wehte und einzelne 
Schneeflocken jagten den Frommen ins Gefidt, 
die aus der dunftigen Kirche in die friibe 
Diimmerung des Novembertages binaustraten. 
Drinnen fangen fie die letzten Pſalmen der 
Totenvesper, Dann ftimmte der Chor auf der 
Orgel bas ,,Dies irae an. Der Lehrer war 
ftolg auf dieſe Leiſtung ded Gefangvereins. 
Madtvoll dröhnte 3 ben erfichiitterten Seelen: 
,,Dies irae, dies illa, solvet saeclum in favilla, 
Teste David cum Sybilla.“ — — 

Um den am Hodaltar aufgeridteten 
Ratafalt brannten hohe Wachskerzen mit röt— 
lichem Licht. Der Paftor in dem ſchwarzen 
Trauermante! ftand mit dem Weihwedel bereit, 


Prozeffion nad dem Kirchhofe. 

Langfam bewegte fic der Sug durch die 
Dorjftrake. Die Angebsrigen der frommen 
Briiderjdhaften trugen brennende Wachslkerzen 
in ſchwarzen Hiilfen, die gelb im grauen 
Novembernebel fchimmerten. Die Manner 
waren in Langen, ſchwarzen Roden und 
fuchſigen, altmodifden Zylinderhüten, die 
Frauen in Trauertüchern und jahrealten Trauer- 
hüten. Eintönig beteten ſie, — immer wieder 
bas Ave Maria, nur unterbrochen durch die Bah: 
jtimmen der Manner, die dann wieder von den 
bellen Frauenftimmen abgeloft wurden. 

Giner der letzten in der Männerreihe der 
Briiderfhaft war Chriftian, Cr ging mit 
gefenttem Ropf, das Flambeau, die Lichthiilfe, 
ſchien in feiner Hanb. gu zittern. 


=H, 


| 





(Schluß bon Seite Ges.) 


Faſt unmittelbar binter ibm fam Mariann! 
Sie mute ibn immerju anfeben. Wenn er 
ben Kopf cin wenig wendete, fab fie, wie alt 
ct geworden war, wie vergrämt er ausſah. 
Gar nicht wie ein junger Mann, der er doch 
noch war, kaum vierunddreißig. Er hatte in 
den letzten Wochen Schweres durchgemacht. 
Die Lena hatte fic dod ſchwer erkältet damals 
auf bem Rirchbofe und das Kind aud. Den 
zweiten Tag darnach mubte nod in der Nacht 
ber Doktor gebolt werden, weil das kleine 
Madden in Exftidungsnot war und die Mutter 
im Fieber lag. Zwei Tage lang war er faft nidt 
aus ber Mühle fortgefommen. Dann war 
bas Argſte vorbei, aber die Lena fonnte fid 


nicht erbolen, und bad Kleine twurde von Tag 
bie umflorten Fahnen bewegten fid) dem Aus- 
gange yu, — die Gemeinde ordnete fic zur 





qu Tag weniger, fo crjablten fie im Dor. 
Vor swei Tagen hatte der Chriftian eine Kranken⸗ 
ſchweſter aus dem Rlofter holen miiffen, und 
es hieß, bie Lena fei auf der Lunge fo ſchwach, 
daß fie es wohl nidt mebr lange maden könne. 
Das Kind, — nun, das hatte man ja immer 
ertwartet, Dab es fterben würde, eine kurze Beit 
früher ober {pater war ba ja ſchließlich gleich. 

Die Kirchhofspforte war breit aufgetan; 
die Prozeffion, an deren Spite die Kinder 
gingen, wand fid wie eine Schlange binein. 
Die Kinder gingen ben Hauptiveg hindurch, — 
dann in einen Seitentweg binein und wieder 
dict an den letzten Teil ber Prozeſſion heran, 
jolange, bi ber Paftor vor dem hohen Kruzifix 
inmitten ded Rirchhofes ſtand, zur Totenpredigt 
bereit, Gerabde war die Mariann fo weit vor: 
geriidt, baf fie an den Grabern der Millers: 
leute ftand, — dicht vor ibr ber Cbrijtian. 


— 


Mariann, 


Sie roc den ftarfen, harzigen Duft der Tannen- 
guirlanden, die rings um die Gräberreihe gegogen 
war, — den Gerud ber auf jedem Grabe 
brennenden Wachslerzen. Die Reihe der 
Kinder war auf bem Wege, der auf der anderen 
Seite der Graber entlang führte, berangefonumen. 
Sie fangen mit bellen Rinderjtimmen das 
WNerjeelenlied: „Ihr Trauernden jtillet die 
Trainen — Und hemmet das Jammern und 
Sebnen, — Wer wollte verzagend erbeben, — 
Das Grab ift das Tor gu dem Leben.“ 
Mariann fab auf den Chriftian. Und da 
ſah fie, wie fic) plötzlich fein Kopf langſam 


ſeitwärts wendete, — wie cine brennende Rote | 


fiber fein Geſicht lief, bis in ben Hals hinein, 
wie er auf einen Punkt ftarrte. Mariann 
folate dem Blick. Da, dicht neben dem Chriſtian, 
viel groper ald feine Altersgenoſſen, da ftand 
ibr Junge, — fein Junge. Seine Mütze bielt 
er in der Hand, der Wind hatte fein ſchwarzes 
Haar zurückgeweht, dah fie bad Mal an feiner 
Schläfe deutlich ſehen fonnte. Seine Baden 
waren rot vom Winde, ſeine Augen glänzten, 
ſeine helle Stimme klang vor allen anderen 
heraus. — Und nun ſtimmte der alte Küſter 
mit dröhnender Baßſtimme die zweite Strophe 
an, und die hellen Kinderſtimmen fielen mit ein: 

„Mag irdiſche Hülle zerfallen, — mag 
irdiſche Freude verhallen, — Mag Staub ſich 
geſellen zu Staube, — hoch über ihm wohnet 
der Glaube.“ — — — 

Mariann zitterte für den Mann, der da 
drüben ſtand. Ein unendliches Erbarmen kam 
über ſie, ein Mitleid, ſie hätte ihr Leben 
dafür hingegeben, wenn ibm hätte geholfen 
werden können, der da am Grabe ſeiner Kinder 
ſtand, feſtgehalten wie von einer höheren Macht. 
Seine Augen hingen wie bezaubert an dem 
Jungen, der da ſo kräftig ſtand, ſo ſchmetternd 
bell fang. 

Mariana hörte nichts mehr von der lesten 
Liederftrophe, nidts mehr von der Rede des 
Paftors. Cie fab nur immer auf den Chriftian. 


Acht Sabre hatte fie ihn nun faum gefeben, | 


imnter nur mit einem fliidtigen Blid. Cie 
hatte alle Gelegenbeiten gemieden, wo fie ihn 
hätte treffen fonnen, und das war ganz leicht, 
denn er fam ja aud) faum irgendivobin. Run 


| 











jah fie gum erftenmale, was diefe adt Sabre | 


aus ibm gemadt batten. 


Das war nicht mehr | 


TAT 


ber fede Burſch, den fie guerft gefannt und 
geliebt hatte, — war aud nicht mebr der, 
der ſchweres Unrecht an ihr getan, den fie 
gehaßt hatte. Das war nur ein fummerbeladener 
Menſch, der an den Gribern feines Lebens— 
glückes ftand, der ein ſchweres Geſchick trug 
und gan; gefnidt war von ber Laft, die auf 
ibm lag. 

Wie betäubt ging fie nad Haufe, als die 
Prozeffion gu Ende war. Viele blieben nod 
auf dem Friedbofe, an den Gribern. Cie 
mufte fiir fic) allen fein, ganz allein. — 

Es wurde duntel, vor ibren Fenſtern gingen 
viele Füße vorbei, leiſes Murmeln drang herein. 
Die letzten Beter famen vom Rirchhof, mit 
gedämpfter Stimme ſich unterbaltend. Cie 
ſaß noch immer in der dunklen Stube mit 
ihren ſchweren Gedanfen. 

Und doch, es war ihr leichter ums Herz, 
als ſeit langer Zeit. 

Gin ſchwerer Schritt trappſte an der Haus- 
tir, WMariann ging eilig hinaus. Gin balb- 
wiidhfiges Madchen fam herein, nad Atem 
ringend, mit einem Gefidt, in dem fid Schreck 
und Neugier wunderlich miſchten. Cie wiſchte 
ſich bas Geficht. 

„Ihr follt gleid) nad der Miible 
fommen” — — feudte fie, — „ach, — — 
bin id) gelaujen, — gleich, — ſo ſchnell ibr 
könnt.“ 

Mariann fuhr zuſammen. „Ich, — nach 
nach der Mühle? — Was ſoll ich denn, — 
was iſt denn?“ — 

Das Mädchen atmete hoch auf. 

„Die Frau hat's geſagt. Gleich ſoll ich 
euch mitbringen. Sie iſt ſchlecht, — arg ſchlecht. 
Der Paſtor iſt auch ſchon da, — ſie hat ſchon 
gebeichtet, — ſie will bie Sterbeſalramente. 
Die Nacht macht ſie nicht mehr mit, — nee 
ſicher nicht.“ 

Mariann ſah das Kind, das wichtig und 
befriedigt erzählte, verſtändnislos an. 

„Was ſoll ich denn da tun?“ 

Das Mädchen gudte fie mit den glitzernden 
Augen neugierig an. „Ja, das weiß feiner. 
Die Frau ift auf cinmal fo ſchlecht geworden, — 
wabrend der Projeffion, wo wir alle fort 
waren. Die Schweſter bat feinen gebabt jum 
Sdchicen, fonft hatte fie ben Mann holen laſſen 
vom Kirchhof und den Paſtor aud. So ſchlecht 


* 


748 


war ihr's. Denlt nur, ben Paftor vom Kird- 
bof! — — Und immer hat fie nad euch gerufen, 
und bie Schivefter bat dod gar nidjt gewußt, 
twas fie madden foll. Dann find wir beim: 
gefommen, und einer bat ben Pajtor gebolt, 
und dann haben fie mid) hergeſchickt.“ 

Das Rind war augenfdeinlid ganz hin— 
genommen von dem wwidtigen CEreignis. 
Was Mariann aud fragte, es wußte weiter 
nichts als: „Ihr follt fommen, aber gleid, twill 
die Frau.” 

Mariann warf eilig ein Tuch um und lief 
mit jitternden Knien neben dem Madden ber, 
bas aufgeregt ſchwatzte: 

„Und das Rind ift aud fo ſchwach, — 
fo gum Wusblafen. Der Doftor fagt, es muh 
eins ganz allein zur Aufwartung baben. 
Gezankt bat er heute morgen gu und ju arg. 
Das Kind tit’ verkommen, hat er gefagt. a, 
wer fol denn da auch immer aufpafjen? Wo 
fo viel gu tun ift im Haus und bei der franfen 
rau, Und ded Nachts will unfereins doc 
aud feblafen, Nee, das macht's aud nidt 
mebr lang.” 

Da war die Mühle. Aus den Fenjtern 
fcien belles Licht, das Madden begann ju 
jammern. 

„O Gott, — Gott, jest haben fie die 
Sterbeferjen ſchon angeftedt, — ich feh cine 
brennen. Ich fürcht' mic, ic) fann feinen toten 
Menſchen feben. Ich lauf heim zu meiner 
Mutter.“ 

Sie machte Miene umzukehren. Aber 
Mariann hielt ſie mit kräftiger Hand feſt. 

„Schäm did was! So'n ftarkes, großes 
Mädchen und will ſich fürchten vorm Tod. 
Sterben müſſen wir all', und du auch. Komm 
mit herein, wirſt Arbeit genug haben, daß du 
garnicht ans Fürchten denken kannſt.“ 

Nun lief Mariann am Gartenzaun vorbei, 
wo damals die Lena geſtanden hatte. Das 
ungewiſſe Licht fiel auf die bunten Georginen, 
die ganz geſpenſtiſch ausſahen. Da auf dem 
Wege war die Lena damals mit ihrem Herzen 
voll Unruhe und Bosheit umhergelaufen. 

Im Hausflur traf fie auf den Doltor. 
Gr nidte ibr ju. 

„Das ift gut, bab du kommſt, Mariann, 
bie Frau will fics garnicht berubigen laſſen, 
fie ſtöhnt und jammert nad dir.” — — 


~*~ 


1 








Mariann. 


„Muß fie fterben, Here Doktor?” flüſterte 
Mariann. 

„Sterben?“ Der Doktor gudte die Achſeln. 
„Krank genug ijt fle. Aber gum Sterben 


' nod) nicht.” 
„Aber fie haben dod die Kerzen ſchon 

angeslindet ?” 
„Ja, fie hat's fo gewollt. Hat ſich den 
Paftor holen laſſen. Und wenn bas fie 
rubiger macht!” — — — Gr gudte wieder 


bie Achſeln. 
„Geh nur herein, damit fie Rube befommt !” 
Bagend betrat Mariann die große Stube. 
Zwei Kerzen brannten neben der Lampe, am 
Bett ſaß der Paftor. Die Kranke wart fid 
unrubig und ftébnend umber. Wm Fupende des 
Bettes ftand der Mann, blak und finſter. Beim 
Gintritt Marianns richtete fich die Lena haſtig auf. 
„Da ift fie’, fliijterte fie beifer. „Gott 
fei Dank. Ich hatt nicht rubig fterben fonnen.” 
Sie war fajt bis zur Unfennilidfeit ver: 
ändert. Die Mugen lagen eingefunfen in ihren 


Höhlen, der Mund war gang cingejallen. Sie 
winkte der Mariann! 
„Alle follen fie herausgehen, — alle. Ich 


muh mit dir allein reden.” 

Der Paftor ftand auf und ging leifen 
Schrittes hinaus, Chriftian folgte. Mariann 
war allen mit der Kranken, die auf die 
brennenden Kerzen jeigte. 

„Das find meine Sterbefergen, Mariann“, 
keuchte ſie. „Wenn die runter gebrannt find, 
dann iſt's aus mit mir, Mus und vorbei, 
Lang Zeit bab id) nicht mehr. Und id will 
rubig fterben, ruhig ſchlafen. Ich hab's nicht 
mehr gekonnt, ſeit ich in deinem Haus war, — 
ſeit dem Tag nicht mehr.“ Sie atmete ſchwer 
und raſſelnd und griff nad der Brujt. „Da 
fist’3, da. Auf meinem Herzen liegt’s wie cin 
Zentnerſtein und wird alle Tage ſchwerer. 
Das mush weg, — runter.” Gie rip an der 
Sade, an dem Tuc, das fie um batte. 
Mariann ftedte ibr ein Kifjen unter den Riiden. 

„Ach, fo iſt's beſſer. Du bift gut. Du 
bift aud) gut gegen das Rind getwefen, neulich. 
Du wirſt tun, was id) will, Willſt du's tun, 
Mariann? — Ich feb fie immer vor mir, die 
zwei Rinder zuſammen, — deins und meins. 
Und meing mug nun aud fterben, wenn du 
did) nicht erbarmſt, Mariann!“ 


Mariann, 


woth 2" 

„Ja, dul Du fannft das ganz allein. 
Doh weiß einen, der das tun könnte, — feinen. 
Sie haben all mit ihren eigenen Rindern gu 
tun, keine würde ficd um meins lümmern. Nur 
bu, Mariann! Du wirſt's tun, ic weif es. 
Aus Barmherzigkeit, Mariann, damit unfer 
Herrgott mir's viclleicht leben laft, weil du es 
gepflegt haſt! Weil du fein Rind pflegſt!“ 

Mariann zuckte zuſammen. 

„Hör mich, Mariann, hör mich an, eh du 
nein ſagſt. Ich hab hier gelegen Tag um 
Tag, ſeit du mich vom Kirchhof geholt haſt. 
Hab gegrübelt die Nächte lang, bis mein 
armer Kopf mir faſt zerſprungen iſt. Ich hab 
viel verlehrt gemacht in meinem Leben, mun 
will ich's wenigitend gut maden, wenn's ju 
Ende geht.“ 

Sie bob den Kopf und laufdte. Durch 
die Türe hirte man bas Weinen des Kindes. 

„Da weint's wieder. Elendig verfommt’s. 
Wenn id nod adt Tage lieg’, dann können 
fie mir’3 gleid) mitgeben ing Grab.“ 

Sie fant ſchwer in die Riffen zurück. 
Zwei dide Trinen liefen langſam fiber dad 
magere Gefidt. Mariann fchauderte zufammen. 
Die Kranke griff nad ihrer Hand. 

„Mariann“, fliifterte fie leiſe und durch— 
dringend, die großen Augen feft auf fie heftend, 
„wenn man auf dem Totenbett liegt, dann 
ift’S ernſt, bitterernjt. Und twas ic dir jett 
jag, das wird mir arg ſchwer. Wenn du's 
aud) ſchon felber weigt. Wher es (apt mir 
feine Rube, feine. Und ich muh es aud 
fagen, teil bu den Chriftian follft mit andern 
Augen anfeben als bis jegt. Er bat viel an 
dir verfdulbdet, ja, — id) aud. Aber ich, ih 
bin dod) am meiften ſchuld geweſen. Ich bab 
ibn gern gebabt, fo jum Verriidtwerden gern. 
Nadhgefchliden bin id ihm auf Sehritt und 
Tritt. Ich bab ibn ausfpioniert, ibn und 
did. Ich bab euch oft genug zuſammen 
qeieben, am Wald oben auf der Burg. Ich 
bab alles gewußt, alles. Ich bab den Chriftian 
gehaßt darum, und did, did) nod mebr. 
Aber id) bab ibn doch haben miiffen. Ich bab 
ibn fiir mid baben wollen und dir wegnehmen. 
Soh bab meinen Vater drangfaliert, und der 
bat des Chriſtian Vater miiffen aufritbrerifd 





du haſt bas Unrecht auf mir gelajjen. 


749 


maden finnen. Der Alte hat gefagt, er ver: 
fludt ibn in die unterfte Hille, wenn er ibm 
nidt folgt. Sa und id, id) bab gehetzt und 
geftodert an dem Chriſtian. Und der bat fid 
hetzen laſſen. Das Geld hat ibn wobl aud 
verblend’t, Und da bab id) ihn gefriegt, — 
bab ibn dir weggeftoblen.” 

Cie atmete tief auf. Das Geficht war 
gang fabl geworden, faſt bleijarbig. Mariann 


' lief eilig nach dem Doftor. 


„Sie redet zuviel, fie ftirbt ja darunter.“ 

„Laß fie reden”, fagte ber Doktor fur;. 
„Dann ijt dod die Unrube vorbei. Gib ibr 
einen Schluck Wein aus der Flaſche aufdem Tif.” 

Die Frau trank gierig. Dann fing fie 
wieder an. 

„Schnell muß ich's ſagen, ſchnell. Wiles 
iſt mir gegangen, wie ich gewollt hab, von 
Kind an. Und da hab ich gemeint, auch das 
müßt gehen. Wenn ich nur erſt den Chriſtian 
hätt! Aber es iſt nicht gegangen. Er iſt 
mir ein guter Mann geweſen, er hat nicht 
ſchlecht an mir gehandelt. Aber ganz hab 
ich ihn nie gehabt. Nie. Ein Teil von ihm 
ijt immer fort geweſen, — anderswo. Und 
alg die Kinder famen und ftarben, ja, da 
iſt's immer ſchlimmer geworden. Ich hab mit 
unſerem Herrgott gehadert und hab mich ver— 
härtet, und er iſt ein ſtiller Menſch geworden, 
in dem was genagt hat an ſeinem Leben, 
ganz inwendig. Ich hab dir geflucht, weil 
ich gewußt hab, du ſtehſt mir noch immer im 
Weg, und er hat alles in ſich verſchloſſen und 
bat — und bat” — — — 

Ihre Stimme war jetzt nur noch ein 
Hauch. Mariann ſaß zitternd an dem Bette. 
Nach einer Weile hob die Kranke wieder an: 

„Unſer Herrgott hat Gericht gehalten zwiſchen 
mir und dir. Und hat dir Recht gegeben 
und mir Unrecht. Ich hab's nicht ſehen 
wollen, die Jahre lang. Aber nun ſeh ich's, 
nun weiß ich's. Und darum, Mariann, darum 
muß das Unrecht gut gemacht werden. Ich 
hab's unſerm Herrgott abfaufen wollen, — 
bab gemeint, wenn mein Vater did beiratet, 
dann ijt alles gut. Du baft’s nicht gewollt, — 
Und 
nun fit es bier, — bier’ fie rip an dem 
Tuc iiber ihrer Bruſt „und prept mid, und 


maden. Und da, — da, was bat der Chrijtian | id fann nicht leben und nicht fterben.” 


750 


Mariann beugte fid) über fie. 

„Lena, qual did) nidt. Ich hab alles 
gewußt, Lena, alles. Und id bab den 
Ghrijtian veradtet barum und gehaßt, — und 
dich, did) auch vielleicht. Aber das ift all 
vorbei, fang fdjon! Und twenn unfer Herrgott 
auf mid) birt, dann bat er dir alles vergiehen, 
bir und bem — Chriſtian.“ 

Die Kranke feste fic) mit cinem Rud im 
Bette hod. Cie griff nad) Marianns Hand: 

„Du haſt mir's verziehen? Uns Sweien? 
Alles verziehen?“ — 

Mariann nickte bejahend. 

„Von ganzem Herzen. Und wenn's dir 
leichter wird, daß du weißt, ich nehme das 
Rind, dann twill ich's tun.” 

Mit plötzlich erwachter Kraft hielt Lena 
bie Hand Marianns fejt. 

„Du willſt das, Mariann! willft das Kind 
nebmen, fo lang bis, — fo lang als bier 
Reiner fiir eS forgt? Dads willft bu tun?” 

Mariann nidte faft fröhlich. 

Na, fie wollte ¢3 gern. Sie hatte etwas 
wie cin Muttergefiihl fiir bas blaſſe Wiirmeden. 

„Aber dann bin id in deiner Schuld, 
Mariann, immer nod in deiner Schuld. Dab 
muß erft driiber nachdenken, wie id) das gute 
made. Vielleicht find ich's, wenn unfer Herr— 
gott mir nod Zeit läßt. Und du läßt mic 
nod Zeit, Mariann, gelt?” 

Mit einem feltfam forſchenden Wusdrud 
blidte bie Kranfe Mariann an. Das rötliche 
Licht der Wachskerzen warf einen Hauc von 
Farbe in iby Geſicht. Sie fab zufrieden aus. 
Sie legte fic in die Kiſſen und atmete tiefer 
und leidter. 

„Oh, jest ift mir beffer. 
ſchlafen.“ 

Mariann ging durch die ſtille Dorfſtraße 
heim. Es war etwas klarer geworden, der 
Mond ſah manchmal blaß durch die langſam 
ziehenden Wolfen. Wm rauſchenden Dorf— 
brunnen hielt ſie ſtill und ſchöpfte Waſſer. 


Jetzt will ich 


trockenen Zunge wohl. Unklar und verwirrt 


gingen ihre Gedanken, — fie wagten ſich 


kaum an das heran, was geſchehen war. Nein, 
Mariann wollte nicht nachdenken. — Morgen 
brachte man ihr das Kind, da gab es 
Arbeit. 





Mariann. 


⸗ 


i. 

Es wurde Sommer. Auf dem Grabe der 
Lena wurde ein großes Grabkreuz aus ſchnee— 
weißem Marmor geſetzt mit dem Spruche: 
„Die mit Tränen ſäen, werden mit Freuden 
ernten.“ Das hatte fie ſich ſelber ausgeſucht, 
als es wieder ſchlimmer mit ihr wurde, nach— 
dem ſie damals noch einmal viel beſſer ge— 
worden war und alle meinten, ſie könne noch 
einmal geſund werden. 

Sie ſelbſt hatte es wohl nicht mehr gemeint. 
Sie war ganz verändert geweſen die letzte 
Zeit. Ganz ruhig und ergeben. Nicht einmal 
bas Kind hatte fie öfter ſehen wollen. Manch— 
mal, bei gutem Wetter ließ ſie ſich's holen, 
freute ſich an ihm, wie es, ganz langſam zwar, 
aber doch ſchon ſichtbar weniger ſchwach, 
weniger armſelig ausſah. Lange konnte ſie es 
freilich nicht um ſich haben, und ſie wollte auch 
gar nicht. Nur den Paſtor ließ ſie ſich öfters 
kommen und redete lange mit ihm. Alle 
mußten ſich dann entfernen, auch ihr Mann. 
Auch die Mariann hatte fie nicht mehr wieder— 
geſehen. Sie hatte ſie nur manchmal grüßen 
laſſen durch den Paſtor und ſie bitten laſſen, 
das Kind zu behalten, wenn ſie tot ſei. Nur 
eine Zeit lang noch, noch etwa ein halb Jahr. 
Und der Paſtor hatte ſie ſelber darum gebeten 
und ihr geſagt, daß ſie ein ſehr gutes, chriſtliches 
Werf tue, 

Damals, als das Rind gu ihr gebracht 
wurde, war der alte Müller aud) gefommen. 
Er war nicht lange gefranft geweſen fiber den 
Korb, den Mariann ihm gegeben hatte. Er 
hatte fid) ſchnell getrijtet und ſich einſtweilen 
nod) nicht wieder gum Heiraten entſchloſſen. 
Nun fam er und bedanfte fic) bei der Mariann 
aud) im Namen des Chrijtian, Wenn das 
Kind leben bliebe, dann babe er das allein 
ber Mariann ju danken. Wber er befah das 
Kleine, das in der Stube umber frabbelte, 
febr mißfällig. — Me, das würde dod nic 


was mit dem kränklichen Ding. 
Gs war fo kühl und friſch, es tat ihrer | 


Der Doktor war gefommen und hatte der 
Mariann eine ganz genaue Anweiſung gegeben, 
wie das Kind gu pflegen fei. Bader mit Cal; 
follte e8 haben und immer im Freien fein, 
wenn das Wetter nidt gar yu ſchlecht war, 


/ und twas der Vorfdriften nod eine ganje 
| Menge waren, 


Mariann. 751 


„Du wirft das fdon madden, Mariann, 
bijt ja flitger als bie Bauernweiber. Das 
Kind war’ elendiglich gugrunde gegangen in 
ber grofen Wirtſchaft, wo feiner Beit fiir fo 
ein Würmchen hat und aud feiner weiß, twas 
ibm nötig ift und was ſchädlich. Eigentlich 
krank iſt's ja nicht, nur febr zart und ſchwach. 
Du haſt ja den ganzen Tag Beit, auf ed 
aufzupaſſen. Und die in der Mühle finnen’s 
ja bejablen.” 

„Bezahlen?“ Die Mariann ſah ihn er- 
ftaunt an. „Was bezahlen?“ 

„Nun die Pflege und die Urbeit, die du 
haſt, und natiirlid) aud die Unfoften.” 

„Die Unfojten, ja. Was es braucht und 
twas id) ertra dafiir foujfen mug. Wber meine 
Pflege nidt, und bie Wrbeit, die id) bab. 
Wenn ich'S nicht gern tite, dann tat ich's dod 
gar nidt, und bejablt nebm ic nichts dafür.“ 

Dabei blieb fie. Und aud der alte Miller 
fonnte nichts bei ibr ausrichten. Den Chriftian 
fab fie nicht. Alle paar Tage fam eine Magd 
aus der Mithle und holte das Kind fiir eine 
Stunde heim. Dann wurde es ihr wieder: 
gebradt. Es hatte dann einen diden Straus 
Blumen in den Heinen Händen und rief ihr 
fhon von weitem entgegen: „Ta—di, 
Ta—bdi, — Blumen.” 

Wie fie bas Kind liebte. Erſt, weil ed 
fo franflic) war, ſolch cin auslöſchendes Lebend- 
flämmchen. Dann, weil es mutterlos war, 
aus Mitleidn. Zuletzt aus Mutterliebe. Cs 
war ibr ivie ein eigenes. 

Und der Junge hatte aud cine merf- 
wiirdige Zuneigung gu dem Kinde. Ex febleppte 
fid) den ganzen Tag mit ihm berum, fpielte 
ſtundenlang mit ibm, fubr es in dem fleinen 
hölzernen Gitterwagelden, Wenn er aus der 
Schule fam, ftrebte das fleine Ding ibm ſchon 
entgegen. Es fing an, mebr yu fpreden, aud 
verſtändlicher. Bier Sabre war es nun bei: 
nabe, aber dod) nod) weit zurück binter feinem 
Alter, Aber eS würde ſchon werden. Reine 
Mutter fonnte das inbriinftiger boffen, als 
Mariann! Es war gut, daß fie das Rind 
hatte. 
bem einen Punkt abgezogen, gu dem fie immer 
wieder gingen und doch nicht geben follten, 
— feit der Nacht in der Miible, — von dem 
Nadfinnen über die Lebensfcbidjale der zwei 


Sobre Gedanfen wurden daburd von | 





Menſchen in ber Mühle und iiber ibr eigenes, 
— über die Schwere der Schuld und itber 
bie Vergeltung. 

Sie lag oft ded Nachts mit ſchlagendem 
Herzen und wog Schuld und Sirafe und was 
wohl nod von der Sculd übrig geblieben 
fei. Und immer wieder fab fie den Chrijtian 
an jenem Wllerfeelentag auf dem Kirchhofe 
und in der Nacht darauf am Bett feiner Frau. 
Und es geſchah immer mebr, dak fie den 
Ghriftian von frither ganz vergaß, — und 
nur den von heute vor fich fab. 

Als die Lena ftarb, war fie ſchwer erſchüttert. 
Und es war ihr immer, als müßte fie eine 
Botſchaft fiir fie binterlajjen haben. Wber der 
Paftor brachte ihr nur bie letzten Grüße, weiter 
nichts. Sie hatte ihr ein ehrliches, letztes 
Vaterunfer nadgebetet, alg man fie an einem 
falten Dexembertag begraben hatte und ihr 
bie ewige Rube gewiinfdt aus ganjer Seele 
und darum fiir fie gebetet. Aber etwas in 
ibe fam nicht gur Rube. Etwas in ibr wühlte 
und grub und podte. Und immer mufte fie 
es in ſich niederswingen und juriidbalten. 

Der Chriftian hatte feinen Verſuch gemadt, 
ſich ihr zu nähern. Es war, als ob er nidt 
im Dorf fei. Sie fab ihn nur einen Mugen: 
blid, Conntags nach der Kirche, wenn die 
Manner in Gruppen ftanden und ſich beſprachen. 
Uber fie ging dann ſchnell voritber. Die 
Leute im Dorf batten wohl gu Anfang mandes 
geredet, — aber nun war wieder alles ftill, — 
weil das Gerede feine Nabrung befam. 

Sm Winter hatte fie viel Arbeit mit dem 
Rind gebabt. Es mußte fo ängſtlich gebiitet 
werden. Als es Friibjabr wurde, ging es 
beffer. Es fpielte den ganjen Tag in dem 
fleinen Garten herum, der vor dem Hausden 
lag. Der Doktor hatte angeordnet, dak fo 
recht in ber Sonne ein ordentlider Sandhaufen 
aufgefchiittet wurde. Da kroch es den ganjen 
Tag bherum, wie ein Tierden, das ſich fonnt. 
Ordentlid braun war es gebrannt, ſeine 
Mild) tranf es mit Behagen und ohne Wider- 
jtveben wie in der erjten Zeit. Und der 
Doktor freute fich, wenn er fam. Er fap 
dant auf der Bank im Gartdhen und ver— 
plauderte gern cin Viertelſtündchen mit Mariann. 
Ihr war es nicht ganz bebaglid) dabei. Mit 
jeinen Eugen Augen, um die bundert fleine 


752 


Fältchen zwinkerten, fah er fie oft forfdend 
an. Gr fannte fie bon flein auf, nod) von 
ba, als ihre Mutter im Doftorhaus gearbeitet 
hatte und fie mitgelaujen war und ſchon ein 
bifden mitgebolfen hatte aus Spaß. Aud 
heut war er wieder da gewefen. Gr batte 
bas Kind unterſucht und war febr jufrieden 
geweſen. Und als er ging, klopfte er der 
Mariann auf die Sdhulter. 

„Eine tichtige Perſon bift bu, Mariann”, 
fagte ex anerfennend, ,,deine Mutter würd 
fich freuen, wenn fie did) feben könnte!“ 

Mariann wurde rot. Untwillfiirlich flog 
ihr Blick gu dem Jungen bin, der fic mit 
der fleinen Zina im Sande fugelte. Und 
ein ſchwerer Kampf ging über ihr Gefidht. 
Gr fab es. 

„Na, na Mariann! Kopf hod und dad 
perantivortet, was man gefeblt bat! Das ijt 
ein guter Grundſatz. Bift cine brave Perfon, 
Mariann! Und wer weif, twas das Leben 
nod fiir bid) aufgeboben bat! Wer weif, 
was nod) fommt! Iſt nod nicht aller Tage 
Abend. Mach's gut, Mariann, mac's gut!” 

Er klopfte fie auf die Sdpulter und ging 
bie Strafe binunter, rechts und links nidend 
und mandmal fteben bleibend und mit den 
Voriibergebenden cin paar Worte wechſelnd. 

Mariann jah ibm lange nad. Dann 
ging fie gurii€ in das Gartdhen und nabm 
bie fleine Chriftine auf den Schooß. Aber 
fie bielt den Kopf nidt bod, fie beugte ihn 
tief über bas Köpfchen bes Kindes. Und fie 
ſaß fo lange, bis ber Junge fie ungeduldig 
riittelte: 

» Diutter, [af Tina runter, — Mutter, 
ſchläfſt bu?” 


waft ein Jahr war die Lena nun fon 
tot. Und bie Leute im Dorje faaten, es fei 
bie höchſte Zeit, daß der Chrijtian ſich wieder 
nad einer Frau umfebe. Dads grofe Anweſen 
fonnte er nidt allein verforgen. Cine alte 
Baje, die ibm den Haushalt führte, feifte und 
ſchmälte den ganjen Taq mit den Dienjt- 
feuten, ſodaß alle paar Woden einige auf- 
fiindigten, Mägde und RKnedte. Mit dem 
Rinde ging das aud nidt linger fo, — — es 
gedieh ja prachtia bei der Mariann, aber 8 
war dod) nidt in ber Ordnung, dak fo ein 





Mariann. 


Wiirmden bei fremden Menfden war. Und 
der Chriſtian mußte aud feine Ordnung haben. 
Gin Mann von vierunddreifig Jahren, fold 
ein junger Menſch, der fonnte nicht einſchichtig 
alg Wittmann dahin leben. Für den fing 
dod eigentlid) bas Leben jest erjt an, mit 
ber Lena hatte er dod nur Elend gebabt und 
Kreuz. Nun mufte er fich eine junge, gefunde 
Frau nebmen und aud einmal feines Lebens 
froh werden. : 

Das wurde jest tiberall verhandelt. Bm 
Wirtshauje, beim Kaffee, two die Frauen jid 
Sonntags jujammenfanden, im Ladden der 
Mariann, Da am meiften, denn wenn man 
bas Rind fab, fam man natiirlid) gleich 
barauf. Und wenn ſich gar zwei Frauen bet 
der Mariann trafen, dann war bes Redens 
fein Ende. Und die Mariann hörte ed 
jeden Tag ein paarmal mit an, wie die 
beiratsfabigen Madden durchgenommen tourden 
und bejproden, iwelde am beften zu dem 
Chrijtian paſſen würde. 

Ihr war das Herz ſchwer dabei, — warum 
nur! Freilich, das Kind mußte ſie dann her— 
geben, das ihr fo feſt ans Herz gewachſen 
war. Und wer weiß, wie die zweite Frau 
zu dem Kinde ſein würde, wenn erſt die 
eigenen Kinder kamen und das franfe nur 
ein Hindernis war, tiberall fiberfliifjig und 
im Wege. . 

Sie nabm bas Cbrijtinden auf den Arm. 
Wie es fich erholt hatte! Es fing fdon fajt 
an, rote Badden ju friegen. Die gelbliden 
Harden lodten fic ein twenig, fogar die Mugen 
batten etwas mebr Farbe, däuchte ihr. Und 
das follte nun vielleicht alles wieder anders 
werden, wenn ¢8 nicht mehr fo gepflegt und 
betraut twiirde. Sa, fo ein mutterlofed Rind 
war ein armed, unglitdlides Wiirmden, — 
beſonders fo cing, wie dieſes. Ihre Gedanfen 
gingen zu dem Chriſtian. Sie gingen jegt oft 
dabin und mit einer Art Wehmut. Er war 
bart geftraft worden, wabrbajtig, fir bas, twas 
er in Übermut und Sdwadbeit geſündigt 
hatte. Recht batten die Weiber, er durfte jest 
wieder feines Leben froh weroen. — Wan 
fannte ibn gar nicht wieder, fo blak und bager 
war er getvorden, fo alt und verbittert fab er 
aus. Was war er dod fiir cin Burſch 


damals, vor neun, — nun bald zehn Qabren. 


Marian. 


Sold einen gab ¢8 gar nidt mehr im Dorf, 


hatte bie ganze Beit Leinen gegeben. So cin 
ftrammer Menſch, fo ein forfder. Aber bas 


fonnte alles wieder fommen, — er war ja 
nod jung. Wenn er erft wieder einmal ver- 
beiratet war mit einer, die ibn gern mochte 
und an der er Gefallen hatte, dann würde 
dad fdnell ander’. Er war ja nod fo jung. 

Mariann verfanf in feltfame Gedanfen. 
Sn folde, die famen und gingen, daß man 
fie nicht balten fonnte und nidt Herr dariiber 
war, Er follte glücklich werden, fie ginnte 
e3 ibm. Gr follte — er follte — — — 

Gie jubr in bie Hohe. Die Tür war 
fangfam aufgegangen, in der dämmrigen 
Stube ftand jemand. 


Marianns Herz ftand ftill, fie fühlte, wie 


ed auf einmal ftill ftand. „Chriſtian!“ 


Sie mupte fid am Tiſch halten, fonjt 


ware fle getaumelt. 

„Chriſtian, — was — — twas ift?” 

Und dann iiberfiel fie cin jaber Schreck. 
Das Kind, — es war heute abgebolt worden 
und nod) nicht zurückgebracht. War ibm twas 
paffiert, — wollte er's jest bebalten? — — — 

„Das Kind’ — — — Cie würgte es 
faum beraus, der falte Schweiß brad ibr aus. 

Er fab es wobl. Er ftand an der Tir, 
bie er binter fich gugedriidt hatte, er fam 
feinen Gebritt naber. 

„Das Kind ift munter”, fagte er febr 
leife, ,aber ich, — ich batt’ mit dir gu reden, 
Mariann.” 

Sie nahm fic) zuſammen. Aber fie gitterte 
fo ftarf, dag fie fic) ſetzen mußte. 

„Du, — mit mir?” 

„Ja.“ 

Gr ſtand unſchlüſſig, felber gewaltig durch— 
ſchüttelt. Er ſuchte nach dem richtigen Wort. 
„Ja, th mug, Mariann! Die Lena hat mir's 
aufgetragen.“ — — — 

„Die Lena?” 

„Ja, auf ihrem Totenbett. Wm lesten 
Tag nod. Sie hat viel ausgeftanden, und 
bat viel mit fic) felber durchgemacht die letzte 
Zeit. So, — ih meine, — viel nadhgegriibelt 
und finniert, und bedacht auf dem angen Lager.” 

Mariann nicte. 

„Und da, — knapp eb bas Lette angefangen 
bat, — da bat fie mir was aufgetragen fiir 








753 


bid, Mariann, und bat mir gefagt, fie finnt’ 
feine Rub im Grabe haben, wenn id’s nicht 
ausricht!“ 

Mariann rückte auf. Keine Ruh im Grab 
finden. Und da wariſt du bald ein Jahr, bis 
du mir das ſagſt?“ 

Er lächelte trübſelig. 

„Heut ſoll ich zu dir gehen, hat die Lena 
geſagt. Heut iſt der Tag, wo du ſie im 
vorigen Jahr vom Kirchhof geholt haſt. Das 
hat ſie ſich ſo ausgedacht.“ 

Er fam näher und jog ein kleines Päckchen 
aus der Taſche. 

„Und dad follt id) dir geben von ihr, — 
und follt dir fagen, — dir fagen — — —“ 

Es judte um feinen Mund. 

Mariann fab ibn faft angftlid an. 

„Sie hätt's jest gefunden, foll id dir 
fagen. Du wiird'ft ſchon wiſſen, was fie meint.” 

Mariann nidte. Bn ibrem Obr flang die 
leife, beifere Stimme der Lena in jener Nacht. 
„Ich werd's finden, Mariann, — id hab's 
nod nicht gang gefunden, aber ich werd's 
fon.” — — — 

Sie ſah jest auf und in Chrijtians Gefidt. 

Er war blak. Sum erjtenmal nad fait 
zehn Jahren fab fie feine Augen wieder auf 
fics gebeftet, — fejt, — fejt. Das Blut ſchoß 
iby jum Herzen. Mit jgitternden Handen 
fingerte fie an bem kleinen Packet berum. 

„Ich — — die Lena — — —“, ftammelte 


| fie verwirrt. 


„Ja“, fagte ex mit Leifer Stimme. „Die 
Lena bat gemeint, fie müßt' did) um Verzeihung 
bitten fiir dad, — das, was geweſen iſt 
Und fie bat gemeint, e3 war gut, twenn du 


| bas nähmſt, — das”. . 


Gr jeigte auf das Pidden. Seine Stimme 
jitterte, die Schnurrbartſpitzen fogar. 

Mit einem feltfamen Gefiihl von Scheu 
und Haft öffnete Mariann die Heine Schachtel. 
Und mit einem faſſungsloſen Aufſchrei fant fie 
auf den nächſten Ctubl. 

„Was, — o Gott, — das ift ja . . .” 

Der Chrijtian nidte. Es war eine Weile 
febr ftil in der Stube. Dann fing er an ju 
fprechen mit jitternder Stimme. „Ja, 's ift 
ibr Trauring! Sie hat ibn lange nicht mebr 
am Finger tragen können, da hat fie ibn an 
einer Sdnur um den Hals gehabt. Und wie 

48 


754 


ſie immer kränker und kränker geworden iſt, 
und ſchwächer, da hat ſie mich eines Abends 
ans Bett geruſen. Und ba, ba hat fie mir 
gejagt, dab fie nicht fterben und felig werden 
finnt’, wenn nicht —“ 


„Wenn nicht?” wiederholte Mariann 
gang leiſe. 

„Wenn es nicht mit uns Zweien würde, 
wie es hätte — — hätte fein ſollen ...“ 


Es war ganz ſtill in der dämmerigen 
Stube. Die Mariann ſaß da mit im Schoß 
gefalteten Händen. Sie hatte ihren Kopf 
tief gebückt, — der Chriſtian konnte nur auf 
ihr Haar ſehen, das in zwei feſten Zöpfen 
um den Kopf lag. 

Und er ſtand und ſah auf ſie nieder. 

„Mariann“, ſagte er endlich ganz leiſe. 

Da hob ſie den Kopf und ſah ihn an. 
Und er wollte ihre Hand greifen. 

Aber ſie zog ſie zurück. Und als er ſie 
erſchrocken anſah, fing fie an gu ſprechen. 

„Alſo, das hat die Lena gemeint! Unſer 
Herrgott wird fie in Rube ſchlafen laſſen, 
aud wenn's nidt fo wird, wie fie gebofft 
hat, — denn wer fic fo felbjt überwinden 
und bezwingen fann, der fommt fiderlid) in 
den Himmel, und fie braucht nicht zu warten, 
bi3 wir bier unten nod fiir fie wad tun. Die 
bat ſchon fo alles Irdiſche von fich abgetan, 
daß man fic feine Ungft mehr um ibr 
Seelenbeil gu machen brauchte.“ 

Der Mann fah jie an. Cie fab ganj 
jtill aus, — ganz rubig. 

„Mariann“, fing er an. 

„Nein, red’ nicht. Deh nehm das Opfer 
nit an, das mir die Lena bat bringen 


| gegangen. 





wollen. — Verziehen bab ich ihr damals | 


fon, — und dir aud. Und darum brauchte 
fie das Opfer nicht yu bringen, und es liegt 
nidts mehr auf ibr und auf dir, Aber 
beiraten fann id) bid) nicht.” 

»Dtariann ... .” 

» Rein! Ich kann nicht und ic will nidt. 
Sh jag dir's nodmal, dap alles von euch 
Zweien weggenommen ift. Mebr fann ic nicht.“ 

Gr ftand betroffen und ratlos ſtill. 

„Mariann“, fing er nad ciner Weile 
wieder an. „Denk dod an die Kinder, An 


tun ſich felber ſtraft. 


Mariann. 


fügt hätte? Wie ich hierhergekommen bin, iſt 
mir grad die Magd mit dem Kind begegnet. 
Sie iſt nebenan getrollt. Aber der Junge 
hat das Tinchen geführt, — ganz ſorgſam 
und ängſtlich, wie ein Bruder ſein Schweſterchen. 
Und was ſie von Gotts und Rechts wegen 
ſind, das ſollen ſie nun auch vor den Leuten 
werden. Denf daran, Mariann.“ 

Sie war während ſeiner Rede zum Tiſch 
Aber als er zu Ende war, 
ſchüttelte ſie ruhig den Kopf. 

„Auch darum nicht?“ — 

„Ich hätt geglaubt, du hättſt das Tin— 
then lieb.“ 

Ihre Augen wurden feucht. „Ja, das 
hab ich. Wenn's mein Eigenes wär, ich 
finnt’s nicht lieber haben.“ 

„Ja, dann weiß ich nicht mehr, was ich 
dir ſagen ſoll.“ 

Da hob ſie den Kopf mit einem Ruck auf 
und ſah ihn an. In ihren Augen glimmte 
etwas auf, was lange geſchlafen hatte. Sie 
ſah den Mann vor ſich feſt an. 

„Eben darum! Eben weil du nichts 
Anderes weißt! Iſt das denn nicht gerade 
das, was uns ſchon vor zehn Jahren aus— 
einander gebracht hat? Hätt ich dich nicht 
damals haben und halten können, wenn das 
nicht geweſen wäre! Weil ich keinen gewollt 
hab, den ich mit Gewalt hätt' zu mir zwingen 
müſſen. Damals bab id) die Schande auf 
mich genommen und die Not, weil ich das nicht 
gewollt hab. Und iſt's nicht heut grade ſo?“ 

Er ſah ſie erſtaunt, ganz verſtändnislos an. 

„Ja“, rief fie. „Du biſt freilich cin 
Anderer geworden in der Zeit. Du haſt's 
bitter an dir erfahren müſſen, daß alles Übel— 
Du brauchſt keine 


Strafe vor unſerm Herrgott, — die Strafe 


iſt in uns ſelbſt. Und die Lena hat's mit 
ihrem Leben bezahlen müſſen. Ich hab's aud 
nicht leicht gehabt, die zehn Jahre ber, wahr— 
haftig nicht. Aber gerade deshalb will ich 
nicht umſonſt all das erlebt haben. Soll 
denn nun grad das geſchehen, was ich nicht 
hab wollen geſchehen laſſen.“ 

„Mariann“, ſagte der Mann ſtockend, „ich 


verſteh nicht was du meinſt.“ 


— an den Jungen und auch an das Tinchen. 
Iſt's nicht, als ob unſer Herrgott es fo ge- | 


™, 


„Du verſtehſt mid nicht“, rief fie. Nore Baden 
waren rot geworbden, Tränen rannen dariiber, 


Mariann, 


„Iſt's denn heute um ein Haar bejfer, | 


als damals? Damals bat did bein Vater 
und die Lena von mir weggezwungen! — 
Und heut — — heut willſt du felbft did) gu 
mir jivingen! Um der Lena willen, um des 
Unrechts willen, um der Kinder willen, — 
willft du mich nebmen! Nein! Ich will’s 
nidi! Ich will mid nicht nehmen laſſen, 
um der andern willen! Nie und nimmer!“ 

Sie ſtand vor ihm, zornig, groß aufgereckt. 
Und zornig fab fie ibn an. 

„Meinſt bu, ich bin eine, die fo mit fid 
handeln läßt? Was id) getan bab, bab id 
getan, — twas ic) verſchuldet bab, bab id 
gebiift. Ach weiß bon feiner Schuld mebr, 
id fclepp’ nicht das Biindel ewig mit mir 
‘rum, — Aber grad darum fann’s nidt fein, — 
grad darum nicht.“ 

In den Augen des Mannes ging langſam 
eine Erlenntnis auf. — Die Mariann ſtand 
nicht mehr aufrecht. Sie war auf den Stuhl 
geſunken amd hatte die Hände vors Geſicht 
geſchlagen. Und ſie weinte. Dicke, ſchwere 
Tropfen rannen zwiſchen ihren Fingern durd. 
Shr ganzer Körper jitterte. Und das dauerte 
cine ganze Weile. Dann nabm ihr jemand 
bie Hinde vom Geſicht. Leife, aber 
gang feft. 

„Und wenn's nicht wm der Lena willen 
wire, Mariann, — nicht um der Kinder willen! 
Wenn einer ju dir fagte: Mariann, id bin 
ein Schuft gewefen und ein Lump und die 
Bufe, die id) getan bab, ijt eine ſchlechte Buße 
gewefen, weil id) mid) aufgelebnt habe dagegen. 
Aber ich hab das nidt totmachen finnen, was 
in mir [ebendig geweſen ift, fo viel id auch da- 
gegen gekämpft bab! Ich hab's nur immer 
niedergeFalten in mir. — Immer die Jahre 
ber — mit aller Getwalt. — Das batt id dir 
aud gleich gejagt. Aber ich hab gedacht, 


fiir mid, — vielleicht aud das Tinchen. 
Und darum — — — weil dod die armen 
Siinder immer einen Fürſprecher haben müſſen, 
Mariann !” 

Sie fiebt ibn lange und feft an. 

„Nicht um der anderen twillen, — nicht 
um — was gut — ju machen?“ — — — 

Da brad alles aus ihm hervor, was jabre= 
lang begraben war. 





755 


„Weißt nod) ben Gonntag oben auf der 
Burg? Da hab ih nod fo recht den Trog 
gebabt, fo den ridtigen Tro vom böſen 
Gewifjen. Ich hab's gewußt, dah id) ſchlecht 
bin, aber ich hab's nicht wiſſen wollen. Ich 
hab mich verſteift auf das, was mir mein 
Vater alle Tag' eingeredet hat und was die 
Lena mir ſo ganz heimlich eingegeben hat, — 
alle Tag' ein Wörtchen, immer und immer 
wieder. — Und ich hab gedacht, — mußt mit 
der Mariann zu End kommen, wie andere 
Burſchen auch mit ihren Mädchen zu End 
kommen. Willſt ihr ſagen, daß du ſorgen 
willſt für das Kind, damit alles in Ordnung 
ſein ſoll. Die Lena zu heiraten, — daran 
hat mir ja auch nichts gelegen! Aber mein 
Vater hat mir ja keine Ruh gelaſſen und die 
Lena ſelber auch nicht. Und damit haben 
ſie's ſoweit gebracht, weil ich ſelber ſo ein 
Schwacher geweſen bin, fo ein ſchwächlicher. 
Und ich hab mir eingeredet, das wär in der 
Ordnung ſo und wär der Welt Lauf. 

„Und dann! Mariann, wie du vor mir 
geſtanden biſt und haſt mir all das ins 
Geſicht geſchmiſſen, — und haſt das Rind 
genommen und biſt fort und haſt mich ſtehen 
laſſen, — ja, da hab ich dich gehaßt und hab 
nun grad vorwärts gemacht mit der Lena! 
Aber dann, an mein'm Hochzeitstag, 
da, — da hat's angefangen! Da iſt dad, 
was ich bis dahin immer in mir zugedeckt hab, 
zuerſt lebendig geworden. Und dann, dann 
hat die Vergeltung angefangen. Mit jedem 


| Tag, den ich mit der Lena zuſammengelebt 


bab’, bat fie mid) mebr gepadt. Dann find 
dic Kinder gefommen und geftorben! Die 
Lena bat fic) gegramt und gepeinigt, id) bab 
immer nur bie Vergeltung gefeben. Denn, — 
ad) Mariann, was foll id dir alles fagen! 


| Un dem Tag, an dem Wllerfeelentag, wo der 
vielleidt ijt die Lena ein befjerer Fürſprecher 


Sunge bor mir geftanden bat, — ja, ba ift 
alles in mir aufgewiiblt worden, und wie id 
beim gefommen bin und bab meine Frau im 
Sterben gefunden, und fie hat immerzu nad 
dir gefdricen, da bab id gewußt, — jebt, 
jebt fommt deine Strafe, erft recht. Was ich 
bab ausgeftanden dic Zeit, Mariann, wie die 
Yena jo langſam ift weich geworden und bat 
all ibren Stolz und Zorn abgelegt, tweil du 
jie bezwungen baft, — und du haſt das Kind 
48* 


756 


gebabt, — mein Rind und baft’s gepflegt und 
betraut — und wie id) dann der Lena bab 
verfpreden müſſen, daß id) dir den Ring 
bringe — und daß id) gut maden will, — 
und ich bab dod) gewußt, du verachteſt mid 
und id) bin ein Lump in deinen Wugen, und 
wie bie Lena tot war, und der Tag ijt immer 
naber gefommen, two id bab mit dir reden 
miijjen, und id) bab gewußt, wenn du's nicht 
tuft, Mariann — dann — bann ijt fir mid 
alles vorbei! — Dann bin id cin geſchlagener 
Menſch mein Leben lang, — weil ich dich gern 
bab, Mariann, — weil ich nicht mebr [eben 
mag, ohne did.” 

€3 war gang jtill in der fleinen Ctube. 
Mariann fah unbetweglid. — Zehn Jahre 
gingen nod einmal an ihr vorbei, — zehn 
Sabre nur, — aber dod cin ganged Leben! 


Sie fab auf ben Mann, der da vor ihr ftand, — | 


es war nidjt mebr ber Chriſtian bon damals, 
es war ein anbderer, cin veriwanbdelter Menſch. 
Und fie? — Sie war auch eine andere. Hatte 
fie nicht aud) das letzte Jahr bindurd gekämpft, 
gerungen? — Wo war ihr Hap, wo ibre 
Veradhtung? — Langfam vergangen, dann 
verflogen, wie Spreu im Winde. Wie hatte 
ber Chrijtian gejagt, ‚weil ich dich gern bab, 
Mariann, weil id nicht leben mag, obne 
did — — 

Wenn fie in ihr Herz fchaute, in die innerſte, 
gebeimjte Herjensfammer, was fand fie da? 
Was regte fid) da gang leis, ganz heimlich? — 

Sie fand nicht fo fdnell die rechte Wnt- 
wort. 

Da tappten kleine Füße, — cin kräftiger 
Rindertritt und cin unfiderer, leiſerer. 

Die Tür flinfte, die Kinder famen. 

Der Junge führte das Kleine, das, fo 
ſchnell es fonnte, auf Mariann zuwackelte: 

„Datti — — Dati”. 

Cie umidlang das Kind heftiq und bob 





Marian. 


Vater. — Wie fchiigend ftellte er fid) vor feine 
Mutter. 

„Das Linden bleibt bei uns“, fagte er 
altilug. „Der Doktor fagt aud, bet uns ijt’s 
am beſten“. 

Der Müller ftrid) ihm über die Stirn. 
€r fab auf das braune Mal, — er fab auf 
den ftammigen, gefunden Dungen, auf das 
fleine Madchen. Dann nabm er den Qungen 
bei ber Hand. 

„Wenn ich's nun aber dod) mitnebme. Sob 
bin dod fein Vater. Oder — oder wenn ich 
die Mutter auc mitnebme. Und did! In 
bie Mühle! — Und ihr bleibt ba immer 
zuſammen?“ — — — 

Der Junge ſah ungewiß von Einem zum 
Andern. 

„Wenn Mutter will” ſagte er langſam. 

„Ja, und dann werd ich dein Vater”. 

„Mein Vater?“ — — — 

Man ſah, wie ſich in dem Kinderkopf die 
Gebdanten kreuzten. 

„Mein Vater? — Mein ganz wirklicher 
Vater?“ 

Der Müller nickte und ſah zu Mariann 
hinüber. Sie ſchaute den Jungen an mit 
geſpannten Augen. 

„Grad ſo mein Vater wie dem Tinchen 
ſeiner? Und das Tinchen bleibt dann immer 


bei uns?“ 





es hoch. Es drückte ſich feſt an ſie, ſie fühlte 


ſein warmes Körperchen, ſeine kalten Händchen. 
Der Junge ſah erſtaunt auf den Müller, — 
dann erſchrak er, — dads war ja Tinchens 


„Immer“. 

Er drängte ſich an ſeine Mutter. 

„Mutter, willſt du? Du weißt ja, das 
Tinchen muß bei uns bleiben, ſonſt wird's 
wieder krank. Der Doktor hat's doch geſagt 
neulich — Dann, — ja, — dann will id 
ibn gum Vater, — wegen dem Linden“. — — 

Chriftian faßte Mariann fanft um den 
Leib, Sie hatte das Kind nod auf dem Arm. 

„Mariann“, fagte er leife, — „ich — ſieh, 


| id) will did) nur deinetbalben, deinethalben 


gang allen. Uber id) bin ſchon gufrieden, 

wenn du mid nimmft, aud) um bes Kindes 

willen, — um der zwei Kinder willen.“ — — 
Und ba gab fie ihm ibre Hand. 





Die keitung eines Kunstsalons als 
Frauenerwerb. 


Don M. Bekmertny. 


Machdrud verboten,) — 


Der Kunſtſalon iſt heute eine Sammelſtelle 
nicht nur von Gemalden ‘und Statuen, ſondern 
aud von all denjenigen Erzeugniſſen ded Kunſt— 
gewerbes, die in das Milieu des Haufes gehören. 
Der Gedanfe ijt daber febr nabeliegend, dafh Frauen 
auf dicfem GHandelsgebiete, wie auf jedem anderen 
fich betitigen könnten. Selbftandige Leiterinnen 
von Kunſtſalons gibt es jedod noch äußerſt wenige, 
obgleich hierbei die Gelegenbeit fiir die weibliche 
Selbftindigkcit im GandelSfache ſehr giinftiq ijt. 
Bei Anfanf oder Anſchaffung von Bronjen, Bild: 
werfen, Gandarbeiten, Schmuckſachen, Deforations: 
und Nutzgegenſtänden aller Art läßt fich cine Fiille 
künſtleriſchen Verſtändniſſes und — deforativer 
Pbhantafie entfalten. Außerdem ift der Betrieb 
eines Kunſtſalons nod mannigfader Ausdehnung 


| 


fabig, indem er Wuftrage auf ganze Simmer und | 


Wohnungseinridtungen und aud auf die Reno- 
vicrung alter Musftattungen übernehmen fann. 

Es gehören feine grofen Mittel gu cinem der: 
artigen Unternehmen, da die Runftgegenftinde 
meiftend in Kommiffion gegeben werden. Gebildete 
Frauen der Geſellſchaft fonnen bei diefer Betätigung 
gualeich die allgemeine Gefdmadsridtung beben 
und die Kunftpfleae fördern. Cine intelligente und 
geſchäftlich gewandte junge Dame hat in Hamburg 
vor wenigen Sabren fo erfolgreich cinen fleinen 
Kunſtſalon erdfinet, dap fie ibm nad Dabresfrift 
ſchon cine größere Oeimftitte beforgen mupte. Sie 
veranftaltet von Seit gu Beit Kolleftivausftelungen 
von den Bildiwerfen bedeutender Meijter, wie 4. B. 
von Peter Behrens - Darmftadt u. dergl. m., und 
ficfert nach dieſen Muſtern Möbel, Tafelfervice, 


Tiſchwäſche, Ornamente oder auch die Nopie der 
fompletten, ausgeſtellten Zimmereinrichtung. Ahnlich 
wie ein Kunſtſalon iſt auch das Unternehmen per— 
manenter kunſtgewerblicher Ausſtellungen, wie es 
etwa die „Innenkunſt“ in Altona iſt. Dort finden 
ſich in beſtändigem Wechſel alle neuen Erzeugniſſe 
auf dem Gebiet der Fraucntoilette, der Wohnungs- 


einrichtung 2. Sollte dafür gerade nicht eine 
Frau cine geeignete Unterncbmerin fein? Nod 
feblt den Frauen im ganjen, und aud) den ver: 
mogenden, die fid) einen Wirkungskreis wünſchen, 
Mut und Unternehmungstuft. Wher folche, die nad) 
Zuriidlegung ciner regelrechten Lehrzeit fic) endlich 
aud) auf cigenen Fuß ftellen möchten, die mit 
Björnſon denfen: „oh, dieſes Gefühl, nur Daube 
zu ſein, ſich nicht ſelbſt zuſammenfügen zu 
fonnen . . .! die werden jeden Wink zu einer 
ſelbſtändigen Betatigung gern aufnehmen. 


+ 


Die Obits und Gartenbauichule fir 
gebildete Frauen 


von Frl. Dr Elvira Cajtner in Marienfelde bei 
Berlin hat durd) ibre in ciner Reihe von Jahren 
erzielten guten Refultate fiir die Gärtnerei als 
Frauenberuf babnbredend geivirft. Die von ihr 
ausgebildeten Schiilerinnen haben als Leiterinnen 
der Gartenwirtſchaft auf Giitern, als Muffeberinnen 
von Parks uſw. gute Stellen gefunden. Much fiir 
weibliche Angehörige von GutSbefitern oder iiber- 
haupt Frauen, die alS Hausfrauen oder Haus: 
tichter Gartenwirtidaft in größerem Maßſtab gu 
betreiben haben, ift cin Kurſus in Marienfelde febr 
gu empfeblen. Um aud) den Sweden des Schul— 
gartenS zu dienen, werden im Frühjahr und im 
Herbjt Lehrerinnenturfe veranjftaltet, die ſich reger 
Beteiligung und des Intereſſes der Regierung 
erfreuen. 


— 





Verein ,, Weiblide Fürſorge“ in Frankfurt a. M. 


Im Januar diefes Jahres fonftituierte ſich in 
Frankfurt a. M. der Verein ,, Weibliche Fürſorge“. 
Derjelbe ift hervorgegangen aus der gleichnamigen 
Abteilung des Qsraclitijden Hilfsvereins (E. V.), 
die ſchon feit 8 Qabren praktiſche Armenpflege auf 
ben verſchiedenſten Gebieten übt. Die erfte Wn: 
regung jur Griindung diefer iweiblichen Abteilung 
ging von einem Bortrag aus, den Fraulein Berta 
Pappenheim im Februar 1901 in einer von den 
Herren des HilfSvereins cinberufenen Verſammlung 
bielt. Qn diefem Vortrag wurde auf die fittliche 
Gefährdung hingewiejen, der die im Beruf ftehenden 
jüdiſchen Madchen ausgeſetzt find, eine Erſcheinung, 
die parallel geht mit den gleiden Schaden bei der 
unter ähnlichen Verbaltnijjen lebenden chriftlichen 
Bevölkerung. Das Referat gipfelte in dem Hinweis 
auf die Aufgaben, die fich bieraus fiir die jüdiſche 
Armenpflege ergeben, zunächſt in der Forderung 
einer möglichſt individualifierten Fürſorgetätigleit 
gum Schutze der Frauen und Madden. Anfolge 
dieſes Vortrags bildete fich ein Damenfomitee, dad 
fi als Abteilung des YSraclitijden Hilfsvereins 
diefem zur Mitarbeit sur Berfiigung ftellte. Der 
Hilfsverein wies geeignete Fille an die ,, Weibliche 
Fürſorge“. Hier wurde nun in den regelmäßigen, 
etwa alle 14 Tage ftattfindenden Situngen jeder 
Fall durchgeſprochen und beraten, zwei Damen mit 
Einziehung näherer Snformationen und der weiteren 
Bebandlung betraut, tiber die in der nächſten Sitzung 
berichtet wurde. So geftaltete fic) der Fall gum 
Lehrmittel für alle Damen, wobei aber über der 
RKeinarbeit im eingelnen die grofen Gefichtspuntte 
nicht verloren geben. Nach eingebender Priifung 
geht jeder Fall an den Hilfsverein zurück zur 
eventucllen Gewährung der notivendigen Geldmittel, 
wibrend die Verwendung derjelben wieder von der 
Fürſorge beforgt wird. Diefe ganze Art der Ge: 
ſchaftsführung bat ſich nach jeder Richtung bewabrt, 
fo daß fie auch, nachbem die Fiirforge felbjtindiger 
Verein geworden ift, beibebalien twurde. Qn 
finangieller Beziehung ijt und bleibt die ,, Weibliche 
Fürſorge“ mit den übrigen fonfeffionellen umd 
allgemeinen Wohlfahrtszentren der Stadt Frank: 
furt a. M. verknüpft. Die Falle, mit denen fic 
bie „Weibliche Fiirforge’ feit den mun 3 Qabren 
ibred Beftehens zu beſchäſtigen hatte, find äußerſt 
mannigfaltig. Schon im erften Sabre ibred Be— 


ftebenS wurde fie bet 35 Fallen in Anſpruch ge. 
nomimen, ein Beweis dafiir, welche große Lücke fie | 


ausfüllt. 
beſteht, wie ſchon geſagt, darin, daß jeder Fall 


Die Eigenart der „Weiblichen Fürſorge“ 


Lehrmittel iſt, daß man in der einzelnen Erſcheinung 
das allgemeine Prinzip gu entdechen ſucht und wo— 


möglich durch weitergehende Maßregeln Abbilfe 
fiir das allgemeine Übel zu ſchaffen ſucht. An dec 
Praxis ergab ſich dic Notwendigfeit, innerbalb Des 
Komitees cine Reihe von Kommiſſionen zu bilden, 
die ſich mit der Bearbeitung beſtimmter Gebiete 
befajjen. Es zeigte fic) bald, daß eine wirkſanmte 
Fürſorge nur dann durchzuführen ift, wenn fle fied 
nicht nur auf die Erivachfenen befchbrantt, ſondern 
wenn fie mit allen mdglichen Mitten an der forper- 
lichen, geiftigen und fittlichen Erziehung der Jugend 
arbeitet. Für die gang Kleinen wurde durch Bildung 
einer Säuglingskommiſſion geforgt. Dre e 
Rommniffion iiberwadt die Pflege der Säuglinge 
unter Leitung der Oberin des Gemeindebholpitals, 
ein Argt nimmt von Seit gu eit (vierwodentlicd) 
Beſichtigung der Sauglinge vor und forgt ims 
RKrankheitsfalle fiir entſprechende Hilfe, im Fallen, 
wo bic Mutter nit in der Lage ift, fiir bas Kind 
zu forgen, wird es in der Krippe untergebracht. — 
Bei größeren Kindern, teils Waiſen, teils unebelichen 
Kindern, ſorgt cine Roftfinderfommiffion 
dafür, daß ſie in geeigneten Familien, möglichſt 
auf dem Lande in religiöſen Familien untergebradt 
werden. Die Damen dieſer Kommiſſion befuden 
die Koſtlinder von Seit gu Zeit, fontrollieren fowobl 
fie als die Pylegeeltern und forgen im Falle un: 
qeniigender Verpflegung fiir anderweitige Unterfunft. 
Die Hauptjorge des Vereins aber gilt ber ſchul— 
entlajfenen weiblichen Jugend. Auf Anregung der 
„Weiblichen Fürſorge“ entitand cin ſelbſtändiger 
Verein, Mädchenklub, der ſchulentlaſſenen jüdiſchen 
Mädchen Abends und an geſchäftsfreien Nachmittagen 
ein Heim bietet, wo ſie ſich von der Berufsarbeit 
erholen können und die Moͤglichkeit zur Weiterbildung 
und gegenſeitigen Anregung finden. Näheres über 
den Mädchenklub enthält deſſen erſter Jahresbericht, 
der vom Vorſtand des Mädchenklubs, Franffurt a. M. 
Fahrgaſſe 146, bezogen werden lann. Aus den 
Kreiſen ded Klubs ging nun in jiingfter Beit die 
Anregung zur Griindung ciner unentgeltlichen 
Stellenvermittlung an die Fiirforge, und dicie 
ijt jest in der Organificrung begriffen. Gerade 
diefer Kommiſſion werden widtige Aufgaben in bezug 
auf die dfonomifde und fittliche Forberung der 
weiblichen Sugend jufallen. Es wird die erite 
Pflicht der Kommiffion fein, nur nach forgfaltiger 
Priifung auf beiben Seiten yur Vermittlung einer 
Stelle die Hand gu bieten. Man erivartet auch, 
daß es der Fiirforge mit Hilfe dieſer Kommiſſion 
in größerem Umfang als bisher ſchon gelingen 
wird, dic Mädchen bei der Berufewahl zu becin: 





Verfammiungen und Vercine. 


fluffen, fie fpegiell vom Hauſierhandel absubringen 
und dafur minder gefährlichen Berufen zuzuführen. 
In mehreren Fällen konnte die Fürſorge ſchon 
cine derartige Beeinfluſſung bewirlen; die be— 


treffenden Madden nahmen dann Dienſtſtellen an 


und blieben weiterhin in Berbindung mit den Damen 
der Fürſorge. Mädchen, die ein Jahr auf einer 
von der Fürſorge vermittelten Dienſtſtelle verblieben 
find, erhalten cine kleine Prämie vom Hilfsverein. 
Geplant iſt auch eine Kommiſſion, der die Fürſorge 
fiir Durchreiſende obliegen ſoll. Dieſe Kommiſſion 
wird für geeignete Unterfunft von Frauen und 
Madchen zu forgen haben und Ausfunft und Rat: 
ſchläge fiir die Weiterreife erteilen. Die Kontrolle 
liber diefe Abteilung und iby pekuniärer Teil bleiben 
nach wie vor in den Handen bes Hilfsvereins. — 





Reben all dicfen Fragen, die trotz ibrer allgemeinen | 


Bedeutung nur durd) (ofale Kleinarbeit Erledigung 
finden fonnen, bat fic) die ,,Weibliche Fiirforge” 
noch weitere Siele geftedt, denen nadguftreben tbr 
als ſittliche und ſoziale Pflicht erſcheint. 
„Weibliche Fürſorge“ hat iby Höchſtes nicht getan, 
wenn ſie im einzelnen Fall, wo die Not an ſie 
herantritt, Hilfe leiſtet, ſie hat ihre Aufgabe als 
jüdiſcher Frauenverein ſelbſt dann noch nicht voll 
erfüllt, wenn ſie ſich der hier anſäſſigen Jugend 
vorbeugend annimmt, ihr die Begrifſe von Ordnung 
und Sittlichleit immer naber zu bringen ſucht. 
Bei den befannten traurigen Verhältniſſen, unter 
denen die oſteuropäiſchen Suden gu leiden haben, 
macht fie eS fic) gur Pflicht gu verfuchen, ſoweit 
die Landesgeſetze und die politiſchen Verhältniſſe 
es geftatten, auch in diefe Gegenden etwas von 
den Segnungen weſtlicher Kultur und Fürſorge— 
cinridtungen zu tragen. Darum unternabmen im 
Sommer vorigen Jabres Fraulein Berta Pappenbeim 
und Fraulein Dr Sara Rabinowiti im Auftrage 
des Israelitiſchen Hilfsvercind cine ſechswöchige 
Studienreiſe nach Galizien. Sie ſammelten dort 
reichliches Material, um die Verhältniſſe beurteilen 
und einer eventuell von Weſteuropa aus eingeleiteten 
Hilfsaltion Richtung und Ziel geben zu können. 
(Naheres über dieſe Reiſe enthält der Bericht darüber: 
Sur Lage der jüdiſchen Bevöllerung in Galizien, 
Reiſeeindrücke und Vorſchläge zur Beſſerung der Ver: 
hältniſſe, von Berta 
Rabinowitſch, Frankfurt a. M. 1904, Neuer Frank— 
furter Verlag.) 

Der erſte praktiſche Verſuch zur Beeinfluſſung 
jener jüdiſchen Völkermaſſen wird die Verſendung 
eines hygieniſch-ſittlichen Flugblatts nad Galizien 
fein, In direftem Zuſammenhang mit dieſen Auf— 
gaben ſteht die Tätigleit, die die Belämpfung des 
Mädchenhandels ſeitens aller jüdiſchen Vereinigungen 
fordert. In dieſer Erkenntnis beſtellte der Hilfs— 
verein zwei Delegierte aus dem Kreiſe der „Weiblichen 
Fürſorge“ zu dem im vergangenen Herbſt hier 
ſtattgehabten Kongreß zur Beklämpfung des Madden: 
handels. — Je mehr man ſich mit der jüdiſchen 
ſozialen Hilfsarbeit beſchäftigt, um ſo deutlicher 
erkennt man, wie es fiir bie einzelnen jüdiſchen 


Die | 





ppenbetm und Dr Sara 


759 


Vereine, wenn fie auf ſich allein geſtellt find, un: 
möglich ift, fiir die Allgemeinheit Bedeutendes gu 
leiſten. Der Gedante de Zuſammenſchluſſes der 
jüdiſchen Frauenvereine gum Swed des Ausbaues und 
Vertiefung ihrer Uufgaben innerhalb des jüdiſchen 
Gemeindelebens wurde befonders der Leitung der 
„Weiblichen Fürſorge“ in Frantfurt a. M. immer 
flarer, Der Verein hat deShalb, gemeinfam mit dem 
„Israelitiſchen Humanitären Frauenverein’ in 
Hamburg eine feſte Organiſation der jüdiſchen 
Frauenvereine Deutſchlands angeregt und verſpricht 
ſich von deren Zuſammenſchluß die größte Förderung 
auf allen Gebieten der jüdiſchen Armen⸗ und Wohl— 
fahrtspflege. Ein ſolcher Bund wird, abgeſehen 
von ſeiner praktiſchen Wirlung, ein geiſtiges Band 
zwiſchen den die gleichen Ziele verfolgenden judiſchen 
Frauen ganz Deutſchlands bilden. Ebenſo wie die 
„Weibliche Fürſorge“ cine Quelle gegenſeitiger 
Anregung für ihre Mitglieder iſt, ebenſo wird der 
Bund jüdiſcher Frauenvereine, wie ihn die „Weibliche 
Fürſorge“ ſich denkt, cin Mittelpunkt fiir alle jüdiſchen 
Intereſſen, eine Quelle gegenſeitiger Bereicherung 
fiir einen großen Kreis von ſtrebenden Frauen 
werden. Sie alle werden bei der gemeinfamen 
Tätigkeit immer beſſer erfennen fernen, welche 
Wege und Riele fie su verfolgen haben und welche 
Aufgaben der Frau unferer Seit, cinerlei, welcher 
Konfeſſion fie angebirt, neben Dem Manne in der 
Geſellſchaft gejtellt find. R. 





Die V. Generalverfammlung des Deutſch— 
Evangelijden Franenbundes 


ift fiir die Tage ded 14.—17. September nad 
Hameln a. d. Weler cinberufen. 

Bu den meift öffentlichen Berfammlungen find 
alle, die cin Intereſſe an ben dort verbandelten 
Fragen nebmen, berglich cingeladen. 

Tagegordnung und Wusfunft iibermittelt: Frau 
Dr Theillubl, Hameln, Miiblenftrafe, Vorſitzende der 
Ortsgruppe Hameln des Deutſch-Evangeliſchen 
Frauenbundes. 

Am Donnerstag, den 15, September, werden 
aufier den üblichen geſchäftlichen Berichten folgende 
Themen verhbandelt werden: 

„Ausbildung per Jugend fiir foziale Berufe”. 
Wraulein A. von Bennigfen-Bennigien, Fraulein 
A. von Reeden- Hannover: Walohaujen. — ,,Brauchen 
wir cine Frauenbewegung?“ Fraulein M. von Hine 
derfim Hannover, — „Ein neuer Frauenberuf — 
Paftoralgebilfinnen”. Here Profeffor Zimmer: 
Seblendorf. 

Mn Freitag, den 16. September, fteben auger 
Antragen bes Vorftanded und der Bereine folgende 
Gegenftinde auf der Tagesordnung: 

„Die Mitwirkung der Frau in der Waiſen— 
pilege”. Fraulein Rramers-Bielefeld, Fraulein 
M. Dittmer-Hannover. — „Arbeiterinnenorgani— 
fation.” Fraulein KL Kihbl- Dresden. — „Die 
Mitwirtung der Frau im Kampfe gegen den 
Alkohol.“ Frau J. Steinbaujen-Oannover, 


SE 





Raddrud mit Quellenangabe erlaubt. 


* Den Forthildungsfdulswang fiir gewerb- 
lide Arbeiterinnen bis gum 18. Lebensjabr durch 
Ortsftatut gu ermdglicen, verlangt der Geſetz— 
entwurf iiber den faufmannifden und getverbliden 
Fortbilbunasunterrict, ben die badifde Regierung 
dem Landtag zugehen ließ. Bisher galt dieſe 
Beftimmung — fofern ¢3 fic) um gewerb— 
liden Unterricht handelte — nur fiir bie Arbeiter. 

* Das miediziniſche StaatSeramen  beftand 
Frl. Joa Margareta Wadhsmuth an der Univerfitat 
Leipzig mit der erften Zenſur. In Gießen promo- 
bierte als erfte Frau eine Ruffin, Fraulein 
Krilitſchewsty, in Chemie. 

* Die weibliden Bertranensperjonen der 
ſächſiſchen Gewerbe⸗Inſpeltion follen nunmehr in 
eigentliche Gewerbe-Inſpektorinnen verwandelt, 
bezw. durch ſolche erſetzt werden. Für jede 
Kreishauptmannſchaft iſt eine Gewerbe⸗Inſpektorin 
mit der Beaufſichtigung der Betriebe, die weibliche 
Arbeiter beſchäftigen, ſowie der Ausführung ded 
Kinderarbeitsgeſetzes beauftragt. Man hofft, daß 
ſich bei dieſem Ausbau der weiblichen Gewerbe— 
aufſicht allmaählich bas Vertrauensverhältnis zwiſchen 
Inſpektorinnen und Arbeiterinnen herſtellen wird, 
das bisher faſt noch nirgends zu erzielen war. 

*Für die Zuziehung vow Frauen zur 
ſtädtiſchen Armenpflege ſprach fic Stadtrat 
Frankenberg in einem längeren Vortrag auf dem 
braunſchweigiſchen Städtetag aus, allerdings 
mit dem Vorbehalt, daß es ſich nicht „um ſelb— 
ſtändige Befugniſſe, ſondern um helfende Beteiligung“ 
handeln ſolle. In Braunſchweig ſelbſt iſt ſeit 
einem Jahr der Verſuch einer Zuziehung der Frauen 
in dieſer Form gemacht worden. 

* Die badifde Inſpektionsaſſiſtentin Frl. 
Dr Baum ijt nunmebr als Fabrifin{peftorin 
angeftellt worden. 

* Sum ,,Officier d’Académic® iſt die Bor: 
figende des Bereins deutſcher Lebrerinnen in 
Franlkreich, Frl. Schliemann, von der franzöſiſchen 
Regierung ernannt worden. 


* Zur voltshygicnifden Bedeutung des Haus: 
haltungs: und Fortbildungsſchulunterrichts fiir 
Madden. Cine Regierungsfommiffion fiir Groß— 
britannien hat fich mit einer Unterjudung iiber 
die hygieniſchen Verhaltniffe der niederen Bevdlferung 
zu beſchäftigen gebabt, um feftguftellen, ob, wie 
vielfad) bebauptet wurde, tatſächlich die Webr: 
fähigkeit des Volkes infolge eines allgemeinen 
gefundbeitliden Rückganges abnehme. Die Kom: 
miffion fab die ſchwerwiegendſte Urſache ber Schäden, 
die fie feftftellte, in ber Unwiſſenheit der 
Frauen hinſichtlich der Ernährung, Wobhnunge- 
hygiene und Kinderpflege. Sie empfahl vor allem 
die Einführung von Fortbildungsſchulen, in denen 
die Mädchen auf all dieſen Gebieten gründlich 
unterrichtet würden. 


*Das miediziniſche Inſtitut für Frauen in 
Petersburg hat durch ein ſoeben publiziertes Geſetz 
eine endgiltige Regelung ſeines Studienganges 
und ſeiner Berechtigungen erfahren. Das Geſetz 
gewährt den Arztinnen volle Gleichberechtigung 
mit männlichen Arzten. Es erfennt ihnen bad 
Recht gu, nicht nur das Diplom für bie Wusiibung 
der ärztlichen Praxis, fondern auch) den Doltor— 
qrad zu erwerben. Diejenigen Madden und 
Frauen, die im Auslande ftudiert unb dort den 
Doftortitel erworben haben, diirfen obne weiteres 
zur ruffifden Staatsprüfung jugelaffen werden. 
Der Rulaffung der Studentinnen an bas 
mediziniſche Inſtitut fteben nach dent neuen Geſetz 
feine bejonderen Schwierigleiten entgegen: dad 
Reifegeugnis eines Mädchenghmnaſiums und die 
Ablegung ciner nicht allju ſchweren Zuſatzprüfung 
geniigen zur Wufnabme in das Inſtitut, voraus: 
geſetzt, daß die Aufnahmsbewerberin nicht unter 19 
und nicht über 28 Sabre alt und daß fie 
feine Jüdin iſt. Iſt fie aber Siidin, fo darf 
fie mur dann immatrifuliert werden, wenn 
die Sabl der GStubierenden jiidijden Glaubens 
an dem Inſtitut 3 v. H. der Geſamtzahl nicht 
überſteigt. 





— — 





„Der doppelte 
Maeterlind. 
Deutſche iibertragen von Friedrid von Oppeln— 


Garten’ von Maurice 
Autorifierte Ausgabe in das 


PBronifowsti. Berlegt bei Cugen Diedrichs, 
Jena und Leipzig 1904. Nicht alles in der 
Ueinen Sammlung ijt gleich wertvoll. Sie enthilt 
Plaudercien oder ftille Monologe, die ſich an 
allerfet alltägliche Dinge und kleine einfache 
Erlebniffe tniipfen. Aber es find die Worte eined 
Beobachters, dem das bunte Augenblidsleben nur 
der bewegliche Vorbang ciner gebeimen Bühne ift, 
iiber die das Schickſal febreitet, die glitzernde 
Oberfläche eines Waffers von leuchtenden, lebendigen 
Tiefen. Ob er fic) finnend und lächelnd in die 


LebenSaufgaben und Konflikte des Oundes vertieft, | 


der blingeInd, den Kopf zwiſchen den Vorderpfoten, 
neben feinem Schreibtiſch liegt, ob er im Automobil 
den Rauſch eines unerhörten Sieges über den 
Raum feiert, oder in Monte Carlo im Tempel des 
Zufalls opfert, immer öffnet er die Perſpeltive 
auf den „geheimnisvollen Meg nach innen“. Die 
Gedanfen iiber „das moderne Drama", die ethiſche 
Betradtung ,der Olzweig“ filbren ant weiteſten 
auf diejen Weg. Sie find cin Beifpiel fiir das, 
was Macterlind felbft im der erften von ihnen 
ſagt: daß fic) die Dinge des Lebens in einem 
gelduterten Bewußtſein unendlic) vereinfacden. In 
dieſer Einfachheit, die nicht einen Mangel, fondern 
vielmehr eine Bertiefung des Bielfiiltigen, der 
Nuancen ift, liegt ber Hauptreig auch der Sprache. 
Qn ſchlichten Worten klingt doch die Fiille ſeeliſchen 
Lebens mit, und ibre Berbindung verrat alle 
Feinheit menſchlicher Beobachtung und künſtleriſchen 
Sehens. 


„Arbeite und bete“ —* Waters). Roman 
von George Moore. erfest von Annie 
Neumann: Hofer. Egon Fleiſchel und Co., 
Berlin 1904. Der Roman, der bei feinem Erſcheinen 
in England vor gerade zehn Jabren einen Sturm 
jittlicber Entrüſtung erregte, tritt jest in deutſcher 

berſetzung jum erftenmal vor cinen gréferen 
Kreis des deutiden Publitums. Es fet voriveg 
gefagt, daß dieſe UÜberſetzung ihrer Wufgabe im 
pa gerecht wird, wenn aud) gutveilen bei der 
Ubertragung der vollstümlichen Sprache durch ein 
gu wörtliches Verfabren Anglizismen fteben geblieben 
find. ,,Urbeite und bete“ — fo bat der Heraus- 
geber Mar Meverfeld den Titel des Romans um: 
geändert, da „Eſther Waters” ibm fiir cine deutide 
Ausgabe gu ausdrudslos fdien — ijt cin Dienſt— 
botenroman. Den deutſchen Lefer wird er ftart 
an Klara Viebig ,, Das kägliche Brot” erinnern. 





Hier wie dort ift die Helbin das fahlichte, welt: 
frembde Dienſtmädchen, das mit der einfachen Welt: 
anſchauung, die ber neue Titel von Eſther Waters 
ausfpridt, den Rampf mit dem Leben fiir ſich und 
ibe Hind durchführt, ſiegreich, wenn auch nit im 
Sinne äußeren Boriwartsfommens, fo dod im 
Sinne innerer Selbjtbebauptung. Eſther Waters, 
der im eingelnen vielleicht noch etwas mehr Romanftil 
anbaftet alS Klara Viebigs Naturalismus zuläßt, 
hat dod) andererfeits den weiteren ſozialen Horizont 
und nach ber Seite der Weltanfchauung eine grofere 
Ticfe. Die Entriiftung de3 engliſchen Publifums 
von vor zehn Jahren wird man bei uns nicht mebr 
beqreifen, wie fie auc in England fic) vor der 
Wahrhaftigkeit und dem heiligen Ernft des Buches 
hat beugen miiffen. Die fogialen Probleme, die es 
beriihrt, fteben jest auf der Tagesordnung — ein 
um fo beſſeres Verſtändnis wird der Überſetzung 
entgegengebradt werden, die nicht nur cinen 
Tendengroman, fondern zugleich eine bedeutende 
Erfdheinung der englifden Literatur der Gegenwart 
dem deutſchen Publikum darbietet. 


„Götz Kraft’. Roman von Edward Stil- 
gebauer. Berlag von Ricard Bong, Berlin. 
Der vielgelefene Roman einer „Jugend“ verdantt 
feine Verbreitung sweifellos nicht feinem künſtleriſchen 
Wert. Bm Gegenteil, cine gewiſſe künſtleriſche 
Flachheit, cine dilettantifde Breite und Deutlichkeit 
hat die Wirhing des Inhalts auf weite Kreife 
gewiß unterftiipt. Das eigentlich Pacende darin 
ift die Rectheit, mit der das Leben der Gegenwart, 
die Ideen, dic bejonders die Sugend beivegen, an: 
gefaßt find und cin febr realiſtiſch abgegrenzter Aus— 
idnitt unferer Kultur gegeben wird. Als Kultur: 
bild, wenn auch vielleicht nicht von fo weitreidender 
typiſcher Giltigteit, mie dem Lefer durch die Art 
der Darjtellung fuggeriert wird, bat das Buch 
Antereffe. Es faßt die großen Faltoren, aus denen 
fi) das Schickſal der jungen Generation des fin 
de siétcle geftaltete, in einem inbdividucllen Leben 
anſchaulich und wirklichkeitstreu zuſammen und 
bietet ſo eine „Beichte eines Kindes ſeiner Zeit“, 
die als ſolche trotz aller künſtleriſchen Mängel ein 
vielfaches Echo finden mußte. 


„Oberleutnant Grote’, Roman von Liesbet 
Dill, Deutſche Verlagsanftalt. Stuttgart und 
Leipzig 1904. Das letzte Jahr bat uns mit 
Militarromanen derartig überſchwemmt, daß man 
jede3 Buch, dad fic) durch den Titel als folder 
fennjeichnet, mit einem gewiſſen Miftrauen auf: 
nimmt: wieder cin Kind jener Mode, unter deren 


762 


Schutz bas Unbedeutendfte um feiner Tendenz 
willen feinen Weg ins Publitum findet.  ,, Ober: 
feutnant Grote” gebdrt nun feinesivegs au dieſer 
Klaſſe von Militärromanen. Berubt auc) die Dar: 
ftellung bes Milieus auf intimfter Beobacdtung, 
fo ift doch died Milieu hier nicht die Hauptſache; 
die Hauptſache ijt vielmebr cine Geſchichte von 
Triftan und Iſolde, die fo fein in der künſtleriſchen 
Darftellung und fo nobel in der menſchlichen Auf— 
faffung iſt, daß man den Roman bem Beften ju: 
zählt, was in der Frauentiteratur des Jahres 
geleiftet ijt. Die Ubermadt der Leidenſchaft in 
cinem Paar vornehbmer und gerwifienhafter Menſchen, 
dieſes balb unbewußte und in feinen Außerungen 
oft rätſelhafte Handeln unter dem Swang einer 
ſolchen Macht, die eigentümliche Bangigteit und 
Sechwiile ber Stimmung über diefen Menſchen, 
all das ift mit ebenfoviel fiinftlerifdem Tat als 
feclifcher Feinheit wiedergegeben. Daneben feblt 
es der Berfafferin nidt an realiſtiſcher Kraft und 
friſchem Qntereffe aud) fiir bas Außerliche und fiir 
dic Nebenfiguren, und cine ungewöhnlich qewandte 
Technik des Mufbaus bringt dieſe Vorzüge aufs 
bejte zur Geltung. 


„Wegwende“. Roman von Leonore Fret. — 
„Und fie bewegt fid) doch“. Erzählung von 
Leonore Frei. Verlag der Frauenrundſchau, 
Leipzig 1903. Die beiden Biicher find aus dem 
Ringen heraus geſchaffen, das als typiſch fiir die 
moderne Frau angefeben werden fann, Das erftere 
größere bebanbdelt den Konflikt ciner zur geiftigen 
Perjonlichkeit erwachten Frau, die bet einem 
anderen das Verſtändnis ju finden glaubt, bas 
ibe der Gatte nicht gewähren fann. inter dem 
ftiirmifeben Fordern nach freier Entfaltung, binter 
ber leidenſchaftlichen UAblebnung eines Zwanges, 
den Fein geiſtiges Band mebr- beiligt, ftebt bet der 
Verfaſſerin dod cin deutliches Bewußtſein der fitt- 
lichen Grenzen, die auch foldem jFordern und 
Verwerfen gezogen find. Mag fie fic im einzelnen 
in der Art der Seelenfchilderung noc nicht von 
dem VBorbild größerer Vorgängerinnen gelöſt haben, 
fo pulfiert doch in dem Romane das Leben und 
die unmittelbare eigene Crfabrung fo ſtark und 
echt, daß man darin cine Gewähr fiir ibre Ent— 
widlung ju größerer Selbftindigfcit feben modte. — 
Die Heine Erzählung wirkt cin wenig gu programm: 
mäßig. Die Tendenz tritt etwas zu ftart bervor; 
fie ift Durch die imbdividuelle Charafteriftif der 
Heldin und des Helden doch nicht ganz aufgeboben 
und überwunden; immerhin wagt es dod) aud 
bier die Berfafferin, in das lebendige Leben binein: 
gugreifen und friſch zu geftalten, was ibr nab und 
wirllich ift. 


„Eduard Möriles Briefe’. Herausgegeben 
pon Profeffor Dr Karl Fiſcher und Dr Hudolf 
Krauß. weiter Band: I841—1s874. Bearbeitet 
yon Brofeljor Dr Karl Fifer. Preis broſch. 
4M, geb.5 M. Verlag von Otto Elsner, Berlin. 
Cine der wertvolljten Gaben des Subilaumsjabres, 
bas die Gemeinde Eduard Möriles feiert, iſt die 
Ausgabe feiner Briefe, Mus einem im eigentlichſten 
Sinne beſchaulichen Yeben, defien Creiqniffe die 
Empfindungen, das Leid und das Glück einer ftill 
nad innen lauſchenden Seele find, geben Briefe 
befonders viel. Sie ſpiegeln den Menſchen und 
ben Künſtler in reinen, bellen, harmloſen Auße— 


a — 











Bücherſchau. 


rungen. Man taucht in einen friſchen, würzigem 
Erdreich entquellenden Brunnen. Auch der zweite 
Band — der erſte iſt in der „Frau“ ſchon ein— 
gehend beſprochen — gibt dieſen Eindruck. Denn 
die Seele des alternden Dichters bleibt kindlich 
friſch und empfänglich. Den größten Teil des 
Bandes füllen die Briefe an Gartlaub, die den 
Menfden und den Kiinftler in gleicer Annig- 
feit und Wärme enthiillen. Auch in die intereffanten 
Beziehungen gu Schwind, Theodor Storm leuchten 
bie Briefe der Sammlung. Das cigenartig reiche 
und ſtille Buch wird auch denen, die feine literariſchen 
Intereſſen zu Mörike fiibren, goldene Schätze 


erſchließen. 
Sozialer Fortſchritt“. Hefte und Flug— 
blätter für Vollswirtſchaft und Sozialpolitik. 


Leipzig, Felix Dietrich 1904. (Preis pro Heft 
0,15 Markt.) WS Heft 12/13 und 15 16 dieſer 
Sammlung erfcbeinen zwei Aufſätze, die fic mit 
der Frauenfrage beſchäftigen, nämlich einer 
pon Anna Pappritz: Die Errichtung von 
Wöchnerinnenheimen und Sänglingsaſylen 
und einer von William Pember Reeves 
über dad politiſche Wabhlredjt der Frauen 
in Auſtralien. Der Aufſatz von Anna Pappritz 
berubt auf eingehender Kenntnis der beftebenden 
Fürſorgeeinrichtungen fiir Wöchnerinnen und 
Siuglinge, deren Organifation in ben verfebiedenen 
Städten fie in knapper und iiberfichtlicber Form 
darlegt. Abr Standpunft yu der ganzen Frage 
ijt derfelbe, den fie bereits in cinem Aufſatz der 
„Frau“ über dasſelbe Thema gelennzeichnet bat. 
Das Bedürfnis zur Errichtung derartiger Anſtalten 
eniſpringt vollswirtſchaftlich ſanitaren Griinden und 
zugleich den Intereſſen der Sittlichkeitsbewegung. 
Sie haben dafiir su ſorgen, daß die Kinderſterblichleit 
vermindert werde und nicdt gleich in der Wiege 
die Bedingungen einer gefunden körperlichen Ent: 
widelung der jungen Generation entjogen werden, 
und fie baben der Mutter, vor allem auch der un: 
chelichen Mutter, den Halt yu getwabren, der fie 
befähigt, ibre Pflicbten in vollem Sinne erfiillen 
gu finnen, Der Heinen Schrift iſt die weiteſte 
Verbreitung gu wünſchen. — Dasſelbe gilt von 
dem Auffats über das politiſche Wablredt der 
Frauen; die Brofebiire, deren Sdhreibiveife die 
Friſche und Popularitdt engliſcher Flugſchriften 
zeigt, behandelt die Geſchichte des Frauenwahlrechts 
in den auſtraliſchen Kolonien und, ſoweit bei der 
lurzen Zeit, ſeit es beſteht, ſchon von Erfolgen die 
Rede fein kann, die Wirkung des Frauenwahlrechts 
auf die Titigtcit bes Parlaments Da die Frage 
der politiſchen Rechte der Frauen auch bei uns 
auf dem Kontinent, wenigſtens in der theoretiſchen 
Erörterung, immer baufiger auftaucht, fo diirfte 
die aus eigener Beobadtung ſchöpfende Darjtellung 
aud fiir uns cinen prattifden Nugen haben. 


„Allgemeines Wahlredht und bayriſche Wahl- 
reform’, Bon A. Showalter. Kaiſerslautern, 
Verlag von Eugen Crufius 1904. Die Broſchüre, 
dic im übrigen vorzugsweiſe fiir Bayern ein 
fonfretes Qntereffe bat, möchten wir deSbalb an 
dieler Stelle erwabnen, weil fie dafiir cintritt, 
daß auch die felbftanbdige Frau an der Vollsvertretung 
im Landtage beteiligt fein miiffe. Der Berfaffer 
beſchränkt ſeinen Standpuntt freilich ausſchließlich 
auf den Landtag, mit der oft angeführten und von 


Bücherſchau. 


und nicht als ſtichhaltig anerfannten Begründung, 
daß die Gewährung des Reichstagswahlrechtes die 
Konſequenz haben müſſe, daß die Frauen aud 
perſönlich fiir die Beſchlüſſe ded Reichstages über 
Krieg und Frieden eintreten, eine Auffaſſung des 
ſtaatsrechtlichen Zuſammenhangs zwiſchen Wahlrecht 
und Wehrpflicht, der wir nicht zuſtimmen. „Die 
Beſchlüſſe des Landtages dagegen“, ſagt der Ver— 
faſſer, „haben nur materielle oder moraliſche 
Konſequenzen und für dieſe beiden iſt auch die 
ſelbſtändige Frau Manns genug’’. Angeſichts 
der Tatface, daf man bei der Entſcheidung über 
die Kaufmannsgericte die Frau nicht einmal fiir 
„Manns genug” bielt, thre Beruf dintereffen 
offentlich gu vertreten, tft cine folce, wenn auch 
eingeſchraänkte Suftimmung zum Frauenftimmredt 
fiir ben Landtag ficher beſonders erfreulich. 


Ruth’, Erzählung von Lou Andreas: 
Salomé. J. G. Cottaſche Buchbandlung, Nachf. 
Von der feinften Erzählung von Lou Andreas 
ericheint foeben die vierte Auflage. Die gerade 
ihr eigentümliche Kunft, das „Zwiſchenland“ feelifd 
zu ergriinden, die Pſyche des heranwachſenden 
Mädchens an der Grenze des Kindesalters mit all 
ihrer heimlichen Sehnſucht, mit ihrem friſchen 
Wollen und ihrem bangen Zagen, mit ihrer eigen— 
artigen Sprödigkeit und Verſchwiegenheit und ihrem 
großen Anlehnungsbedürfnis darzuſtellen — dieſe 
Kunſt bat in der Ruth thren ſchönſten und dichteriſch 
reinften Musdrud gefunden, Es ijt cin quted 
Reichen fiir bad Publifum, daß einem fo feinen 
Buch auc der Gubere Erfolg nicht feblt. 


„Die Sphing in Trauer“. Roman von 
Mar Kreger. Berlin W., F. Fontane & Co., 
1903. Mar Kreger ijt ein guter Erzähler. Qn 
mebr fpannender als pſychologiſch vertiefter Dar: 
ftellung bat er cin Problem bebandelt, das an ſich 
ſchon etwas in gewiſſem Sinne Senfationelles hat. 
Gin Mann belaufedt im cinem ſcheintoten Suftande, 
der ibn unfabigq macht, irgend cine Lebensauferung 
von fic) gu geben, bie Vorgänge, die fich an feinem, 
des vermeintlich Toten, Lager abſpielen; er belauſcht 
feine Gattin im Geſpräch mit ihrem Meliebten. 
Den Anbalt des Romanes bildet min das Ber: 
hältnis gwifden den beiden, nachdem er aus feinem 
Suftande erwacht ijt. Trogbem er fich ber Bors 
gänge an feinem Lager deutlich erinnert, vermag 
er doch nicht ibre Gewißheit und die Schuld feiner 
Gattin unbedingt yu beweiſen. Sie felbjt iſt die 
Spbhinr, die allen Verfuchen, binter ibe Geheimnis 
zu kommen, mit tibermenfcblider nervijer Kraft 
und Gefebidlichteit ausweicht, bid ihn ſchließlich 
ibe freiwilliger Tod über ibre Schuld aufflirt. 
Die Geſchichte ft, wie gefagt, feffelnd und in der 
Darjtellung dieſes unerträglich gefpannten Ber- 
baliniffes geſchict, wenn auch ibre Helden als 
Menſchen weder befonders fein, nod beſonders 
tief ſind. 


„Tiziau“, des Meiſters Gemälde in 230 Ab— 
bildungen. Mit einer biographiſchen Einleitung 
von Dr Ostar Fiſchel. Stuttgart und Leipzig, 
Deutſche Berlagsanftalt. Das Buch erſcheint als 
dritter Band der verdienftvollen Ausgabe von 
Klaſſikern der Kunft, welche die Deutſche Verlags— 
anjtalt untecnommen bat. Sie ift babet von dem 
Gedanfen ausgegangen, fiir das Studium ded 





763 


Künſtlers das vollſtändige Material in quten und 
zugleich billigen Reproduftionen darjubieten. Das 
Wort, die Beſchreibung gibt nur das unbedingt 
Notwendige und itberlaft den Lefer im iibrigen 
feinem Auge, ohne feine Unbefangenbeit durch 
Urteile und mebr oder weniger fubjeftive Analyſen 
und Befdhreibungen des Kunſtwerkes zu beirren. 
So gewöhnen dieſe Musgaben daran, nicht iiber 
den Riinftler zu lefen, fondern ihn unmittelbar 
kennen ju lernen, ibn gang allein durd das Organ 
aufjunchmen, an dad feine Ausdrucksmittel fic 
wenden: durch das Auge. Wenn bas Unternehmen 
in verdientem Mafe die Unterſtützung des Publikums 
findet, fo wird es dazu beitragen, in unferen ge: 
bildeten Kreiſen cin echteres und ebrlicheres Kunſt— 
verſtändnis gu erziehen. Der billige Preis ermöglicht 
fiir die ausgezeichnete Sammlung auch weitefte Ber: 
breitung. \ 


„Das Kleid der Frau’, Bon Alfred Mohr: 
butter. Cin Beitrag gur fiinftlerifden Geftaltung 
des Frauenkleides mit jirfa 70 Abbiloungen aus: 
geführter Kleider, 20 Entwiirfen, darunter 8 farbige, 
32 farbige Stoffmuſterzuſammenſtellungen und 
Buchſchmuck. Verlagsanftalt Alerander Koch, Darm: 
ftadt und Leipzig. Das febr gut ausgeftattete 
Buch enthalt Entwürfe von van de Velde, Peter 
Behrens, Elſe Oppler und einer gangen Reihe in 
der künſtleriſchen Kleiderreform woblbetannter Mit: 
arbeiter. Es iſt ſelbſtverſtändlich, daß dabei nicht 
alles gleichmäßig Beifall verdient; aber im ganzen 
bietet das Heft eine gute und vor allen Dingen 
vielſeitige Zuſammenſtellung der verſchiedenen 
fiinftlerifeben Ideen und Verſuche, die bis jetzt auf 
dem Gebiete vorliegen und wird damit alle, die fich 
der Reformbewegung anzuſchließen wünſchen, an 
ihrer wohl nod) taftenden, aber, im Prinzip ziel— 
ſicheren Arbeit aufs befte teilnehmen laſſen. 


„Lebeunde Worte und Werke“. Cine Sammlung 
von Auswahlbaänden. 4. Band: John Rustin, 
„Menſchen untercinander’’, — 5. Band: „Von 
rojen cin krentzelein“, Auswahl deuticer Volts: 
lieder. Berlag von Karl Robert Langewieſche, 
Düſſeldorf. (Preis brofeh. 1,80 Mark, geb. 3 Mark). 
Der Verlag hat fich die Wufgabe geftellt, in einer 
Sammlung von ganz befonders geſchmackvoll und 
fein ausgeftatteten Banden cinem größeren Kreife des 
deutſchen Volfes cine Muswahl des Beften gu geben, 
was jeine cigene Kultur und die uns verivandte 
ber fremben Bolter erzeugt bat. Wn Luther, Ernſt 
Morig Wendt und Carlyle ſchließen ſich diefe beiden 
Bande, wahrlich eine kräftige und geſunde geiftige 
Koſt. Wie in den erften Banden, fo ift auch bier 
die Auswahl mit Verftandnis und Geſchick getrofien. 
Das trengelcin von den iippigen, bunten Fluren ded 
deutſchen Volksliedes ift eines der friſcheſten und 
fcbonften, die noch von fleifigen Sammlern oder 
begeiſterten Aunſterziehern geflodten find. Der 
Rustin-Band bietet tatjadlich aus den zu aphoriſtiſchen 
Aussiigen gut geeigneten Werfen des grofen 
Popular: Philofophen cine Auswahl, die in feine 
edle Lebensanſchauung und {eine feine Lebensanalyſe 
cinen lockenden Ginblid gibt. Go werden aud 
diefe beiden Bande ibren Rive gut erfitllen; fie 
Werden dem, der als wegmüder Wanderer auf den 
oft wenig unterbaltfamen Strafen ſeines alltäglichen 
Berufes dabinjiebt, bier und da einen friſchen Trunt 
lebendigen Wafers reichen. 


764 Bücherſchau. 


„Berſuche in der Betrachtung farbiger | Lieferungen 3S bis 43 enthalten die Novellen 


Wandbilder mit Kindern“ von Kathe Kautzſch— 
Leipgig, Verlag von B. G. Teubner. Zu den 
befannten Steinzeichnungen, die im Berlag von 
Teubner erſchienen find, gibt das Buc cine An— 
leitung, wie dad {dine und reiche Anſchauungs— 
material fiir Kinder im Sinne der Kunſterziehung 
veriwertet iwerden fann. Die Verfaſſerin bringt 
fiir ihre Aufgabe eine tüchtige Hinitlerifde Schulung, 
cin feines pädagogiſches Taktgefühl und zugleich 
jene friſche Begeifterung mit, die gerade auf diefem 
Gebiet erft den rechten Lehrer macht. Die Be: 
fprechungen werden mander Mutter und mandem 
Padagogen gute Dienfte leiften. 


Künuſtlerſteinzeichnungen“. Ym Verlag von 
BY. G. Teubner erfehienen swei grofe Märchenbilder, 
Hänſel und Gretel und Rübezahl, Original: Litho: 
qraphicen des unter den grapbhifden Künſtlern 
befannten Pragers Emil Orlif; (Preis je 5 Maré). 
Beide acigen die befannte fraftige, fernige Manier 
der Wandbilder und eine echt künſtleriſch em: 
pfundene Ubertragung der Märchenſtimmung 
auf das Bild. 


Die Mitarbeit der Hausfrau an den 
Anfgaben der Vollsgeſundheitspflege“; von 
Amalie Eſchle. Verlag der Arztlichen Rundſchau, 
Minden. Yn febr popularer Form gibt die Bers 
fafferin verftindige Anweiſungen tiber die ſanitären 
Aufgaben der Hausfrau und praktiſche Ratſchläge, 
wie fie ant beſten gu loſen find. Die {eine Broſchüre 
diirfte fic) ale Aufflarungs: und Propagandamittel 


im Dienfte vollshygieniſcher Beftrebungen ſehr gut 


bewahren. 

„Friedrich Spielhagen, Romane“ — Neue 
Folge. — Wohlfelle Lieferungsausgabe in 50 Heften 
i 35 Pf. Alle vierzehn Tage cine Lieferung 


(Verlag von L. Staadmann in Leipzigh. Die | 


„Selbſtgerecht“ und „Mesmerismus“, in denen 
mehr der Pſychologe als der Politiker und Kultur— 
hiſtoriler Spielhagen zu Worte kommt; auch ſie 
foe Dichtungen, die der Gegenwart noc etwas ju 
agen baben, 

„Handbuch des Mädchenſchutzes“ von Dr Wilh. 
Lieſe, Freiburg, Charitasverband fiir das fatho- 
lifche Deutſchland 1904 (Preis geb. 3 Mark). Das 
Handbuch ijt, wie der Verlag ſchon vermuten (apt, 
in ausſchließlich katholiſchem Sinne zuſammen— 
geſtellt und auf katholiſche Leſer berechnet. Immerhin 
gibt es einen Eindruck von der großen charitativen 
Tätigkeit, welche gerade von katholiſcher Seite unter 
dem Ginfluf der Frauenbewegung und mit an: 
erfennendwertem Verſtändnis fiir die wirtſchaftliche 
Frauenfrage entfaltet worden ift. Das Buch be: 
hanbdelt die verfcbiedenen Berufszweige, beſonders 
die Den mittleren und unteren Schichten der Bee 
volferung offen ftebenden und gibt Hinweiſe auf 
die beftchenden Bereine, Heime, Stellenvermitt: 
fungen und anbderiveitigen Fürſorgeeinrichtungen. 
Mud die Hauptangaben fiber die BerufSausfichten, 
liber Berdienft, Arbeitszeit, gefundheitlide Schädi— 
gungen und Gefabren 2c., fowie iiber Ausbildungs— 
anjtalten find aufgenommen. Wenn auch felbft- 
veritandlid) dag, wads von evangeliſcher oder inter: 
fonfeffioneller Seite geſchehen ijt, geaen die fatbo- 
liſchen Beftrebungen febr ftarf zurücktritt, fo find 
dod in beſchränktem Wage auch aufertatholifde 
Quellen fowohl fiir die Darftellung der Berufs— 
zweige herangezogen, als auc) interfonfeffionelle 
Woblfahrtseinridtungen bier und da erwabnt. 
Für latholiſche Lefer dürfte fomit bas Handbuch 
durchaus gu empfeblen fein, und auch allen, die in 
der ſozialen Fiirjorgetatigteit ſtehen und mit Be: 
dürftigen und Ratfudenden aller Konfeffionen in 
Berührung fommen, wird es manches Wiſſens— 
werte ju bieten haben. 





Ddol-Ode! 


Jd) will cin Lied gu deinem Preife fingen, 

Und ténend foll es in die Weite Flingen, 
Mbdol! 

Dem edlen Sanger friſchen Mund verlethjt du, 

In Glanz und Reinheit Sahn und Gaumen 

weihſt du, 

Odol! 

Aud) Lipp’ und ZFunge ſpüren deinen Segen, 

Yon deinem Naß geftarft ju freier'm Regen, 
Mdol! 

Dem Atem gibft du Peufchen Duft der Blume... 

Was foll id) fagen nod) ju deinem Rubme, 
Odol! 

O mögſt du jedem Menſchenmund auf Erden 

Ein Quell der Friſche und Geſundheit werden, 
Odol! 





— 


Bücherſchau. — Anzeigen. 765 


Schering’s Makertratt 


Kraftiqung fir Kranfe und Refonvalessenten und bemabrt fe —* & ols 
{ il. 75 Bi. u. 150 M. 
achirt gu dem am leichteſten verdaulidjen, Die Zähne nicht an igrelfenden Eiſen · 


itteln, welche bei Blutarmut (Bleichſucht) rx, derordnet werden, FL V.Lu.2. 


Mat. 3(Srtraft mit Cijen & 
A mird mit gr u Grfolge geaer all fh 
Maly. Extrakt mit Kalf * gegeb —* rg un —5 ——— — (fonenannte cnalttce tie th * 


Schering's Griine Apotheke, pectin w., chautter-strage 19. 


RNiederlagen in foft fAamtlichen Apothefen und qroperen Drogen Handlungen 


if ein aubgezeichneles Hausmittel 41 


inderung bet Metgguitanden ber Ptr myungsora ane, det Ratarch, Reudbuiten : 


Liste neu erschienener 
Biicher. 


(Beſprechung nad Raum und Gelegenbdeit 
vorbebalten; cine Rildfendung nicht bee 
ſprochener Biicher ift nit moglich) 


Bibme, Marg. Wenn der Frilhling 
fomint..... Vreis brofh. 3 Mark. 
Verlag von F. Fontane & Co. Berlin 
1904. 

Bourget, Paul. Piydologifde Ab⸗ 
bandlungern ber acitgendffifde Schrift: 


feller. 

Dberfeyt von A. Adler. Breis 
broſch. 3 Wart, geb. 4 Wark. Berlag 
von 3. C. © Bruns, Minden i. W. 
Herjoal. Sachſ. u. Furſil. Schaumburg: 
Lippiſche Hof ⸗ Verlagsbuchhandlung. 

Srulat, Baul, Cin Paria, in autori⸗ 
fierter Nberfepung von Wilbelm Thal. 
Preis gebcitet 260 Mart, ged. 
8,50 Mart. Berlag von Friedrich Roth⸗ 
bart, Minden. 

Burghold, Julius. ther bie Ente 
widlung dec Che. Schleſ. Berlags⸗ 
anftalt von S. Sdottlaenber. 1902, 
Breslau. 

Ghrift, Jean. Mara. Bom deutſchen 
Stamm. Schaufptel in funf Alten 
von & Dean Corift. 2. Ausgabe. 
Hermann Walthers Verlagdbudhand- 
lung. Berlin 1904. 

Tanthendey, Elifabeth. Sm Schatten. 
Novelle. BWerlegt Sei Saufter und 
Locfiler, Berlin und Leipsig 1903, 

Engelhard, Helene v, Meine Starte 
undimein Schild. Gedichte. Petersburg. 


Eyſell Rilburger, GC. (frau Victor 
Bhithaen.) Dilettanten des Laiters. 
2. Auflage. Preis brofd. 3 Mart. 
Verlag Hermann Eeemann Rach⸗ 
felger. Leipzig 

Fiſcher, De mod. Wilhelm, Zung⸗ 
mutterforgen. Cine Mnleitung zur 


Pflege des gefunden Sauglings fiir 
Witter und Bflegerinnen. Preis 
fart. 1,20 Marl Shwabacherſche 
Berlaasbudbandlung. Stuttgart. 

Hadi, Dr med. Maz. Fir Mutter 
und Sind. Preto: 1,50 Wark, bei 
Mehrbeſtellung 80 Pig. Deutſcher 
Zeitſchriftenverlag. Muchen. 

Hartwich. Otto, Richard Wegner und 
dad Chrifientum, Preis geh. 2 Mart, 
ach. 3 Wart Berlag von Georg 
Digand, Leipaig 1903, 

Jean⸗Chriſt, L. Cleayar, Drama in 
fing Atten, Berliner Thcaterdibliothet 
Rr 4. Preis 20 Piy. — 12 Rreujer 
tftery, Wahrung. Berlin 1895, Berlag 
von Freund & Sedel. 


KRuylenjijerna, Abhängigkeit. Noman. 
Deut von Helene Dogt. Verlag 
von Rarl Refiner. 1902, 

Langen ſcheidt, Banl., Um Rides, 
Preis 3 Mart, Berlag von Fontane 
& Co. Berlin 1904. 

Yubowsli, Karl. Die RKunft einen 


Wann ju bekommen. Zehn RKapitel 
fir junge Madden befferer Stände. 
Preis 1.60 Mart, E. Pierjons Bers 
lay. Dresden 1904 

















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e. wohl funbierten Genoſſenſchaft u. dod 
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von A. ride. Preis broſch. 4 Mart, 
Verlag von Hermann Seemann Had 
folger. Letpsra. 

Menjh, Ella. Mul Borpofien. Roman 
aus meiner Silricher Studentenzeit. 
Qoderne Fraucnbiblicthef Nr AIX, 
Preis bro. 2 Wart. Verlag der 
Frauen⸗ Aund ſchau. Leipgig. 

Muſcmer · Niedenführ. Caſar Flaiſchlen. 
Beitrag zu einer Gelcdichte der neucren 
Literatur. Verlag Egon Fleiſchel & Co, 
Qierlin 1903. 





Originalrezept. Pitanter 
Rippejpeer. — 6 Perjonen, 
8—4 Stunden. Man jebneidet 
die dide Schwarte und etwa 
iiberfliiffiges Fett ab, aber fo, 
daß nod cine dünne Fetticdicht 
auf dent Fleiſche bleibt, reibt 
dieſes mit einer Miſchung von 
Salz und weißem Pfeffer leicht 
ein, legt es in die Pfanne, gießt 
eine Schöpflelle Waſſer, ein Glas 
leichten Weißwein und 2 Eßlöffel 
guten feinen Eſſig daran, fügt 
einige Zitronenſcheiben und ein 
Lorbeerblatt dazu und brät das 
Fleiſch im Ofen unter häufigem 
Begießen gar. Die Sauce muß 
ſehr ſorgfältig entfettet werden, 
wird dann mit etwas hochbraun 
gedünſtetem Mehl und einem 
tnappen Glas Madeira verkocht, 
mit 8 bid 10 Tropfen Maggi's 
Würze vollendet und neben dem 
Braten gereicht. v. Bq. 





Ausig aue dem 
Stellenverm ——— — 
deo Aligemeinen deutſchen 

£ehrerinuenvereins. 
Sentralleiturg: 
Seriin W. 57, Culmitrage 5 pt. 


1, Für eine böhere Urivatſchule in 
Dberfidlefien wird yum 1. Oftober 1904 
eine evanacliiche Oberlehrerin oer ala⸗ 
demiſch gebiloete Lehrerin geſucht file die 
Obderftufe. Gebalt 1800 Mart, 

2. Ailv eine ſtädtiſche Schule in ber 
Proving Poſen wird yum 1. Oftober 1904 
cine wiſſenſchaſtlich gepriifte Lebreria 
aciudt. Su unterrichten find 20 Rinber. 
Webalt 12—15300 Wart. 

3, File cin Venfienat tm Sachſen 
wird zum 16. Ceprember 1904 cine wijiens 
ſchaftlich gepriifte Lehrerin geſucht gum 
Unterricht fiir zirka 25 junge Radchen 
pon 15 bis 18 Jahren. Sehr angenehme 
Stellung. Lehrerin wird Gielegenbeit 
geboten, ſich in fremden Sprachen, beſon⸗ 
ders im Engliſchen auszubilden. F. A. E. 8. 
Gehalt nach Ubereinkunft. 

4. File cine Familienſchule in Sachſen 
wird aun 1. Oktober 1906 cine erfabrene, 
wiſſenſchaftlich gepriltte Lebrerin geiucht. 
Zu unterrichten find 12 Didoden von 
$—13 Jahren in allen Fächern, aud 
Epraden, Gehalt 1000 Mark und freie 
wWohnung. 





prach- u. Handelsinstitut fiir Damen 


von Frau Elise Brewitz, 


— BERLIN W., Potsdamer -Strasse 90, 


Mush, alé Budbhalterin, Korvefpondentin, Sekretärin, Gurcaubeamtin, Handclélehrerin. 
ierteljabrss, Halbjabrse und Qabresturje. * Wujterfontor. 
Stlb, Medaille, + Reue Kurfe: Anf. Jon, April, Juli, Ott. « Penhon im Haufe, 


Kassel, evans. Frobvel-Seminar 


(vormals im Comeniushause). 


Staatlich fonjeffionierted Seminar pur Ausbiloung von Töchtern der gebilbeten 
Srtnde (16—35 Jahre) gu Erzieherinnen in ber Familie und Leiterinnen von Kinder 
guicten, Horten und anderen Arbeitsſeldern ber Diafonie. Näberes durch bie Lciterin 
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1904 eine erfabrene, wiſſenſchaftlich 
geprilfte ebrerin geſucht. Engliſch iim 
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ſucht gum 1. Ottober 1904 cine wiſſen- a « 
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richten find cin Anabe von 8 Jahren und el a Ngs zi ac Pic en 
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Die Moreffen ver Lehrerinnen diirfen | Cer in Original-Ausschnitten 
nicht weitergegeben werden. 

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