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Full text of "Deutsche Rundschau"

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DEUTSCHE 
RUNDSCHAU 








Caba Years 





euffhde Rundſchau. 


Heraudgegeben 


bon 


Julius Rodenberg. 





Berlin, 
Verlag von Gebrüder Paetel. 





Alerandrien, Ferb. Hoffmann. — Aınfterdam, Sehffardt'ſche Buchhandlung. — Athen, Karl Wilberg. — 
Baſel, Chr. Mehrl. — Bern, Huber & Go, — Brüffel, C. Munnardt’s Hofbuchhandlung. — Budabeſt, 
Rarl D. Etolp. — Buenvs- Aires, 2. Jacobſen & Go. — Bulareft, Sotſchek & Go. — Garäcas 
(Benezuela), Alfred Rothe, — Ehriftiania, Albert Gammermeyer. — Eineinnati, Philipp PR. Theobalb. — 
GEonftantinopel, Ghr. Roth. — Dorpat, Theodor Hoppe. E. I. Karow's Univerfität3- Buchhandlung. — 
Florenz, H. Loeſcher'ß Buchhandlung. — Kopenhagen, Andbr, Fred. Hoeſt & Sohn. Wilhelm Prior’s 
Hofbuchhandlung. — Lima, E. Niemeyer & Inghirami. — London, U. Siegle. Trübner & Go. — Luzern, 
Doleſchal's Buchhandlung. — non, H. Georg. — Mailand, Ulrico Hoepli. — Mitau, Fr. Lucas, — 
Montevideo, Jacobſen & EGöberftebt. — Moslau, I. Deubner. Edmund Kunth. Alexander Lang. 
Sutthoffihe Buchhandlung (B. Poft). — Neapel, Detlen & Rocholl. Ulrico Hoepli. — New-Wort, Guſtav 
€. Stechert, E, Steiger, — Odeſſa, Emil Berndt'5 Buchhandlung. 9. Deubner. — Paris, Haar & Steinert. 
Sandoz & Fiſchbacher. F. Bieweg. — Vetersburg, Auguſt Deubner. Garl Rider H. Schmikborff’s 
Hofbuchhaudlung. — Philadelphia, GE. Schaefer & Koradi. — Pin, Ulrieo Hoepli — Porto-Alegre, Ter 
Brüggen & Go. — Nina, I. Deubner. N. Aymmel — Bio de Janeiro, E. & H. Laemmert. — Noın, 
Loeſcher & Go. — Rotterdam, van Hengel & Eeltſes. — San Francisro, I. B. Golly & Go. — Stodholm, 
Samjon & Wallin. — Tanında (Sübd-Auftralien), F. Baſedow. — Tiflis, G. Baerenftamm. - Valparaifo, 
6. Riemeyef & Inghirami. — Warſchau, E. Wende 4 Co — Wien, Wilhelm Braumüller & Sohn. Faeiy & 
Frick. — Deddo, H. Ahrens & Go. — Züri, 6. M. Ebell. 


Alao 
Nas 
Vu 


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KR. 


Dnhalts-Derzeihniß 


zum 


elften Bande (April — Juni 1877). 
nn Eeite 
Emanuel &eibel, Echtes Gold wird Elar im Feuer Ein 





&ottfried Meller üriher Novellen. V. (Schluß) Der 
Landvogt von Greifenfee. II. . . . . i 
E. Seller, Römifche und griechiſche —— — das 


20 












ET —— de —— 56 
IV. Rud. Virchow, Zur Gejdi he Des Roden nee SER 
rina Albert . : 2 2 2 2 2.2084 
$. X. von Neumann-Spallart, Die Krile in Handel und 
a DE IE 00 a a 
VI. W. Wundt, Ueber den Ausdrud der Gemüthäbe- 
wegungen 





VII. Heinrich von Brandt, Berlin vor, unter und nad dem 
Minifterium Pfuel (Juli bis October 1848). Aus ſeinen 
bisher unvderöffentlichten Dentwürdigfeiten. I. IL. . . . . 134 
IX. Eduard Hanslik, Wiener Mufikbrief . . . 2.20... .156 
dh ur frage ber Differenzialtarife. . ». . . .. 161 


%l. C. Sriedländer, Blümner’3 Ausgabe von Leſſing's 
RE 0 a a ee ae en au 





XII. Ein Deutfh-Ameriltaner über die Politik ala Wiſſen— 





i DEE EEE TEE 175 

XIV. —— Notizen ee 

= giterarifche Neuigleiten . . a ee ce a 5 

Rudolph Lindau, Gordon Baldwin. Novelle. . . . . 181 

— W. Lang, Aus Griehenland. Argos und Mykenä214 
XVII. $£. von Aleerheimb, Der amerilanifche Bürgerfrieg. VI. 


Schluß.) . i Bra a nn 

XIX. £. Urlihs Siwas von Sen i j 

XX. ***, Michael Balunin und Bi Nadicalismus, l. . 293 

XXI. Karl Srenzel, Die Theater EEE 

XXL. Hermann Arigar, Die mufifalifhe Saifon . . . . . 315 
XXI. 5. von Spbel, Die Steuerverhältnifje im preußif 

a ee a 

(frortfegung umflehend.) 










IV Deutiche Runbdichau. 


- Geite 
XXIV. Sriedrich Arc fig, David Friedrich Strauß’ gejfammelte 


335 





XXV. Otto Koquette, Gei ergrüße. u dem poetifchen Gedenkbu 








von David Friedrih Strauß.) . .. . 841 
XXVI. Sriedrid Rapp, Rahel’s Städte: und — — aus 
MED HE ie a er ie si 
XXVIL Literarifche Notiaen . » 2 nn 
XXVII. Eduard Lasker, Brief an den Heraudgeber . . . . 852 


XXIX. Rudo Findau, Gordon Baldwin. Novelle II. (Schluß.) 353 

XXX. Iohann Wilhelm Schirmer, Düffeldorfer Lehrjahre. Ein 

autobiographiiches Fragment. Herausgegeben und mit Vorwort 

bon Alfred Woltmann. 1. BETEN DEZE 

XXXI Adolf Ebert, Die literarifche Bewegung zur Zeit Karl's 
des Großen . 


XXXI. Paul Güßſeldt, In den Eiß- und Söncreregionen der 


XXXIN, SGeinrid von Grandt, Berlin — — un — — 
Minifterium Pfuel (Juli bis October 1848). Aus feinen 


bisher unveröffentlichten Denkwürdigkeiten. III. IV. . . .„ 428 
XXXIV. Stanz von Holbendorff, Die äſthetiſche Seite der Rechts— 












441 





XXXV. W. Spitta, Der — — — — .. 457 
XXXVI. Guſtav Meyer, Ueber die lingui e Stellun. des 


modernen Griechi EEE DEE TEE 
XXXVI $ Mar Müller, Charles Pin 3le ’ EEEITE 
XXXVII Salvatore Sarina, Scheidung. Aus dem talienifchen von 
Eruſt Dohm 495 


ZI. ***, Swan Turgenjew’ F neuer — ... 504 
XL. Heneid) Homberger, William Dean Howelts .. ..510 
XLI. Wilhelm Scherer, Deutihe Nymphen und — .. 514 


XLU. £. Heinrih Seffken, Zur inneren Geſchichte Frankreichs 516 
XLII. Literariſche Rotizäaee... 2820 










XLIV. Literariſche Neuigkeiten 


Echtes Hold wird klar im Steuer. 


——— a 


Ein Sprihwort 
von 
Emannel Geibel. 
(Aufführungsrecht vorbehalten.) 


— — — 


Perſonen: 
Prinz Lothar, Oberſt eines Ulanenregiments. 
Helene, Schauſpielerin. 
Anna, deren Schweſter. 
Ein Jäger des Prinzen. 
Die Handlung ſpielt in einer deutſchen Reſidenz im Herbſte des Jahres 1871. 


— — — 


Helenens Wohnung. Geſchmackvoll eingerichtetes Zimmer mit Sopha, Lehnſeſſeln, zierlichem 
Schreibtiſch u. ſ. w. Auf dem Kamin eine Uhr zwiſchen Blumenvaſen. Im Hintergrunde eine 
offene Flügelthür, die in den Garten führt. Der Haupteingang liegt rechts, Lint3 gegenüber 
ebenjalla eine Thür. 


— — — 


Erſter Auftritt. 
Helene, ſpäter Anna. 


Helene 

(die Rolle der Iphigenie ſtudirend). 
„Leb' wohl! O wende dich zu uns und gib 
Ein holdes Wort des Abſchieds mir zurück! 
Dann ſchwellt der Wind die Segel janfter an, 
Und Thränen fließen lindernder vom Auge 
Des Scheidenden. Leb’ wohl! Und reiche mir 
Zum Pfand der alten Freundſchaft deine Rechte! — 
Lebt wohl!" — 


Sch dent’, es geht. Und was nod) fehlt, 
Das gibt im Feuer des Zuſammenſpiels 
Mir wol de3 Augenblid3 Erregung ein. — 
Wär's nur erft Zeit! — Vier ganze Stunden nod), 
Bis ſich der Vorhang hebt. Am beften thät’ ich, 
An Andres jet zu denken. Könnt’ ichs nur! 
Deutſche Rundſchau. III, 7. 1 


Deutihe Rundſchau. 


Doch Furcht und Hoffnung Lafjen mich nicht ruhn; 
’3 ift wie ein Fieber faſt — Wie prächtig dort 
Am hohen Lindengang die Aftern blühn! 

Ich geh’ und pflücd’ mir eine Schale voll — 


(nimmt eine Schale vom Kamin und wendet fich gegen die Flügelthür.) 


Heraus in eure Schatten, rege MWipfel 

Des alten heil’gen — Nein! Genug! Genug! 

Das ew'ge Wiederholen ift vom Uebel; 

Ich bin ja ſicher. — Horch, da kommt zum Glück 

Die Schweſter, ſo verplaudern wir die Zeit. 
(Anna tritt auf, rechts.) 

Willkommen, Anna! Aus der Stadt zurück? 

Mit meiner Rolle ward ich eben fertig. 

Trafft du den Bruder? 


Anna. 
Ya, vergnügt und fleißig 
Wie ſtets. Sein ſchönes Bild, der ſchlafende 
Endymion, rückt munter fort. 


Helene. 
Und ſonſt 
Was gibt es Neues? 
Anna. 
Wenig Gutes heut. 
Nur ein Gerücht vom Hof, das ich dir gern 
Verſchwiege, wär's nicht ſchon in Aller Mund. 


Helene. 
Dom Hof? Und das erregt dich jo? So ſprich, 
Mas ift e8 denn? 

Anna. 
Man fagt, daß Prinz Lothar, 

Den wir jo gut j hen wie verlobt geglaubt 
Mit Clara Holmfeld, plögli andern Sinns 
Geworden ſei und, ftatt das letzte Wort 
Zu fprechen, fühl von ihr zurüd ſich ziehe. 
Seit vierzehn Tagen ließ er im Hotel 
Der Gräfin Mutter ſich nicht jehn. 


Helene. 
Mein Gott, 
Was ſagſt du da? Die arme, arme Gräfin! 
Seit lehtem Winter weiß ich ja, wie jehr, 
Wie innig fie ihn liebt. Das wär’ ein Schlag, 


Echtes Gold wird flar im Feuer. 


Der bis in's Herz fie träfe. Doc wie kann 
Er von ihr Lafjen, die das reizendite 
Geihöpf auf Erden ift? Ich faß' es kaum. 
Was ift denn vorgefallen ? 


Anna. 
Und du haft 
Don Allem feine Ahnung? 


Helene. 
Ich? Gewiß nicht. 
Anna. 
Man jagt noch mehr. 
Helene. 
Was jagt man? 
Anna. 
Iſt dir nichts, 
Gar nichts bewußt, was im Gemüt des Prinzen 
Die jähe Wandlung dir erklären könnte? 
(da Helene jchweigt, mit Bedeutung.) 
Du ſahſt ihn doch jo viel in letzter Zeit. 


Helene. 
Mein Gott, wie jprihft du denn? Du denkt doch nit — 
Thorbeit! 

Anna. 


Daß du ihm nicht mißfielft, ift ficher. 


Helene. 
Nun ja, auch Er hat mir den Hof gemadit, 
Wie Hundert Andre. Und ich leugn’ e3 nicht: 
Ich jah ihn gerne, doppelt, weil er ftet3 
Sich in den Schranken feinfter Sitte hielt. 
Er ift ein Dann von Geift, wie jollt’ ich mid 
Nicht einer Huld'gung freu’n, von der ich wußte, 
Sie galt nicht mir, fie galt der Künftlerin. 


Anna. 
Die Welt jpricht anders, Kind. 


Helene. 
Was ſpricht fie nicht! 


Anna. 


Ich fürchte, diesmal traf ſie's. 


Deutihe Rundſchau. 


Helene. 

Wär’ e8 möglich? 
Er könnt’ um meinetwillen — Nein, nein, nein! 
Wie magft du nur jo furchtbar mich erſchrecken! 
Es kann, e8 darf nicht fein. DO, welden Sturm 
Haft du in meinem Herzen aufgerührt! 
Mir Ihmwindeln die Gedanken. Güt’ger Himmel, 
Wie fafl’ ih mih! Und in dem Zuftand Toll 
Ich auf die Bühne, ſoll die Priefterin, 
Die hohe, ruhig Klare Jungfrau jpielen! 
Graufame, mußteft du denn unbedadht, 
Du kennſt mich ja, in diefem Augenblick 
Den Feuerbrand in meine Seele werfen, 
Der feine Raft mir gönnt? 


Anna. 
Vergib, ich jagte 
Nur, was du wiſſen mußteft, eh's vielleicht 
Auf anderm Weg zu deinen Ohren kam. 
Nicht vor den Menſchen durfte jold ein Wort 
Dich überrafhen. Doc ich weiß, wie ftarf 
Du bift, wie raſch und Fräftig dein Gemüth 
Aus beftigfter Erſchütterung fich ſtets 
Zur Klarheit wieder durchringt. Kämpf' auch dies 
Im Stillen mit dir aus, und laß mich did 
Gefaßt und ruhig finden, wenn ich dir 
Gewand und Schleier für den Abend bringe. 
(Geht bis zur Thüre links, und fehrt noch einmal zurüd.) 
Helene, ſei du jelber! 


weiter Auftritt. 


Helene (allein). 
Mär’ es wahr? 

Er liebte mih? Er dächt' im Ernfte dran, 
Si frei zu machen, nur daß ich ihm ganz 
Gehören könnte? — Meine Seele bebt 
Dei dem Gedanken. Nein, hinweg, hinweg, 
Verführeriiche Bilder! Kann mich denn 
Ein finnlos Stadtgeſchwätz jo ganz verwirren? 
Kein leidenſchaftlich Wort entfiel ihm je, 
Nicht eins — Und jeine Braut — o, wer fie fennt, 
Dies ächtefte Juwel der Weiblichkeit, 
Der liebt fie, muß fie lieben. Nein, es iſt 
Unmöglid. 


Echtes Gold wird klar im Feuer. 


Aber wenn's nun dennoch wäre? 
Was dann! D güt’ger Himmel, fol ich dann 
Das neidenstwerthe 2003, das ungefucht 
Gleichwie aus Wolken in den Schoß mir fiel, 
Undankbar von mir ftoßen? Bin ich nicht, 
Wo's um das ganze Glück des Lebens geht, 
Mir jelbft die Nächſte? — — 


Uber war ich denn 
Unglücklich, ala ich nie zu hoffen wagte? 
Floß nit in wunſchlos ftiller Heiterkeit 
Mir Tag um Tag hin? Freilich, wenn ex kam, 
Da warb mir frei und leicht, und was ich Beſtes 
In meiner Seele trug, das drängte froh 
Sich auf die Lippen mir — dod war er drum 
Mein Eins und Alles? Hab’ ich nicht die Kunft, 
Für die ich leb' und die ich nimmermehr 
Zu miffen wüßte? — Sie ertrüg’ es nie, 
Ein Bruch mit ihm würd’ auch ihr Leben brechen, 
Zu tief hab’ ic in ihr Gemüth geichaut. 
Mir aber wäre feine Liebe nur 
Ein ſchöner Sonnenglanz — 


Und do! Und doch! 
D Gott, wie ſchwer ift der Verzicht. Warum 
Tritt denn dies Glüd, da3 unerreihbar ich 
Gewähnt, jo nah, jo blendend vor mich hin, 
Wenn ich entjagen jol! — O, wär's fein Traum: 
Ich fürcht', ich könnt' es nicht. 


Dritter Auftritt. 
Helene, Anna, ſpäter ein Jäger. 


Anna (aſch eintretend, links). 
Um Gotteswillen! 

Des Prinzen Wagen kommt den Platz herauf, 
Er will zu dir. Nimm ihn nicht an! Nicht jetzt! 
Du glühft und zitterft ja — 

Helene. 

Nein, nein! Es muß 

Entjichieden jein. Zur Ruhe muß ich kommen, 
Und Ruhe find’ ich nicht, bis ich ihn jah. 

Anna. 
Bedenk' Helene — 


ot 


Deutiche Rundſchau. 


Helene. 


Wär's denn morgen anders? 
Ein Tag nur mehr der ungewiſſen Qual, 
Nein, laß mich; die Gewißheit wird den rechten 
Entihluß in's Herz mir geben. 


Jäger (von rechts, anmeldend). 
Seine Hoheit 
Der Prinz Lothar. 


Helene. 
Ich laſſ' ihn bitten. 
(Jäger ab.) 
Anna. 
Darf 


Ich ruhig dich verlaffen ? 


Helene. 
Geh nur, geh! 
Und glaub’, ich werde handeln, wie ich muß. 
(Anna ab, lint3.) 


Vierter Auftritt. 
Helene. Prinz Lothar (xehts). 


Helene 


Willkommen, Prinz! Sie überraſchen uns 

Zu ungewohnter Stunde. Darf ich fragen, 
Welch' günft’ger Stern zur Zeit der fürftlichen 
Hoftafel Sie in unfre Hütte führt? 


Prinz. 
Zunädft die Dankbarkeit! Ich konnt' es länger 
Mir nicht verjagen, Ihnen auszufprechen, 
Wie tief, wie bis in’3 Herz Corbelia 
Vorgeftern mich entzüdt. 


Helene. 
Gefiel ih Ihnen? 
Das macht mich ftolz und glücklich. Freilich that 
Der große Dichter wol das Befte, Prinz; 
Do thut mir's wohl, aus Ihrem Mund zu hören, 
Daß ich das edle Bild, da3 er entwarf, 
Nicht ganz verfehlt. 


Echtes Gold wird klar im Feuer. 


Prinz. 

Der allgemeine Beifall 
Sagt’ Ihnen mehr. O, es muß köſtlich jein, 
Am Dichterwort den Schaf der eignen Bruft 
Wie durchgeſchmolz'nes Gold hervorzuftrömen 
Und im Bewußtſein des Gelingen3 dann, 
Umwogt vom Jubel der Bewunderung, 
Als Aller Liebling ſtolz ſich zu empfinden, 
Als Fürftin, der bezwungen jedes Herz 
Entgegenſchlägt. 

Helene. 
Dies Glück, mein gnäd'ger Prinz, 

Iſt nicht ſo übergroß. Zwar leugn' ich's nicht, 
Der laute Beifall freut mich und ich könnt' 
Ihn kaum entbehren; weckt er doch und ſteigert 
Die Kraft in mir, jo wie ein günſt'ger Hauch 
Des leichten Fahrzeugs Segel ſchwellt und treibt. 
Allein das Weit’re trifft nicht zu. Ich kenne 
Nur allzugut den Werth der Huldigungen, 
Die man mir jonft wol zollt, und öfters ſchon 
Befiel mic) ein Gefühl der Scham dabei. 
Nein, ſei'n wir offen, Prinz. Was ift e8 denn 
Was an und Armen, die wir und dem Dienft 
Melpomene’3 geweiht, dem großen Schwarm, 
Zumal der Männerwelt jo jehr gefällt? 
Da3 Herz etwa, da Keiner kennt? Der Geift, 
Den auf zwei Stunden und der Dichter borgt, 
Und der, jobald der Vorhang niederraufcht, 
Vielleicht verflog? Gewiß nit. Doc die Kunft, 
Das Teuer der Begeift'rung? — Ad, ich hab’ 
Es einft geglaubt und will es wieder glauben, 
Sobald ich mit den Damen ded Ballet 
Der Menge Gunft nicht mehr zu theilen babe. 
Nein, was jie anzieht, ift der Zauberkreis 
Bon Glanz und Duft, der jchillernd uns umgibt, 
Die Doppelwelt von Wirklichkeit und Schein, 
Das find die Reize, die die Schminfe leiht, 
Die freie, Fremde Tracht, die unfern Wuchs 
Verhüllt und zeigt, das reichgelocdte Haar, 
Das oft jo falſch ift, wie die Edelfteine 
An unjerm Königsſchmuck, das find ſogar, 
Ya, laden Sie, die zierlichen Sandalen, 
Nach denen man, ich weiß es nur zu wohl, 
Die großen Gläfer glei Geſchützen richtet, 
Kurz, Alles, was die Sinne reizt und täuſcht. 


Deutſche Rundſchau. 


Prinz. 
Wie ungerecht Sie ſind! 


Helene. 

Ich rede von 
Der Mehrzahl, Prinz. Und freilich ſtünd' es ſchlimm 
Um uns und unjre Runft, wenn Alle jo 
Gejonnen wären. Wer vermödhte dann 
Mit freud’gen Herzen nad) dem Kranze nod) 
Emporzuftreben? Nein, ih weiß zum Glüd: 
Ein kleines Häuflein gibt's von Auserwählten, 
Für das wir unjern Ernſt und Eifer: nicht 
Umſonſt verjchwenden, das im Schaujpiel noch 
Ein leidenſchaftlich Schickſal miterleben 
Und aus dem Borne dev Erjhütterung 
Verjüngte Kraft des Lebens trinken will. 
Die ſind's, für die wir jpielen,; Wen’ge nur, 
Allein ihr echtempfund’ner Antheil hält 
Uns ſchadlos für den Unverftand der Maſſe. 


Prinz. 
Zu diefen Wen’gen, hoff ich, zählen Sie 
Auch mich, Helene. 
Helene. 
Sicherlich. 


Prinz. 

Und glauben, 
Daß das kein eitler Sinnenrauſch, was mich 
Ergreift, wenn ich bewundernd Ihrer Kunſt, 
Dem reinen Abbild Ihres Weſens, lauſche. 
Nein, keine Wallung des erregten Bluts 
Trübt dies Gefühl. Ich ſchaue nur und bin 
Beglückt im Schauen. Was als dämmernd Bild 
Unklar mir vorgeſchwebt, was nur im Wort 
Der Genius ſchuf, das tritt, zur lauterſten 
Geſtalt geworden, mir durch Sie entgegen 
Und ſchließt die Tiefen mir des Lebens auf. 
Der Geiſt der Poeſie hat wiederum 
Die Prieſterin, die ſeiner werth, gefunden 
Und reißt, durch Ihren Mund geoffenbart, 
Unwiderſtehlich mich dahin. 


Helene. 
Sie ſchwärmen 
Und ſchätzen meinen Funken von Talent 
Viel, viel zu hoch. Warum mich ſo beſchämen? 


Echtes Gold wird klar im Feuer. 9 


Sie wiſſen doch, der Vorwurf, den vorhin 

Ich auszuſprechen wagte, traf nicht Sie. 
Nein, Ihnen könnt' ein andrer Irrthum nur 
Gefährlich werden, Prinz, von dem man ſagt, 
Daß grade die Begeiſt' ae 

Am eh’ften ihm verfallen. 


Prinz. 


Helene. 
Daß fie die Rolle, die ihr innerftes 
Gemüth erſchüttert, mit der Künftlerin, 
Die dargeftellte Leidenfhaft mit dem, 
Was jene jelbft im Bufen trägt, verwechſeln 
Und, von der Dichtung adelnder Gewalt 
Getäuſcht, aus ihr ein Ideal ſich Ichaffen, 
Ein glänzend Bild, das leider nur zu oft 
Mit feinem Zug der Wirklichkeit entipricht. 


Prinz. 
Das jagen Sie mir, deren ganzes Spiel 
Die vollfte Wahrheit ift? Ich kann's nicht glauben; 
Nein, Sie verleumden fich und Ihre Kunft. 
Ein Trug nur wär’ e8 meiner Phantajie, 
Wenn in dem reinen Bild ich, das Sie mir 
Don Desdemonen, Julien, Imogen 
Vor Augen zaubern, Ihres eigenften 
Gefühles Pulsichlag zu vernehmen glaube 
Und in Cordeliens rührender Geftalt 
Entzüdt Sie jelbjt erfenne? — Nimmermehr! 
Nein, ſolcher Seelenhauch lernt ſich nicht an. 
Sie fühlen, was Sie jpielen. 


Helene. 


Und der wäre? 


Ja, ih fühl's. 
Und mehr, ich leb' es. Aber laſſen Sie 
Mich, wie die Tochter Lear's, wahrhaftig fein. 
Ich leb' e8 nur im Augenblick. DBerklagen 
Sie drum die Bretter, wo das höchſte Schaffen 
Zuleßt ein wundervoll Empfangen bleibt. 
Die Fülle naht und ftrömt dahin im Nu; 
Sie feftzuhalten weiß ih nit. Der Sturm 
Der Leidenihaft, in dem ich wonnevoll, 
Mir jelbft entriffen, weltvergefjen ſchwebe, 
Iſt nur der Hauch, der aus des Bläſers Mund 
Das Erz des Horns erſchüttert, daß es tönt. 


Deutiche Runbichau. 


Sobald er nachläßt, bin ich wiederum 
Ein ftumm Metall. Mit des Gewandes Schmuck, 
Mit dem Kothurn, der mich getragen, fällt 
Die priefterliche Hoheit von mir ab, 
Und nichts bleibt übrig, al3 ein großes Kind, 
Das Hunger hat und dem ein ſchmackhaft Mahl, 
Ein Kelch mit Schaum, von Schweiterhand kredenzt, 
Willkomm'ner däucht, als alle Poefie. 
Ich wollte nur, Sie hätten mid) am Abend, 
Da ih Cordelien geipielt, gejehn. 
Sp ausgelaſſen luſtig war ich nie. 
Prinz. 
So kehren Sie den Sat des Dichters um. 
Die Kunft ift Ihnen ernft, das Leben heiter. 
Doch wird das ſtets jo bleiben? Ueberfiel 
Bei ſolchem jähen Wechjel Sie noch nie 
Ein bang Gefühl von Heimweh, ein Verlangen 
Nach ftill begrenztem Glüd? 


Helene. 
Mein Prinz, e8 gehn 
In jedem Menjchendafein Licht und Schatten 
Wol Hand in Hand, und auch das meine blieb 
Nicht ohne Wunſch. Doc darf ich redlich jagen: 
Was ich erjehnt, lag ftet3 in meiner Welt. 
Die Kunft, die ich erwählt, ich geb’ es zu, 
Weiß nicht? von Raft, und manchen Seufzer hat 
Sie mir erpreßt. Dod nimmer könnt' ich drum 
Ihr treulos werden, nimmer jenen Schat 
Von reinen Freuden, den verſchwend'riſch fie 
Mir zuftrömt, um ein ander Loos vertaufchen — 
Wo fänd' ich’3 auch! 
Prinz. 
Nur Eine Frage noch, 
Helene, die Ahr hoher Sinn dem ernit 
Theilmehmenden verzeihen mag — Sie haben 
Bis heute nie geliebt? 


Helene. 
Wenn Lieben heißt 
Sp viel al3 Nichtentbehren können, nie. 


Prinz. 
Und trät’ ein Mann nun, dem von Herzen Sie 
Vertrauen fönnten, vor Sie hin und böte 
In treuer Neigung Yhnen Herz und Hand? 


Echtes Gold wird flar im Feuer. 


Helene. 
Luftſchlöſſer, Prinz! 
Prinz. 
Und wenn fie Wahrheit würden? 
O xeden Sie, Helene! Wenn ein Freund, 
Der Sie verfteht und liebt, fein Loos auf immer 
An Ihres Enüpfen, Alles, was er hat 
Und ift, beglüct mit Ihnen theilen möchte? 
Was dürft’ er hoffen? — Reden Sie! 
elene. 
v Mein Prinz, 
Wie Jol ih — 
Prinz. 
Ich beſchwöre Sie. 
Helene. 
Nun denn! 
Ich würd' ihm dankbar ſein mein Leben lang, 
Aus tiefſter Seele dankbar — 
rinz. 
— O Helene! 
Helene. 
Doch ſprechen würd' ich: Legen Sie dies Glück 
In andre Hände, die es mehr verdienen 
Und beſſer würd'gen. Mein Zigeunerblut 
Erträgt die Feſſel nicht, und wäre ſie 
Von Gold und wäre ſie von Roſen nur. 


Prinz. 
Das kann Ihr Ernſt nicht ſein. 


Helene. 
Er iſt's; ich kenne 

Mich ſelbſt und weiß, die eigenſte Natur 
Verleugnet ſtraflos Keiner. Setzen Sie 
Den Meerfiſch, der im Sturm des Salzgewogs 
Vergnügt dahinfpielt, in den prächtigſten 
Süßwaſſerteich, was wird fein Schickſal jein? 
So würd’ aud) ih, aus meinem Element 
Entrüct, verfümmern, Niemanden zum Glüd 
Und glücklos jelber. Laſſen Sie mich drin, 
So lang’ es mid noch trägt. 

Prinz. 

Und dann, Helene? — 

Gedachten Sie an Ihre Zukunft nie? 


12 


Deutſche Rundichau, 


Helene. 


Auch dafür ift geforgt. Zwar weiß ich kaum, 
Wie ich dereinft ein Leben ohne Kunſt 

Ertragen fol — doch darben werd’ ich nicht, 
Und au nicht einfam jein. Die treue Schweiter, 
Die jet mein Haus bejorgt und für mich jpart, 
Berläßt mich nie und unfer Kleeblatt füllt 

Mein Zwillingsbruder. Ach, Sie glauben nicht, 
Wie lieb, wie gut, wie ganz mein Stolz er ift. 
Kaum Hat er ausgedient und ſchon erwarb 

Ihm fein Talent ala Maler Rüf und Gönner. 
Erft jüngft gewann ein Bild von ihm den Preis; 
Gewiß, Sie hörten ſchon von ihm? — 


Prinz (in Gedanken). 
Don wen? 


Helene. 


Mein Prinz, Sie find zerftreut. Was mußt’ ih auch 
Bon Dingen plaudern, die jo ganz entfernt 
Don Ihrem Kreife liegen? Freilich meint’ ich, 
Das ſei fiir Jeden, was jo menſchlich ift. 


Prinz. 
D, Sie beihämen mid und nennen mir 
Zugleich den Mangel, d’ran mein Leben frantt. 
Das iſt's ja, wa3 jo tief nad) unverfälſchtem 
Gefühl mid ſchmachten läßt, daß nie, faft nie 
In jenem Kreis, den Sie den meinen heißen, 
Die reine Menichlichkeit zu Worte fommt. 
Vor Zeiten merkt’ ich’3 faum. Doch jebt, nachdem 
Der große Krieg mit feinem Glüd und Elend 
Die taube Rinde mir vom Herzen ſchlug 
Und Et und Unecht mich erkennen lehrte, 
Seht geht in jener Welt des ew'gen Scheins, 
In der ih atmen fol, die Luft mir aus. 
Form ift dort Alles, Sitte; vorgefchrieben 
ft jedes Lächeln, jedes Wort bewacht. 
Die Grüße, ja die Schritte find gezählt. 
Das Auge Jelbft, des Herzens Bote font, 
Magt nicht zu jprechen, weil ein Blick der Neigung 
Auffallen könnte. Wer vermöchte dort, 
Wo alles Weſen unterm Kleid erftict, 
Un Liebe noch, an Leidenschaft zu glauben! 


Echtes Gold wird Kar im Feuer. 


(bitter.) 
Da ſucht man draußen denn ein Glüd und findet 
Die Thür verſchloſſen. — Doch ich halte Sie 
Zu lang’ ſchon auf — 
(bricht auf.) 


Helene. 

Nein, geh'n Sie jo nicht, Prinz, 
Nicht jo verftimmt! 

Prinz. 

Wie ſoll ich Heiter jein 

Im Augenblide, da mein höchſter Wunjch 
Mir fehlſchlug und ich dran verzweifeln muß, 
Jemals den Schatz, den ich gejucht, zu Heben? 


Helene. 
Sie ſuchten ihn vielleicht am falſchen Ort, 
Und an der Stätte, wo er ſchon für Sie 
Bereit lag, gruben Sie nicht tief genug — 
Mer weiß! 
Prinz. 
Was meinen Sie? 
Helene. 
Ich habe nie 
Hofluft geathmet, nie den Formelzwang 
Der großen Welt gefpürt. Doc ahn’ ich wol, 
Wie ſchwer, wie jelten dort ein tief Gefühl 
Sich offenbaren mag. Doch fehlt es drum, 
Weil's unentichleiert bleibt? Sieht ſtolze Scham 
Nicht Leicht der Kälte glei? Und hüllt fich nicht 
Die Furt, zu viel zu jagen, oft in Schweigen? 
Nein, Sie verklagen jene Höh’n, auf die 
Das Schickſal Sie geftellt, mit Unrecht, Prinz, 
Wenn Sie de echten Lebens baar fie nennen. 
Wie mande ſchon, die dort als Sternbild glänzt, 
Fand ich, wenn fie ihr Hoffleid abgelegt, 
Als echte Gönnerin der Kunft, ala edle 
Beſchütz'rin mühvoll ringenden Talents, 
Al Tröfterin verfhämter Armuth wieder! 


Prinz. 
Jawohl, die Welt erfährt’3, und es ift füß, 
Si rühmen laffen! Solcher Edelmuth 
Täuſcht, wie das Trauerkleid, bei dem die Schöne 
Nur denkt, wie gut die ſchwarze Tracht ihr fteht. 


14 


Deutiche Rundſchau. 


Man gibt, weil man erkennt: Geburt verpflichtet, 
Man trodnet Thränen, wie man Blumen pflüct, 
Um fich zu ſchmücken. O, vertheid’gen Sie 

Nicht diefe Region des falſchen Prunks, 

Wo ew'ge Kälte herrſcht! Zur Kirche gehn fie, 
Weil Fromm fein Mode ward, und jchließen Ehen, 
Weil Sereniffimus es wünſcht. Das Herz 

Hat nichts damit zu jchaffen. 


Helene. 
Prinz, Sie follten 
So hart nicht reden, jelbft im Unmuth nicht; 
Gerade Sie am wenigften. Ich habe 
Beweile — 
Prinz. 
Meines Irrthums? 
Helene. 
Ya, mein Prinz. 
Prinz. 
Sie machen mich begierig — 
Helene. 
In der That? 
Nun wohl, jo laſſen Sie ein Beijpiel ſich 
Erzählen, das ich ſelbſt erlebt und das 
Den ſchönen Glauben mir, den ich verfechte, 
Zur freudigften Gewißheit ſchuf. Ich will 
Dich kurz zu faſſen ſuchen. Wollen Sie 
Ein ruhig Ohr mir Schenken? 


Prinz. 
Reden Sie! 
Nur allzugern ja würd’ ich meine Zweifel 
Dur Sie zerftreut ſehn. 
Helene. 
Vor'gen Winter wars. 
Sie ftanden damals bei dem Heer in Frankreich, 
Das um Paris die Eijenfeffel jchlug. 
D, welche Zeit war das für uns, voll Angſt 
Und Hoffnung, wußte Jede doch im Feld 
Den Sohn, den Bruder, den Geliebten ſtündlich 
Don tödtlich drohender Gefahr umringt. 
Ach, alle unſre Wünſche waren dort! 
Hier aber regten taujend Hände Fich, 
Den armen Opfern, den Verwundeten 
Erquickung, Heilung, Linderung zu Ichaffen. 


Echtes Gold wird Har im Feuer. 15 


An Schaaren zu den Lazarethen ftrömten 

Die Edelften der Frau'n und walteten, 

Bon feines Elends Graus zurückgeſchreckt, 
Der ſchönſten Pflicht dev Weiblichkeit, da galt 
Kein Name mehr, fein Standesunterjchied. 
Mer menſchlich fühlte, kam, wer fich geichickt 
Zum Helfen zeigte, fand von jelbft den Plaß, 
Und in einmüthiger Begeifterung, 

Die Ordnung ſchuf und Unterordnung lehrte, 
Gedieh das große Liebeswerk zum Heil. 


Prinz. 
Ich weiß, ich weiß, Sie ſelbſt — 


Helene. 

Auch ich bezwang 
Den — des Herzens nicht und in die Reihe 
Der Pflegerinnen trat ich. Ach, ich habe 
Dort Schreckliches geſehn und aller Krieg 
Ward mir ſeitdem ein Gräu'l; doch ſüß auch war's, 
Wenn aus dem Aug' uns der erſchöpften Dulder 
Ein Blick des Danks, ein Hoffnungslächeln traf. 
Das war der Preis, um den wir ſchweſterlich 
Wetteiferten, und freudig darf ich's ſagen, 
Wir alle thaten unſre Pflicht — 


Prinz. 
Gewiß, 
Am meiſten Sie. 


Helene. 


Nicht ich, mein Prinz; doch Eine 
That mehr, als Alle — ach, ein hold Geſchöpf, 
So ſanft und doch ſo ſtark zugleich, wie Gott 
Kein zweites ſchuf. Raſtlos bei Tag und Nacht 
Umſchwebte ſie, ein lichtes Engelsbild, 
Die Lagerſtätten, dem Verzagenden 
Hier Troſt einſprechend, dort mit leiſer Hand 
Dem Wunden dienſtbar, dort dem Fiebernden 
Die ſaft'ge Frucht, den kühlen Becher reichend. 
Sobald ſie eintrat, war's, als ging' ein Hauch 
Des Friedens durch den Saal, die düſtern Stirnen 
Erhellten ſich, und wo ſie nahte, ward 
Die Klage ſtumm, als bannte ſchon der Anblick 
Der unermüdlich Helfenden den Schmerz. 


16 


Deutſche Rundſchau. 


Prinz. 
Sie malen mir ein reizend Bild. Und wer, 
Wer war dies Ideal? 

Helene. 

Ich ſollte ſie 

Noch tiefer kennen lernen. Ein Geſchick, 
Ein günſt'ger Zufall, wenn Sie wollen, führt' 
In übermächt'ger Stunde uns zuſammen. 
Die Kunde war gekommen, daß Paris 
Gefallen, daß der unglückſel'ge Krieg 
Beendet ſei; wir aber ſaßen ſpät 
Am Abend noch im Vorſaal, miteinander 
Die Linnen ordnend für den nächſten Tag. 
Da ſcholl von allen Thürmen Glockenton, 
Und durch die Gaſſen wogte Fackelſchein 
Und Chorgeſang: Nun danket alle Gott! 
Und überwältigt vom gewalt'gen Klang 
Des nie jo tief empfund’nen Liedes brach ich 
In heiße Thränen aus und jauchzte mit, 
Daß nun die Qual vorüber und daß Gott 
Mein Fleh'n erhört und gnädig mir den Liebling, 
Den theuren Bruder mir beihirmt. Da ſchloß 
Sie plötzlich ſtürmiſch mich an ihre Bruft, 
„Die Freude,“ rief fie, „macht zu Schweftern ung, 


Was berg’ ich denn mein Glück! Auch mir, auch mir 


Kehrt der Geliebte wieder. O, wie hab’ ich 

Um ihn gejorgt, gebangt! Denn von den Kühnen 
Der kühnſte war er ftets, in jedem Kampf, 

Bei jedem ſchwerſten Wageftiid voran.“ 

Und nun, dahingeriffen vom Gefühl, 

Entwarf fie mir, in ſtolzer Wonne glühend, 

Ein Bild des Helden — feines Dichters Kunft, 
Nur grenzenloje Liebe jchildert jo. 

D wie beglücdt erſchien mir da der Mann, 

Dem ſolch' begnadet Wejen jolden Schaf 

Bon Inbrunſt, Huld und Treue ſchenkte! Prinz, 
In jener Stunde lernt’ ich, daß das Herz, 

Das Frauenherz nicht kälter im Palaft, 

Als in der Hütte jchlägt. 


Prinz. 
O ſprechen Sie 
Jetzt auch das Letzte aus! Sie blieben mir 
Den Namen ſchuldig. Eine Ahnung ſagt 
Mir, was ich kaum zu hoffen wage. Nennen 
Sie mir den Namen! 


Echtes Gold wird flar im Feuer. 


Helene. 
Gräfin Clara Holmfeld. 


Prinz. 
D Clara, Engel! — Ind? — 
(ftodt.) 


Helene. 
Der Glüdlihe? — 


Sa, Prinz, wenn Er’ nit weiß, Sie nannt’ ihn nie. 


Dod ihre Schild’rung, mein’ ich, paßt genau 
Auf Einen, der fein Glück wol faum verdient, 
MWeil er daran gezweifelt — 


Prinz. 
D mein Gott! 
Wie faſſ' ih Alles das! Sie konnte dod) 
So ftumm, fo ſcheu thun — 


Helene. 
Dod wol erft, nachdem 

Ihr Schweigen jie vertvirrt. Ein weiblich Herz 
Vol treuer Neigung bietet fi nicht an. 
Errathen will es jein und Alles nur 
Der unbeſtoch'nen Wahl der Liebe danlen. 
Was jollt’ es in der Ungewißheit Bein; 
Vielleicht im Stolz gefränkter DOnnung, thun, 
Als fih verhüllen ? 

Prinz. 

Müſſen Sie denn ftet3 
Recht haben? — O, in welch ein Labyrinth 
Hab’ ich in meiner Blindheit mid) verftrict! 
Beftürzt, erſchüttert, bis in's Innerſte 
Verworren ſteh' ich da. Um Ihre Liebe 
Zu bitten kam ich und Sie wecken mir 
Ein todtgeglaubt Gefühl im Herzen auf, 
Das, plötzlich neu belebt, gewaltſam mich, 
Was leugn' ich's? wie ein Heimweh überfällt. 
An allen meinen Wünſchen werd' ich irr' 
Und weiß nicht mehr, was thun, was laſſen — o, 
Wie löſ' ich dieſen Zwieſpalt! 


Helene. 
Schenken Sie 
Mir Ihre Freundſchaft, Prinz. Ich hab' es mir 
So oft erſehnt, mit unbefang'nem Sinn 


Deutſche Rundſchau. IN, 7. 2 


17 


13 


Deutihe Rundſchau. 


Und freier Seele durch das Reich des Schönen 
Bon treuer Hand geleitet hinzugehn; 

Dies reine Glüd, gewähren Sie es mir. 

Dem Zug des Heimwehs aber folgen Sie, 

Er führt zum Heile. 


Prinz. 
O, was maden Sie 
Aus mir, Helene? 
Helene. 
Einen frohen Wann, 
So hoff’ ich, der erkennt, wie reich er ift. 


Prinz. 
Und könnten Sie den Wantelmüth’gen wirklich 
Noc achten, der nad) einem Sterne griff, 
Und dann, des holden Irrthums inne werdend, 
Zur Roje, die an feinem Wege blüht, 
Zurüd fi wendet? Könnten Sie's? 


Helene. 
Ich will 
Die Stunde jegnen, da fein Glüd er fand, 
Mein theurer, theurer Freund! 
(Der Jäger tritt ein, rechts.) 


Jäger. 
Der Wagen, Hoheit. 


Prinz. 


Helene. 
Nein, mein gnäd’ger Prinz! ch darf 
Sie nicht mehr halten. Unſ're Bühnenordnung 
Iſt gar zu ftrenge. — Glüd auf Ihren Weg! 


Prinz. 
So leben Sie denn wohl! Und Dank — Dank — Dan! 
(Ab mit dem äger.) 


Soll warten! 


Fünfter Auftritt. 
Helene (allein... Später Anna. 


Leb’ wohl, leb’ wohl, und ahn' es nie, in welche 
Verſuchung du mic führteft. Gott jei Dank! 
Nun ift’3 vorüber und ich darf mit mir 
Zufrieden fein, weiß id) das Eine doch: 

Ich werde niemals, was ich that, bereu’n. 


Echtes Gold wird klar im jyeuer. 19 


Was wollt ihr Thränen? Ach, die Wehmuth fitt 
Mir no im Auge; doch mein Herz ift leicht, 
rei, wie der Vogel, der in’3 Sonnenlicht 
Sid aufſchwingt aus dem Käfig. — Seht erft ganz 
Gehör’ ich dir, geliebte Kunft, und will 
Dir ernft und freudig dienen, dir allein. 
(Sie madt einen Gang durch's Zimmer.) 
Heraus in eure Schatten, rege Wipfel 
Des alten heilgen dichtbelaubten Hains 
Wie in der Göttin ftilles Heiligthum 
Tret' ich noch jet — 
(Anna kommt raſch von links; fie trägt Gewand und Schleier über dem Arm, 
den Kranz in der Hanb.) 


Anna. 
Helene, Schwefterherz! 
Du haft gefiegt! Der Prinz fährt drüben dor 
Am gräflichen Hotel — 
Und du? Du haft 
Gemeint und lädhelft doch jo froh? — 


Helene. 
habe 
Zwei Glückliche gemacht. Was willft du mehr! — 
Seht auf die Bühne! Iphigenie 
ft fertig. Gib den Schleier, gib den Kranz! 
Ich darf ihn heute ohne Vorwurf tragen. - 


(Der Vorhang fällt.) 


Züricher Mopvellen. 
Don 
Gottfried Keller. 
Schluß.) 





Der Landvogt von Greifenſee. I. 


——— 


Eapitän. 

Salomon lebte fieben volle Jahre dahin, ohne ſich weiter um die Frauen— 
zimmer zu kümmern, und nur der Handwurftel, wie er die Yigura Leu nannte, 
wohnte noch in jeinem Herzen. Endlich aber gab es doch wieder eine Gefchichte. 

Aus holländiichen Kriegsdienften zurücgefehrt, haufte damals in Zürich ein 
gewifjer Gapitän Gimmel, der von feiner verjtorbenen Frau, die eine Holländerin 
gewefen, eine Tochter mit ſich führte und von einem Kleinen Vermögen, jowie 
von feiner Penfion in der Art lebte, dad er faſt Alles für ſich allein brauchte. 

Diefer Mann war ein arger Trunfenbold und Raufer, der fich bejonders 
auf feine Fechtkunſt etwas einbildete und, obgleich keineswegs mehr jung, doch 
immer mit den jungen Leuten verkehrte, lärmte und Scandal machte. Als 
Landolt einft in feine Nähe gerieth und ihm die Prahlereien des Capitäns zu— 
wider wurden, nahm er deilen Herausforderungen auf und begab ſich mit der 
Gejellihaft in das Haus Gimmel’3, wo ein fürmlicher Fechtſaal gehalten wurde. 
Dort gedadhte Landolt dem alten Raufer trot feines Lederpanzerd ein paar tüch— 
tige Rippenftöße beizubringen; denn er war jelbft ein guter Fechter und hatte 
fi ſchon als Kleiner Junge im Sclofjfe zu Wülflingen und ſpäter auf der 
Meter Kriegsſchule, jowie in Paris fleißig geübt. 

Der Saal erdröhnte denn auch bald von den Tritten und Sprüngen ber 
Fechtenden und von dem Schalle der Waffen, und Landolt jehte dem Gapitän 
allmälig jo heftig zu, daß er zu ſchnauben begann; aber jener ließ plötzlich feinen 
Degen finken und ſtarrte wie verzaubert nad) der aufgehenden Thür, durch welche 
die Tochter des Gapitäns, die Schöne Wendelgarde, mit einem Präjentirteller voll 
Liqueurgläschen bereintrat. 

Das war nun freilich eine Herrliche Erſcheinung zu nennen. Ueber Ver: 
mögen reich gekleidet, wie es jchien, die hohe Geftalt von Seide rauſchend, trat 
doch alle Pracht zurück vor der jeltenen Schönheit der Perſon. Geſicht, Hals, 


Züricher Novellen. 21 


Dände, Arme, Alles von genau derjelben weißen Hautfarbe, wie wenn ein 
pariſcher Marmor bekleidet worden wäre; dazu ein röthlich ſchimmerndes, üppiges 
Haar, von deſſen Seide jeder einzelne Faden hundertfach gewellt war; große, 
dunfelblaue Augen, jowie der Mund jchienen wie von einem fragenden Exnfte, 
ja faft von leifer Trauer zu reden, wenn * nicht gerade von geiſtigen Dingen 
herrührend. 

Als dieſe glänzende Perſon ſich — wo ſie das Gläſerbrett abſtellen 
könne, wies der Capitän, über die willkommene Unterbrechung erfreut, das Fenſter— 
gefimje dazu an. Die jungen Männer aber begrüßten fie mit derjenigen Höf- 
lichkeit, welche man einer ſolchen Schönheit unter allen Umftänden jcyuldig ift. 
Sie entfernte ih, indem fie fich verneigte, mit einem anmuthsvollen Lächeln, 
welches den Ernft ihrer Züge durchbrach; dabei warf fie rajch einen jchüchternen 
Blick auf den erftaunten Salomon, welchen fie zum erſten Mal im Haufe jah. 
Der Papa jedoch holte verſchiedene Holländiiche feine Schnäpje herbei und wußte 
mit dem Anbieten derjelben über die Fortſetzung des Waffenganges hinweg— 
zugleiten. 

Landolt dachte auch nicht mehr daran, dem Capitän Gimmel weh zu thun; 
denn der war in feinen Augen mit Einem Schlag in einen Zauberer verwandelt, 
der einen goldenen Schat bejaß und Glüd oder Unglüd aus den Händen ſchütten 
fonnte, Er machte ohne Befinnen eine Waflerfahrt mit, die diefer nach einem 
guten Weinorte vorjchlug, und jo ungewohnt ihm das unharmoniſche Gebahren 
des ältlichen Renommiften erichien, war er jet gegen ihn die Duldung und Nach— 
ſicht ſelber. 

Weſſen das Herz voll iſt, davon läuft der Mund über, und zu einer Neuig— 
feit fommt die andere. Um von der ſchönen Wendelgarde etwas ſprechen zu 
hören, brachte er von der Zeit an ihren Namen mit behender Lift, aber jo bei- 
läufig und troden als möglich, überall auf's Tapet, und zu gleicher Zeit machte 
fie, die jonft noch jo wenig befannt gewejen, jelbft von fich veden durch den 
Leichtſinn, mit welchem fie eine ziemliche Menge Schulden contrahirt haben jollte, 
jo daß der unerhörte Fall eintrat, daß ein junges Mädchen, eine Bürgerstochter, 
am Rande eines jhimpflichen Bankerottes ſchwebte; denn der Vater, hieß es, 
verweigere jegliche Bezahlung der ohne fein Wiſſen gemachten Schulden und be- 
drohe die mahnenden Gläubiger mit Gewaltthaten, die Tochter aber mit Ver— 
ftoßung. 

Die Sache ſchien ſich jo zu verhalten, daß letztere, um für die Bedürfnifje 
des Haushaltes zu jorgen, und vom Vater ohne die nöthigen Mittel gelafjen, 
zum Borgen ihre Zuflucht genommen und dann für fich jelbft diejen tröftlichen 
Ausweg zu oft und immer öfter eingejchlagen Hatte. Ihre Unerfahrenheit, 
mütterliche Verwaiſtheit und eine gewiſſe Naivetät, wie fie ſolchen Ausnahme— 
geſtalten nicht ſelten eigen ſind, waren hiebei nicht ohne Einfluß geweſen, ab— 
geſehen davon, daß ſie den prahleriſchen Vater für bedeutend wohlhabender hielt, 
als er war. 

Wie dem auch ſei — ſo war ſie jetzt in Aller Mund; die Frauen ſchlugen die 
Hände zuſammen und erklärten das jüngſte Gericht nahe, wenn ſolche Phänomene 
fich zeigen; die Männer ließen es beim Untergang des Staates bewenden; die 


29 Deutiche Rundſchau. 


—““ 


jungen Mädchen ſteckten heimlich die Köpfe zuſammen und ergingen ſich in den 
unheimlichſten Vorſtellungen von der Unglücklichen; die jungen Herren geriethen 
auf ungeordnete und ſchlechte Späße, hielten ſich aber mit erſchreckter Vorſicht 
fern vom Hauſe des Capitäns, ja von der Gaſſe, wo es lag; die angeführten 
Kaufleute und Krämer liefen hin und her und zu den Gerichten, ihre Klagen 
zu betreiben. 

Nur Salomon Landolt gedachte mit verdoppelter Leidenſchaft der in ihren 
Schulden trauernden Schönheit. Ein heißes Mitleid beſeelte und erfüllte ihn 
mit unüberwindlicher Sehnſucht, wie wenn die Sünderin ſtatt im Fegefeuer ihrer 
Noth in einem blühenden Roſengarten ſäße, der mit goldenem Gitter verſchloſſen 
wäre. Er vermochte dem Drange, ſie zu ſehen und ihr zu helfen, nicht länger 
zu widerſtehen, und als er eines Abends den Capitän in einem Wirthshauſe 
feſt vor Anker ſah, ging er raſch entſchloſſen hin und zog am Hauſe der Wendel— 
garde kräftig die Glocke an. Der Magd, welche aus dem Fenſter guckte und 
nach ſeinem Begehr fragte, erwiderte er barſch, es ſei Jemand vom Stadtgerichte 
da, der mit dem Fräulein zu ſprechen habe, und er wählte dieſe Einführung, 
um damit jedes unnütze Gerede und anderweitiges Aufſehen abzuſchneiden. 
Freilich erſchreckte er die Aermſte nicht wenig damit; denn ſie trat ihm ganz 
blaß entgegen und erröthete dann eben ſo ſtark, als ſie ihn erkannte. 

In größter Verlegenheit und mit einer zitternden Stimme, der man Furcht 
und Schrecken wol anmerkte, bat ſie ihn, Platz zu nehmen; denn ſie war ſo un— 
berathen und verlaſſen, daß ſie keine Einſicht in den Gang der Geſchäfte beſaß 
und vermuthete, ſie würde jetzt in ein Gefängniß abgeführt werden. 

Kaum hatte Landolt aber Platz genommen, ſo wechſelten die Rollen, und er 
war es nun, der für ſeine Eröffnungen nur ſchwer das Wort fand, da ihn das 
ſchöne Unglück vornehmer und hochſtehender dünkte, als ein König von Frank— 
reich, der immerhin die Eidgenoſſen grands amis nennen mußte, wenn er ihnen 
das Blut abkaufte. Endlich that er ihr mit der Haltung eines Schutzſuchenden 
kund, was ihn hergeführt; das wachſende Wohlgefallen, das er an ihrem An— 
ſchauen fand, ſtärkte ſeine Lebensgeiſter dann ſo weit, daß er ihr ruhig aus— 
einanderſetzen konnte, wie er als Beiſitzender des Gerichts von ihrer verdrießlichen 
Angelegenheit Kenntniß genommen habe und nun gekommen ſei, die Dinge mit 
ihr zu berathen und ausfindig zu machen, auf welche Weiſe der Handel geſchlichtet 
werden könne. So möge ſie ihm denn vertrauensvoll den Umfang und die Natur 
ihrer eingegangenen Verpflichtungen mittheilen. 

Mit einem großen Seufzer der Erleichterung und nachdem ſie, wie jenes 
erſte Mal, einen forſchenden Blick auf ihn geworfen, eilte Wendelgarde, eine 
Schachtel herbeizuholen, in welcher fie alle Rechnungen, Mahnbriefe und Gerichts— 
acte, die bisher eingelaufen, zuſammengeſperrt hatte, ohne fie je wieder anzu- 
ſehen. Mit einem zweiten Seufzer, indem fie ſchamroth die Augen niederichlug, 
Ihüttete fie den ganzen Kram auf den Tiich, lehnte ſich auf ihrem Seffel zurüd 
und bededte da3 Geficht mit der umgekehrten leeren Schachtel, hinter welcher fie 
ſachte zu jchluchzen begann, da3 Haupt abwendend. 

Gerührt und beglüdt, daß er jo tröftlich einjchreiten könne, nahm Salomon 
ihr die Schachtel weg, faßte janft ihre Hände und bat fie, guten Muthes zu jein. 


Züricher Novellen. 23 


Dann machte ex fi) mit den Papieren zu jchaffen, und wo er einer Auskunft 
bedurfte, fragte er mit jo guter und vertrauenerwedender Laune, dab die Ant- 
wort ihr leiht wurde. Er zog nun das Skizgenbüchlein hervor, das er immer 
bei fich führte und das mit flüchtigen Studien von Pferden, Hunden, Bäumen 
und Woltengebilden angefüllt war. Dazwiſchen hinein verzeichnete er auf ein 
weiße? Blatt den Schuldenftand der quten Wendelgarde. Es handelte ſich 
meijtens um jchöne Kleider und Pubjachen, jowie um zierliche Möbelftücde; auch 
einige Näfchereien waren darumter, obgleich in beicheidenem Maße, und im Ganzen 
erreichte die Sırmme bei Weiten nicht die ungeheuerliche Größe, die im Publicum 
ſpukte. Doc betrug Alles in Allem immerhin gegen taujfend Gulden Ziricher 
Währung und war von der Schuldnerin in feiner Weije zu beichaffen. 

Landolt aber war jo bethört, daß ihm das Schuldenverzeihniß des ſchönen 
Weſens, als er das Büchlein jorgfältig in feiner Bruſttaſche verwahrte, ein jo 
ſüßer, köftlicher und anmuthiger Beſitz jchien, wie faum das Vermögensinven- 
tarium einer reihen Braut; er liebte Alles, was auf dem Regifter ftand, die 
Roben, die Spiken, die Hüte, die Federn, die Fächer und die Handſchuhe, und 
jelbft die Näſchereien erweckten nur jein Gelüfte, das reigende große Kind mit 
dergleichen jelbft einmal füttern zu dürfen. 

Als er ſich verabjchiedete und bald wieder von fich hören zu laſſen verſprach, 
ihaute fie ihn mit zweifelnden Bliden an, da ihr nicht deutlich war, wie es 
werden ſollte. Doch war fie heiter getvorden und leuchtete ihm jelbft mit traulich 
dankbarem Weſen bis unter die Hausthüre, wo fie mit einem freundlich ge— 
(ispelten „Gute Naht!” vollftändig die Oberhand gewann über den Stadtrichter. 
Sie ftieg langjam und gedankenvoll, letzteres vielleicht zum erſten Mal, die 
Treppen wieder hinauf und jchlief jedenfalls zum erſten Mal jeit geraumer Zeit 
jüß und ruhig ein, jo daß fie den polternden Gapitän nit nach Haufe 
fommen hörte. 

Deſto weniger jchlief Landolt in diefer Naht und überlegte den Handel, 
bi3 die Hähne frähten in den vielen Hühnerhöfen der Stadt. 

Da Salomon Landolt noch bei jeinen Eltern lebte und von ihnen abhing, 
fonnte er höchſtens einen Theil der Summe aufbringen, deren e8 zur Erlöfung 
Wendelgarde's bedurfte, weil jeine Einmiſchung verborgen bleiben mußte, wenn 
er jih die jpätere Verbindung mit dem Leichtfinnsphänomen nit don vorn— 
herein noch mehr erſchweren wollte. Dagegen beiaß er eine reihe Großmutter, 
deren Liebling er war und die ihm in allerhand Geldnöthen beizuftehen pflegte 
und ein Vergnügen daran fand, e8 ganz im Geheimen zu tun. Sie hatte 
dabei die Eigenheit, daß fie heftig gegen jede Verheirathung des Enkels proteftirte, 
jo oft etwa von einer ſolchen die Rede war, indem er, den fie am beiten fenne, 
dadurch nur unglüdlic werden und verfümmern würde; denn auch die Weiber, 
behauptete fie, kenne fie genugjam und wife wol, was an ihnen jei. Sie be- 
gleitete daher jedesmal ihre Handreichungen und geheimen Vorſchüſſe mit der 
vertraulichen Ermahnung, nur ja nicht an’3 Heirathen zu denken; und wenn er 
in einer Verlegenheit fi) an jie wendete, brauchte er nur eine ſolche Anſpielung 
zu machen, um des jchnellften Erfolges ficher zu jein. 

Auch jetzt nahm er jeine Zuflucht zu der wunderliden Großmutter und 


24 Deutſche Rundſchau. 


vertraute ihr mit einem verſtellten Seufzer, daß er nun doch endlich darauf 
werde denken müſſen, durch eine gute Partie, welche ſich zeige, aus der Noth 
und überhaupt in eine unabhängige Stellung zu kommen. Erſchreckt nahm ſie 
die Brille ab, durch die ſie eben in ihrem Zinsbuche geleſen hatte, und betrachtete 
den unheilvollen Enkel wie einen Verlorenen, der ſein eigenes Haus in Brand 
zu ſtecken im Begriffe ſteht. „Weißt Du, daß ich Dich enterbe, wenn Du 
heiratheſt?“ rief ſie, ſelbſt entſetzt über dieſen Gedanken; „das fehlte mir, daß 
jo ein ſcharrendes Huhn einſt über meine Kiſten und Kaſten fommt! Und Du? 
Wie willft Du denn ein Weib ertragen lernen? Wie willft Du es aushalten, 
wenn 3. B. Eine den ganzen Tag lügt? oder Eine, die über alle Welt Läftert, 
jo daß Dein ehrlicher Tiſch eine Stätte der Schmähjucht wird, oder Eine, die 
immer etwas ißt, two fie fteht und geht, und dazu Eatjcht während des Kauens ? 
wie wirft Du daftehen, wenn Du Eine haft, die in den Kaufläden maufet, oder 
die Schulden macht, wie die Gimmelin?“ 

Der Neffe unterdrüdte da3 Lachen über die legte Species, mit der es die 
Großmutter jo nahe getroffen, und er jagte möglichft ernſthaft: „Wenn e3 fo 
Ihlimm fteht mit den armen Weiblein, jo fann man fie ja umſoweniger ſich 
jelbft überlaffen und man muß fie heiraten, um zu vetten, was zu retten ift!“ 

Auf's äußerſte gebracht, rief die Feindin ihres eigenen Geſchlechtes: „Hör’ 
auf, Du Greuel! Was iſt's, was brauchſt Du?“ 

„Ich babe taujfend Gulden im Spiel verloren, daran fehlen mir ſechs— 
hundert!“ 

Die alte Dame jehte ihre Brille wieder auf, riß ihre Gloriahaube vom 
Kopf, um in ihren kurzen, grauen Haaren zu fragen, und humpelte an den ein- 
gelegten Schreibtiih. Mit Vergnügen jah Landolt Hinter der zurückrollenden 
Klappe die Wunder erjcheinen, die dort aufbewahrt wurden und jchon feine 
Kindheit erfreut hatten: eine Kleine, filberne Weltkugel; einen Ritter auf einem 
aus Elfenbein gejchnittenen Pferde, der trug eine wirkliche filberne und vergol- 
dete Rüftung, die man abnehmen konnte; der Schild war mit einem Edeljteine 
geſchmückt und die Federn des Helmes emaillirt; dann aber, ebenfall® aus Elfen- 
bein kunſtreich und fein gearbeitet, ein vier Zoll hohes Skelettchen mit einer 
filbernen Senje, welches das Tödlein genannt wurde und an dem fein Knöch— 
lein fehlte. 

Diejen zierliden Tod nahm die Alte auf die zitternde Hand und jagte, 
während da3 feine Elfenbein kaum hörbar ein wenig Elingelte und Elapperte: 
„Sieh her, jo jehen Mann und Frau aus, wenn der Spaß vorbei ift! Mer 
wird denn lieben und heirathen wollen!” 

Salomon nahm das Tödlein auch in die Hand und betrachtete es aufmerf- 
Jam; ein leiter Schauer durchfuhr ihn, ala er ſich die ſchöne Geftalt der Wen- 
delgarde von einem ſolchen Gerüfte herunterbrödelnd vorjtellte, wie er aber an 
die jchnelle Flucht der Zeit und ihre Unwiederbringlichkeit dachte, Elopfte ihm 
das Herz fo ſtark, daß das Gerippchen merflicher zitterte, und er warf einen 
verlangenden Blid auf die Hand der Großmutter, welche jet dem ſtets in einem 
Fache liegenden Baarſchatze eine Rolle Schöner Doppellouisd'ors enthob und jagte: 


Züricher Novellen. 25 


„Da find die taufend Gulden! Nun bleib’ mir aber vom Halje mit allen 
Heirathsgedanten!" 

Zunächſt machte er fi) nun an den Gapitän Gimmel, den er in der Schente 
auffuchte und beijeite nahm. Er trug ihm vor, wie er von einer dritten Perjon, 
die nicht genannt ſein wolle, beauftragt und in den Stand gejeßt fei, die unan- 
genehme Angelegenheit der Tochter in Ordnung zu bringen; allein e3 werde ver- 
langt, daß der Gapitän die Sache in jeinem eigenen Namen geihehen Lafie, 
zur möglichſten Schonung der Tochter, und es dürfe auch diefe nichts Anderes 
glauben, al3 daß der Vater die Schulden bezahlt habe. In diefem Sinne werde 
Landolt die Summe, ald vom Gapitän herrührend, an amtlicher Stelle einliefern 
und dafür jorgen, daß dort die Gläubiger in aller Stille befriedigt wiirden. So 
werde dem Vater und dem Fräulein jede weitere Verdrießlichkeit eripart jein. 

Der Herr Gapitän betrachtete den jungen Mann mit verwunderten Augen, 
ſprach erſt von unbefugten Einmifchungen und Wahrung feines Hausrechtes und 
rüdte an feinem Degen; als ihm aber Landolt vorftellte, daß man ſich jehr für 
da3 Fräulein und ihr zufünftiges Wohl interejfire, twelches von einer baldigen 
Regulirung der bewußten Sache abhangen könne, und der Gapitän eine qute 
Berjorgung des Kindes zu wittern begann, ſteckte er das Schwert feiner Ehre 
wieder ein und erklärte fich mit dem vorgeichlagenen modus procedendi ein— 
verftanden. 

Salomon Landolt führte nun das Geſchäft mit Vorficht und Geſchicklichkeit 
zu Ende, jo daß die Gläubiger bezahlt wurden. Jedermann glaubte, der Gapitän 
Gimmel habe fich eines Beſſeren befonnen, und Wendelgarde jelbjt wußte nichts 
Anderes. Yhr gegenüber gab ſich der Vater ein feierliches Anſehen, welches von 
Neuem fie in dev Meinung beftärkte, daß er doch ein vermöglider Mann fein 
müſſe. 

Sie war daher keineswegs über die Maßen erſtaunt und faſſungslos, als 
Salomon, der Geſchäftsträger, eines Abends wieder erſchien und ihr die quittirten 
Rechnungen über alle großen und kleinen Schulden in die Hände legte. Dies 
gönnte er ihr jedoch von Herzen und freute ſich ihrer gewonnenen guten Haltung, 
da ihm während der Abwicklung über die Zahl und Art der Schulden doch das 
eine und andere Bedenken aufgeſtiegen war, freilich nur mit der Wirkung, daß 
ihn auf's Neue ein zärtliches Mitleiden mit ihrer unberathenen Armuth erfüllte 
und die ſtärkſten Wünſche erregte, ihr Schickſal für immer in feſte Hand nehmen 
zu dürfen. Wendelgarde Hatte fich in Vorausficht feines Beſuches die lebten 
Zage noch jorgfältiger als fonft gekleidet und geihmüdt, und aud fie war 
ihrer befjeren Faſſung do hauptfächli froh, weil fie vor dem Retter in der 
Noth nicht mehr jo erniedrigt erichien, und zwar aus eigenen Mitteln, wie fie 
glaubte. 

Sie dankte ihm aber dennoch mit findlichen und herzlichen Worten für jeine 
hilfreiche Bemühung; fie gab ihm dabei vertraulich die Hand und war jet jo 
Ihön, daß er ohne weiteres Zögern ihr feine Neigung geftand und daß nur diele 
ihn vermocht habe, fi) jo aufdringlich in ihre Angelegenheiten zu miſchen. a, 
er ging in feiner rüdhaltlofen Offenheit jo weit, ihr auseinander zu jegen, wie 
fie ihm durch Erwiderung und Gewährung ihrer Hand eine ungleich größere 


26 Deutihe Rundichau. 


Hilfe erweijen und ihn veranlaſſen würde, ein etwas unftetes und planlofes 
Leben endlich zufammenzuraffen und für Liebe und Schönheit das zu thun, was 
er für fich jelbjt nicht Habe thun mögen. 

Dieje ehrliche Unklugheit oder unkluge Ehrlichkeit erweckte aber die Klugheit 
des jchönen Mädchens. Sie ließ während aller feiner Reden dem erregten 
Salomon ihre Hand und jah ihn mit freundlichen Augen an, die von dem Glücke, 
aus der Erniedrigung jo plößlich erhöht zu ſein, lieblich erglänzten. Allein 
mitten in aller Lieblichkeit de3 Augenblicdes befann ſich die ſonſt jo Leichtſinnige 
wegen der unfteten Lebensführung, deren ihr Liebhaber ſich anklagte, und jie 
erbat fich eine Bedenkzeit von jieben Tagen. Sie entließ ihn aber durchaus 
Huldvoll und athmete jo ſchnell und kurz wie ein junges Kaninchen, als fie ſich 
wieder allein befand. 

Indeſſen hatte der Capitän fi) die geheimnigvollen Andeutungen Landolt’3 
eingehender überlegt und die Entdeckung gemadt, daß jeine Tochter allerdings 
nun reif jer für dad Glüd, auf den Markt gebracht zu werden. Er war nicht 
gefinnt, das Kleinod fi) von unbekannter Hand abjagen zu laſſen, jondern 
wollte mit offenen Augen dabei fein und vor Allem eine gehörige Schauftellung 
veranftalten. Um glei) in’3 Zeug zu gehen, beſchloß er, mit der Tochter die 
Bäder von Baden zu beſuchen, die wegen der jchönen Pfingftzeit gerade voll 
Gäfte waren. Sie mußte ihre ſchönſten Kleider einpaden, die fie in Zürich wegen 
der Gittenmandate nicht einmal jehen laffen durfte, und fo zogen fie zufammen 
ohne Säumen im Hinterhof zu Baden ein, der gleich” den anderen Gafthäufern 
ſchon von Fremden angefüllt war. Damit hatte die väterliche Auffiht Gimmel's 
aber auch ihr jchnelles Ende erreicht; denn er ſuchte und fand augenblidlid 
genügende Geſellſchaft trinkluftiger alter Soldaten und überließ die Tochter 
Wendelgarde gänzlich ſich felber. 

Zufälliger, aber auch glücklicher Weije befand ſich im gleihen Badhofe 
Figura Leu im Begleit einer älteren Dame, die wegen Gliederichmerzen die Bäder 
brauchte. Sie war jeßt in den Jahren auch ſchon ein Klein wenig vorgerüdt 
und that noch mehr ala früher, was fie wollte. Als fie die ſchöne und durch 
ihre Schulden berühmt gewordene Wendelgarde jah und wie dieje in ihrer Ver— 
lafjenheit nicht3 mit ſich anzufangen wußte, zog fie diejelbe in ihre Gejellichaft 
und vertrieb fich jelbjt die Zeit damit, das jeltjame, eigenartige Gejchöpf, in 
welchem die Schönheit ohne alle andere Zuthat perſönlich geworden ſchien, zu 
ftudiren und fennen zu lernen. Sie gewann bald das Vertrauen des Mädchens, 
das die Wohlthat ſolchen Umganges noch nie erfahren hatte, und jo wußte fie 
auch ſchon am erften Tage von dem Berhältniffe zu Salomon Landolt und der 
jfiebentägigen Bedenkzeit. Am zweiten Tage hielt fie es auch ſchon für das 
ſchwerſte Mißgeſchick, weldes dem unvorfichtigen Freier aufftoßen könnte, wenn 
er da3 Mädchen gewänne. Sie wußte jelbft nicht vet, warım? Sie hatte 
nur das Gefühl, als ob Wendelgarde keine eigentliche Seele hätte. Dann dachte 
fie aber wieder, ſo jei fie ja ein reines weißes Tuch, auf welches Salomon ſchon 
etwas Leidliches malen werde, und Alles könne fich) noch ordentlich geftalten. 
Bekümmert über ihre eigene Unficherheit beichloß fie plöglich, eine Art Gottesge- 
richt und Feuerprobe entjcheiden zu laffen, wozu die unverhofft angekündigte Er- 


Züricher Novellen. 97 


Icheinung ihres Bruder? Martin ihr den Gedanken gab. Er ftand jchon ſeit 
fünf Jahren als Hauptmann in dem Zürcherregimente zu Paris und mar ein 
in allen Künften erfahrener Gejell, bejonderd auch ein vorzüglicder Comödiant 
in den Hauötheatern der Parijer Gejellihaft geworden. Der Capitän Gimmel 
und jeine Tochter hatten ihn noch nie gejehen, und übrigens verftand er ſich auch 
für Andere unfenntlich zu machen, denen er wohlbefannt war. Auf diefen Umſtand 
gründete Figura ihren Plan, und fie wußte dem Bruder, al3 er jet, unverjehens 
in der Heimath auf Beſuch gefommen, auf dem Wege von Züri) nad) Baden 
war, heimlich entgegenzureifen und ihn eilig für ihr Project zu unterrichten und 
zu gewinnen, denn ex nahm faft eben jo viel Theil an dem Wohlergehen jeines 
waderen Freundes, wie jeine Schwefter. Sie aber hatte große Eile, weil von 
den fieben Tagen ſchon vier verfloffen waren und jie wohl merkte, dag Wendel— 
garde fein Nein von fich geben werde. 

Sp verzögerte denn Martin Leu jeine Ankunft bis zur angebrochenen Duntel- 
heit, während Figura jchnell vorauseilte und that, als ob nichts geichehen wäre. 
Ueber Nacht traf er jeine Vorbereitungen und trat am anderen Tage ala ein 
unbefannter Fremder auf mit großen und geheimnifvollen Allüren. Wie durch 
Zufall machte er fi, Jobald er orientirt war, an den Gapitän und ließ den- 
jelben, indem ex eine Flaſche mit ihm trank, jofort im MWürfelipiel ein paar 
Thaler gewinnen, wobei er es aber beiwenden ließ. Dann luſtwandelte er auf den 
Öffentlichen Spaziervegen und am Ufer des Fluſſes, während Figura auf Liftige 
Weiſe da3 Gerücht verbreitet hatte, der Fremde ſei ein franzöſiſcher Herr, der eine 
halbe Million Livres Renten befige und durchaus eine proteftantiiche Schweizerin 
heirathen wolle, da er jelbft diefer Confeſſion angehöre. Er ſei ſchon in Genf 
geweien, habe aber nicht3 gefunden, und wolle nun nad Zürich gehen, vorher 
aber fich ein wenig in Baden umfjehen, wo, tvie er erfahren, zu diejer Zeit ein 
ausgefuchter Damenflor ſich jehen laſſe. 

Der Capitän kam jchleunig und gegen jeine Gewohnheit jchon vor Tiſch 
nad Haufe, das heißt in den Gafthof, gelaufen, und holte die Tochter, die fich 
herauspußen mußte, zur Promenade ab. Er führte fie jogar am Arme und 
that mit jeiner Karfunkelnaſe jo geziert und breitipurig, daß die Hunderte von 
Spayiergängern von feiner Poffirlichkeit nicht minder erheitert, als von der 
Schönheit Wendelgardes erbaut waren. 

Als er aber dem reichen Hugenotten begegnete, gab es einen noch größeren 
Auftritt und einen langen Wechjel von Complimenten und Vorftellungen. Martin 
Leu brauchte fein Erftaunen über Wendelgarde's Erſcheinung zu heucheln, da ex 
e3 in der That empfand; doch jah er zu gleicher Zeit auch, wie nothwendig es 
jei, den Freund Salomon dieſer Gefahr zu entreißen. Er bot ihr den Arm 
und führte fie an des Vaters Stelle zur Tafel, wo Figura wie verjchüchtert 
hinblicdte und Alle die ziervollen Scenen zu bewundern ſchien, die ſich nun 
ereigneten. 

Nur wenige Minuten ſprach Wendelgarde nad) dem Gfjen mit ihr, weil 
eine Luftpartie nah Schinznach ftattfinden jollte, wo eine nicht tveniger vor— 
nehme Welt verfammelt war. Kurz, Martin machte am erften Tage feine Sache 
jo gut, daß Wendelgarde am jpäten Abend zu Figura Leu geflogen fam und ihr 


28 Deutſche Rundſchau. 


athemlos mittheilte, es werde ſich etwas ereignen, der Hugenott habe ſie ſoeben 
gefragt, ob ſie nicht lieber in Frankreich leben möchte, als in der Schweiz. 
Und dann habe er geſprächsweiſe gefragt, wie alt ſie ſei, und eine Stunde früher 
geäußert, wenn er je heirathe, ſo werde er keinen Denar Mitgift von der Frau 
nehmen. Und der Vater habe ihr bereits befohlen, dem Bewerber ſogleich ihr 
Jawort zu geben, wenn er ſie frage. 

„Aber, liebes Kind,“ bemerkte Figura, „das Alles will noch nicht viel 
ſagen. Nimm Dich doch in Acht!“ 

Wendelgarde aber fuhr fort: „Und als wir über eine Stunde allein zu— 
jammengingen, hat er mir die Hand geküßt und gejeufzt.“ 

„Und dann Hat er Dich gefragt?“ 

„Rein, aber er hat gejeufzt und mir die Hand geküßt.“ 

„Ein franzöfiiher Handkuß! Weißt Du, was das ift? Gar nichts.“ 

„Aber er ift ja ein ernfthafter Proteftant.“ 

„Wie beißt er denn?“ 

„Sch weiß es noch nicht, das heißt, ich glaub’, ich weiß es noch nicht, ich 
habe nicht einmal Acht gegeben.“ 

„Das Ändert Freilich die Sache,” jagte Figura nachdenklich; „aber wie ſoll 
es nun mit Salomon Landolt werden ?” 

„Ja, das frag’ ih auch,“ erwiderte Wendelgarde jeufzend und rieb ſich die 
weiße Stirn mit den weißen Fingerſpitzen; „aber bedente doch, eine halbe Million 
Einkünfte! da hört alle Sorge und aller Kummer auf! Und Salomon braucht 
eine Frau, die ihm Hilft, jein Leben zufammenraffen und etwas werden! Wie 
fann ich das, die jelbft nichts verjteht?“ 

„Das meint er nicht jo, Du Gänschen! Er meint, wenn er Did) nur hat, 
jo wird er Deinetwegen anfangen zu ſchaffen, zu wirken und zu befehlen, und 
Du kannt nur zujehen und brauchſt Dich gar nicht zu rühren; und er wird es 
thun, ſage ih Dir!“ 

„Nein, nein! Mein Leichtfinn wird ihn nur hindern! ch werde wieder 
Schulden machen und noch viel mehr, das fühle ich, wenn ich nicht reich, außer- 
ordentlich reich werde!“ 

„Da3 ändert freilich die Sache,“ verjette Figura, „wenn Du nicht vorziehft, 
Dih von ihm ändern und befjern zu lafjen! Und er ift der Mann dazu, 
glaub’ e8 mir!“ 

Da fie aber jah, daß Wendelgarde nur in eine ängftliche Verlegenheit gerieth, 
ohne ein Gefühl für Salomon zu äußern, fuhr fie fort: 

„Jedenfalls ieh zu, daß Du nicht zwiſchen zwei Stühle zu fiten kommſt. 
Wenn der Franzoſe Di) nun morgen fragt, jo mußt Du ihm aus freier Hand 
antworten fünnen. Uebermorgen ift der jiebente Tag; dann mußt Du ge- 
wärtig jein, daß Landolt herkommt, Deine Entjcheidung zu holen; dann gibt's 
Auftritte, Enthüllungen, und Du läufft Gefahr, daß Beide Dir den Rüden 
fehren.“ 

„D Gott! Ja, das iſt wahr! Aber was fol ich thun? Er ift ja nicht 
hier, und ich kann jet nicht hin!“ 

„Schreib ihm, und gleich heute noch! Denn morgen muß ein Expreſſer 


Züricher Novellen. J — 29 N 


damit nach Züri, jonft fommt er übermorgen, wie ich ihn kenne, unfehl- ww 
bar.“ Nele‘ / 
„Das will ich thun, gib mir Papier und Feder!“ — 

Sie ſetzte ſich hin, und als fie nicht wußte, wie beginnen, dictirte ihr 
Figura Leu: 

„Nach reiflicher Prüfung finde ich, daß es nur Gefühle der Dankbarkeit 
ſind, die mich für Sie beſeelen, und daß es Lüge wäre, wenn ich Sie anders 
benennen wollte. Da überdem der Wille meines Vaters mir eine andere Lebens— 
bahn anweiſt, ſo bitte ich Sie, meinen feſten Entſchluß, ihm zu gehorchen, als 
ein Zeichen des Vertrauens und der achtungsvollen Aufrichtigkeit ehren zu 
wollen, die" Ihnen ſtets bewahren wird Ihre ergebene u. ſ. mw.“ 

„Punktum!“ Schloß Figura, „haft Du unterſchrieben?“ 

„sa, aber e3 dünft mid, man jollte doch etwas mehr jagen, e3 iſt mir 
nicht ganz recht jo.“ 

„Eben jo ijt’3 recht! Das ift der verzwickte Abjageftyl in ſolcher Lage, die 
feine Erörterungen verträgt; das jchneidet alles Weitere ab, und die Trinkluftigen 
merfen am lange, daß fie an ein leeres Faß geklopft haben!“ 

Dieje etwas von Eiferſucht gewürzte Anjpielung verftand Wendelgarde 
niht, da fie gutmüthigen Herzens? war. Sie bat noch, Figura möchte die 
ichleunige Abjendung des Briefes bejorgen, damit ja fein Zufammentreffen jtatt- 
finde. Figura verſprach ed, und um ganz fiher zu gehen, übergab fie die Milfton 
mit Tagesanbrucd ihrem Bruder, der unverzüglich damit nad) Zürich ritt und 
den Salomon Landolt überrafchte, der eben ſich bereit machte, am nächſten Tage 
nad Baden zu reiten. 

Er erblaßte leicht, ald er das Brieflein las, und wurde wieder roth, als er 
bemerkte, daß Martin Leu wußte, was darin ftand. Der gab ihm aber ohne 
Säumen die mündlichen Erläuterungen durch Erzählung des ganzen Vorganges. 
Er ließ ihn darauf eine Stunde allein, fam dann wieder und ſagte ihm: 

„Salomon! Die Schwefter Figura läßt Dich grüßen und Dir jagen, wenn 
Du die ſchöne Gimmelin doch haben wolleft, jo möchtet Du es ihr, der Schwefter, 
nur fund thun, jene laufe Dir nicht fort.“ 

„Ich will fie nicht und jehe meine Thorheit ein,‘ ſagte Landolt; „aber fie 
ift do ſchön und liebenswerth, und Ahr jeid Schelme!“ 

Martin blieb nun in feiner wahren Geftalt in Züri), weshalb der reiche 
Hugenott natürlih in Baden verſchwunden war, als ob ihn die Erde ver- 
jhlungen hätte. Der Gapitän und MWendelgarde weilten noch zwei Wochen 
dort; dann kehrten fie nad) Zürich zurück, der Capitän durftiger und underträg- 
licher al3 je, und die Tochter, ftill und niedergeichlagen, hielt fich verborgen. 

Damit war die Gejchichte jedoch nicht zu Ende. Denn Martin Leu fach 
die Neugierde und der Uebermuth, die jeltfame Schönheit erft jet etwas näher 
zu bejehen. Er madte fich mit aller Vorficht herzu, um nicht al3 der geheimniß- 
volle Franzoſe erkannt zu werden, und bejuchte den Fechtſaal des Capitäns. 
Nun drehte fi das Rad der Fortuna, als er die Arme in ihrer bejcheidenen 
Trauer und Schönheit jah, und da der wilde Alte jählingg vom Schlage ge- 
troffen dahin ftarb, verliebte er ſich in die Verlaffene jo heftig, daß er alle 


30 Deutiche Rundſchau. 


Einipraden, Abmahnungen und Bernunftgründe ungeftüm wegräumte und nicht 
ruhte, bis fie jeine Frau war. 

Borher hatte er den Salomon noch ein letztes Mal gefragt: „Willft Du 
fie oder nicht?“ Der hatte aber ohne Befinnen geantwortet: „Sch halt es mit 
dem Bibelſpruch: Eure Rede jei Ja, Ja und Nein, Nein! Ich komme nicht mehr 
auf die Sache zurück!“ 

„Koſtet mich freilich taufend Gulden, was fein Menſch weiß, Gott jei 
Dank!” jeßte er in Gedanken Hinzu; denn er wußte, daß feine Großmutter in 
ihrer Gerechtigkeit alle ihre Vorſchüſſe genau notirte, damit fie einſt, feinen 
Geihwiftern gegenüber, von feinem Erbtheile abgezogen würden. 

Martin Leu lebte mit jeiner Frau noch zwei Jahre in Paris und nahm 
dann jeinen Abjchied. Sie war bei der Rückkehr eine ganz ordentlich geſchulte 
und gewißigte Dame und machte feine Schulden mehr. Sie kannte die Ereig- 
niffe von Baden und hatte den Hugenotten wieder erkannt, ehe er ed ahnte und 
jelbjt erzählte. 

Wenn aber die Figura Leu jpäter den Salomon Landolt fragte, ob er ihr 
wegen ihrer Dazwiſchenkunft zürne und die Wendelgarde doc) lieber jelbft hätte, da ſie 
jet nicht jo übel ausgefallen jei und fich früher offenbar dümmer geftellt habe, 
al3 fie gemwejen, dann drückte er ihr die Hand und jagte: „Nein, es ift qut 
jo!’ Die Wendelgarde nannte er der Kürze halber den Gapitän. 


Grasmüde und Amiel. 


Die einjeitige Anbetung der Schönheit wirkte aber unmittelbar nach ihrem 
Mißerfolge noch jo nachtheilig auf Landolten ein, daß er den Halt vollends 
verlor und allen Eindrüden preisgegeben war. Wie wenn die Schwalben im 
Herbft abziehen wollen, flatterten und lärmten alle Liebesgötter, und er beftand 
noch im jelben Jahre, da er der MWendelgarde verluftig ging, zwei Abenteuer, 
welche, wie es bei Zwillingen zuweilen geht, nur geringfügig waren und in die 
gleiche Windel gewickelt werden fünnen. 

Schon jeit ein paar Jahren hörte Salomon in jeinem Zimmer, da3 auf 
der Rücdkjeite des Haufes lag, wenn das Wetter ſchön und die Luft mild war, 
jeden Morgen aus der entfernteren Nahbarichaft, über die Gärten hinweg, von 
einer zarten Mädchenftimme einen Palm fingen. Dieſe Stimme, welche erft 
die eines Kindes geweſen, war allmälig etwas kräftiger geworden, ohne jemals 
eine große Stärke zu erreihen. Doc hörte er den regelmäßigen Gejang, der 
täglich vor dem Frühſtück ftattzufinden ſchien, gern und nannte die unfichtbare 
Sängerin die Grasmücke. Es war aber die Tochter des Herrn Proſelytenſchreibers 
und ehemaligen Pfarrheren Elia Thumeyſen, der fi) der Laft des eigentlichen 
Hirtenamtes mit dem Anfall eines artigen Erbes entledigt hatte, jedoch ſich 
immer noch nützlich machte durch Beſorgung einiger Actuariate, wie derjenigen 
der Erulanten- und Projelyten- Commijfionen. Won lebterer führte er auf 
den Wunſch feiner Frau den Brauchtitel. Außerdem war er noch Reformations— 
jchreiber und Vorſteher der Exſpektanten des zürcheriichen Minifteriums; im 
Nebrigen malte er zu jeinem Vergnügen von jenen Landkarten, in welden uns 


Züricher Novellen. sl 


jet die Welt auf dem Kopf fteht, da Often und Weiten oben und unten, Norden 
und Süden aber links und rechts find. 

Sein Töchterlein, die Grasmüde, eigentlich” Barbara geheißen, trieb aber 
noch ganz andere Künfte, mit denen fie vom Morgen bis zum Abend beſchäftigt 
war. Der Herr Profelytenjchreiber, ihr Vater, machte nämlich auch Darftellungen 
aller möglichen Vögel; ex klebte die natürlichen Federn derjelben oder auch nur 
Heine Bruchſtücke von ſolchen auf Papier zujammen und malte den Schnabel 
und die Füße dran hin. Ein Haupttableau diejer Art war ein jchöner Wiede- 
hopf in natürlicher Größe, im vollen Federſchmuck. 

Barbara hatte num dieſe Kunft weiter entwidelt und veredelt, indem fie 
das Verfahren auf die Menjchheit übertrug und eine Menge Bildnifje in ganzer 
Figur anfertigte, an denen nur das Gefiht und die Hände gemalt waren, alles 
Nebrige aber aus künftlich zugejchnittenen und zuſammengeſetzten Zeugflickchen 
von Seide oder Wolle oder anderen natürlichen Stoffen beſtand; und gewiß 
tonnten die Vögel des Ariftophanes nicht tieffinniger jein, al3 diejenigen des 
Herrn Projelytenichreibers, da aus diejen ein jo artiges Gejchlecht menjchlicher 
Geichöpfe hervorging, welches das Arbeitsftübchen der Kleinen Sängerin anfüllte. 
Da prangte vor Allem ihr Herr Oheim mütterlicher Seite, der regierende Herr An— 
tiftes, im geiftlichen Habit von ſchwarzem Wolljatin, ſchwarzſeidenen Strümpfen 
und einem Halskragen von zartefter Muffeline. Die Perüde war aus den Haaren 
eines weißen Kätzleins unendlich zierlid und mühevoll zu Stande gebradit ; 
dazu harmonirten die waſſerblauen Augen in dem blaßrofigen Gefichte vor- 
trefflich; die Schuhe waren aus glänzenden Saffianſchnipſelchen gejchnitten und 
die filbernen Schnallen aus Staniol, die Schnittflächen de3 Liturgiebuches aber, 
das er in der Hand hielt, aus Goldpapier. 

Diejen Bontifer, der hinter Glas und Rahmen an erfter Stelle hing, um— 
gaben die Abbilder vieler Herren und Damen verichiedenen Ranges und Standes; 
da3 Schönfte war eine junge Frau in weißem Spitengewande, dad ganz aus 
feinftem Papier à jour gearbeitet fie umhüllte; auf der Hand jaß ihr ein Papagei, 
aus den Eleinjten Federchen eine Colibri mojaichtt. Gegenüber ſaß ein flöte- 
Ipielender Herr mit übergejchlagenen Beinen, in einem Rode von azurblauem 
Atlas und mit einer kunſtreichen Halsfraufe, der den Papagei im Gejange zu 
unterrichten ſchien, da diejer den Kopf laufchend nach ihm umdrehte. Die Knöpfe 
auf dem Kleide beftanden aus röthlichen Pailletten oder Flitterchen. 

Auch paradirte eine Reihe ftattlicder Militärperfonen zu Fuß, deren Uni— 
formen, Trefjen, Metalltnöpfe, Degengefähe, Lederzeug und Federbüſche alle von 
gleihem, unverdrofjfenem Fleiße Zeugniß gaben; aber hier hatte Barbara 
Thumeyſen die Grenzen ihrer Kunſt angetroffen; denn al3 fie nun zu den 
berittenen Kriegsbefehlshabern übergehen wollte, verjtand fie wol Schabraden, 
Sättel und Zaumzeug aus allen geeigneten Stoffen mit ihrem engliſchen Scheer- 
lein zuzufchneiden und herzuftellen. Die Pferde aber zu zeichnen ging über ihre 
Kräfte, indem fie bisher nur in menjhlichen Köpfen und Händen ſich geübt 
hatte. Es handelte ſich aljo darum, einen Lehrer oder Gehilfen hiefür zu finden; 
al3 jolcher wurde auf gehaltene Nachfrage Salomon Landolt genannt, welcher 
in Zürich derweilen der erſte Pferdezeichner jei. 


3 


32 Deutſche Rundichau. 


Der Herr Projelytenjchreiber ftattete daher unverhofft eines Tages dem 
Herrn Stadtrihter und Jägerhauptmann einen höflihen Beſuch ab und trug 
ihm mit wohlgejegten Worten das Anjuchen vor, jeiner Tochter in Anjehung 
eines richtig geftellten Reitpferdes geneigteft Unterricht und Beirath extheilen zu 
wollen, jo daß das Thier in natürlicher Geftalt und Farbe, in ſchulgerechtem 
Schritt, auf das Papier gemalt und nachher um jo bequemer aufgezäumt und 
gejattelt, auch der Reiter in guter Haltung darauf gejeßt werden könne. 


Landolt ließ fi gern zu dem Dienfte bereit finden; einmal aus reiner 
Gefälligfeit und dann aud) aus Neugierde, die Grasmüde zu jehen, die jeden 
Morgen jo lieblich fang, Mit Verwunderung erblidte er erft die bunte Vogel— 
welt de3 Erulanten- und PBrofelytenichreiber3, den Wiedehopf und all’ die 
Stieglibe, Blutfinten, Häher, Spechte und Regenpfeifer,; jodann vollends den 
Antiftes und al’ die Zunftmeifter, Zmwölferherren, Obervögtinnen, Lieutenants 
und Capitäns ber Yungfer Barbara, und dieje jelbft, die von zarter, aber eben 
mäßiger Gejtalt war, wie aus Elfenbein gedrechſelt. Sie dünkte ihın das ſchönſte 
Merklein unter al’ den Vögeln und Menſchenkindern des bejcheidenen Muſeums, 
und er begann daher ſogleich den Unterriht. Er erklärte ihr mit Hilfe mit- 
gebrachter Vorlagen zuerft den Knochenbau eines Pferdes und lehrte fie, mit 
einigen geraden Strichen die Grundlinien und Hauptverhältnifje anzugeben, ehe 
es an die ſchwierigen Formgeheimniſſe eines Pferdefopfes ging. So verbreitete 
ih der Unterricht allmälig über den ganzen Körper, bis endlich zur Farbe 
gegriffen umd zur Darftellung der Schimmel, Füchſe und Rappen gejchritten 
werden fonnte. Die Mähnen und Schwänze behielt Barbara jich vor, wiederum 
aus allerlei natürlichen Haaren zu machen. 


Das angenehme Berhältniß dauerte mehrere Wochen, und immer zeigten 
fih noch Kleine Unvolllommenheiten und Mängel, welche man zu überwinden 
trachtete. Landolt gewöhnte fi) daran, jeden Vormittag ein oder zwei Stunden 
hinzugeben; e8 wurde ihm ein Glas Malaga mit drei ſpaniſchen Brödlein 
aufgeftellt, und bald ließ man ihn aud mit der Schülerin allein als einen der 
lanfteften und ruhigften Lehrer, die e8 je gegeben. Die Grasmüde war fo zu- 
traulich twie ein gezähmtes Vögelchen und aß ihm bald die Hälfte der Spaniſch— 
brödchen aus der Hand, tunkte jogar den Schnabel in den Malagakelch. Eines 
Tages überrajchte fie ihn mit der geheim ausgearbeiteten Darftellung feiner jelbft, 
tie er in der Yägeruniform auf jeinem UÜkräner Apfelichimmel ſaß; e3 war 
natürlich nur feine linte Seite mit dem Degen, mit nur einem Bein und einem 
Arm; dagegen war die Mähne des Graufchimmel3 und der Schwanz aus ihren 
eigenen Haaren, die in der tiefften Schwärze glänzten, gejchnitten und angeheftet, 
und es fonnte aus diejer Opferung, ſowie aus dem ganzen Bildwerfe erkannt 
werden, wie viel er bei ihr galt. 


In der That hielt fie die beidjeitigen Neigungen und Lebensarten für jo 
gleihmäßig und harmoniſch, daß ein glüdliches Zufammenfein im Falle einer 
Verbindung faft unverlierbar ſchien, wenn fie, leiſe erröthend, dergleichen Dinge 
gar ernftlich bei fich erwog; und Salomon Landolt glaubte jeinerjeit3 nichts 
Beſſeres wünſchen zu können, al3 nad) all’ den Stürmen in diejen Kleinen, ftillen 


Züricher Novellen. 33 


Hafen der Ruhe einzulaufen und fein Leben in dem grasmüdiichen Muſeum zu 
verbringen. 

Auch in den beiden Häufern jah man die wachjende Vertrautheit der zwei 
Kunftbefliffenen nicht ungern, da eine Vereinigung beiden Theilen nur erjprießlich 
und wünſchenswerth ſchien; und jo gedieh die Sache jo weit, daß ein Beſuch 
der Thumeyſen'ſchen bei den Landoltiſchen eingeleitet wurde unter dem biplo- 
matiſchen Vorwande, der thumeyſiſchen Jungfrau den Anblick der ihr noch 
gänzlich unbekannten Malereien Salomon’3 zu verichaffen. 

Obgleich er eine entjchiedene und energiiche Künftlerader bejaß, hatte er den 
Stempel des abgefchloffenen, fertigen Künſtlers nie erreicht, weil ihm das Leben 
dazu nicht Zeit ließ und er in bejcheidener Sorglofigfeit überdies den Anſpruch 
nit erhob. Allein als Dilettant ftand er auf einer außerordentlichen Höhe 
der Selbitändigfeit, des urjprünglichen Gedankenreichthums und des unmittel- 
baren eigenen Verftändniffes der Natır. Und mit diefer Art und Weije verband 
fi ein keckes, friiches Hervorbringen, da3 vom Teuer eined immermwährenden 
con amore im eigentlichften Sinne bejeelt war. 

Seine Malcapelle, wie er fie nannte, bot daher einen ungewöhnlich reich- 
haltigen Anblid an den Wänden und auf den Staffeleien, und jo mannigfaltig 
die Schildereien waren; die ſich dem Auge darboten, jo leuchtete doch aus allen 
derjelbe kühne und zugleich fill harmoniſche Geift. Der unabläffige Wandel, 
da3 Aufglimmen und Verlöſchen, Widerhallen und Verklingen der innerlich 
ruhigen Natur Schienen nır die wechjelnden Accorde defjelben Tonftüces zu fein. 
Das Morgengrauen der Landichaft, der verglühende Abend, das Dunkel der 
Wälder mit den mondbeftreiften, thauſchweren Spinnweben im Gefträuche der 
Borgründe, der ruhig im Blau ſchwimmende Vollmond über der Seebucht, die 
mit den Nebeln kämpfende Herbftjonne über einem Schilfröhricht, die rothe 
Gluth einer Feuerdbrunft hinter den Stämmen eines Vorholzes, ein rauchendes 
Dörflein auf graugrüner Haide, ein blitzerriffener Wetterhimmel, regengepeitjchte 
Wellenſchäume, alles die erſchien wie ein einziges, aber vom Hauche des 
Lebens zitterndes und bewegtes Weſen, und vor Allem als das Ergebniß eigenen 
Sehens und Exrfahrens, eine Frucht nächtlicher Wanderungen, vaftlofer Ritte zu 
jeder Tageszeit und durch Sturm und Regen. 

Nun war aber alles das auf’3 innigfte verwachſen und belebt mit einem 
Geſchlechte heftig bewegter und ftreitbarer, oder einſam ftreifender, oder flüchtig 
wie die Wolken über ihnen dahinjagender oder ftill an der Erde verblutender 
Menſchen. Die Reiterpatrouillen de3 fiebenjährigen Krieges, fliehende Kirgiſen 
und Groaten, fechtende Franzoſen, dann wieder ruhige Jäger, Landleute, das 
beimfehrende Pfluggefpann, Hirten auf der Herbjtweide, dazu die von Krieg 
oder Jagd aufgeicheuchten Wald» oder Waflervögel, das grajende Reh und der 
ſchleichende Fuchs, fie alle befanden fi) immer an dem rechten und einzigen Fleck 
Erde, der für ihre Lage paßte. Oft auch erkannte man in dem grauen Schatten- 
männden, das mühjelig gegen einen Strichregen ankämpfte, unvermuthet einen 
Wohlbekannten, der offenbar zur Strafe für irgend eine Unart hier bildlich durch— 
näßt wurde; oder man jah eine weibliche Läfterzunge etwa als Nachthere die 


Füße in einem Moortümpel abwajchen, der einen Rabenftein beſpülte, oder den 
Deutſche Rundſchau. III, 7. 3 


34 Deutiche Rundſchau. 


Maler jelbft über eine Anhöhe weg dem Abendroth entgegenreiten, ruhig ein 
Pfeiflein rauchend. 

Der Beſuch wurde in höflichſter Weife bewerkitelligt und empfangen; als 
der Kaffee eingenommen war, führte Salomon das jorgfältig und halb feiertäglich 
gekleidete Fräulein in fein Künſtlergemach, während die übrige Geſellſchaft wohl- 
bedacht zurückblieb, um ſich im Garten zu ergehen und die innere und äußere 
Beichaffenheit de Haufes in Augenjchein zu nehmen. Salomon zeigte und 
erklärte nun dem Fräulein die Bilder und dazwiſchen eine Menge anderer 
Gegenftände, wie Jagdgeräthe, Waffen, jelbftzubereitete Thierſkelette u. dergl. 
Die Gliederpuppe, welche in der Tracht eines rothen Hufaren in einem Lehn— 
ftuhle jaß und ein Staffeleibild zu betrachten ſchien, Hatte fie ſchon beim Eintritt 
erſchreckt und ihr einen ſchwachen Schrei entlodt; nachher aber blieb fie fill 
und gab durchaus fein Zeichen der Freude oder des Beifalles, oder auch nur 
der Neugierde von fi, da ihr diefe ganze Welt fremd und unverjtändlich war. 
Salomon beacdhtete das nicht, ex bemerkte es nicht einmal, weil er nicht auf Lob 
und Verwunderung audging; er eilte in feinem Eifer, an’3 Ziel zu kommen, nur 
weiter von Bild zu Bild, während Barbara’3 von hellem Stoffe umſpannte 
Bruft immer höher zu athmen begann, wie von einer großen Angft. Vor einem 
Flußbilde, auf welchem der Kampf des erjten Frührothes mit dem Scheine des 
untergehenden Mondes vor fich ging, erzählte Landolt, wie früh er eines Tages 
habe aufftehen müfjen, um diefen Effect zu belauſchen, wie er denjelben aber 
doch ohne Hilfe dev Maultrommel nicht herausgebracht hätte. Lachend erklärte 
er die Wirkung ſolcher Muſik, wenn e3 fi um die Miſchung delicater Farben— 
töne handle, und ex ergriff das Kleine Inſtrumentchen, das auf einem mit taufend 
Sachen beladenen Tiſche lag, ſetzte es an den Mund und entlodte ihm einige 
zitternde, faum gehauchte Tongebilde, die bald zu verklingen drohten, bald zart 
anſchwellend ineinander verfloflen. 

„Sehen Sie,“ rief er, „dies ift jenes Hechtgrau, das in das matte Kupfer— 
roth übergeht auf dem Waſſer, während der Morgenftern noch ungewöhnlich 
groß funkelt! Es wird heute in diefer Landſchaft regnen, denk’ ich!“ 

Als er fih Möhli nach ihr umſah, entdedte ex wirklih, daß Barbara's 
Augen Schon voll Waſſer fanden. Sie war ganz blaß und rief wie verzweifelt: 

„Rein, nein! Wir pafjen nicht zufammen, nie und nimmermehr!“ 

Ganz erihroden und erftaunt faßte ex ihre Hand und fragte, was ihr ſei, 
wie fie ſich befinde? 

Sie entzog ihm aber heftig die Hände und begann mit verwirrten Worten 
anzudeuten, daß fie nicht das Mindeſte von alledem verftehe, gar feinen Sinn 
dafür Habe, noch je Haben werde, daß alles das ihr faft feindlich vorfomme und 
fie beängftige; unter joldhen Verhältniffen könne von einem harmonijchen Leben 
feine Rede jein, weil jeder Theil nach einer anderen Seite hin ziehe; und Landolt 
könne ihre friedlichen und unſchuldigen Uebungen, die fie bis jet glücklich gemacht 
hätten, ebenjowenig achten und ſchätzen, ala fie feiner Thätigkeit auch nur mit 
dem geringften Berftändniffe zu folgen vermöge. 

Sandolt fing an zu begreifen, wie fie es meine und was fie beunruhige, und 
er jagte, mild ihr zujprechend, feine Uebungen jeien ja nur ein Spiel, gerade 


Züricher Novellen. 55 


wie bie ihrigen, und eine Nebenjache, auf die e8 gar nicht ankomme. Allein 
feine Worte machten die Sache nur ſchlimmer, und Barbara eilte in größter 
Aufregung aus dem Zimmer, fuchte ihre Eltern auf und begehrte weinend nad) 
Haufe gebracht zu werden. Beftürzt und rathlos wurde fie von den Anweſenden 
umringt, aud) Landolt war herbeigefommen, und wieder begann fie ihre ſeltſamen 
Erklärungen. Es ftellte ſich deutlicher heraus, daß fie dem, was fie quälte, eine 
viel größere Wichtigkeit beilegte, al3 der unſchuldigen Anfpruchslofigfeit eines jo 
zarten jungen Gejchöpfes eigentlich zugetraut twerden konnte, daß aber die Un— 
fähigkeit, über fich jelbft hHinmwegzuflommen und ein ihr Fremdes zu dulden, wol 
großentheil3 einer gewiſſen Beſchränktheit zuzuſchreiben jei, in welcher fie 
erzogen mworben. 

Alles Zureden Landolt’3 und feiner Eltern half nichts; diejenigen des ver— 
zweifelten Fräuleins aber jchienen eher ihre Bangigfeiten zu theilen und 
beichleunigten jorglih den Rüdzug. E3 wurde eine Sänfte beftellt, die Tochter 
bineingepadt, wo fie jofort das Vorhänglein 309g, und jo begab ſich die Eleine 
Garavane, jo ſchnell die Sänftenträger laufen mochten, hinweg, unter Verdruß 
und Beihämung der Landolt-Familie. 

Am nächſten Vormittag ging Salomon, jobald er es für ſchicklich Hielt, in 
das Haus de3 Profelytenichreibers, um nad dem Befinden feines Kindes zu 
fragen und zu jehen, was zu thun und gut zu machen jei. Die Eltern empfingen 
ihn mit höflicher Entihuldigung und ſetzten ihm erflärend auseinander, wie nicht 
nur. der tiefgehende Naturcultus und die wilde Skizzenluft feiner Schildereien, 
fondern auch der Manequin, die Thiergerippe und al’ die anderen Seltſamkeiten 
das bejcheidene Gemüth ihrer Tochter erſchreckt Hätten, und wie fie jelbft auch 
finden müßten, daß jolche ausgeiprochene Künftlerlaune den Frieden eines 
bejcheidenen Bürgerhaufes zu ftören drohte. Weber diefen Reden, die den guten 
Salomon immer mehr in Verwunderung festen, fam die Tochter herbei, mit 
verweinten Augen, aber gefaßt; fie reichte ihm freundlich die Hand und jagte 
mit janften, aber entjchloffenen Worten, fie könne nur unter der feften Bedingung 
die Seine werden, wenn beide Theile dem Bilderweſen für immer entjagen und 
jo alles Fremdartige, was zwiſchen fie getreten, verbannen würden, ein Jedes 
liebevoll jein Opfer bringend. 

Salomon Landolt ſchwankte einen Augenblid; doch Jeine Geiftesgegenwart 
ließ ihn bald erkennen, daß hier eine Form der Unbeicheidenheit im Gewande 
unjchuldiger Beſchränktheit auftrete, die den Hausfrieden keineswegs verbitrge 
und da3 geforderte Opfer allzu theuer made, und ex beurlaubte ih, ohne ein 
Wort zur Bertheidigung feiner Malcapelle vorzubringen, von der Herrichaft, 
fowie von dem Miedehopf und dem Herren Antiftes fammt ihrem ganzen Gefolge, 


Kaum war die übliche Trauerzeit über das Hinjcheiden einer Hoffnung vorbei 
und der Zorn der Großmutter über die „Jaubere Anzettelung“, Hinter die fie 
ſchließlich gekommen, verraudht, jo flog die Amjel daher als die unmittelbare 
Nachfolgerin obiger Grasmücke. 

Halb Stadtwohnung und halb Landgut, lag in einer der Vorftädte mitten 
in jehönen Gärten ein Haus, in welches Landolt nicht jelten zu kommen 

* 


36 Deutiche Rundſchau. 


pflegte, da ex in demjelben befreundet und auch wohl angejehen war. Als ein 
Wahrzeichen diefer Befiung konnte gelten, daß auf einer hohen Wegmouthafichte, 
die in einer Gartenede jtand, das heißt auf der oberjten Spitze dieſes Baumes, 
jedes Frühjahr allabendlich eine Amjel jaß und mit ihrem wohltönenden Gejange 
die ganze Gegend erfreute Don diefer Amſel her benannte Landolt, nach jeiner 
Weife, das nächſtliegende Merkmal zu ergreifen, das ſchöne Mädchen Aglaja, 
was übrigen auch fein Chriftenname, jondern eine weitere von ihm erſonnene 
Benennung ift, da er diefen Namen einer der drei Grazien mit dem Namen der 
Pflanze Agley, Aquilegia vulgaris, irrthümlich für daſſelbe Wort hielt. Zu 
diefem Irrthum hatte ihn der zier- und anmuthsvolle Anblick der Agleypflanze 
verleitet, deren bald blaue, bald violette Blumengloden ihm eben jo reizend um 
die ſchwanken, hohen Stengel zu ſchweben und zu niden jchienen, wie die ajch- 
blonden Loden der Amfel oder Aglaja um deren Naden. 

AL er im vergangenen Frühling eines Abends an jenem Hauje vorüber: 
gegangen, war er einen Augenblick ftill geftanden, um dem Gejange der Amſel 
zuzuhören, und hatte das jchöne Welen zum erften Mal unter dem Baume 
ftehend geſehen. Es war eine Tochter des Haufes, die von mehrjährigem Auf: 
enthalte im Auslande zurücdgeholt tworden. Seine Augen hatten fie jehr wohl 
aufgefaßt; da er aber damal3 juft in den Wendelgardiichen Handel vertwicelt 
tar, jo ging er jeines Weges weiter, nachdem er den Hut gezogen Hatte. 

Seht war e3 Herbft geworden, und wie Salomon im milden Sonnenſchein 
am Saum eines Gehölzes Hinftrid) und eine verjpätet blühende Agleye fand, 
diefelbe brach und betrachtete, fiel ihm plötzlich das Mädchen unter dem Amfel- 
baum ein, defjen er jeither nie mehr gedacht hatte. Dieje geheimnißvolle, un- 
mittelbare Einwirkung der Blume erfchien feinem vielgeprüften und noch juchenden 
Herzen wie ein jpät, aber um jo Elarer aufgehender Stern, eine untrügliche 
Eingebung höherer Art. Er ſah die Ichlanfe Geftalt mit dem gelodten Haupt 
deutlich gegenwärtig, wie fie eben mit gejenktem Blicke dem Gejange des Vogels 
gelaufcht und nun die ernften Augen auf den Grüßenden richtete. 

Am Abend defjelden Tages noch machte er in dem Haufe zum erſten Mal 
jeit geraumer Zeit wieder feinen Bejuch und blieb gegen drei Stunden bei der 
Tamilie in guter Unterhaltung. Aglaja jaß ftil am Tiſche, mit Striden 
beichäftigt, und betrachtete Salomon ganz offen und aufmerkſam, wenn er ſprach; 
oder wenn ein Anderer etwas Bemerkenswerthes jagte, jah fie wieder zu ihm 
hin, wie wenn fie jeine Meinung hierüber erforichen wollte. Es war ihm jehr 
wohl zu Muth, und al3 ex fortging, gab fie ihm mit einem feften Schlage die 
Hand und ſchüttelte die jeinige wiederholt, wie einem alten Freunde. Als er 
fie bald nachher auf der Straße traf, erividerte fie feinen Gruß mit einem leifen 
Lächeln der Freude über die unverhoffte Begegnung, und das nächſte Mal, das 
ſich nicht lange darauf zutrug, eilte fie ihm fogar unbefangen entgegen und fragte 
ihn, ob er nicht der Kleinen Weinleſe beiwohnen möge, die joeben bei ihnen 
gehalten und Heute Abend mit einer bejcheidenen häuslichen Luftbarkeit ihren 
Abſchluß finden würde. Gern jagte ex zu und begab fich zur geeigneten Zeit, 
mit Feuerwerk verjehen, nad) dem halb ländlichen Wohnfite, wo eine Menge 
junger Leute und Kinder fröhlich) verfammelt waren. Er machte ſich mit feinen 


Züricher Novellen. 37 


Raketen und Heinen Sonnen nützlich und beliebt bei der aufgeregten Jugend; 
wiederholt kam Aglaja, die überall ordnete und forgte, ihm ihre Freude über 
jein Kommen und feine vortrefflichen Leiftungen zu bezeugen; und ala e8 zum 
üblihen Winzermahle ging, welches die Hausfrau, ihre Mutter, wegen Unwohlſeins 
im Stiche laſſen mußte, fette fie ihn unten an den langen Tiſch, aber neben 
ihren eigenen Platz. 

Auch hier erwies er fih brauchbar, indem er mit leichter Hand eine Ganz 
umd zivei Hafen zerlegte, worüber Aglaja auf's Neue Freude und Beifall äußerte, 
und zwar wie Jemand, dem es willtommen ift, jolches thun zu können; obgleich 
die Gelegenheit davon herrührte, daß der Papa fih an einem Schwärmer die 
Hand verbrannt hatte und daher nicht, jelbft trandirte. Als die Ehluft der 
munteren Schaar geftillt war und Geräuſch, Gejang, Muſik und Tanz das Fyeld 
behaupteten, lehnte Aglaja fich zufrieden in ihren Stuhl zurüd, vorgebend, daß 
fie vom Tagewerk nun ausruhen müffe, und e8 fiel ihr leicht, ihren Nachbar 
neben fich zu behalten. Sie unterhielten fih, von der lärmenden Herbftfreude 
ungeftört, mit großer Kurzweil und ruhigem Genügen an ſchlichter Wechſelrede. 
Aglaja jah den Salomon immer wieder mit forjchender Freundlichkeit an, und 
wenn fie dann den Blick finnend vor fih Hin richtete, betrachtete er wiederum 
den reizenden Kopf und die anmuthige Geftalt. Kurz und qut, fie wurden in 
diefen Stunden erklärte gute Freunde, und das Tiebenswerthe Mädchen bat den 
jungen Dann beim Abſchiede förmlich, feine Bejuche ja doch fleißiger zu wieder— 
holen und einen getreulichen Verkehr, den fie nicht gerne entbehre, mit ihr zu 
unterhalten. 

Sie wußte in der Folge denn auch immer eine Botſchaft zu jenden, etwas 
auszubitten oder Verſprochenes zu erfüllen, das fie ſich geſchickt Hatte abloden 
laſſen, und Salomon erwog im warmen Herzen, daß er jebt endlich vor bie 
rechte Schmiede gekommen jet. 

„Das ift Eine,“ dachte er, „die weiß, was fie will, und fteuert offen und 
ehrlich, ohne fich zu zieren, auf das Ziel los; ob diejes Biel ein Fluges oder 
unfluges ift, bin ich nicht jo thöricht zu unterſuchen, da es mich jelbft angeht. 
Leder jehe, wie er zu dem Seinigen kommt!“ 

So wiegte er fi) immer tiefer in einen Traum hinein, der ſüßer und 
lieblicher ſchien, al3 alle früheren Träume, und ein rechtes neue? Leben, Kar 
und ruhig, wie der blaue Himmel. Doch jcheute er ſich mit unbetwußter Vorficht, 
die Klarheit zu trüben und die Sache zu übereilen, jondern genoß den Winter 
hindurch dieje noch nie erlebte Ruhe in der Leidenschaft mit wachſender Sicherheit 
und um fo inniger, als Aglaja mehr ernfter als heiterer Stimmung war und 
oft fi einem träumerifchen Sinnen hingab, aus welchem fie dann unverjehens 
die Augen auf ihn richtete. 

„Ei,“ dachte er, „Laffen wir das Fiſchlein auch einmal ein wenig zappeln! 
Dieje Nation hat uns ſchon genug geplagt!“ 

Aber im Frühjahr gewann es den Anjchein, al ob Aglaja felbft die Sache 
in die Hand nehmen wolle. Sie äußerte undermuthet den Wunjch, ihre ver- 
nachläffigten Reitübungen wieder aufzunehmen, und lenkte es mit geringer Mühe 
fo, daß Landolt ala ihr Begleiter und Lehrer augerwählt wurde. Sie ritten 


— 
38 Deutſche Rundſchau. 


alſo zuſammen auf den ſchönſten Wegen der Umgebung, auf den Seeſtraßen und 
durch die hochgelegenen Gehölze, wobei Aglaja freilich zeigte, daß fie durchaus 
feines Unterrichtes mehr bedurfte. Deſto vertrauter und mannigfadher waren 
ihre Geſpräche, und fie theilten fi mit, was fie freute oder verdroß an der 
ihönen Welt, an der holperigen Erbe. 

Bon den mehrfachen Liebesgefchichten Salomon’3 mochte das Eine oder Andere 
durcchgefickert fein; gewiß war, daß von der Profelytenjchreiberei aus das letzte 
Abenteuer in den Mund der Leute gefommen, ſchon weil das tragiſche 
Ende des Bejuches und ber feierliche Abzug mit der Sänfte eine ausreichende 
Darftellung erforderte. 

Hierauf bezog Landolt die Worte Aglajens, als fie bei einem Halt unter 
grünenden Linden, während fie die Pferde verfchnaufen ließen, mit theilnahm- 
voller leifer Stimme zu ihm fagte: 

„Liebfter Freund, Sie find gewiß auch ſchon recht unglüdlich geweſen!“ 

Ueberraſcht von der plößlichen Frage erwiderte er mit einem lachenden 
Blide blos: „O, e8 macht ſich jo! Ich kann fait jagen wie Vetter Stille, ich 
fei auch ſchon ein paar Mal luſtig oder unluftig gewejen in meinem Leben!“ 
Bei jih aber dachte er: Jetzt ift die Zeit da! Yet muß es gejchehen! Aber jei 
es nun, dab er die Gituation zu Pferde nicht für geeignet hielt, die Liebes- 
ertlärung mit den begleitenden Umftänden einer joldhen zu wagen, oder daß ein 
letztes Zögern der Vorficht ihn beftimmte: ex jete die Pferde in raſchen Trab, 
fo daß die Unterhaltung abbrach. Um jo wärmer aber drüdte ihm Aglaja beim 
Abichiede die Hand, und faum nad) Haufe gelangt, jchrieb er ihr in wenigen 
Zeilen, wie lieb fie ihm fei. Sogleich jchrieb fie ihm zurüd, feine lieben Worte 
rühren, erfreuen und ehren fie; er möge fie morgen zu einem langen Spazier- 
gange abholen, ein ſchicklicher Vorwand werde ſich finden. In aller Frühe kam 
noch ein Briefen, in welchem fie die Form und den Vorwand feftjete, ein 
zufällige Zujfammentreffen zweier Beſuche in gleicher Gegend, zweckmäßige Be- 
gleitung auf Fußpfaden bei dem ſchönen Wetter u. ſ. w. 

Landolt Eleidete ſich jorgfältiger als gemöhnlidh, faft wie ein Lacedämonier, 
der in die Schlacht geht; er that jogar ein Paar Granattnöpfe in die Manjchetten 
und nahm ein ſchlankes Rohr mit filbernem Knaufe zur Hand. 

Auch Aglaja war ſchon im jchönften Sommerftaat, al3 er fam; fie trug 
ein weißes, mit Veilchen bedructes Kleid und lange Handſchuhe vom feinsten 
Leder. Der fojtbarfte Schmuc aber waren ihre Augen, mit welchen fie einen 
dankbar leuchtenden Bli auf Salomon warf, als fie ihm die Hand gab. Un— 
geduldig, wie Einer, der in großer Angelegenheit einen bedeutenden Schritt 
weiter zu fommen hofft, drängte fie zum Aufbrud). 

Wie er die jeltene Geftalt auf ſchmalem Pfade vor fich her wandeln jah, 
pries er in feinem Herzen jene ſchwanke Agleypflanze mit ihrem Glodenhaupt, 
die ihn auf einen jo lieblichen Weg geführt hatte. Ein Lufthauch rauſchte leiſe 
in dem jungen Buchenlaub, unter welchem fie gingen, und regte leicht die Locken 
auf Aglaja’3 Naden und Schultern. 

„Es ift doc eine ſchöne Sache um die Sprichwörter!” jagte er bei ſich 
jelbit; „wer zuletzt lacht, lacht am beten, und Ende gut, Alles gut!“ 


Züricher Novellen. 39 


In diefem Augenblicke wendete ji Aglaja und trat, da der Weg breiter 
wurde, neben ihn; fie gab ihm nochmals die Hand, eine fchöne Röthe verflärte 
ihr Geficht, und mit ftrahlenden Augen, die fih mit Thränen füllten, fagte fie: 

„Ich danke Ihnen für Ihre edle Neigung und für Ihr Vertrauen! E3 muß 
und wird Ihnen gut gehen und befjer, als wenn ich außerjehen wäre, Sie zu 
beglüden! So wiſſen Sie denn, daß ich jelbft in einer feligeunfeligen Leidenſchaft 
gefangen liege, daß ein heißgeliebter Mann mich twieder liebt, ja, daß ich geliebt 
bin, Ihnen darf ich es jagen!“ 

Und jo erzählte fie mit vielen Leidenfchaftlich bewegten Worten ihre Liebes- 
und Leidensgefhichte, daß es in Deutjchland geichehen jei und einen Geiftlichen 
betreffe. 

„Ein Pfaff!” jagte Landolt faft tonlos, und erft jet ftolperte er ein wenig, 
troß ſeines filberbeichlagenen Stabes, und obgleich nicht der kleinſte Stein im 
Wege lag. 

„D, jagen Sie nicht Pfaff!” rief fie flehentlich; „es ift ein wunderbarer 
Menſch! Sehen Sie her, jehen Sie in da3 unergründliche Auge!“ 

Sie riß ein Medaillon aus dem Bujen, da3 fie an einem wohlverborgenen 
Schnürchen trug, und zeigte ihm das Bildniß. E3 war ein junger Mann in 
ſchwarzer Tracht, mit ziemlich regelmäßigen Geſichtszügen und allerdings großen, 
dunklen Augen, mit welchen mande Maler Jeſum von Nazareth darftellen. 
Man konnte fie auch ſchwarze Junoaugen nennen. Landolt aber dachte, indem 
er das Bild mit bitteren Gefühlen, aber ftarren Blicken betrachtete: es find die 
Augen einer Kuh! 

Als fie e3 wieder in den weißen Buſen verjorgte, war es ihm, als hörte 
er e3 dort leije fichern, nach dem Wort: wer zuleßt lacht, lacht am beften. 

Die Geihichte, die Aglaja nun zu erzählen fortfuhr, war aber ungefähr 
diefe: Als Halberwachjenes Mädchen jchon zu einer blut3verwandten Familie 
in der deutjchen Stadt &. gebracht, um dort audgebildet zu werden, hatte fie 
im Haufe derjelben den jungen Geiftlichen kennen gelernt, der ungeachtet feiner 
Sugend ala Kanzelredner bereit3 in großem Anjehen jtand. Er war jehr orthodor 
und hatte troßdern einen Anflug von Pietismus oder Schwärmerei; vom Gött- 
lichen und Seligmachenden, von unerſchöpften Liebesihäten und der ewigen 
Heimath der Menjchen jprach er jo heißblütig und überzeugt, daß alles dies in 
feiner Perfon zugegen und verbürgt ſchien, und in Verbindung mit den be= 
ftriddenden Augen in dem jungen, unerfahrenen Mädchen eine unbezwingliche 
Sehnſucht nach dem Beſitze feines Herzens erweckte, welche Sehnſucht durch eine 
überreiche Phantaſie, die Alles noch übergüldete und verklärte, zu einer ſüß— 
bitteren glühenden Leidenſchaft verſtärkt wurde, die mit den Jahren wuchs, 
anſtatt abzunehmen. Solch' eine Leidenſchaft, die ſich natürlich bald verräth, 
hätte nicht in einem ſo ſchönen Weſen wohnen müſſen, wenn ſie nicht ent— 
ſchiedene Gegenliebe finden ſollte. Allein die verwandte Familie ſowol wie das 
elterliche Haus waren einer Verbindung aus mehr als einem Grunde abgeneigt, 
und je ernſter der Seelenzuſtand der anmuthigen Aglaja wurde, deſto ernſter 
wurden auch die Schwierigkeiten, die ſich ihrem Sehnen und Wünſchen ent» 


40 Deutſche Rundſchau. 


gegenthürmten, ſo daß ſie zuletzt gewaltſam herausgeriſſen und nach Hauſe 
geholt wurde. 

Da ſie aber von edlem und ernſtem Charakter war, hielt ſie nur um ſo be— 
harrlicher an ihrer Neigung feſt; ſie wechſelte Briefe mit dem Geliebten, äußerlich 
ruhig, innen aber von nie ruhender Hoffnung bewegt, die auf's Neue mächtig 
aufflammte, als der Geliebte auf einer Schweizerreiſe in Begleitung eines Fürſten 
fie zu ſehen Gelegenheit fand und jelbft in ihrem Haufe Zutritt erhielt. Allein 
fo geborgen feine Stellung und Zukunft ſchien, änderten fi) die Dinge und die 
Gründe des MWiderftandes ihrer Eltern doch nicht, weldje eben von Haus aus 
andere Abfichten mit der Tochter hegten und mit ruhiger Milde und Liebe, aber 
eben fo großer Ausdauer an ihrem Plane fefthielten. 

So ftanden die Saden, als Aglaja, die fich ftet3 nad Hülfe umjah, den 
Salomon Landolt auf dem bejchriebenen Kleinen Umwege zum Freunde und Helfer 
warb, der er auch wurde. 

Er begleitete fie getreulich bis zu dem Landfite, den fie bejuchen wollte, 
und holte fie gegen Abend dort ab, und bis fie zu ihrem Haufe kamen, hatte 
fie ihn ganz für fi) gewonnen. Er liebte und bewunderte ihre Liebe, dergleichen 
ex noch nicht gejehen, wurde jogar für den glüdlichen Geliebten eingenommen und 
bielt e3 für Recht und Pflicht und für eine Ehre, der ſchönen Aglaja zu helfen. 

Erſt ſprach er mit dritten einflußreichen Perfonen in vertraulicher Weiſe 
und wußte die Eltern mit neuen Geſichtspunkten und Rathichlägen zu umgeben; 
dann ſprach er mit Vater und Mutter jelbft wiederholt, und bevor ein halbes 
Jahr verfloffen war, Hatte er die Wege geebnet und konnte der geiftliche Herr 
die Braut heimführen. Sie hatte dem Freunde fogar den Titel Conſiſtorial— 
räthin und Hofpredigerin zu danken, da ex, um fie gut zu betten, die erhabenften 
und gelehrtejten Correfpondenten Zürich's in Tribulation gejegt Hatte. 

Seine herzliche Theilnahme blieb ihr auch noch, als fie vier oder fünf Jahre 
jpäter ala einjame Wittwe zurückkehrte; denn leider war der tiefe Glanz der 
Augen ihres Mannes zum Theil auch die Folge einer hektiſchen Leibesbeichaffenheit 
geweſen und er früh an der verzehrenden Krankheit geftorben. Ebenjo verzehrend 
war freilich der brennende Ehrgeiz de3 Mannes, feine unaufhörliche Sorge für 
irdiiches Anjehen, Beförderung und Auskommen, und Aglaja mußte vor- und 
nachher nie jo viel ängſtliches Berechnen von Einkünften, Zehnten und Sporteln 
erleben, wie in den kurzen Jahren ihrer Ehe. Defto gefaßter und ergebener 
ſchien fie jet ihre Tage zu verbringen. — 

Diele waren num die fünf weiblichen Wejen und alten Liebichaften, welche 
bei fich zu vereinigen e8 den Landvogt von Greifenjee gelüftete. Zwei oder drei 
lebten in Zürich, die anderen nicht weit davon, und es kam nur darauf an, fie in 
der Weile herbeizuloden, daß feine von der anderen wußte und auch jede allein 
fam, in der Meinung, fie werde befreundete Gejelljchaft finden. Das Alles bes 
redete er mit der Frau Marianne und traf die geeigneten Veranftaltungen. Er 

— den letzten Tag des Maimonats für das große Feſt an und ließ die 
Einladungen ergehen, welche ſämmtlich ohne Arg angenommen wurden, ſo daß 
bis dahin die Sache trefflich gelang. 


— — 


Züricher Novellen. 41 


Mit dem erften Morgengrauen des 31. Mai ftieg Landolt auf die oberfte 
Warte des Schlokthurmes und ſchaute nad) dem Wetter au. Der Himmel 
war ringsum wolkenlos, die Sterne verglühten, im Oſten begann es xofig zu 
werden. Da ftedte er die große Herrfhaftsfahne mit dem jpringenden Greifen 
auf den Wimperg der Burg, und Hinter die Ringmauer ftellte er zwei Kleine 
Kanonen, um mit ihrem Donner die ankommenden Schönen zu begrüßen. Um 
ficher zu jein, hatte ex dafür gejorgt, daß Jede mit befonderem Fuhrwerk ab- 
geholt und herbeikutſchirt wurde. Die gefammte Dienerfchaft mußte fi in den 
Sonntagsftaat hüllen; das Zierlichſte aber war fein Affe Eocco, welcher, für 
diejen Tag bejonders abgerichtet, als eisgrauss Mütterchen gekleidet, auf einem 
mächtigen Haubenbande die Inſchrift trug: Ich bin die Zeit! 

Im nern des Haufes ftand die Frau Marianne als Haushofmeifterin 
bereit in einer verjährten, reichen Tracht mit Fatholifchetiroliihem Pomp; ihr 
war zur Seite gegeben ein jchöner vierzehnjähriger Knabe, welchen der Landvogt 
eigend ausgeſucht und in das Gewand einer reizenden Zofe gekleidet hatte, die 
zur Bedienung der Damen beftimmt wäre. 

Gegen neun Uhr erdbröhnte der erſte Kanonenſchuß; man jah zwiſchen den 
Bäumen und Heden gemädlich eine Kutſche daherfahren, in welcher Figura Leu 
ſaß. As der Wagen vor dem Scloßthore hielt, jprang der Affe mit einem 
großen, duftigen Strauße von Roſen hinauf und drückte ihr denjelben mit pojfir- 
lien Geberden in die Hände. Den Rebus augenblicklich verftehend, nahm fie 
den Gocco jammt den Rofen auf den Arm und rief im Ausfteigen erfreut und 
voll Heiterkeit, indem der Landvogt, den Degen an der Seite und den Hut in 
der Hand, ihr grühend den Arm bot: „Was gibt es denn Alles bei Ahnen, 
was bedeutet die Fahne auf dem Dache, die Kanone, und die Zeit, die Roſen 
bringt?" 

Da fie ganz ſchuldlos und ihm die Liebfte war, jo weihte er fie in das 
Geheimniß ein und anvertraute ihr, daß heut alle fünf Betwußten hier zufammen- 
treffen würden. Sie erröthete zuerft. Als fie aber ein wenig nachgedacht, 
lächelte Sie nicht unfein. „Sie find ein Schelm und ein Poſſenreißer!“ jagte 
fie; „nehmen Sie fi in Acht, wir werden Sie an’3 Kreuz fchlagen und 
Ihren Affen braten, jammt feinen Rofen, singe aux roses! nicht wahr, Cocco, 
Heiner Zandvogt ?“ 

Kaum Hatte er fie in die Wohnung hinauf geführt, wo fie von Frau 
Matianne und dem Zofentnaben fogleich bedient wurde, jo donnerte das Ge— 
ihü von Neuem, und es fuhren zwei Wagen gleichzeitig vor. E3 waren 
Wendelgarde und Salome, der Gapitän und der Diftelfint, welche ankamen und 
fi Ichon auf dem Wege gegenfeitig gewundert hatten, wer in der andern ftet3 
in Sicht fahrenden Kutſche fein möge. Diefe zwei Damen wußten von einander 
und ihren einftmaligen Beziehungen zum Landvogt; fie betrachteten fich jchnell 
mit neugierigen Bliden, wurden aber bald abgezogen durch Eocco, der mit neuen 
Rofen gehüpft fam, und Landolt, der fie, an jedem Arm eine, in’ Haus 
ührte. 

Dort hatte inzwiſchen Frau Marianne ihr erſtes Examen mit Figura eben 
beendigt; da fie dieſelbe unſchuldig wußte, jo verhielt fie ſich gnädig und menſch— 


42 Deutſche Rundſchau. 


lich gegen fie; deſto feuriger funkelten aber ihre Augen, als Salome und Wen— 
delgarde eintraten. Die Flügel ihrer Hakennaſe und die Oberlippe, auf welcher 
ein ſchwärzlicher Schnurrbart lag, zitterten leidenſchaftlich den zwei ſchönen 
Frauen entgegen, die einſt vom Landvogt abgefallen waren, und es bedurfte eines 
ſtrengen Blickes des Herrn, um die treue Haushälterin im Zaume zu halten 
und fie zu einem leidlich höflichen Benehmen zu zwingen. 

Auch die Aglaja, die nun anlangte und auf gleiche Weife empfangen wurde, 
wie ihre Vorgängerinnen, mußte eine jehr kritiſche Befichtigung aushalten, da 
noch nicht entjchieden war, ob die That, die fie an Landolten gethan, um einen 
Helfer in der Noth zu gewinnen, verzeihlich oder unverzeihlich jei. Die Alte 
ließ fie jedoch mit einem heimlichen Murren pajjiren, in Betracht, daß Aglaja 
immerhin einer echten Liebe fähig gewejen und nad der erften Neigung ge= 
beirathet habe. 

Kaum eines Blickes aber würdigte fie die Grasmüde, deren Ankunft die 
letzten Kanonenſchüſſe verfündigten. Was jollte jie mit einer Fliege, die getvagt 
hatte, mit dem Herrn Landvogt anzubinden, und fih dann doch vor ihm 
ſcheute? 

Der Landvogt merkte gleich, daß die zarte Grasmücke, die ſo ſchon faſt 
zitterte und nicht wußte, wie ihr geſchah unter den Prachtgeſtalten, verloren 
war vor der alten Huſarin, und befahl fie mit wenigen heimlichen Worten in 
den bejonderen Schuß der Figura, die fich jofort ihrer annahm. Im Uebrigen 
geſchah jett ein großes Vorftellen und Begrüßen; die Figura Leu ausgenommen, 
fahen fich die hübjchen Frauen gegenjeitig und über’3 Kreuz an und mußten 
nicht, woran fie waren; denn natürlich kannten fie fich alle vom Gehen und 
Hörenjagen jchon, abgejehen von der Schwägerihaft zwiſchen Wendelgarde und 
Figura. Doc) verbreitete leßtere jo gut twie des Landvogt3 glückliche Stimmung 
Togleich einen Heiteren, vergnügten Ton; auch wurde feiner müßigen Spannung 
Raum gelafjen, vielmehr ein leichtes Frühſtück herumgeboten, in Thee und 
ſüßem Wein mit Gebäd beftehend. Frau Marianne bejorgte das Einjchenten, 
der Knabe trug die Taſſen und Gläschen herum, und die Damen betrachteten 
Alles neugierig, bejonder8 die vermeintliche junge Zofe, die ihnen etwas ver— 
dächtig erihien. Dann begudten fie herumgehend die Wände rings, die Ein- 
richtung des Zimmerd und wiederum Eine die Andere, während Landolt Eine nad) 
der Andern höflich vertraut anſprach und mit zufriedenem Auge prüfte und ver« 
glich, bis fie endlich über ihre Lage Kar wurden und merkten, daß fie in einen 
Hinterhalt gerathen waren. Sie fingen wechjelweije an zu erröthen und zu 
lächeln, endlich zu lachen, ohne daß jedoch der Grund und das offene Ge- 
heimniß ausgejprocdhen wurde; denn der Landvogt bämpfte unverjehens die 
Fröhlichkeit mit der feierlich ernften Entſchuldigung, dab er jetzo eine Kurze 
Stunde jeinem Amte leben und als Richter einige Fälle abwandeln müſſe. Da 
e3 alles leichtere Sachen und Kleine ECheftreitigfeiten jeien, meinte er, würde es 
die Damen vielleiht unterhalten, den Verhandlungen beizumohnen. Sie nahmen 
die Einladung dankbar an, und er führte fie dem gemäß in die große Amtaftube, 
two fie auf Stühlen zu beiden Seiten feines Richterftuhles Pla nahmen, gleich 


Züricher Novellen. 43 


Geſchworenen, während der Schreiber an feinem Tiſchchen vor ihnen in ber 
Mitte ſaß. 

Der Amtsdiener oder Weibel führte nunmehr ein ländliche Ehepaar herein, 
welches in großem Unfrieden Iebte, ohne daß der Landvogt bis jeht hatte er- 
mitteln können, auf welcher Seite die Schuld lag, weil fie fich gegenjeitig mit 
Klagen und Anſchuldigungen überhäuften und Keines verlegen war, auf die grobe 
Münze de3 Andern Kleingeld genug herauszugeben. Neulich hatte die Frau dem 
Panne ein Becken voll heißer Mehlfuppe an den Kopf getvorfen, jo daß er jetzt 
mit verbrühtem Schädel daftand, und bereit? ganze Büſchel feine Haares 
herunterfielen, was er mit höchfter Unruhe alle Augenblicke prüfte, und es doch 
gleich wieder bereute, wenn ihm jedesmal ein neuer Wiſch in der Hand blieb. 
Die Frau aber leugnete die That rundiweg und behauptete, der Mann habe in 
feiner tollen Wuth die Suppenſchüſſel für feine Pelzmütze angefehen und fich 
auf den Kopf ftülpen wollen. Der Landvogt, um auf feine Weife einen Aus— 
weg zu finden, ließ die rau abtreten und fagte hierauf zum Marne: „ch 
fehe wol, daß Du der leidende Theil und ein armer Hiob bift, Hans Jacob, 
und daß das Unrecht und die Teufelei auf Seiten Deiner Frau find. Ich werde 
fie daher am nächſten Sonntag in das Drillhäuschen am Markte ſetzen laſſen, 
und Du jelbft jollft fie vor der ganzen Gemeinde herum drehen, bis Dein Herz 
genug hat umd fie gezähmt iſt!“ Allein der Bauer erfchraf über dieſen Spruch 
und bat den Landvogt angelegentlih, davon abzuftehen. Denn wenn feine Frau, 
fagte er, auch ein böſes Weib jet, jo ſei fie immerhin feine Frau, und es gezieme 
ihm nicht, fie in folder Art der öffentlichen Schande preiszugeben. Er möchte 
bitten, es etwa bei einem fräftigen Verweiſe beivenden laffen zu tollen. Hier— 
auf ließ der Landvogt den Mann hinausgehen und die Frau wieder eintreten. 
„Euer Mann ift,” jagte er zu ihr, „allem Anjchein nad) ein Taugenichts und 
hat fich jelbft den Kopf verbrüht, um Euch in’3 Unglüd zu ſtürzen! Seine 
ausgefuchte Bosheit verdient die gehörige Strafe, die Ihr ſelbſt vollziehen ſollt! 
Wir wollen den Kerl am Sonntag in da3 Drillhäuschen jegen, und Ihr möget 
ihn aladann vor allem Volke fo Lange drillen, al3 Euer Herz verlangt!“ Die 
Frau hüpfte, als fie das hörte, vor Freuden in die Höhe, dankte dem Herrn 
Landvogt für den guten Spruch und ſchwur, daß fie die Drille jo gut drehen 
und nicht müde werden wolle, bis ihm die Seele im Leibe weh thue! 

„Nun ſehen toir, wo der Teufel ſitzt!“ jagte der Landvogt in ftrengem Ton 
und verurtheilte das böſe Weib, drei Tage bei Wafler und Brod im Thurm 
eingefperrt zu werden. Zornig blidte der Drade um fih, und als fie Links 
und rechts die Frauen mit den Rojen ſitzen jah, die fie furchtſam betrachteten, 
ftreefte fie nad) beiden Seiten die Zunge heraus, ehe fie abgeführt wurde. 

Geht erihien ein ganz abgehärmtes Ehepaar, das den Frieden nicht finden 
fonnte, ohne zu wiſſen, warum. Die Quelle des Unglüd3 lag aber darin, daß 
Mann und rau vom erften Tag an nie mit einander ordentlich geſprochen und 
fi da3 Wort gegönnt hatten, und diejes kam wiederum daher, daß es beiden 
gleihmäßig an jeder äußeren Anmuth fehlte, die einem Verweilen auf irgend 
einem Berjöhnungapunfte gerufen hätte Der Mann, der ein Schneider war, 
bejaß ein tiefes Gerechtigkeitsgefühl, wie er meinte, und grübelte während de3 


44 Deutſche Rundſchau. 


Nähens unaufhörlich über daſſelbe nach, während andere Schneider etwa ein 
Liedchen fingen oder einen ſchnöden Spaß ausdenken; die Frau beſorgte aus— 
ſchließlich das kleine Ackergütchen und nahm ſich bei der Arbeit vor, beim 
nächſten Auftritt nicht nachzugeben, und da fie beide fleißige Leute waren, jo 
fanden fie faft nur mährend des Eſſens die zum Zanken nöthige Zeit. Aber 
auch diefe Tonnten fie nicht gehörig ausnützen, weil fie gleich im Beginn des 
Wortwechſels neben einander vorbeifchoflen mit ihren geſpitzten Pfeilen und in 
unbefannte Sumpfgegenden geriethen, wo fein regelrechte Gefecht mehr möglich 
war und da3 Wort in ftummer Wuth erfticdte. Bei diefer Lebensweiſe ſchlug 
ihnen die Nahrung nicht gut an, und fie ſahen aus wie Theuerung und Elend, ob- 
gleich fie, wie gefagt, nur an Liebenswürdigkeit ganz arm waren, freilich das ärmfte 
Proletariat. Geftern war ber Zorn des Mannes auf da3 äußerfte geftiegen, 
jo daß er auffprang und vom Tiſche weglief. Weil aber das Tiſchtuch an einem 
jeiner Weſtenknöpfe hängen blieb, zog er daſſelbe ſammt der Haferfuppe, der 
Krautichüffel und den Tellern mit und warf Alles auf den Boden. Die Frau 
nahm da3 fir eine abfichtlicde Gewaltthat, und der Schneider ließ fie, plöglich 
von Klugheit erleuchtet, bei diefem Glauben, um fein Anfehen zu ftärfen und 
feine Kraft zu zeigen. Die Frau aber wollte dergleichen nicht erdulden und ver— 
klagte ihn beim Landvogt. 

Als diefer fie nun nad) einander abhörte und ihr troftlofes Zänkeln, das 
gar feinen Compaß noch Steuerruder hatte, wahrnahm, erkannte ex die Natur 
ihres Handeld und verurtheilte das Paar zu vier Wochen Gefängniß und zum 
Gebrauch de3 Ehelöffels. Auf feinen Wink nahm der Weibel dieſes Geräth 
von der Wand, two e3 an einem eilemen Kettlein hing. Er war ein ganz jauber 
aus Lindenholz geſchnitzter Doppellöffel mit zwei Kellen am jelben Stiele, doch 
fo beichaffen, daß die eine aufwärt3, die andere abwärts gefehrt war. 

„Seht,“ jagte ber Landvogt, „diejer Löffel ift aus einem Lindenbaume gemacht, 
dem Baume der Liebe, des Friedens und der Gerechtigkeit. Denket beim Efjen, 
wenn Ihr einander den Löffel veicht (denn einen zweiten befommt hr nicht), 
an eine grüne Linde, die in Blüthe fteht und auf der die Vögel fingen, über 
welche des Himmels Wolfen ziehen und in deren Schatten die Liebenden fiten, 
die Richter tagen und der Friede geichloffen wird!” 

Das Männlein mußte den Löffel tragen, die rau folgte ihm mit der 
Schürze an den Augen, und jo wandelte das bleidhe, magere Pärchen trübjelig 
an ben Ort feiner Beftimmung, von wo es nad) vier Wochen verſöhnt und 
einig und jogar mit einem zarten Anflug von Wangenroth wieder hervorging. 

Nach diefem wurde, und zwar aus dem Gefängniß, eine vexrdrießliche, dide 
Frau vorgeführt, die mürriſch um ſich blickte und fich nicht wol befand. Es 
war die Gattin eines Untervogts, welche ihren Mann beredet hatte, den Landvogt 
mit einem Kalbsviertel zu beftechen, daß er ihnen günftig gefinnt würde und 
durch die Finger ſehe. Herr Landolt hatte die Frau, die das Fleiſch ſelbſt her— 
trug und jcherwenzelnd überreichte, jo lange in den Thurm geſetzt, bis das 
Viertelskalb von ihr aufgegeffen war, da3 jorgfältig für fie gekocht wurde. Sie 
hatte ſich begreiflicher Weiſe damit beeilt, jo jehr fie konnte, und vermochte num 
ein gewilles Mißbehagen nicht zu verbergen. Der Landvogt eröffnete ihr, daf 


Züricher Novellen. 45 


die Verzehrung des Kalbsviertels als Strafe für einen Beſtechungsverſuch an— 
zuſehen jei, daß aber für die Verleitung de3 eigenen Ehemannes zum Böjen eine 
Geldftrafe von 25 Gulden umd für die nachgiebige Schwäche de3 Mannes eine 
Buße von wiederum 25 Gulden auferlegt werde, was der Schreiber vormerken 
möge. Die dide Frau machte eine ungeſchickte Verbeugung und watjchelte, mit 
beiden Händen den Bauch Haltend, von dannen. 

Zwei Schweftern von jchöner Leibesbeichaffenheit waren angeſchuldigt, den 
ftillen und harmlofen Ehemännern nachzuftellen und Zwietracht und Unglüd 
in ben Haushaltungen zu ftiften und überdies ihre eigene alte Mutter auf dem 
Krankenlager Hilflos hungern und dahinfiechen zu laſſen. Bor das Gericht des 
Landvogts gerufen, erjchienen fie in verlodend üppigem Gewande, die Haare 
in verwegener Weile gepußt und mit Blumen geihmüdt, und mit jühem Lächeln, 
feurige Blicke auf den Landvogt werfend, traten fie auf. Ihre Free Abficht 
erfennend, führte er das Verhör jofort zu Ende und befahl, fie hinaus zu führen, 
ihnen die ſchönen Haare am Kopfe wegzufchneiden, die Divnen mit Ruthen zu 
ftreichen und fie jo lange an das Spinnrad zu jegen, bi3 fie Einige für den 
Unterhalt der Mutter verdient hätten. 

Hierauf erjchienen zwei religiöfe Sectiver als Kläger; die hatten dem 
Landvogte den Bürgereid verweigert und ſich beharrlich der Erfüllung aller 
bürgerlihen Pflichten widerjegt, ohne den wiederholten gütlichen Ermahnungen 
irgendwie Gehör zu geben, Alles unter Hinweis auf ihren Glauben und inneren 
Beruf. Sie beklagten ſich jet über arme Leute, welche in ihre Waldungen ge- 
drungen jeien und fi nad Belieben mit Brennholz verjehen hätten. 

„Ber jeid Ihr?“ Tagte der Landvogt, „ich kenne Euch nicht!“ 

„Wie ift das möglich?” riefen fie, indem fie ihre Namen nannten. „hr 
habt una ja ſchon mehrmals hierher berufen und den Amtsboten zu uns ge— 
fandt mit jhriftlihen und mündlichen Befehlen!” 

„sh Tenne Euch dennoch nicht!“ fuhr er kaltblütig fort; „da Ihr jelbft 
daran erinnert, wie Ihr feine bürgerlichen Pflichten anerkannt Habt, jo vermag 
ih Euch fein Recht zu ertheilen; geht und juchet, wo Ihr es findet!” 

Betroffen ſchlichen ſie Hinaus und juchten jchleunig das Recht durch Die 
Erfüllung der Pflichten. 

In ähnlicher Weije bejchied ex noch einige Parteien und Vorgeladene mit 
jeinen guten Einfällen; er jchlichtete Zwiſtigkeiten und bejtrafte die Nichts- 
nußigen, und e8 war inöbejondere zu beachten, daß er, den all mit dem be- 
ftehungsjüchtigen Untervogt ausgenommen, feine einzige Geldbuße ausjprad) 
und nicht einen Schilling bezog, während doch die Vögte diefe Seite der Ge- 
richtsbarkeit als eine Duelle ihrer Einnahmen zu benußen angewiejen waren 
und fie nicht jelten mißbrauchten. Seine Rechtſprechung ftand deshalb bei Hoch 
und Niedrig in gutem Geruche; jeine Urteile wurden in zwiefachem Sinne als 
lalomonijche bezeichnet, und die heutige Situng nannten die Leute noch lange 
wegen des Rojenduftes, der den Saal erfüllte, das Rojengeriht des Landvogts 
Salomon. 

Nun war er aber froh, daß das Geſchäft, das er wegen der Vorbereitungen 
zum heutigen Fefttage jo lange hinausgeſchoben hatte, bis e3 nothgedrungen auf 


46 Deutiche Rundſchau. 


diejen Tag jelbft fiel, abgethan war. Er lub die Frauen ein, fi) noch einen 
Augenblid im Freien zu ergehen, um vor dem Mittagsmahle, das fie allerjeits 
wohl verdient hätten, friſche Luft zu ſchöpfen; und als fie im Garten am See- 
ufer unter ſich waren, athmeten fie wirklich auf; denn fie waren ganz ängftlich 
geworden über die fichere Art, mit welcher diejer Junggeſelle die Ehejachen er— 
fannt und behandelt hatte. Die Eine oder Andere, welche ihn bis jet vielleicht 
nicht für jehr Hug gehalten, zerbrach ſich jogar nachdenklich den Kopf, was e3 
eigentlich für eine Bewandtnig mit ihm haben möge. Sie wurden aber alle 
von ihren mißtrauischen Gedanken abgezogen, al3 fie den Affen Cocco kläglich 
heranhopſen jahen, ben man jeiner unbequemen Kleider zu entledigen vergefjen 
hatte. Die Haube war verjhoben und hing ihm über das Gefiht, ohne daß 
er fie wegbrachte, und die Kleider verwicelten ihm die Beine oder hingen am 
Schwanz, und er machte hundert Anftrengungen, fi) davon zu befreien. Mit» 
leidig erlöften die Frauen den Affen von aller Unbequemlichkeit, und nun ver- 
trieb er ihnen bie Zeit mit den artigften Pollen und Streichen, dab alle Be— 
denfen und Melancholien aus ihren jchönen Häuptern entwichen, und der Land— 
vogt fie in einem fröhlichen Gelächter jand, als er fie, von zwei Dienern 
gefolgt, abholte und zum Eijen führte. 

„Ei!“ rief er, „jo hör’ ich gern zu Tiſche läuten! Wenn die Damen zu— 
jammen lachen, jo Elingt e3 ja, wie tvernn man das Glocdenfpiel eines Cäcilien- 
firchleins hörte! Welche läutete denn mit dem jchönen Alt? Sie, Wendelgarde? 
Und welche führte das helle Sturmglödlein, wie wenn das Herz brennte? Sie, 
Aglaja? Welche das mittlere Besperglöckhen, das freundliche? Es gehört Jhnen, 
Salome! Das filberne Betglödlein bimmelt in Ihrem purpurnen Gloden- 
ſtübchen, Barbara Thumeyſen! Und wer mit dem goldenen Tyeierabend Yäutet, 
den fennt man ſchon, 's ijt mein Hanstwurftel, die Figura!“ 

„Wie unartig!“ riefen die vier anderen Gloden, „Eine von und Hanswurſtel 
zu ſchelten!“ Denn fie wußten nicht, daß fie alle jolde Kojenamen bejaßen, 
aber nur Figura Leu den ihrigen kannte und genehmigt hatte. 

Das feine, jpröde Ei3 über den Herzen war num vollends gebroden. Das 
Gemach, in welchem der Tiſch gededt war, leuchtete vom Glanze des blauen 
Himmels und des noch blaueren Seeſpiegels, der durch die hohen Fyenfter herein- 
jtrömte; wenn aber das Auge Hinausjchweifte, jo wurde es gleich) beruhigt durch 
das jenjeitige junggrüne Maienland. Auf dem runden Tiſch in Mitten des 
Gemaches glänzte ein zarter Frühling von Blumen und Lichtfunten; denn er 
war auf das zierlichfte gededt und geihmüdt mit Allem, was der Landvogt 
aus den Gärten, wie aus den Schränken und der Altväterzeit hatte herbeibringen 
fönnen. 

Sechs Stühle mit hohen Lehnen ftanden um den Tiſch, jeder vom anderen 
jo weit entfernt, daß der Inhaber fich bequem und frei bewegen, den nächſten 
Nachbarn jehen und fi würdig mit ihm unterhalten fonnte, nad) rechts, wie 
nad links Hin; genug, e3 war eine Anordnung, als ob die Zafelrunde für 
lauter Churfürften gededt wäre, und es fehlte nur das eigene Büffet hinter 
jedem Stuhle Dafür thronte das große Schloßbüffet im Hintergrunde um jo 
großartiger mit jeinem alterthümlichen Geräthe. 


Züricher Novellen. 47 


An diefem Büffet, die eine Hand auf daffelbe gelegt, die andere gegen die 
Hüfte geftemmt, ftand bereit3 die Frau Marianne wie ein Marichall, in jchar- 
lachrothem Rode und ſchwarzer Sammetjade; über die gefältete Halskrauſe hing 
ein großes filbernes Grucifir auf die Bruft herab, und der gebräunte Hals war 
nod) extra von filigraniihem Schmuckwerk umjchlofjen. Auf dem ergrauendem Haar 
trug fie eine Haube von Marderpelz; das im Gürtel hängende weiße Vortuch be— 
zeichnete ihr Amt. Aber unter den ſchwarzen Augenbrauen hervor ſchoß fie 
geftrenge Blide im Saale umher, ala ob fie die Herrin wäre. 

Der Reipect, den fie einflößte, vericheuchte indeffen die einmal erwachte 
Heiterkeit nicht, und die fünf Frauen nahmen nad) der Anweiſung de3 Landvogts 
mit frohem Lächeln ihre Plätze. Zu feiner Rechten ſetzte er die Figura Leu, 
zu jeiner Linken die Aglaja, ſich gegenüber die ältefte der Flammen, Salome, 
und auf die zwei übrigen Stühle Wendelgarden und die Grasmüde. Mit 
einem warmen Glüdsgefühle jah er fie jo an feinem Tiſche verfammelt und 
unterhielt das Geſpräch nad) allen Seiten mit großer Befliljenheit, damit er 
ohne Verlegung des guten Tones Alle der Reihe nad) anſehen fonnte, vor⸗ und 
rückwärts gezählt und überjpringend, wie es ihn gelüftete. 

Frau Marianne Ihöpfte am Büffet die Suppe; der verkleidete Junge, ein 
wohlunterrichtetes, ſchlaues Pfarriöhnchen der Umgegend, trug und jeßte die 
Teller hin. Er jah einem achtzehnjährigen Fräulein ähnlich und ſchlug fort- 
während verfhämt die Augen nieder, wenn er angeredet wurde, gehorchte ber 
Marianne auf den Wink und ftellte ji ftumm neben die Thür, jobald eine 
Sade verrichtet war. Aber wenn der Landvogt das jehr hübſche Mädchen etwa 
berbeirief und demjelben janft vertraulich einen Auftrag ertheilte, welchen es 
mit Eifer vollzog, verwunderten die Flammen ſich auf's Neue über die unbe- 
fannte Zofe, von der fie noch nie gehört, und ließen manchen Blid über fie 
wegftreifen. Doc wurde das Geplauder dadurch nicht beeinträchtigt, vielmehr 
immer lebhafter und fröhlicher, und das bewußte Geläute Elingelte jo harmoniſch 
und eilfertig durch einander, ala ob in einer Stadt. ein Papft einziehen wollte. 

Wie wenn er nun drin wäre, wurde es einen Augenblic ftill, welchen Wendel- 
garde wahrnahm, nad) der Gelegenheit und Größe der Herrichaft Greifenfee zu 
fragen, da fie im Geheimen gern das Maß ihres Glückes gekannt hätte, welches 
als Landvögtin ihr geworden wäre. Die anderen Frauen twunderten fi), tie 
eine Bürgerin dergleichen nicht wiſſe; Landolt jedoch erzählte ihr, daß die Vefte, 
Stadt und Burg Greifenjee mit Land und Leuten im Jahre 1402 vom letzten 
Grafen von Toggenburg den Zürchern für ſechsſstauſend Gulden verpfändet und 
nicht mehr eingelöft worden jei, und daß dieje Herrſchaft zu den Eleineren gehöre 
und nur einundzwanzig Ortſchaften zähle. Uebrigens ſei das jebige Schloß und 
Städtchen nicht mehr das urjprüngliche, welches bekanntlich im Jahre 1444 von 
den Eidgenojjen, die alle gegen Zürich im Sriege gelegen, zerftört worden. Sich 
die Zeiten jenes langen und bitteren Bürgerkrieges vergegenwärtigend, verlor ſich 
der Landvogt in eine Schilderung des Unterganges der neunundjechzig Männer, 
welche die Burg faft während des ganzen Maimonat3 hindurch gegen die Ueber— 
macht der Belagerer vertheidigt Hatten; wie durch die ſchreckliche Sitte des Partei— 
fampfes, den Beſiegten unter der Form des Gerichtes zu vertilgen und nur durch 


48 Deutiche Rundſchau. 


Schrecken zu wirken, jechzig diefer Männer, nachdem fie fich endlich ergeben, auf 
dem Plabe hingerichtet worden jeien, voran der treue Führer Wildhans von Landen- 
berg. Vornehmlich aber vermweilte er bei den Verhandlungen der Kriegggemeinde, 
die auf der Matte zu Nänikon über Leben oder Tod der Getreuen ftattfanden. 
Er jchilderte die Fürſprache gerechter Männer, welche unerſchrocken für Gnade und 
Milde eintraten und auf die ehrliche Pflichttreue der Gefangenen hinwieſen, ſowie 
die wilden Reden der Rachſüchtigen, die jenen mit einſchüchternder Verdächtigung 
entgegentraten, den leidenihaftlichen Dialog, der auf diefe Weije im Angefichte 
der Todesopfer gehalten wurde und mit dem harten Bluturtheil über alle endigte. 
Die geheimnigvolle Grauſamkeit, mit welcher ein jo großes Mehr bei der Ab- 
ftimmung fi) offenbarte, daß gar nicht gezählt wurde, da3 unmittelbar darauf 
erfolgende Vortreten des Scharfrichters, den die Schweizer in ihren Kriegen mit— 
führten, wie jet etwa den Arzt oder Fyeldprediger, da3 Herbeieilen der um Gnade 
flehenden Greije, Weiber und Kinder, die ftarre Unbarmherzigkeit der Mehrheit 
und ihres Führers tel Reding, alles dies ftellte fi anihaulih dar. Dann 
hörten die Frauen mit ftilem Graujen den Gang der Hinrichtung, wie der Haupt- 
mann der Zürcher, um den Seinigen mit dem männlichen Beilpiel in der Todes— 
noth voranzugehen, zuerft da3 Haupt hinzulegen verlangte, damit Kleiner glaube, 
er hoffe etwa auf eine Sinnesänderung oder ein undorgejehenes Ereigniß; mie 
dann der Scharfrichter erſt von Haupt zu Haupt, dann je bei dem zehnten Dann 
innebielt und der Gnade gewärtig war, ja jelbft um diejelbe flehte, allein ftet3 
zur Antwort erhielt: Schweig und richte! bis ſechzig Unjchuldige in ihrem Blute 
lagen, die letten noch bei Fackelſchein enthauptet. Nur ein paar unmündige Knaben 
und gebrochene Greife entgingen dem Gerichte, mehr aus Unachtſamkeit oder Müdig- 
feit de3 richtenden Volkes als aus deſſen Barmherzigkeit. 

Die guten rauen jeufzten ordentlih auf, als die Erzählung zu ihrem 
Trofte fertig war; fie hatten zulegt athemlos zugehört; denn der Landvogt hatte 
To lebendig gejchildert, daß man die nächtliche Wieje und den Ring der wilden 
Krieggmänner im rothen Fackellichte ftatt des blumen- und becherbededten 
Tiſches im Scheine der Frühlingsſonne vor ſich zu jehen meinte. 

„Das war freilich eine unheimliche Verſammlung, eine ſolche Kriegsgemeinde,“ 
jagte der Landvogt, „jei e8, daß fie den Angriff beichloß oder daß fie ein Blut- 
urtheil fällte. Aber nun ift e8 Zeit,“ fuhr er mit veränderter Stimme fort, 
„daß wir diefe Dinge verlaffen und uns wieder uns fjelbft zuwenden! Meine 
Ihönen Herzdamen! Ich möchte Euch einladen, nunmehr auch eine Kleine, aber 
friedlidere Gemeinde zu formiren, eine Berathung abzuhalten und ein Urtheil 
zu fällen über einen Gegenftand, der mich nahe angeht und welchen ich Euch 
jogleich vorlegen iwerde, wenn Ihr mir Euer geneigtes Gehör nicht verfagen 
wollt, da3 feinen Sit in fo viel zierlichen Ohrmufcheln hat! Vorerſt aber mag 
das Publicum hinausgehen, da die Verhandlung geheim fein muß!“ 

Er winkte der Haushälterin und ihrem Adjutanten, und dieje entfernten 
fich, während er die Stimme erhob und, von etwas verlegenem Räufpern unter- 
brochen, weiter redete, auch die zehn weißen Ohrmuſcheln mäuschenftille fanden. 

„Ich Habe Euch, Verehrte, heute mit dem Sprihworte: Zeit bringt Rojen! 
begrüßt, und ficherlich twar es wol angebracht, da fie mix ein magiſches Penta- 


Züricher Novellen. 49 


gramma von fünf jo ſchönen Häuptern vor das Auge gezeichnet Hat, in welchem 
die zauberkräftige Linie geheimnigvoll von einem Haupte zum anderen zieht, ſich 
freuzt und auf jedem Punkt in fich jelbjt zurückkehrt, alles Unheil von mir 
abwendend! 

Ja, wie gut haben es Zeit und Schickſal mit mir gemeint! Denn hätte 
mi die Erſte von Euch genommen, jo wäre ich nicht an die Zweite gerathen; 
hätte die Zweite mir die Hand gereicht, jo wäre die Dritte mir ewig verborgen 
geblieben, und jo weiter, und ich genöfle nicht des Glückes, einen fünffachen 
Spiegel der Erinnerung zu bejiten, von feinem Hauche der rauhen Wirklichkeit 
getrübt; in einem Thurme der Freundſchaft zu wohnen, deffen Quadern von 
Liebesgöttern auf einander gefügt worden find! — Wol find es die Roſen der 
Entjagung, welche die Zeit mir gebracht hat; aber wie herrli und dauerhaft 
find fie! Wie unvermindert an Schönheit und Jugend jehe id) Euch vor mir 
blühen, wahrhaftig, feine Einzige jheint auch nur um ein Härlein wanken und 
weichen zu wollen vor den Stürmen des Lebens! Vor Allem wollen wir erft 
hierauf anftogen! Eure Herzen und Eure Augen follen lange leben, o Salome, 
o Figura, o Wendelgarde, o Barbara, o Aglaja!” 

Sie erhoben fi) Alle mit gerötheten Wangen und lächelten ihm boldjelig 
zu, al3 fie ihre Gläfer mit ihm anklingen ließen; nur Figura flüfterte ihm in's 
Ohr: „Wo wollt Ihr hinaus, Schalksnarr?“ 

„Ruhig, Hanswurſtel!“ jagte der Landvogt, und als fie wieder Platz ge- 
nommen hatten, fuhr er fort: 

„Aber die Entjagung kann ſich nie genug thun, und wenn fie nicht? mehr 
findet, ihm zu entjagen, jo endigt fie damit, fich jelbft zu entjagen. Dies jcheint 
ein Schlechtes Wortjpiel zu jein; allein e3 bezeichnet nichtsdeſtoweniger die be— 
denfliche Lage, in welche ich mich durch die Verhältniffe gebracht jehe Die 
Bekleidung oberer Staat3ämter, die Führung eines großen Haushaltes laſſen e3 
nicht mehr zu, daß ich ohne Schaden unbeweibt fortlebe; man dringt in mid), 
diefen unverehelihten Stand aufzugeben, um an der Spiße einer Herrſchaft, als 
Richter und Verwaltungsmann jelbft das Beijpiel eines wirklichen Hausvaters 
zu fein, und was e3 alles für Redensarten find, mit welchen man mid) bedrängt 
und ängftigt. Kurz, es bleibt mir nichts Anderes übrig, als meinen ftillen 
Erinnerungsfternen zu entjagen und der Noth zu weichen. Werf’ ich nun meine 
Blide aus, jo kann natürlich nicht mehr von Liebe und Neigung die Rede fein, 
die von dem Pentagramma gebannt find, jondern e3 ift das kalte Licht der Noth- 
wendigkeit und gemeinen Nütlichkeit, das meinem Entjchluffe leuchten muß. 
Zwei wackere Geſchöpfe find es, zwiichen denen das Zünglein der Wahl inne 
fteht, und die Entſcheidung habe ich Euch zugedacht, geliebte Freundinnen! Ein 
weltkundiger Berather und geiftlicher Herr hat mir gejagt, ich joll entweder eine 
ganz erfahrene Alte oder aber eine ganz Junge nehmen, nur nicht, was in der 
Mitte liege. Beide find num gefunden, und welche Ihr mir zu vathen beſchließt, 
die joll e8 unwiderruflich fein! Die Alte, es ift meine brave Haushälterin, 
Frau Marianne, welche meinem Haushalt bis anher trefflich vorgeftanden hat; 
etwas raub und räucherig ift fie, aber brav und tugendhaft und doch einmal 
Ihön geweſen, wenn es auch lange Her ift; fie braucht nur 2 Namen zu 

Deutfge Rundſchau. II, 7. 


50 Deutihe Rundſchau. 


wechſeln, und Alles ift in Ordnung. Die andere ift die junge Magd, die uns 
beim Eſſen bedient hat, eine weitläufige Anverwandte der Marianne, die fie zur 
Hilfe und Probe herbeigezogen hat; es ſcheint ein janftes und wohlgeartetes 
Kind zu jein, arm, aber geſund, wahrheitsliebend und unverftellt. Weiter jag’ 
ic in diefem Punkte nichts, Ihr verfteht mih! Nun eriwäget, berathet Euch, 
tauscht Eure Gedanfen aus, thut mir den Liebesdienft und ftimmet dann friedlich 
ab; die Mehrheit enticheidet, wenn feine Einftimmigfeit zu erzielen ift. Ich gehe 
jet hinaus; hier ift ein ehernes Glödlein; wenn Ihr das Urtheil gefunden 
habt, jo läutet damit, jo ſtark Ihr könnt, damit ich komme und mein Schiejal 
aus Euren weißen Händen empfange!“ 

Nach diefen Worten, die er in ungewöhnlich ernftem Zone geſprochen, ver- 
ließ er jo rajch das Zimmer, daß feine der Frauen Zeit fand, ein Wort da= 
zwifchen zu jagen. So ſaßen fie nun erftaunt und ſchweigend auf ihren Stühlen 
gleich römischen Senatoren und jahen fih an. Sie waren jo überraicht, daß 
feine einen Laut hervorbrachte, bis Salome zuerſt ſich fahte und rief: „Das 
kann nicht jo gehen! Wenn der Landvogt heirathen will, jo muß man ihm für 
etwas Rechtes jorgen! Er ift jebt ein gemachter Mann, und ich will bald ge= 
funden haben, wa3 für ihn paßt; auf diefer Marotte darf man ihn Teinen- 
falls laſſen!“ 

„Das iſt auch meine Anſicht,“ ſagte Aglaja nachdenklich; „es muß Zeit 
gewonnen werden.“ 

„Das glaub’ ih, Du nähmſt ihn am Ende noch ſelbſt,“ dachte Salome; 
„aber es wird nicht3 daraus, ich weiß ihm ſchon Eine!“ Laut ſagte fie: „Ya, 
vor Allem müffen wir Zeit gewinnen! Wir wollen klingeln und ihm eröffnen, 
daß wir nicht jetzt enticheiden, jondern den Rathſchlag verichieben wollen!“ 

Sie ftredite Schon die Hand nad) der Glode aus; doch die Jüngſte, Barbara 
Thumeyſen, hielt fie zurück und rief mit ziemlich Fräftigem Stimmlein: 

„sch widerſetze mich einer Verſchiebung; er ſoll heirathen, da3 ift wohlan- 
ftändig, und zwar ftimme ich für die alte Haushälterin; denn es ift nicht Ichicklich, 
daß ex jet noch ein ganz junges Ding zur Frau nimmt!“ 

„Pfui!“ ſagte jetzt Wendelgarde, „die alte Raffel! Ich ftimme für die Junge! 
Sie ift hübſch und wird ſich von ihm ziehen laffen, wie er ſie haben will; denn 
fie ıft auch befcheiden. Und wenn fie arm ift, wird fie um jo dankbarer jein!“ 

Gereizt wendeten Salome und Aglaja zuſammen ein, daß es ſich zuerjt darum 
handle, ob man heute eintreten oder verichieben wolle. Noch gereizter rief Bar- 
bara, fie ftimme für das Eintreten und für die Alte, wolle man aber ver- 
ichieben, jo behalte fie fi) vor, unter den ehrbaren und beftandenen Töchtern 
der Stadt jelbjt auch eine Umſchau zu halten; e3 gebe mehr als eine würdige 
Dekanstochter zu verjorgen, deren ſchöne Tugenden und Grundjäße dem immer 
noch etwas zu luftigen und phantaftiichen Herrn Landvogt zugut fommen twürden. 

63 gab nun ein beinahe heftiges Durcheinanderreden. Nur Figura Leu 
hatte noch nicht3 gejagt. Sie war bla geworden und fie fühlte ihr Herz ge— 
preßt, dat fie nichts jagen konnte. Obgleich fie jonft alle Streiche und Einfälle 
des Landvogts jogleich verftand, hielt fie doch den jehigen Scherz, gerade weil 
fie jenen liebte, für baaren Ernſt; fie ſah endlich herangefommen, was fie längft 


Züricher Novellen. 51 


für ihn gewünſcht und für fich gefürchtet Hatte. Aber entichloffen nahm fie fich 
endlich zujammen und erbat ſich Gehör. 

„Deine Freundinnen!“ jagte fie, „ih glaube, mit einer WVerjchiebung ge— 
winnen wir nicht3; vielmehr halte ich dafür, daß er bereit3 entichloffen ift, und 
zwar für die Junge, und von und aus Courtoifie und Luft an Scherzen eine Be— 
ftätigung holen will. Daß er die Frau Marianne heirathet, glaub’ ich nie und 
nimmer, und fie fieht auch gar nicht darnad) aus, al3 ob fie einem ſolchen Vor— 
haben entgegenfommen würde; dazu ift die Alte zu Hug. Wenn wir aber nichts 
bejchließen oder, was gleichbedeutend ift, ihm die erwartete freundliche Zuftimmung 
verweigern, jo bin ich meines Theils gewiß, daß wir morgen die Anzeige jeines 
Entjchluffes erhalten werden!” 

Die Heine Verfammlung überzeugte fi) von der muthmaßlichen Richtigkeit 
diejer Anficht. 

„So ſchlage ich vor, zur Abftimmung zu jchreiten,” jagte Salome; „wie alt 
ift er eigentlich jet? Weiß es Niemand?” 

„Er ift beinahe dreiundvierzig,“ antwortete Figura. 

„Dreinndvierzig!” jagte Salome; „gut, ich ftimme für die Junge!“ 

„Und ich für die Alte!“ rief die Tochter des Profelytenfchreibers, die zarte 
Grasmüde, die in diefer Sache jo hartnädig ſchien, wie einer der Redner jener 
blutigen Kriegsgemeinde von Greifenjee. 

„Ich ſtimme für die Junge!“ rief dagegen die ſchöne Wendelgarde und ſchlug 
leicht mit der flachen Hand auf den Tiſch. 

„Und ich für die Alte!” jagte Aglaja mit unfiherem Ton, indem fie vor 
ſich hinſchaute. 

„Seht Haben wir zwei junge und zwei alte Stimmen,“ rief Salome; 
„Figura Leu, Du entſcheideſt!“ 

„Ich bin für die Junge!“ ſagte dieſe, und Salome ergriff ſofort die Glocke 
und klingelte kräftig. 

Es dauerte ein paar Minuten, ehe Landolt erſchien, und es herrſchte eine tiefe 
Stille, während welcher verſchiedene Gefühle die Frauen bewegten. Figura ver— 
mochte kaum ein paar ſchwere Thränen zu verbergen, die ihr an den Wimpern 
hingen; denn ſie hatte ſich an die Meinung gewöhnt, daß Landolt ledig bleibe, 
und wußte jetzt, daß ſie die Einſamkeit ganz allein tragen müſſe. Dieſes Ver— 
bergen half ihr ein Einfall Wendelgarde's zuwege bringen, welche, die Stille 
unterbrechend, ausrief, ſie ſchlage vor, daß der Landvogt die Alte küſſen müſſe, 
ehe man ihm das Urtheil eröffne; er werde dann glauben, daſſelbe laute für die 
Marianne, und man werde an ſeinem Gefichte, das er ſchneide, entdecken, ob es 
ihm Ernſt gemwejen jei, fie zu heirathen. Der Vorſchlag wurde gutgeheißen, obgleich 
Figura ihn befämpfte, weil fie dem Landvogt die unangenehme Scene er- 
ſparen wollte. 

In diejem Augenblicde öffnete fih die Thür und er trat feierlich herein, _ 
die Frau Marianne am Arm, welche poffierliche Verneigungen und Complimente 
nad) allen Seiten hin machte, gleihjfam als wollte fie fi) zum Voraus in gute 
Freundſchaft empfehlen. Dabei ließ fie in ſchalkhafter Laune durchbohrende Blicke 

4* 


52 Deutſche Rundicau. 


bald auf diefe, bald auf jene der anmuthigen Richterinnen fallen, jo daß dieje 
ganz zaghaft und mit böjem Gewiſſen dajaßen. Der Landvogt aber jagte: 

„In der ficheren Vorausſicht, daß meine Beiftänderinnen mich auf den Weg 
der ruhigen Vernunft und des gejeßten Alterd verweiſen, führe ich die Erkorene 
gleich herbei und bin bereit, mit ihr die Ringe zu wechſeln!“ 

Miederum verneigte ſich Frau Marianne nach allen Richtungen, und die 
Frauen am Tiſche wurden immer verblüffter und kleinlauter. Keine wagte ein 
Wort zu ſagen; denn ſelbſt Aglaja und Barbara, die für die Alte geſtimmt, 
fürchteten ſich vor ihr. Nur Figura Leu, voll Trauer über den tiefen Fall des 
Mannes, der wirklich eine verwitterte Landfahrerin heirathen wolle, die längſt 
ſchon neun Kinder gehabt, erhob ſich und ſagte mit unwillig bewegter Stimme: 

„Ihr irrt Euch, Herr Landvogt! Wir haben beſchloſſen, daß Ihr die junge 
Baſe dieſer guten Frau heirathen ſollt, und hoffen, daß Ihr unſeren Rath ehret 
und uns nicht in den April geſchickt habt!“ 

„Ich fürchte, es iſt doch geſchehen!“ ſagte der Landvogt lächelnd, trat zum 
Tiſch und klingelte mit der Glocke, indeſſen die Frau Marianne ein ſchallendes 
Gelächter erhob, als der Knabe, der die Magd geſpielt hatte, in feinen eigenen 
Kleidern erihien und vom Landvogt den Damen al3 Sohn des Herrn Pfarrers 
zu Fellanden vorgeftellt wurde. 

„Da mir nun die Alte verboten ift und fie, ihrem Gelächter nad) zu ſchließen, 
fi nichts darau3 macht, die Junge aber fi) unter der Hand in einen Knaben 
verwandelt Hat, jo dente ich, wir bleiben einftweilen allerfeit3, wie wir find! 
Verzeiht das frevle Spiel und nehmt meinen Dank für den guten Willen, den 
Ihr mir erzeigt, indem Ihr mich nicht für unmwerth erachtet Habt, nod) der 
Jugend und Schönheit gejellt zu werden! Aber wie kann ed anders fein, wo 
die Richterinnen jelber in etwiger Jugend und Schönheit thronen ?“ 

Er gab ihnen der Reihe nad) die Hand und küßte eine Jede auf den Mund, 
ohne daß derjelbe von Einer verweigert wurde. 

Tigura gab das Zeichen zu einer mäßigen Ausgelafjenheit, indem fie freude- 
voll rief: „So hat er un aljo doch angeihmiert!” 

Mit lautem Gezwitſcher flog das ſchöne Gevögel auf und fiel an dem Kleinen 
Seehafen vor dem Schlofje nieder, wo ein Schiff bereit lag für eine Luftfahrt; 
da3 Schiff war mit einer grünen Laube überbaut und mit bunten Wimpeln 
geſchmückt. Zwei junge Schiffer führten dad Ruder, und der Landvogt ſaß am 
Steuer; in einiger Entfernung fuhr ein zweiter Nachen mit einer Muſik voraus, 
die aus den Waldhörnern der Landolt'ſchen Schützen beftand. Mit den einfachen 
Weiſen der Waldhorniften wechjelten die Lieder der Frauen ab, welche jet herzlich 
und freudeftomm bewußt waren, daß fie dem ftill das Steuer führenden Land— 
vogte gefielen, und fein ruhiges Glück mit genoſſen. Muſik und Gejang der 
Frauen ließ ein leijes Echo aus den Wäldern des Zürichberges zuweilen wider- 
hallen, und das große, blendend weiße Glarner Gebirge fpiegelte ſich in der luft— 
ftilen Waſſerfläche. Als der herannahende Abend Alles mit feinem milden 
Goldicheine zu überfloren begann und alles Blaue tiefer wurde, lenkte der Land— 
vogt das Schiff wieder dem Schlofje zu und legte unter vollem Liederklange bei, 
jo daß die Frauen noch fingend an’3 Ufer Iprangen. 


Züricher Novellen. 93 


Ihrer warteten im Schloffe vier Luftige junge Herren, welche Landolt auf 
den Abend zu fich berufen hatte. E3 wurde ein Heiner Ball abgehalten, Herr 
Salomon tanzte jelbft mit jeder der Flammen einen Tanz und gab beim Ab- 
fchiede Jeder einen der Jünglinge zur guten Begleitung mit, der Figura Leu 
aber den artigen Knaben, der die junge Magd gejpielt hatte. 

Während der Abfahrt ließ er die Kanonen wieder abfeuern und jodann bei 
zunehmender Dunkelheit die Fahne auf dem Dad einziehen. 

„Run, Frau Marianne,“ fragte er, als fie ihm den Schlaftrunf brachte, 
„wie hat Euch diefer Kongreß alter Schäße gefallen ?“ 

„Ei, bei allen Heiligen!“ rief fie, „ausnehmend wohl! Ich Hätte nie ge- 
dacht, daß eine jo lächerliche Geichichte, twie fünf Körbe find, ein jo erbauliches 
und zierliches Ende nehmen könnte! Das macht Ihnen ſobald nicht Einer nad)! 
Nun Haben Sie den Frieden im Herzen, ſoweit das hienieden möglich ift; 
denn der ganze und ewige Frieden kommt erft dort, wo meine neun fleinen 
Englein wohnen!“ 

Sp verlief diefe denkwürdige Unternehmung. Später erhielt der Obrift 
die Landvogtei Eglisau am Rhein, wo er blieb, bis es überall mit den Land— 
vogteien ein Ende hatte und im Jahre 1798 mit der alten Eidgenofjenihaft auch 
die Treudalherrlichkeit zufammenbrad. Er ſah nun die fremden Heere fein Vater- 
land und die jchönen Thäler und Höhen feiner Jugendzeit überziehen, Franzoſen, 
Defterreicher und Ruſſen. Wenn auch nicht mehr in amtlicher Stellung, war 
er doch überall mit Rath und Hülfe thätig, ftet3 zu Pferd und unermüdlich; 
aber in allem Elend und Gedränge der Zeit twachte fein malerifches Auge über 
jeden Wechjel der taufenderlei Geftalten, die fich wie in einem Fiebertraume ab— 
löften, und jelbft im Donner der großen Schlachten, deren Schauplaß feine engfte 
Heimath war, entging ihm fein nächtlicher Feuerſchein, kein ſpähender Koſak oder 
Pandure im Morgengrauen. Als die Sturmfluthen fich endlich verlaufen hatten, 
wechjelte er, malend, jagend und ftet3 reitend, häufig feinen Aufenthalt und 
farb im Jahre 1818 im Schloffe zu Andelfingen an der Thur. Won jener 
legten Zeit jagt fein Biograph: An warmen Sommernachmittagen blieb ex allein 
unter dem Schatten der Platanen fiben, zumal während der Ernte, wo die ganze 
fornreiche Gegend von Schnittern wimmelte. Er jah denfelben gern von feiner 
Höhe zu. Wenn fie bei der Arbeit fangen, pflücte er wol ein Blättchen, be— 
gleitete, leije darauf pfeifend, die fröhlichen Melodien, welche aus dem Thale 
heraufſchwebten, und entſchlummerte zuweilen darüber, wie ein müder Schnitter 
auf jeiner Garbe. 

Im Spätherbfte feines fiebenundfiebzigften Lebensjahres, ala das letzte Blatt 
gefallen, jah er das Ende kommen. „Der Schübe dort hat gut gezielt!“ jagte 
er, auf das elfenbeinerne Tödlein zeigend, das er von der Großmutter geerbt 
hatte. Die Figura Leu, welche noch im alten Jahrhundert ftarb, hatte das feine 
Bildwerk von ihm geliehen, da es ihr Spaß made, wie fie ſich ausdrückte. 
Nah ihrem Tode hatte er es wieder an fi genommen und auf feinen Schreib- 
tiſch geftellt. 


Die Frau Marianne ift im Jahre 1808 geftorben, ganz ermiüdet von Arbeit 


= 


54 Deutiche Rundſchau. 


und Pflichterfüllung; ihrer Leiche folgte aber auch ein Grabgeleite, wie einem 
angejehenen Manne. 


— — — 


Ueber dem ſorgfältigen Abſchreiben vorſtehender Geſchichte des Landvogts 
von Greifenſee waren dem Herrn Jacques die letzten Mücken aus dem jungen 
Gehirn entflohen, da er ſich deutlich überzeugte, was alles für ſchwieriger Spuk 
dazu gehöre, um einen originellen Kauz nothdürftig zuſammenzuflicken. Er ver— 
zweifelte daran, ſo viele, ihm zum Theil widerwärtige Dinge, wie zum Beiſpiel 
fünf Körbe, einzufangen, und verzichtete freiwillig und endgültig darauf, ein 
Originalgenie zu werden, ſo daß der Herr Pathe ſeinen Part der Erziehungs— 
arbeit als durchgeführt anſehen konnte. 

Keineswegs aber wendete Herr Jacques fi) von den Idealen ab; wenn er 
auch jelbft nichts mehr hervorzubringen trachtete, jo bildete er fich dagegen zu 
einem eifrigen Beihüßer der Künfte und Willenichaften aus und wurde ein 
Pfleger der jungen Talente und Vorfteher der Stipendiaten. Ex wählte die- 
jelben, mit Lorgnon, Sehrohr und Hohler Hand bewaffnet, vorfichtig aus, über- 
wachte ihre Studien, jowie ihre fittliche Führung; das erfte Erforderniß aber, 
da3 er in allen Fällen fefthalten zu müfjen glaubte, war die Beicheidenbeit. 
Da er jelber entjagt Hatte, jo war er in diefem Punkte um jo ftrenger gegen 
die jungen Schußbedürftigen; in jedem Zeugniffe, das er verlangte oder jelbft 
ausftellte, mußte da3 Wort Beſcheidenheit einen Pla finden, jonft war die 
Sache verloren, und bejcheiden fein war bei ihm halb gemalt, halb gemeißelt, 
halb gegeigt und halb gejungen! 

Bei der Einrichtung von Kunftanftalten, Schulen und Ausftellungen, beim 
Ankaufe von Bildern und dergleichen führte er ein jcharfes Wort und wirkte 
nicht minder in die Ferne, indem er ftetöfort an den ausländiichen Kunftichulen 
oder Bildungsftätten hier einen Kupferftecher, dort einen Maler, dort einen Bild- 
bauer, ander3wo wieder einen Muſicus oder Sterndeuter am Futter ftehen hatte, 
dem er aus öffentlichen oder eigenen Mitteln die erforderlichen Unterſtützungs— 
gelder zufommen ließ. Da gewährte es ihm denn die höchſte Genugthuung, 
aus dem Briefjtil der Ueberwachten den Grad der Bejcheidenheit oder Anmaßung, 
der unreifen Vertvegenheit oder der fanften Ausdauer zu erkennen und jeden 
Verftoß mit einer Kürzung der Subfidie, mit einem Verſchieben der Abjendung 
und einem vierrmöchentlichen Hunger zu ahnden und Wind, Wetter, Sonne und 
Schatten dergeftalt eigentlich zu beherrichen, daß die Zöglinge in der That auch 
etwas erfuhren und zur beſſeren Charakterausbildung nicht jo glatt dahinlebten. 

Einmal nur wäre er faft aus feiner Bahn geworfen worden, ala er näm— 
lich nach gehöriger Ausreifung aller Verhältniſſe feine vorbeftimmte Braut 
feierlich heimführte und jo das Kunſtwerk feiner erften Lebenshälfte abſchloß. 
Die Hochzeitsreije ging nad) Rom, wo er gerade einen jungen Bildhauer an der Soft 
hatte, deſſen bejcheidene und ſchüchterne Haltung ihn zu den beten Hoffnungen 
berechtigte. Die Einweihung jeiner Neuvermählten in die Kunftheiligthümer 
der ewigen Stadt follte gefrönt werden mit der gemeinfamen Heimfuchung und 
Deberrafhung des Schußbefohlenen, mit der jchöngelingenden Offenbarung der 


Züricher Novellen. 55 


weitgehenden Wirkſamkeit des Schutzherrn. Diejunge Gattin am Arme betrat ex 
die vermeintlich ftille Werkjtatt im entlegener Straße. Ausgehängte Wäſche, 
Kochgeſchirre u. dgl. in einem verdächtigen Vorraume wollten nicht recht ftimmen 
zu dem Bilde eines finnig vor dem Marmor ftehenden Yünglings, das er im 
Kopfe trug. Auch ein aus dem Innern dringender dumpfer Lärm widerſprach 
diefem Bilde. Doch drang er muthig mit der Gattin vorwärts und überrafchte 
in der That den Jüngling, aber an dejjen eigenem Hochzeitsmahl, da er eben 
getraut worden mit einer armen Römerin. Aus dem ftillen jungen Thorwaldien 
oder Ganova war ein Pygmalion mit einem ziemlich ftruppigen Barte geworden, 
der, jeiner neben ihm jitenden Braut den Rüden kehrend, mit einem braunen 
Burſchen Morra jpielte und jo laut jehrie, daß es den Gejang von ſechs oder 
ſieben weiteren Gejellen in kurzen Jaden und von einigen ſchwarzäugigen Weibern 
itbertönte, die alle an einem langen Brette jaßen, das auf zwei umgeftülpte 
Waſchkufen gelegt und mit ein paar großen Weintrügen bejegt war. Bon einem 
Marmor in Arbeit war nichts zu jehen; nur ein mit Tüchern bedecktes Thon- 
modell war in eine dunkle Ede gerückt, jchien aber ganz vertrodnet zu fein und 
zu verſchmachten wie ein dürres Aderland, weshalb der Morrafpieler fleißig 
dem Kruge zuſprach. Sonft war nichts zu jehen, al3 an der Wand einige Mtale 
die in Gyps abgegofjene Hand und der Fuß der Frau Pygmalion, und auf 
dem Boden ein Haufen Kartoffeln. Aber nicyt genug an diefem Gräuel! Das 
Hochzeitsmahl war nur der Vorläufer des Taufeichmaufes; denn in einem nod) 
tieferen Hintergrunde krähete bereit3 ein ſechs Wochen altes Hähnchen und 
Herr Jacques wurde mit teufliicher Demuth jofort zu Gevatter gebeten, jo daß 
er num jelber Pathe war. Boll Abjcheu enteilte ex diefer Hölle, in welcher die 
Beiheidenheit in jeder möglichen Weife beleidigt und verläugnet wurde, und es 
dauerte geraume Zeit, bis ex vermochte, den Idealgeſchäften wieder ein günftigeres 
Auge zuzumenden, da3 indejjen eine gewilje Strenge nie mehr verlor. 


Römiſche und griehifhe Arkheile über das 
Shriftenthum. 





Bon €. Beller. 





Der große Verkündiger des Chriftenthums unter den Heiden, der Apoftel 
Paulus, nennt (1. Kor. 1, 23) feine Predigt vom Gefreuzigten ein Aergerniß 
für die Juden und eine Thorheit für die Griechen; und er bezeichnet damit kurz 
und treffend die Gefichtöpunfte, von denen der Widerftand gegen diejelbe bei den 
zwei ungleidhen Hälften der nichtchriftlihen Welt, auf deren Gewinnung er 
ausgezogen war, vorzugsweiſe ausging. Den Juden war da3 Chriftenthum auch 
dann, wenn fie ſich ihm feindlich entgegenftellten, in gewillem Grade verftänd- 
lid); denn e3 wurzelte in dem Monotheismus und in der meſſianiſchen Hoffnung 
ihres Volkes. Bei den Heiden dagegen, oder, wie Paulus fie nennt, den Hellenen, 
fehlte es von Haufe aus an allen den Vorausſetzungen, an die e8 in der jüdiſchen 
Melt anfnüpfte. Der polytheiftiihen Volksreligion trat es durch feinen 
Monotheismus in unverhüllter Feindſchaft entgegen; und andererjeit3 mußten 
Denjenigen, twelche fi mit dem Monotheismus als ſolchem eher zu befreunden 
vermocht hätten, die Lehren um jo unverftändlicher fein, die fi) auf der Grund» 
lage de3 jüdiichen Meſſiasglaubens entwidelt Hatten. Die Verehrung eines 
Juden, der den ſchmählichen Tod des Verbrechers erlitten hatte; der Glaube 
an fein Fortleben im Himmel, an feine göttliche Ahftammung und Natur; die 
Erwartung, daß ex mit den himmliſchen Heerichaaren fommen werde, um dem 
jetigen Weltzuftand und den Reichen diefer Welt jählings ein Ende zu maden; 
die Hoffnung auf eine dereinftige Auferftehung des Leibes: welchen helleniſch 
Gebildeten konnte es geben, dem diefer Glaube und dieſe Erwartungen nicht 
beim erſten Anblick als die äußerſte Thorheit, als die Ausgeburt einer ſchwär— 
meriſchen Phantafie oder das Werk eines plumpen Betruges hätten erjcheinen 
müfjen? Nehmen wir dazu alle die auffallenden Eigenthümlichkeiten der chriſt— 
lichen Lebensweije und Sitte: da3 Geheimniß, mit dem die Chriften ihre gottes= 
dienftlihen Handlungen umgaben; das jefte Zufammenhalten der Partei, welches 
den Draußenftehenden den Eindrud einer geheimen Verbindung, einer Verſchwö— 


Römiiche und griechiiche Urtheile über das ChHriftenthum. 57 


rung gegen die beftehende Ordnung machte; die ängftliche Scheu vor jeder Be— 
rührung mit der heidnijhen Götterverehrung, die zur völligen Zurüdziehung 
von der nichtchriſtlichen Gejellichaft Führen mußte; die Abneigung gegen Kriegs— 
dienft und öffentliche Yemter; den Grundjaß, daß Chriften ihre Streitigkeiten 
unter ſich ausgleichen jollen und vor feinem heidniſchen Gericht Recht ſuchen 
dürfen; die Verweigerung der Theilnahme an öffentlichen Feftlichkeiten und Ber: 
gnügungen, an den Opfern für Kaiſer und Reich; überjehen wir auch die Ge- 
tingihäßung nicht, mit der ein gebildeter Grieche oder ein vornehmer Römer 
auf eine Gejellihaft herabjehen mußte, die fich lange Zeit ganz überwiegend 
aus den unterjten Volksklaſſen refrutirte, in der Eleine Handwerker, Sklaven 
und Treigelaffene mit den wenigen höher Stehenden, die in fie eintraten, auf 
dem Fuße volltommener Gleichheit und Brüderlichkeit verkehrten, in welcher dem 
fünftleriihen Schmude des Lebens, der wiljenichaftlichen, äfthetifchen, gejelligen 
Bildung, den Großthaten des Krieger? und dem Ruhm de3 Gelehrten jchlechter- 
dings fein Werth beigelegt wurde — vergegenwärtigen wir uns alles diejes, fo 
werden wir und nicht wundern fönnen, wenn die Freunde der helleniſchen Kunft, 
die Schüler der attiichen Philojophie, die Söhne des weltherrichenden Rom und 
jeiner Helden einer Religion nicht gerecht werden konnten, die fich ihnen in einer 
für fie jo abftoßenden und unverftändlichen Geftalt darftellte. 

In Wahrheit fehlte es nun freilich diejer Religion keineswegs an zahlreichen 
und tiefgreifenden inneren Beziehungen zu der geiftigen Berfafjung, der Denk— 
weije und den Bedürfniffen ihrer Zeit. Das Chriftenthum ift ja ein Erzeugniß 
dieſer Zeit jelbft, ein Werk der gleichen geiftigen Mächte, von denen fie in ihrem 
innerjten Grunde beivegt wurde. Auch lagen die Bedingungen feiner Entjtehung 
und jeiner geſchichtlichen Entwidlung nicht blos im Judenthum; jondern erft 
nachdem dieſes mit der hellenijchen und helleniſtiſchen Bildung in die umfafjendfte 
und dauerndfte Berührung gelommen, in der vielfachften Weiſe durch fie be— 
fruchtet war, konnte das Chriftenthum aus ihm hervorgehen. Wie die Weltreiche 
Alerander’3 und der Römer durch eine tiefgreifende Umgeftaltung der politiichen 
Zuftände der Weltreligion äußerlich) den Weg bahnten, jo lag die wejentlichite 
innere Bedingung derjelben im jener Lehre, die ſchon jeit Jahrhunderten, haupt: 
ſächlich durch den Einfluß der ſtoiſchen Philojophie, die weitefte Verbreitung ge= 
mwonnen hatte, der Lehre, daß alle Menjchen Ein großes Gemeinwejen bilden, 
daß jie an Pflichten und Rechten fich gleich jtehen und nur durch ihr fittliches 
Verhalten ſich unterfcheiden, daß fie alle dem gleichen Natur und Sittengejeß 
unterthan jeien. Die hohen jittlichen Anforderungen des Chriſtenthums jtimm- 
ten mit dem überein, was die hervorragenditen unter den alten Weiſen von 
jeher gelehrt hatten. Wie Paulus dem Glauben, jo legten die Stoiker der fitt- 
lihen Gelinnung, der Tugend und Weisheit, allein einen Werth bei; wenn jener 
die allgemeine Sündhaftigkeit der Menſchen nicht ftarf genug zu jchildern weiß, 
jo finden wir ganz ähnliche Schilderungen bei jeinen römiſchen Zeitgenojjen und 
vor allen bei dem Stoifer Seneca; wenn den Chriften alle Menjchen in die 
zwei großen Klaſſen der Wiedergeborenen und Unwiedergeborenen zerfallen, jo 
zerfallen fie den Stoifern nicht minder ſcharf in die zwei Klaſſen der Weijen 
und der Thoren; wenn jene fich aus dem Verderben diefer Welt nad) der himm— 


58 Deutſche Rundſchau. 


liſchen Herrlichkeit hinwegſehnen, ſo freuen dieſe ſich ebenſo lebhaft auf den 
„Geburtstag der Ewigkeit“, wie auch fie den Todestag nennen, auf die Befreiung 
aus der Sklaverei des Leibes, den Eintritt in den „großen ewigen Frieden“. 

Noch viele Punkte Ließen ſich hervorheben, in denen das Chriſtenthum den tiefften 
Bedirfniffen feiner Zeit entgegenfam, mit ihren achtungswertheften Beftrebungen, 
mit Bewegungen, welche jchon Yängft die weitejten Kreiſe ergriffen hatten, fich 
verwandtichaftlich berührte,; und jo fünnte man glauben, daß es wenigftens bei 
Denen auf eine unbefangenere Würdigung Ausficht gehabt hätte, welche mit ihm 
die fittlichen Gebrechen der Zeit erkannten und an ihrer Heilung mit einem 
Ernſt und einer Hingebung arbeiteten, der wir unjere Achtung nicht verjagen 
fönnen. Allein dem war doch nicht jo. So wenig die Chriften bei der Beur— 
theilung des römifchen und griehiichen Weſens von den Vorausjehungen ihrer 
jupranaturaliftiichen Dogmatif und von den jüdiichen VBorurtheilen gegen da3 
Heidenthum abzujehen vermochten, ebenjowenig wußten ſich die Griechen und 
Römer über den Bildungsftolz zu erheben, der es ihnen nicht erlaubte, die jyri= 
ihen Barbaren, von denen die neue Religion ausging, mit den hochgefeierten 
Weiſen des eigenen Volkes zuſammenzuſtellen und hinter den fremdartigen Ueber— 
fieferungen devjelben eine tiefere, ihren eigenen philojophiichen Ueberzeugungen 
verwandte, ihrer ernfteren Beachtung würdige Wahrheit zu vermuthen. Wenn 
die Chriftenjette bei der Maſſe der heidniichen Bevölkerung verhaßt war, jo 
wurde fie von dem gebildeten Theil derjelben veracdhtet; und e8 waren Jahr— 
Hunderte nöthig, bis auch nur bei den leteren die anfängliche Geringihäßung 
und Unfenntniß etwas richtigeren und würdigeren Vorftellungen Pla machte. 

Dem heidniſchen Volke galten die Ehriften in erfter Reihe für Atheiften: 
dern mit diejem Namen hat man jederzeit Die gebrandmarkt, welche mit den 
herrſchenden Vorftellungen über die Gottheit nicht übereinftimmten; nicht allein, 
wenn fie da3 Dafein derjelben ganz leugneten, jondern ebenjogut, wenn fie eine 
vichtigere und würdigere Gottesidee zur Geltung zu bringen fuchten. „Nieder 
mit den Atheiften!” jo lautete der Schlacdhtruf des heidniſchen Pöbels gegen die 
Chriften. Mit diefem Ruf wurde 3. B. im Jahre 156 der ehriwürdige Bijchof Poly: 
farpu3 in der Rennbahn von Smyrna empfangen, Die Götter, von denen das 
Bolt allein wußte, deren Tempel es bejuchte, deren Bilder es verehrte, an die es 
feine Opfer und Gebete richtete — dieje Götter wurden ja auch wirklich) von den 
Chriſten geleugnet, fie wurden bald für Geichöpfe de3 menschlichen Aberglaubens, 
bald aud) für böje Geifter, für Teufel erklärt. Kann man fi) wundern, wenn 
das Volt, das diejen Göttern noch anhing, den Angriff auf diejelben als einen 
Angriff auf fich jelbjt, auf jein Heiligftes und Liebftes, empfand? wenn es 
über denjelben um jo tiefer empört war, je exnjtlicher es befürchtete, durch feine 
Duldung die Gunst dev Götter zu verlieren, an die e3 fein eigenes Wohlergehen 
nun einmal geknüpft glaubte? Der Vorwurf des Atheismus war daher der 
gefährlichjte, der den Chrijten gemacht werden Eonnte. In jenem „Nieder mit 
den Atheiften!”, da3 der Pobel von Smyrna Polykarp entgegenbrüllte, war das 
Zodesurtheil ausgejproden, an dejjen Vollziehung jofort durch Aufſchichtung 
jeines Scheiterhaufens Hand angelegt wurde. Und ähnliche Folgen hatte das 
gleiche Vorurtheil unzählige Male Wenn irgend ein öffentliches Unglüd, irgend 


Römische und griechiiche Urtheile über das Chriftenthum. 59 


ein Ereigniß eintrat, da3 Schreden verbreitete oder die Ungnade der Götter 
anzuzeigen jchien, eine Seuche, ein Mißwachs, eine Ueberſchwemmung, eine 
Sonnenfinjterniß, ein Erdbeben: immer war der Aberglaube geneigt, die Götter- 
feinde, die Chriften, dafür verantwortlich zu machen; immer hörte man wieder 
den Ruf: „Mit den Chriften vor die Löwen!“ Wie aber der gebildete und 
der ungebildete Pöbel von jeher den Feinden jeiner Götter auch jede andere 
Schlehtigfeit zugetraut hat, jo machte er e3 auch den GChriften. Da fie 
einmal für Atheiften galten, hielt man fie auch für Verbrecher, und alle 
möglichen Scauergejhichten wurden von ihnen erzählt. Nicht genug, daß 
ihnen nachgejagt wurde, fie beteten jenen Gott mit einem Eſelskopf an, den 
wir heute noch auf einer Garicatur aus jener Zeit, dem bekannten Spott- 
erucifir des Kircher'ſchen Muſeums in Rom, dargeftellt jehen: fie jollten auch 
in ihren geheimen Zujammenfünften Gräuel aller Art begehen, Kinder ſchlachten 
und verzehren, fih den ſcheußlichſten Ausſchweifungen überlafjen. Der chrift- 
liche Fanatismus hat im Mittelalter Juden und Kebern kaum irgend einen 
Frevel jchuldgegeben, den nicht der heidniſche Volksglaube ehedem den Chriften 
beigelegt hätte. Wie alt dieje üble Meinung über fie war, jehen wir aus Taci- 
tus' Beriht von der Neroniichen Chriftenverfolgung. Als unter Nero mehr als 
zwei Drittheile der Stadt Rom durd eine beifpiellos heftige Feuersbrunſt in 
Alche gelegt wurden und das Gerücht den Kaijer jelbft bezüchtigte, den Brand 
angeftiftet zu haben, juchte diefer fich Leute, denen er die Schuld zuſchieben 
fonnte, und ev wählte fi dazu, jagt Tacitus, die Partei, „die, wegen ihrer 
Schandthaten allgemein verhaßt, vom Volke mit dem Namen der Chriften be- 
zeichnet wurde.“ Jene unfinnigen VBorftellungen über die Chriften waren aljo 
ihon damal3, wenige Jahre nad) der erjten Entftehung einer Chriftengemeinde 
in Rom und nur zwei Jahre nad) der Ankunft des Paulus in dieſer Stadt, 
nicht blos im Umlauf, jondern fie wurden auch jo allgemein geglaubt, daß ein 
Nero e3 wagen konnte, die Chriften, al3 befannte Verbrecher, für jene namen 
loje öffentlihe Unglüdf verantwortlich zu machen. Seine Berehnung täufchte 
ihn allerdings: der Verdacht blieb an ihm haften, und die Unmenfchlichkeit der 
Martern, unter denen ex die unglüdlichen Schlachtopfer feiner Grauſamkeit 
maſſenweiſe hinmordete, erregte am Ende jelbft das Mitleid ihrer Feinde. Aber 
da3 liegt am Tage: Nero hätte die Chriften gar nicht ala die Brandftifter ver- 
folgen können, wenn fie nicht dem Volke für Leute gegolten hätten, die für eine 
ſolche Unthat nicht zu gut ſeien; und Zacitus jagt ums ja auch ausdrücklich, 
daß fie dafür galten. 

Doch wenn die leichtgläubige und umverftändige Maffe Feine richtigeren 
Borftellungen hatte, jo kann uns dies weniger Wunder nehmen. Viel auffallen- 
der muß e3 uns jein, wenn aud) der große Gejchichtichreiber, dem wir dieje erfte 
Erwähnung der Chriften in der Profanliteratur verdanken, die Vorftellungen 
des Pöbels über fie getheilt hat. Indeſſen können wir ihn von diefer Anklage 
nicht freiſprechen. Er behandelt nicht allein die Schandthaten, welche das Ge- 
rücht den Chriften jchuldgab, wie ausgemachte Thatſachen, jondern ex fügt 
feiner Angabe auch noch die Bemerkung bei: „Den Stifter diefer Partei, Namens 
Ehriftus, hatte unter Tiberius der Procurator Pontius Pilatus hinrichten Laffen. 


60 Deutſche Rundichau. 


Dadurch wurde der Heilloje Aberglaube für den Augenblick zurücgedrängt; aber 
bald verbreitete ſich die Anſteckung auf’3 neue, nicht allein über Judäa, wo die 
Krankheit urjprünglich zu Haufe war, jondern aud) in die Hauptftadt, in der 
ja alles Schandbare und Verworfene überall her zufammenftrömt und Anklang 
findet.“ Und mit Bezug auf die Anklage, welche gegen die Ehrijten erhoben 
war, bemerkt er: „Der Brandftiftung feien fie zwar nicht überführt worden, 
aber der Feindſchaft gegen dad menſchliche Geſchlecht.“ Dieſen Eindrud madte 
auf den Römer, wa3 ihm von dem Glauben und dem Verhalten der Chriften 
zu Ohren gelommen war. Des Atheismus, welcher den Feinden der Volksgötter 
do ohne Zweifel auch ſchon damals vorgeworfen wurde, geſchieht feine Er— 
wähnung: in den Augen des Tacitus ift eben der Hauptfehler der neuen Re— 
ligion nicht der Unglaube, jondern der Aberglaube Für fein Gefammturtheil 
nüßt dies aber den Chriften wenig: fie find Feinde des menſchlichen Geſchlechts, 
und von ſolchen hat man ſich jedes Verbrechens zu verjehen. Und nachdem 
Tacitus der entjeglichen Qualen und des grauenhaften Hohnes gedacht hat, mit 
dem Nero gegen die Chriſten wüthete, jchließt er ſeine Erzählung mit den 
Worten: „So jhuldig fie daher waren, und jo jehr fie die äußerſte Strafe 
verdient hatten, jo bemitleidete man fie doch, weil man annahm, daf fie nicht 
dem Gemeintwohl, jondern nur der graufamen Laune eines Einzelnen geopfert 
werden.“ Er gibt zu, daß fie de3 Verbrechens, da3 man ihnen ſchuldgab, nicht 
überwiejen, daß ihre Hinrichtung auf dieſen Grund Hin ein Yuftizmord, die 
Art ihrer Vollziehung eine Scheußlichkeit war: aber er hält fie für eine jo ver- 
tworfene und gemeingefährliche Partei, daß ihre Ausrottung an fich jelbft im 
öffentlichen Intereſſe gelegen hätte. 

Das Vorurtheil gegen die Chriften mußte wirklich jehr tiefe Wurzeln ge- 
ichlagen haben, die Geringihäßung, mit der die Gebildeten auf diefe neue Form 
orientalifcher Superftition herabjahen, mußte ganz allgemein jein, wenn der 
größte Gejchichtjchreiber, den Rom hervorgebradht hat, noch um den Anfang 
de3 zweiten Jahrhunderts die Vorftellungen de3 Pöbels von den Schandthaten 
der Chriften al3 baare Münze annahm und weiter gab, ohne daß er es nur der 
Mühe werth gefunden hätte, ihre Wahrheit zu prüfen. Unter ſolchen Umftänden 
fonnte die Sache des Chriftenthums an fi nur gewinnen, wenn der Proceß, 
den e3 unter Nero verloren hatte, unter einer befjeren Regierung wieder auf: 
genommen, wenn vor gerechteren Richtern die Frage unterjucht twurde, wie es fich 
mit den Verbrechen verhalte, welche da3 Gerücht feinen Anhängern ſchuldgab, 
und an welche jelbft ein Tacitus geglaubt Hat. Dies geihah denn auch noch zu 
Tacitus' Lebzeiten, wenige Jahre, nachdem er feine ebenbejprochenen Yeußerungen 
über die Chriften niedergefchrieben hatte. Es war der größte der Cäſaren, 
Trajan, welder neben den zahllojen übrigen Angelegenheiten, die in dem uner- 
meßlichen Reiche zu ordnen waren, auch mit den Chriften und ihrem Verhältniß 
zum römischen Staat ſich zu bejchäftigen Veranlafjung fand; und es war einer 
von den edelften und gebildetften Männern jener Zeit, der jüngere Plinius, 
dem die Aufgabe zufiel, die Anſchuldigungen gegen die Chriften zu unterjuchen. 
In dem twejtlichen Kleinafien, und namentlicd) in der von Plinius verwalteten 
Provinz Bithynien, hatte der Hriftlihe Glaube ſolchen Anklang gefunden, daß 


Römifche und griechische Urtheile über das Chriftenthum. 61 


an vielen Orten, in den Städten und jelbft auf dem Lande, die Tempel der 
Götter leer jtanden, ihre Feſte nicht mehr gefeiert wurden, das Fleiſch der 
Opferthiere faum noch einen Käufer fand. Die Exbitterung der Heiden über 
diefen Erfolg ihrer Gegner führte zu Klagen. Erft einzelne, bald immer mehrere 
wurden bei Plinius als Anhänger der Chriftenjette zur Anzeige gebracht, wozu 
ein unlängjt ergangenes Verbot aller vom Staat nicht anerkannten Vereine die 
Handhabe bieten konnte. Plinius war in Verlegenheit: gejegliche Beftimmungen 
über die Chriften waren damals noch feine vorhanden, und auch in der gericht- 
lien Praris Hatte ſich für die Behandlung diejer Angelegenheit noch feine fefte 
Uebung gebildet; Plinius wenigſtens war, wie er ſelbſt an Trajan jchreibt, noch 
nie bei einer Unterfuchung gegen Chriften zugegen gewejen. Solche Unterfuchungen 
waren eben jeit der großen Neronijchen Verfolgung nur jehr vereinzelt unter 
Domitian, und jeit dejjen Ermordung gar nicht mehr vorgefommen. Aber als 
echter Römer behandelte er die Sache nad) einem einfachen und durchgreifenden 
politiſchen Geſichtspunkt. Mochte das Chriftenthum fein, was e8 wollte: jobald 
e3 den Anfpruch machte, jeine Eigenthümlichkeit im Gegenjaß gegen die Staats— 
religion und die öffentlichen, mit dem Staatäleben verflodhtenen Kultushand- 
lungen zu behaupten, erwies es ſich als ftaatsgefährlid. Nach diefem Grundjaß 
verfuhr Plinius. Die Perjonen, melde al3 Chriften angezeigt waren, wurden 
vorgeladen und befragt, ob fie Chriſten jeien. Bekannten fie fi) als jolche, jo 
wurden fie unter Androhung der Zodesftrafe aufgefordert, diefen Glauben zu 
verleugnen; tweigerten fie ſich deſſen, jo wurden fie hingerichtet, oder, wenn fie 
das römiſche Bürgerreht bejaßen, wie einft Paulus, zur Aburtheilung nad 
Rom geihidt. „Denn id war,“ jagt Plinius, „darüber nicht im Zweifel, daß 
ihre Hartnädigkeit und unbeugjame Widerjpenftigkeit jedenfalls Strafe verdiene, 
was auch der Glaube, zu dem fie ſich bekannten, eigentlich fein möge.“ Mer 
umgefehrt leugnete, daß er ein Chrift fei, oder fein anfängliches Bekenntniß 
wieder zurüdnahm, der wurde freigelajien, jobald er den Bildern der Götter 
und des Kaiſers jeine Verehrung bezeigte und Chriftus verfluchte. Dies war 
nun freilich ein jeher jummarijches Verfahren. Aber doch benüßte der Statthalter 
die Gelegenheit, fi über den Glauben und das Treiben der Chriften theils bei 
ſolchen, die ji) zur Verleugnung des Chriſtenthums bereit finden ließen, theils 
auch bei zwei hrijtlichen Diakoniffinnen, die er dem peinlichen Verhör unterwarf, 
genauer zu unterrichten. Aber die Einen wußten jo wenig wie die Andern von 
den Gräueln und Verbrechen zu erzählen, welche da3 Gerücht den Chrijten 
Ihuldgab: fie berichteten von ihren religiöfen Zujammenkünften, ihren Liebes— 
mahlen, ihrer Anbetung Chrifti, ihren fittliden Grundſätzen. Er habe, jchreibt 
Plinius, in den Bekenntniſſen der gefolterten Chriftinnen nichts gefunden, als 
einen unvernünftigen, maßlojen Aberglauben. So verbreitet aber diefer auch fei, 
jo hofft ex doch, durch Strenge gegen Die, welche hartnädig an ihm feithalten, 
und Begnadigung Derjenigen, die ihn aufgeben, werde er fi) noch ausrotten 
lajjen. In diefem Bericht des Plinius an Trajan ſpricht ſich nun immerhin eine 
genauere Kenntniß und eine gexechtere Beurtheilung des Chriſtenthums aus, als 
in den Weußerungen des Zacitus. Hatte diefer den verleumderijchen Gerüchten 
über die Lafter und Verbrechen der Chriften noch Glauben gejchentt, jo ift bei 


62 Deutſche Rundſchau. 


Plinius davon nicht mehr die Rede: er überzeugt ſich, daß ſie mit dem Chriſten— 
thum als ſolchem nicht nothwendig verbunden ſeien. Dieſe Beſchuldigung bleibt 
auch wirklich fortan auf die unteren Volksklaſſen beſchränkt; von den Schrift— 
ftellern der Zeit wird fie nicht mehr wiederholt. Aber für einen thörichten und 
wunderlichen Aberglauben hält man das Chriftenthum allerdings nad) wie vor; 
und jo duldfam das kaiſerliche Rom im Allgemeinen gegen Aberglauben jeder 
Art war, fo findet diefe Duldfamkeit doch im vorliegenden Fall an der Eigen- 
thümlichkeit des chriftlichen Glaubens ihre Grenze. Jede andere Religionsübung 
fonnte neben dem bejtehenden öffentlichen Kultus hergeben, die hriftliche mußte 
ihn beftreiten: die Ghriften waren Feinde der Götter, Atheiften. Plinius 
gebraucht dieſes Wort nicht, aber der Sache nach ift es doch diejer Zug, der 
ihm die Chriften als Staatsverbrecher erjcheinen ließ: fie mweigerten fi), den 
Staat3göttern und dem Kaijer zu opfern, und dieſer Trotz ſollte gebeugt werden. 
Nicht anders urtheilte aber auch Trajan jelbft. In jeiner Antwort auf Plinius’ 
Bericht billigt ex deſſen Verfahren und verfügt: e3 jolle zwar nicht von Amts— 
wegen gegen die Chriften eingejchritten werden, aber wenn fie zur Anzeige fommen 
und ſich weigern, durch Verehrung der Staatsgötter ihr Chriſtenthum zu ver— 
leugnen, jollen fie beftraft werden. Er betrachtete das ChriftentHum offenbar 
al3 einen verhältnigmäßig unfchädlichen Aberglauben, eine Verirrung, die man 
dulden könne, jo lange es möglich jei, fie zu ignoriren, der man aber die offene 
Auflehnung gegen die Staatsreligion und die Staatsgeſethze nicht nachjehen, und 
die man, wenn jie einmal vor Gericht gezogen und hartnäckig feftgehalten werde, 
nicht unbeſtraft laſſen könne. 

Trajan's Erlaß an Plinius blieb für anderthalbhundert Jahre die Norm, 
nad) welcher die Stellung der römiſchen Staatsgewalt zum Chriſtenthum ſich 
richtete; und auch die Anficht über das letere, aus der er hervorgegangen war, 
behauptete fich längere Zeit unverändert. Während ſich im Volk der alte Haß 
gegen die „Atheiften“, die alten, unfinnigen Berleumdungen fortwährend in 
ungeſchwächter Kraft erhielten, wußten die Gebildeten in dem neuen Glauben 
nur eine von den vielen Ausgeburten des Aberglaubens zu jehen, welche damals 
vom Orient her das römische Reich überſchwemmten; und mochte man num dieſen 
Aberglauben an fich jelbft milder oder härter beurtheilen, mochte man ihn mehr 
verderblich oder mehr lächerlich finden, feine Anhänger als Betrüger verurtheilen 
oder ala Betrogene bemitleiden: darüber war Jedermann einverftanden, daß e3 
ihm nicht geftattet werden könne, die Staatsgeſetze über Proſelytenmacherei und 
unerlaubte Verbindungen zu verlegen, dab die Hartnädigkeit gebrochen werden 
müſſe, mit welcher die Chriften jede Theilnahme an der öffentlichen Götter: 
verehrung aud) in den Fällen vermweigerten, in denen fie nach den herrſchenden 
Begriffen und den bejtehenden Einrichtungen von der Erfüllung der Pflichten 
gegen das Gemeintwejen und jeine Beherrſcher ungertrennlich war. Nicht anders 
bat noch zwei Menjchenalter nad) Trajan der dritte Nachfolger dieſes Kaiſers, 
der trefflihe Marcus Aurelius Antonius, über die Chriften geurtheilt. 
Diefer Kaifer war einer von den mildeften, menjchenfreundlichiten, gewiffenhafteften 
Fürſten, welche je einen Thron geziert haben. Er war ferner ein eifriger An— 
hänger der ftoiichen Rhilofophie, die ſich in ihrer Sittenlehre und jelbft in ihrer 


Römische und griechiiche Urtheile über das Ehriftenthum. 63 


Theologie dem Chriſtenthum jo vielfach verwandt zeigt. Und dennoch hatten 
die Chriften unter jeiner Regierung härtere Berfolgungen zu exrdulden, al3 unter 
einem jeiner Vorgänger jeit Nero. Er glaubte eben, ald römischer Kaijer die 
Staatsreligion gegen ihre ausgeſprochenen Feinde ſchützen zu müſſen; und er 
hatte ala Mitglied einer Schule, welche ſich ſelbſt durch die kritikloſeſte Gleich- 
fegung philoſophiſcher Ideen und religiöjer Mythen, durch die ausjchweifendfte 
Alegorit mit der Volksreligion abfand, fein Verftändniß für die ſchweren 
Gewiſſensbedenken, die einem Ghriften jede Theilnahme am heidnifchen Kultus 
als die unverzeihlichfte Sünde erjcheinen Tiefen. In den pojitiv chriftlichen 
Lehren ohnedem, die fich nicht, wie die Mythen der Dichter, zu bloßen Symbolen 
für philoſophiſche Sätze verflüchtigen ließen, konnte auch ein Dark Aurel un- 
möglich etwas Anderes jehen, al3 was ſchon Plinius darin gejehen hat, einen 
„maß= und vernunftlojen Aberglauben“, und in der Standhaftigfeit, mit welcher 
die Chriften an diefen Lehren fefthielten, unmöglich etwas Anderes, al3 einen 
unvdernünftigen Eigenſinn, deffen Quelle nur in Trotz und Recdthaberei, und 
daneben etwa noch in dem Wunſch, Auffehen zu erregen und von fich reden zu 
machen, gejucht werden könne. Und jo urtheilt er wirklich in der einzigen Stelle 
jeiner Selbſtgeſpräche, in der er der Chriften erwähnt (XI, 3), wenn er hier 
verlangt, daß man jederzeit zu fterben bereit jein jolle, aber mit Würde, ohne 
Gepränge, aus vernünftiger UHeberzeugung, „nicht aus bloßem Trotz, wie die 
Ehriften“. So wenig vermochte jelbft der aufopfernde Heldenmuth der hriftlichen 
Blutzeugen das Vorurtheil des Römers zu überwinden. Mark Aurel hat die 
Ghriften, welche in Ausführung feiner Befehle hingerichtet wurden, ohne Zweifel 
bemitleidet, wie er uns ja fo oft einfhärft, daß nur diefes die Stimmung ſei, 
welche dem Weiſen der Thorheit und Werkehrtheit der Menſchen gegenüber 
gezieme; aber er glaubte, fie um des Gemeinwohls und der öffentlichen Ordnung 
willen dem Arm der Gerechtigkeit nicht entziehen zu dürfen, und daß es in 
Wahrheit nicht die Gerechtigkeit war, der fie zum Opfer fielen, ſondern ein 
Staatsgeſetz und Staatsintereffe, da3 vor dem natürlichen Recht der Gewiſſens— 
freiheit nicht beftehen Tonnte, davon hatte ex feine Ahnung. 

War aber jelbft ein Markt Aurel nicht im Stande, das Chriftenthum 
unbefangen zu würdigen, jo wird man die noch weniger von einem Mann 
erwarten, dem e3 an eigenem religiöfem Intereſſe und daher nothwendig auch) 
am Berftändniß des religiöjen Lebens und feiner Motive von Haufe aus in fo 
hohem Grad fehlte, twie jeinem Zeitgenoffen, dem bekannten Satyrifer Qucian. 
Ein Weltmann wie er, halb Skeptiker, halb Epikureer, konnte darin unmöglich 
etwas Anderes jehen, al3 eine von den Thorheiten und Schwärmereien, an denen 
jene Zeit jo reich war. Nur in diefem Zufammenhang wird e3 überhaupt von 
ihm berührt. In feiner Schrift über den Cynifer Peregrinus, der fich bei den 
olympiſchen Spielen des Jahres 165 öffentlich verbrannt hatte, erzählt er (tie 
im Januarheft dieſes Jahrgangs des Näheren aueinandergejegt ift*), diejer 
ercentrifche Menſch habe in jüngeren Jahren eine Zeit lang in Paläftina der 
Sekte der Ehriften angehört, ſei bei ihnen zu hohem Anſehen gelangt und um 





*) „Alerander und Peregrinus* ıc., ©. 74 ff. 


64 Deutjche Rundichau. 


feines Glauben3 willen eingeferfert, in der Folge jedoch wieder freigelafjen worben ; 
und er ergreift diefe Gelegenheit, um auch über die Chriften feine Meinung zu 
fagen. Er jchildert diefelben mit einer Art von mitleidiger Verachtung al3 arme, 
einfältige Leute, die fi) von dem Stifter ihrer Sekte haben einreden laſſen, fie 
werden ewig leben, und wenn fie nur die Götter der Hellenen verleugnen und 
ftatt derjelben jenen „gefreuzigten Sophiften“ verehren und feinen Gejeßen nach— 
leben, jo jeien fie alle Brüder. Dabei ift ihm der Muth, mit welchem die 
Chriften in den Tod gingen, die Freudigkeit, mit der fie ihrer Sache jedes Opfer 
zu bringen bereit waren, wohl befannt. Aber diefer Heldenmuth und dieſe Auf- 
opferungsfähigfeit hat in feinen Augen feinen Werth, weil fie ſich auf jo ſchwär— 
meriſche Wahnvorftellungen gründet. Ihr Aberglaube macht die Chrijten, wie er 
fagt, zur leichten Beute jedes Betrügers, der ihn zu benüßen weiß; und jcheint 
er auch von diefem Aberglauben für die beftehenden Zuftände feine erntliche 
Gefahr zu befürchten, jo fehlt ihm dafür auch jede Ahnung von der geſchicht— 
lichen Bedeutung und dem inneren Gehalt de3 neuen Glaubens. Er ſpricht von 
ihm in dem oberflächlichen Ton eines Mannes, der feiner Werth- und Bedeutungs- 
lofigfeit zum voraus viel zu ficher ift, al3 daß es ſich für ihn verlohnte, fich 
genauer darüber zu unterrichten. 

Ungleich ernfter nahm es mit dem Chriftenthum Lucian’3 Freund, der Pla- 
tonifer Celſus. Auch die Kenntniß deifelben geht bei ihm viel tiefer, ala bei 
Lucian. In dem „Wort der Wahrheit”, das er zwiſchen 178 und 180 n. Chr. 
an die Chriften gerichtet hat, zeigt er eine Bekanntſchaft mit ihren Lehren und 
Religionsurkunden, durch die er unter den Gegnern des Chriſtenthums bis auf 
Porphyr herab ganz einzig dafteht. Aber jein Uxtheil über dajjelbe fällt darum 
nicht tweniger ftreng aus, al3 das feiner Vorgänger. Wenn er aud) der jüdiſch— 
Sriftlichen Lehre nicht alle Wahrheit abjpricht, jo nützt ihr da3 in feinen Augen 
doch wenig, Wie die jüdiſchen und cHriftlichen Alerandriner die heidniſchen 
Weiſen zu Schülern der jüdiſchen Offenbarung machten, jo macht der griechijche 
Philojoph umgekehrt die Juden und Chriften zu Plagiatoren an der Weisheit 
der Heiden: was ſich Richtiges bei ihnen findet, da8 haben fie von den Aegyptern, 
den Hellenen, überhaupt von den Völkern geborgt, deren Götter fie veradhten. 
Aber mit diefem fremden Gute haben fie jchlecht gewirthichaftet: fie haben die 
Lehren, welche fie fich aneigneten, mißverftanden und entftellt, mit abergläubijchen 
Einbildungen und betrügeriichen Erfindungen jeder Art vermiſcht. Ueber bie 
Stammoväter der Chriften, die Juden, glaubt Celſus Alles, was heidnijche Gegner 
diejes Volks ſeit Jahrhunderten von feinem Urſprung Schmähliches zu erzählen 
wußten; über den Stifter des ChriftenthHums und jeine Schüler alle die Ver— 
leumdungen, welche der Haß ihrer Volksgenoſſen Schon damals faft in derjelben 
Geftalt in Umlauf gejeßt hatte, in der wir fie noch in talmudiſchen Schriften der 
jpäteren Zeit finden. Jeſus war, nad) der befannten jüdiſchen Fabel, nicht allein 
von niedriger, fondern auch von unehrlicher Abkunft; in Aegypten erlernte ex die 
Künfte der Zauberer und Gaufler; nad feiner Zurückkunft in fein Vaterland gab 
ex fich für einen Wunderthäter und für den längft geweifjagten Sohn Gottes aus 
und erdichtete die evangelifchen Erzählungen von feiner Geburt. Es gelang ihm, 
aus dem ſchlechteſten Gefindel ein paar Leute zufammenzubringen, mit denen er im 


— 


Römiſche und griechifche Urtheile über dad Chriftenthum. 65 


Land umbherzog, ohne doch irgend etwas zu leiften, was nicht andere Goäten 
auch gethan hätten, oder einen etwas bedeutenderen Erfolg zu erreichen. Als er, 
von einen eigenen Freunden verrathen, die gejeglihe Strafe für jeine Ver— 
gehungen erlitten Hatte, jeßten feine Schüler feine Betrügerei fort. Sie blieben 
dabei, daß er ein Gott und ein Sohn Gottes geweſen jei, jchrieben ihm Wunder 
zu, die er nie gethan hat, legten ihm exdichtete Weiffagungen über jeinen Tod 
und jeine Auferftehung in den Mund, und erjannen nad) dem Vorgang heid- 
nifcher Mythen das Märchen von feiner Auferftehung, ohne doch für dafjelbe 
irgend einen glaubwürdigen Bewei3 beibringen zu können. Das Chriftenthum ift 
jo ſchon von Haufe aus nicht blos eine verwerfliche Neuerung, jondern geradezu 
ein Werk des Betrugs: der „Sophift“, den ihm Lucian zum Stifter gegeben hatte, 
wird hier zu einem Gaukler, deſſen Zauberfünfte der Platonifer zwar nicht be— 
ftreiten will, den er aber darum doch für nicht3 Anderes hält, als für einen nichts= 
würdigen Betrüger. Diefem ihrem Urſprung entſpricht nach Celſus auch der 
Charakter der riftlichen Religion. Soweit fie fi) von dem entfernt, was ſchon 
lange vor ihr als Wahrheit anerkannt war, ift fie nichts, ala ein Gemiſch von 
Aberglauben, Anmaßung und Täuſchung. Um den höchſten Gott allein an- 
zubeten, verjagen die Chriften mit den Juden den übrigen Gottheiten ihre Ver— 
ehrung. Als ob es fi für den höchften Gott geziemte, unmittelbar und per- 
ſönlich in die materielle Welt einzugreifen; als ob er nicht feine Diener und 
Werkzeuge hätte, mittelft deren er die Welt regiert, und in denen er geehrt fein 
will: jene himmlijchen Götter, deren Glanz wir bewundern, jene Dämonen, deren 
unfihtbares Walten uns beftändig umgibt, deren Gunft wir uns daher dur 
Gebete und Opfer zu fihern allen Grund haben. Und während die Chriften den 
höchften unter den gejchaffenen Wejen die Ehre veriveigern, die ihnen zukommt, 
während fie einem Herakles und Asklepios nicht zugeftehen, daß fie zu Göttern 
geworden jeien, verehren fie jelbft einen Gaufler, der des ſchmählichſten Todes 
geftorben ift, al3 einen Gott. Sie behaupten, er jei Der, welchen die jüdijchen 
Propheten geweifjagt haben, wiewol feine Lehre dem jüdischen Geſetz widerftreitet. 
Sie maden ihn zum Sohne Gottes, unbefümmert darum, daß fie damit dem 
Gotte, deſſen Sohn er fein joll, jo gut, wie die helleniſchen Mythen von Götter- 
fühnen, Dinge zujchreiben, die der Gottheit durchaus unwürdig find. Sie laffen 
Gott zu den Menſchen herablommen, jo wenig ſich dies auch mit feiner Unver- 
änderlichkeit und jeiner Vollkommenheit verträgt. Wie ungereimt find ferner 
ihre anthropomorphiftiichen Worftellungen von der Gottheit, ihre Erzählungen 
von der Weltihöpfung und vom Sündenfall, von der Sündfluth und den Patri- 
archen, ihre Lehre vom Teufel, der den Sohn Gottes tödtet, und vom Antichrift, 
welchen dieſer al3 jeinen Nebenbuhler zu fürchten hat, ihre Erwartungen über 
die Wiederkunft Chrifti, die Weltverbrennung und die Auferftehung des Leibes, 
an dem nur der fleiſchlich Gefinnte in diefer Art hängen wird! Welche hoch— 
müthige Einbildung von den Chriften, daß fie meinen, die Welt fei nur um 
ihretwillen gejchaffen, und beim Weltende werden fie allein in einem neuen Leib 
fortleben, während alle Anderen im Feuer gebraten werden! Eine ſolche Religion 
taugt freili) nur für die Unwifjenden, an welche die Ehriften ſich allein halten: 


wer für ſolche Dinge Glauben finden will, der muß ji ja * damit an 
Deutſche Rundſchau. III, 7. 


66 Deutiche Rundſchau. 


Handwerker und Sklaven, an Weiber und Kinder, an fündiges, jchlechtes Volt 
wenden, alle Gelehrten und Gebildeten dagegen von jeiner Gemeinde ausjchließen. 
Doch jo verkehrt alles dies jein mag: es wäre immer noch eher zu ertragen, 
wenn die Chriften damit nur dem Glauben ihrer Vorfahren folgten, wenn fie 
die Entihuldigung einer Nationalreligion für fi hätten. Da es nun einmal 
nicht möglich ift, daß alle die zahllojen Völker die Gottheit auf einerlei Weife 
verehren, jo ift es am beften, wenn fie jedes in der Art verehrt, bie bei ihm 
von Alter her einheimiſch und den Scubgeiftern jeines Landes genehm ift. 
Sp verhält es fich jelbft mit den Juden, jo thöricht auch der Nationalftolz ift, 
mit dem fie alle anderen Glaubensweijen verachten und nur ihre eigene gelten 
laſſen wollen. Die Chriften dagegen können nicht einmal diefen Grund für ſich 
anführen. Ihrem Urjprung nad Apoftaten des Judenthums, find fie jet ein 
Gemenge von Abtrünnigen aus allen Völkern, und unter einander jelbft wieder 
in zahlloje Parteien gejpalten. Und damit hängt denn auch das zufammen, 
wovon Geljus die Ehriften am Schluß feiner Streitihrift noch abmahnt: ihre 
Gleihgültigkeit gegen den römiſchen Staat und jein Wohl. Wie fie von dem 
öffentlichen Götterdienft nicht? wiffen wollen, jo kümmern fie ſich auch nicht 
um die öffentlichen Intereſſen: jene „Feindſchaft gegen das Menjchengejchlecht‘, 
die ihnen bei Tacitus vorgeworfen twird, begegnet una bier unter der beftimmteren 
Geftalt de3 Mangel an Patriotismus. 

Dieje Streitjchrift des Geljus läßt uns nun deutlich erkennen, weshalb die 
höher Gebildeten unter feinen römiſchen und griechiſchen Zeitgenoifen von dem 
chriſtlichen Glauben, auch wenn fie mit demjelben etwas näher befannt wurden, 
doch in der Regel nichts wiſſen wollten. Sie konnten fi) mit ihm jchon des— 
halb nicht befreunden, weil er aus einer ganz anderen Sphäre hervorgegangen 
war, eine andere Stimmung und Denkweiſe vorausjegte, als die ihrige. Das 
Chriſtenthum war eine Religion dev Mühſeligen und Beladenen: wer ſich in 
diefer Welt mißhandelt und hintangeſetzt fand, dem verſprach es Erſatz in einer 
anderen ; wer vom Gefühl der moraliihen Schwäche und Verſchuldung niedergedrückt 
war, dem wußte e8 durch das Evangelium der Verföhnung die Ruhe des Gewiſſens 
zurüczugeben, ihn zu einer ihm bi3 dahin unbelannten Freiheit und Freudigkeit 
de ſittlichen Strebens zu erheben. Aber Alles, was bie Freude des Hellenen, 
der Stolz des Römer gewejen war, rechnete e3 zu der Herrlichkeit dieſer 
Welt, auf deren Trümmern erſt da3 Reich Gottes ſich erbauen jollte. Je tiefer 
der Einzelne in der Bildung der claſſiſchen Völker wurzelte, um jo fremdartiger 
mußten ihn diefe Anſchauungen berühren; je höher er die Güter diefer Bildung 
Ihäßte, um jo weniger konnte er fie mit dem Glauben und der Gottesverehrung 
der paläftiniichen Barbaren zu vertaufchen geneigt fein. Ye weniger ihm um— 
gefehrt von diefen Gütern zugefallen war, je vollftändiger er zu den Paria's des 
antifen, wejentlich ariftofratifchen Kulturlebens gehörte, um jo größeren Reiz 
mußte eine Lehre für ihn haben, welche ihn zum gleichberechtigten Genofjen einer 
Gemeinſchaft erhob, deren Mitgliedern die höchften Güter theils fofort in ihrem 
ſittlichen und religiöfen Leben mitgetheilt, theils für die Zukunft in fichere Aus- 
ſicht geftellt wurden. Ein folcher konnte auch über die Punkte der neuen Lehre, 
welche den wiſſenſchaftlich Gebildeten zum Anftoß gereichten, leicht wegtommen. 
Wie ſtark au die Anforderungen jein mochten, welche der jüdiſch-chriſtliche 


Römische und griechifche Urtheile über das Chriftenthum. 67 


Supranaturalismus an die Glaubensfähigkeit feiner Belenner ftellte: im Ver— 
gleich mit der Mythologie des Volksglaubens Hatte die Hriftliche Dogmatik ein 
fo rationale8 Gepräge, und jchon der lebergang vom Polytheismus zum Mono- 
theismus ſchloß einen jo gewaltigen Fortſchritt in fih, daß aud der wunder- 
gläubigfte und dogmatiich beſchränkteſte Chrift auf den Aberglauben der Heiden 
al3 ein Aufgeflärter herabjehen konnte. Wen dagegen die Philvjophie vorher 
ihon von diefem Aberglauben befreit hatte, dem brauchte da3 Chriftenthum 
dieſen Dienft nicht erft zu leisten, und es fonnte ihn durch denfelben nicht gewinnen ; 
wogegen alle die Lehren, welche aus dem jüdiihen Offenbarungsglauben ala 
ſolchem hervorgegangen waren oder fih an ihn anſchloſſen, einen Jünger bes 
Plato oder Ariftoteles, des Epikur oder Zeno unfehlbar abſtoßen und bald feinen 
Spott bald jeinen ernfthaften wiſſenſchaftlichen Widerſpruch hervorrufen mußten. 
Beachtet man dabei noch die unverhüllte Abneigung, die underfennbare innere 
Feindſeligkeit, mit welcher die Chriften den heidniſchen Staat betrachteten und 
ihm ihre Mitwirkung zur Löſung jeiner Aufgaben jo viel wie möglich entzogen, 
jo begreift e3 fih um jo mehr, daß gerade der gebildetere Theil der Bevölke— 
rung, der Träger der politif den Einfiht und Gefinnung, im Chriftenthum 
eine Gefahr jah, gegen welche die unteren, politiſch unmiündigen Volksklaſſen 
theila gleichgültig, theils blind waren, und daß weiter blidende, von römischen 
Staatzfinn erfüllte Regierungen dem Umfichgreifen eines Glaubens zu fteuern 
ſuchten, der dem bejtehenden Staatsweſen jeine bejte Lebenskraft ausjaugen mußte. 

Für das Chriftenthum und für die Menjchheit war es ein Glück, daß ſich 
dieje altrömijhe Staatsgefinnung immer nur zeitweile auf dem Throne der 
Gäjaren behaupten konnte. it es auch eine ſtarke Uebertreibung, wenn Gelius 
den Chriſten jagt, nur der eine und andere von ihnen irre noch umher, jei aber 
fortwährend von der gerihtlihen Verfolgung bedroht, jo jcheinen doc Mark 
Aurel’3 ftrenge Maßregeln gegen diejelben für den Augenblid einen bedeutenden 
Erfolg gehabt zu haben. Aber der erneuerte Angriff der Markmannen, welcher 
jeit 178 alle Kräfte des Reiches in Anſpruch nahm, mußte die Aufmerkſamkeit 
von den Ghriften ablenfen; und nachdem der Kaijer im Jahre 180 im Fyeldlager 
zu Wien geftorben war, hatte die riftliche Kirche unter feinen Nachfolgern eine 
fiebzigjährige Ruhezeit, welche erft um die Mitte des dritten Jahrhunderts für 
einige Jahre durch die heftigen Werfolgungen des Decius und Valerian unter- 
brochen wurde. Die Zahl ihrer Anhänger wuchs während diejer Zeit jo bedeu- 
tend, ihr Gemeindeleben und ihr Kultus trat jo ungejcheut und ungehindert aus 
der früheren Berborgenheit heraus, daß fie troß der Gejege gegen die unerlaubten 
Religionen eine Macht war, mit der man rechnen, die man wenigſtens als 
Thatſache anerkennen mußte. Dadurch wurde auch die Stellung, welche die 
Öffentliche Meinung der griechiſch-römiſchen Welt zum Chriſtenthum einnahm, 
nothwendig beeinflußt. Die alten, abenteuerlichen Vorftellungen von den geheimen 
Gräueln der Chriften verftummen, jeit man fie genauer und allgemeiner kennen 
lernt. Der Haß gegen die Götterfeinde ftumpft ſich mit der Zeit um fo mehr 
ab, da man ich jeit dem Ende des zweiten Jahrhunderts immer mehr gewöhnte, 
neben den altrömiſchen und griechiſchen auch orientalifche Gottheiten nicht allein 
in der Gottesverehrung der Einzelnen, jondern auch im öffentlichen Kultus, einen 


5* 


68 Deutſche Rundſchau. 


breiten Raum einnehmen zu ſehen. Die Abneigung der Heiden gegen das Chriften- 
thum dauerte natürlich nichtsdeftoweniger fort; die Eiferfucht der Altgläubigen 
gegen dafjelbe konnte durch jeine Erfolge nur genährt werden. Aber für „Feinde 
des Menſchengeſchlechts“ konnte man die Belenner einer Religion nicht mehr 
halten, der von den Einwohnern des römiſchen Reiches bereit3 ein jo namhafter 
Theil anhing, und jelbft das politiſche Mißtrauen ſchwand allmälig in dem 
Grabe, daß gegen das Ende des dritten Jahrhundert viele Chriften in der 
Armee dienten, und manden von ihnen hohe Befehlshaberftellen, wichtige Hof- 
und Staat3ämter anvertraut waren. 

Unter diefen Umftänden nahmen auch die Angriffe auf das Chriftenthum 
eine veränderte Geftalt an. Als die letzte wiſſenſchaftliche Vorkämpferin des 
Polytheismus trat jeit der Mitte des dritten Jahrhunderts die neuplatoniſche 
Philoſophie auf. Aber jo entichieden der Widerſpruch war, ben fie der 
Sriftlichen Lehre noch lange nad) dem äußeren Siege der letzteren, bis in's jechfte 
Jahrhundert herab, entgegenjegten, jo wagten doc jelbjt die Neuplatoniter nicht 
mehr, diefer Lehre alle Wahrheit abzuſprechen. So viel hatte die chriftliche Re- 
ligion durch ihren großartigen äußeren Erfolg und ihre unverfennbaren fittlihen 
Wirkungen doch erreicht, daß fie von ernfthaften und mwahrheitsliebenden Geg- 
nern, wie dies die Neuplatonifer durchſchnittlich waren, nicht mehr einfach 
für ein Werk des Betrugs oder ein Erzeugniß des Aberglaubens gehalten 
werden konnte; daß vielmehr auch fie einen wahren und tüchtigen Kern in ihm 
anerkannten, an den ſich freilich in der Folge viel Täuſchung und Betrug an- 
gejegt haben jollte. Der Stifter des Chriſtenthums, jagten dieſe neuplatonifchen 
Gegner defjelben, jei ein frommer und weijer Mann geweſen; erft feine Schüler 
haben jeine Lehre entjtellt. Sie erſt haben Chriftus für einen Gott ausgegeben 
und jeine Verehrung der der Volksgötter entgegengeftellt. Er ſelbſt habe dieje 
Götter angebetet und mit ihrer Hilfe durch magiſche Kunft die Wunder ver- 
richtet, deren Thatjächlichkeit die Philojophen nicht beftreiten wollten; er habe 
aber deshalb nicht mehr fein wollen, ala ein Menſch, wie ja auch andere Weife 
von den Göttern mit ähnlicher Wunderkraft begabt worden jeien. 

Don diefem Standpunft aus Hatte ſchon in der erften Hälfte des dritten 
Jahrhunderts (um 230) Philoftratus in feinem Leben des Apollonius von 
Tyana, ohne Chriftus zu nennen, der evangelifchen Darftellung defjelben das 
neupythagoreifche Ideal eines helleniſchen Philofophen und Propheten gegenüber- 
geftellt, und jein Schüler, der Kaijer Alerander Severus, in feiner Hauscapelle 
dem Stifter des Chriftenthums neben einem Orpheus und Abraham, einem Py— 
thagora3 und Apollonius, eine Stelle eingeräumt. Bon den gleichen allgemeinen 
Vorausfegungen ging ein halbes Jahrhundert jpäter der Neuplatonifer Bor- 
phyrios bei jener berühmten ausführlichen Streitichrift gegen die Chriften aus, 
deren Vernichtung dem Haffe der letzteren leider jo vollftändig gelungen ift, daß 
ung nur vereinzelte Angaben über ihren Anhalt übrig find. Wir jehen aus 
denjelben, daß Porphyr, ein gelehrter und nicht blos logiſch, ſondern auch philo- 
logiſch geichulter Mann, fich zu feinem Angriff mit Vorliebe ſolche Punkte aus- 
gewählt Hatte, welche auch in neuerer Zeit von Gegnern des fupranaturaliftiicden 
Offenbarungsglaubens bejonders in's Auge gefaßt wurden. Er fragte mit einem 


Römiſche und griechifche Urtheile über das Chriftenthum. 69 


Reimarus, warum denn Chriftus nicht früher erjchienen jei, wenn doch alles 
Heil an ihm allein hänge. Er fand es unbegreiflich, daß die Chriften die Opfer 
veriwerfen, wenn Gott jelbft fie den Juden geboten habe. Er fah in dem viel- 
bejprochenen Streit des Petrus und Paulus in Antiochien einen Beweis dafür, 
daß ein Glaube, über den feine bedeutendften Vertreter ſich ftreiten, nur auf Er- 
dichtung beruhen könne. Er beſchuldigte ſelbſt Jeſus der Zweideutigkeit, weil er 
bei Johannes (7, 8. 14) erft jagt, er werde das Feſt in Jeruſalem nicht be- 
ſuchen, und dann doch dort erjcheint. Er hielt fi über manche Erzählungen 
des alten Teftament3 auf und wollte den Chriften mit Recht nicht erlauben, 
da3 Anftößige derjelben durch allegorijche Auslegung bei Seite zu ſchaffen. Ex 
erkannte in der Weiſſagung Daniel’3 mit ſcharfem Blick eine Unterſchiebung aus 
der Zeit der Makkabäer und beivies dies mit Gründen, die von ihrer Kraft 
heute noch nicht3 verloren haben. Er Hat jo ohne Zweifel noch mande Ein- 
wendung vorgebradht, deren Widerlegung der damaligen chriftlihen Theologie 
nicht gelingen konnte. Aber daß er das Chriftenthum im Ganzen ebenfo weg— 
werfend und feindjelig beurtheilt habe, wie feiner Zeit Celſus, wird nicht über- 
Viefert, und nad) der Stellung, welche die neuplatoniihe Schule überhaupt da- 
mal3 gegen dafjelbe einzunehmen pflegte, ift es nicht wahrjcheinlich, jo entjchieben 
er fi auch darüber ausjpricht, daß er nur in der hellenijchen Religion eine ge- 
jegliche Art der Gottesverehrung, in der riftlichen nur eine Auflehnung gegen 
die göttlihe Weltordnung zu jehen wiſſe, nach der jeder die Götter dem Her- 
fommen jeines Volkes entjprechend verehren ſolle. 

Nicht einmal von feinem Schulgenofjen Hierofles wird dies behauptet, 
wiewol diefem Dann ein Hauptantheil an dem letzten Verſuch zugejchrieben wird, 
den die xömiiche Staatsmacht vom Jahre 303 an mehrere Jahre lang zur ge— 
waltjamen Unterdrüdung des Chriſtenthums machte, der ſchweren Diocletia- 
niichen Chriftenverfolgung. In einer Streitichrift gegen die Chriften ftellte 
diejer Neuplatoniter dem Stifter des ChriftenthHums die romanhafte Geftalt des 
neupythagoreiichen Heiligen, des Apollonius von Tyana, gegenüber, jo wie dieje 
von Philoftratus ausgemalt war. Er juchte zu zeigen, daß die Chriften feinen 
Grund haben, ihren Jeſus wegen der paar Wunder, die er verrichtet habe, für 
einen Gott zu halten, und daß die Heiden einen Apollonius, Pythagoras und 
andere, Chriſtus überlegene Wunderthäter viel richtiger beurtheilen, wenn fie die- 
felben nicht für mehr anjehen, als für gottgeliebte Dienjchen. Dabei unterließ aber 
auch er e3 nicht, die Apoftel für Betrüger zu erklären, welche die Thaten ihres 
Meiſters mit leeren Erdichtungen ausgeſchmückt haben, während die eines Apol- 
lonius von untadeligen Zeugen überliefert fein jollen. Die menſchliche Größe 
Jeſu, jelbft jeinen Prophetencharakter, will demnach auch diefer Chriftenfeind nicht 
beftreiten ; nur jeine göttlihe Würde ift e3, gegen die er fich wendet. 

Erſt in der zweiten Hälfte des vierten Yahrhundert3 hören wir die heid- 
niſche Polemik gegen das Chriftenthum wieder den Ton anjchlagen, mit dem fie 
im erften und zweiten begonnen hatte. Dieje Religion war inzwiichen durch 
Gonftantin zur Staatsreligion im römiſchen Reich erhoben worden, und bald 
begannen ihre Anhänger, die Verehrung der alten Götter mit derjelben Gewalt- 
ſamkeit zu unterdrüden, mit der man faum erft das GChriftenthum zu unter: 


79 Deutſche Rundſchau. 


drücken verſucht hatte. Wenn heidniſche Regierungen den Chriſten bei Todes— 
ftrafe geboten hatten, den Göttern zu opfern, jo wurden jetzt dieſe Opfer bei 
Tobesftrafe verboten; wenn früher der heidnijche Pöbel gegen die Chriften ge- 
wüthet hatte, wurde jet der chriſtliche Pobel gegen Die gehett, welche fi) von 
dem Glauben ihrer Väter nicht trennen wollten; wenn man früher dem Chriften- 
thum abjagen mußte, um fi) möglich zu maden, am Hof und beim Heere vor- 
wärt3 zu kommen, jo mußte man e3 jeßt zu demjelben Zmwed annehmen. Hatte 
aber das neu aufftrebende Chriftenthum Lebenskraft genug befeflen, um allen 
Verlodungen und Schredniffen der Staatsgewalt Widerftand zu leiften, jo brach 
da3 morſche Heidentgum unter der Wucht der veränderten Berhältniffe jo raſch 
zufammen, daß feine Anhänger ſchon 50 Jahre nad) Gonftantin’3 erſtem Zole- 
ranzedict zu einer Minderheit geworden waren, deren Reihen fi) immer mehr 
lichteten, und daß fie bald nur noch unter der ungebildeten Bevölkerung auf 
dem Lande, in den höheren Ständen Rom’3 und Alerandria’3, und unter den 
Gelehrten und Philoſophen zu finden waren, welche die Verehrung der alten 
Götter von der claffiichen Bildung nicht zu trennen wußten. Es war natürlid), 
daß diefer Sieg eines Gegners, den man zu haſſen und auf den man herabzujehen 
nie aufgehört hatte, daß die Härte, mit welcher derjelbe jeinen Sieg benutte, 
dab das widerwärtige Schaufpiel von äußerlichem Namenchriftentfum, geiftlicher 
Herrſchſucht und leidenjchaftlichen Lehrftreitigkeiten, welches die neue Reichskirche 
jofort darbot, bei dem unterlegenen Theile die tieffte Erbitterung hervorrief. 
Unter Julian's furzer Regierung (361—363) eröffnete fi ihm die Ausficht, 
den Gegner auf’3 Neue zu verdrängen. Aber die Reftauration des Heidenthums, 
welche diefer Kaifer mit dem ganzen Eifer eines Neophyten, doch in völliger 
Verfennung feiner Zeit und ihrer Bedürfniffe, unternahm, hätte mißlingen 
müffen, wenn auch nicht jein früher Tod dem kaum begonnenen Unternehmen 
ein Ende gemacht hätte. Julian jelbft hatte da3 Chriftentgum in jeinen Bor- 
gängern und Verwandten in der jchlechteften Geſtalt kennen gelernt. Er hatte 
unter ihrem mißtrauifchen Despotismus perfönlich ſchwer gelitten. Im Ehriften- 
thum erzogen, hatte ex ſich zu diefer Religion auch da noch Außerlich bekennen 
müſſen, als ex ſchon längft durch die neuplatoniiche Philojophie für die alten 
Götter gewonnen war. Ihre Verehrung wiederherzuftellen, war für ihn, als 
er auf den Thron kam, die ernftlichite Herzensangelegenheit. Aber auf gewalt- 
jamem Wege wollte er e8 doch nicht verfuchen: dies verboten ihm jeine Grund- 
jäe, fein Edelfinn und feine Achtung vor dem Recht; und ſchließlich konnte er 
ſich doch wol nicht verbergen, daß feine Macht dazu nicht ausgereicht hätte. Daß 
er den Chrijten den öffentlichen Unterricht in der alten Literatur unterjagte, ift 
die härtefte Maßregel, die er gegen fie in Anwendung gebradht hat. Nur um 
jo weniger fonnte e8 fi aber der Fürft, der fich auf feine Philojophie und 
feine Gelehrfamkeit nicht wenig zu Gute that, und fich jehr gern reden hörte, 
verfagen, gegen fie zu fchreiben. In feinen fieben Büchern gegen die Chriften, 
die wir aus Cyrill's Gegenſchrift kennen, und in feinen Briefen fommt aller 
der Groll und die Geringihäßung zum Ausdrud, die fich feit Jahren bei ihm 
angejammelt hatten und durch die Hartnäckigkeit nur gefteigert werden Tonnten, 
mit der die Chriften feinen Bekehrungsmaßregeln twiderftrebten. Die „Galiläer“, 


Römische und griechifche Urtheile über das Chriſtenthum. 71 


wie ex fie jelbft in kaiſerlichen Erlaſſen verächtlich zu nennen pflegte, find ihm, 
wie jeinerzeit einem Celſus, Leute, die von der Gottesverehrung ihrer Väter 
abgefallen find, um ſich aus den jchlechteften Elementen des Judenthums und 
des Heidenthums eine eigene Religion zurechtzumaden. Von den ewigen 
Göttern, deren Walten fie umgibt, wollen fie nichts wiſſen, um ftatt deſſen 
einen todten Juden und mit ihm die Gräber und die Knochen anderer Todten 
— mit denen man ja damals ſchon Fetiſchdienſt genug trieb — zu verehrten. Auch 
die Natur und ihre Geſetze hören fie nicht; ftatt aller Gründe berufen fie fich 
auf den Willen Gottes, al3 ob diefer jemals mit den Naturgejegen im Wider: 
ſpruch fein könnte So wollen fie auch nicht begreifen, daß unmöglich alle 
Völker einerlei Religion Haben können, und daß die Völker eben deshalb an 
Charakter und Anlagen jo weit von einander abweichen, weil fie verſchiedenen 
Gottheiten zugetheilt find. Sie jelbft aber haben gar feinen nationalen Kultus; 
fie folgen den Lehren jener betrügeriichen Sektirer, der Apoftel; und haben nicht 
einmal dieje unverändert gelaffen. Wie wenig aber dieje Lehre taugt, zeigt aud) 
der Augenjchein: Alles, was Großes und Schönes in der Welt ift, alle edeln 
Thaten und alle bedeutenden Männer find, wie Julian glaubt, aus dem Heiden- 
thum hervorgegangen; das Chriſtenthum ift eine Religion der Barbaren, und e3 
vermag auch nur Barbaren, nur Leute von jElavenhafter Gefinnung zu bilden. 

So kehrt die heidnifche Polemik gegen das Chriftenthum in ihrem Ausgang 
zu benfelben Geſichtspunkten zurüd, unter die fie dafjelbe gleich anfangs geftellt 
hatte. Aber hatte dieje Polemik jeine Ausbreitung nicht zu hemmen vermocht, 
jo war es eine noch eitlere Hoffnung, daß es ihr gelingen werde, ihm den Sieg, 
den es ſchon in Händen hatte, wieder zu entreißen. Als Cyrill feine zehn 
Bücher gegen Julian jchrieb, war die lette Ausficht des Heidenthums im rö- 
miſchen Reiche ſchon längft mit diefem Fürften in’3 Grab geſunken. Auch die 
ichriftftelleriichen Angriffe auf das Chriſtenthum als jolches verftummten mehr 
und mehr, wenn auch über einzelne Lehren noch lange zwiſchen chriftlichen und 
heidniſchen Philojophen gejtritten wurde. Erſt in den lebten Jahrhunderten 
ift jene Polemik neu aufgelebt. Neuere Gegner des Chriſtenthums haben viele 
von den Vorwürfen wiederholt, die ihm einft ein Celſus und Porphyr gemacht 
hatten, jo wenig fie auch den ganzen Standpunkt diefer Männer theilen 
fonnten. In manchen von jenen Vorwürfen haben auch Solche, die von jeder 
grundſätzlichen Feindſchaft gegen das ChriftenthHum weit entfernt find, etwas 
Wahres anerlannt und fih um eine Umbildung deffelben bemüht, durch die es 
vor ihnen jichergeftellt würde. Indeſſen kann diefe Parallele hier nicht weiter 
verfolgt werden. Die vorftehende Erörterung wollte nur zeigen, wie ſich ber 
Kampf des Heidenthums mit dem Chriſtenthum und feine wechſelnde Stellung 
zum Chriftenthum in der römiſchen und griechiſchen Literatur abjpiegelt, um 
auch von diejer Seite her die Eigenthümlichkeit und die Motive jener welt: 
geihichtlichen Bewegung zur Anſchauung zu bringen, aus der mit dem Siege der 
chriſtlichen Religion die ie der e gentigen Geſellſchaft und ihres Kultur: 
lebens hervorgingen. — 


Zur Geſchichte des Kodens. 


Don 
Rud. virchow. 





Die Geſchichte des Kochens läßt ſich nur zum Theil auf Grund geſchriebener 
Urkunden oder poſitiver Unterſuchungen herſtellen. Ein großer Theil derſelben 
gehört einer Zeit an, welche vor der geſchriebenen Geſchichte, ja vor der Ueber— 
lieferung liegt, und wenn auch zugeftanden werden muß, daß die Kochkunſt im 
engeren Sinne, d. 5. die fortjchreitende Verfeinerung der in der Küche zu berei- 
tenden Speijen, die Herftellung zujammengejeßter, aus den mannigfaltigften 
Gegenftänden gemijchter Gerichte zu einem großen Theile den hiftorifchen Völkern 
angehört, jo läßt fich doch nicht verfennen, daß die Hauptſache, nämlich das 
Kochen jelbft, überall jchon erfunden war, ehe man daran ging, die Erinnerung 
der ſchon gemachten Fortſchritte in bejtimmter Weiſe zu firiven und den Nad)- 
fommen zu erhalten. 

Wenn ich jage, die Hauptjache jei die Erfindung des Kochens jelbft gewelen, 
fo meine ich dies nicht blos in dem Sinne, daß auf jedem Felde menjchlicher 
Entdeckungen da3 Auffinden des Princips das Mefentliche ift, indem ſich 
daraus alle weiteren Vervollkommnungen nur al3 natürliche Yortbildungen er- 
geben, jondern noch mehr in dem Sinne, daß feine der jpäteren Vervollkomm— 
nungen auch nur entfernt mit der Bedeutung der Entdedung des Kochen 
ſelbſt verglichen werden fanı. Denn dieje Entdedung bezeihnet eine 
der größten Grenzjheiden zweier Culturepochen, melde die Menſch— 
heit überjchritten hat. 

Ein iriſcher Phyfiologe, Grades, hat in jehr bezeichnender Weile gejagt, der 
Menſch ſei das einzige kochende Thier. In der That, man kann wol einen 
Affen oder einen Hund joweit abrihten, daß er einzelne Handleiftungen, 
welche zum Kochen gehören, erlernt. Aber es gibt fein Thier, welches auch nur 
entfernt im Stande wäre, die Gejammtheit der zum Kochen erforderlichen Hand- 
leiftungen in geordneter Weije zu erlernen, geſchweige denn dieje Handleiftungen 
zu verftehen oder gar jelbft zu erfinden. Denn fein Thier hat, gleich dem Menſchen, 
das Bedürfniß, feine Nahrungsmittel in der Weife, wie e3 durch das Kochen 


Zur Gejchichte des Kochens. 73 


geſchieht, vorzubereiten. Eingelnen, wie den Vögeln in ihrem Kropfe, den 
MWiederfäuern in ihrem Vormagen, ift von Natur eine Einrichtung mitgegeben, 
welche einen Theil derjenigen Vorbereitungen bejorgt, weldhe zur vollftändigen 
Verdauung der Speifen erforderlich find. Aber fein von den Thieren, denen ein 
folcher Vormagen verjagt ift, Hat jemals Verſuche gemacht, durch Fünftliche Ein- 
richtungen dieſem Mangel abzubelfen. Der vielgepriejene Inſtinct reicht nicht 
weiter, al3 daß gewiſſe Thiere für ihre Ernährung ſolche Nahrungsmittel juchen, 
deren urjprünglich harte und ſchwer verdauliche Beichaffenheit durch faulige und 
andere Erweichungsvorgänge gemindert worden if. Nur das Genie de3 Men- 
ſchen vermochte den großen Schritt zum Kochen zu machen. 

Halten wir hier einen Augenblid inne, um uns die Größe dieſes Schrittes 
zu vergegenwärtigen. &3 ift gleichgültig, daß wir feine geihichtlichen Nachrichten 
darüber befiten, wie der Zuftand der Völker, welche die Kunft des Kochens er- 
fanden, vor dem Zeitpunfte, da ihnen die Segnungen diejer Kunſt zugänglich 
wurden, geweſen ift. Die Ethnologie erjegt ung diefen Mangel, indem fie uns 
noch in diefem Augenblid Naturvölfer kennen lehrt, welche nicht zu kochen ver- 
ftehen. Die Zahl derſelben ift freilich nicht jo groß, wie man noch vor Kurzem 
annahm. Hauptjächlich find es ganz Kleine Völkerſchaften, um nicht. zu jagen, 
Horden, auf weit abgelegenen Inſeln wohnhaft, von allem Culturverkehr ab- 
geichloffen und zugleich unter Naturverhältniffe geftellt, welche auskömmliche 
Nahrungsmittel in leicht erreichbarer Form darbieten. Dahin gehört ein gewiſſer 
Theil der polynefiichen Infulaner, welche, weit zerjtreut auf den kleinen 
Eilanden des ftillen Oceans, in dem Ertrage gewifjer Fruchtbäume, namentlid) 
der Palmen, und in den Gaben de3 Meeres, Muſcheln, Krebien, Fiſchen, aus- 
reichende Mittel des Unterhaltes finden. Auf den großen Kontinenten ift fait 
überall da3 Kochen eingeführt, und wenn e3 auch nicht durchweg zu voller Aus- 
bildung gelangt ift, wie in Auftralien, jo hat die Bevölkerung doch gewiſſe 
Vorftadien dazu zurücgelegt. Wir werden alsbald darauf zurüdkommen; das 
Angeführte genügt aber vorläufig, um uns den Gegenjaß zu vergegenwärtigen, 
welcher das Gulturgebiet des Kochens von demjenigen des Nichtlochens trennt. 

Erſt mit der Zubereitung der Nahrungsmittel, wie fie das Kochen darftellt, 
wird der Menſch unabhängig von den Zufälligkeiten der Natur. Gerade die- 
jenigen Naturerzeugnifje, welche den Hauptbejtandtheil unjerer Nahrung bilden, 
werden erſt durch die Zubereitung für uns brauchbar. Schwerlich hat es jemals 
eine Zeit gegeben, wo das Getreide, die Hirſe, der Reis, die Kartoffel und der 
Mais in rohem Zuftande als regelmäßiges Nahrungsmittel de3 Menjchen ge- 
dient haben. Der Auftralier, der das Kochen nicht gelernt hat, geht noch heutigen 
Tages gleichgültig bei den Reispflanzen vorüber, welche, wenigjtens im nördlichen 
Theile Neuhollands, als ein natürliches Gewächs de3 Bodens vorfommen. Wo 
man die Körnerfrüchte zermalmt oder geradezu mahlt, da pflegt man fie aud) 
mit Wafler anzurühren und in irgend einer Form der Feuerwirkung auszu— 
jegen, um fie genießbar zu machen. Die Meinung, daß irgend ein größerer 
Theil der Menjchheit von rein pflanzlichen Stoffen, die feiner künſtlichen Vor— 
bereitung ausgeſetzt waren, lebte, und dabei Tortichritte der Bildung, welche 
als ſolche nennenswerth wären, gemacht hätte, gehört zu den willfürlichen Be— 


74 Deutſche Rundſchau. 


hauptungen einer Zeit, wo man, nicht ohne Grund, wenngleich ohne tieferes 
Verſtändniß der Urzeit, die Menſchen aus dem Zauberkreiſe einer überfeinerten 
Cultur zu NRaturzuftänden zurückzurufen beſtrebt war. 

Die Einführung des Ackerbaus in die Gewohnheiten der 
Menſchen ſetzt das Kochen voraus. Alle Hauptgegenftände bes Acker— 
baus find und waren Pflanzen, welche erſt durch Lünftliche Zubereitungen für 
die Ernährung des Menjhen brauchbar gemacht werden. Bor Allem gilt dies 
von den Wintervorräthen, deren Anhäufung erft mit der Einführung eines 
geordneten Aderbaues in einer joldden Menge möglich war, daß dem kommenden 
Mangel im Voraus begegnet und die Sicherheit des Hausweſens durch eine 
Vorausberechnung des zu erwartenden Bedarf auf eine meßbare Grundlage 
geftellt werden konnte. Und erft von da an erhielt aud die Frau in 
der Mitte dieſes Hausweſens die würdigere und einfluf- 
reihere Stellung, welche allein genügt, um das neue Gulturverhältniß, 
welches nunmehr beginnt, zu kennzeichnen. Sie wird die Verwalterin der auf: 
gehäuften Schätze, fie beftimmt Maß und Art der Verwendung, fie wird 
verantwortlich für die Verpflegung der Familie auf der Grundlage des Exrnte- 
ertrages. 

Sicherlich iſt es nicht zufällig, daß die Frau zur Hausfrau geworden iſt 
in den kälteren Gegenden der gemäßigten Zone, wo es einen wahren Winter 
gibt. Der Winter ift der Zuchtmeifter geworden, welcher nicht blos das Band 
des Hausweſens enger geknüpft, jondern auch neben dem Manne, dem eigent- 
lihen Ernährer, der Frau als der Verwalterin des Nährichates einen gleich- 
berechtigten Platz gefichert hat. Nur ausnahmsweiſe hat hier und da ein Volk der 
tropifchen oder ſubtropiſchen Regionen diejen Höhepunkt der gejellichaftlichen 
Gultur erreiht. Je freigebiger die Natur, je jorglojer das äußere Leben, ’ um 
jo lojer wird das Familienband, um jo leichter Iodert fi) die Familie durch) 
DVielweiberei und Frauenknechtſchaft. 

Und doc, jelbft in diejen niederen Organijationen des gejellichaftlichen 
Lebens, jelbft da, two der Aderbau unter einem glüclicheren Klima ein Gegen- 
ftand geringerer Sorge ift, jelbft da bleibt häufig der Frau ein gewiſſes Stüd 
ihrer Bedeutung gefichert, weil ſie, was die Küche jelbft weniger an Arbeit er- 
fordert, auf das Feld übertragen muß. Nirgend3 mehr, als im heißen Afrika, 
ift die Frau zugleich die Gärtnerin und Aderbauerin, welche in harter An— 
ftrengung die Nahrungsmittel nicht blos zubereiten, jondern auch ſammeln und 
ziehen muß. Dem Manne fällt außer dem Genuß nur die Jagd und der Krieg 
ala ftehende Aufgabe zu. 

Je mehr aber Jagd und Krieg die tägliche Aufgabe der Männer wird, um 
jo mehr ſchwinden auch die äußeren Mittel und Merkmale des Familienlebens. 
Die Jagd erfordert große Gebiete, weite „Jagdgründe“, um anhaltende Nahrung 
zu gewähren. Ein Jägervolk wird von jelbjt dahin geführt, feine Wohnfite zu 
verändern, je nachdem ein Gebiet von Thieren entvölfert wird. Das ftehende 
Hausweſen wird aufgegeben; das Heimathsgefühl verſchwimmt in dag Un— 
beftimmte; Alles, was das Haus befeftigt und wohnlicher macht, nicht nur die 
reichere Ausftattung mit Geräth, jondern jelbft die NReinlichkeit, die Sauberkeit, 


Zur Geichichte des Kochens. 75 


die Ordnung, die Sparjamkeit, lauter Häusliche Tugenden, geben verloren, 
oder genauer gejagt, fie werden gar nicht gewonnen. Selbft ganz äußerliche 
Berhältniffe, die doch jo wejentlich find, wie die regelmäßige Frage der Mahl— 
zeiten, kommen in Wegfall. Kann es etwas mehr Charafteriftiiches geben, als 
die Aeußerung jenes wilden Tehuelchen, der vor wenigen Jahren zu Hrn. Mufters 
auf jeiner Durchſtreifung Patagoniens ſagte: „Die Ehilenen efjen zu regel- 
mäßigen Stunden. Das ift thöricht; wir efjen nicht, wenn wir nicht hungrig 
find.” Die natürliche Folge ift, daß Jeder da ikt, wo ihn der Hunger befällt 
und die Gelegenheit fich bietet, denjelben zu ftillen. Nirgends wol tritt dieſe 
Auflöfung des Tramilienlebens in grauenhafterer Geftalt hervor, als in Neu- 
holland, und nicht mit Unrecht, wenn gleich nicht ohne Mebertreibung, hat letzthin 
ein enthufiaſtiſcher Franzoſe, Herr Foley, behauptet, der Auftralier jei weniger 
werth, als der wilde Hund feines Landes, der Dingo, ja er ftehe in Bezug auf 
die Behandlung feines Weibes und feines Kindes noch unter dem Schnabelthier. 
Au point de vue des soins que tout &tre vivant quelque peu sociable doit à 
sa femelle et à son petit, le Papou de la cöte Est australienne ne vaut pas 
encore l'ornithorhynque. 

Wohin wir in der Welt bliden, überall knüpft fich die höhere Eultur, die 
wahre Gefittung an die Ordnung des Haujes, und das Haus des Trägers 
diefer Gultur, des jeßhaften Menjchen, fteht inmitten feines Aderfeldes. Obft- 
zucht, Weinbau, Oelpflanzungen, Gartenanlagen gewähren die Mittel weiterer 
Verfeinerung und Verſchönerung des Lebens; das eigentlide Symbol dieſer 
Gulturftufe bleibt das Aderfeld mit feinem „goldenen“ Segen. Und dazu ge= 
hört die Hausfrau und der Heerd, auf dem das Teuer „gehütet” wird. Das 
Heiligtdum der Veſta, defjen Hüterinnen Yungfrauen find, drüdt nur in ber 
Innigkeit der Anſchauung, welche den jugendlichen Völkern eigen ift, den 
erhabenen Gedanken aus, daß der Heerd der Mittelpunkt diejer gejellichaftlichen 
Ordnung iſt. 

Keineswegs hat der Aderbau das Kochen oder die Zubereitung der Speijen 
vermittelft des Feuers erft nach fich gezogen. Meine Meinung ift vielmehr die, 
daß das Kochen twejentlich dazu beigetragen hat, den Aderbau zu einem Gegen- 
ftande des Strebens der Menſchen zu machen. Auch die meiften Hirten= und 
Jäger» und Fiſchervölker find nicht ohne Kenntniß des Kochens, wenn aud) 
häufig in unvollflommenen Formen; fie machen die mannigfaltigjte Anwendung 
davon. Nun kann aber fein Zweifel darüber fein, daß das Hirten- und Jäger— 
und Fiicherleben einen niederen Gulturzuftand ausdrüdt, und daß es in der 
Zeitfolge dem Leben des Ackerbauers voraufgegangen if. Das leugnen nicht 
einmal die Gläubigen, und wenn ich befürchten müßte, irgend einem Wider- 
ipruche zu begegnen, jo wäre ed nur von Seiten der Begetarianer. 

Unter den Glaubensjäten der Begetarianer ift der oberfte der, daß der 
Menſch, feiner Organifation umd feiner Natur nad, ein Pflanzenfrefjer jei. 
Daher joll die pflanzliche Nahrung die einzig wahre und naturgemäße Nahrung 
darftellen. Der Menſch ftehe darin dem Affen, namentlich dem menjchenähnlichen 
Affen, ganz nahe. Leider hat die neuere Beobahtung mehr und mehr gelehrt, 
daß auch die menjchenähnlichen Affen durchaus feine Koftverächter in Bezug 


76 Deutihe Rundſchau. 


auf thieriſche Nahrung find, daß fie vielmehr mit Eifer Eier, junge Thiere und 
eine Menge niederer Geſchöpfe auch im freien Zuftande verzehren. Noch weniger 
finden wir unter den Naturvölkern die gewünjchten Vegetarianer. Gerade die 
„natürlichften”, oder die von unjerer Cultur am meiften entfernten, die Boto— 
fuden, die Buſchmänner, die Auftralier, find ausgemachte Omnivoren, Alles- 
frefler, die den Genuß auch der efelhafteften Amphibien und Glieberthiere nicht 
verſchmähen und für die ein gutes Stüd Fleiſch der höchſte Leckerbiſſen ift. 
Der wahre Begetarianiamus ift fein urjprünglider Zuftand der 
Menſchheit, jondern im Gegentheil ein ganz jpät gewonnener. 
Sole Vegetarianer, wie fie der Brahmanismus zeigt, find erft möglich gewor— 
ben, jeitdem der Aderbau die Mittel der Ernährung in einer Fülle darbietet, 
wie fie die Natur nirgends freiwillig zur Verfügung geftellt hat. Und daher 
ift Vegetarianismus nicht die naturgemäße Lebensweiſe, jondern eine künftliche 
Lebensweiſe, fiir welche, mit Ausnahme einiger Heiner Coralleninfeln dev Südfee, 
faum ein einzige Beilpiel unter den Naturvölfern aufgewiefen werden Kann. 
Und felbft von den Bewohnern dieſer Inſeln, Polynefiern von malayifcher Her— 
funft, läßt ſich mit größter Wahrjcheinlichkeit darthun, daß ihre Voreltern ein- 
gewandert find mit anderen Bedürfniffen und Gewohnheiten, und daß erft nad) und 
nad, zumeift aus Mangel an anderer Nahrung und unter Herabfinken zu nie- 
derer Gultur, ein Vegetarianismus bei ihnen zur Entwidlung gekommen ift, 
der übrigens ftark gemijcht ift mit Ichthyophagie (Fiſchfreſſerei). 

Nein, der Menjch der Urzeit war fein Vegetarianer. Man würde wahr: 
ſcheinlich der Wahrheit viel näher kommen, wenn man jagte, er jei vorwiegend 
Garnivor (Fleiſchfreſſer) geweſen. Um Fleiſch zu gewinnen, mußte ex nicht jofort 
ein Jäger oder Fiſcher jein, obwol er Beides ficherlich ſchon jehr früh geworden 
ift. Die Hüften des ‘Meeres bieten noch heute, zumal in warmen Strichen, eine 
Fülle von Muſcheln, Krebjen und anderen Seethieren dar, welche ungemein leicht 
zu fangen find; die Siimpfe und Flüſſe des Landes find reich an Schildkröten 
und anderen unſchwer zu erreichenden Amphibien; wer Raupen und Spinnen und 
Käfer nicht verſchmäht, wird fo leicht in feinem Walde Hungers fterben. Das ift 
in Wirklichkeit die Nahrung vieler Naturmenjchen, und wenn aus ihnen mit der 
Zeit Fiſcher und Jäger mit höheren Zielen geworden find, jo darf man doch nicht 
überjehen, daß Fiſcherei und Jägerei nur Fortbildungen dieſes wahrhaften Natur» 
zuftandes waren. Erſt aus der Jägerei Fonnte fi) das Hirtenleben entwideln, 
und wiederum exit der Hirte konnte ein wirklicher und wahrhaftiger Aderbauer 
werden. 

Mann mag nun wol das Kochen erfunden fein? Zum wahrſcheinlichen Miß— 
vergnügen unjerer Begetarianer muß ich jagen, daß der Acerbauer, auch wenn 
jeine Thätigkeit hauptjächlic) auf die Erzeugung von Pflangennahrung gerichtet 
war, dieje Nahrung doch nicht mehr in „naturgemäßer” Weije roh zu ſich nahm, 
ſondern daß er jchon von jeinen Vorfahren, den Hirten, eine Art der Denaturirung, 
die fünftliche Zubereitung der Speijen, übernommen hatte. Mit diefen Künften 
ausgeftattet, konnte er aus dem anſäſſigen Aderbauer auch ein Austwanderer, ein 
Golonijt auf fremdem Boden werden. Denn aud in der Fremde brachte 
ihm der beaderte Boden Frucht, von der er ſich, jein Haus und fein Vieh nähren 


Zur Geſchichte des Kochen. 77 


fonnte. Aber dieje Frucht war eingeführte und erft fünftlich acclimatifirte Frucht. 
Er mußte erft jäen, um ernten zu können. Das Alles war ſchon Kunft, Eultur. 

Aber die Vorfahren des Aderbauer3 und des Goloniften, die Hirten, lebten 
in einem natürlicheren Zuftande. War dies etwa Vegetarianismus? Gewiß am 
allerwenigften. Oder jollen wir annehmen, fie hätten ji auf den Genuß von 
Milch und Käſe beihräntt? Ein Blick auf die heutigen Hirtenvölfer genügt, um 
zu zeigen, daß der Genuß von Fleiſch, ja von Blut fi durch alle möglichen 
Länder zieht. Man frage doch bei den Lappen oder den Tunguſen, den Kalmücken 
oder Kirgifen, den Kaffern oder Hottentotten an, ob ihnen das Fleiſch ihrer Nub- 
thiere zuwider ift, oder ob fie den Genuß defjelben verabicheuen. Nein, im Gegen- 
theil, fie find ausgemachte Fleiſchfreſſer. Ja, manche von ihnen find es in noch 
höherem Grabe, ala die Jägervölker, welche doch Scheinbar in mehr ausſchließlicher 
Weiſe auf den Fleifehgenuß angewiejen find. Aber e8 liegt auf der Hand, daß 
der Jäger, deſſen Beute der Zufall bringt, nicht in ebenfo reihem Maße und am 
wenigften in folcher Regelmäßigkeit dem Fleiſchgenuſſe fröhnen kann als der Hirte, 
der fich jelbft die Schlachtthiere zieht und der fie, falls nicht Unglücksfälle feine 
Heerde decimiren, zu jeder Zeit zur Schlachtbank führen kann. Ya, wenn es ſich 
darum handelt, wer mehr geneigt ift, rohes Fleiſch zu eſſen, ſo können wir den 
Kirgifen kaum irgend ein Yägervolf an die Seite ftellen. Alle bekannten Jäger: 
völfer bereiten ihre Koft künſtlich, wenn möglic; mit Hülfe des euere. 

Schon aus diefem Grunde bin ich der Meinung, daß da3 Kochen von Jägern 
erfunden jet und daß ihm ſchon eine lange Geſchichte zufommt, bevor noch der 
Aderbau irgendivo in Betrieb gejeßt war. Ich werde fpäter noch gewiſſe That- 
lachen beibringen, welche aus dem Studium der prähiftorifchen Funde hergenommen 
find. Zunächſt möchte ich betonen, daß dieſe urältefte Entwidlung der Kochkunft 
eine Reihe aufeinanderfolgender Stadien hat und daß überdies noch die Vor— 
geichichte einiger befonderer Entdeckungen dazu gehört. 

Da ift zunächft Die Entdeckung des Feuers, feiner Erzeugung und feiner 
Wirkungen. Ohne Feuer läßt fich weder kochen, noch eine der anderen, dem 
Kochen nahe ftehenden Bereitungen des Fleiſches oder des Getreibes vornehmen. 
Nun ift freilich gegentwärtig die Kenntniß des Feuermachens jo weit verbreitet, 
daß e3 im Augenblid jogar zweifelhaft erſcheint, ob überhaupt ein einziges Volt 
eriftirt, welchem dieje Kenntni abgeht. Der kürzlich verftorbene Peichel hat in 
jeiner vortrefflihen „Völkerkunde“ mit jcheinbar guten Gründen den Sab ver- 
theidigt, „daß auf der ganzen Erde noch der Menſchenſtamm gefunden werden 
fol, der feinen Verkehr mit dem Teuer unterhielte”. Indeß die Gründe, welche 
er namentlich gegen Sir John Lubbock vorgebradht hat, der in jeinem Buche über 
die vorgejchichtlichen Zeiten das Gegentheil behauptet, find nicht unangreifbar. 
Insbeſondere läßt fich die pofitive Angabe einzelner Reifender, daß ſowol in Neu— 
holland al3 in Tasmanien einzelne Stämme oder beffer Horden von Eingebornen 
eriftiren, welche das Feuer nur fortzupflanzen, aber nicht zu erzeugen wifjen, nicht 
durch die Erwägung widerlegen, daß andere auftralifche oder tasmaniſche Horden 
Ion zur Zeit der Entdedung ihres Landes auch Feuer zu machen wuhten. Das 
ift unzweifelhafte und von den beften Zeugen bejtätigte Thatſache, daß bei den 
Wanderungen der auftraliihen und tasmaniſchen Horden das Feuer im glimmen- 


78 Deutſche Rundſchau. 


den Zuſtande mitgenommen wird, und es iſt nicht ohne tiefes pſychologiſches 
Intereſſe, daß jelbft hier, in diefem niedrigften Zuftande des Familienlebens, die 
rauen die berufenen Hüterinnen des Feuers find. Nun beweift diefe Sorgfalt 
in der Bewachung des einmal vorhandenen Feuers nicht, daß man fein neues 
Teuer zu machen verfteht. Denn das Machen von neuem Teuer ift überall da, 
two man e3 durch Reiben von Hölgern erzeugt — und das ift faft bei allen Natur- 
völfern der Fall — und wo man nicht ganz bejonders leicht entzündliche Holz- 
arten aufgefunden bat, eine harte Arbeit, und ehe man fich entichließt, fie wieder 
vorzunehmen, wendet man fich Lieber der leichteren Sorge zu, das einmal ge= 
wonnene Feuer nicht wieder ausgehen zu laſſen. Es mag daher nur ein Miß— 
verftändniß geweſen jein, wenn die Herren Stuart und Angas geglaubt haben, 
daß einige auftraliiche Stämme das Teuer nur als Taufchartikel oder als milde 
Gabe von ihren Nachbarn erhielten. 

Für unfere Unterſuchung ift e8 nicht von entjcheidender Bedeutung, ob noch 
jeßt die eine oder die andere Horde ohne die Kunſt des Feuermachens eriftirt. Am 
mwenigften entjcheiden jolche Beifpiele, wie das auftralifche, denn ob gewiſſe Stämme 
in Neuholland da3 Feuer jelbft machen oder e8 von ihren Nachbarn holen, das 
it für unjere Erörterung werthlos; jedenfalls bejiten fie das Teuer und können 
ſich dejjelben bedienen. Aber Niemand wird aus der Thatſache, daß es gegen- 
wärtig wahricheinlich fein einziges ganz feuerlojes Volk gibt, den Schluß ziehen, 
daß e3 immer jo gewejen jei. Einmal muß doch für den Menſchen überhaupt eine 
feuerloje Zeit eriftirt haben. Das liegt jo jehr in der Nothwendigfeit der Dinge, daß 
zu allen Zeiten die Sagenbildung thätig geweien ift, da3 Ereigniß der Feuer— 
gewinnung al3 einen entjcheidenden Wendepunkt der Culturgeſchichte zu bezeichnen. 
Die althelleniiche Prometheus - Sage, obwol ſchon früh in eine gewilje Verbin- 
dung mit dem Kaufajus gebracht, verweift und auf den Himmel als auf die 
Quelle des Feuers und auf den Blitz ala den Entzünder des irdiſchen Brennftoffes, 
troßdem daß ganz in der Nähe des Kaufafus, an den Südweitgeftaden des Kas— 
piſchen Meeres, die Naphthaquellen von Baku ihre jelbftentzündlichen Gaje aus— 
hauchen. Lange jchon, bevor die hriftliche Kirche die Unterwelt zur Hölle ums 
geftaltete, hatte fich in den Vorftellungen des Menjchen ein gewiſſer Gegenjat 
zwiichen dem Erdfeuer ala dem unreinen und verzehrenden und dem Himmelsfeuer 
al3 dem reinen und belebenden fejtgejeßt, und e3 mag wol fein, daß gerade das 
Himmelsfeuer zuerft dem Menſchen die Vorftellung des Brennens erwedte. Exd- 
feuer und vulkaniſche Ausbrüche find auf wenige Punkte dev Erdoberfläche be- 
ſchränkt, und fie geben jelten da3 reine Beijpiel der Entzündung des Feuers, wie 
das der Blitzſchlag thut. 

Aber der Menſch wurde nicht dadurch Herr des Feuers, daß Prometheus, 
twie heutzutage eine auftralijche Wilde, glimmendes Holz in einer Büchſe forttrug 
und e3 zu neuer Flamme anfadhte, von der dann in unendlicher Fortpflanzung 
das Teuer don Heerd zu Heerd übertragen wurde. Das „Element“ wurde erft 
dadurch dem Menjchen unterthänig, daß er es machen lernte. Das war das 
fogenannte neue euer, dem man bi3 in bie jüngfte Zeit ganz bejonders wunder- 
thätige Wirkungen zugejhrieben hat. Wenn im Tempel der Veſta das heilige 
Teuer durch Schuld einer der Jungfrauen erloſch, jo wurde es nicht wieder ent- 


Zur Geſchichte de3 Kochens. 79 


zündet durch Anzündung an einer ſchon vorhandenen Flamme, jondern e8 wurde 
neue Teuer gerieben. Das Reiben, nicht das Schlagen, ift die Urform ber 
Tenererzeugung, und fie ift um jo mehr bedeutungsvoll, al3 der Menjch fie nicht 
auf dem Wege der Nachahmung, jondern auf dem der Beobachtung und Ueber— 
legung gefunden haben muß. 

Mer mag jagen, warın und wie dies geſchehen ift. Noch ift feine ficher er- 
fennbare MWohnftätte des Menſchen, auch aus ältefter Vorzeit, aufgedeckt worden, 
aus der nicht Holzkohlen Zeugniß davon abgelegt hätten, daß auch hier einft Heerd- 
feuer gebrannt haben. Die Mehrzahl der älteften Höhlenfunde in Frankreich, 
England, Belgien und Deutſchland, jelbft diejenigen, welche bis zu der großen 
Eiszeit zurückreichen, bringen Holzkohlen neben den Gebeinen des Renthieres und 
der anderen Polarthiere. So habe ic in der Balver Höhle in Weftfalen zahl- 
reihe Stüde von verkohltem Laubholz in derjelben Schicht mit Renthierknochen 
nachgewieſen, und neuerlich hat jogar Herr Eder in Ablagerungen des Löß bei 
Munzingen im oberen Rheinthal nebeneinander Kohlen und bearbeitete Stüde von 
Renthierknochen und Feuerſtein gefunden. Selbft in den noch älteren Hyänen— 
höhlen, in welchen neben den Ueberreſten der Hyänen und der durch fie eingefchleppten 
Thiere auch menſchliche Manufacte vorfommen, jcheinen die Kohlen nirgend3 zu 
fehlen. In der Lindenthaler Höhle bei Gera, welche Herr Liebe kürzlich er- 
forſcht hat, ift Freilich nur ein einziges Kohlenftüdichen gefunden worden, dagegen 
hat Herr Boyd Dawkins im Eingange des Hyänenhorftes im Wookey-Loch bei 
Wells in Somerjetihire deutliche Spuren von Heerdfeuern nachgewiejen, von denen 
er annimmt, daß der Menjch fie angezündet habe, um während eines zeittweiligen 
Aufenthaltes in der Höhle die wilden Thiere von derjelben zurückzuſcheuchen. 

Somit ift alſo ficher, daß jchon jene uralten Jägerſtämme, welche gleichzeitig 
mit dem Renthier, ja mit der Hyäne und jelbjt mit dem Mammut das euro- 
päiſche Freftland bewohnten, im Befite des Feuers waren, Stämme, deren Technik 
fih auf die xohefte Bearbeitung des Teuerfteind und auf die Herftellung von 
Knochengeräthen beſchränkte. Freilich läßt fich nicht ſicher ausmachen, ob fie das 
Teuer nur fortpflanzten, oder ob fie e8 auch zu reiben verftanden. Ich möchte zu 
Gunften der letzteren Möglichkeit anführen, daß gerade die Richtung ihrer Technik 
ſehr geeignet war, die Entdedlung des Feuerreibens herbeizuführen. Eine der von 
den jegigen Wilden angewendeten Methoden de3 Tyeuerreibens und zwar eine der 
beften befteht darin, daß ein zugeſpitztes Stüd Holz in Tyorm eines Bohrers gegen 
ein anderes Holz geftellt und in fchnelle Drehung verjeßt wird. Offenbar find 
ähnliche Operationen ſchon fehr früh ausgeführt worden, denn man findet nicht 
blos durchbohrte Zähne und Knochenſtücke, fondern auch durchbohrte Mufcheln und 
Steine unter ganz alten Reften der Steinzeit, und es ift eine gewiß naheliegende 
Erwägung, daß die ftarke und jchnelle Erwärmung, ja Exrhitung, welche bei dem 
Bohren und Reiben entfteht, bis zur wirklichen Entzündung fortgejeßt werden 
fönne. Der freilich auch nahe liegende Gedanke, daß man die Funken, welche 
beim Schlagen der Feuerſteine fo leicht entſtehen, zur Feuererzeugung benußt habe, 
ift deshalb nicht zuläffig, weil diefe Funken „kalte“ find und in gewöhnlichen 
Brennftoff feine Wirkung thun. Immerhin mochte die Erſcheinung diefer Funken 
für die Männer der Steinzeit, welche die Erhitzung des Steines beim Reiben und 


80 Deutiche Rundſchau. 


Bohren wahrnahmen, ein weiterer Impuls fein, den Verſuch zu machen, die Er— 
hitzung bis zum Erſcheinen des Feuers fortzujeßen. 

Indeß iſt dies nur Vermuthung, dagegen iſt es eine Thatſache, daß ſchon 
zur Renthier- und Hhänenzeit der Menſch im Beſitze des Feuers war, daß er 
aljo die wichtigfte Vorbedingung zum Kochen gelöft hatte. E3 war nur noch 
nöthig, auch das Kochgeräth zu erfinden. Dean jollte glauben, daß dies 
jehr leicht getwejen wäre. Nichtsdeftomweniger giebt e3 nicht wenige prähiftorijche 
Teuerftätten, namentlich” nicht wenige Wohn- und Grabhöhlen jener vor: 
hiftorifchen Zeiten, in denen feine Spur von Kochgeräth aufzufinden ift. Exft 
nad) der Hyänenzeit erjcheinen die Topficherben, deren Unverwüftlichfeit fie zu 
den jicherften Zeugen für die Verhältniffe des früheren Yamilienlebens madt. 
Schon zur Zeit de3 Renthierd und des Höhlenbären war der Topf erfunden. 
Herr Dupont hat ein faft vollftändiges Gefäß aus den Thonjcherben des Trou 
du frontal im belgijchen Leſſethal reconftruirt; Herr Fraas jammelte Bruch— 
ftüde von jehalenförmigen Thongeräthen im Hohlefel3 bei Blaubeuren; ich fand 
tief zwiſchen den Zropffteinihichten, welche den Boden der Einhornshöhle im 
Sübdharz bilden, neben Knochen de3 Höhlenbären, einen großen Feuerpla mit 
Topfſcherben. Unter den älteften Ueberreſten, welche die Steinmenjchen in den 
uralten Haufen von Küchenabfällen an den Hüften von Seeland und Yütland 
hinterlaffen haben und die hauptſächlich aus Aufternichalen beftehen, finden fich 
gleichfalls Thonjcherben. So alt ift die Töpferei. 

Nicht jeder Topf ift zum Kochtopf geeignet, und es ift ſicher, daß nicht 
wenige der alten Töpfe jo wenig gebrannt und jo jehr porös find, daß fie da3 
Waſſer nicht halten fonnten. Man darf daher den erften Topf noch nicht für 
die Gejhichte des Kochens verwerthen. Indeß möchte ich darauf aufmerkſam 
machen, daß e3 ein Unterfchied ift, ob man Suppe bereiten oder ob man Fleiſch 
fochen will, und ich meine, daß die Köchinnen der Vorzeit vielleicht Feinen jo großen 
Werth darauf legten, wenn ihnen ein größerer Theil des Waſſers während des 
Kochens in Folge von Durchſchwitzen verloren ging. Wollten wir den Kochtopf 
zeitlich jo ſpät jeßen, bis wir vollkommen durchgebrannte, rothe oder gelbe, 
oder gar glafirte Töpfe finden, jo müßten wir beinahe der ganzen prähiftorijchen 
Zeit das Kochen abftreiten. Und doch finden wir zahlreiche Töpfe und Topf— 
jcherben, welche ganz unvolltommen gebrannt, aber vom Teuer geſchwärzt find, 
und wenn man fi) fragt, zu welchem Zwecke man fie in’3 Teuer geftellt hat, jo 
wird faum Jemand Bedenken tragen, anzuerkennen, daß e3 zum Zwecke der 
Nahrungsbereitung geſchehen jein müfle. 

Wir dürfen in diefen Beziehungen nicht zu ſehr unfere Gewohnheiten zum 
Maahftabe nehmen. Herr Hartt fah bei den Miemac-Indianern von Neu- 
Schottland Gefähe, welche aus der Rinde einer Birke (Betula papyracea) gemacht 
waren und in welchen fie über freiem Tyeuer kochen. Herodot erzählt von den 
Stythen, welche die weiten waldlojen Steppen de3 heutigen Südrußland bewohn- 
ten, daß fie die Knochen der Thiere als Brennmaterial benußten und die Thiere 
jelbft in ihrer eigenen Haut mit Waſſer tochten. Aehnliche Gebräuche finden wir 
noch heutigen Tages unter manchen Jägervölkern, nur daß meiftentheild das 
Kochen nicht über freiem Feuer gejchieht, jondern dadurch, daß erhitzte Steine 


Zur Gefchichte des Kochens. 81 


in die zu fochende Subftanz oder das zum Kochen zu benußende Waſſer gethan 
werden. Sehr anjchaulich bejchreibt dies Herr Mufterd von den Patagoniern, 
wenn fie die friſch gejagten Strauße zum Mahle zubereiten: „Wenn die Jagd 
vorüber ift, wird ein Teuer angemadht, und während die Steine heiß werben, 
wird der Strauß gerupft, dann wird er auf den Rüden gelegt und ausgeweidet; 
die Beine werden forgfältig abgehäutet und die Knochen herausgenommen, jo 
daß die Haut bleibt. Hierauf wird der Leib in zwei Hälften zerlegt, und 
nachdem aus der unteren Hälfte dad Rüdgrat herausgezogen und da3 Fleiſch in 
dünne Stüde zerjchnitten worden ift, jo daß man die erhißten Steine in die 
Einſchnitte hineinlegen Tann, wird fie mit der Haut der Beine wie ein Sad feft 
zugebunden und ein Kleiner Knochen bindurchgeftet, damit Alles ftraff bleibt. 
So wird fie auf die glühende Ajche des Feuers geftellt, und wenn fie beinahe 
gar ift, wird eine belle Flamme angezündet, damit das äußere Fleiſch vollftän- 
dig brät. Dann nimmt man fie vom Feuer, ſchneidet den oberen Theil weg, zieht 
die Steine heraus und findet, daß Brühe und Fleiſch köftlich gekocht find.“ 

Diefe Methode des Kochens mit glühenden Steinen läßt fich natürlicdy in 
der größten Mannigfaltigkeit ausüben. Man kann die heißen Steine, wie es 
bei nicht wenigen nordamerikaniſchen und nordoftaftatiihen Stämmen gejchieht, 
in Gefäße von Holz, Baumrinde, Fruchtichalen thun; man kann fie aber aud) 
in einfadhe Erdgruben legen, die man mit Thon ausſchmiert, wie e in Süd— 
auftralien vorfommen joll. In der Praris unſeres Hausweſens bat fi davon 
nur noch eine Art der Anwendung, ein Ueberbleibjel aus frühefter Urzeit, 
erhalten: die Anwendung eines heißen Steines oder Eijenbolzens zur Erwärmung 
von Punſch. Aber Herr Tyler hat aus einer Bejchreibung des „wilden reinen“ 
Seländers, welche Fyne Morifon um 1600 geliefert hat, nachgewiejen, daß man 
damal3 nod) in Irland die Milch, welche man trinken wollte, mit einem erhißten 
Stein erwärmte, und daß man Stüde von Ochfen- oder Schweinefleiich in der 
Art Eochte, daß man fie mit ungewaſchenen Eingeweiden in ein rohes Kuhfell 
einwidelte und in einem hohlen Baum auf da3 Feuer ſetzte. 

Erwägt man dieje, unferer Vorftellung nad), etwas ungewöhnliche Form de3 
Kochens, jo wird man nicht im Zweifel darüber bleiben können, daß das Kochen 
mit erhigten Steinen als ein PVorftadium des gewöhnlichen Kochens anzujehen 
ift, welches jelbft dann noch nicht völlig verlaffen worden ift, ala ſchon der Koch— 
topf erfunden und im Gebraude war. Der Menſch liebt es, aus der Ver— 
gangenheit gewiſſe Ueberlieferungen materieller, wie geiftiger Art feftzubalten, 
ſelbſt zu einer Zeit, wo der Sinn der Ueberlieferung oder des Gebrauches Längft 
unverftändlich geworden ift. Daher werden wir uns auch nicht darüber wundern 
dürfen, daß wir in vielen Anfiedlungen der Vorzeit faft kein einziges Thongeräth 
finden, welches unferen Anforderungen an Kochtöpfe genau entjpridt. Daraus 
allein folgt nicht, daß den Bewohnern da3 Kochen jelbjt fern blieb. So erzählt 
Pöppig, daß die Pehuenches in Ehile ihre Töpfe nicht mitnehmen, wenn fie ihre 
MWohnpläße verändern, daß vielmehr ihre Weiber überall neue Töpfe machen, 
wohin fie fommen. Offenbar find das eben jo gebrecjliche und durchläſſige Ein- 
richtungen, wie diejenigen, mit deren Scherben unjere Burgwälle und alten 
Wohnpläße jo dicht überftreut find. 

Deutſche Rundſchau. II, 7. 6 


82 Deutiche Rundſchau. 


Indeß das wahre Kochen mit jeinen Einzelheiten, ich möchte jagen, mit der 
Andividualijirung der Heißwaſſerwirkung, ift doch wejentlid an den 
Kochtopf gebunden. An jein Erjcheinen knüpft ſich die vollendete Organijation 
des Heerdes, den wir ung zumächft noch nicht in der Küche, jondern mitten in 
der Wohn, Schlaf- und Putzſtube zu denken haben. Und es ift jehr merkwürdig 
zu jehen, daß mit dem Augenblide, wo dies Verhältniß ſich auch nur in rohen Um— 
riſſen zu condenfiren beginnt, die Frau fich des Topfes bemächtigt und dem Manne 
nicht3 Anderes übrig bleibt, als, um das deutſche Stichwort zu gebrauchen, 
Töpfchenkiefer zu werben. 

Herr Hartt Hat erft vor Kurzem in einer überaus wichtigen Kleinen Schrift 
über die Töpferei unter den wilden Raſſen den Nachweis geliefert, daß in einem 
großen Theile von Amerika, Afrika und Polynefien die Topfmanufactur durch 
Frauen bejorgt wird. Erſt jehr viel jpäter, wenn die Topfiwaare Handelsartifel 
wird, wenn man fie auf Märkte verführt und fie dem prüfenden Auge des 
Fremden bloßftellt, dann alfo, wenn die Töpferei Handwerk wird, geht 
fie in Männerhände über. Vorher ift fie Frauenſache, ſelbſt da, wo nur einzelne 
Frauen in jedem Dorfe Erfahrung genug beiten, um die Töpferarbeiten zu leiten, 

Ein Stadium weiter rückwärts fommen wir auf die topflofe Zeit, wo die 
Frau Sklavin ift. Auch diefe Zeit dauert bei manchen wilden Stämmen noch 
gegenwärtig fort. Indeß ift ihre Zahl nicht ganz fo groß, wie fie gemeiniglich 
angenommen wird. Noch Sir John Lubbod citirt außer den Auftraliern und 
Tasmaniern die Andamanejen, die Maoris von Neufeeland, die Tahitier, die 
Veddas von Geylon, die Patagonier und Feuerländer, zu denen in einem gewifjen 
Sinne nod die Eskimos von Grönland und den arktiſchen Ländern kommen. 
Bei manchen von ihnen, 3. B. bei den Andamanejen und den Patagoniern, finden 
fi wol Thongeräthe, aber jo jelten und unvolllommen, daß man faft glauben 
möchte, e8 handle fich hier um die Ueberbleibſel früherer Culturperioden. Wenig: 
ftend enthalten die Mufchelberge der Andamanen manches recht zierliche und 
fauber gearbeitete Stüd eine alten Topfes, wie deren von den Eingeborenen 
jet nicht mehr hergeftellt zu werden jcheinen. Ebenjo find die großen Grab- 
urnen in den jüdamerifanijchen Grabfeldern ſchlagende Beweije dafür, daß hier 
einft Bevölferungen wohnten, deren Kunftfertigkeit weit größer war, als fie die 
heutigen Wilden wenigſtens in diefer Richtung bejiten. Nehmen wir aber aud) 
einzelne der aufgezählten Völkerſchaften aus, jo bleibt doch immer noch ein recht 
großer und recht trauriger Reſt topflojer Stämme, groß und traurig genug, um 
allen denen, welche für den Naturalismus ſchwärmen, ala ein abjchredendes 
Beijpiel zu dienen. Mit der gedrüdten, ja gefnechteten Stellung der Frau ver- 
finkt die ganze Gejelihaft auf ein niederes Niveau der Bildung, aus dem auch 
nicht eine einzige bedeutende Erſcheinung hervorragt. Da gibt e3 feine Gejchichte, 
feinen Fortſchritt und feine Entwidlung. 

Der Heerd ift das ficherfte Grenzzeichen zwiſchen dieſen Perioden und der 
Topf der ausgejprochene Repräfentant jenes neuen Zeitabjchnittes, der mit der 
Einführung des Aderbaues feine äußere Sicherheit gewann. Aber jchon ehe fie die 
Zöpferei in die Hand nahm, ehe fie ſich an den Heerd ftellte, war die Frau 
wahrjcheinlich überall die Hüterin des Fyeuerd geworden. In feiner Pflege be- 


Zur Geichichte des Kochens. 83 


reitete fie fi vor zu der anhaltenden Sorge und Treue der eigentlichen Haus: 
frau. Während der Dann noch in umruhiger Haft den Thieren des Waldes 
und der Steppe nachjagte und das Blut nicht aufhörte, jeine gewaltthätige Hand 
zu neßen, da ſchon begann die Frau ſich vorzubereiten auf die Ordnung des 
feften Hausweſens, da ſchon ſenkten ſich in ihre Bruft die erſten Keime jener 
höheren Triebe, au3 denen jpäter dad Kunftgewerbe hervorging. Sie fertigte 
die Kleider de3 Mannes und heftete daran allerlei farbige Zierrathe, fie wob 
die Stoffe und fügte in diejelben zierliche Mufter, fie enttwidelte auch den Topf aus 
feiner erſten, rohen, flachen und niederen Form zu immer mehr plaftijchen Geftalten 
und fie bededte jein Aeußeres mit allerlei Linien und Erhabenheiten, wie fie das 
Vorbild des Gewebes, der Faden und der Einſchuß, das Mufter des Leinen- oder 
MWollengetvebes eben darbot. Bon der Thonplaftit ging dann jpäter in den 
Hänben der Märmer die eigentliche Bildnerei aus. Aber ihr Anfang liegt am 
Heerde. Er gehört mit in die Gejhichte des Kochens. 


Srıinz Albert 


Don 
F. Heinrich Geffken. 








The Life of H. R. H. the Prince-Consort, by Theodore Martin. 2 vol. London, Smith, 

Elder & Co. 1876. 

Wir glauben nicht zu viel zu jagen, wenn wir dieje beiden Bände zu den 
bedeutendften Erſcheinungen der neueren biographiichen und politifchen Literatur 
zählen. Die Aufgabe, das Leben des Prinzen Albert zu jchreiben, bot eigen- 
thümlihe Schwierigkeiten. Es galt nicht nur, die perjönliche Entwidlung eines 
Fürſten zu Shildern, der, von Natur reich begabt, mit überrafchender Schnelligkeit 
in die hervorragende Stellung hineinwuchs, zu der er berufen war. Der 
Intereſſenkreis des Gemahls einer Souveränin, die an der Spite des brittifchen 
Reiches fteht, mußte alle Ereignifje umfaffen, welche die Geſchichte feiner Zeit 
ausmachten. Selbſtverſtändlich konnten dieſe Ereigniffe nur in dem Maße Er- 
wähnung finden, als fie England und den Prinzen perjönlich berührten, wo 
aber dies der Fall, ift die Darftellung Martin’ durchweg nicht nur vollftändig, 
jondern bietet vieles Neue aus den jorgfältig geführten Acten des Prinzen und 
der Königin und ift jomit eine werthvolle Duelle für unfere Zeitgefhichte. Wir 
nennen bier, wa3 die äußere Politik betrifft, nur beijpieläweife die Bejuche 
Louis Philippe’3 und des Kaiſers Nikolaus in England, den der Königin in Eu, 
die ſpaniſchen Heirathen, die Miffion Lord Minto’3, die Pacificoangelegenheit, 
die Trage der Anerkennung Louis Napoleon’3, namentlich aber die Anfänge der 
orientalifchen Verwicklung, mit denen der zweite Band ſchließt. Ueberall ift der 
freie und unbefangene Bli des Prinzen wie der Königin bemerfenswerth. Ueber 
den Kaijer von Rußland jagt Ietere in einem Briefe: „Er ift hart und firenge, 
namentlich in feinen Augen, wie ich es nie gejehen; ex macht den Eindrud, nicht 
glücklich zu fein und die Laft feiner ungeheuren Macht zu fühlen. Für jehr 
geſcheut Halte ih ihn nicht, und fein Geift ift nicht gebildet, feine Erziehung 
vernachläſſigt, Politit und Militär find feine einzigen Intereſſen. Ex ſcheint 
mir aufrichtig, jelbft in feinen despotifcheften Handlungen, überzeugt, daß e3 die 
einzige Art fei, zu regieren, und wird in der vollftändigften Unwiſſenheit über 


Prinz Albert. 85 


bie verberbliche Art gehalten, in der jeine Leute viele Maßregeln zur Ausführung 
bringen.” — 

Der merkwürdige Proceß der jpanijchen Heiraten wird vollitändig dar— 
gelegt und, jo weit wir willen, zum erjten Male hier die ganze fürſtliche 
Gorrefpondenz über diejelben gegeben. Die würbevolle Art, in der die Königin 
an Louis Philippe'3 Gemahlin auf deren Anzeige der Doppelheirath anttvortet, 
ift ebenfo harakteriftiih, al3 die ausführliche Darlegung, in der fie der Königin 
der Belgier beweift, daß der König feine Zuſagen nicht erfüllt, durchſchlagend. 
Beſonders bemerfenswerth erjcheinen die Worte Metternich’3 bei diefer Gele- 
genheit: „Sagen Sie Herrn Guizot von mir,“ jchrieb er dem öfterreichiichen 
Botichafter in Paris, „daß man nicht ungeftraft großen Staaten kleine Streiche 
fpielt. Er weiß, daß ich nicht viel von der öffentlichen ‘Dkeinung halte, fie gehört 
nicht zu meinen Werkzeugen, aber fie übt ihre Wirkung; die englifche Regierung 
hat Alles aufgeboten, Louis Philippe in der öffentlihen Meinung feſtzuſetzen, 
fie kann wieder zurücknehmen, was fie gegeben hat, und ich habe immer gejagt, 
daß er in dem Augenblid, wo er da3 verliert, am Rande eines Krieges fteht. 
Eine Dynaftie aber, wie die jeine, kann feinen Krieg ertragen.“ Wie bald jollte 
fi) diefe VBorausjage erfüllen! Der Kaiſer Nikolaus mochte fich freuen, daß die 
Bejorgniß vor dem Einverftändniß der Weſtmächte, welche feiner affectirten 
Gleihgültigkeit gegen Frankreichs Politik umd feiner Mißachtung defjelben zu 
Grunde lag, bejeitigt wurde; der Rechtsbruch der Einverleibung Krakau's war 
die erfte Folge der Entfremdung Englands, deſſen Proteft dagegen ebenſo wir— 
kungslos blieb wie der Frankreichs. Aber fir Louis Philippe ward jein diplo- 
matiſcher Sieg in Madrid nur eine Stufe zum Sturz; dadurch, daß e3 ihm 
gelang, feine Minifter feinen perjönlichen Wünfchen dienftbar zu machen, ließ 
er fih in falſche Sicherheit wiegen, pochte auf die Zuftimmung feines „pays 
lögal“ und überjah, daß ſervile Diener und gemachte Majoritäten einen confti- 
tutionellen Yürften in ihren eigenen Fall mitreißen. 

Bon bejonderem Intereſſe find die reichhaltigen Mittheilungen über 
Palmerfton’3 Perjönlichkeit, Politik und VBerhältni zur Königin wie zu feinen 
Collegen. Sie find um jo wichtiger, al3 fie durchaus objectiv gehalten und den 
Berdienften des Minifters volle Gerechtigkeit widerfahren laffen, während die 
Ergänzung des Bulwer'ſchen Lebens Palmerfton’3 von Afhley eine ganz parteiiſche 
Darftellung diejer Berhältniffe gibt. Bei jeiner glänzenden Begabung und erftaun- 
lichen Energie ericheint der Minifter doch leichtfinnig, händelſüchtig und recht— 
haberiſch, und führte dadurch fortwährend ärgerliche politiſche wie perjönliche 
Berwidlungen herbei. Er milchte fich ftet3 in die inneren Angelegenheiten fremder 
Staaten durch ungebetene Rathichläge, reizte damit die berechtigte Empfindlichkeit 
der betreffenden Regierungen und zog entweder England und jeinen Schüßlingen 
Niederlagen zu, oder juchte jeine Sache durch brutales Auftreten durchzuſetzen, 
Letzteres in der Pacificofrage, Erfteres al3 er die ſicilianiſchen Inſurgenten, denen 
er Hilfe verſprochen, im Stich lief. Am ſchlimmſten fiel e3 für ihn aus, als 
er im März 1848 die Königin von Spanien ermahnte, ihre Regierung in diejen 
kritiſchen Zeiten dadurch zu ftärken, daß fie Männer in’3 Minifterium berufe, 
welche da3 Vertrauen der liberalen Partei bejäßen. Die jpanijche Regierung 


86 Deutihe Rundſchau. 


antwortete hierauf, indem fie dem englifhen Gejandten jeine Päfje mit dem 
Erſuchen ſchickte, das Land binnen 48 Stunden zu verlafjen. Derartige Vorgänge 
mußten in England jelbft auf das peinlichjte berühren und führten zu heftigen 
parlamentarifchen Kämpfen. Al3 bei Gelegenheit der Pacificofrage Graf Neſſel— 
ode in einer Depefche den Mißbrauch ſcharf getadelt, den England von jeiner mari- 
timen Uebermacht gegen einen ſchwachen Staat gemadt, ſetzte Lord Stanley als 
Führer der Oppofition im Oberhaus ein Tadeldvotum gegen den Minifter durch, 
welcher England diefe Demüthigung bereitet. Das Unterhaus rettete feinen 
Liebling zwar, aber derjelbe mußte gleihtwohl harte Dinge hören. Vor Allem 
machte die Rede Peel’3 (es war jeine letzte) tiefen Eindrud, in der er gegen die 
fortwährende Einmiſchung in innere Angelegenheiten anderer Staaten proteftirte. 
„&3 ift meine fefte Ueberzeugung,“ jagte er, „daß man die Sache der conftitutio- 
nellen Freiheit nicht fördert, indem man verſucht, jie anderen Nationen aufzu— 
drängen. Thut man dies, jo erzeugt man Mißverſtändniſſe, erregt Oppofition 
gegen die Regierung und kommt jchlieglic in die Lage, Diejenigen, welche man 
aufgereizt, im Stich zu lafjen und bei ihnen nur die bittere Erinnerung zu 
hinterlaffen, daß man fie verrathen hat. Aber auch wenn man dabei zunächft 
Erfolg hat, jo werden die geichaffenen Jnftitutionen ſchwerlich Wurzel faſſen; 
die conftitutionelle Freiheit kann von Denen, die nad) ihr ftreben, nur durch 
ihre eigenen Anftrengungen erreicht werden.“ 

Dffenbar mußte das eigenmächtige Verfahren Palmerfton’3 auch bei feinen 
Gollegen, die ex meiften® nicht vorher fragte oder deren Beſchlüſſe er umging, 
um jo Yebhafteres Mifvergnügen erregen, al3 fie hernach der Solidarität wegen 
gendthigt waren, im Parlament ſich auf feine Seite zu ftellen. Bor Allem aber 
war die Königin nicht gejonnen, fich dies Benehmen gefallen zu laffen. Nachdem 
fie wiederholt vergeblich ſich beſchwert, ſandte fie am 12. Auguft 1850 an den 
Premier Lord John Rufjell ein Memorandum, in welchem fie genau barlegte, 
was fie von dem auswärtigen Minifter verlange. Sie fenne, bemerkte der Prinz 
Palmerfton mündlich, ihre conftitutionelle Pflicht zu wohl, um nicht ihre perfönlichen 
Anfichten denen ihrer Regierung unterzuordnien und dann für diejelben einzuftehen ; 
fie wiſſe, daß fie mit ihren Miniftern in’3 Treffen gehe und die Streiche mit 
auszuhalten habe, welche gegen Erſtere gerichtet ſeien. Sie habe aber ein Recht, 
dafür zu erwarten, daß, bevor eine beftimmte Politik beichlojfen oder ihrer 
Sanction unterbreitet werde, fie in den vollftändigen Beſitz aller in Betracht 
fommenden Thatfachen und Beweggründe gejet werde, während fie jeßt faft nie 
eine Sache intact finde, faum eine Trage, in der die Regierung nicht ſchon com— 
promittirt jei und ihr die Thatſachen nur jehr unvollftändig mitgetheilt würden. 
Sie verlange ferner, daß, wenn fie ihre Zuftimmung zu einer Maßregel gegeben 
babe, die Politik nicht willkürlich verändert werde, ihr feine Schritte verhehlt 
würden und ihr Name nicht ohne ihre Sanction gebraucht werde. Palmerfton 
verſprach, diejen Forderungen nachzukommen, that es aber nicht. Bei dem 
Beſuch Koſſuth's (Ende 1851) hatte er fich dem Beſchluß des Cabinet3, denjelben 
nicht zu empfangen, untervorfen; nahm aber ftatt deſſen eine Adrefje der eng— 
liſchen Radicalen entgegen, welche ihm für feine Bemühungen um die Befreiung des 
erlauchten PBatrioten und Verbannten dankte und die Kaiſer von Defterreich und 


Prinz Albert. 87 


Rußland „abjcheuliche, verabſcheuungswürdige Mörder, unbarmherzige Despoten 
und Tyrannen“ nannte. Er bemerkte zwar, man könne nicht erivarten, daß er 
in einige der gebrauchten Ausdrücke einftimme, erklärte fi) übrigens aber durch 
die Adreffe perjönlich jehr gejchmeichelt und lebhaft befriedigt. Dies rückſichtsloſe 
Benehmen gegen zwei Souveräne, mit denen England in freundichaftlicden Be— 
ziehungen ftand, erregte natürlich das größte Aufſehen; es kränkte die Königin 
tief und fie beflagte ſich energiſch. Palmerfton antwortete mit der Ausflucht, 
das MWohlmwollen des Kaiſers von Defterreih möge durch jeinen Mangel an 
Zurüchaltung vielleicht verloren gehen, aber nicht die Neigung des engliichen 
Volkes; worauf die treffende Erwiderung lautete: „Es fommt für die Königin 
nicht darauf an, ob fie dem Kaiſer von Defterreich gefällt oder nicht, ſondern 
ob fie ihm gerechten Grund zur Klage gibt, und fie kann niemals glauben, daß, 
wenn fie dies thut, fie dadurch an Popularität bei ihrem eigenen Volke gewinnt.” 

Unmittelbar auf diefen Vorfall folgte das Ereigniß, welches zu Palmerfton’s 
Sturz führte: auf die erfte Nachricht vom Pariſer Staatsſtreich ſchrieb die 
Königin an Rufjell, er möge den brittifchen Botjchafter, Lord Normanby, beauf- 
tragen, fi) durchaus paffiv zu verhalten. Palmerfton ftimmte dem zu und 
ſchrieb oftenfibel auch) in dem Sinne nad) Paris, drückte aber, wie der franzöſiſche 
Minifter Turgot Normanby erzählte und diefer wiederum nad) London berichtete, 
im Geſpräch dem franzöfiichen Botjchafter, Graf Walewski, jeine volle Billigung 
des Actes und die Meberzeugung aus, daß der Präfident nicht anders habe handeln 
können. Die Königin ſchrieb erftaunt an Ruſſell, fie könne nicht glauben, daß 
diefe Behauptung des franzöſiſchen Miniſters richtig ſei; Ruſſell interpellirte 
Palmerſton, der zuerſt gar nicht antwortete, vielmehr auf ſeine eigene Hand 
nunmehr eine Depeſche an Normanby richtete, welche ſeinem Beifall über den 
Staatftreih in ftarfen Ausdrüden Worte gab. Erſt nachher richtete er ein 
lange3 Schreiben an Ruffel, in dem er ihm die Lage in Frankreich außein- 
anderjeßte, nad) der es am beften jei, daß die Gewalt in eine ftarke Hand 
fomme. Der Premier ertwiderte, e8 handle ſich nicht darum, ob der Staatäftreich 
ſich rechtfertigen lafje, jondern darum, ob er, Palmerfton, als außswärtiger 
Minifter berechtigt jei, feine Anficht, die ala die der engliſchen Regierung gelten 
müſſe, darüber auszudrüden. Das ſei nicht der Fall, da das Gabinet ihn nicht 
dazu ermächtigt. Ruſſell erinnerte an die früheren Vorgänge und erklärte dann, 
er jei zu feinem Bedauern zu dem Schluffe gelommen, daß die auswärtigen 
Angelegenheiten nicht länger- Palmerfton’3 Händen anvertraut bleiben könnten. 
Die Königin, welche dieſe endliche Energie ihres Premiers nicht erwartet, ftimmte 
gerne zu, ebenjo das Gabinet, und jo erfolgte die Entlajjung. Palmerfton juchte 
zwar die öffentliche Meinung irre zu leiten, indem ex ausſprengen ließ, daß 
alledem Intriguen der Orleans und abjolutiftiichen Gabinette zu Grunde liegen; 
aber al3 die Sache vor’3 Parlament kam, brachte Ruffell ihn mit einer einfachen 
Gonftatirung der Thatſachen zum Schweigen. *) 








) Merkwürdig ift die Aeußerung eines fyreundes von Palmerfton: „Der Schreibtiich war 
jeine gefährliche Stelle, jeine Feder ging mit ihm durch, während er durch feine Reben fich nie 
Feinde machte.“ Alſo die umgelehrte Ericheinung, die man gewöhnlich findet. 


88 Deutihe Rundſchau. 


Mir müfjen e8 uns verjagen, an weiteren Beilpielen zu zeigen, wie reiche 
Ausbeute der Lejer für die Zeitgefhichte in Martin’3 Darftellung findet, um 
zum Hauptgegenftand derjelben, dem Prinzen felbft, zu fommen. Was jeine Ehe 
mit der Königin betrifft, jo ift bekannt, daß fie auß reiner gegenfeitiger Neigung 
gejchloffen ward und ein Bild häuslichen Glüdes bot, wie e3 jelten auf dem 
Throne gefunden wird. Schon dieſe Thatſache allein war von weittragender 
politiicher Bedeutung. Das Privatleben Georg’3.IV., der Herzöge von York 
und Gumberland, jowie Wilhelm’3 IV. hatte die Achtung vor dem Königthum 
und feinen Einfluß in der Nation ſehr geſchwächt und die Loyalität erichüttert, 
die dem Engländer an fi jo natürlich ift. Sie lebte mit überrajchender 
Schnelligkeit auf, al3 eine Souveränin den Thron beftieg, deren perjönliche 
Liebenswürdigkeit ihr nit nur jofortige Popularität gewann, fondern deren 
mafelloje3 Privatleben dem Volke als nahahmungswürdiges Beifpiel galt. „La 
Reine a rendu le mariage populaire en Angleterre“ jagte Berfigny. Es ift jehr 
die Trage, ob England das Jahr 1848 ohne ernitlihe Erjchütterungen über- 
wunden hätte, wenn die Krone nicht auf diefe Weiſe in der Anhänglichkeit der 
Nation befeftigt getvejen wäre. Während diefe Thatfache nun ſchon damal3 vor 
Aller Augen war, haben wir erft in neuefter Zeit nähere Einblicke in das tiefere 
Weſen diejer königlichen Ehe gewonnen; Stodmar’3 Denkwürdigkeiten werden 
in biefer wie mancher anderen Beziehung durch Martin ergänzt. Hier ift e3 
nun zunächft rührend zu jehen, wie bei der Königin dem Prinzen gegenüber die 
Souveränin vollftändig in die rau aufgeht. Der geliebte Dann ift der Stolz 
und die Krone ihres Lebens; jede Anerkennung, die er in der öffentlichen Meinung 
oder von bedeutenden Perjönlichkeiten erringt, erfüllt fie mit einem Glüde, das 
in ihren Briefen ben wärmften Ausdrud findet; jede Kränkung, die ihm begegnet, 
fühlt fie weit tiefer als er ſelbſt. „Ich jchreibe Ihnen,“ jagt fie in einem Briefe 
an Stodmar vom 1. Februar 1854, nach einer Parlamentsdebatte über die 
Stellung de3 Prinzen, „in der Fülle meiner Freude über die geftrige fiegreiche 
MWiderlegung aller Berleumdungen in beiden Parlament3häufern. Die Stellung 
meine3 geliebten Herrn und Meifters ift ein= für allemal Eargeftellt, 
und feine Verdienſte wurden von allen Seiten vollftändig anerkannt.“ Und fie 
fährt kurz darauf, an ihrem Hochzeitstage, fort: „Diefer gejegnete Tag ift voll 
freudiger und zärtlicher Bewegung. Vierzehn glüdliche und gejegnete Jahre find 
vergangen, und ich Hoffe zuverfichtlich, daß noch viele folgen und una im Alter 
finden werden, wie wir jet find, glüdlic und Hingebend vereinigt. Prüfungen 
müffen und kommen; aber was find fie, wenn wir zuſammen find?“ 

Dieje Liebe einer edlen Frau wurde freilich reichlich vom Prinzen verdient ; 
uns ift fein Beiſpiel eines Fürften befannt, der, geiftig Höchft bedeutend, fich jo 
völlig und jo felbftlos einer jo ſchwierigen Aufgabe gewidmet hat. Die Art, wie 
er biejelbe auffaßte, hat ex meifterhaft in dem Schreiben an den Herzog von 
Wellington vom 6. April 1850 zufammengefaßt, in welchem er dieſem darlegt, 
weshalb er nicht darauf eingehen fönne, das Obercommando der Armee zu 
übernehmen. „Meine Stellung ift eine jehr eigenthümliche und zarte. Während 
im Vergleich mit einem König eine weibliche Souveränin in ſehr vielen Bezie— 
bungen fi im Nachtheil befindet, Hat ihre Stellung, wenn fie verheirathet ijt 


Prinz Albert. 89 


und ihr Gatte jeine Pflicht verfteht und thut, auch manche ausgleichende Vor— 
theile und wird fich auf die Länge jelbft ftärfer zeigen, al3 die eines männlichen 
Souderänd. Aber die3 fordert, daß der Gatte feine eigene individuelle 
Eriftenz völlig in die feiner Gattin aufgehen laſſe; daß er nad) feiner Macht 
durch ſich und für fich ftrebe, allen Streit vermeide, Feine getrennte Verant- 
wortlichkeit vor dem Publicum auf fi) nehme, jondern feine Stellung ganz zu 
einem Theil der ihrigen mache, jede Lücke ausfülle, die fie al3 rau naturgemäß 
in der Ausübung ihrer königlichen Yunctionen läßt, bejtändig und aufmerkſam 
jeden Zweig der öffentlichen Gefchäfte überwache, um im Stande zu fein, fie zu 
jeder Stunde in allen den mannigfaltigen und jchwierigen fragen und Pflichten 
zu berathen, welche vor fie gebracht werden, und die bald internationaler, bald 
politiiher, jocialer oder perjönlicher Natur find. Als das natürliche Haupt 
ihrer Familie, Leiter ihres Haushalts, Führer ihrer Privatgejhäfte, als ihr 
einziger vertraulicher Berather in der Politik, ala ihr alleiniger Beiftand in 
ihren Beziehungen zu den Beamten der Regierung, ift er außerdem der Gatte 
der Königin, der Vormund der königlichen Kinder, der Privatjecretär der 
Souveränin und ihr ftändiger Minifter.“ 

Daß der Prinz dies Programm vollftändig im Leben zu verwirklichen wußte, 
davon geben dieje Blätter auf jeder Seite Kunde. Allerdings hatte er wie die 
Königin dabei den unſchätzbaren Vortheil eines vertrauten Berathers, wie ein 
folcher wiederum jelten einem fürftlihen Paare in der Regierung zur Geite 
geitanden bat, den Treibern von Stodmar. Ein warmer deutjcher Patriot, 
war er dem Prinzen Leopold von Coburg bei dejjen Vermählung mit der Prin- 
zejfin Charlotte als Leibarzt nad) England gefolgt und deijen Freund und Rath» 
geber geworden. Durch die Verhandlungen über die griechijche und belgiiche 
Throncandidatur ward er in die große Politik eingeweiht und Hatte ſich das 
volle Vertrauen der engliſchen Staat3männer zu ertverben gewußt, während dieje 
Berhältniffe ihm genauen Einblid in das Wejen der engliichen Verfaſſung ver— 
Ichafften. Bei der Thronbefteigung der jungen Prinzejfin Victoria wurde er 
von deren Oheim, dem König Leopold, mit Zuftimmung der Minifter auserjehen, 
berjelben als vertraulicher Berather zur Seite zu ftehen; er blieb ftets ihr 
väterlicher Freund, wurde e3 aber in ganz bejonderem Sinne für ihren Gemahl. 
Stodmar hatte jofort den reinen Adel und die Begabung befjelben erkannt; aber 
dies verblendete ihn nicht über feinen Zögling, den er zunächft auf einer längeren 
Bildungsreife durch Italien begleitete. Es war ihm Anfangs zweifelhaft, ob der 
Prinz hinreichende Energie habe, um den Schwierigkeiten feiner Stellung 
gewachſen zu fein; er klagte über deſſen Abneigung gegen geiftige Anftrengung 
und über politifchen Indifferentismus; aber ex hatte die Freude zu jehen, wie 
defien edler Wille und Pflichtbewußtfein allmälig immer mehr alle äußeren und 
inneren Hinderniffe überwand. Er hielt ihm gegenüber nicht mit feiner freudigen 
Anerkennung zurüd; aber jeder Schritt, den der Prinz auf dem rechten Wege 
vorwärts that, ward für ihn nur ein neuer Anlaß, denjelben anzufeuern, feinem 
Ideale näher zu fommen. „Nur nicht nachgelaffen,“ jchreibt er ihm, „in Ans 
forderungen des Edelmuthes an fich ſelbſt, in logiſcher Ausicheidung des Großen 
und Wejentlihen vom Kleinen und Nichtigen, im Zulammenhalten Ihrer jelbit, 


90 Teutiche Rundſchau. 


in täglich fi) erneuerndem Willen, conjequent, ausdauernd, muthig und würdig 
zu jein. Bermeiden Sie es, in die Details der Verwaltung Hinabzufteigen, die 
Ahnen nur den Blick verwirren; den reinen Geiftern ſchließen Sie Ihr Inneres 
auf und geben Treue um Treue, die unreinen halten Sie ſich mit anftändiger 
Beitimmtheit vom Leibe. Das Beftimmende fol nur die auf Klarheit und 
Wahrheit beruhende Ueberzeugung jein.” — „Nur durch geiftige Reibumg, welche 
allein der Umgang mit bedeutenden Perjönlichkeiten hervorbringt, fünnen Sie 
die Lichtfunfen erzeugen, welche Ihnen im Nu das Erkennen neuer Wahrheiten 
möglich machen — man muß fi im Kleinen jchonen, damit man in großen 
und wichtigen Dingen die ganze Haut zu Markte tragen kann. Der Menſch muß 
fich ftets den ganzen Betrag jeiner Handlungen zum vollen Bewußtjein bringen.“ — 
„Der befte Wille, den Vernunft und Wahrheit handhaben, muß fich gefaßt 
machen auf Verkennen und Verketzern; darum aber joll der reine Wille weder 
den Glauben an jeinen Werth, noch an jeine ihm natürlichen Früchte verlieren. 
Der Unverftand und Undank Derer, denen Sie eine treue und freundichaftliche 
Gefinnung bethätigen, kann die Ergebniffe derjelben nicht in ihr Gegentheil 
verwandeln, und fie werden als wahre Freundjchaftsdienjte beftehen und fort- 
wirken, wenn die Nebel, in welche Unverftand und Undank fie zu hüllen ver- 
juchten, jchon lange verflogen jein werden — alio, große Gedanken und ein 
reines Herz!” 

Aber als ein rechter, getreuer Edart bleibt Stockmar nicht bei allgemeinen 
Ermahnungen ftehen; wo ihm der Prinz zu fehlen jcheint, jagt er ihm auf das 
rückhaltslojefte die Wahrheit. Als derjelbe ihm z. B. mittheilt, er habe für den 
König von Preußen eine Denkſchrift über die Reform des Deutſchen Bundes 
ausgearbeitet, erklärt er ihm geradezu, daß er ihn für ganz unfähig zu einer 
ſolchen Arbeit halte, da jeine lange Abwejenheit von Deutjchland ihm es une 
möglich mache, die im Volk zur Reform treibenden Kräfte, welche weſentlich 
antidynaftijcher Natur jeien, richtig zu beurtheilen. Und al3 der Prinz Ende 
1853 über die maßlojen Verleumdungen, denen er in Gejellihaft und Preſſe 
ausgeſetzt war, einigermaßen niedergejchlagen jchreibt , antwortet er ihm: „So 
hart Sie getroffen jein mögen, kann ich doch nicht wünſchen, daß Ihnen dieje 
Erfahrung erſpart bleiben jollte. Sie konnten die Königin nicht heiraten, ohne 
zu beabfichtigen und verpflichtet zu jein, ein politifcher Soldat zu werden. Ein 
bloßes Garnijonleben macht nie einen Soldaten, und abgejehen von einigen 
häuslichen Unannehmlichkeiten haben Sie bis jet nur ein friedliches, bequemes, 
jattes und ſchwächendes Garnijonleben geführt.” 

Allerdings Hatte Stodmar den Vortheil, an einen Fürften zu jchreiben, der 
nicht nur die Wahrheit hören konnte, jondern fie jelbft mit Ernſt juchte;*) aber 
jein Berdienft, denjelben unabläjjig im Rechten geſtärkt und ihm ftet3 die 
Klippen gezeigt zu haben, die es galt zu vermeiden, bleibt darum doch ein hohes. 
Um jo mehr, als dieſe ſachlich jo einflußreihe Stellung fi nur durch die voll- 


) Treffend jagt Glabftone in jeiner Beiprehung unſeres Buches, „Prince Albert was for- 
tunate in his wife, uncle and tutor, but how completely did the material answer to every 
touch it received*. — 


Prinz Albert. 91 


ftändige Selbjtlojigfeit behaupten ließ, mit der er perjönlich ſtets im Hinter- 
grunde blieb, ftet3 die Ehre, das Rechte erkannt zu haben, Denen ließ, welche 
auf der officiellen Bühne ftanden, und der Aufgabe, für Andere zu jorgen, feine 
perſönlichen Wünſche zum Opfer brachte. Ein Ausſpruch, den der belgiſche Ge- 
ſandte in London, van de Weyer, von ihm berichtet, ift in diejer Beziehung be— 
zeichnend: „Wenn Sie von Fürſten, denen Sie nahe ftehen, um Rath gefragt 
werden, jo ſprechen Sie Ihre Anfiht wahrhaft, fühn, ohne Zurückhaltung und 
ohne Etwas zu verjchweigen, aus. Sollte Ihre Anfiht nit munden, Yo 
weichen Sie auch nicht einen Augenblid von dem ab, was Sie für wahr halten. 
Sie werden in Folge deffen bisweilen in Ungnade fallen, vernachläſſigt und 
falt behandelt werden; Sie dürfen fi aber, wenn fie Ihnen wiederfommen 
(denn wiederkommen werden fie, wenn Sie redlich und feſt bleiben), nie über 
die erfahrene Behandlung beklagen, nie verfuchen, fie eingeftehen zu machen, 
twie jehr Sie im Rechte waren und wie unrecht fie gehabt haben. Es muß 
Ihnen genügen, daß Sie zu ihrem Beften und dem de3 Landes nad) Principien 
handeln, deren Gejundheit in diefer Weiſe anerkannt wird.” 

Dieſe Selbftlofigkeit erklärt e8 au, weshalb die engliſchen Staatsmänner 
ohne Unterſchied der Parteien die einflußreiche, aber äußerlich nicht definirte 
Stellung Stockmar's jonder Eiferfucht duldeten. Sie trauten ihm, ſagt van de 
Meyer, unbedingt, nicht blos weil fie jeine politiihe Begabung und Uneigen— 
nüßigfeit erkannten, jondern weil fie alle fühlten, daß fie bei ihm in ficheren 
Händen waren, daß er fie nie verrathen, nie ihre Schwächen und Fehler zur 
Schau ftellen, nie einen gegen den anderen auffpielen, fi} nie in eine heimliche 
Intrigue einlaffen und jeine Stellung dazu mißbrauchen werde, ihnen in der 
guten Meinung des Souveräns oder de3 Publicums zu ſchaden. Palmerfton 
jagte von ihm, er jei der einzige vollkommene unintereffirte Politiler, den er 
gekannt habe, und Aberdeen gab ihm da3 Zeugnig: „Ach habe Männer ge— 
fannt, die eben jo Klug, gut, discret und urtheilsfähig waren; aber niemal3 
einen, der alle dieje Eigenjchaften in jo hohem Maße vereinigt, wie er,“ und 
feine fürftlicden Freunde widmeten ihm auf feiner Gruft, die nad) dem Entiwurfe 
der Kronprinzejfin des deutjchen Reiches in Coburg ausgeführt ift, den Nachruf: 
„Ein treuer Freund Tiebet mehr und ftehet fefter, denn ein Bruder.” 

Aber Prinz Albert machte diejem Lehrmeifter auch Ehre. Die Stellung, 
in die ex als fehr junger und darum naturgemäß unerfahrener Mann trat, war 
ungemein ſchwierig. Wenn der Umstand, daß die Königin ihn aus reiner 
Neigung zu ihrem Gemahl erkoren, und feine ftattliche, gewinnende Perfönlich- 
feit bei jeinem Eintritt in das öffentliche Leben zu feinen Gunften jprachen, 
jo hatte ex dagegen am Hofe, wie in ber Gejelihaft und im Publicum ftarke 
Vorurtheile zu überwinden. Die Ariftofratie, namentlich die Tories, miß- 
achtete die Kleinen deutjchen Höfe als arm und umgebildet; in Weiteren Kreiſen 
ſah man den „Foreigner“ als Vertreter des feftländiichen Abjolutismus an, 
bei der Naturalijation wie bei der Beftimmung feines Jahreseinkommens fügte 
man ihm abfihtlid) Demüthigungen zu, ein nicht willlommener Privatjecretär 
ward ihm aufgedrängt. Der Prinz überwand alles das mit Takt und be— 
ſonnener Feftigkeit; er vermied es durchaus, politifch hervorzutreten, fühlte vor— 


093 Deutiche Rundſchau. 


fihtig jeinen Weg, unterrichtete fi nach allen Seiten und gewann jo raid 
eine Stellung, die ſachlich unangreifbar war und mit der auch die ihm Ab- 
geneigten rechnen mußten. Er widmete fich eifrig allen Angelegenheiten, welche 
das Wohl der arbeitenden Glafjen, der Wiſſenſchaft und Kunft betrafen, und 
hielt bei folchen Gelegenheiten Reden, an denen auch der befte böje Wille 
nichts auszuſetzen finden konnte, ftellte jich aber niemal3 dabei in den Vorder: 
grund. „Ich kann es nicht leiden, in Meetings gelobt zu werden,” ſagte 
er; „ed fieht aus, al3 ob man mich zur Reclame benubte und als Mittel 
brauchte, um ein volles Haus zu machen.“ Ebenſo wenig ließ er ſich durch 
MWiderftand entmuthigen,; wir jehen bei Martin, wie groß 3. B. der var, 
welchen ex bei der Allgemeinen Weltausftellung zu überwinden hatte, die jein 
Gedanke war und die von jo großem Erfolge gekrönt wurde. 

Aber jein Hauptintereffe war und blieb naturgemäß die Politik, und es ift 
überrajchend, zu jehen, wie bald er zu einem wahrhaften Staatsmann erwuchs. 
In inneren Tragen hielt er ftet3 den englifch-conftitutionellen Standpunkt feft; 
aber wenn die Macht der Krone auf ein ſchmaleres Gebiet beſchränkt war, jo 
jollte fie diejes wahren, und er erklärte e& für einen groben Irrthum, daß bie 
engliſche Verfaſſung den Souverän zu einer Null mache oder defjen paſſive In— 
differenz fordere. Er wies die flache Formel: „le roi rögne mais ne gouverne 
pas“ zurück; „Couſin,“ jagte er bei der Lectüre der Introduetion politique 
dejjelben, „unterihäßt die geiftigen Fähigkeiten, die für einen conftitutionellen 
Souverän erforderlich find. In Wahrheit bedarf es der größten geiftigen Kraft 
für die Entfagung und Selbftbeherrfhung, und dieje find für einen conftitutio- 
nellen Souverän wejentlicher al3 für einen abjoluten.” „Weshalb,“ jchreibt er 
1852, „will man Fürſten allein die Gunft verweigern, politifche Meinungen zu 
haben, die auf Sorge für die nationalen Intereſſen, die Ehre ihres Landes und 
die Wohlfahrt der Menjchheit begründet find? Sind fie nicht unabhängiger 
geftellt al3 irgend ein anderer Politiker im Staate? Sind ihre Intereſſen nicht 
aufs tieffte mit denen ihres Landes verbunden? Iſt der Souverän nicht der 
natürlide Wächter der Ehre deſſelben? Iſt er nicht nothwendiger Weije ein 
Bolitifer? Meinifter wechjeln und verlieren beim Rücktritt die beiten Mittel, 
fi zu unterrichten, die ihnen bisher zur Verfügung ftanden. Der Souverän 
bleibt, und ihm ftehen dieje Mittel ftets zu Gebote. Der. patriotifchfte Miniſter 
hat an jeine Partei zu denken, und deshalb ift nothiwendiger Weile fein Urteil 
oft duch Parteirückſichten beeinflußt. Nicht jo der conftitutionelle Souverän, 
der feinen ſolchen ftörenden Einwirkungen ausgeſetzt if. Als das dauernde 
Haupt der Nation hat er nur zu erwägen, was zu ihrem Wohl und zu ihrer 
Ehre dient; feine angefammelte Kenntnig und Erfahrung, fein ruhiges und ge- 
übtes Urtheil ftehen dem jeweiligen Minifterium ohne Unterſchied der Partei 
zu Gebote.“ 

Es war deshalb ein Cardinalfa des Prinzen, daß die Krone über den 
Parteien ſtehen müſſe. Die Königin war unter den Whigs zur Herrfchaft ge- 
fommen und hatte ein warmes perjünliches Gefühl für Lord Mtelbourne, der fie 
in die Geſchäfte eingeführt; als aber das Minifterium ſchwach ward, vermittelte 
Prinz Albert eine Annäherung de3 Hofes an die Tories in der Perjon Sir 


Prinz Albert. 93 


Robert Peel’3, mit dem ihn bald eine auf gegenfeitige Hochachtung gegründete 
Freundſchaft verband. Ex vertrat die Anficht, daß die Krone jedes Minifterium 
ehrlich ftühen müſſe, welches die Majorität habe und nicht geradezu das In— 
terefie oder bie Ehre des Landes verlehe. Aber wenn das jeweilige Miniftertum 
in England ein Ausfhuß der im Unterhaus. ftärkeren Partei ift, jo wollte er 
nicht die wirkſame Controle der Minifter durch den Souverän in der eigent- 
lihen Erecutive aufgeben und dafür ſah er in fich jelbft die naturgemäße und 
wirfjame Stüte. Bei aller Beicheidenheit und Zurücdhaltung nad) Außen verfocht 
er dies als Recht und Pflicht gegen eigenwillige Minifter, wie gegen Verleum- 
dungen und Anjchuldigungen des Publicums, das, wie er einmal treffend be- 
merkte, ſich verrathen glaubte, weil es fich felbft betrogen hatte, und erzwang 
Ihliegli die Anerkennung in beiden Häufern des Parlaments, daß er nur den 
Einfluß ausübe, den er üben müfje. Aber er hätte benjelben nicht üben können, 
troß allen Taktes und aller Reinheit feiner Abfihten, ohne feine eminente po— 
titiihe Begabung. Wir wollen, wa3 innere Fragen betrifft, nur ein Beifpiel 
anführen, welches zeigt, daß er, ber Fremde, in foldhen oft weit richtiger ur- 
theilte, al3 engliihe Staatsmänner. Im September 1850 hatte der Papft ein 
Breve erlaſſen, wodurd die katholiſche Hierarchie Englands wiederhergeſtellt 
ward, gleichzeitig erfolgten zahlreiche Nebertritte von Engländern zur katholifchen 
Kirche. Dies rief einen allgemeinen Sturm herdor. Lord John Ruſſell, damals 
Premierminifter, nannte in einem öffentlichen Briefe „den Angriff des Papftes 
auf unjern Proteftantismus frech und Hinterliftig” und das Breve „eine An- 
maßung von Oberhoheit, die jogar in katholiſchen Zeiten unverträglich mit der 
geiftlichen Unabhängigkeit der Nation gewejen wäre.” Zugleich Elagte er die Ver- 
räther in der eigenen Kirche (die Ritualiften) an, „welche ihre Heerden Schritt 
für Schritt dem Abgrund zugeführt haben.“ Als es fih nun aber darum 
handelte, von Worten zu Thaten überzugehen, zeigte es fi), daß es gar nicht 
jo leiht war, jenen Angriff wirkſam zurückzuweiſen. Die Bill, die das Mi- 
nifterium einbrachte, befriedigte Niemanden, jo daß e3 jelbft in's Schwanken 
kam und jchließlich nur eine überaus dürftige Maßregel durchbrachte, die ein 
todter Buchſtabe blieb und ſchließlich wieder rüdgängig gemadt wurde. Die 
Königin und Prinz Albert jahen die Sache anderd an; die erftere unterzog 
fi zwar der Mühe, alle die Adreffen und Deputationen zu empfangen und 
zu beantworten, die bei diefer Gelegenheit an fie gefandt wurden, aber erklärte, 
fie würde nie zuftimmen, auch nur ein Wort zu äußern, das den Geift der Un— 
duldſamkeit athme. So aufrichtig proteftantiich fie fei und ftet3 fein erde, 
fo ſtark fie Die verurtheile, welche ſich Proteftanten nennten und alles Andere 
eher jeien, jo jehr bedauere fie den unchriftlihen und intoleranten Geift, der 
fi in vielen Meetings zeige; fie könne e8 nicht ertragen, diejes heftige Schimpfen 
auf die katholiſche Religion zu hören, da3 jo Jhmerzlih und graufam für jo 
viele qute und unſchuldige römiſche Katholiken fei. Prinz Albert entwarf eine 
Denkichrift, in der er fofort den Kern der Sade in einem Sabe trifft: „Das 
Princip der Unzufriedenheit ift die Einführung romanifirender Lehren und Eul- 
tußgebräuhe durch den Glerus gegen den Willen dev Gemeinden, nad) der An- 
nahme, daß der Glerus allein in Kirchenfragen Autorität hat. Die Laien 


94 Deutjche Rundichan. 


jollten gleiche Rechte Haben, feine Nenderung dürfte ohne ihre Zuftimmung ge= 
macht, feine Auslegung von Glaubensartifeln ohne dieſelbe gegeben werden. 
Sobald die Princip geſetzlich anerkannt ift, wird eine ganze lebendige Kirchen- 
verfafjung daraus hervorwachſen.“ Kann man treffender die Schwäche ber 
engliſchen Kirche in der fatholifirenden Halbheit ihrer Verfaſſung bei refor— 
mirtem Dogma bezeichnen? Hätte der Nitualismus zu jeiner heutigen Be- 
deutung erwachſen können, in der er die Kirche zu jprengen droht, wenn man 
der Gonvocation durch Berufung von Laienmitgliedern neues Leben gegeben 
hätte? 

Noch weit auffallender zeigt fich eine Ueberlegenheit auf dem Gebiete der 
auswärtigen Politi. Was jeine Reformpläne für Deutjchland betrifft, hatte 
zwar Stodmar unbedingt Recht, diejfelben als unpraktiſch zu bezeichnen; aber 
wie meifterhaft ift folgende Charakteriftif Friedrih Wilhelm’ IV.: „Die Rede 
de3 Königs (bei Eröffnung de3 Vereinigten Landtags) ift eine merkwürdige Probe 
der Beredjamkeit, die zum Herzen dringt, aber den Verftand unbefriedigt läßt. 
Stellt man ſich an die Stelle eines kalt Eritifirenden Publicums, jo wird einem 
flau zu Muthe. Welche Verwirrung der Begriffe und welche Kühnheit, aus dem 
Stegreif, ala König, in emem folden Moment und in folder Länge alle die 
entſetzlichſten, ſchwierigften Punkte zu berühren nicht nur, fondern Knall und 
Tal abzuthun, Gott zum Zeugen aufzurufen, zu verſprechen, drohen, 
ſchwören u. j. w. Er läßt ſich von Gleichniffen verführen, die jeiner Phantafie 
zufagen, die er nur jo weit ausführt, al3 fie zu feinem Krame paſſen, und die oft 
die wahre Lage der Dinge gar nicht wiedergeben, aber, weil fie geiftreich find, 
ihn befriedigen, e8 macht eine Scharfe Argumentation unmöglid. Dann läuft 
er no Gefahr, daß er jubjective Gefühle und Anfichten als Beweggründe 
jeiner Handlungen nimmt und nicht nur danach handelt, jondern auch verlangt, 
da, da dieje Gefühle und Anfichten ihm Heilig und theuer find, fie e8 nun 
auch allen Anderen fein follen, die nicht im geringften dadurch berührt find. 
Dahin gehören die Pietätsgefühle gegen Friedrich Wilhelm IL, die nur der 
Sohn fühlen kann; oder die aus gewiſſen Lieblingsjtudien und Gedanken für 
ihn entjprungenen Lieblingsgrundjfäße.. — Pius IX. ift das Gegenftüd zu 
Friedrich Wilhelm IV.; große Impulſe, Halb verdaute politifche Begriffe, wenig 
Schärfe des Verftandes bei viel Geift (?) und Zugänglichkeit für äußere Ein» 
flüffe. Er jheitert wie jener an dem Glauben, Völker in Bewegung jeßen 
und doc) die ganze Leitung und Ausdehnung der Bewegung in der Hand be— 
halten zu können.“ 

Auch über Bunſen, den der Prinz jonft hoc) ſchätzte, ſah er jehr Klar. Als 
derjelbe 1848 nad Frankfurt ging, um, wie er glaubte, die Leitung der aus— 
wärtigen Angelegenheiten zu übernehmen, jchrieb der Prinz an Stodmar: 
„Möge er glücklich in Denen fein, die ihn umgeben; denn er ift beftimmbar, und 
die Raſchheit, mit der er Anfichten Anderer ſich zu eigen madt, jet ihn der 
Gefahr aus, daß er nach einander beide Seiten einer Trage prüft und ver— 
theidigt, bevor er den Schluß gezogen, der jeine Anfichten endgiltig bejtimmt. 
Hat er dies erft gethan, jo find diejelben gewöhnlich richtig und zufolge des 
vorangegangenen Procefjes auf ein Princip begründet; aber wenn er genöthigt 


Prinz Albert. 95 


ist, zu handeln, ehe er jeine Schlüffe herausgearbeitet hat, jo iſt es oft reiner 
Zufall, welche Seite er annehmen wird. Es wird immer jchiwierig für einen 
preußiichen Beamten fein, zwiſchen dem Erzherzog, der Paulskirche, Berlin und 
Potsdam zu ftehen und nit mit dem Kopfe gegen alle Vier anzurennen.” In 
diefen Worten ift Elargeftellt, warım Bunfen’3 Beftrebungen in jenen Jahren 
nothwendig jcheitern mußten. 

Aber auch in Fragen von unmittelbar brittiſchem Intereſſe urtheilte der 
Prinz ſchärfer, als die leitenden englifchen Staat3männer. Als 1847 die Reformen 
de3 Papftes in Italien eine allgemeine Bewegung hervorriefen, trat Balmerfton 
mit dem Plane hervor, den Großjiegelbewahrer, Lord Minto, nad) Rom zu 
jenden, um diejen Beftrebungen zu jecundiren. Prinz Albert befämpfte diejen 
Gedanken entjchieden; man ſei in England zu geneigt, Staaten in conftitutio- 
nelle Reformen zu ftürzen, die ſolche gar nicht wollten, oder nicht dazu reif ſeien, 
während man feine Nation über ihren natürlichen Entwidlungsgang hinaus: 
drängen, feiner Etwa3 octroyiren jolle, was fie nicht aus ſich ſelbſt hervorbringe. 
Man ſolle einfach gegen Dejterreich das Nichtinterventionsprincip geltend machen 
und ihm erklären, daß England ein gewaltiames Einfchreiten gegen Reformen, 
welche italienische Regierungen zu machen beabfichtigten, nicht dulden werde. 
Ein folder offener Schritt jcheine zwar fühn, werde aber, wenn er rechtzeitig 
geichehe, Verwicklungen vorbeugen und England den Beifall aller unabhängigen 
Staaten fihern. Lord Minto dagegen werde bei der beabfichtigten Miſſion in 
ganz ſchiefer Lage jein; Defterreidy werde fich geradezu feindlich ftellen und von 
Frankreich heimlich unterftüßt werden, er werde jehr wenig wirklichen Einfluß 
haben und doch für Alles von zweifelhafter Natur verantwortlich gemacht wer— 
den. Ruſſell jage, falls Minto nad) Rom gehe, müſſe man „unjere Intentionen 
genau firiren“; es jei umgekehrt abjolut nothiwendig, diefe firirten Intentionen 
vor fich zu Haben, um zu enticheiden, ob die Miffion überhaupt rathſam ſei. 
Der weije Rath ward nicht gehört, und die Folgen waren genau die, welche der 
Prinz vorausgejagt; die abjolutiftiichen Gabinette Elagten auf's Neue England 
an, daß es zu jelbftfüchtigen Zwecken Unordnung ftifte, die Bewegungspartei 
glaubte für ihre extremen Abfichten eine Stüße bei dem Lord zu finden und 
lohnte, al3 diefe verjagte, dem Eifer Palmerfton’3 mit Haß. Ebenjo ver: 
geblich twar jein Rath 1848, bei der Vermittlung zwijchen Defterreih und Sar- 
dinien, fi) auf das Erreichbare zu beichränfen und für den Frieden die Baſis 
zu nehmen, daß die Lombardei an Sardinien fommen, Defterreich aber Venetien 
behalten jolle, „Wir find zu unverftändig Carlo-Albertoiſch,“ ſagte er richtig, 
und die Folge war die einfache Wiederunterwerfung beider Provinzen. 

Mit großer Sorge jah der Prinz 1853 die orientaliiche Verwicklung herauf: 
ziehen, indem die öffentliche Meinung gegen Rußland Krieg forderte und die 
engliſchen Staat3männer die Frage feineswegs mit der nöthigen Fyeftigkeit und 
Weite de3 Blickes behandelten. „Aberdeen, jchreibt er Stodmar, „hat ganz 
Recht, daß wir unfere Feinde als ehrenhafte Männer behandeln und ehrenhaft 
gegen fie handeln müfjen; aber das ift fein Grund, anzunehmen, daß fie dies 
wirklich find; und das thut er und behauptet, ev habe darin Recht.“ In 
einem „Memorandum für die Erwägung des Cabinet3“ vom 21. October 1853 


96 Deutiche Rundſchau. 


legt ex die Natur der Verwidlung und Englands Stellung zu derjelben mit 
bewunderungstwiirdiger Mlarheit dar. Nachdem er die einzelnen Stadien kurz 
recapitulirt, jagt er: „Wir haben bisher für die Türkei gegen Rußland Partei 
genommen. Die Gründe, die und hierbei leiteten, waren: 1) daß wir die erftere 
im Recht, das letere im Unrecht fanden und nicht ohne Unmwillen dem vom 
Zaun gebrochenen Verſuch einer ftarken Macht, eine ſchwache zu unterdrüden, zu= 
jehen konnten. 2) Wir fühlten die überwiegende Wichtigkeit, nicht zu erlauben, 
daß Rußland unter der Hand oder in gefeglicher Form eine Macht über die 
Türkei erhalte, die es nicht durch offene Eroberung zu juchen wagte 3) Wir 
wünjchten dringend, den europätichen Frieden zu bewahren, der nothivendiger 
Weiſe durch offene Feindfeligkeiten zwiichen der Pforte und Rußland gefährdet 
werden müßte. — Dieje Gründe find gerecht und lobenswerth und follten 
noch für unfer Verfahren maßgebend fein. Indeß durch den Befehl an unjere 
Flotte, das türkiſche Gebiet zu beſchützen, und die türkiiche Kriegserklärung ift 
der dritte und für unjere Politik vielleicht wichtigfte Punkt entichieden gefährdet. 
Wenn wir den Türken thätig zu Hilfe fommen, müſſen wir auch ganz ficher fein, 
daß fie fein Ziel verfolgen, das unjeren Pflichten und Anterefjen widerjpricht; 
daß fie nicht zum Kriege drängen, während wir den Trieden bewahren wollen; 
daß fie nicht, ftatt einfach den Verſuch Rußlands zurückzuweiſen, eine Schußherr- 
ſchaft über die Griechen zu erhalten, welche mit ihrer Unabhängigkeit unverein- 
bar ift, jelbft juchen, die Macht zu gewinnen, den 12 Millionen Chriften ein 
noch drüctenderes Joch der zwei Millionen fanatiſchen Mufelmänner aufzuzwingen. 
— Wollen wir daher mit unjerer Macht auch nur defenfiv den Türken zu Hilfe 
fommen, jo müfjen wir darauf beftehen, nicht nur die Leitung der Verhand- 
lungen, jondern aucd Krieg und Frieden in unjerer Hand zu behalten. Man 
lagt, daß England und Europa, von allen türkiſchen Rüdfichten abgejehen, ein ſtarkes 
Antereffe Haben, Conftantinopel und das Gebiet der Pforte nicht in ruffiiche 
Hände fallen zu laffen und, um einen ſolchen Umfturz de3 europäifchen Gleich— 
gewwichtes zu verhindern, im legten Falle auch Krieg führen müſſen. Das muß 
zugegeben werben, und ein jolcher Krieg mag gerecht und weiſe ſein. Aber das 
würde ein Krieg fein, nicht für die Behauptung der Integrität des otto- 
maniſchen Reiches, ſondern allein für die Intereſſen der europäiſchen Givi- 
liſation. Er müßte geführt werden, ohne fich gegen die Pforte zu binden und 
würde wahrjcheinli dazu führen, Zuftände Herzuftellen, die mehr mit dem 
wohl verftandenen Intereſſe Europas, des Chriſtenthums, ber Treiheit und 
Givilifation verträglich wären, al3 die Wiederherftellung der unwiſſenden, bar- 
bariſchen und despotiſchen Herrſchaft des Islam über den fruchtbarften und 
begünftigtften Theil Europas.“ 

Lord Aberdeen ftimmte dem ganz zu; aber wie wenig wurden dieje Geficht3- 
punkte im Krimkriege feftgehalten, und wie anders würden die Folgen getvejen 
fein, wenn man e3 gethan hätte! 

Es liegt auf der Hand, daß troß aller natürlichen Begabung und der Vorzüge, 
welche die Stellung des Prinzen gewährte, eine fo eingehend richtige Beurtheilung 
politiicher Fragen nur durch große, ſyſtematiſche Arbeit erreicht werden konnte, 
denn es gibt für die Politik jo wenig einen Königgweg, wie für die Mathe: 


Prinz Albert. N , . 97" / 


matik. Perſönliche Unterhaltungen mit Staatsmännern, eiftiges Studium der 


Depeſchen, parlamentariſchen Debatten und der Preſſe, eine tüchtige geſchichtliche 
Bildung legten den Grund für ſein Urtheil. Miniſter fanden ihn mit den 
Thatſachen ihrer Departements völlig vertraut, Geſandte waren erftaunt, zu 
jehen, twie genau er in ihrem Bereich zu Haufe war; Diplomaten, welde auf 
einen neuen Poften gingen, befannten hernach, daß fie von ihm die werthoolliten 
Aufichlüffe über die Verhältniffe, in die fie eintreten jollten, erhalten hätten. 
Vielleicht das glänzendfte Zeugniß für ihn war das Palmerſton's, der ihm früher 
ihwerlich jehr zugethan war, aber 1855 al3 Premierminister nad) dem Beſuche 
in Paris einem Freunde fagte: „Wir haben einen weit größeren und außer: 
ordentlicheren Mann zu Haufe (al3 der Kaijer Napoleon ift); der Prinz-Conjort 
würde e3 nicht für recht Halten, einen Thron in der Weije zu getwwinnen, wie 
es ber Kaiſer gethan, aber was gejundes Urtheil, tiefe Einficht und die höchſten 
Eigenichaften des Geiftes überhaupt betrifft, ift er dem Kaifer jehr überlegen. 
Bis meine jegige Stellung mir jo oft Gelegenheit gab, ihn zu jehen, hatte ich 
feinen Begriff davon, daß er jo hoch begabt ſei und wie glüdlich es für das 
Land ift, daß die Königin einen ſolchen Prinzen geheirathet hat.“ Dabei führte 
er eine umfaffende Correſpondenz, und feine Lectüre erſtreckte fi), wie die mit» 
getheilten Leſetafeln zeigen, auf die verjchiedenften Gebiete. Oft gönnte er ſich 
nur ungenügenden Schlaf und ja ſelbſt im Winter ſchon um 7 Uhr bei feiner 
grünen Lampe, Die Erholung war ihm meift fnapp zugemefjen, ex fühlte ſich 
unter den vielfachen Anjprüchen nicht jelten angegriffen, aber in der Luft von 
Balmoral und Osborne gewann er ftet3 raſch die alte Friſche wieder, widmete 
fi der Jagd, der Gartenkunft, der Mufik (ex jpielte trefflich die Orgel) und 
vor Allem feiner Familie. 

Der zweite Band de3 Martin’ichen Werkes ſchließt mit dem Ablauf des 
Jahres 1853, der dritte joll una bis an das frühe Ende diejes reichen Lebens führen. 
Schon jet wird ſich die Königin durch die Aufnahme des Buches belohnt jehen 
für die großherzige Offenheit, mit der fie dem Verfaſſer alle Materialien zu 
Gebote jtellte, welche jeinem Zwecke dienen konnten. Aber wir wünjchen ihm 
auch in Deutjchland zahlreiche Lefer.*) Keiner wird das Werk ohne Belehrung 
aus der Hand legen, nicht leicht Einer, ohne wahre Förderung und Befriedigung. 
Bor Allem möchten wir dieje Lebensgeſchichte als einen reiten Fürftenfpiegel in 
der Hand Derer jehen, die jelbft berufen find, in ähnlicher Stellung auf das 
Wohl und Wehe der Völker einzuwirken. Sie können bier jehen, was ein Fürft 
feinem Lande werden kann durch ſelbſtloſe Hingabe und ernſte Arbeit für große 
Zwede Prinz Albert’3 Leben war die Bewährung jeines Wappenſpruchs: 
„Treu und feft.“ 


*) Der erfte Band ift bereit? in fehr guter Ueberſetzung erjchienen: „Das Leben des 
Prinzen Albert, Prinz: Gemahla der Königin von England, von Theodor 
Martin. Mit Genehmigung Ihrer Majeftät der Königin Victoria, überjeht von Emil Lehmann. 
I. Band. Gotha, Berlag von Friedr. Andre. Perthes. 1876,* 





Deutſche Rundſchau. III, 7. 7 


Die Kriſe in Handel und Wandel. 


Don 
$. X. v. Nenmann-Spallart. 


— — — 


III. 
(Der Ausbruch der Kriſe in Oeſterreich. Wirthſchaftliche und ſociale Folgen.) 


Die Umriſſe des Bildes, welches wir in den vorangehenden Abſchnitten von 
der wirthſchaftlichen Lage faſt aller Länder des Erdballes entworfen haben, werden 
ſchärfer begrenzt, wenn man den eigentlichen Heerd der letzten Kriſe, Oeſterreich— 
Ungarn und Deutſchland, näher in's Auge faßt. Zuerſt Oeſterreich, das 
Gebiet, wo ſich die Kataſtrophe am früheſten und kräftigſten ankündigte. 

Wer für das Geſellſchaftsleben des alten Donau-Kaiſerreiches ein Herz hat, 
wird ſich — und wäre er Moraliſt vom reinſten Waſſer — eines tiefen Be— 
dauerns nicht erwehren über die Contraſte von Einſt und Jetzt. Vor 1873 
das vertrauensſelige Genießen ſchnell geſchaffener Reichthümer; überall Leben 
und Lebenlaſſen; die Vorbereitungen zu einem Völlkerfeſte, deſſen Anlage durch 
Großartigkeit und Pracht der ganzen Welt ein Zeugniß unerhörten wirthichaft- 
lihen Aufſchwunges geben jollte; ein betäubendes Gründertreiben bei Hod und 
Niedrig; die Einkleidung aller möglihen und unmöglicden Ideen in das Gewand 
von Actiengeſellſchaften. Hand in Hand damit unleugbar auch eine raftloje 
Rührigkeit und Energie im productiven Gewerbe, in den Großinduftrien, im 
Eiſenbahnweſen, in der Erbauung neuer Stadttheile, ftolzer Finanzpaläfte Und 
nun die Mai-Ereigniffe, da3 Wanken, der Zujammenbrud der unjoliden 
Shöpfungen, unter deren Ruinen nicht blos die Schuldigen, Spieler und Be: 
trüger, ſondern aud) Tauſende von Unſchuldigen und Betrogenen ihr wirthidhaft- 
lihe3 Ende fanden. Größere Gegenjäße haben ſich wahrhaftig noch jelten 
berührt, als einerjeit3 die überſchätzende Zuverficht, die Prunkjucht, der Lurus 
in den höheren Schichten der Geſellſchaft, die Begehrlichkeit und geringe Leiftung 
in den niederen Glajjen, wie es vor der Krife in einem unerträglichen Maße, 
namentlih in Wien zu beobachten war, und andererjeit3 die Jocialen Symptome 
von heute, wo Muthlofigkeit und Mangel jedes Vertrauens in die Zukunft auf 


Die Krife in Handel und Wandel. 99 


allen Lippen ſchweben; wo fi Alle einſchränken müfjen; wo Paläfte, Häufer 
und Landgüter unter den Hammer de3 Erecutor3 fommen; wo Zaufjende von 
Arbeitern vor der Eriftenzfrage ftehen, und wo Handel und Wandel immer 
mehr in’3 Stoden gerathen. 

Es darf ung auch nicht Wunder nehmen, daß Defterreich-Ingarn die herben 
Schläge der 1873er Kriſe am wuchtigſten fühlt. Die Anläffe dazu find nicht 
vereinzelt, jondern jehr mannigfad und zahlreih. Bor Allem ift es jehr ein- 
leuchtend, daß die Dertlichkeit, in welder die Sturmfluth ihren Ausgang nimmt, 
unter den verheerenden Wirkungen derjelben am intenfivften leiden muß. Die 
Handel3= und Jnduftriekrije der Gegenwart als ſolche ift allerdings nicht in 
Defterreich allein geboren tworden ; jondern die Keime derjelben wurden, wie wir 
früher gefchildert haben, durch Ueberproduction und Ueberſpeculation in der 
ganzen Welt, diesjeitö und jenjeit3 des Oceans, reichlich gelegt. Wol aber ift 
der erfte und rein äußerliche Anlaß zur Störung de3 noch mühjam aufrecht- 
erhaltenen Gleichgewichtes von der Wiener Börje ausgegangen. Hier war e8, 
too die feit dem Frühjahre 1873 rapid erfolgende Entwerthung der Specula- 
tionspapiere den Stein in’3 Rollen brachte; Hier, wo die Tage des 8. und 
9. Mai eine förmliche Schreden 3herrichaft Hervorriefen. Die tumultuarifchen 
Scenen, welche ſich damal3 abjpielten — jchreibt ein trefflicher Chronift des 
Bank: und Börſenweſens — hatten faft revolutionären Charakter; die leiden— 
Ihaftlihen Wuthausbrüche der Betroffenen jpotten aller Beichreibung. Die 
Signatur diefer Tage war die Deroute auf allen Linien. Das Börſengeſchäft 
wurde gänzlich ſiſtirt; es herrſchte ein vollftändiges Chaos. Die Verzweiflung 
bemächtigte fi der Speculanten. Der Schreden Hatte jo jehr alle Gemüther 
gelähmt, alles Vertrauen und allen Eredit zerftört, daß bald nicht blos die 
Speculationspapiere auf einem Niveau angelangt waren, wo fie als unverfäuf- 
li), unverjeglich galten: jondern daß Viele auch den Zeitpunkt Herannahen 
fahen, wo ihnen, mit dem eijernen Schrank voll Werthpapiere, das Geld 
mangeln würde, um die nöthigen Nahrungsmittel einzukaufen. 

Nach ſolchen Ereigniffen ift es ganz jelbftverftändlich, daß der Schlag bald 
auf alle Zweige des Erwerbes, auf alle Kreife der Gejelichaft übertragen werben 
mußte. Um die Jntenfität diejes erften Stoßes richtig zu beurtheilen, ift es 
nothiwendig, über die Beichaffenheit des zur Exploſion gelangten Zündftoffes 
ein wenig zu ſprechen, jenes Zündftoffes nämlich, welcher durch die maßloſe 
Emiſſion jogenannter Werthpapiere, durch die Ausbreitung des Gründerthums 
und den da3 ganze Volk vergiftenden allgemeinen Antheil an der Actienſpecula— 
tion aufgehäuft wurde. Ohne in diefe Thatjachen den Schwerpunkt der Ereig- 
niſſe zu legen, wie es von mehreren Seiten gejchehen ift, muß man bdenjelben 
doch immerhin eine große Beachtung ſchenken, weil fie die mitwirfenden Urſachen 
der Handelskriſe überhaupt, und die erften und alleinigen Veranlaffungen des 
acuten Ausbruches der Kataftrophe im Mai 1873 in Wien und im October 
dejjelben Jahres in Berlin find. 

Wie auf den meilten europäiſchen und amerikanischen Börjenpläßen, wurde 
namentlih in Wien durch Emiffionen und Gründungen viel gefündigt. Nach 
dem „Moniteur des inter&ts materiels“ jollen im Jahre 1873 allein in ganz 


100 Deutſche Rundſchau. 


Europa und Amerika für 4038 Millionen Gulden Staats- und Communal- 
Anlehen, Papiere von Banfen und Greditinftituten und von Induſtrie- und 
Eijenbahngelellihaften emittirt worden fein; die Jahre 1871 und 1872 waren 
mit Gründungen im Gelammtbetrage von 12,000 Millionen Gulden voraus— 
gegangen. An diejen riefigen, allerdings nur theilweile wirklich eingezahlten 
Emiffionen von zufammen 16 Millionen Gulden nahm nun SDefterreih einen 
ganz unverhältnigmäßig großen Antheil. Ein Bericht de3 volkswirthſchaftlichen 
Ausſchuſſes des Abgeordnetenhauſes, welcher ſich gerade diefer einen Seite der 
Krife mit befonderer Aufmerkſamkeit zuwendet, während er die übrigen relevanten 
Umftände nur oberflählich berührt, conftatirt auf Grumd der dem Reichsrathe 
von der Regierung gelieferten Daten einige jehr intereflante Thatſachen. Vom 
Anfang des Jahres 1867 bis Ende April 1873 wurden nicht weniger al3 1005 
Hetiengefelichaften mit einem Nominalcapital von 4000 Millionen Gulden 
concejjionirt. Bon diefen gefammten Conceſſionen entfiel da3 Gros von 530 
Gründungen mit dem Nominalcapital von 2797 Millionen Gulden auf das 
Jahr 1872 und auf die erften vier Monate des Jahres 1873. Glüdlicher Weije 
find von allen Gründungen der fünf Jahre vor der Krife nur zwei Drittel 
(682) effectiv in’3 Leben getreten, wogegen ein Drittel (323) es nicht über den 
embryonalen Zuftand brachte. Aber jelbft die thatſächlich conftituirten Actien— 
gejellichaften exrforderten eine einzuzahlende Summe von ungefähr 2200 Millionen 
Gulden. Man darf fi mit Recht fragen, wie reich das Wolf jein müßte, 
welches nah der Dedung des Staats- und Gommunalaufwandes und des 
laufenden Lebensunterhaltes auch noch 2, Milliarden Gulden innerhalb jenes 
kurzen Zeitraumes erübrigen jollte, um neue Unternehmungen zu jchaffen oder 
die beftehenden zu erweitern. Es bedarf faum der ausdrüdlichen Verſicherung, 
daß in der ſchwindelhaften, optimiftiichen und aufgeregten Periode niemals daran 
gedacht wurde, wie jene Summe aufgebradht werden könnte; am allerwenigften 
war davon die Nede, es aus den eigenen Eriparniffen des Volkes zu nehmen. 
Man appellirte an den willig geftimmten europäilchen Geldmarkt, jpeculirte 
befanntlid im höchſten Grade auf die franzöfiiche Kriegsgold-Invaſion und 
baute daheim Credit auf Credit. So ging es luftig weiter. Heute freilich ift 
ihon ein Drittheil der im Jahre 1873 im Guräblatte der Wiener Geldbörje 
notirten Effecten verſchwunden, und von den 2, Milliarden Actiencapital ift 
leider nur jehr wenig mehr zu finden. Schon für Ende October 1873 wurde 
der Cursverluſt der Actien, Prioritäten umd anderen Werthpapiere auf 1369 
Millionen Gulden berechnet. Eine neuere Schätung für alle an der Wiener 
Börje noch notirten und gangbaren Effecten liegt nicht vor; jondern es ift nur 
befannt, daß an dem Aufgeld der Baugejellichaften circa 150, an jenem von 
22 Banken und Ereditinftituten circa 260 Millionen Gulden verloren gingen. 
Es Tann nicht die Aufgabe unferer Darftellung jein, bei dieſen localen 
Symptomen der Krije in Defterreich länger zu verweilen; doch müſſen wir nod) 
eines intereffanten Factums gedenken. Nach dem früher angeführten officiellen 
Berichte war die Wiener Geldbörje, in deren Räumen fi im Jahre 1867 nur 
900 bis 1000 Bejucher eingefunden hatten, Anfangs 1873 von 3300 bi3 3600 
Perſonen überfüllt, welche fich dem Börjengefchäfte entweder berufsmäßig zu— 


Die Krife in Handel und Wandel. 101 


gewendet oder in demjelben al3 Dilettanten ihr Glück verſucht Hatten. Die 
Frühjahrs- und Sommermonate des Jahres 1873 fegten fie furchtbar hinweg; 
nicht wenige derjelben fielen durch Selbftmord und Verzweiflungsacte! Im Jahre 
1375 war die Zahl der Börjenbefucher auf ungefähr 1800 bis 1900 gefunfen, von 
denen noch ungefähr 730 am jogenannten „Arrangement“ Theil nahmen; und 
im Jahre 1876 betrug die Anzahl diejer leßteren nur noch da3 kleine Häuflein 
von 550 Perfonen. Für die Maſſenbeſucher der Börje in der Schwindelperiode 
gab e3 im November 1872 einen Tag, an welchem ohne Einrechnung der effectiv 
bezogenen Schranfenwerthe, wozu Renten, Prioritäten u. ſ. tv. gehören, ein 
Umſatz von 2 Millionen Stüd Actien im Nominalbetrag von nahezu einer 
halben Milliarde Gulden gemacht wurde. Und das war obendrein ein Tag 
großer Geldflemme, welcher weitaus von anderen Tagen überragt wurde. Jetzt 
geht es ftiller zu; zwar liegen uns feine unmittelbar in Parallele zu ziehenden 
Aufzeihnungen vor, aber befannt ift, daß die Zahl der aufgegebenen Schlüfje 
von 41, Millionen im Jahre 1874 auf 2 Millionen im Jahre 1876 gefunfen 
ift und daß an vielen Börjentagen des lebten Jahres nur ein paar leitende 
Effecten wirklich gehandelt, für die übrigen aber blos nominelle Notirungen 
erzielt wurden. 

In den Greigniffen, welche wir mit diefen wenigen Worten wieder in's Ge- 
dächtniß zurückrufen wollten, liegt der acute Ausbruch der Krije, welcher durch rajche 
Anwendung geeigneter Maßregeln wahrſcheinlich auch diesmal zu Localifiren 
geweſen wäre. Es ift nicht zu leugnen, daß die VBerquidung der gejammten 
Handelswelt und des induftriellen Elementes, jorwie unzähliger Mitglieder aller 
Gejellihaftsclaflen mit dem Börjentreiben in Oeſterreich-Ungarn die Locali— 
firung ungewöhnlich erſchwert hätte. Aber den berufenen Organen fehlte ent- 
weder das volle Verftändnik oder der ernfte Wille, um die Gefahr mit jener 
Energie einzudämmen, ohne welche jede Hilfe in ſolchen Augenbliden wirkungs— 
los bleibt. Die halben Maßregeln, welche ergriffen wurden, und zwar nicht mit 
einem Schlage, jondern ſtückweiſe in verjchiedenen Zeitpunkten, verhalten ſpur— 
los. Man überließ von vielen Seiten den „Reinigungsproceg”, — tie man 
diefen Verfall zu nennen beliebte — nicht ohne inneres Behagen feinem natür- 
lichen Verlaufe, da3 Rejultat war, daß nicht blos die krankhaften Auswüchſe 
der Gründungsperiode, ſondern auch da3 grüne Holz des Wirthichafts- und 
Geſellſchaftslebens davon ergriffen und zum Abfterben gebracht wurde. Kein 
Zweifel: weder die Regierung noch der Reichsrath erfaßten die Lage in ihrer 
ganzen Tragweite. Man ftand zu lange unter den Eindrücken des verderblichen 
und nur der Vernichtung werthen Gründerthums, um alle übrigen Folgen der 
Kriſe unbefangen zu würdigen. 

Wenn in der WBörfenkataftrophe und der Actienüberſpeculation eine 
Urſache für das bejonder3 complere und heftige Auftreten der Kriſe in Defterreich- 
Ungarn Tiegt, jo ift eine Erſchwerung de3 ganzen jpäteren Verlaufe derjelben 
gewiß in den Geld- und VBaluta-Zuftänden zu erkennen. Durch das Papier- 
geld und deſſen ftet3 ſchwankendes Disagio ift Defterreich gegenüber jeinen Nad)- 
barftaaten und dem ganzen Auslande gewillermaßen immer auf den Iſolirſchemel 
geftellt; e8 empfindet jeden Schlag in eben dem Grade heftiger, in welchem 


102 Deutiche Rundſchau. 


die Vertheilung auf Viele gerade nöthiger wäre. Die metallifche Geldeirculation 
ftellt,, wie wir willen, unter den heutigen Eulturftaaten einen ſolchen Contact 
her, daß Störungen, welche in der Menge de3 Geldes oder einzelner Güter- 
kategorien vorkommen, durch den Abflug des momentan überflüffigen Vorrathes 
oder durch den Zufluß desjenigen, was augenbliklih an einer Stelle fehlt, in 
fo lange raſch ausgeglichen werden können, als nicht Ueberfluß oder Mangel 
ganz allgemein in jedem Staate auftreten. In den erften Stadien einer heran 
brechenden Krife mindeftens vermag dieje gegenjeitige Ausgleihung eine gewiſſe 
Abhilfe oder Erleichterung zu verichaffen. An einer ſolchen aber hat es in 
Defterreich gemangelt und mangelt es noch fortwährend, weil diefes Wirthichafts- 
gebiet von dem Gold- und Silberumlauf aller übrigen Länder dur das ent- 
werthete, jelbft den größten Schwankungen und Sprüngen untertvorfene Papier- 
geld ausgejichloffen und dem Spiele des Disagio preisgegeben ift. Erinnern wir 
und nur, daß in den drei Jahren vor der Krije das Minimum des Silbercurfez 
im Durchſchnitte des Monat3 October 1872 105,25 betrug, wogegen im Juli 
1870 der Monatsdurhichnitt von 133 verzeichnet ericheint; daß im Jahre 1873 
jelbft der Juni ein Silberagio von 112,5, der Auguft ein ſolches von 104,85 
brachte. Wie jehr ſolche Exceffe zur localen Verſchlimmerung der damals noch 
acuten Krankheit beitragen mußten, bedarf feiner weiteren Auseinanderjeßung. 

Ein drittes, den jpäteren Verlauf der Kriſe in Defterreich erſchwerendes 
Moment liegt endlich darin, daß ganz kurze Zeit vor ihrem Ausbruche eine 
Mehrzahl jolcher commerciellen und induftriellen Unternehmungen, welche bald 
von der allgemeinen leberproduction hart betroffen wurden, aus den Händen 
der alten Belifer in jene von neu begründeten Actiengeſellſchaften überging. 
Diefe Thatſache ift unendlich verhängnißvoll für Handel und Induſtrie in 
Defterreih, und zwar nicht blos für deren gegenwärtige Lage, jondern auch für 
die künftige Enttwicdelung der Dinge. Mehr als die Hälfte aller von 1867 bis 
1873 überhaupt concefjionixten Gejellichaften (1109) waren Induſtrie- und Baus 
Unternehmungen. Allerdings traten von denjelben nur 448 in’3 Leben, aber es 
war daran mehr als genug! Die während jenes kurzen Zeitraumes in Wien 
wirklich entjtandenen Jnduftriegejellihaften nahmen ein Capital von 415,3 
Millionen Gulden, jene in den Provinzen nad) einer Schätzung Neuwirth's etwa 
100 Millionen Gulden, alle zufammen alfo mehr als eine halbe Milliarde nominell 
in Anſpruch. Nominell; denn bedeutendes Aufgeld erhöhte noch gewaltig die 
Summen, welche effectiv jenen Emiffionen von Seiten des Publicums zugetwendet 
wurden. Diejes große Gapital, dejjen bedeutendfte Quoten wieder auf das Jahr 
1872 und die erjte Hälfte 1873, alfo auf die Zeit unmittelbar vor Ausbruch 
der Kriſe, entfallen, follte num der Betrieb nicht blos landesüblich verzinjen, jon- 
dern auch mit Dividenden reichlic; entlohnen. Was nicht 14 bis 20 Prozent 
einbrachte, wurde ſcheelen Auges angejehen und al3 „nicht fteigerungsfähig”“ von 
der Börſe bald bei Seite gejchoben. Nichts natürlicher, al3 dat der Ausbruch 
der wirthihaftlichen Krankheit, zumal in den induftriellen reifen, die größte 
Verwirrung nah ſich ziehen mußte. Wären die Eiſenwerke, Hüttengewert- 
ichaften und Stahlinduftrien, die Majchinen- und Waggonbau-Etabliffements, 
die Papier- und Zuderfabrifen und wie fie ſonſt heißen mögen, in dem Beſitze 


Die Krife in Handel und Wanbel, 103 


ihrer urfprünglichen Eigenthümer und Leiter geblieben, jo hätten fie denjelben 
in den fetten Jahren einen Gewinn abgemworfen, welcher fie reichlich für den 
Entgang in den mageren Jahren entichädigt hätte, die Gefahr, die Kriſe un« 
gebroden zu überwinden, wäre wahrhaftig eine mäßige zu nennen. Nun aber 
waren e3 die neuen Actionäre, Perfonen, die ihren Antheil an diefen Unter- 
nehmungen fich eben erft um ſchweres Geld erworben hatten, denen nad) kurzer 
Dividendenfreude der ſchwarze Strich durch die Rechnung gezogen wurde. So 
traf der Berluft im erften Momente zumeift eine ganz andere Gruppe von 
Leuten, al3 diejenigen, welche vorher die Gewinne eingeheimft Hatten; er traf 
Unternehmungen, welche noch gar nicht, oder nicht in genügendem Maße, jene 
Sicherftellungsmittel des induftriellen und kaufmänniſchen Betriebes anzuwenden 
vermocht hatten, die als kräftige Reſerve- oder Amortijationsfonds zum 
Schutze gegen unvorhergefehene Störungen und Gefahren al3 jelbftverftändlich 
vorauögejeßt werden. Wie ganz anders ift die Lage eines Jnduftriellen, der in 
florirender Zeit einen großen Theil jeiner Anlage aus dem reichen Ertrage des 
Unternehmens abjchreibt, daher mit vermindertem, eine geringere Verzinſung 
erfordernden Capitale in die böje Periode der Stagnation übertritt, al3 die 
eine3 neuen jpeculativen Unternehmens, welches oft no an Gründungsſpeſen 
zu laboriren und nicht3 oder wenig amortifirt hat. So wurde die Großinduftrie 
und ein guter Theil der Gewerbe in Defterreich nicht durch die allgemeine Welt- 
lage, ſondern auch noch durch Iocale Urſachen in den innerften Fugen erichüttert. 
Von derdurd die Krije betroffenen Großinduftrie und dem Actienweſen pflanzte 
ſich der Stoß auf die gleichartigen Privatinduftrien und Gewerbe in verderb- 
licher Schnelligkeit fort. Die Bilanzen der Actiengeſellſchaften und die ftet3 
herabſinkenden Coursnotirungen ihrer Papiere bildeten nun gemwifjermaßen das 
immer vor den Augen de3 ganzen Publicums aufgeftellte Barometer, an deſſen 
Skala von Tag zu Tag der Rückgang des productiven Lebens zur allgemeinen 
Entmuthigung abgelefen werden konnte. Diejenigen unter diefen Unternehmungen, 
welche Liquidiren mußten, gaben zu Nothverfäufen und Erecutionen den Anlaß, 
in Folge deren die Preije einzelner gewerblicher Erzeugniſſe noch rajcher herab- 
gedrückt wurden, al3 das veränderte Verhältnig don Angebot und Nachfrage 
allein gerechtfertigt hätte. So zog der Fall des Einen den Sturz des Anderen 
nad) ſich, wie e8 immer in ſolchen Zeitläufen geht. Namentlich aber find die 
eben geichilderten Verhältniffe der jüngften Vergangenheit darum tief zu beflagen, 
weil fie nicht blos den Niedergang ungemein beichleunigen, jondern weil fie 
auch bejorgen laflen, daß die Erholung, an welche wir doch für die nächjte 
Zukunft ſchon gerne denken möchten, nur jehr langjam erfolgen werde. Wenn 
wieder Beftellungen ji mehren, wenn die auffteigende Gonjunctur beginnt, 
werden in Defterreih — To fteht zu befürchten — für ganze Gruppen von Pro= 
ductiongzweigen nicht die Unternehmer, nicht die im guten Stande erhaltenen 
Fabriken, nicht die gehörigen Mafchinen, nicht die gefchulten Arbeiter zur Hand 
jein, um raſch auszuführen, was verlangt wird. Dauert die hroniiche Krank: 
heit noch eine Zeit lang fort, twie bisher, jo werden viele und wichtige Glieder 
in dem Organismus der öfterreichiichen Volkswirthſchaft erfterben, fie werden 
einer Wiederbelebung nicht mehr fähig fein. 


104 Deutſche Rundſchau. 


In der That iſt es nicht der landläufige Peſſimismus, der uns die Feder 
führt; es iſt die objective Beobachtung der Thatſachen, welche einen ſo düſteren 
Ausblick in die Zukunft eröffnet. Die verſchiedenſten Anhaltspunkte drängen dazu; 
die Berichte der Handelskammern, die Handelsausweiſe, die ſteten Liquidationen 
und Fallimente, die fortwährenden executiven Verkäufe, die merkwürdigen Ein— 
blicke in die ſocialen Zuſtände im Großen und Ganzen — Alles beweiſt, daß es 
fürwahr „in feiner früheren Epoche Oeſterreich beſchieden war, jo lange und fo 
ſchwer wie jet die Ausichreitungen zu büßen, welche Leichtfinn, Gewinnſucht und 
jinnlojes Wagen auf wirthichaftlihem Gebiete verſchuldet Haben.“ Aber nicht 
allgemeine Behauptungen, fondern pofitive Wahrnehmungen jollen uns leiten, 
um über die jegige wirthichaftliche Lage Defterreich3 ein richtiges Urtheil zu füllen. 

Man kann immer ein Gejammtbild über die Bilanz des Volkshaushaltes in 
großen Zügen entwerfen, wenn man den Gang des Außenhandels in Verbindung mit 
dem gleichzeitigen Gange der inneren Erwerbsthätigkeit ftatiftiich verfolgt. Im ein- 
fachſten alle, wo Artikel in Frage kommen, welche ein Land nur von Außen bezieht — 
wie Kaffee, Thee, Baumtolle, in manchen Ländern aud) Wein, Zuder u. dal. —, 
zeigt die Höhe der Nettoeinfuhr nad Abzug der Vorräthe Thon den wirklichen 
DVerbraud an. In der Regel hat man e3 aber mit Artikeln zu thun, die nicht 
blos von Außen zugeführt, jondern auch im Inlande ſelbſt erzeugt und an andere 
Länder verkauft werden. In diejen Fällen leitet uns nur jene combinirte Größe 
zu rihtigen Schlüffen, welche wir aus den Veränderungen des auswärtigen Handels 
im Zujammenhange mit der Abnahme oder Zunahme der eigenen productiven 
Thätigkeit gewinnen. Inter diefer Rückſicht in's Auge gefaßt, trägt nun das 
MWirthichaftsleben Defterreich3 ſeit 1873 die hippokratiſchen Züge des finkenden 
Dollswohlitandes an ſich. Die Zufuhr von nduftrieerzeugnifien aller Art, 
welche bei ftetiger Erweiterung de3 gewerblichen Betriebes in Defterreich in den 
Jahren 1871 bis 1873 ihren Höhepunkt erreicht Hatte, fiel dann raſch ab. Von 
1874 bis 1876 kauft Defterreich - Ungarn immer weniger Manufacte im Aus- 
Iande, es jchicft immer mehr feine eigenen Fabricate in alle Welt hinaus, und 
producirt doc im großen Ganzen daheim jeit der Kriſe bedeutend weniger als 
vordem. Das Facit iſt aljo, daß das ganze Volk jet einen viel beſchränkteren 
Bedarf an Geiverbeproducten zu befriedigen in der Lage ift, als auf dem Zenithe 
feines jogenannten „wirthichaftlichen Aufſchwunges“. Wir veranfchlagen dieje 
Einſchränkung des eigenen Conſums nach guten ftatiftiichen Anhaltspunften auf 
wenigftens 180 bis 200 Millionen Gulden. Daß die einheimijche induftrielle 
Thätigkeit in Wahrheit eine namhafte Einbuße erlitten hat, dafür liegen Leider 
nur zu viele Symptome vor. Zuerjt das allgemeinfte: der Verbrauch jener Roh— 
materialien, ohne twelche die großen Manufacturen nicht arbeiten können: Schaf- 
wolle, Flachs, Farbſtoffe, Chemicalien u. dgl. In den Jahren 1871 und 1872 
wurden die größten Mengen diefer Dinge vom Auslande nach Defterreich ein» 
geführt; im Jahre 1873 ging es minder gut, im Jahre 1874 wieder ein wenig 
bejjer; für das Jahr 1875 aber zeigt uns das officielle Document de3 Handels— 
ausweijes, daß die wichtigjten Hilfsftoffe der Induftrie in einem ganz auffällig 
geringeren Quantum nöthig wurden al3 in den Vorjahren. Die Verminderung 
der Zufuhren ift von einer Vermehrung der Ausfuhren begleitet, und beide zu— 





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Die Krife in Handel und Wandel. 105 


fammen fignalifiren den Stillftand der Jnduftrie, die ſinkende Kaufkraft des Volkes. 
Man kann diefe Thatjadhen aber auch direct in vielen wichtigen. Zweigen des 
Erwerbes verfolgen. 

Am ſchwerſten wurde von den Schlägen der Kriſe in Defterreich, jo wie dies 
auch in Deutichland der Fall ift und wie wir e8 bereit3 von den übrigen Ländern 
der Welt erwähnt haben, die Eifeninduftrie betroffen. Seit dem Jahre 1873 
find in Gisleithanien allein nahezu 50 Hochöfen außer Betrieb gejegt und über- 
haupt im Jahre 1875 600,000 Gentner weniger Koheijen erzeugt worden, ala 
zwei Jahre vorher. Da gleichzeitig die Einfuhr von Eiſen und Halbfabricaten um 
mehr als 4 Millionen Centner abgenommen, die Ausfuhr um mehr als Y,, Million 
Gentner zugenommen bat, jo muß der Conſum an Erzeugnifjen aus diefem Grund- 
ftoffe aller induftriellen und Verkehrsthätigkeit um weit mehr al3 5 Millionen 
Gentner ſeit der Kriſe gefunfen fein. Gewiß ein bedauerliches Symptom, wenn man 
bedentt, daß nicht der Verbrauch der Seife, wie einft Yuftus von Liebig e8 zum 
Schlagworte gemacht Hatte, jondern daß heutzutage vielmehr der Verbraudy an 
Eijen ein Gradmeſſer des MWohlftandes und Culturlebens geworden ift. Hiemit 
hängt zunädft in verwandten Erwerbszweigen die Thatjadhe zufammen, da der 
Bergbau= und Hüttenbetrieb in der öfterreichiichen Reichshälfte im Jahre 1873 noch 
für circa 85 Millionen, im Jahre 1875 nur noch für circa 68 Millionen Gulden 
Producte lieferte, und daß in allen Zweigen de3 öfterreihiichen Montanweſens 
(ohne die jog. Raffinir- und die in der Staatäregalität ftehenden Salzwerke) von 
1873 auf 1875 circa 10,000 Arbeiter entlafjen wurden. Die Reductionen wurden 
im Jahre 1876, fire welches noch feine ſtatiſtiſche Leberficht vorliegt, in größtem 
Umfange fortgejeßt. Die plößliche Stodung im Eifenbahnbau und der vermin- 
derte Bedarf an Arbeitsmaichinen und Motoren in allen Anduftrien find bie 
Urſache, weshalb ſich der Rüdgang des Wirthichaftens jo intenfiv auf dieſem 
Punkte äußert. Die Majchinenfabriken eines einzigen, allerdings des wichtigſten, 
Kronlandes — Nieder-Oeſterreich — Haben ihren Arbeiterftand von circa 8000 
im Jahre 1873 auf 2700 zu Ende de3 Yahres 1875 vermindern müſſen. Man 
kann danad) ermefjen, wie es in ganz Defterreich - Ungarn ausfieht. In diejen 
Erwerbszweigen find die durch die Krije herbeigeführten Gegenſätze am grelljten 
ausgeprägt: im Jahre 1872 eine Nachfrage nad) Maſchinen, Locomotiven, Waggons 
und Inftrumenten in joldem Umfange, dab Etabliffements erften Ranges Be— 
ftellungen zurücweijen mußten, obwol fie ihre Werkftätten erweiterten, Arbeiter 
aus allen Ländern aufnahmen, an Sonn= umd Feiertagen und mit Zuhilfenahme 
der Nächte ununterbrochen raftlos arbeiten ließen. Mit dem Eintritte der Mai— 
Ereigniffe begann die Lähmung, welche heute bis zu einer vollftändigen Stodung 
des Betriebes gelangt ift. 

Es ift nicht unſere Abſicht, dem Einzelnen weiter zu folgen; aber bei 
einigen Ynduftriegruppen, deren Zuftand zugleich Streiflihter auf das jociale 
Leben wirft, müſſen wir doch noch ein wenig verteilen. Wie die textilen 
Gewerbe überhaupt in Europa und Amerifa minder gewinnbringend wur— 
den, jo auch in Defterreih. Die Verarbeitung von Baumwolle, Wolle und 
Flachs Hat zugenommen, die der Seide wurde ſeit 1875 vermindert. Nun 
ſcheint aus den jtatiftiihen Erhebungen der letzten Zeit hervorzugehen, daß 


106 Deutiche Rundſchau. 


die öfterreichiiche Bevölkerung ebenjo wie jene der anderen von der Kriſe be- 
troffenen Länder den Eoftjpieligeren und entbehrlichen Arten der Kleidung und 
des Schmucdes immer mehr zu entjagen weiß und fich mit billigeren Fabricaten 
zu behelfen ſucht. Baummwollwaaren werden in den beiden lebten Jahren in 
namhaft größeren Mengen eingeführt und im Lande jelbft behalten, als früher, 
wogegen gleichzeitig der Verbraucd) verwandter Artikel auffallende Einſchränkungen 
erfährt. Wir können e3 zwar tvegen des lüdenhaften Beobachtungsmaterials nicht 
mit Gewißheit behaupten, aber alle Anzeichen jprechen dafür, daß die große Maſſe 
der Bevölkerung von Defterreich jeit der letzten Kriſe, ähnlich den Amerikanern, 
al3 fie im Jahre 1857 in gleicher Lage waren, thatſächlich ſchon weniger Be— 
kleidungsſtücke braucht al3 vor drei Jahren, und daß inäbejondere die Damenwelt 
in kluger Einſchränkung ihres ZToilettenbudget3 geringere Summen für Pub und 
Modewaaren auftwendet, al3 in den guten Zeiten vor der Weltausftellung. Unſere 
Ueberzeugung ſtützt fi auf Thatſachen, die für Wien und Niederöfterreich un— 
mittelbar conftatirt find; und was von ber auf dem Gebiete des äußerlichen 
focialen Lebens tonangebenden Metropole und dem Kernlande Deutſchöſterreichs 
gilt, dürfte auch für die übrigen Städte und Provinzen ziemlich zutreffen. Bon 
Wien nun bringt der jüngſt erjchienene vortreffliche Handelsfammerbericht die 
umfangreichiten Daten über dieje intereffanten Erjcheinungen. So wurden in der 
Refidenzftadt und deren nädhjfter Umgebung im Jahre vor der Börjenkrije Seiden- 
waaren im MWerthe von etwa 8 Millionen Gulden, nad der Kriſe im Jahre 
1874 von nur der Hälfte Werth erzeugt ; der Arbeiterftand der wichtigften Fabriken 
nahm faft um ein Drittel ab, aus ganz Defterreih = Ungarn aber wurden im 
Jahre 1875 mehr feine Seidenwaaren ausgeführt, al3 ſeit 10 Jahren, und nur 
ebenfoviel eingeführt, al im Jahre 1872 und 1873. Alfo: eine offenbare Ein- 
ichränfung des eigenen Gebrauches feiner Roben- und Möbelftoffe. Wie mit 
diefen fangen aber die forgfamen Hausfrauen aud) Thon mit Bändern aus Seide 
und Sammet zu jparen an. Im Jahre 1872 jchähte ein Fachmann den Werth 
der gefammten öfterreihiichen Bandfabrication auf 10 bis 12, im Jahre 1874 
auf nur noch 6 Millionen Gulden; die gleichzeitige Veränderung de3 Handels 
würde höchitens eine Abnahme um 2 bis 2, Millionen rechtfertigen; es Tcheint 
aljo, daß für dieſen Toilettenartikel feit der Kriſe um 2 bis 3 Millionen Gulden 
jährlich weniger verwendet wird. Ein Blick in die Werkjtätten der Miodegejchäfte 
betätigt diefe VBorausjehung. In den Wiener Magasins de Robes hatten im 
Jahre 1872 — aljo noch nicht für die fremden Gäfte der Weltausftellung — 
4372 Modiftinnen, Blumenmaderinnen und Appretenrinnen ihre Feenhände an 
der Herftellung zierliher Toiletten zu erproben. Im Jahre 13875 dagegen war 
da3 Heine Heer jener Arbeiterinnen und Lehrmädchen auf 3330 gejunfen; mehr 
ala ein Taufend aus ihrer Mitte waren in der kurzen Spanne Zeit überflüſſig 
getvorden und — ihrem Schidjale preisgegeben! Gleichzeitig jcheint ſich auch die 
Herrenwelt weniger Kleiderlurus zu geftatten; denn die Legion der ehrbaren 
Schneidergejellen ſchmolz von 6600 auf 4240 herab; zwei ein halb Tauſend 
müſſen anderwärts Erwerb ſuchen. Hat die Einführung der Nähmaschine dieje 
Reductionen veranlaßt, oder ift es die Allgewalt der Kriſe, welche in das 
Modenreich dringt, wo doc) nur der gute Geſchmack herrſchen joll? Nach fach— 


Die Krife in Handel und Wandel. 107 


tundigem Urtheile dürfte der größte Antheil dem Sinken des Wohlftandes und 
nicht dem Eingreifen der Mafchine zufallen. Alle Wahrjcheinlichkeit ſpricht dafür, 
da Seit anderthalb Jahren überhaupt die Gewerbe und Kunftinduftrien, welche 
für Aufpuß und Körperihmud arbeiten, einen entjchiedenen Rückgang beklagen. 
Die Herftellung der Spiten, Bobbinet3 und Entoilagen ift ebenjo wie die Kunft- 
ſtickerei in Wien in völliges Stoden gerathen; nur einzelne Atelier3 führen ihre 
Arbeiten noch unter den jchwierigften Verhältniſſen fort; aber die billigen Maffen- 
waaren aus Tarare, Calais, Nottingham müſſen heute den koſtſpieligeren Auf— 
pub erjeßen, welcher früher der heimijchen Arbeit abgenommen wurde. 

Wenn Thon diejer, für mittlere Vermögensverhältniffe noch erſchwingliche 
Luxus eine arge Schmälerung erlitt, jo darf e8 uns nicht Wunder nehmen, daß 
nur ein geringer Theil der Einwohner Oeſterreichs noch genügend mit Glücks— 
gütern gejegnet ift, um Ausgaben für echtes Gejchmeide und Edelfteine nicht zu 
icheuen. In der That ift, wie eine verläßliche Quelle wörtlich bejagt, „der Ab— 
jat von Juwelierarbeiten in Defterreich heute faft auf Null gefunfen!” In guten 
Jahren hat da3 Kaiſerreich 6 bi3 9 Millionen Gulden für Juwelierarbeiten dem 
Auslande zu verdienen gegeben, jeit der Kriſe faum die Hälfte; dagegen nahmen 
die Ausfuhren, befonder3 in jüngfter Zeit, twieder bedeutend zu; ein Beweis, daß 
man die Waarenlager zu räumen jucht; denn von neuen Erzeugnifien kann faum 
die Rede fein, da diejes edle Kunſtgewerbe in Wien gleichzeitig ganz unerhört 
abgenommen hat. Die Bunzirungen von Gold und Silber werden immer weniger; 
die Zahl der Leute, welche bei Juwelieren oder Gold- und Silberarbeitern Wien’3 
arbeiten, vermindert fi ftetig; vor der Maikataſtrophe waren es mindeſtens 1600 
bi3 1700, Ende 1875 kaum noch 1000, und heute follen mur 500 bis 600 Arbeiter 
hier ihren Erwerb finden; auch dieſes Heine Häuflein Joll nur für halbe Tage 
oder einige Stunden de3 Tages beichäftigt fein. Auf diefem Felde hat die Kriſe 
ihre Furchen am tiefften gezogen; auch dem Blicke des Frerneftehenden können ſie 
nicht entgehen, zumal wenn den bisher geichilderten Zuftänden eine andere That— 
ſache zur Seite geftellt wird, die troß ihrer Unjcheinbarfeit doch ungemein ges 
eignet ift, die Zeitverhältniffe zu charakterifiren. In einem Ihönen Winkel Nord- 
böhmens, an den Abhängen des Niefengebirges, in Gablonz, Morchenftern und 
im ganzen Tannwalder Bezirke wird feit mehr al3 einem Jahrhundert eine 
nationale Induſtrie betrieben, welche jich mit der Specialität der ſogenannten Glas— 
quincaillerien beichäftigt. Hohle, geichliffene und gemalte Perlen, echt oder unecht 
vergoldet oder verfilbert, Glasgeipinnfte, Glasdrud und Schleifereitvaaren werden 
von hier allen Märkten der Welt zugeſchickt. Sol es nun Zufall jein, daß ſich 
die Mode gerade wieder in den Jahren 1874 und 1375 diefem Aufpuß mit be— 
ſonderer Vorliebe zumwendet? daß eine ungemein rege Thätigfeit in jenen Glas- 
bläjerwerkftätten erblüht? Der innere Zuſammenhang zwiſchen den Ereigniffen 
wäre unschwer herzuftellen; ſtatt Gold und Silber, ftatt Demant und Saphir 
muß der Glasfluß feine Dienfte thun. Die Damenwelt hat einen jehr billigen 
Ausweg gefunden und der öſterreichiſchen Landichaft einen Theil jener Summen 
befruchtend zugeführt, die in der guten alten Zeit der Gapcolonie oder den cali= 
forniichen Golddiggers zugefloffen wären. 

Nicht blos in diejen Kleinen Wahrnehmungen, jondern auch in großen, all— 


108 Deutfche Rundſchau. 


gemeinen Zügen jpiegelt fi der Einfluß der Maikataftrophe auf das ganze Ge- 
jellichaftsleben in Defterreih ab. Bor Allem in jenen Symptomen ber focialen 
Verhältniſſe, welche am Harjten vor Augen liegen, in dev Ernährungsbilanz 
und der Wohnungsfrage Das ganze Volk gönnt fich Heute quantitativ 
weniger Nahrungs» und Genußmittel, al3 in den üppigen Jahren vor dem Aus— 
bruche der Krije. Nach den Handelsausweiſen und den Erhebungen der Aderbau- 
ftatiftit würde man zu der approrimativen Schätzung gelangen, daß Defterreich- 
Ungarn im Jahre 1875 ungefähr 14!/, Millionen Gentner Brodfrühte und Ge- 
treide im Werthe von etwa 70 Millionen Gulden weniger jelbft conjumirt hätte, 
als in früheren normalen Jahren. Auch bei den übrigen Genußmitteln, wie 
Käfe und Eiern, oder Colonialien und Südfrüchten, Eßwaaren und Tabak, zeigt 
die Handelsbilanz der Jahre 1875 und 1876 eine nad) vielen Millionen Gulden 
zählende Abnahme de3 Verbrauches. Ebenſo wurde von den Schladhtthieren in den 
Sahren 1875 und 1376 eine auffallend geringere Anzahl aus dem Auslande be- 
zogen, und es wurden jo viel mehr Rinder, Schafe, Schweine aus Oeſterreich— 
Ungarn an das übrige Europa im Außenhandel verkauft, daß in diefer Zeit 
entweder der Viehftand gewaltig decimirt oder der Frleiihconfum ganz enorm 
eingeſchränkt worden jein muß. Das Lebtere hat nach den ftädtifchen Auf- 
Tchreibungen und nad) Berichten, welche aus mehreren Theilen des Reiches vor— 
liegen, wahrſcheinlich einen größeren Antheil an der Erſcheinung, als die Ab- 
nahme de3 Viehftandes, für welche ſich übrigens auch ſchon mehrere Anhalts— 
punkte finden. Was die Wohnungsfrage betrifft, jo hat mindeftens für die 
Metropole Defterreihs, wo der Herzichlag des focialen Lebens am Fräftigften zu 
fühlen und am bejten zu beobachten ift, eine officielle Darftellung kürzlich die 
bedauerlichſten Thatſachen enthüllt. Im Stadtrayon von Wien — aljo ganz 
abgejehen von den jo dicht bevölferten Vororten der Refidenz — Hat die Zahl 
der leerftehenden Wohnungen von 1280 im Jahre 1872 ftetig von Yahr zu Jahr 
auf 1472, 4377 und 7967 zugenommen; fie betrug im Herbite des Jahres 1876: 
10,689! Eine große Zahl derjelben entfällt gewiß auf Rechnung der einft mit 
allem erdenklichen Luxus eingerichteten und heute öde ftehenden Bureaux der heim- 
gegangenen Banken, Actiengejellichaften und Gründerconfortien ; aber was erübrigt, 
beiveift zur Genüge, wie jehr die Bevölkerung Wien's, bei gleichzeitiger numerifcher 
Zunahme, in dem Wohnungsauftvande ſparen muß. Es darf uns nicht Wunder 
nehmen, daß dieje Reflexrerjcheinungen bereit3 erjchredend zu Tage treten. „Jeder 
Menſch, der nur Hundert Gulden beſitzt,“ — jo äußerte ſich Fürzlich ein Wiener 
Bankdirector, — „hat bei der diesmaligen Kriſe verloren, und in diejer Beziehung 
ift diefelbe mit feiner einzigen früheren Kataftrophe in Vergleich) zu ziehen.“ Nach 
den Aufzeichnungen aller Genoſſenſchaften von Induſtriellen und Gewerbetreiben- 
den in Wien, welche wir in eine Ueberſicht zufammengefaßt haben, ergibt fich, 
daß die Anzahl der von denfelben bejchäftigten Arbeiter und Arbeiterinnen von 
rund 115,000 im Jahre 1873 auf 96,600 im Jahre 1875, alfo um 18,400 Ber- 
jonen, reducirt wurde, Nur jene Gewerbe find hier nicht inbegriffen, welche für 
die leibliche Nahrung und, wenn wir jo fagen dürfen, für die Zerftreuung jorgen 
ſollen; unter diefen nahm die Zahl der Fleifcher und Bäder ab, wogegen Wien 


Die Kriſe in Handel und Wandel. 109 


troß jeiner Krife jet mehr Gaft- und Kaffeehäufer befit, al3 im Jahre der 
Weltausftellung ! 

Gehen wir um einen Schritt weiter in der jocialen Sphäre. Schon zeigen 
fih, wie in England und Amerika, jo ganz befonders in Defterreih alle Merk— 
male de3 tief greifenden Einfluffes der wirthichaftlichen Miiere auf das Familien— 
leben und auf die Elemente der Volksbewegung. In der cisleithaniſchen Neichs- 
hälfte nimmt jeit 1873 ftetig die Anzahl jener Perjonen ab, welche ihren eigenen 
häuslichen Herd zu begründen vermögen. Im Jahre 1873 gab es noch rund 
195,000 Zrauungen zu verzeichnen; im Jahre 1874 um 6000 weniger, 1875 
wieder um 9000 weniger, nämlich nur noch 180,000, und im erften Halbjahre 
1876 allein twieder um 4000 weniger, al3 in ber gleichen Periode des Vorjahres, 
jo daß wir im ganzen Jahre 1876 wol faum auf 173,000 kommen dürften. 
Wenn Zahlen deutlich ſprechen können, jo ift dies hier der Fall: ein Rücdgang 
der Heirathsfrequenz um 22,000 Paare in drei Jahren! Zwar hat die Erſchwerung 
des Lebensunterhaltes glücklicher Weiſe noch nicht fo weit um fich gegriffen, um 
auch die Anzahl der Geburten und Todesfälle in Defterreich im Ganzen zu be= 
rühren. Es läßt jedoch düftere Yyamilienfcenen ahnen, wenn — wie die Statiftik 
verzeichnet — in den leßten drei Halbjahren die Todtgeburten auffallend häufiger 
vorlommen; wenn die Sterblichkeit im zarteften Kindesalter in einem ungünftigeren 
Verhältniſſe auftritt, al3 e3 gegenüber der allgemeinen Mortalität in normalen 
Zeitläufen der Fall zu fein pflegt; es zeigt tiefe Demoralijation und Berzweif- 
lung, wenn die Zahl der unehelichen Geburten und die der Selbftmorde jo zu— 
nimmt, wie die3 in den letzten Jahren zu beobachten ift. — Caveant consules! 
Es rächt fi an der fommenden Generation, was die Väter verjchuldet haben. 

Die focialen Erſcheinungen, von welchen wir jprechen, beziehen fich auf das 
ganze Land; in den Städten machen fie ſich meiftens noch intenfiver bemerflich. 
Wir würden die Leſer ermüden, wollten wir auch in Betreff diefer letzteren noch 
Details anführen. Es mögen die Thatjachen ohne Ziffern genügen. Die inter- 
nationale Statiftit zeigt, daß in den meiften europäifchen und amerifanijchen 
Großftädten, von welchen nicht weniger als 38 in diefer Beziehung beobachtet 
und kürzlich von Köröfi mit einander in Vergleich gebracht worden find, die Be— 
wegung der Bevölkerung unbeirrt von den Ereigniffen des Jahres 1873 ihren 
normalen Verlauf nimmt. In Defterreich dagegen bewirkt diejes Jahr eine ent- 
Ichiedene Störung; denn in Wien, Budapeft, Prag und Trieft nimmt die Zahl 
der Trauungen jeit dem Jahre 1874, in Wien, Prag und Trieft die Zahl der 
Geburten feit 1875 raſch ab; unter den Todesurfachen aber wird in jenen drei 
Städten die Entkräftung und Altersſchwäche jo auffallend häufiger, daß auch 
minder geübte Blicke jofort die jociale Noth erkennen müfjen, die hier zum Grunde 
liegt. Fügt man diefen Wahrnehmungen noch Hinzu, daß die Selbftmorde in 
feiner Zeit allgemeiner und zahlreicher waren, al3 gegenwärtig, ja daß fie in 
einzelnen Städten fich jeit drei Jahren mehr als verdoppelt haben, jo find die ver- 
nichtenden Spuren gekennzeichnet, welche die von Vielen anfänglich leicht genommene 
Mai-Rataftrophe überall zurüdläßt, wohin fich ihr Lauf wendet. E3 darf uns nicht 
in das geringfte Erftaunen verſetzen, daß dieje tief erſchütternden Folgen noch Lange 
nicht ihr Ende erreicht haben. Wie viele Eriftenzen wurden in den abgelaufenen 


110 Deutiche Rundſchau. 
‘ 


drei Jahren zerftört, wie viele der Armuth und Verzweiflung, der Schande und 
dem Bettel überantiwortet! So jind im Jahre 1876 in Wien allein 333, in den 
öſterreichiſchen Kronländern 709, in Ungarn 514, in der ganzen Monarchie alfo 
1556 Brivatfirmen dem Concurje verfallen, und nicht weniger al3 41 Actien- 
Gejellihaften mit einem eingezahlten Actiencapitale von rund 64 Millionen 
Gulden durch Liqwidationen oder Fallimente Hintweggefegt worden. Der Grad, 
in welchem der Realitätenbefi entwerthet und gefährdet iſt, läßt ſich aus ber 
in den Grundbüchern verzeichneten Thatjache entnehmen, daß im Jahre 1876 im 
großftädtiichen Rayon von Wien allein 755 Realitäten im Werthe von mehr 
als 20 Millionen Gulden unter den Hammer famen: gerade zwanzigmal foviel 
al3 im Jahre 1873. 

So betrübend dieſe Erſcheinungen im Allgemeinen find, jo wenig lafjen 
fie und do an der Heilung und Wiederbelebung der öfterreihiichen Volkswirth— 
Ichaft verzweifeln. Die natürlichen Quellen des Reihthums, welche während der 
Börfenjpeculation ganz in den Hintergrund gedrängt wurden, find noch nicht 
verjiegt. Oeſterreich-Ungarn hat e3 in feiner Macht, durch rationellen Wirth- 
Ichaft3betrieb jener landwirthichaftlichen Kriſe zu begegnen, die ohne tiefere Be— 
gründung von einigen Seiten peſſimiſtiſch prophezeiht wird; e3 kann in normalen 
Erntejahren und bei gehöriger Einrichtung des Getreidehandels auch heute noch 
auf einen jehr einträglichen Erport von Brodfrücdhten hoffen und duch Aderbau 
und Viehzucht namhaftes Einfommen erzielen. Es beſitzt Schäße in feinen Kohlen- 
flögen und Eifenerzen, die wieder zur Geltung fommen müjjen, wenn bie Er- 
fudate der Schtwindelepoche einmal aufgejaugt fein werden. Oeſterreich verfügt 
über induftrielle und gewerbliche Anlagen, deren Lebensfähigkeit ſich am beften 
in jenen letten Jahren bewährte, als e3 nöthig war, das Deficit der Boden— 
production durch Manufacte zu deden, deren Erport jeit dem Jahre 1872 
ftetig in Zunahme begriffen ift. In zahlreichen Kunftgewerben namentlich haben 
die deutichen Kronländer der Monarchie während der abgelaufenen zehn Jahre 
eine Stufe der Vervolllommnung und des Geſchmackes erreicht, die zu den 
Ichönften Hoffnungen berechtigt. Die ganze Gruppe der Kunftinduftrien, von den 
Nippes in Bronze und Leder bi3 zu den mafjenhaft in’3 Ausland gehenden 
Kryitallgläjern, hat jüngſt wieder auf den Ausftellungen in Münden und Phila- 
belphia unbeftreitbare Erfolge errungen; für die meiften Erzeugnifje der jpecifilchen 
Miener Gewerbe, für Galanterie- und Dredhslerwaaren, Kleider und Mode» 
artikel, blieb auch in den ſchweren Zeiten noch auf fremden und vielen über- 
feeijchen Märkten ein regelmäßiger Abjat erhalten. Kurz, die productiven Kräfte 
de3 Landes find zwar gelähmt, fie find vielfady gebrochen, aber fie find nicht 
gänzlich geftorben,; der Erſatz wird fich finden, jobald in ganz Europa der 
Friede wieder gefichert, überhaupt ein regerer Pulsichlag außerhalb Dejterreichs 
beginnen und aus den Nachbarländern, die minder hart von der Krife berührt 
toorden find, ein Eräftigender Lebenshauch hieher iibertragen werden wird. Die 
Frage, wann uns die erfehnte Erlöfung von dem drüdenden Alp der Kriſe ge- 
bracht, von two diefe vorausfichtlich ihren Ausgangspunkt nehmen wird, Führt una 
in’3 deutihe Reich, deſſen wirthichaftlicde Lage wir noch etwas näher in's 
Auge fallen wollen. 


Die Kriſe in Handel und Wanbel. 111 
IV. 
(Die wirthihaftlihen Zuftände in Deutihland. Anfang und Ende ber Srife.) 


In jeinen vor längerer Zeit erjchienenen Anfichten der Vollkswirthſchaft hat 
Wilhelm Roſcher ein Gapitel auch den Krijen gewidmet. Ziehen wir das— 
jelbe heute zu Rathe, jo müfjen wol Jedem die Worte auffallen, die unjer ge- 
lehrter Nationaldtonom über Krieg und Frieden jchreibt: „Dauert ein Krieg 
längere Zeit, dann muß ſich ein Theil der zuexft hervorgerufenen Erfchütterungen 
allmälig wieder in’3 Gleichgewicht jegen. Nur Hoffe Keiner, hiemit jchon die 
ganze Krankheit überftanden zu haben! Mit dem Eintritte des Friedens 
erfolgt in der Regel eine neue Krijis, um fo heftiger, je plößlicher der 
Friedensſchluß gewejen. Man denke nur an die Hunderttaufende von tüchtigen 
Armen, welche nun unvorbereitet zum Pfluge und Webftuhl zurückkehren. Welch’ 
eine Mafje von Arbeit und Capital ift durch den Krieg in die VBerfertigung von 
Munition, Waffen und Kriegsichiffen gelenkt, und diefer ganze, riefenhaft gewach— 
jene Zweig der Volkswirthſchaft muß im Frieden urplölich wieder einſchrumpfen. 
Und noch erjhütternder kann unter Umftänden die Rückkehr de3 Handels in 
feine zwar natürlichen, aber vielleicht lange unterbrodhenen Bahnen wirken.” — 
Die Zuftände des Jahres 1873 jcheinen die Nichtigkeit diefer Anfichten, für 
welche die Geſchichte jchon einige Beiſpiele Liefert, neuerdings in traurigfter 
Meile zu beftätigen. Nicht, ala ob die große nationale That, welche die Einheit 
und Macht Deutſchlands befiegelte, in fich jelbjt den Keim der wirthichaftlichen 
Verwüſtung getragen hätte; aber der Friede hat mit allen jeinen Segnungen, 
mit der freudigen Ausſicht auf langes und ruhiges Schaffen und Wirthichaften 
und mit der Zuverjicht für die Entwidelung der ganzen Zukunft bei jedem Ein— 
zelnen ein Vorwärtseilen, ein wahres Stürmen nad) Erwerb und Gewinn 
hervorgerufen, das die Kräfte Aller überfhäßte und überftieg. In der That 
iſt e8 heute — post festum — gar nicht jchwer, die Umftände zu jchildern, deren 
unglüdliches Zujammentreffen die deutjchen Länder zum Schauplaße der letten 
wirthichaftlichen Kataftrophen machte. 

Da Haben wir zuerft die beglüdenden, aber auch beraufchenden Erfolge der 
beutjchen Waffen. Eine politiiche Gefahr, deren Höhe das ganze Volk zu ermefjen 
verftand, war drohend herangezogen; nad) vielen Opfern an Gut und Blut ward 
fie glängender gebannt, al3 man zu hoffen gewagt hatte: nicht blos durch Kriegs— 
ruhm und Triumphzüge, jondern zugleich durch reichen Ländererwerb und große 
Geldeontributionen! Das Aufathmen nad) überftandener Gefahr brachte in das 
Thun und Treiben des ganzen Volkes eine Lebhaftigfeit, die dafjelbe zu 
wirthſchaftlichen Ueberjchreitungen verführte. Die normalen Bahnen wurden 
verlajjen, und mitten im Siegeslärm begann das Gründerthum jeine erſten Or- 
gien zu feiern. Es fehlte diesmal nicht an einem ganz bejonderen Anlaß, dieſe 
verderbliche Richtung fpeculativer Geifter zu begünftigen; ex liegt in den fünf 
Milliarden der Kriegsentſchädigung, deren raſche Abzahlung in der Gejchichte 
unerhört dafteht und eines der MWeltwunder unjeres Zeitalters bildet; einerjeits 
al® Beweis der ungeahnt großen materiellen Leiftungsfähigleit Frankreichs, 
andererfeits als Erprobung de3 finnreihen Mechanismus, durch welchen jet 


112 Deutihe Rundſchau. 


ungeheure Gapitalsübertragungen in kürzeſter Zeit von Land zu Land voll= 
zogen werden. Man hat gut jagen, die Kriegsmilliarden hätten nicht die Krife 
heraufbeſchworen. Allerdings hätten ſie für fich allein in normalen Zeiten, 
bet richtiger Vertheilung der Summen auf längere Perioden und xationellere 
Quoten, ohne jhädliche Folgen für die deutiche Volkswirthſchaft vorübergehen 
können. Aber in der Art und Weile und unter den ſpecifiſchen Umftänden, wie 
die Abtragung von netto 5400 Millionen Franc in baarem Geld oder in 
MWechleln innerhalb dreißig Monaten thatjädhlich geichah, Liegt unzweifelhaft eine 
der weſentlichſten Beranlajjungen der letzten Krife in Deutichland und aud) in 
Defterreih. Es wurde darüber aus dem Standpunkte jeder Partei jchon jo viel 
gejchrieben, daß e3 wol genügen wird, kurz an einige entjcheidende Umftände zu 
erinnern. Die Einen haben die Kriegsentihädigung einen „befruchtenden Regen“, 
die Anderen ein „Danger-Geſchenk“ genannt; gewiß ift, daß fie als unerwarteter 
und plößlider Zufluß von frei verfügbaren Gapitalien einen unnatürlich ftarken 
Impuls zur Errichtung zahlreicher neuer Unternehmungen geben mußte, und 
zwar auch folder Unternehmungen, die nicht auf dem objectiven Bedürfniffe 
des Marktes berubten, die nicht einer wirklichen Nachfrage nah Gütern ge= 
nügen, jondern nur überhaupt in's Leben gerufen werden jollten, um da3 
Capital unterzubringen und einen momentanen Gründungsgewinn abzuwerfen. 
An die Stelle des ruhigen Erwägens trat wegen der unerhörten Leichtigkeit 
der Gapitalsbeihaffung eine kritikloſe Neberjpeculation, deren Symptome in 
Deutihland und deſſen öftlihem Nachbarſtaat ziemlich gleichzeitig an’3 Tages— 
licht kamen. Unzweifelhaft wurden große Theilbeträge der Milliardenzahlung 
zur Umwandlung der beftehenden Einzelgejchäfte in Actiengejellfchaften, zu uns 
gemeffener Erweiterung ihres Betriebes und zur Gründung ganz neuer, ſchwindel⸗ 
hafter Unternehmungen verwendet; denn viefige Gapitalsfummen, die früher in 
Reichs- und Landesichulden und in ficherften Werthpapieren angelegt waren, 
wurden an diefen Stellen frei und an andere hingelentt, wo ihnen ein leichter, 
reicher Gewinn zu winfen jchien. „So lange der Schwindel dauerte und alle 
Melt fih der Illuſion unermeßlicher ReichthHumsvermehrung bingab, konnte 
man freilich den Beweis der Erfahrung noch nicht beibringen; ſeit der mit dem 
„Wiener Krach“ im Mai 1873 eingetretenen Reaction ift er aber handgreiflich 
geworden.“ 

Don allen aus Frankreich nach Deutichland gewanderten Gapitalien wurden 
bi3 vor Ausbruch der Kriſe nur circa 875 Millionen Mark zur Dedung ver- 
jchiedener Ausgaben der eigentlichen Kriegsentihädigung, mithin für ſolche 
Zwecke verivendet, welche als Erjat vorheriger Verlufte gelten konnten. Alles 
Uebrige fam mehr oder weniger neuen Anlagen zu Statten; jo die dem 
Reichs-Invalidenfond zugewiejenen 561 Millionen Mark, welche fruchtbringend 
zu dverivenden waren; jo weitere 124 Millionen Mark, welche dem Reichskanzler 
für die Marine, für da3 Reichstagsgebäude u. ſ. w. zur Verfügung fanden, 
und endlich jene auf mindeftenz 2700 Millionen Mark zu veranjchlagenden Beträge, 
welche zur Tilgung der für den Krieg contrahirten Anlehen dem norddeutichen 
Bunde und den Jüddeutichen Staaten zugewieſen wurden. Bliden wir auf 
diefe Summen und den Nachweis des Reichsfanzleramtes, daß vom Friedens— 


Die Kriſe in Handel und Wanbel, 113 


ſchluß bi3 Mitte 1873 im deutjchen Reiche direct 450 Millionen Mark in Schuld» 
verichreibungen, Prioritäten, Pfandbriefen, Communalpapieren, ausländifchen 
Fonds und Wechfeln zinstragend angelegt worden waren, jo darf uns die 
Gapitalsüberfülle und die ihr auf dem Fuße folgende Gründungswuth in 
Deutichland und deſſen Nachbarländern nicht Wunder nehmen. Sie brad) im 
preußiihen Staate und an der Berliner Börſe bekanntlich am eclatanteften, 
nebenher aber auch an einigen Pläben Süddeutſchlands bald mit vernichtender 
Gewalt aus. Einige große Zahlen mögen uns zur Charakterifirung dieſer Zu— 
ftände geftattet fein. Ir ganz Preußen wurden, nad) Engel’3 intereffanten Nach— 
weifen, vom Ende des vorigen Jahrhunderts bis 1870 nur 410 Actiengeſellſchaften 
mit einem Capital von 3078 Millionen Mark errichtet; dagegen rief die 
Schwindel- und Milliardenperiode von 1870 bis 1874 857 Actiengeſellſchaften 
mit einem Capital von 4290 Millionen Mark, d. h. in vier Jahren doppelt jo viele 
Unternehmungen mit einem Drittel mehr Capital in’3 Leben, ala in den vollen 
fiebzig vorhergehenden Jahren! Das jind fürwahr Sprünge, deren lebten man 
ein Salto mortale nennen darf. 

Unbeilvoll genug traf in Preußen mit dem Zeitpunkte der Hriegsentichädi- 
gung eine Reform der Actiengeleggebung zuſammen, welche für fich 
allein einen Wendepunkt in der Wirthichaftsgeihichte dieſes Staates bezeichnet 
hätte. Statt der früheren jtaatlichen Bevormundung wurde die Freiheit des 
Actienweſens — am 11. Juni 1870 — geſetzlich zum Principe erhoben. Einige 
Jahre vorher hätte diefer Schritt äußerlich weniger zu bedeuten gehabt, denn damal3 
legten die bejchränfteren Wirthichaftsverhältniffe dem Speculationägeifte die 
nöthigen Zügel an; wie ganz anders nad) den erften Siegesbotichaften von Weißen- 
burg und Wörth, nach dem Tage von Sedan und der Capitulation von Paris. 
Die Sadjlage war mit Einem Schlage geändert. „Früher war die Errichtung von 
Actiengejelichaften faft ausnahmslos nur Mittel zum Zweck und zwar zum 
Zweck einer productiven Unternehmung; nachher Hingegen wird fie Selbſtzweck, 
infofern nämlich, al3 e3 fich für die Unternehmer in der großen Mehrzahl der 
Fälle vorwiegend darum handelt, bereit3 vorhandene Werthobjecte in ideelle Ans 
theile, in Actien, zu zerlegen, Iucrative Geſchäfte zu machen, im Uebrigen aber 
je eher defto beſſer die neue Gejellichaft ihrem Scidjale zu überlaffen.“ Dies 
ift die Signatur der Zeit von 1870 bis Mitte 1873; nicht Exträgniffe, ſondern 
Gründer: und Cursgewinne jollte die Friedensära den erfindungsreichen Actien— 
ſchwindlern bieten. 

Der organische Zuſammenhang zwiſchen Kriegsentihädigung und Kriſe ift 
aber nicht blos durch die bisher bezeichneten Glieder in der großen Jette des 
Wirthſchaftslebens vermittelt worden, jondern er ift noch im einer anderen 
Gruppe von Erſcheinungen zu verfolgen. Die fünf Milliarden haben dem deut» 
chen Volke eine Mafje von Zahlungsmitteln zugeführt, die in allen Adern des 
Verkehr eine wahre Plethora hervorrufen mußte. Die ganze Kriegscontribution 
überftieg um das Dreifahe die zu Anfang des Yahres 1870 in Deutjchland 
umlaufenden oder in den Reſervoirs der Banken bewahrten Geldvorräthe. Zwar 
wurde nur ein Theil jener Zahlungen (etwa 220 Mill. Darf) effectiv in baarem 
Gelde oder in Geldftoff geleiftet; aber der Einfluß machte ſich doch on bemerk⸗ 

Deutſche Rundſchau. III, 7. 


114 Deutſche Rundſchau. 


bar. Nach einem Anſchlage Ad. Soetbeer's hat die Circulation deutſcher 
Münzen allein innerhalb des dreijährigen Zeitraumes von 1870 bis 1873 um 
600 bis 700 Millionen Mark zugenommen, indem ſie ungefähr von 1400 auf 
2100 Millionen Mark durch die neuen Reichsgoldmünzen vermehrt wurde. Was 
an fremden, insbeſondere franzöſiſchen Münzen im großen kaufmänniſchen Ver— 
kehr, in Baarbeſtänden und in den Händen der Speculation außerdem zur Ver— 
mehrung des flüſſigen Geldes in Deutſchland nach dem Kriege mehr vorhanden 
war, als vor demſelben, entzieht fich begreiflicher Weile jeder Controle; es 
darf jedoch ebenfalls nicht gering geſchätzt werden. Die nächſten Conſequenzen 
dieſer Geldüberfülle Deutſchlands waren in jenen Jahren die nämlichen, wie 
allemal unter gleichartigen Umſtänden: das Geld ſank in ſeinem eigenen Werthe 
und bewirkte eine allgemeine Theuerung. Die Geſchichte erzählt eine ganze Reihe 
analoger Fälle; fie berichtet beiſpielsweiſe ſchon von der Theuerung in Griechen— 
land im Zeitalter nach dem peloponneſiſchen Kriege, als durch die Verausgabung 
des perikleiſchen Schatzes der Münzumlauf vermehrt wurde; die Geſchichte ver— 
zeichnet insbeſondere auch ein uns näher liegendes Ereigniß aus dem Karolingiſchen 
Zeitalter, wo der Sieg der Franken über die Avaren (im Jahre 788) und die Ver— 
theilung der avariſchen Beute eine ſolche Entwerthung des Geldes bewirkte, daß die 
Lebensmittelpreiſe um ein volles Drittel ſtiegen. So mußte auch das Kriegs— 
gold als Reichsgold in Deutſchland in den Jahren 1871 bis 1873 eine unnatürliche 
Steigerung aller Preiſe und Löhne hervorrufen, welche im erſten Augenblicke 
überall Ausſichten auf hohen Gewinn eröffnete, der Speculation ein üppiges Feld 
für neue Pläne und Anlagen zeigte und die leidenſchaftlichen Tendenzen der 
Gründungen beförderte, ohne ſchließlich den Zuſammenbruch aufhalten zu können. 
So hoch wir die Wichtigkeit der Münzreform und der anderen wirthſchaftlichen 
Maßregeln unter dem Geſichtspunkte der großen politiſchen Ziele Deutſchlands ver— 
anſchlagen, jo haben fie doch die ruhige Löſung der Dinge weſentlich complicirt, und 
es hat die neue Bankgejeggebung die Heilung der Krankheit eher verzögert als be— 
günftigt. Weit entfernt, der Goldwährung oder der Reichsbank eine Schuld an der 
Kriſe und deren chronischer Fortdauer beizumefjen, können wir doch den Einfluß 
nicht überſehen, den dieje wirthichaftliche Neugeftaltung auf die erregten Zeiten und 
Menjchen nehmen mußte. Die competenten Stimmen haben fich neueften® mit 
überwiegender Majorität zu Gunſten de3 Neberganges von der Silber- zur Gold- 
mwährung ausgeſprochen; auch den Zeitpunkt, welchen der Reichskanzler dafür 
wählte, fann man aus vielen Opportumität3gründen billigen. Nicht minder 
laſſen fih vom Standpunkte der politiihen und wirthichaftlichen Einheit des 
deutichen Reiches, jowie der nationalen Bankpolitik jene jpäteren Geſetze 
rechtfertigen, welche die Pluralität der Zettelbanfen durch die Gentralijation des 
Notenweſens auszutilgen traten. Aber unleugbar hatten alle diefe Reformen 
auch ihre Schattenjeiten in einem Augenblide, wo die Grundpfeiler de3 ganzen 
Wirthichafts = Gebäudes durch Riefenmächte erichüttert waren, wie im leßten 
Quinquennium. 

Die genauere Prüfung der Urjachen, weshalb in unferer Zeit Kriſen jo 
häufig wiederfehren, hat bekanntlich zu der Ueberzeugung geführt, daß die groß— 
artigen Dimenfionen, in welchen fi Production und Welthandel betvegen, und 


Die Kriſe in Handel und Wandel. 115 


die tweitverzweigte Theilung der Arbeit wejentlich zu diefer Wirthichaftsplage bei- 
tragen; denn fie machen jede Meberficht über das Wirthſchaften unmöglich, bilden 
aljo eine Quelle von Ausschreitungen, deren man ſich zu ſpät bewußt wird, um 
ihnen rechtzeitig Einhalt zu thun. Dieſes Ariom läßt und wol am beften die 
Gefahren ahnen, welche mit der völlig neuen Ordnung des Münz- und Bank— 
weſens unmittelbar nad) dem deutjch-franzöfiichen Kriege heraufbeſchworen wur— 
den. In dem fünfjährigen Zeitabjchnitte von Ende 1871 bis Ende 1876 wurde 
im deutſchen Reiche der Vorrath an Silbermüngen von rund 1172 auf 500 Millionen 
Mark vermindert, nämlich die Dienge von 672 Millionen Mark Silbergeld aus dem 
Berfehre eingezogen. Dagegen wurde der VBorrath an Goldmünzen von ettva 530 auf 
1854 Millionen Mark erhöht, aljo die Menge von 1324 Millionen Mark Gold 
mehr in Umlauf gebradt. Das Geld gleicht dem Blute, indem e3 in den Adern 
der Volkswirthſchaft circulirt wie der Lebensſaft im thierifchen Organismus; die 
raſche Veränderung in der Conftitution des Geldumlaufes mußte alfo auf Handel 
und Wandel einen Einfluß nehmen, gleich einer Blutkrankheit; und er hat fidh 
in der Krije fürwahr deutlich genug manifeftirt. 

Aehnliches wie vom Metallgelde gilt von der Reform des Notenweſens. 
Die deutjchen Zettelbanfen, und an ihrer Spibe die preußifche Bank, hatten vom 
Schluffe des Jahres 1871 bis Mitte 1873 die ungededten Noten um beiläufig 
200 Millionen Mark vermehrt und in jenen Jahren überhaupt eine Maſſe von rund 
1000 bis 1360 Millionen Markt Geldjurrogate der deutichen Volkswirthſchaft 
geboten. Dieje trügeriichen Belebungsmittel zu dem Staat3papiergeld und den 
Kriegsmilliarden Hinzugefügt, mußten wol den Verkehr außer Rand und Band 
bringen und beraufchend auf die Speculation einwirken. Durch das Bankgeſetz 
vom 14. März 1875 wurde diefer gefährlichen Notenwirthichaft allerdings ein 
Ende gemacht; aber zu jpät! Dem Unheil gegenüber, welches Metall- und 
Papiergeld in der Gründungsperiode angerichtet haben, verhallt dieje befjere Ein— 
rihtung wie einft das „redde mihi legiones meas‘“ de3 römischen Imperators. 

Rejumiren wir die Urſachen, welche die Keime der Kriſe in Deutjchland 
bilden, jo find es: janguinifche Hoffnungen des ganzen Volkes, ein überreicher 
Strom von frei verfügbaren Gapitalien, die Geldüberfülle, und eine Reihe 
groß gedadhter, auf hohe politiiche Ziele gerichteter wirthichaftlicher Refor- 
men, welche die Neigung zur Krankheit erhöhten. Alle diefe Keime zuſam— 
men genommen — dad muß ausdrüdlich beigefügt werden — würden den 
Ausbruch der Krife nicht veranlaßt haben, wäre nicht gleichzeitig mit ihnen 
Deberjpeculation und Ueberproduction eingeriffen, die in den wildeften Aus» 
Tchreitungen und dem ungezügelten Gründertreiben der Börſen zu Tage trat. 
Was mit kluger Einſchränkung den Wohlitand auf feinen Höhepunft ge- 
bracht hätte, verkehrte fih nun in’s Gegentheil und ward zur Krankheit 
de3 ganzen Volkes, Wir haben nicht die Abficht, der bekannten Vorgänge 
zu gedenken, welde fi vom Spätherbfte 1873 angefangen auf den nord= und 
ſüddeutſchen Börſen und Handelspläben in geradezu erſchütternder Weiſe voll- 
zogen. Man hat diefe Dinge von einigen Seiten jchon einer gründlichen Er- 
wägung unterzogen, zumeijt jedoch in einer leidenſchaftlichen Broſchüren-Literatur, 
in Senjations-Pamphleten und Partei-Flugſchriften jo breit getreten, daß es ein 

gr 


116 Deutihe Rundſchau. 


höchſt undankbares Geſchäft wäre, nochmals davon zu ſprechen. Die nachweis— 
baren Folgen ſind ein genügender Maßſtab, um mit Vermeidung aller perſön— 
lichen Gehäſſigkeiten ein ſtreng objectives Urtheil zu fällen. 

Obenan ſteht auch im deutſchen Reiche, wie in Defterreich der ‚„Reinigungs- 
proceß‘ auf dem Gebiete der mobilen Werthe, der Actiengejelichaften. „Von 
den jämmtlichen Gründungen der Jahre 1871 bi 1873" — fo wird über die „Phy— 
fiologie der Gründungen‘ gejchrieben — „find eine verſchwindend Kleine Anzahl 
heute noch in gefunder und Hoffnung erregender Lage; bei weiten die meiften find 
theils zu Grunde gegangen, theil3 find fie auf dem unausweichbaren Wege zum Ruin 
und günftigften Falls noch zu einem jahrelangen Siehthum verurtheilt, ehe fie 
auf eine Heilung rechnen können.” Nach den gründlichen Unterſuchungen Engel’3 
betrug die Entwerthung der Papiere des Berliner Eurszettel3 zu Ende de3 Jahres 
1875 gegenüber dem Stande von 1872 nicht weniger al3 3300 Millionen Marf. 
Diefer enorme Berluft oder Curswerthsrückgang würde nämlich die einzelnen Bes 
fißer jener Effecten unter der Borausjegung getroffen haben, daß jämmtliche Papiere 
ihren Markt nur an der Berliner Börje gehabt hätten, alſo der dort eingeriffe- 
nen Baille zum Opfer gefallen wären. Da aber andere europäiiche Börfen, wie 
beijpieläweije die Wiener und die nordamerifanijchen Pläße, in ebenjo intenfiven, 
wenn nicht intenfiverem Grade von den Ereigniſſen des Jahres 1873 erfaßt 
wurden, jo ift dieſe Berluftziffer nicht fictiv, jondern fie ift in Wahrheit zu 
verzeichnen. 

Die Effectenkrije war nur eine unter den vielen Formen, in welchen die 
Ueberproduction eingeleitet und die Störung des wirthichaftlichen Gleihgewichtes 
verichuldet worden war. Die Ziele des entfefjelten Unternehmungsgeiftes lagen 
aud) in der übertriebenen Ausdehnung des großinduftriellen Betriebes und der 
Verkehrsmittel. Da jehen wir in wenigen Jahren in Berlin allein 32 neue 
Bergwerf3- und Hüttengejellihaften, meift auf Kohle, Eiſen und Stahl gerichtet, 
entjtehen und ein Capital von circa 160 Millionen Mark abjorbiren; fie brachten 
e3 zu Wege, daß im deutjchen Reiche vom Jahre 1870 bis 1873 die Kohlen- 
förderung um 230 Millionen Zolleentner vermehrt wurde; dat die Production 
bes Roheiſens in derjelben Spanne Zeit um faft 2 Millionen Gentner, und daß 
in gleihem Berhältniffe die Erzeugung von Stabeilen, Schienen, Bled und 
Stahl in jprungweiler Steigerung zugenommen hatte. Ale Anlagen diejer Art 
wurden in der Periode der Vertrauenzjeligkeit in einem Umfange betrieben und 
in Dimenfionen erweitert, daß fie jelbit für den extremften Bedarf des Jahres 
1873 zu viel geliefert hätten, normalen Zuftänden oder einer ſinkenden Con— 
junctur gegenüber jedoch an den Abjat ihrer Vorräthe nicht denken dürfen. Die 
Eijen- und Stahlfrije war unausbleiblid, und fie ift im deutjchen Reiche 
al3 die prägnantefte Erſcheinung der lebten Krankheit faſt ebenbürtig neben die 
Effecten-Ueberproduction zu ftellen. Der Zufammenhang diefer Zuftände mit dem 
Eijenbahnbau ift naheliegend; die rapide Zunahme der Schienenftraßen in allen 
Ländern der Welt von 1871 bis 1873, auf welche wir oben hingewieſen haben, 
verivirrte auch die jpeculative Vorausficht der deutjchen Hüttenwerksbeſitzer; 
al3 mit dem Hereinbruch der Krije der Rückſchlag im Bahnbau und der plößliche 
Sturz der Preiſe von Eifen, Schienen und allem Vtateriale erfolgte, ftanden fie 


Die Kriſe in Hanbel und Wandel. 117 


vor den äußerften Gefahren, die noch keineswegs als befeitigt anzujehen find. 
Daß der Maſchinen- und Locomotivenbau am ärgjten mitgenommen find, ift 
leicht zu erklären. 

Abgeſehen von diefen Zeigen der metallurgiichen Induftrie ift der Einfluß 
der Krife im productiven Leben des deutfchen Reiches viel weniger fühlbar 
getvorden als in Defterreih. Die bisher vorliegenden ftatiftiichen Erhebungen, 
die Berichte der Handeldfammern, ber Gang de3 deutſchen Außenhandel und 
die focialen Zuftände laſſen diefe Behauptung mit einer gewiſſen Zuverficht auf- 
ftellen. Die Krife hat in Deutfchland einen etwas mehr partiellen Charakter 
angenommen, als in Defterreih, weil ihr offenbar durch den tiefer wurzelnden 
Wohlſtand und einen größeren Capitalreihthum, ſowie durch die Fräftige national- 
politifche Neugeftaltung ein größerer Widerftand entgegengejeßt wurde, ala im 
Nachbarlande. Deutichland Hatte nicht blos die gefährlichen, ſondern auch die 
befruchtenden Wirkungen der Milliarden, des neuen Geldweſens und der übrigen 
wirthichaftlichen Reformen ganz fein eigen zu nennen; nach Defterreih dagegen 
gelangten getwiffermaßen nur die Anreize aller diejer Krifenerreger, nicht deren 
nahhaltiger Beftand, und jo mußte es ſchwerer erliegen, als das eigentliche 
Urſprungsland des Impulſes felbft. 

Anfang und Verlauf der Kriſe liegen heute ziemlich offenkundig vor unſeren 
Augen; wir haben ſie auf den vorangehenden Blättern ſchrittweiſe verfolgt. 
Bon 1867 bis 1869 faſt allenthalben eine normale und geſunde Entwickelung 
der wirthichaftlichen Zuftände; hierauf die erften Störungen productiver Thätig- 
feit durch die Vorboten de3 deutjch-franzöfifchen Krieges; der wirkliche Ausbruch 
befjelben und hiemit die Lahmlegung der werbenden Kräfte in zwei der bedeu— 
tendften Vollswirthichaften Europas, unter nahezu 80 Millionen Menſchen. Zu— 
gleich mit der entjchiedenen Wendung des Kriegsglückes zu Gunften Deutſchlands 
läßt fich Schon der Antrieb der Unternehmungsluft verfolgen und mit den Friedens— 
Präliminarien von Verjailles Ende Februar 1871 beginnt die beraufchende Specu- 
lation zuerft in Deutfchland, Hierauf in Defterreich und bald in einer Reihe anderer 
Staaten unferer und der ameritanifchen Welt. Die Anfpannung aller Kräfte in 
Frankreich, um Verlufte, Contribution und andere Folgen rajch zu verwinden, 
gibt weitere gegenfeitige Impulſe zur Ausdehnung der Production auf allen Ge- 
bieten. Das großartige Deplacement der verfügbaren Gapitalien, die Berfchiebung 
ber Umlaufsmittel und die rapid erhöhte Leiftungsfähigkeit auf induftrielem und 
commerciellem Gebiete folgen wie Urſache und Wirkung raſch auf einander; fie 
ſchießen über das Ziel hinaus: die Neberproduction und Neberjpeculation bricht 
zuerft an den ſchwächſten Punkten hervor, wo die geringfte Widerſtandskraft 
entgegengefeßt wird: an den Börjen in Defterreich-Ingarn und fpäter an jenen 
der übrigen Krifenländer. Wieder um einige Zeit jpäter greift die Krankheit 
von den Börjen auf die Waarenmärkte über, veranlaßt jähes Herabfinken der 
meiften Güterpreiſe, namentli in den MWeltinduftrien der Metall- und Tertil- 
zweige. Alles Uebrige, was Handel und Verkehr und fociale Uebel betrifft, er- 
gibt ſich ala natürliche Fortpflanzung des Stoßes von jelbft und fchreitet mit 
der ehernen Naturgejeglichkeit vorwärts in die entlegenften Winkel des Völferlebens. 


118 Deutihe Rundſchau. 


Dem chroniſchen Verlaufe der Krije gegenüber drängt fih gewiß Jedem die 
Trage auf, wie lange dieſe betrübenden und vernichtenden Zeiten noch andauern 
werben. In Dingen politiicher, jocialer und wirthſchaftlicher Ordnung ift e3 
nun freilich ganz unftatthaft, Prognofen zu ftellen. Borherjagungen werden 
nirgends häufiger zu Schanden und Anzeichen trügen nirgends mehr, als in 
biefer Sphäre. Trotzdem ſucht alle Welt nah Anhaltspunkten, um ſich zu 
orientiren. Ginige glauben diejelben vorwiegend in der Geihichte, Andere in der 
Statiftit zu finden. Beides Hat einen Schein von Berechtigung und ift nicht 
zu unterſchätzen. 

Die Geſchichte der Krifen erlaubt, im Allgemeinen als ein Axiom hinzu— 
ftellen, daß jede neue Kriſe von der vorhergehenden ſpecifiſch verjchieden und im 
Umfange immer größer geworden ift. Directe Analogien laſſen fih aljo nicht 
ziehen. Immerhin mögen uns jedod) einige hiſtoriſche Reminiscenzen geftattet 
fein. Von den größten Kriſen bietet vorerft die wegen ihres Urſprunges und 
ihrer Bedeutung erwähnenswertde Hamburger Krife des Jahres 1763 das Bei- 
ipiel des jchleppenditen Verlaufes; denn ihre Nachwirkungen wurden durd) volle 25 
Jahre verjpürt. Im Gegenjate dazu erholte ſich England von der gewaltigen 
Erjhütterung der 1825er Kriſe Schon nad) einem Jahre. Ungefähr ebenjo raſch 
bewältigte Nordamerika die Kriſe von 1814, wogegen e3 unter denjenigen von 
1837 und 1839 faft zehn Jahre lang zu leiden Hatte. Eine der verderblichften 
Erkrankungen der engliſchen und einiger continentaler Volkswirthſchaften, jene 
vom Jahre 1847 endlich, durfte nach ungefähr fünf Jahren als vollftändig über- 
wunden gelten. Alle Umftände leiten uns jedoch nicht jo jehr zu einer näheren 
Parallele der gegenwärtigen mit diejen vorhergehenden, ala vielmehr mit der 
Krije des Jahres 1857, und es dürfte daher wol ein bejonderes Intereſſe bieten, 
die letere noch ein wenig näher in’3 Auge zu faffen. Wir haben uns bemüht, 
nad) den entjcheidenden ftatiftiichen Anhaltspuntten den Wiedereintritt der vollen 
Gejundheit in den von der 1857er Krife zumeift betroffenen Gebieten zu ver= 
folgen, und find zu folgendem Ergebniffe gelangt: Die Vereinigten Staaten von 
Amerika, der Herd diefer Krankheit, hatten deren Folgen noch vor Ausbrud) des 
Bürgerkrieges, d. i. in weniger al3 drei Jahren überwunden; denn in den Jahren 
1860—61 war wieder der Höhepuntt des Außenhandel3 erreicht, die Entwicke— 
lung der Marine und der Eifenbahnbau gingen wieder raſch vorwärts. Die Con- 
jumtion des Volkes, das Erträgnig der Steuern und Abgaben, der Stand des 
Bankweien und der Abrechnungen im New-Yorker Clearing-house, die geringe 
Ziffer der Zahlungseinftellungen, die Rückkehr der meiften Waarenpreije auf ihr 
normales Niveau, die Höhe der Sparkaffeneinlagen und vieles Andere pricht 
dafür, daß im Jahre 1860 die Spuren der Kriſe bereit total verwijcht waren. 
Was England betrifit, jo läßt fi nad) den nämlichen Merkmalen jchließen, 
daß es länger zur vollen Genefung gebraucht hat, al3 jein transatlantiicher Con— 
current. Die Rückkehr in das normale Leben ift exrft in den Jahren 1864 und 
1865 entſchieden zu conftatiren. Außer den Elementen de3 Handels, de3 Bank— 
weſens und ber Verkehrsbewegung find hier inäbejondere die Quantitäten und 
Werthe der Kohlen» und Eifenproduction und der Tertilinduftrien Höchft verläß- 
lie Anhaltspunkte, um diefen Schluß auf die inneren Zuftände zu ziehen. In 


Die Krije in Handel und Wandel. 119 


den beiden zumeift betroffenen Gebieten brachte alſo die große Handelskriſe von 
1857 eine drei= rejpective fiebenjährige Dauer der Nachwehen mit fid. 

Es darf nad) diefen Erfahrungen keineswegs als eine jeltene Ausnahme 
bezeichnet werden, daß Länder während einer ſolchen Reihe von Jahren unter 
dem Einfluffe der Krije jeufzen, wie dies gegenwärtig in Defterreich und Deutich- 
land leider noch in intenſivem Grade der Fall ift. Begreiflich ift die Ungeduld, 
mit welcher Alle nad) dem Ende diejer trüben Zeit blicken, begreiflich der Un— 
muth Jener, die ohne eigenes Verſchulden von der Kriſe ergriffen find; begreiflich 
die Verftimmung, die fi) der meiften Schichten der Gejellichaft bemächtigt. 
Aber die Krankheit muß ihren normalen Verlauf nehmen; fein Heilkünftler der 
Welt vermöchte fie heute durch Kraftmittel oder elektriſche Curen zu bannen. 
Der billige Rath: „arbeitet und ſpart“, hat in einem Augenblide wie ber gegen- 
wärtige feine problematijche Seite, denn Viele, die arbeiten wollen, finden feine 
Unternehmer, und Sparen, d. h. einen Theil defjen erübrigen, wa3 man gewinnt, 
ift ſchwer, wenn man Nicht3 gewinnt! Die einzige Hilfe liegt im Haushalten, 
in der Ausdauer und der im Laufe der Jahre wieder erfolgenden Herftellung 
des Gleichgewichtes durch verminderte Production, Rückkehr der tief geſunkenen 
Nothpreife auf ihr natürliches Niveau und eine gleichen Schrittes damit er- 
folgende langjame Zunahme de3 Verbrauches. 

Die Folgen der, zwei Welttheile erfaflenden, chroniſchen Erkrankung können 
aber nach allen von der Srijenlehre gefammelten Erfahrungen nit auf Einmal 
verſchwinden; fie werden in den verjchiedenen darunter leidenden Wirthichafts- 
gebieten verjchieden lange noch fortdauern und innerhalb jedes Gebietes wieder 
nicht alle Erwerbszweige zugleich, jondern einen nach dem anderen ſucceſſive ver- 
laffen. Im Einzelnen zu verfolgen, wie da und dort ſchon neue Keime der Neu— 
bildung abgeftorbener wirthichaftlicher Gewerbätheile entjtehen, wie die ver- 
lorenen Kräfte wieder erjeßt werden und wie ſich auf den Ruinen der Vergangen— 
heit der Neubau der Zukunft zu erheben beginnt — das gehört zu den ſchwierig— 
ften Aufgaben der analytiichen Unterfuhung. Der Beobachter läßt fi von 
jeinem jubjectiven Standpunkte unbewußt verleiten, bald optimiftifch ſchon die 
Symptome der Beſſerung zu verkünden, bald peifimiftiih zu überjehen, was 
wirklich vielleiht an neuen Anſätzen vorhanden if. Wir warnen vor Prophetien 
in dieſem Kreiſe von Erſcheinungen. Das Eine ſcheint uns jedoch eine berech— 
tigte Annahme: daß die Heilung von der Kriſe in denjenigen Volkswirthſchaften 
beginnen muß, welche durch ihre innere Kraft den Verheerungen derjelben bisher 
verhältnigmäßig am meiften zu wibderftehen vermochten und nicht in allen Theilen 
de3 Organismus ergriffen wurden. Alfo nicht in Defterreich, fondern außerhalb, 
lei e3 in England oder in Deutjchland, dürften wir die erften verläßlichen Sym- 
ptome der Genefung jeiner Zeit zu juchen haben. Trotz der vielen Läuterungen, 
weldhe bis dahin noch bevorftehen, jchreiben wir auf die Pforten der Zukunft 
beileibe nicht Dante’3: Voi ch'entrate lasciate ogni speranza, fondern aus dem 
herrlichen Hoffnungsliede unferes Heimifchen Dichter die Worte: „Zu was 
Beſſerem find wir geboren!“ 





Ueber den Husdruk der Gemüthsbewegungen. 


— — 


Von 
Prof. W. Wundt in Leipzig. 


— — 


Daß die geiſtigen Eigenſchaften und die Seelenzuſtände des Menſchen ſich 
kundgeben in ſeiner körperlichen Erſcheinung, gilt als eine feſtſtehende Wahrheit. 
In unſerem Verkehr mit Anderen laſſen wir fortwährend von den Vorſtellungen 
uns leiten, die wir uns über die Beziehung innerer Vorgänge zu gewiſſen äußeren 
Zeichen gebildet haben. Auf ſolchen Zeichen beruht faſt ganz unſere praktiſche 
Menſchenkenntniß, und aus ihnen ſchöpft zugleich die wirkſamſte aller Künſte, 
die dramatiſche, ihre größten Erfolge. Aber ſo tief auch die Ueberzeugung von 
der Wechſelwirkung des inneren und äußeren Menſchen uns eingeprägt ſein mag, 
und ſo reich die Fülle praktiſcher Erfahrungen iſt, über die wir in dieſer Be— 
ziehung verfügen, ſo werden doch unter Umſtänden ſelbſt Diejenigen, denen die 
Erkenntniß des Menſchen zur wiſſenſchaftlichen Pflicht gemacht iſt, der Phyfiologe 
und der Pſychologe, in nicht geringe Verlegenheit geſetzt, wenn man ihnen zu— 
muthet, über den Grund irgend einer beſonderen Ausdrucksform genauere 
Rechenſchaft abzulegen. In der That, vielleicht auf wenigen Gebieten iſt der 
Weg ſo groß, der zwiſchen der oberflächlichen Kenntniß der Dinge und der Einſicht 
in ihre Gründe liegt. Die erſtere ſteht hier Jedem zu Gebote, mitunter dem 
am meiſten, der ſich am wenigſten Zeit nimmt, darüber nachzudenken; eine 
zureichende Theorie des Ausdrucks unſerer Gemüthsbewegungen gehört aber immer 
noch zu den Deſideraten der Wiſſenſchaft. 

Nicht als ob es überhaupt an Theorien über dieſen Gegenſtand mangelte. 
Die Frage, wie das Innere des Menſchen aus ſeinem Aeußeren zu erkennen ſei, 
hat man ſeit alter Zeit nach gewiſſen allgemeinen Grundſätzen zu beantworten 
geſucht. Aber die meiſten dieſer Beſtrebungen gehören in jene reiche Geſchichte 
abergläubiſcher Verirrungen, die ſich mit der Geſchichte der Wiſſenſchaft nicht 
ſelten ſo nahe berührt, daß es ſcheinen kann, als ob beide während ganzer 
Zeiträume völlig zuſammenfielen. Auch hier hat, wie jo oft, zunächſt das Auf- 
fallende die Aufmerkſamkeit gefeffelt. Da da3 menjchliche Angeficht zuweilen 
bekanntlich an thiertjche Gefichtsbildungen erinnert, jo legte man ſolchen Aehn— 


Ueber ben Ausbrud der Gemüthsbewegungen. 121 


Yichkeiten ohne Weiteres eine tiefere Bedeutung bei. Wer dem Löwen, der Katze, 
dem Hunde, dem Adler oder Habicht irgendwie ähnlich fieht, der jollte auch die 
geiftigen Eigenjchaften des betreffenden Säugethiere oder Vogels in ſich tragen. 
Schon unter dem Namen des Ariftoteles ift eine Schrift auf und gekommen, 
die nach diefem Grundfaße die Bedeutung der Geſichtszüge unterfudht, und dieſem 
Vorbilde folgen die zahlreichen Autoren, die bis in das vorige Jahrhundert 
hinein die fogenannte „Phyſiognomik“ bearbeiteten. Im Mittelalter wurde die 
leßtere außerdem mit der Aftrologie und anderen magiſchen Künften in unmittel- 
bare Beziehung gebracht. Nicht blos erkennen wollte man den Charakter des 
Maenſchen aus feinen Gefichtszügen, jondern man machte fi anheiſchig, aus 
ihnen, gerade fo wie aus den Linien der Hand, fein künftige Schickſal zu Iefen. 
Don Johann Baptift Porta, dem nämlichen, der durch die Erfindung der Camera 
obsceura der Vorläufer der heutigen Photographie wurde, befiten wir ein jeit 
dem Jahre 1593 in öfteren Ausgaben erjchienenes Werk: „de humana physio- 
gnomia“, welches, mit zahlreichen Holzſchnitten geſchmückt, überall menjchliche 
Gefichter und Thierköpfe einander gegenüberftellt. Eine breite Stirn — jo werden 
wir hier belehrt — bedeutet Furchtſamkeit, denn der breitftirnige Ochſe ift 
furchtſam. Eine lange Stirn dagegen zeigt Gelehrigfeit an, wie ein intelligenter 
Haushund beweift, dem die Ehre zu Theil wird, als Pendant zu Plato’3 Geficht3- 
profil zu dienen. Wer ftruppige Haare befitt, ift gutmüthig, da er dem Löwen 
gleicht. Wellen Augenbrauen eintwärt3 gegen die Naſe geneigt find, ift unreinlich, 
wie da3 Schwein, dem er ähnlich fieht. Das jchmale Kinn des Affen deutet 
auf Bosheit und Neid. Lange Ohren und dide Lippen, wie fie der Eſel beſitzt, 
find Zeichen der Dummheit. Wer eine von ber Stirn an gefrümmte Naje hat, 
neigt, wie der Rabe, zum Diebftahl hin u. j. w. Dieſe Thierphyfiognomiter 
ſcheinen einer durchaus pejjimiftiihen Anficht in Bezug auf die menſchlichen 
Anlagen zu huldigen, denn auf ein gutes Zeichen wiſſen fie mindeftens zehn 
ſchlimme aufzuzählen. 

Dieje Vergleihung menſchlicher und thieriſcher Formen, bei der oft die 
änßerlichiten Dinge, wie Bart- und Haupthaar, oder gar der Mangel des letzteren, 
auf die tiefften Charakter- und Gemüthseigenſchaften bezogen wurden, fand zu 
Ende des vorigen Jahrhunderts ihren entſchiedenen Gegner in einem Dtanne, 
defien Name noch Heute mit der nun faft verjchollenen Wiſſenſchaft der 
Phyſiognomik bejonders innig verknüpft ift, in Johann Cajpar Lavater. 
Er hat wenigsten? das relative Verdienft, daß er der menſchlichen Form an 
und für fi ihre Bedeutung zuerfannte. Aber freilich), etwas don dem Geifte 
jener älteren, mit Chiromantif und Aftrologie verſchwiſterten Phyfiognomif Tebte 
auh noch in ihm. Nur verhielt er fi) zu den Phyfiognomilern alten Stils 
etiva ähnlich wie der begeifterte Prophet zum gewöhnliden Wahrjager. Er 
meint den Grundftein einer neuen Wiſſenſchaft zu legen, die auf das religiöſe 
und fittliche Leben der Menjchheit einen ungeahnten, von ihm in orafelhaften 
Ausſprüchen vorausverkfündeten Einfluß ausüben jol. Die vier ftarfen Duart- 
bände „phyfiognomischer Fragmente“ werden heute wol von Wenigen mehr aus 
dem Staube der Bibliothefen hervorgeholt. Selbft der mehrbändige Auszug 
aus denjelben, den ein Verehrer des Verfaſſers verfertigte, dürfte kaum mehr 


122 Deutſche Rundſchau. 


Leſer finden. Den Meiſten aber wird die Geſtalt des Phyſiognomikers aus der 
Schilderung im dritten Theil von Goethe's „Dichtung und Wahrheit“ bekannt 
ſein, namentlich aus jener originellen Rheinreiſe, die der jugendliche Goethe mit 
Lavater und dem ſehr verſchiedenen, aber ebenſo wunderlichen pädagogiſchen 
Reformator Baſedow unternimmt: 

„Prophete rechts, Prophete links, das Weltkind in der Mitten!“ 

Schon aus dieſer Schilderung läßt ſich einigermaßen das gewaltige Aufſehen 
ermeſſen, das Lavater und ſeine Phyſiognomit in der ganzen gebildeten Welt erregte. 
Wir dürfen freilich nicht ganz vergefjen, daß in der Darftellung Goethe’3 das 
milde Urtheil de3 bejahrten Mannes mit dem des Freundes fich vereinigt. Die 
Verbindungen, die der Prophet correjpondirend und reijend zu unterhalten wußte, 
reichten bis in die höchſten Kreife, wie denn jeder Band jeiner Fragmente einem 
anderen regierenden Haupte gewidmet ift. Alle Welt verfertigte Silhouetten und 
Ihidte fie Lavater zu, oder beſchäftigte fi) auf feine Anregung mit der Tyrage, 
wie Chriſtus ausgejehen haben möge. Der Vorſchlag, die Phyfiognomik praktiſch 
zu verwerthen, fie bei der Wahl des Berufs, beim Staat3eramen oder bei An— 
ftellungen zu Rathe zu ziehen, tauchte alles Exnftes auf. Ruft doc) Lavater 
jelbft pathetiih aus: „O ihr Fürften! wenn ihr eure Minifter wählt, jo jeht 
vor allem ihre Najen an!” Wir lachen über ſolchen Unfinn. Aber erinnern wir 
und do, daß auf Lavater Mesmer folgte, der thieriihe Magnetijeur, auf 
Mesmer Home, der Geifterfeher. Es gibt eine Art jocialer Tollheit, die der 
Wiſſenſchaft jo ähnlich fieht, wie der Bajazzo dem König, den er nachmacht. 
In jedem Zeitalter nimmt fie nur wieder eine andere Form an. Ob die heutige 
die gemäßigtere und relativ vernünftigere jei, oder die de3 Jahrhunderts der 
Aufklärung, wer möchte das enticheiden? Nur das Eine ift ziemlich gewiß, daß 
Lavater, wenn er heute unter uns wandelte, ein Spiritift geworden wäre. 

Man jagt: der Stil ift der Menſch. Vielleicht Liege fi mit größerem 
Rechte jagen: die Interpunction ift der Stil. Schwerlich gibt es einen Schrift- 
jteller, der einen jo verſchwenderiſchen Gebrauch von dem Ausrufungszeichen 
gemacht hat, wie Lavater. Seine Rede beivegt ſich fortwährend in Anterjectionen, 
die nur ab und zu einmal von einer oratorijchen Frage unterbrochen werden. 
Die Interjection ift aber bekanntlich nicht diejenige Sabform, welche ſich zur 
Erörterung wiſſenſchaftlicher Wahrheiten eignet. So würde man denn auch auf 
den Zaujenden von großen Quartjeiten, in den Erläuterungen der Hunderte 
von Porträts und Silhouetten, aus denen die Phyſiognomik befteht, vergebens 
nad) einem einzigen Saße fi) umjehen, dem man etiva die Rolle eines wiſſen— 
Ihaftlihen Lehrſatzes zuzuweiſen vermöchte. „Ich bin nicht in der Stimmung 
von Cäſarn zu reden, und wer kennt Cäſarn nicht ohne mein Stammeln? Welche 
verzerrte Refte des erften unter den Menſchen! Schatten von Hoheit, Tyeftigkeit, 
Leichtigkeit, Unvergleichlichkeit find übrig geblieben. Aber die gefräufelte, un- 
beftimmt und nobel zurücdgehende Stivne! Das verzogene, abgejchlappte untere 
Augenlid! Der ſchwankende, abziehende Mund! Vom Halfe jag’ ih nichts, — 
im Ganzen wie eherne, übertyrannijche Selbjtigleit!" In diefem Stil einer 
tajend getvordenen Kanzelberedtjamkeit geht es fort, ganze Folianten hindurch. 

In einem Punkte freilich beeinträchtigte Lavater jelbjt den Enthufiasmus, 


Ueber den Ausdrud der Gemüthsbewegungen. 123 


den er für jeine Sache zu erwecken wußte. Er erklärte, nur die ſchöne Form 
fönne einen geijtig bedeutenden Anhalt bergen, und diejer Sat fand natürlid) 
bei jener Majorität der Menfchen, die leider auf Schönheit feinen Anſpruch 
erheben fann, nicht immer Beifall. Lichtenberg, der in feinem „Fragment von 
Schwänzen“ eine etwas draftiiche, aber durchaus treffende Parodie des Stils 
der Phyfiognomif geliefert hat, betonte nachdrücklich da3 moralifche Unrecht, das 
in jener übertriebenen Behauptung liege. Zugleich wies diejer feine Beobachter 
bereit3 auf das Körnlein Wahrheit Hin, da3 Hinter all’ dem inhaltleeren Gerede 
von der Bedeutung der Phyfiognomie verborgen ſei. Jede ftärfere Gemüths— 
bewegung äußert fi in Bewegungen unſeres Körperd. Aus diefen können wir 
daher auf jene zurücdichließen. Oft wiederholte Bewegungen aber binterlafjen 
in unjerem Angeficht bleibende Spuren. Sie find dann die Zeichen der dauernden 
Gemüthsrihtung eine Menſchen, feiner vorherrichenden Leidenihaften. Damit 
war die Geberde, der Ausdruck unſeres inneren durch die mim iſchen Bewe— 
gungen al3 derjenige Punkt bezeichnet, der in der That einer wiſſenſchaftlichen 
Unterfuhung zugänglich ift. Die hohe Ausbildung, welche die mimijche Seite 
der dramatiichen Kunſt zu Ende des vorigen Jahrhunderts erfahren, und welche 
vieleicht in dem unfjeren mit dem räumlichen Wachſthum der Bühne wieder 
rückwärts gegangen ift, mochte wol dazu beitragen, diefem Gegenftande die 
Aufmerkjamteit des Aefthetiferd und des piychologifchen Beobachterd zuzumenden. 
Sind dod die Betrachtungen, zu denen Lichtenberg ſelbſt durch die Leiftungen 
des engliſchen Schauſpielers Garrick angeregt wurde, und vor Allem jene Analyfe, 
welche Leſſing von Eckhof's Spiel gegeben, heute noch wahre Perlen unjerer 
dramaturgifchen Literatur. Auch in Joh. Jacob Engel’3, des Aufklärungs— 
philofophen, „Ideen zu einer Mimik“ ift ein anerkennenswerther Verſuch gemacht, 
aus den Schöpfungen der vergänglichiten aller Künfte gewiſſe Regeln des Aus- 
drucks zu abftrahiren. 

Wenngleich bei allen diefen Arbeiten zunächit das äfthetiche Intereſſe im 
Vordergrund fteht, jo enthalten fie doch einen Schaf feiner Beobachtungen, To 
daß man e3 nicht allzu ſchwer Halten jollte, von ihnen ausgehend auch dem 
pſychologiſchen Urfprung der mimiſchen Bewegungen nachzuſpüren. Leider aber 
find in diefer Beziehung jene Anregungen völlig fruchtlos geblieben. Statt 
dejlen twandelte man auf dem Irrweg der Phyfiognomik weiter. Schon Lavater 
hatte die feften Umriſſe des Angeficht3 gegenüber den wandelbaren Formen 
bevorzugt. Daher jeine jeltjame Behauptung, aus der Silhouette laſſe fi 
der Charakter eines Menfchen beſſer erkennen, ala aus dem Porträt! Bon hier 
war nur noch ein Heiner Schritt zu jener Lehre, die, im Anfang diejes Yahr- 
hundert3 begründet, Heutzutage noch immer einzelne Propheten und Anhänger 
findet, zue Bhrenologie. Die Unhaltbarkeit der Vorausſetzungen, auf welche 
dieje Pjeudowifjenichaft gegründet ift, bedarf faum einer näheren Erörterung. 
Schon die geijtigen Eigenjchaften und Fähigkeiten, welche die Phrenologen unter— 
ſcheiden, laſſen Alles, was die ältere Piychologie in unzureichender Elaflification 
der inneren Erfahrung jemals geleiftet hat, weit Hinter fi). Aus Ortsfinn, 
Spradfinn, Yarbenfinn, poetiſchem Talent, Selbjtvertheidigungstrieb, Sad)- 
gedächtniß, Wortgedächtniß u. dergl. ſoll fich unfer geiftiges Leben zufammen- 


124 Deutiche Rundſchau. 


ſetzen. Jeder dieſer Inſtincte ſoll eine befondere Gehirnprovinz ala fein Organ 
beanfpruchen. Alle Organe aber werden an die Oberfläche des Gehirns verlegt 
und jollen fi) an den Exrhabenheiten und Vertiefungen des Schädels verrathen, 
Alles der Bequemlichkeit der phrenologiichen Unterfuhung zu Liebe. Daß 
gelegentlich die wichtigften jogenannten Organe an Stellen verlegt werden, wo 
die Form des Schädel zunächſt gar nicht von dem unterliegenden Gehirn, 
londern theil3 von der Dide der Knochen, theil3 jogar von Lufträumen in dem— 
jelben abhängt, fommt gar nicht in Trage. Im Uebrigen glich die phrenologijche 
Propaganda, von der und Langbein in einem nun vergeffenen humoriſtiſchen 
Roman ein ergößliches Bild Hinterlaffen Hat, durchaus ihrer phyfiognomijchen 
Vorläuferin. Auch die Phrenologie wird von ihren wandernden Propheten als 
die Wiſſenſchaft der Zukunft gepriefen, mit der man wo möglid Staat und 
Gejelihaft reformiren will. Der Unterſchied liegt nur darin, daß Gall, ber 
Begründer der Phrenologie, nicht von der Kanzel, jondern vom ärztlichen Beruf 
ausgegangen war. Die vier Folianten feines phrenologiſchen Hauptwerkes ver- 
halten fi in der That zu Lavater’3 Fragmenten ungefähr ebenjo, wie ein 
trockenes anatomiſches Compendium zu einer Predigtfammlung. Statt der rühren- 
den Ergüffe an den „phyfiognomijchen Seelenfreund“ begegnen wir jener pedan— 
tiſchen Weitjchweifigkeit, die ich jo oft für wiſſenſchaftliche Gründlichkeit ausgibt. 

So ift e8 denn wol begreiflich, daß eine längere Zeit hindurch die Männer 
der ernfteren Wiſſenſchaft das berechtigte Mißtrauen, das fie gegenüber diefen 
Beftrebungen empfanden, einigermaßen auf die Trage jelbft übertrugen, die man 
dort in einer jo unwiſſenſchaftlichen Weile behandelt jah. Erklärte doch vor 
etwa dreißig Jahren noch der bedeutendfte Phyfiologe jener Zeit, Johannes 
Müller, der Grund, warum gewifje Seelenzuftände fich in beftimmten förper- 
lichen Bewegungen äußerten, jei und durchaus unbekannt. Exft die neuefte Zeit, 
die den jeither vernadhläffigten Grenzgebieten zwijchen dem äußeren und inneren 
Leben des Menfchen eine erhöhte Aufmerkjamkeit zuwandte, hat auch dieje Lücke 
allmälig auszufüllen geſucht. So gab Emil Harlef in feiner für Künſtler 
beftimmten „plaftiihen Anatomie” eine Erörterung einzelner Ausdrudsformen, 
in der er auf die Bewegungen der Augen und auf die mit den Spannungen 
der Geſichtsmuskeln verbundenen Hautgefühle einen bejonderen Werth legte. 
Piderit fuchte in einem „Syftem der Mimik und Phyſiognomik“ das Princip 
durchzuführen, unfere mimifchen Bewegungen jeien theil3 von imaginären Sinnes— 
eindrüden, theild von imaginären Gegenftänden beftimmt, und hiermit ſtimmen 
im weſentlichen auf) diejenigen Anfichten überein, welche der franzöfiiche Anatom 
Gratiolet in einer Reihe von Borlefungen entwidelt hat.*) Endlich Hat 
Darwin in feinem Werke über den „Ausdrud der Gemüthsbervegungen bei 
Menſchen und Thieren“ **) eine Fülle eigener und fremder Beobachtungen mit 


) E. Harleh, Lehrbuch der plaftiichen Anatomie. Stuttgart, 1856-1858. Eine neue 
Auflage dieſes Werkes, von R. Hartmann beforgt, ift jept im Erjcheinen begriffen. Theodor 
Piderit, Wiſſenſchaftliches Syſtem der Mimik und Phyfiognomit. Detmold, 1867. früher 
erichienen von demfelben Berfaffer: Grundſähe der Mimik und Phyfiognomit. Braunſchweig, 1858. 
P. Gratiolet, de la physiognomie et des mouvements d’expression. Paris, 1865. 

+, Deutih von J. D. Carus. Stuttgart, 1872, 


Ueber den Ausdrud der Gemüthsbewegungen. 125 


großer Sorgfalt zufammengetragen. Obgleih nun den von den erjtgenannten 
Autoren aufgeftellten Sätzen unbeftreitbar eine gewilfe Wahrheit zufommt, jo 
dürften fie doch iweder über den ganzen Neichthum der Ausdrudsbewegungen 
Rechenichaft geben, noch diejenigen, die jie erklären, auf ihren letzten piycho- 
logiſchen Grund zurüdführen. Darwin hat namentlic) zwei Thatjachen nach— 
gewiejen, die für die allgemeine Naturgefhichte des Menſchen von großer 
Wichtigkeit find. Die erſte bejteht in der allgemeinen Gleichartigkeit der Aus— 
drudöbewegungen bei den verfchiedenen Menjchenraffen, ja jogar in einer gewiſſen 
noch allgemeineren Uebereinftimmung im Ausdrude dev Gemüthszuftände bei 
verjchiedenen Thieren. Die zweite befteht in der Vererbung beftimmter indivi- 
dueller Formen des Ausdrud3 von den Eltern auf ihre Nachkommen. So 
danfenswerth auch Darwin's Werk durch die Feſtſtellung diefer Thatjachen, ſowie 
durch die große Zahl einzelner Beobachtungen ift, die in ihm gefammelt find, 
jo wenig befriedigend jcheinen uns jedoch die drei allgemeinen Prineipien zu jein, 
aus welchen der berühmte Naturforicher alle Ausdrudsbervegungen ableitet. 
Unter diefen führen die zwei erſten, welche von ihm al3 „das Princip zweck⸗ 
mäßig affociitter Gewohnheiten” und al3 „das Princip des Gegenſatzes“ bezeichnet 
werden, eigentlich) auf einen einzigen pſychologiſchen Grund zurüd, auf die 
Gewohnheit. Wir haben ung gewöhnt, einen Gegenftand, den wir aufmerkjam 
unterfuchen wollen, mit beiden Augen zu betrachten: in Folge deſſen joll ſich 
nach dem erften Princip der firirende DBli allgemein mit dem Seelenzuftand 
der Aufmerkjamteit afjociiren. Unſer Haushund gibt feine feindjelige Stimmung 
dadurch zu erkennen, daß er Kopf und Schwanz, Rüden und Naden emporredt; 
die freundliche Gefinnung äußert fi) daher nad) dem zweiten Princip genau in 
den entgegengejegten Bewegungen, der Rüden wird gekrümmt, der Kopf nieder: 
gedrückt, der Schweif wedelt u. j. w. Aber Gewohnheit erklärt ſchließlich Alles, 
und eben darum erklärt fie Nichts. Aus Gewohnheit efjen und trinken, reden 
und handeln wir. Sie gehört zu jenen Begriffen, die lediglich eine Lüde in 
unferer Einficht bezeichnen und von denen man deshalb nicht jelten meint, daß 
fie diefe Lücke auch ausfüllen. Der Ausdruck „Affociation aus Gewohnheit“ 
jagt uns eben nur, daß eine gewiſſe Verbindung befteht, aber nicht im geringften, 
warum jie befteht. Und jelbjt wenn wir ung mit der gewohnheitsmäßigen Ver— 
bindung begnügen wollten, jo würde daraus noch immer nicht nothwendig 
folgen, daß eine entgegengejeßte Gemüthsftimmung nun auch von der entgegen= 
gejegten Bewegung begleitet ſein müſſe. Das dritte Princip, welches Darwin 
aufftellt, bejteht in dem phyfiologifchen Sate, daß gewille Ausdrudsbewegungen 
ihon durch den Zufammenhang de3 Nervenſyſtems als völlig mechanifche Erfolge 
gewiſſer Erregungen entjtehen. Die allgemeine Richtigkeit dieſes Sabes können 
toir zugeben; doch dürfte e3 zweckmäßig fein, ihn in eine beftimmtere Faſſung 
zu bringen, bei der die „Konftitution de3 Nervenſyſtems“ nicht blos al3 eine 
unbefannte Größe erſcheint, auf die man ſchließlich Alles zurückführen kann, was 
eine bequeme Erklärung auf anderem Wege nicht zuläßt. 

63 kann nicht meine Abficht fein, an diefer Stelle die unendliche Mannig- 
faltigkeit der Bewegungen, durch welche wir unfere Seelenzuftände nad) Außen 
fundgeben, irgendivie erſchöpfend bejchreiben oder zergliedern zu wollen. Nur 


126 Deutiche Rundſchau. 


einige der twichtigften pſychologiſchen Geſichtspunkte will ich hervorheben, zu 
denen man bei dem Studium derjelben immer wieder zurückgeführt wird. 

Vor Allem tritt und bei den Ausdrucksbewegungen eine Thatjache entgegen, 
die ſich auch jonft als ein Grundgeieß unferer inneren Erfahrung erweift. Sie 
befteht darin, daß ähnlide Gefühle und Empfindungen fih mit 
einander verbinden. So verbindet fi das Gefühl äfthetifcher oder fitt- 
licher Befriedigung mit dem des ſinnlich Angenehmen. Ebenſo bringen wir die 
Empfindungen unſerer verfchiedenen Sinne mit einander in Beziehung. Schon 
die Sprache deutet die mannigfachften Beziehungen ſolcher Art an. Reden wir 
doh nicht nur von Slangfarben und von Farbentönen, von jühen Melodien 
und ſcharfen Diffonanzen, ſondern aud) von bitterer Noth, von einem jauren 
Gang, von ſüßem Nichtsthun, oder von harten Entihlüffen, von ſchwerem 
Kummer und nagender Sorge, oder endlih von einem dunklen Geihid, von 
Ihmwarzen Befürchtungen. So geläufig find uns derartige Metaphern, daß wir 
nicht einmal mehr daran denken, wie wir, indem wir die Noth bitter nennen, 
einen Geſchmackseindruck auf fie anwenden, oder wie wir bei dunkler Furcht und 
ſchwerer Sorge unfere Seelenzuftände mit Prädicaten verjehen, die der Licht- 
und Taftempfindung entnommen find. Diefe Metaphern, ohne die wir faum 
einen Gedanken auszufprechen vermögen, haben aber ihren guten Grund in unjerer 
Empfindung. Wir tragen, wenn ein ſchweres Schickſal uns trifft, wirklich ein 
Gefühl in uns, welches demjenigen ähnlich ift, dad wir unter einer nieder- 
drücenden phyſiſchen Laft empfinden, und das Gefühl eines heftigen Aergers 
bat in der That eine DVerwandtichaft mit jener Gefhmadsempfindung, welche 
wir etwa beim Berjchluden eines bitteren Arzneimittel3 wahrnehmen. Unſere 
Spradje überträgt nur deshalb geiftige Zuftände in finnliche Formen, weil die 
innerliden Gemiüthsbetwegungen jelbft mit finnlichen Gefühlen ähnlicher Art, 
wie jolche die Eindrüde auf unfere Sinnesorgane begleiten, verbunden find. 

Nun liegen bekanntlich unjere Sinnesorgane vermöge der Natur ihrer 
Leiftungen an der äußeren Oberfläche des Körpers, und fie find mit Apparaten 
der Bewegung, mit Muskeln, verjehen, welche theil3 die Aufnahme der Sinnes— 
teize befördern, theils auch gegen ftörende Eindrüde ſchützen können. Die Be- 
megungen, welche auf diefe Weile entftehen, find ebenfall® unmittelbar von 
Empfindungen begleitet. Denn jede Bewegung, die wir ausführen, ſpiegelt ſich 
in unjerem Bewußtjein al3 eine Empfindung der Muskelſpannung. Diejer 
Empfindung entnehmen wir jene3 genaue Maß der Bewegung, deifen wir bei 
der willkürlichen Beherrihung unſeres eigenen Körpers, wie beim Gehen oder 
bei den mechanischen WVerrichtungen unferer Arme und Hände, jo jehr bedürfen. 
Sole Empfindungen entftehen nun auch bei den mimijchen Bewegungen. Sie 
find aber innig verbunden mit den äußeren Sinneeindrüden, als deren Wir: 
ungen fie urfprünglich auftreten. Wir vermögen e3 nicht, unjerem Munde den 
füßen oder bitteren Geihmadsausdrucd zu geben, ohne den entjprechenden 
Geſchmackſeindruck leije mitzuempfinden, und wenn wir, die Stirn in jent- 
rechte Falten legend, das Auge halb jchließen, jo empfinden wir unwillkürlich 
etwas im Auge, da3 und unbeftimmt an einen grellen Lichtreiz erinnert. Ver— 
möge diejer unauflöslichen Verbindung erwedt dann auch die mimiſche Bewegung 


Ueber den Ausdruck der Gemüthsbewegungen. ER B — 127 


in dem äußeren Beobachter die nämlichen finnlichen Eindrücke ünd läßt ihn 
diefelben in einem gewiſſen Grade mit uns empfinden. Daher jene unwider⸗ 
ftehliche Gewalt, mit der, bejonders bei Kindern und Naturmenſchen, das äußere 
Zeichen der Gemüthsbewegung und mit diefem die Gemüthsbewegung jelbft ſich 
überträgt, — eine rein finnliche Quelle de3 Mitleids und der Mitfreude, welche 
für die fittlihe Entwiclung wahrjheinlich einen größeren Werth befitt, ala 
die eindringlichite pädagogijche Ermahnung. 

Vermöge des oben erwähnten Geſetzes der Verbindung analoger Gefühle 
freten nun naturgemäß zu den inneren Seelenzuftänden der Furcht, des Kummers, 
der Freude u. ſ. w. nicht blos ſchwache Abbilder ſinnlicher Empfindungen 
hinzu, jondern mit ihnen zugleich die Bewegungen und Bewegungsempfindungen, 
die der natürlichen Reaction unferer Sinnesorgane auf die finnlichen Eindrücke 
entiprechen. So wird die mimijche Bewegung, die urjprünglich nur das Ver— 
halten de3 empfindenden Organes zu dem Sinnesreiz andeutet, zur allgemeinen 
Ausdrudsform unferer Gefühle und Gemiüthsbewegungen. Indem wir einen 
Zorn oder Aerger oder Kummer empfinden, nimmt unfer Mund unwillkürlich 
die Stellung an, al3 wenn eine bittere oder ſaure Subjtanz unjere Zunge be- 
rührte. Das Augenlid jenkt fich gewaltiam, die Augenbrauen werden dadurd 
nad Innen gedrängt, und die Stirn zwijchen beiden wird in verticale Falten 
gezogen, al3 wollte fi) das Auge gegen unangenehm blendendes Licht ſchützen. 
Selbſt die Najenflügel find etwas herabgedrückt, al3 wäre ein ftörender Geruchsreiz 
fernzuhalten. Ganz anders find die Betvegungen beichaffen, die wir in entgegen« 
geſetzter Gemüthslage, etiva beim Anhören einer gefälligen Melodie, einer 
erheiternden Erzählung oder einer erfreulichen Nachricht, eintreten jehen. Der 
Mund nimmt dann die nämliche Form an, die ein ſüßer Geſchmacksreiz hervor— 
zuft. Auge und Naje find geöffnet, ala wollten alle Sinne ihre Pforten auf: 
thun, um den Eindruck aufzunehmen. Die Stirn ift glatt oder in Folge der 
Erhebung der Augenlider in horizontale Falten gelegt. 

Ebenſo wie auf diefe Weife die mimifche Bewegung al3 ein äußerer, finn- 
licher Refler eines inneren Seelenzuftandes uns entgegentritt: ebenjo beſitzt fie 
auf der anderen Seite die Eigenſchaft, wieder auf dieſen zurückzuwirken, indem 
fie ihn unterhält und verftärkt. Es geichicht dies vermöge des nämlichen Ge- 
fees der Verbindung ähnliher Empfindungen, welcher der mimiſche Ausdrud 
felbft feinen Urſprung verdankt. Wie das ſinnliche Gefühl durch die innere Ge— 
miüthsbewegung geweckt wird und mit ihr wächſt, jo richtet ſich hinwiederum 
die Gemüthsbewegung an den ftarken finnlichen Empfindungen empor, die ihre 
Ausdrudsbewegungen begleiten. Daß man ſich in den Aerger Hineinreden, in 
die Wuth hineinraſen kann, ift eine befannte Sache. Kluge Mütter wiſſen e3 
wol, daß es meiftens nicht ſchwer ift, den Weinparorysmus eines Kindes zu be= 
feitigen, wenn man nur im Momente, wo er loszubrechen droht, die Aufmerk- 
ſamkeit abzulenken verfteht. Aber wehe, wenn dieſer Moment verjäumt toird, 
und wenn nun der Eleine Schreier längft nicht mehr über den Schmerz, der 
ihm zuerst die Laune geftört, jondern im Grunde nur noch über jein eigenes 
Jammern jammert! In verſchiedenen Gegenden Deutfchlands gab es früher 
eine officielle Beruföclaffe, die bei vielen Völkern nod heute bejteht, die ſo— 


128 Deutiche Rundichau. 


genannten Klageweiber, welche man dafür bezahlte, daß ſie einen BVerftorbenen 
möglichſt laut betrauerten. Schwerlich würde ein Menih im Stande jein, 
mehrere Stunden lang einer Gemüthsbewegung Ausdrud zu geben, die er gar 
nicht bejitt, wenn e3 nicht auch hier fich geltend machte, daß der Ausdrud jelbft 
die Gemüthsbewegung hexbeiführt. Was anfänglich Kunft war, wird „nad und 
nach Natur”, und dies um fo ſchneller, je heftiger der Ausdrud der Geberden 
ift. Daher ja überhaupt in der Regel Diejenigen am lautejten jammern, bie 
fih am leichteften tröften, ebenfo wie im Zorne der Gutmüthige am meiften 
poltert, weil e3 ihn die größte Anftrengung koſtet, zornig zu fein. Die Pſycho— 
logen der Schule haben diefe Wechſelwirkung des finnlichen Gefühls und der 
inneren Gemüthsbewegung faum ihrer Aufmerfjamkeit gewürdigt. Aber einem 
fo tiefen Kenner der menſchlichen Natur, wie Leſſing, ift fie nicht entgangen. 
Der mittelmäßige Schauspieler, jagt er im dritten Stüd der „Hamburgiſchen 
Dramaturgie”, hat fi eine Anzahl Heiner Regeln gefammelt, mitteljt deren er 
eine Leidenichaft zu äußern fucht, die er in Wirklichkeit nicht befiht; doch wenn 
er nur einige der erforderliden Bewegungen nachahmt, jo wird er Ihliehlid 
jene Leidenjchaft wirklich zu befiten ſcheinen; wenn er z. B. „nur die aller 
gröbften Neuerungen des Zornes einem Acteur von urfprünglicder Empfindung 
abgelernt hat und getreu nachzuahmen weiß — den haftigen Gang, den ftampfen- 
den Fuß, den rauhen, bald kreiſchenden, bald verbiffenen Ton, das Spiel der 
Augenbrauen, die zitternde Lippe, das Anirfchen der Zähne u. f. wm. — wenn 
er, jage ich, nur diefe Dinge, die ſich nachmachen Lafjen, jobald man will, qut 
nachmacht, jo wird dadurch unfehlbar feine Seele ein dunkles Gefühl von 
Zorn befallen, welches wiederum in den Körper zurückwirkt und da auch die- 
jenigen Veränderungen hervorbringt, die nicht blos von unjerem Willen abhängen ; 
jein Geficht wird glühen, feine Augen werben bliten, feine Muskeln werden 
ſchwellen, kurz, er wird ein wahrer Zorniger zu fein ſcheinen, ohne es zu fein, 
ohne im geringjten zu begreifen, warum er e3 jein ſollte.“ Leſſing hätte viel- 
leicht richtiger noch jagen können: er wird ein Zorniger nicht nur ſcheinen, 
jondern es wirklich fein. 

In affeetvoller Rede drücken wir nun aber nicht blos die Gefühle aus, die 
und bewegen, fondern auch die Vorftellungen, die unjer Bewußtjein beherrichen, 
jtellen wir unwillfürlich durch mimijche Bewegungen dar. Wir weijen auf den 
Gegenftand hin, der unſere Gedanken beſchäftigt; wir deuten die Richtung an, 
in der ex jich befindet, oder nach welcher er fich entfernt Hat. Wir fingiren ihn 
mit Geberde und Blick in unferem Gefihtsraum, oder die erregte Phantafie 
zeichnet fogar durch die Betvegung der Hände ein flüchtiges Bild jeiner äußeren 
Umriſſe. So entjteht eine zweite Form von Ausdrudsbewegungen, die auf der 
Nachbildung unjerer Borjtellungen durd die Geberden beruhen. 
Mährend die Gefühle ſich vorzugsweiſe in den mimiſchen Bewegungen de3 An— 
geſichts kundgeben, jpiegelt fich der Wechjel lebhafter VBorftellungen in den panto= 
mimijchen Bewegungen de3 ganzen Körpers, namentlich) auch der Arme und 
Hände Sowol da3 Hinweiſen auf fingirte Objecte, wie deren Nachbildung 
durch die Pantomimik haben ihren tieferen Grund darin, daß wir alle unjere. 
Vorftellungen aus uns hinaus verjegen. Auch unjere Erinnerungs- und Phan— 


Ueber den Ausdrud der Gemüthsbewegungen. 129 


tafiebilder jehen wir außer und. Dieſen nad Außen verjegten Worftellungen 
wenden wir num unſere Geberden zu, oder wir eriveden das Phantafiebild zu 
größerer Lebendigkeit, indem wir jeine ungefähre Form durch Bewegungen an- 
deuten. Dennoch hat auch hier die Ausdrucksbewegung nicht in der Vorftellung 
jelbft, jondern in der Gemüthsbewegung, die ſich mit ihr verbindet, ihre nächfte 
Quelle. Die äußere Bewegung entjpringt ftet3 aus der inneren, der Ge- 
müthsbewegung. Ein völlig affectlojes Denken und Reden, wenn e8 überhaupt 
ein jolches gäbe, wäre auch in Bezug auf die körperlichen Bewegungen, bie 
ed begleiten, ausdruckslos. Aber jede Vorftellung erregt in jtärferem ober 
ſchwächerem Grade unjer Gefühl. Diejes Gefühl kann nun, wie wir oben ge- 
jehen haben, durch eine mimiſche Bewegung ausgedrüdt werden, die den Refler 
einer analogen finnlihen Empfindung bildet, — es kann aber auch in einer An» 
deutung oder Nachbildung der Vorftellung durch die Geberde fi äußern. Dort 
entfteht die erfte, hier die zweite Glajje der Ausdrudsbewegungen. 

Die Bewegungen, die diejer lehteren angehören, find natürlich ebenjo viel- 
geftaltig, wie die Vorftellungen, die fih in unferem Bewußtſein befinden. 
Auf die Gegenstände, von welchen wir reden, oder — wenn fie nicht antvejend 
find — auf den Ort, wo wir fie un3 denken, weijen wir mit Hand und Blick 
bin. Selbft allgemeinere Vorſtellungen, das Große und Kleine, Entfernung und 
Nähe, Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart verfinnlichen wir durch kenn— 
zeichnende Geberden. Einzelne ſolcher Geberden find conventionelle Ausdruds- 
mittel geworden, jo unzweideutig wie die Worte der Spradhe, die mand)- 
mal durch fie erfeßt werden. Um unjere Zuftimmung auszudrüden, neigen wir 
da3 Haupt einem imaginären Gegenftande zu; zum Zeichen der Verneinung 
wenden wir e3 wiederholt von ihm ab. Als Ausdrud des Zweifels zuden wir 
die Achſel, al3 wollten wir uns abwechſelnd einer Borftellung zufehren unb 
wieder von ihr wegfehren. Energiicher noch werden ſolche Geberden, wenn fie 
fi, wie es häufig geſchieht, mit unmittelbaren Gefühlsausdrüden verbinden. 
Sp trägt der Zornige alle Zeichen der unangenehmen Gemüthserregung im An- 
geficht: die gerungelte Stirn, die zufammengezogenen Augenbrauen, den bitteren 
Zug de Mundes. Daneben firirt er feit mit dem Auge den wirklichen oder 
eingebildeten Gegenjtand jeiner Empörung, ballt gegen ihn die Hand und redt 
den Naden, als wolle er ſich unmittelbar zum thätlichen Angriff rüften. 

Manche derartige Bewegungen haben nun jogar auf die VBorftellungen jelbft, 
die fie begleiten, feine unmittelbare Beziehung; aber fie find in vertvandten Ge- 
müthslagen vielfach gebraucht und dadurch zu Ausdrudsformen ganzer Glafjen 
von Affecten geworden. Dies ift der einzige Fall, wo man mit einem gewiljen 
Rechte die Ausdrucksbewegung auf die Gewohnheit zurüdführen Tann, obgleich 
auch hier eine Mebertragung vorzugsweije dann ftattfinden wird, wenn bie Ge— 
miüthszuftände jelbft eine gewiſſe Aehnlichkeit befiten. Wenn 3. B. der englilche 
Parlamentsredner jchon in mäßiger Erregung die Fäuſte ballt, jo dürfen wir 
una über die Verbreitung dieſer Geberde in einem Lande nit wundern, in 
welchem das Boren ein nationales Vergnügen ift. Der deutjche Gelehrte pflegt 
feinen Bortrag mit tactmäßigen Bewegungen der rechten Hand zu begleiten, 
deren Daumen und Mittelfinger fich berühren. Dies ift aber ungefähr die 

9 


Deutſche Rundſchau. III, 7. 


130 Deutſche Rundſchau. 


Stellung, die wir der Hand geben, wenn wir die Feder halten. Gewohnt, 
unſere Gedanken ſchreibend hervorzubringen, begleiten wir nun jede Gedanken— 
production mit der Geberde des Schreibens. Neben den durch die Beſchaffen— 
heit der Gefühle und Vorſtellungen bedingten Ausdrucksformen bleibt endlich 
noch eine Reihe von Bewegungen übrig, die ſich keinem der bisher erörterten 
Principien unterordnen laſſen. Die körperlichen Bewegungen, von denen ein 
ſtärkerer Affect begleitet iſt, müſſen nämlich nicht nothwendig die Natur der Ge— 
fühle oder Vorſtellungen ausdrücken, die das Bewußtſein beherrſchen. Wir 
ſchließen vielleicht aus dem raſchen Auf- und Abgehen eines Menſchen, aus 
den lebhafteren, aber zweckloſen Bewegungen ſeiner Arme, daß irgend etwas 
fein Inneres erregt, aber die Art der Bewegung gibt uns feine beftimmte An- 
deutung über den Grund derjelben. Und wenn jelbft einzelne Mienen den Affect 
verrathen, der dad Gemüth erfüllt, jo gehen doch daneben vieldeutige Geberben 
einher, die und, wenn wir fie ifolirt beobachteten, nur fagten, daß überhaupt 
irgend ein Affect befteht. So find bei weiten nicht alle Bewegungen, die der 
Zornige ausführt, gerade nur für den Affect des Zornes harakteriftiich, ſondern 
fie könnten ebenjo gut die freudige Ueberraſchung oder irgend eine andere Ges 
müthsbewegung begleiten. Alle diefe Bewegungen, in denen ſich uns nicht die 
Art, jondern nur die Stärke eines inneren Vorganges fundgibt, haben offenbar 
darin ihre Duelle, daß jede intenjfive Gemüthsbewegung begleitet ift von einer 
Erſchütterung unſeres Nervenſyſtems, welche fi) auf die von dem lebteren be= 
herrſchten Bewegungdorgane reflectirt. Mit der Zunahme der inneren wächſt 
auch die äußere Bewegung, bis die Erjehütterung jo gewaltig wird, daß eine 
plöglihe Lähmung der von dem Affect ergriffenen Bewegungsorgane eintritt, 
welche fich erſt wieder löft, wenn fich die Gemüthsbewegung ermäßigt. Auf 
diefer Erſchütterung des Nervenſyſtems beruht die Gefahr, mit der ftarke Affecte 
und Leidenjchaften jelbft unfer Leben bedrohen. Denn in ihrem äußerften Grade 
kann jene Lähmung eine bleibende fein. Die überwältigende Freude kann ebenjo 
twie die übermächtige Wuth oder der tödtliche Schred das Leben vernichten. 
Dagegen hat jene gemäßigtere Wirkung der Gemüthserregung, welche ſich nur 
in lebhafteren Bewegungen äußert, nicht jelten eine lLöjfende Wirkung. Das 
jubelnde Herz muß fich ausſprechen, der Groll muß ſich austoben, der Schmerz 
fi) ausweinen, damit das Gemüth fein Gleichgewicht wieder finde und die 
innere Spannung nicht unerträglich werde. Dieje dritte Claſſe von Ausdruds- 
beiwegungen können wir jomit zurüdführen auf die directe Erregung des 
Nervenſyſtems durch ftarke Affecte und bie Rüdwirfung diejer 
Erregung auf die Bewegungdorgane. 

Unter allen Ausdrudsbewegungen find diefe am meiften unjerem Willen 
entzogen. Der feinfte Meſſer unferer Affecte ift insbejondere ein unmwillfürlicher 
Muskel, den die populäre Meinung darum noch heute für den Sik bed Ge- 
fühls hält, das Herz. Stärkere Gemüthsbewegungen bejchleunigen den Herz- 
ſchlag; übermächtige Affecte jeder Art aber bringen das Herz momentan zum 
Stilftand. Mit dem Herzichlag hält die Athmung gleichen Schritt: fie wird 
bejchleunigt, und im äußerften Affecte fteht fie ftille. Auch die Wandungen 
der Blutgefäße find von Muskeln umjchloffen, deren Beherrſchung unferem 


Meber den Ausdrud der Gemüthäbewegungen. 131 


MWillen entzogen ift. Aber in eigenthümlicher Weije regulixt unjer Nervenſyſtem 
die Bewegungen diejer Muskeln fo, daß fie meijtens den Bewegungen des Herzens 
fi anpaffen. Bei zunehmendem Herzichlag erweitern ſich die Gefäße, um ber 
ftärferen Blutwelle Raum zu geben. Bei ftodendem Herzſchlag dagegen ver— 
engen fie ji), jo daß wieder der Raum, den fie umfchließen, dem Zufluß aus 
dem Herzen entſpricht. Wenn im Affeet die Herzbeiwegung jchneller wird, jo 
erröthet darum das Angeficht; aber im ftärkften Affect, der das Herz zum Still- 
ftande bringt, erblaßt es. Bekanntlich find die Veränderungen in der Blut- 
erfüllung de3 Herzens verrätheriiche Zeichen, die eine Gemüthsbewegung ans 
beuten, two alle anderen Merkmale fehlen; fie find eben unter allen äußeren 
Merkmalen diejenigen, die am meiften unferem Willen entzogen find. Bei 
Perſonen von erregbarem Nerveniyftem jind Herz und Gefäße zumeilen jo 
empfindlih, daß der leijefte Affect auf fie einwirkt. Schon die Furcht vor 
dem Erröthen kann hier das Erröthen jelber herbeiführen. In der That ift e8 
beinahe tragiſch, daß gerade diejenige Gemüthsbewegung, die fih am liebften 
verbergen möchte, die Scham, ſich durch das augenfälligfte Merkmal verrathen 
muß, und noch dazu durch eines, über dad unſer Willen nicht dad Geringfte 
vermag. Wie viel bequemer wäre e8 doch, wenn irgend eine andere Stelle 
unferer Haut, die wir zu befleiden gewohnt find, erröthen wollte! Aber viel- 
leicht ift e3 eben der Umftand, daß wir das Angefiht beobachtet willen, der es 
zu einem jo empfindliden Reagend madt. Gerade die Gemüthsbewegung der 
Scham, die vor Allem fi) zu verbergen ftrebt, muß ja nothwendig verftärft 
werben durch das Bewußtſein, daß fie fi) beobachtet weiß, und jo mag es 
fommen, daß ſie bei großer Erregbarkeit durch diejes Bewußtſein allein ſchon 
geweckt wird. 

Eine weitere Erjcheinung, in welcher die directe Erregung unſeres Nerven- 
ſyſtems durch den Affect ſich äußert, ift der Erguß der Thränen. Er ift gleich 
den Erröthen eine ſpecifiſch menſchliche Ausdrudsform, wahrſcheinlich weil bei 
den Thieren weder die Scham noch der Schmerz fich zu dem Grade entwickeln 
fönnen, wie bei dem auch in Bezug auf die Leiden des Gemüths bevorzugten 
Menſchen. Iſt doch das verftändigfte und treuefte unjerer Hausthiere, der Hund, 
jeit alter Zeit ob jeined Mangels an jeglihem Schamgefühl berüchtigt, jo daß 
Odyſſeus ſchon die ſchamloſen Freier der Penelope ald Hunde anredet. Vielleicht 
fand man bier den Mangel nur deshalb jo auffallend, weil gerade der Hund 
ſonſt dem Menſchen am nächften fteht. Weit eher find die Thiere ſchmerzvoller 
Gemüth3bewegungen fähig. Dennoh gehören die Berichte von weinenden 
Elephanten und Grocodilen vermuthlih dem Gebiete der Fabel an. An und 
für ſich ift der Erguß der Thränen eine der mimiſchen Bewegung analoge Rüd- 
wirkung des Affectes. Zu allen abjondernden Drüſen begeben fi; Nerven, 
ebenjo wie zu den Muskeln des Körpers. Wie die Reizung eines Muskelnerven 
Bewegung hervorbringt, jo fteigert die Reizung eine® Drüfjennerven die Ab— 
fonderung. Damit ift aber noch nicht erklärt, warum gerade der Thränendrüſe 
beim Menichen vorzugäweije die Rolle eines jchmerzlindernden Abjonderungs- 
organed zulommt. Der Erguß der Thränen hat ja bejonders jene Löjende 
Wirkung, die nicht jelten an die Aeußerung dev Gemüthsbetwegung gebunden 

9* 


132 Deutiche Rundſchau. 


ift. Darwin vermuthet, urſprünglich jei der Thränenerguß eine Folge des 
Druds, welchen bei heftigem Schreien durch die Zuſammenziehung der mimijchen 
Angefihtsmusteln das Auge erfährt. Das Privileg der Thränen würde dann 
darin jeinen Grund haben, daß allerdings wol da3 menfchliche Kind, wenn es 
ſchreit, energifcher fein Geficht verzieht, ald irgend ein anderes Weſen ber 
Schöpfung. Aber e3 fteht doch diefer Annahme das Bedenken im Wege, daß 
neugeborene Kinder auf da3 heftigfte jchreien, ohne doch Thränen zu vergießen, 
und daß wir durch willfürliche Anftrengungen höchftens einige ſpärliche Tropfen 
uns zu erpreffen im Stande find. Eher ließe ſich, wie mir Icheint, an jene Ver— 
bindung ähnlicher Empfindungen benfen, deren Bedeutung und oben in jo manchen 
Ausdrudsbewegungen entgegengetreten ift. Während der Menjch eines tieferen 
Seelenſchmerzes fähig ift, al3 irgend ein Thier, behaupten zugleih in feinem 
Bewußtſein die Gefichtsvorftellungen den anderen Sinneseindrüden gegenüber 
die Herrſchaft. So mag es denn kommen, daß gerade bei ihm leidvolle Ge- 
müthsbewegungen bejonder3 ftarf mit finnliden Empfindungen ähnlicher Art 
ſich verbinden, twie fie ein jchmerzhafter Reiz auf das Auge hervorbringt. Wir 
wiſſen aber, daß ein ſolcher Reiz einen Thränenerguß erzeugt, der unter Um— 
ftänden ba3 Auge [hüten kann, indem er fremde Körper, Staub, Inſecten u. deral., 
wenn dieje die Reizung verurfacdhen, hinwegſpült. Dann hätte alfo die Thränen- 
abjonderung nicht mehr blos die Bedeutung einer durch divecte Nervenerregung 
erzeugten Ausdrudsform, jondern in ihrem Urſprung wäre fie zugleich auf ein 
anderes Geſetz de3 Ausdrucks, auf dasjenige ber Verbindung ähnlicher Empfin- 
dungen, zurädzuführen. 

In ähnlicher Weije müfjen wir nun überhaupt bei dem Ausdruck faft einer 
jeden Gemüthsbetwegung bie drei Säße, auf die wir oben die einzelnen Er: 
ſcheinungen zurücdzuführen juchten, gleichzeitig zu Hilfe nehmen. So find ſchon 
die zwei allgemeinften Formen, in denen wir die entgegengejeßten Zuftände der 
Luft und des Schmerzes ausdrüden, da3 Laden und Weinen, höchſt zufammen- 
gejeßte Bewegungen, bei denen alle jene Principien des Ausdruds zur Geltung 
fommen. Beim leifen Lächeln zeigt der Mund den nämlichen Ausdrud, wie 
bei der Empfindung eines ſüßen Geſchmacks. Geht dafjelbe in lautes Lachen 
über, jo wird mit dem Munde Auge und Naſe geöffnet, wie zur Aufnahme des 
erfreuenden Eindruds. Zugleich beginnt ſich das ausgebreitetjte Sinnesorgan, 
die äußere Haut, durch die angenehme Mitempfindung eines leifen Kitzels zu 
betheiligen. Die Wirkung des Nervenſyſtems aber macht ſich in jenen heftigen 
und ftoßweijen Athembewegungen Luft, welche das Zwerchfell erſchüttern. Ent- 
gegengejeßt ift der Ausdruck des Weinens. Der Mund ift wie bei einer un— 
angenehmen, aus ſauer und bitter gemijchten Geſchmacksempfindung verzogen. 
Das Auge ift halb geichloffen, wie gegen einen blendenden Lichtreiz, und dadurch 
die Stimm in Falten gelegt. Die Flügel der Naje find herabgezogen, als treffe 
dieje ein unangenehmer Geruchsreiz. Durch die Erſchütterung des Nervenſyſtems 
wird der Herzichlag bejchleunigt, die Thränen fließen. Endlich gejellen ſich noch 
jene ftoßweijen Athembetwegungen hinzu, die auch das Lachen begleiten, und bie, 
wenn duch zu große Heftigkeit derjelben ein gewiljer Schmerz ſich im Angeficht 
ipiegelt, unvermerft da3 Heftigfte Lachen in feinem Ausdrud dem Weinen 


Neber den Ausdrud ber Gemüthsbewegungen. 133 


nähern, jo daß ſelbſt die Thränen zu fließen beginnen. Schon darum aljo recht- 
fertigt fich der befannte Spruch, dab Laden und Weinen nahe bei einander 
wohnen. 

Alle Bewegungen des Ausdrucks, die wir kennen gelernt haben, ſchildern 
zunächſt die Gefühle, die unſer Inneres erfüllen. Denn unter welches der drei 
beſprochenen Geſetze auch eine Bewegung ſich ordnen läßt: unmittelbar geht ſie 
immer von einer Gemüthsbewegung aus und wächſt mit deren Stärke. Aber 
unſere Gefühle beziehen ſich zugleich auf beſtimmte Vorſtellungen und ſind durch 
dieſelben veranlaßt. Mittelbar ſchildern daher die Ausdrucksbewegungen immer 
auch mehr oder weniger deutlich die Vorſtellungen, die ſich in unſerem Bewußt⸗ 
fein befinden. Bejonders diejenigen Bewegungen, die wir oben ala zweite Form 
unterjchieden, die Geberden, welche die Vorftellungen nachbilden, gehören hierher. 
Da aber fie gerade in faft alle Ausdrudsbewegungen ſich einmengen, jo können 
wir jagen, daß die leßteren faft immer eine Doppelte Sprache reden: zunächſt 
drüden fie die Gemüthsbetwegungen, dann aber auch die Vorftellungen aus, mit 
denen jene zuſammenhängen. Die Geberde ift daher häufig zugleich Aeußerung eines 
Gedankens. lmd gerade in diefer Abficht kann fich ihrer der Wille bemächtigen, 
um fie, ähnlich der Sprache, zur Mittheilung und Verftändigung zu verwenden. 
Bei dem normalen Menjchen, der mit Gehör und in Folge deſſen mit Sprade 
begabt ift, jteht freilich die Geberde nur nebenbei oder aushilfsweije im Dienfte 
der Gedankenmittheilung. Won der Bedeutung, die fie als Ausdrudsmittel 
unjerer Vorftellungen gewinnen kann, befommen wir erft eine Ahnung, wenn 
wir die Räume einer Taubftummenanftalt betreten und jehen, wie fi hier ein 
ftummer und doch jo beredter geiftiger Austauſch mit Hilfe von Geberden ent- 
wicelt hat. Und dieje Mittheilung durch Geberden ift nicht etwa ein Product 
fünftlicher Erfindung, obgleich vielfach künſtliche Zeichen gebildet worden find, 
um die natürlichen Geberden zu unterſtützen, — jondern fie entfteht mit einer 
Art unbewußter und unmwillkürlicher Nothwendigkeit überall, wo Taubſtumme 
unter einander oder mit Hörenden dauernd verkehren. Die Geberdenſprache trägt 
aber alle mwejentlichen Kennzeichen einer wirklichen, wenn auch unvolllommenen 
Sprade an fih. Der Zaubftumme kann Willensentſchlüſſe fundgeben, Gegen- 
ftände bejchreiben, Ereigniſſe erzählen. So werden wir zu der VBermuthung ge- 
führt, daß auch die Sprache, die wir reden, in ihrem Urjprung wol nichts 
Anderes ift, al3 eine natürliche Ausdrudsform innerer Seelenzuftände durch äußere 
Bewegungen; daß fie, gleich den Mienen unjeres Angefiht3 und den Geberden 
unferer Hände, jchließlich beruht zauf der innigen Wechjelwirfung des inneren und 
des äußeren Menichen. 


Derlin vor, unter und nad) dem Minifterrum fuel. 
(Juli bis October 1848.) 


Aus den bisher unveröffentlichten Denkwürdigkeiten des Generals der Infanterie z. D. 
Dr. Heinridy) von Brandt.*) 


— — ⸗ 


L 


Krank und elend langte ih in den erften Tagen des Juli in Berlin an. 
Ich meldete mich beim Kriegsminiſter, General von Schredenftein, den ich bei 
diefer Gelegenheit zum erften Mal ſah, ſprach mit ihm lange über die Ereignifie 
in Frankfurt und begab mich dann, auf fünf Wochen zur Herftellung meiner 
Gefundheit beurlaubt, nad Stettin zu meiner Familie. 

Wie verändert fand ich die alte, treue Hauptftadt Pommerns! 

Demagogen aller Art, aus allen Ständen führten überall das Wort, die 
Gerihtshöfe, die Adminiftration, die Schule, der Kaufmanns- und Bürgerftand 
hatten dazu reichlich ihr Kontingent geliefert. Aber es fehlte auch nicht an 
redlichen und braven Patrioten, die, Trauer und Wuth im Herzen, den Augenblid 
mit Sehnſucht erwarteten, ihrem Könige Gut und Blut zur Herftellung der 
Ordnung anbieten zu können. 

Die Adreſſe in der deutjchen Angelegenheit, die jpäter nach Frankfurt ging, 
wurde damals vorbereitet, und wenn fie zunächſt auch nur aus der Handels— 
kriſis jener Zeit hervorging, jo lieferte fie doch den Beweis, daß der alte pom— 
merſche Geift noch nicht ganz umtergegangen war. 


) Wir find in ber Mittheilung der hinterlafienen Denfwürbigteiten bes Generals von Brandt 
bis zu den Aufzeichnungen über die Ereignifje de3 Jahres 1848 in Berlin gelangt, joweit der 
General, an begünftigter Stelle, Zeuge derſelben oder berufen war, hanbelnd in biefelben 
einzugreifen. Memoiren, wie bie vorliegenden, erheben nicht den Anſpruch, Gejchichte zu fein; 
aber Niemand wird beftreiten, bat fie dem künftigen Geichichtäjchreiber werthvolles Material 
liefern. Es ift demnach zu hoffen, daß man fie ſelbſt da nicht ohme Intereſſe, wenn freilich 
auch hicht ohme Widerſpruch lefen twirb, wo man am Wenigften geneigt fein bürfte, dem poli- 
tiichen Urtheil des DVerfafjerd zuzuftimmen. 





Die Rebaction. 





Berlin vor, unter und nad dem Minifterium Pfuel. 135 


Mir wurden in diefer Zeit zahlreiche Beweiſe des Zutrauens. Auch mande 
Demagogen wandten ſich mir freundlich zu; doch vermied ich dad Zufammen- 
treffen mit ihnen, jo viel e3 irgend anging. Dabei konnte e3 jedoch nicht fehlen, 
dab es auch ab und an zu Reibungen fam. So war id einft in Geſellſchaft 
bei einer ältlichen Dame, wo von den ewigen Straßenaufläufen, Krawallen zc. 
die Rede war. Da ich dieje lediglich der Schwäche der Behörden zumaß, jo 
fragte mich ein Regierungsrath, wie ich denn denfelben vorbeugen wolle? „Nun,“ 
entgegnete. ih, „haben Sie denn nicht gejehen, wie General von Wrangel hier 
dem Kartoffel-Krawall ein Ende machte?" „Sie wollen alſo das Volk nieder- 
fartätjchen laſſen?“ fragte ex raſch. „Jawohl,“ war eben jo raſch meine 
Antwort, „und wenn der Oberpräfident mit allen feinen Leuten unter den 
Meuterern jein ſollte.“ „Das find ja wahrhaft bonapartiftiiche Gedanken,” 
ertoiderte der Herr Rath betroffen, was ihm meinerfeit3 die Antwort zuzog: 
„Bott gebe uns bald einen Aehnlichen, um Ruhe und Ordnung wieder herzu- 
ftellen.“ Dies Kleine Scharmüßel brachte es zuwege, daß in meiner Gegenwart 
nicht mehr von dergleichen die Rede war. 


Der Prinz von Preußen fam während der Zeit, daß ich hier ieh dar- 
niederlag, nad Stettin. Wahrjcheinlich geichah dies, um die Gefinnungen ber 
Bewohner etwas zu jondiren. War aud) nicht Alles, wie es fein jollte, jo trug 
diejer Beſuch doch gute Früchte. Der Prinz jelbft wußte von einzelnen Un— 
geichliffenheiten der Söhne der Freiheit abzujehen, und der Eindrud, den er 
hinterließ, war im Allgemeinen ſehr zufriedenftellend. 


Mit einigen Mitgliedern der Frankfurter Nationalverfammlung blieb ich 
in freundlihem Verkehr. Schon damals trugen ſich Dinge zu, melde die all- 
mälige Auflöfung diefer Berfammlung herbeiführen mußten. So erhielt ih 
unter Anderem einen Brief vom 19. Juli 1848 von Heren von Auerswald, 
worin folgende Stelle vorfam: „Zum Schluffe eine gewichtige Frage: Wenn von 
hier aus mit Stimmenmehrheit beſchloſſen würde: alle deutjchen Armeen, alfo 
auch die preußijche, werden zur Reichsarmee erklärt, ihres bisherigen Eides ent- 
bunden, ſchwören dem Neichsverwejer, hängen in jeder Beziehung, felbft in der 
Dislocation einzelner Bataillone, nur von ihm ab; die Feſtungen werden alle 
zu Bundesfeftungen erklärt, die Commandanten von hier aus ernannt — welche 
Folgen würde dies nach Ihrer Meinung haben?” 

Wenn man erwägt, daß Peucker's Aufforderung vom 16. deſſelben Monats 
war, jo kann man jich wol denken, wohin der Unverftand und Ehrgeiz Einzelner 
drängte. Es verfteht fich von jelbft, daß ich an Auerswald ſchrieb, unjere Armee 
würde jich die3 nie gefallen lafien, man würde dadurch zu Ereignifjen drängen, 
* deren Tragweite ſich gar nicht abjehen Ließe. Zugleich theilte ic) ihm den böfen 
Eindruck mit, den Peucker's Erlaß hervorgerufen, und daß man davon gar feine 
Notiz genommen habe. 

IH befand mich kaum etwas beſſer, als id) von General von Wrangel 
einen Brief erhielt, worin er mir nad) Abgang des Generals von Stodhaufen, 
der ihm al3 Chef jeines Generaljtabes beigeordnet geweſen war, dieje Stelle 
antrug. 





er ogl a 


136 Deutſche Rundſchau. 


Wenn ich num auch nach den Erfahrungen, die ich, allerdings in ruhigen 
Zeiten, in ähnlichen Stellungen gemacht, gerade keine fonderliche Neigung dafür 
mehr hatte, jo veranlaßte mich doc die Bekanntſchaft mit General von Wrangel 
und die Beziehungen, in welchen ich zu ihm geftanden Hatte, zu der Erklärung, 
daß es mir eine Ehre fein würde, die Stelle, die ich bereit3 im Frieden unter 
ihm befleidet, im Stiege wieder zu übernehmen. Ehe jedoch dem General nod) 
meine Antwort zugegangen fein konnte, hatte man ihm bereitö einen anderen 
Chef des Stabes in der Perfon des Generals von Hahn zugelandt, wodurch 
natürlich jein Plan zerfiel. 

Unmittelbar darauf ging mir ein Brief vom General Gueinzius, dem Chef 
de3 Gentral-Bureaus im Krieggminifterium, zu, in dem er mich auf Befehl jeines 
Miniſters aufforderte, mich jofort nach Berlin zu begeben, weil berjelbe mit mir 
über eine wichtige Stellung, die er mir zu übertragen gedächte, Rückſprache 
nehmen wolle. Da ich bereits fünf Wochen in Stettin zugebradjt und, wenn— 
gleich noch ſchwach, doch fo weit hergeftellt war, um mich einer mäßigen Arbeit 
wieder unterziehen zu können, reiſte ich alabald ab und meldete mi am 
9. Auguft beim Kriegaminifter. 

Derjelbe empfing mich jehr freundlich und fragte mich nur kurz, ob ich die 
Geſchäfte eines Vertreter des Kriegsminiſters in einzelnen Yällen in den Com— 
miffionen, ja auch wol in der Nativnalverfammlung übernehmen möchte? Die 
nöthigen Inftructionen dazu wären vorhanden, und es würde mir leicht werden, 
mich in die Gejchäfte zu finden. Nachdem ich mich bejahend erklärt, entließ mich 
der Minifter, gebot mir, von der ganzen Sache vor der Hand noch nicht zu 
reden und des anderen Tages früh wieder zu ihm zu fommen. Als ich mid) 
beftimmtermaßen wieder einfand, ſprach er weitläufiger, aber in jeiner eigenthüm— 
lichen, kurzen Art, mit mir über die Sadıe. 

„Sehen Sie,” fagte er, „man het mic) mit Commiſſionen, mit Anträgen 
zu Tode; ich habe zu nichts mehr Zeit, es bleibt Alles liegen. Sie jollen mid 
in die Minifterialfigungen begleiten, hier die Verhältniſſe kennen lernen, Sie 
follen mih dann in den Commiſſionsſitzungen vertreten und mir zugleich vor 
und nad) jeder Sitzung das Wichtigere darüber vortragen; ferner haben Sie fi) 
mit den verfchiedenen Bureaux des Minifterii in Verbindung zu jegen, um ſich 
das Bezügliche mittheilen zu laſſen.“ 

Endlich fragte mich der Meinifter no, welcher Titel mir als angemefjen 
erfcheine, ob der eines Commiſſarius des Minifterii, oder der eines Unter- 
ftaatsfecretärd im Friegaminifterium? ch antwortete, daß ich dies ganz dem 
Herrn Minifter anheimftelle.e Damit war meine Audienz wieder zu Ende, weil 
der Minifter nah Potsdam mußte. 

Die mir hierdurch gewordene Zeit benußte ih, um einige alte Belannte 
im Krieggminifterium aufzufuchen. Ich ſtieß zunächſt auf den Oberften von 
Griesheim, der, wie befannt, durch die Revolution raſch Director des all- 
gemeinen Kriegsdepartements geworden war. Damit aber Hatte e3 folgende 
Bewandtniß gehabt. Sein Freund, der damalige Major Fiſcher vom General- 
ftabe, ein Dann von Geift und Charakter, und von Vermögen, hatte fi) bei 
dem leicht beftimmbaren General von Krauſeneck, Chef de3 Generaljtabes der 


Berlin vor, unter und nad dem Minifterium Pfuel. 137 


Armee, ausgewirkt, ausſchließlich mit den Eijenbahnangelegenheiten betraut zu 
werden. Dadurch war er mit den Rheinländern, den demofratiichen Oftpreußen, 
den Leuten der jogenannten Bewegungspartei, bejonder3 aber mit Gamphaufen 
und Hanfemann befannt geworden, vielleicht ohne deren Anfichten zu theilen. 
Als nun 1848 die Sachen zuſammenbrachen, wußte Filcher, dem feine Stellung 
in Berlin, jowie jeine Verwandtſchaft mit mehreren Meinifterialräthen einen 
bedeutenden Einfluß, eine Art exclufiver Stellung verjchaffte, es durchzuſetzen, 
daß er und jein Freund Directoren im Kriegsminiſterio wurden. Fiſcher, 
gewandter, kluger und überlegter, trat, jowie er dieſe hohe Stellung erreicht 
hatte und bemerkte, welche Wendung die Sache nahm, bis zur gelegeneren Zeit 
hinter die Couliffen. Sein Freund, weniger Diplomat, glaubte fich in jeiner 
Stellung fiher genug, um da3, was er jeinem ganzen Inneren nach war, nämlid) 
entjchiedener Ariftofrat, auch ferner bleiben zu können. Durch einzelne Aeuße— 
rungen aber in den Commiſſionen über demofratiiche Tendenzen, über das rück— 
fihtslofe und ſchnöde Benehmen der Parteiführer hatte ex ſich diejen Leuten 
bald verdächtig gemacht. Als nun vollends eine Broſchüre, die man ihm fälſchlich 
zujchrieb, die er aber nicht desavouiren konnte, um nicht einen höheren Verfafjer 
zu compromittiren, erichien, war feine Situation, injofern fie in Beziehung zur 
Nationalverfammlung ftand, unhaltbar geworden. Es konnte dem Oberft von 
Griesheim nicht an Berftand fehlen, dies einzujehen und die Nothwendigkeit 
feiner einftiweiligen Removirung herauszufühlen. Nichtsdeftoweniger jchien er 
über mein plößliches Erjcheinen betreten; er war davon unangenehm afficirt und 
empfing mic mit einer Zuvorfommenheit, die mir ungefähr ſagte: „von mir 
haft Du auf feine Unterftüßung zu rechnen,” die jedoch in eine Form gekleidet 
war, wie fie conventionelle Höflichkeit und militäriiher Tact gebot. 

Eine Rückſprache, die ich mit dem General Gueinzius hatte, ließ mid) noch 
tiefere Blicke in die Verhältniffe thun. Ich gewahrte jofort, daß aud ihm mein 
ganzes Verhältniß ein Dorn im Auge war. Er jah ſich dadurch ſchon in feiner 
Stellung beeinträchtigt, feines unmittelbaren Einfluſſes beraubt, und bei jeiner 
Eigenthümlichkeit durfte ich von ihm für meine Dienftgejchäfte feine Unterftügung 
erwarten. 

Urſprünglich Theologe, dann freiwilliger Jäger, wegen Körperſchwäche aber 
aus dem Cavallerie-Regimente, bei dem er eingetreten war, zurüdgeftellt, wurde 
er beim General von Blumenftein, der die Belagerung von Glogau commandirte, 
Bureauvorfteher und jpäter aud Officer. In den Bureaux war er allmälig 
adancirt, war Gapitän, Major, Obetft, ja endlich auch General geworden, ohne 
eigentlich je den Degen gezogen, ohne vom Kriege irgend etwas Anderes als 
jene trifte Belagerung kennen gelernt zu haben. Die beiden Generale von Thile, 
zu denen er nad) und nad in Adjutanten-Verhältniffen geftanden, hatten ihn 
durch ihren Einfluß in's Kriegaminifterium gebracht, wo er fi) durch feine 
Kenntniß des Bureandienftes bald unentbehrlich machte. Er und ein alter 
Kanzleirath Schadow bildeten da3 traditionelle Element in dem Gentralbureau 
de3 Kriegaminifteriums; fie wußten, wo alle Acten ſteckten oder verftaubt begraben 
lagen, und waren mithin bei den fteten Fragen und Erörterungen der petulanten 
Mitglieder der Nationalverfammlung, die fi) gar zu gern mit dem verſchim— 


138 Deutſche Rundſchau. 


melten Kram der Vergangenheit befaßten, ſehr willkommene Werkzeuge für die 
Miniſter, welche natürlich ſtets unorientirt in ihr Verhältniß traten. In dieſer 
ſeiner Stellung, in welcher das Vertrauen jedes Miniſters ein nothwendiges 
Requiſit war, hätte ſich Gueinzius ſehr nützlich machen können. Aber er war 
eine jener trockenen Naturen, denen die bedeutenden Ereigniſſe der Zeit und deren 
Erſcheinungen nur wie Blaſen auf der ruhigen Oberfläche eines etwas getrübten 
Waſſers erſcheinen, und denen die Ordnung in ihren Acten mehr zu Herzen geht, 
als die großen Fragen der Gegenwart. Dabei aber beſeelte ihn bedeutender Ehr— 
geiz, und er verſtand es, durch geſchickte Maßnahmen ſich ſeinen Vorgeſetzten, die 
kamen und gingen, unentbehrlich zu machen. Der General von Schreckenſtein, 
der vom Geſchäftsgange im Kriegsminiſterium gerade nur ſoviel wiſſen mochte, 
als ein ſonſt gewandter Cavallerie-Brigadecommandeur davon kennen konnte, 
war ganz auf ihn angewieſen. Ich ſage gewiß nicht zuviel und täuſche mich 
nicht, wenn ich behaupte, daß Gueinzius die Haupttriebfeder zu den wenig 
energiſchen Maßregeln geweſen, die der Miniſter in der Stein'ſchen Angelegen- 
heit ergriff. 

Die anderen Mitglieder und Räthe des Miniſteriums gehörten in der 
Mehrzahl zu den Curbeldrehern, deren eine Maſchine bedarf, um regelmäßig zu 
gehen. Bon einer organijchen Gliederung diejer großen Körperjchaft, was fie 
ihrer Natur nad) doch hätte jein jollen, war feine Rede. Das demokratifche 
Element war übrigens auch hier in einzelnen Räthen und Subalternen gehörig 
vertreten. Keiner der verjchiedenen Minifter hat den Muth gehabt, diefe, 
beſonders die Räthe, daraus zu entfernen. 

Abends 10 Uhr, am 10. Auguft, erhielt ich folgende Cabinetsordre: 

„Da der Krieggminifter in der nächſten Zeit, und zwar insbeſondere für 
die Verhandlungen mit der Verfammlung der Abgeordneten zur Vereinbarung 
der Staatöverfaffung und für die Beratdung im Staatöminifterio, der Unter- 
ftüßung durch einen Unterſtaatsſecretär bedarf, jo will ich Ahnen bieje 
Functionen zum Beweiſe meines bejonderen Vertrauens hierdurch übertragen, 
indem ich Sie von dem Commando der 10. Infanteriee-Brigade entbinde. Es 
ift nöthig, daß Sie fi) baldmöglihft nach Berlin begeben. 

Sansſouci, den 10. Auguft 1848. 

Ir. W. 
Schreckenſtein.“ 

Durch die Faſſung dieſer Cabinetsordre war mir ſchon angedeutet, daß ich 
mid) von den Geſchäften, die eigentlich den Unterſtaatsſecretär in einem 
Minifterium tangiren, fern zu halten babe, ich war jozujagen der politifche 
Ugent des Herrn Kriegsminiſters, was bei einer größeren Selbjtändigkeit deijelben 
vielleicht von Belang gewejen fein würde. Dod) wir werden bald jehen, daß ich 
eigentlich nur zu einer Art Handlanger bejtimmt war, welcher den hinter den 
Couliſſen mitjpielenden Acteurs die Karten ordnen und zuxechtlegen jollte. 
Hätte ich Gelegenheit gehabt, mit dem Könige oder dem Prinzen von Preußen 
zu jprechen, dann würde meine Stellung vielleicht eine ganz andere geworden 
jein; aber der Minifter jagte mir, daß mich der König von jeder Meldung 
entbände. 


Berlin vor, unter und nad dem Minifterium Pfuel. 139 


Nachdem ich meine Ernennung erhalten, ward ich in einer Minifterfigung 
dem Minifterpräfidenten von Auerswald, den Herren Hanjemann, Kühlwetter, 
Milde. und Gierke vorgeftellt. Herrn Gierfe ausgenommen, jah ich die Herren 
bier alle zum erften Mal. Da ich die Kammerdebatten in den Zeitungen fleißig 
verfolgt hatte, jo wußte ich ungefähr, wie weit fich eines Jeden Wirkfamfeit 
erſtreckte; doch gibt dergleichen immer nur ein unvollfommenes Bild; erſt eine 
perfönliche nähere Bekanntſchaft macht e8 möglich, ſich ein richtiges Urtheil über 
Perſonen zu bilden. Ich kann aber nicht jagen, daß mich der Anblic des 
Seſſionszimmers und defjen, wa3 ic zunächft hier wahrnahm, jonderlich erfreut 
hätte. ch Hatte in dem dreißiger Jahren, in ber Trage’der polnifchen Flücht— 
linge, den Seſſionen de3 Minifteriums beigewohnt. Aber welcher Unterjchied 
zwifchen Damal3 und Jet! Damals waren ſämmtliche Minifter in Montirungen 
oder Fracks, decorirt, die Degen an der Seite, alle, ich darf wol jagen, von 
einem gewiffen Nimbu3 umgeben. Sie jaßen um einen runden Tiſch, und die 
Discufftonen jelbft wurden in einer gehaltenen Sprache geführt. Die einzelnen 
Mitglieder notirten fich betreffende Stellen aus den Mittheilungen des Redenden ; 
einer der Herren führte das Protokoll. Als es jpät ward, wurden von elegant 
gefleideten Thürhütern auf filbernen Leuchtern Wachskerzen hereingebradt. 
Während diefer Zeit ſchwieg die Debatte. Alles Hatte den Anftrich der feinften 
Gejellichaft, des feinften Tone! Der General von Witleben machte damals 
den Referenten, und jein lebhafter, von einer völligen Herrſchaft über den 
Gegenftand zeugender Vortrag ward zuweilen durch Bemerkungen dieje3 oder 
jenes Herrn unterbrodhen. Alles trug den Charakter einer jehr forgfältigen 
Neberlegung. Mir jelbft war in einer Ede des Zimmers ein Pla angeiwiejen, 
wo nur ein kleiner Tiſch mit Tinte, Feder und Papier ftand. Einzelne Fragen, 
die an mich geftellt wurden, mußte ich mir notiren, um ſolche dann bündig und 
furz beantworten zu können. Ich nahm aus der Situng jelbft die Heberzeugung 
mit, daß, wenn die Sachen darin auch langjam, ja etwas zu langjam betrieben, 
fie doch jehr gründlich und gewiſſenhaft erörtert wurden. Mir kam der Minifter- 
rath wie eine Art Gerufia vor, und bei meiner Borliebe für die Alten verband 
ich mit der Verfammlung diejer verftändigen Leute allerhand Vorftellungen, die 
mich auch Heute noch nicht verlaffen haben. Aber wie fand ich die Sachen 1848? 
Das Gemah in der Wohnung des Minifterpräfidenten, in welches ich trat, 
roch nach Tabak wie ein Ejtaminet. Auf dem Tiſche ftanden einige Ajchbecher 
und einige Schächtelchen mit Zündhölzern. Das Einzige, was auf ein Sejfions- 
zimmer deutete, waren die Schreibmaterialien, die auf den verjchiedenen Pläßen 
disponirt waren. 

Der Erfte der Minifter, der eintrat, war Herr Gierte, welcher aus jeinem 
Verhältnig als Stadtiyndicus in Stettin eine große Pünktlichkeit in feine neue 
Stelle mit herübergebradht hatte. Stark blond, von nicht gerade anfprechender 
Erſcheinung, verband er mit guten juridifchen Kenntniſſen eine Art von Ehrlichkeit 
und Bonhomie, die bei einer näheren Belanntichaft wol für ihn einnehmen 
konnte. Er war in feinen Deductionen breit, oft matt, und nur hin und wieder 
machte ſich in denjelben eine Schärfe bemerkbar, die bejonder3 dann hervortrat, 
wenn er auf Berhältniife fam, bei denen man ihm etwas Schuld gab. Er war 


140 Deutſche Rundſchau. 


eigentlich ganz unſchuldig an den Miniſtertiſch gekommen. Hanſemann hatte 
geglaubt, durch die paar Stimmen, über welche Gierke in ſeinem Club ver— 
fügen konnte, dem Miniſterium eine Majorität zu verſchaffen, und hatte bei 
feiner Wahl mehr diefe Stimmen, al3 den künftigen Minifter im Auge gehabt. 
Am Minifterrathe jelbft habe ich Herren Gierfe immer rechtſchaffen, gemäßigt 
und von redlihen Gefinnungen für den König gefunden. Aber er fuhr ftet3 mit 
einer gewiſſen Heftigkeit heraus, jobald das Thema auf die Gamarilla fam, die 
die Herren alle überall und immer jahen. Bei alledem aber gehörte er ohne 
Zweifel zu den Naturen, die, während fie den Eingebungen ihrer Ehrlichkeit zu 
folgen glauben, den Raͤthſchlägen ihres Ehrgeizes gehorchen. An Beftürmungen 
und Aufmunterungen hierzu ließen e8 Hanjemann und die Glubeinflüffe gewiß 
nicht fehlen. 

Kühlmwetter, eine ganz intereffante Erſcheinung, ſtark und muskulös 
gebaut, mit einem Gepräge von Entſchloſſenheit in feiner Phyfiognomie und — 
übrigens etwas ungelentigen — Haltung, entſprach diefem Aeußeren nur, wenn 
e3 darauf ankam, einen Gegenftand auf dem Gebiete des Rechtes zu verfechten. 
Gewwandt vielleicht al3 Jurift, um jchnell den wunden Fleck in einer Sache auf: 
zufaffen und fi) mit Hundert Gründen für oder gegen diejelbe loszulaſſen, 
mangelte e8 ihm an ſtaatsmänniſcher Gewandtheit. Bor den Kammern fehlte 
ihm die überzeugungsmächtige Beredtiamkeit, die die Parteien verſöhnt und fort- 
reißt; eintönig, einfach, ja zu einfach, unbeholfen in der Diction blieben feine 
Reden, welche nur ab und zu eine herausfordernde Feſtigkeit und einen ohne 
Zweifel aus gründlicher Erwägung erwachſenen Zorn durchſchimmern ließen, 
meift ohne entjheidendes Rejultat. Ich fand ihn, ala ich ihn das erſte Mal jah, 
jeines Amtes bereit3 überdrüſſig. Gewiß hätte er die Laften bdejjelben gern 
länger ertragen, wenn er nicht der allgemeinen Stimmung, die damals in den 
Rheinlanden herrichte, erlegen wäre. Während er nämlich nad) dem Beifall 
jeiner Landsleute ftrebte, jah er doch die Nothiwendigkeit ein, auf der Bahn, 
die er betreten, mit Energie entjchieden vorzugehen; dies aber brachte ihn gerade 
mit jeinen Landsleuten und politijchen Freunden auseinander. Nicht jtark genug, 
den Eindrüden von dort her zu widerſtehen und den conjervativen, wahren 
Intereſſen des Landes feine Anftrengungen zu widmen und deren Vertretern 
Vertrauen einzuflößen, trat er im Momente, als es ſich darum handelte, die 
Aufrechthaltung der Repreſſivgeſetze zu vertreten, die Dizciplin unter den Beamten 
wieder herzuftellen und die Staatsgewalt zu befeftigen, die Bruft voll quälender 
Gedanken und das Herz voll Bitterfeit, von dem Schauplate feiner minifteriellen 
Thätigkeit, die ihm unaufhörliche Kämpfe und fturmvolle Erörterungen ohnedies 
verleidet hatten, zurück. 

Herr Hanjemann, aus früheren Vorgängen bereit3 bekannt, von ent— 
Ichiedener Neigung, Lärm zu machen, die zugleich durch Thatkraft unterftüßt 
wurde und die jorafältigften Berechnungen im Hintergrunde hatte, konnte wol 
mit Recht die Seele des Minifteriums genannt werden. Die Natur hat jeiner 
Phyfiognomie das Gepräge eines Fuchſes gegeben, ala hätte fie ihm dadurch ein 
Aushängeihild feines Inneren geben wollen; in feinen Manieren einfah und 
ungefünftelt, barg er mehr wie jeltene Schlauheit in fi. Er hat wol nie die 


Berlin vor, unter und nad) dem Minifterium Pfuel, 141 


Gefahren erfannt, in welche die Gefelihaft durch die im März hervorgerufene 
Unordnung geftürzt worden; noch weniger aber bejaß er das Talent, die Kräfte 
zur Herftellung der Autorität zu ordnen und zu discipliniven, die Bewegung, 
welche die Geſellſchaft Hinzureißen drohte, zu mäßigen. Ex hielt alle Parteien 
in Athem, in fteter Aufregung, ohne auch nur eine derjelben zu beherrſchen, und 
mern es ihm auch gelang, fie ab und zu zum Schweigen zu bringen, jo bewiejen 
doch die twieberfehrenden Angriffe gegen ihn nur zu bald, daß er ihnen feine 
Achtung eingeflößt hatte. Wir laſſen es umerörtert, ob feine Politik ſtets einzig 
und allein von aufrichtiger Ergebenheit an die gute Sache und nicht auch theil- 
weiſe durch Eigenliebe geleitet gewejen ift. So lange er zur Oppofition gehörte, 
dünkten ihm alle Waffen gut. Ex bereitete durch unerwartete Fragen den Räthen 
des Königs ftet3 DVerlegenheiten und verjtand es, mehr wie irgend Jemand, 
unerquickliche Erörterungen hervorzurufen. Ohne zündende Beredtiamfeit, tveit- 
ichweifig, fich mwiederholend, wußte er doc mit großer Klarheit die verwickeltſten 
finanziellen Fragen zu behandeln, und nur die große Integrität und die vor- 
treffliche Ordnung, die in der finanziellen Partie des Staates herrſchten, konnten 
jeine, auf gründliche Fachkenntniſſe geſtützten, kühnen Invectiven mäßigen. Als 
Minifter zeigte er nur einmal einen entjchiedenen Muth den Anmaßungen und 
Heberfchreitungen der Nationalverjammlung gegenüber; es war zugleich am legten 
Tage ſeines Minifteriums, und jo viel er auch gejündigt haben mag, jo wird 
man ſich doc gerne des Moments erinnern, al3 er, als Rath der Krone, die 
Hand voll Zorn gegen die Linke geballt, in der leidenichaftlichen Debatte über 
den Stein’schen Antrag ein Beilpiel gab, wie man gegen den Ungeſtüm jener 
Leute aufzutreten habe. 

Ohne Zweifel hat Herr Hanjemann in jeinem Berhältnig als Finanz— 
minifter Senntniffe entwidelt: aber daß er dem unter jeiner Negide gebildeten 
Minifterium bejonder3 nützlich gewejen, läßt ſich nicht jagen. In der öffent- 
lien Meinung hat er, troß der Bemühungen und mannigfachen Gaben, die er 
dafür an den Tag gelegt, nie recht Wurzel gefaßt und, jo jehr er auch die 
Parteien in der Nationalverfammlung jelbft ſchonte, jo hatte er in denjelben 
doch nur geringe Sympathien. Auch der König Icheint nie volles Vertrauen zu 
ihm gefaßt zu haben, ſei e8, daß ihm der Geift, den Hanjemann früher in 
jeinen Schriften und Reden bekundet, nicht zujagte, oder daß er überhaupt Be- 
denfen trug, die Geſchicke des Landes in diefem Kampfe der Vergangenheit mit 
der Gegenwart einem Manne anzuvertrauen, deſſen Wejen und ganze geiftige 
Richtung ihn nicht anzuziehen vermochte Wer Hanjemann näher gefannt, 
mußte in feiner Haltung, jeinem Benehmen, feiner Gefinnung, in der Unruhe, 
die ihn verzehrte, in der Gereiztheit, die ihn zu Ungeſchicklichkeiten verleitete, 
Stoff vollauf finden, ihm die Rolle vorauszufagen, die er, zu einer höheren 
Thätigkeit berufen, jpielen würde. Mag man nun aber urtheilen über ihn, wie 
man will, jedenfalls fehlte ihm, troß eines ftarken Willens, das Gleichgewicht 
zwifchen feinen Fähigkeiten und jeiner Ehrbegierde, zwijchen feiner ntelligenz 
und feinen Plänen. Ein Mann diefer Art konnte nur in einer Zeit innerer 
Zwoiftigkeiten und momentaner Beängftigungen, wo e3 weniger darauf ankam, 
nüßlihen und erhabenen, al3 nur für den Augenblid erſprießlichen Vorjchlägen 


142 Deutiche Rundſchau. 


Geltung zu verihaffen, tvo man die Gewalt lieber als ein Werkzeug der Em- 
pörung, denn al3 ein Mittel zur Niederhaltung derjelben betrachtete, Bedeutung 
gewinnen. 

Ganz anderen Weſens, ganz anderer Natur war der Minifter des Inneren, 
Herr Milde. Leicht beweglich, voll vertraueneriwerender Einfachheit im Um— 
gange, hat er wol mur wenig Gegner gehabt, die ihm perſönlich übel gewollt. 
Dhne eigentliches Rednertalent, ohne Stimme für die Tribüne, verftand er 
dennod in einer einfachen und natürlichen Sprache die ſchwierigeren Gegenftände 
feines Faches auseinanderzujegen und Klar zu machen. Er redete immer mit 
Geſchick und Mäßigung. Ich habe ihn in dem Gewirre der Albernheiten und 
Bosheiten, die eine Zeit lang Berlin und das Land erfüllten, nie einen Augen- 
blik den leichten Sinn, Muth und Umficht verlieren oder die Fahne verlafjen 
jehen, der er von Anfang an gefolgt: Verbeſſerung der jocialen Zuftände, Ent- 
widelung der Verhältniffe der Bürger der verichiedenften Claſſen zu einander, 
Bervolllommnung einzelner Ynftitutionen — entfernt von Allem, was Egalite 
und Socialismus heißt — das war jeine Lofung. In den Situngen des 
Minifterrath3 pflegte er gewöhnlid Figuren und Blumen auf dad Papier zu 
werfen. Dabei aber verfolgte er die Discuffion ſehr genau und unterbrach fie 
nicht jelten durch ſcharffinnige und geiftreiche Bemerkungen. Häufig äußerte er 
wol: „So fann der Scandal nicht länger fortgehen, da hört ja Alles auf—, da 
ift es beſſer, wir legen unfere Portefeuilles jogleidy nieder.” Auch that er dies 
Ipäter mit fichtbarer Tyreude. Denn ich habe nie Jemanden gejehen, der mit 
jo wenig Leidenſchaft dem Beſitze der Gewalt zugethan, der jo gleichgültig gegen 
den Wechjel politiichen Glückes getwejen wäre, wenngleich ihm das Herrſchen, 
während defjelben, jehr zu gefallen ſchien. E3 würde ihm nicht an der Fähig— 
keit gefehlt haben, disciplinirte Kräfte richtig zu leiten; aber zu der Aufgabe, 
diejelben zu disciplinixen, beſaß er nicht Stärke, beſonders aber nicht Ausdauer 
genug. Auch hatte er gewiß die befte Abficht, die Autorität wieder herzuftellen 
und ihr Achtung zu verſchaffen; aber wie er, dem eine jchöne Arie bis zu 
Thränen begeiftern konnte, dem Leben und deſſen Nichtigkeiten mit Leidenſchaft 
ergeben war, jo lähmten jeine ungemeine Erregbarkeit und innere Bewegung 
jeine Thatkraft und Energie. 

Der Kriegäminifter, General Roth von Schredenftein, gehörte zu den 
gebildeteren Dfficieren der Armee. Er hatte in dem ſächſiſchen Heere die Cam— 
pagnen des Kaiſerreichs mitgemacht und war jpäter, wir glauben mit den 
Generalen Thilemann und After, zur Zeit der Torgauer Kataftrophe in preußiſche 
Dienfte übergetreten. Durch fein energifches und dabei doch umfichtiges Bes 
nehmen in Zrier hatte er die Aufmerkjamfeit des Königs auf fich gezogen. 
Ruhig, bejonnen, voller Einfiht und Energie, hätte er unter anderen Verhält- 
nifjen feinem Lande die größten Dienfte leiften können. Aber in dem Benehmen 
de3 General während feines Minifterii lag jo viel Unerflärliches, dag man 
dafür faum einen Ausdrud finden mag. Jeden Augenblick bereit, fein Leben 
für den König herzugeben, mit ftolger Refignation Alles von ſich weilend, was 
auch nur im geringjten auf perſönliche Sicherftellung deuten Fonnte, verurtheilte 
er fich ſelbſt zu eimer traurigen Paffivität, während doc Alles darauf ankam, 


Berlin vor, unter und nad) dem Minifterium Piuel. 143 


die ſtürmiſchen Leidenjchaften einer Berfammlung zu bändigen, die den Thron 
und das Land zu verichlingen drohten. Der General ſchien Lieber in den Wechſel— 
fällen ſtürmiſcher Debatten und erichütternder Auftritte und in partiellen Auf: 
ftänden untergehen, als durch einen energifhen Schritt der Autorität ihr Recht 
wieder verichaffen zu wollen. „Ich babe ihm jchon einmal Gelegenheit gegeben, 
fih unſterblich zu machen, und er hat es verſchmäht,“ joll der König gejagt 
haben, als Schredenftein nad) dem Austritt des General3 Stockhauſen zum 
ſtriegsminiſter erwählt wurde — und der König hatte Recht. Nie ift perjön- 
liher Muth und ftolze Refignation mit mehr Apathie in dem Augenblice, two 
jene Eigenfchaften fi geltend machen mußten, gepaart geweſen. Der General 
bejaß große militärijche Fähigkeiten, einen durchdringenden Geift, — er drückte 
fi in der Unterhaltung leicht und fließend aus; aber jobald er öffentlich ſprechen 
jollte, gerieth ex in die fihtbarfte Verlegenheit und begnügte ſich meijtens, nur 
wenige Worte zu jagen. Wol mochten des Generals Gefühle und Gefinnungen 
ihn theilweife zu den Erjcheinungen hinziehen, die fi) Bahn brachen; indeffen 
blieb ihn ala Soldaten, als Officier fein Verhältnig zum Könige, zur Sache, 
die er vertrat, immer jeftvorgezeichnet. Möglich, daß die allmälige Preisgebung 
der königlichen Rechte und die Zerftücelung der Autorität, daß das, was er täg- 
lich um fich vorgehen jah, den Krieger von Wagram, Mozaisk, Leipzig, Paris, 
Ligny und Belle-Alliance erjchütterte und ihn bewog, von den Bemühungen, 
die Krone zu retten, verzweifelnd abzuftehen. Ich ſah ihn ohne Reue fein 
Amt niederlegen; aber, wie e8 mir vorkam, tief betrübt, den Hoffnungen des 
©. der Zuverfiht der Armee zu ihm nicht beffer Haben entiprechen zu 
nnen. 

Der Juftizminifter, Herr Merker, ein Mann von einnehmendem Aeußern 
und guten juriftiichen Fähigkeiten, wovon ex früher mannigfache Beweiſe ab» 
gelegt haben foll, war wol der am wenigſten charakterfefte von allen Miniftern. 
Ganz abgejehen davon, daß der Auftizminifter einer Kammer gegenüber, die 
guten Theils aus Advocaten, Rechtsgelehrten und Leuten beftand, die fi) auf 
dem jogenannten Rechtsboden bewegten und demnad) durch Phrafen zu beherrfchen 
waren, eine große, ja die vornehmfte Rolle hätte fpielen jollen; daß es ihm 
vorzugsweiſe oblag, das Autoritätsprincip gegen die maßlofen und oft albernen 
Angriffe der Abgeordneten zu ſchützen, verdammte er ich jelbft zu völliger 
Paſſivität. Unentjchloffen in den entjcheidenden Augenbliden, ſchwankend, wo 
energijches Auftreten Noth that, begnügte er fich, den Anfichten der Räthe feines 
Minifterii zu folgen, die hinter den Couliffen ftanden und die ihn vor lauter 
Bedenklichkeiten nie zu einer energiihen Maßnahme kommen ließen. Kerr 
Merker ſchien von feiner Stellung nur die Gefahren, aber nicht die Verpflich- 
tungen begriffen zu haben. So mie er einmal die Souveränetät des Volkes, 
welche die Nationalverfammlung anerkannte, ala maßgebend proclamirt jah, 
Ihien er den Moment herbeizumünfchen, das Amt ala Mitglied einer infur- 
rectionellen Regierung je eher je lieber niederzulegen. Wir werden jehen, welche 
Rolle er zur Zeit der Inſulte des Minifterpräfidenten- Palais fpielte, und wie 
ex durch fein Zögern dem Aufſchwung, den ſich dag Meinifterium in diefer An- 
gelegenheit geben wollte, den Hemmſchuh anlegte, es, ich möchte jagen, an feiner 


144 Deutiche Rundichau. 


Beſorgniß vor Bedenklichkeiten jcheitern ließ. Begütigende Worte mit juridiichen 
Zweifeln und Spibfindigkeiten find Alles, was ich von Heren Merker gehört 
habe. Er war gewiß ein Mann von guten Gefinnungen; aber, nur darauf 
bedacht, eine vermeintliche Popularität zu jchonen, wußte er die gefährliche 
Probe, welche das Schickſal ihm auferlegt, nicht zu beftehen und ſchied aus 
leinem Amte nicht ohne den Vorwurf, jeine Hand zur Bändigung der Mächte, 
die die Gejellihaft erjchütterten, aus juridiichen Bedenken verfagt zu haben. 
Mir bleibt nur no übrig, des Minifterpräfidenten, des Herrn von 
Auerswald, zu gedenken. Die Stellung deffelben dem Könige, dem Miniſterio 
und ben Kammern gegenüber war eine höchft jchwierige. Bon dem Wunjche 
durhdrungen, dem Könige nüßlich zu jein, ihm nach Kräften zu dienen, ver- 
mochte er doch nicht, fi von der Schule, der er feinen inneren Sympathien 
nad angehörte, ganz zu trennen. Dabei fürdhtete er, der eiferfüchtigen National- 
verjammlung, die von Mißtrauen gegen den König, den Hof und die jogenannte 
Gamarilla durchdrungen war, Gelegenheit zu Angriffen und Inſulten zu geben. 
Sp gerieth er in Zwiejpalt mit fi), den auszugleichen ein Maß von Getwandt- 
heit in der Beurtheilung und Behandlung der Verhältniffe verlangte, welches 
Herren von Auer8wald nicht eigen war. Er hatte Etwas vom alten Edelmann 
an ſich, eine gewiſſe Courtoijie, wie man fie nur bei den höheren Ständen findet. 
Seine angenehme Haltung wäre ganz dazu geeignet gewejen, den Minifter des 
Aeußeren würdig zu repräjentiren, wenn ihn hierbei größere Talente und tüch— 
tigere Studien unterftüt hätten. ch glaube jedoch nicht, daß er, jelbft unter 
anderen Verhältnifjen, fähig gewejen wäre, große Pläne zu entwerfen und bie 
Menſchen durch bedeutende Eonceptionen hinzureißen. Wie e3 jcheint, hatte er 
jih von der Aufgabe de3 Minifteriums, deifen Haupt er fortan fein follte, feine 
klare Borftellung gemacht, oder vielmehr er und feine Gollegen handelten ohne 
Princip. Einerſeits durch Rücderinnerungen und Dankbarkeit an den König ge= 
feffelt und ihm ergeben, bejtimmten ihn andererſeits die Lehren der Schön’jchen 
Schule und ein dem Oftpreußen eigner Sinn zur Oppofition und hielten ihn 
in einer unentjchiedenen Mitte zwiſchen der Freundſchaft des Königs und der 
Popularität einer gährenden Gejellihaft. Hätte Herr von Auerswald verftanden, 
für die Herftellung der Autorität entjcheidende Schritte zu thun, oder hätten 
dieje nicht an allerhand Perjönlichkeiten einen unfichtbaren Widerftand gefunden, 
jo wäre es ihm bei allem Bejtreben, feinen Credit zu jchonen, dennoch gelungen, 
einen günftigen Umſchwung der DVerhältniffe herbeizuführen. Die Oppofition 
hatte ſich noch nicht genug conjolidirt, die Elemente derjelben waren noch nicht 
geordnet genug, die einzelnen böſen Rathgeber hatten noch feinen binlänglichen 
Einfluß gewonnen. MUeberdie8 befanden fi in der Nationalverjammlung, 
neben einer Dtenge jonft wackerer, aber furchtſamer Leute, noch eine Anzahl un- 
entjchiedener Mitglieder, welche, wenn die Regierung nur einigermaßen Kraft 
bewiejen hätte, gern mit ihr gegangen fein würden. Eine ftarfe Jnitiative 
hätte in der Verfammlung gewiß Anklang gefunden und die Dtaffe mitgeriffen, 
wenn nur da3 Minifterium den Muth gehabt hätte, den Kampf aufzunehmen. 
Schwache Regierungen aber täufchen ſich nur zu jehr über ihre eigenen Kräfte, 
wie über die Kräfte ihrer Gegner. Es wäre nad) dem, was wir Alle erlebt, 


Berlin vor, unter und nad) dem Miniflerium Pfuel. 145 


gewiß ein Leichtes gewejen, der Nationalverfammlung ihre Schwäche einleuchtend 
darzuthun und ihr ein demüthigendes Gefühl derjelben fir immer aufzudrüden. 
Aber Hiezu gehört Muth und Thatkraft. Ich Habe in diejer Krifis nicht be— 
merkt, daß Einer der Minifter eine Neigung gezeigt habe, den Herren auch nur 
ben Schein von Furcht einzuflößen; two man aber nur ſcheinen, nicht handeln 
will, verzichtet man jelbft auf jeden Erfolg Mit dem Rüdtritt de3 Minifteriums 
Aueröwald fing die National-Berfammlung an, die Angelegenheiten zu beherrjchen, 
auf welche fie bis dahin nur einen bedingten Einfluß gehabt Hatte. Die Partei 
des MWiderftandes, die bis dahin nur mit Unentjchlofjenheit zu Werke gegangen 
war, begann fühner ihr Haupt zu erheben, offener herborzutreten und zur 
Dffenfive überzugehen. Das Schwanfen und Zagen in den Handlungen des 
Minifterit ftumpfte die Sympathien der Bevölkerung für die Regierung all- 
mälig ab, und jo zerfiel die Autorität ſtückweiſe unter den energiſchen Angriffen 
der Linken. 

Herr von Auerswald, der es vortrefflich verſtand, eine Debatte zu leiten, 
die vermwideltften Gegenftände überfichtlich zu refümiren, der ein ausgezeichneter 
Kammerpräfident war, hatte feine jonderliche Redegabe; jeine Worte waren ge= 
mejjen, eintönig, wenig eindringend, ohne Schwung und Kraft, dabei ließ er 
auch den Gegenstand jelbft meiftens unberührt und drehte fich, ich möchte Jagen, 
nur in leichten Phrafen um denjelben herum. Nur wenn e3 fich darum Handelte, 
in kurzen Andeutungen Etwas zur Sprache zu bringen, war er Klar, lichtvoll 
und überzeugend; in einzelnen Replifen war er dann jogar draſtiſch und jchneidend. 
Als Kammerpräfident zeigte er zugleich nicht jelten eine Conſequenz und eine 
iyftematiiche Unbeugjamkeit, die ihn, wenn er fie als Minijterpräfident an den 
Tag gelegt hätte, zur Ausführung der größten Dinge befähigt haben würde; 
denn man wird fich erinnern, daß feine fejten, mit Nahdrud und im Tone der 
Meberzeugung geſprochenen Worte dann ftet3 von einem guten Erfolg begleitet 
geweſen find. Ohne Prunk in feinem Aeußeren, uneigennüßig wie ein Refor- 
mator, voller Ergebung, aber, wie ich glaube, ohne Hoffnung, ging er den Weg, 
den ihm das Schieffal angetwiefen. Seine Stellung im Minifterio aber erſchien 
mir in jofern ſchon als eine faljche, als ex in feinem früheren Verhältniß dazu 
beigetragen, den Sturm herborzurufen, der die Monarchie zu verichlingen drohte. 
Was er ald Mitglied des Landtages und des vereinigten Landtages auf der 
Tribüne geäußert hatte, war vielleicht am wenigſten vergejjen und fonnte ihm 
jeden Augenblid von den Parteien, die er jebt bekämpfen follte, wie ein 
Medujenhaupt vorgehalten werden. 

Die politiiche Lage trug nicht wenig dazu bei, dem Minifter Sorge zu 
machen und feine Stellung noch zu verbittern. Die verjchrobenen Anfichten, die 
eine Menge der Abgeordneten von den Berhältnifien mit Dänemark hatten, 
machten eine Einigung in diefen Tragen zum mindeften unwahrſcheinlich. Das 
Einvernehmen mit den anderen Staaten war meiſtens jo zweideutiger Natur, 
daß darüber kaum irgend eine Anficht gefaßt werden konnte. Die Politik lebte, 
wie man damal3 jagte, von Tage zu Tage, jede Stunde Tonnte irgend ein 
Ereigniß herbeiführen, daS außerhalb jeden Calcüls lag. Man konnte Befürch— 


tungen und Hoffnungen ebenfo berechtigt von der Hand weiſen, als ſich ihnen 
Deutſche Rundſchau. III, 7. 10 


146 Deutſche Rundichau. 


hingeben. Dean befand fih in ftetem Alların gegen innere und äußere Auf- 
wiegler und ftet3 bedacht auf einen Propagandafrieg. Auerswald aber gehörte 
der alten Schule der Diplomatie an und dachte nur daran, daß der Angreifer 
Preußen in feinem guten Rechte und wohl gerüftet finde, 


Ich bemerkte bereits, daß der Minifter den Anftand des alten Edelmannz 
hatte. Er brachte denjelben auch mit in die Miniſterſitzungen. Er wohnte 
denjelben ftet3 im Fracke bei, ließ nie auf fi) warten und — rauchte auch nie 
in denjelben, während die anderen Herren in der Regel jchon mit brennenden 
Gigarren erjchienen oder ſich alsbald melde anzündeten und wie die beften 
Grenadiere rauchten. Zumeilen war e3 ein wahrer Wachtftubenraud. Daß 
mir ſolch ein burjchikojer Verkehr unter den höchſten Staatsbeamten reichlich 
Stoff zu Betradhtungen gab, leuchtet wol von jelbft ein. Ich erinnerte mid 
hierbei oft und lebhaft jener Sigung zur Zeit der alten Minifter, deren ich 
bereit3 erwähnte. Der Unterſchied zwiſchen Damald und Seht beivies allein 
ihon, wohin man im Laufe der Zeit gelangt var. 


Durchgehen wir die Reihe der Minifter, wie wir fie hier ihrer Bedeutſam— 
feit und Perjünlichkeit nach geichildert haben, nochmals, jo wird ſich uns bie 
Neberzeugung aufdrängen, daß das Minifterium nicht geeignet war, den Ber- 
hältnifjen zu entſprechen. Es ließ die Autorität von Tage zu Tage mehr an 
Achtung einbüßen, verzichtete auf energifches Auftreten und verjäumte e3, der 
Nationalverfammlung von Haufe aus den Standpunkt anzuweiſen, den diejelbe 
ihrer Natur und Bedeutung nad) einzunehmen beftimmt war. Daß übrigens 
mehrere unberufene Rathgeber der Krone redlich dazu beigetragen haben, bie 
Lage de3 Minifteriums noch zu vertvideln, bedarf wol feiner Erwähnung. So 
gut diefe e8 mit dem Königthum gemeint haben mögen, jo find fie doch ein 
wejentliches Hinderniß in deffen Maßnahmen geweſen. Wie man Alles nadj- 
ahmte, was das Ausland in der Politik gethan, jo nannte man jene Partei die 
„Samarilla”“, obwol eder, der nur eine oberflächliche Kenntnig vom Charakter 
des Königs Hatte, einjfehen mußte, daß es eine ſolche gar nicht geben konnte. 
63 ift diejelbe Partei, die ftet3 in den Kammern der Regierung hemmend 
entgegentritt und die da3 Königthum im Munde führt, während fie nur daran 
denkt, dajjelbe in ihrem Sinne zuzuſtutzen und, wir wollen e8 ehrlich jagen, zu 
tnebeln. Es find ganz ähnliche Leute wie diejenigen, welche Louis XVI. ab 
hielten, da3 zu thun, was nöthig war, und die jenen unglüclichen Gang der 
Revolution herbeiführten, von dem Bailly jagte: „cette marche incertaine du 
gouvernement est ce qui a le plus nui dans le cours de la revolution.“ 


Als ih nah Berlin fam, Hatte gerade die Schweidniter Angelegenheit 
durch den Beichluß der Nationalverfammlung vom 9. Juli ihre Erledigung ge= 
funden. Man hatte durch Mehrheit beichloffen, eine Commilfion aus dem 
Schoße der Verſammlung behufs Aufnahme des Thatbeftandes nad; Schweidnitz 
zu ſchicken. Ferner war der befannte Stein'ſche Antrag: 

„Ser Kriegaminifter möge in einem Erlaſſe an die Armee fich dahin ausfprechen, daß bie 

DOfficiere allen reactionären Beftrebungen fernzubleiben, nicht nur Conflicte jeglicher Art 

mit dem Givil zu vermeiden, jondern auch durch Annäherung an die Bürger und Vereini— 


Berlin vor, unter und nad) dem Minifterium Pfuel. 147 


gung mit bdenjelben zu zeigen hätten, daß fie mit Aufrichtigfeit und Hingebung an der 

Verwirklichung eines conftitutionellen Rechtäzuftandes mitwirken wollten” 
durchgegangen. Es war endlid der vom Abgeordneten Schulte aus Wanzleben 
vorgeſchlagene Zujat angenommen worben : 

„es benjenigen Officieren, mit deren politifcher Ueberzeugung dies nicht vereinbar fei, zur 

Ehrenpflicht zu machen, aus ber Armee auszutreten.“ 

Wer nur eine geringe Kenntniß von der franzöfiichen Revolution hat, wird 
zugeben, daß die hier gemachten Vorjchläge nur Nachäffereien aus derfelben 
waren, nichts als Nüancirungen der Madination Robespierre’3 gegen die Offi— 
ciere der Armee, in der ihn der edle Cazalès am 10. Juni 1791 jo entjchieden 
und erfolgreich bekämpfte. Trotz der Unentichlofjenheit, die dag Miniſterium 
bei diejer Gelegenheit beiwie8 und durch welche da3 Mißvergnügen der Armee 
in hohem Grade hervorgerufen wurde, durfte die Nationalverfammlung doch 
nicht erwarten, durch ihre Maßnahmen den geraden Sinn und das Gefühl des 
Heeres für den König au nur im mindelten erjchüttert zu haben, welches da— 
duch im Gegentheil auf die Gefahr, die den Staat bedrohte, erſt recht auf: 
merkſam gemacht worden war. Es fehlte in der Armee nicht an aufgeklärten 
Männern, die einjahen, wie nöthig es jei, dem Zeitgeifte Conceſſionen zu machen, 
und bie diejelben vom Könige erhofften. Aber es dürften nur wenige Individuen 
im Officierftande gewejen fein, die joldde von der Nationalverfammlung erivar- 
teten. Die Art und Weife, wie diefe nun vollends zu Werke ging, entfrembdete 
ihr das Heer gänzlich, und gerade der Schritt, von dem der Abgeordnete Stein 
das Heil erwartete, fettete die Armee, wenn es möglich geweſen wäre, noch fefter 
an den König. Bei alledem waren die Minifter jo ruhig, al3 wenn nichts 
vorgefallen wäre. Die Commiſſionen, Club3 und Zufammenkünfte der National- 
verjammlung gingen ruhig ihren Weg. 

I. 

Der erſten Sitzung der Commiſſion für Militärreformen, der ich beiwohnte, 
präfidirte der Oberburggraf von Brünneck. Sie beſchäftigte ſich mit den Heeres— 
angelegenheiten und hatte in ihren damaligen Situngen vornehmlich die Auf- 
löſung der Garden zum Gegenftande. Es befanden fich einige unbequeme Mit- 
glieder in derjelben, wie Herr Abegg, der nur von Begriffen träumte, Herr 
MWeichjel aus Magdeburg und mehrere Andere defjelben Gepräges, faft lauter 
Auriften. Da fie meiftend von dunklen Vorftellungen und Gefühlen ausgingen, 
jo war es nicht ſchwer, mit ihnen fertig zu werden. Ich gerieth gleich Anfangs 
mit Heren Weichjel, den man den „Bombardier“ der Verſammlung nannte, 
weil er ftet3 mit großem Geſchrei und Declamationen begann, in eine Art 
Conflict. Da ich jedoch den Dann bald näher kennen lernte und jah, wie man 
e3 anzufangen habe, um mit ihm übereinzulommen, ſo ftellten wir uns bald 
mit einander. Ach durfte nur an feine militäriichen Erfahrungen und Talente 
appelliven und ich konnte der Ueberzeugung fein, daß er mir nicht entgegen fein 
werde. Dabei waren die Herren der Commiſſion jo mit anderen Dingen und 
Geſchäften behelligt und beladen, daß die Sigungen nur äußerft jelten ftatt- 
fanden, dann kaum beſchlußfähig waren und dem verftändigen Herren von 


Brünned Gelegenheit gaben, fie ad calendas graecas zu vertagen. 
10* 


148 Deutſche Rundichau. 


Mas die Abgeordneten verlegte und Viele in die Reihen der Oppofition 
geführt, war die Fahrt nach Potsdam, zu der fie entiweder eingeladen waren, 
oder welche das Miniſterium herbeigeführt. Herr von Unruh ſchildert den 
Eindrud, den diefe Fahrt jelbft auf viele Gutgefinnte gemadt, in jeinen 
„Skizzen aus Preußens innerer Geſchichte“ jehr richtig. Es wäre zu wün— 
ſchen gewejen, Diejenigen, welche die Sache einzuleiten beauftragt waren, hätten 
hierin mit mehr Tact gehandelt. Ich menigftens bin und bleibe der An- 
ficht, daß Niemand, der dem Staate treu und redlich dienen will, Widerwillen 
gegen Perjönlichkeiten an den Tag legen darf. Die große Mehrzahl Gutgefinnter 
in der Verſammlung würde durch ein tactvollere® Benehmen noch mehr ge 
fejjelt worden fein, und die Demokraten würden es vergebens verſucht Haben, 
fie dem Minifterio abwendig zu machen. Wenn Viele, von diefem Zeitpunfte 
ab, fi) der Regierung weniger ergeben zeigten, jo gejchah dies wol nur aus 
dem, allen Menſchen mehr oder weniger innewohnenden Triebe, fi) für angethan 
geglaubte Unbilden irgendwie zu rächen. Nehmen wir Hinzu, daß da3 Mi- 
nifterium fi um die Meinungen, die hier und dort laut wurden und an— 
fingen, eine immer entjchiedenere Richtung gegen dafjelbe zu nehmen, gar nicht 
mehr befümmerte, jo fonnte man fich wol an den Fingern abzählen, wohin die 
Saden allmälig fommen würden. 

In die erften Tage meiner Ankunft in Berlin fiel auch die Reife des 
Königs nad Cöln zur Begehung der Yubelfeier des Cölner Doms. Die Er— 
eigniffe auf jener Reife waren wol geeignet, dem Minifterio einen Wink zu 
geben, twie e3 jeine Aufgabe zu löſen habe; fie deuteten den Stand der Dinge 
Har an. Es bedurfte für Jeden, der Thatſachen zu würdigen vermag, nur eines 
Blides, um den rechten Standpunkt zu finden. Aber da3 Mtinifterium blieb 
blind, und der Minifterpräfident kam von der Reife rathlojer zurüd, ala wie 
er fie angetreten. Die Minifter, die in Berlin geblieben waren, dachten während 
diefer Zeit nur daran, rüdjtändige Saden, die ihre Bureauchefs ebenjo gut 
hätten abmachen können, zu erledigen. Ich habe wenigftens nicht bemerkt, daß 
irgend einer fich bemüht, den Stand der Parteien zu erforjchen, oder gar daran 
gedacht hätte, fie für fi) zu getwinnen. Gierfe allein blieb vor wie nad) im 
Zujammenhang mit feiner Partei, ohne jedody noch einen Einfluß auf diefelbe 
zu üben. Es waren in derjelben bereit3 Anfichten rege getvorden, die mit denen, 
die er als Minifter haben mußte, nicht mehr in Einklang zu bringen waren. 
Er wurde nur noch durch einen Schein verflogenen Partei = Anjehens getragen. 

Ich jelbft benußte die mir durch die Abwejenheit des Minifter-Präfidenten 
gegebene Friſt vom 12. bis 19. Auguft zur Orientirung über die zu ergreifen- 
den Maßregeln. Zupörderft Enüpfte ic) Bekanntſchaften mit den hervorragen— 
den Gapacitäten und Parteiführern an. Nur einige Enragé's mied ih nad 
Umftänden, hatte aber doc Gelegenheit, bier und dort mit ihnen befannt zu 
werden. Ich darf wol jagen, daß mir Alle ohne Ausnahme mit großer Freund» 
lichkeit entgegengefommen, und daß ich jehr bald in der Lage war, den Stand 
der Parteien genügend kennen zu lernen. ch erhielt täglich geeignete Auskunft 
über alle Parteiverhandlungen; oft wurden mir joldde no um Mitternacht 
überbradt. Abends um 6 Uhr ging id) regelmäßig zum Kriegaminifter, fragte 


Berlin vor, unter unb nad dem Minifterium Pfuel. 149 


ihn nad) jeinen Befehlen und Anfidhten und kam des Morgen3 vor 9 Uhr 
wieder zu ihm, um ihm die Vorgänge in den Parteien, die Abftimmungen und 
Anfichten derjelben mitzutheilen. Dann gingen wir zufammen in den Minifter- 
rath, der in der Regel, je nachdem die Situngen der Nationalverfammlung 
jelbft anberaumt waren, um 9 oder 10 Uhr ftattfand. Die Minifter, mit Aus— 
nahme de3 Heren von Auerswald, erichienen darin aber jo unregelmäßig, daß 
meiftens von Verabredungen zu gemeinfamem Handeln kaum die Rebe fein Eonnte. 
Die Situngen wurden für den Abend um 10 Uhr vertagt und jchleppten ſich 
dann meiftens in derſelben Unentjchiedenheit bis nad Mitternadt fort. 3 
ging aus Allem deutlich hervor, daß jeder der Minifter nur zunächft an fi 
dachte, daß der Begriff eines Geſammtminiſteriums ihnen fremd geblieben, und 
daß fie ihre Wirkfamkeit nur als Fahminifter auffaßten. Mich jelbft be- 
treffend, jo war ich in ben Situngen nur auf da3 Zuhören beſchränkt. Nur 
ab und zu nahm ich mir heraus, zu energiſchem Handeln anzutreiben; aber wir 
werden jehen, daß mir das jchlecht ausgelegt wurde. 

Was mir vorzugsweiſe am Herzen lag, war die Erledigung de3 Stein'ſchen 
Antrages. Aus dem Gange der ganzen Sache lieh fi) entnehmen, daß es nur 
eines energiſchen Schrittes bedurfte, um fie in das urjprüngliche Geleije zurüd- 
zuführen. Ich entwarf daher — verfteht fih, im Namen des Krieggmini- 
ſters — einen Brief an den Präfidenten der Nationalverfammlung, worin 
ih gegen die Maßnahmen der Verfammlung proteftirte, auf die Befugnifje 
und Verpflichtungen als conftitutioneller Minifter hinwies und zugleich an— 
deutete, daß von einer Verantwortung meiner Handlungen fortan feine Rede 
jein könne, wenn Seiten? der Verfammlung jo in die Executive eingegriffen 
würde. Als captatio benevolentiae war dabei zugleich; darauf hingewieſen, 
tie jehr ich bereits im Sinne eines conftitutionellen Minifter gewirkt. ch 
wies dies Schreiben dem Oberft von Griesheim und fragte ihn um feine 
Meinung. Derjelbe antwortete mir, daß er e8 ohne jedes Bedenken jofort 
unterjchreiben würde, wenn er Minifter wäre. Ich übergab e3 darauf dem 
General Gueinzius, um e3 dem Minifter auszuhändigen, und die8 um jo mehr, 
ala der leßtere an demjelben Tage nach Potsdam fuhr und ih ihn erft am 
anderen Tage jprechen konnte. Der Minifter hatte jomit vollauf Zeit, fich die 
Sache zu überlegen. Mir ward jedoch des anderen Tages fein Beſcheid, umd 
al3 ich den General Gueinzius fragte, ob er dem Minifter meinen Brief vor- 
gelegt, erhielt ich die Antivort, dat ex dies jofort gethan habe; er fügte jedoch 
hinzu, er glaube nicht, daß der Herr Minifter die Sache noch einmal aufnehmen 
werde. Da der Minifter auch nicht ein Wort über die Sache mit mir jprad), 
jo ließ ich fie fallen, äußerte aber dem Minifterpräfidenten gegenüber mein Be— 
dauern, daß der General von Schredenftein auf meinen Vorſchlag nicht ein- 
gegangen jei, da ich diefen Weg für den einzigen hielt, um aus der Sache wieder 
herauszulommen, die, wie ich von mehreren Seiten her gehört, den Abgeordneten 
jelbft leid thue. Der Minifter pflichtete mir ganz bei und wünſchte von mir 
das Concept des Briefes. Da ich dies jedoch dem Kriegaminifter hatte zuftellen 
lafjen, konnte ich dem Wunfche des Minifterpräfidenten nicht nachkommen, 
jondern nur dabei ftehen bleiben, ihm den Anhalt mündlich anzugeben. Der 


150 Deutſche Rundichau. 


Minifter hörte mich ruhig an und ſagte: „Ya, es ift recht ſchade, daß der 
alte Herr nicht jprechen, nicht reden will. Wenn er nur die Hälfte von dem 
in der Nationalverfammlung jagte, was er hier manchmal äußert, dann würde 
Manches ganz anders ftehen; diefe Sache namentlich wäre gar nicht jo weit 
gefommen.“ 

Sei e3 jedoch aus Rüdficht für mich, oder weil dem Minifterpräfidenten 
die Sache gleichfalls nicht plaufibel jchien: er erwähnte derſelben ſpäter nicht 
mehr. Wahrjcheinlich befindet fi das Concept in den Minifterialacten, oder 
e3 ift vernichtet tuorden. Als ich ſpäter, ich glaube, e8 war am Tage der Ab- 
flimmung über den Stein’shen Antrag, den General Gueinzius danad) fragte, 
berficherte er, daß der Minifter e8 noch in feinem Portefeuille habe, daß er 
jedod nicht daran dächte, e8 zu unterzeichnen. Im Minifterrathe jelbft aber 
kam die Tactif, die man bei der Verhandlung über diefen Gegenftand befolgen 
wollte, nochmals zur Sprade. Die meiften Minifter gaben ſich dem Vertrauen 
bin, die Sache werde vertagt werden. Wir werden jedoch jehen, wie fie fid) 
Ipäter geftaltete. 

Das Minifterium hatte ſich exft noch mancher günftigen Abftimmung zu 
erfreuen. Es gewahrte die Wolken noch nicht, die fich allmälig über jeinem 
Haupte zujammenzogen und die fich bald entladen jollten. Die eigentlich 
revolutionäre Partei getvann in der Verſammlung und auch außerhalb derjelben 
täglih mehr Boden. Ein gewifjes unklares Drängen und Streben nad) einem 
anderen Zuftande, den fich die Meeiften wol jelbft nicht recht vorftellen mochten, 
in welchem aber gewilje Perjünlichkeiten, von denen man fich nichts Gutes ver- 
Iprechen durfte, ſchon bemerkbar hervortraten, der Zufammenhang diefer letzteren 
mit der Straßendemofratie trat täglich deutlicher hervor, und ohne eine Revo— 
lution jelbft erlebt zu haben, konnte Jeder, der einiges Beobacdhtungstalent be= 
faß, jehen, daß ſich eine Kataftrophe vorbereite.. Es trieben fich eine Dtenge 
Menſchen voller Begierde nach Umfturz auf den Straßen umher; der jeit langen 
Jahren genährte und geſchärfte Haß gewifjer Schichten der Bevölkerung fing 
an, Form und Geftaltung zu gewinnen, und trieb diejelben zu einer Verachtung 
der beftehenden Ordnung der Dinge, welcher ihre Reigenführer die Urſachen ihrer 
wirklichen oder eingebildeten Leiden zuſchrieben. Zahllofe unbeſchäftigte Arbeiter 
erivarteten mit Sehnſucht das Signal ihrer Koryphäen, um fi auf die er- 
Ihrodene Gejellihaft zu ftürzen. Man ſchien e8 zu verſchmähen, auf dem Wege 
der Gejeglichkeit eine mögliche Verbeſſerung herbeizuführen, man wollte dies 
durch Verbrechen erreichen, wollte die Sachen zum Umfturz, zur Gewaltthat 
treiben, um jo Theilnehmer zum letten Schritt, zur Republif, zu gewinnen, und 
die Ereigniffe jelbft jchienen die Anführer diefer Partei zu begünftigen. Das 
Schlimmfte hiebei war, daß in den Provinzen daſſelbe Uebel herrſchte. Neberall 
Vollzverfammlungen und Glub3, und, wie in der franzöſiſchen Revolution, 
halfen dabei die Behörden, ftatt zu hemmen. Dieje hätten viel, jehr viel leiften 
fönnen, aber es geſchah nirgends Etwas. Die Paſſivität in jener traurigen 
Zeit galt fchon für Heroismus. Ich bin der Ueberzeugung, daß, wenn die Be— 
hörden nur einige Thatkraft entwidelt hätten, viele Unordnungen gar nicht 
ftattgefunden haben würden. Aber, während zügellofe Geifter und verberbte 


Berlin vor, unter und nach dem Minifterium Pfuel. 151 


Menſchen die revolutionären Verbrechen auf den Straßen und öffentlichen Pläßen 
entfeflelten, rührte da3 Minifterium ſich nicht. Viele der Treuen fingen an, fich 
von der Bühne zuriczuziehen; die Unentſchiedenen flüchteten unter die Aegide 
der Entjchiedenen, und die Furchtſamen wurden Parteigänger der Furchtlojen. 
Die meiften Journale und Placate vertheilten Lob und Tadel an die Parteien, 
je nach ihrem Standpunkt, und brauten zum vorgeblichen Heil der Zuftände 
Theorien, an die fie ſelbſt nicht glaubten. Unerfhöpflic in Drohungen gegen 
Alle und über Alles, voller Verweiſe gegen das Minifterium, leifteten fie den 
Yeinden defjelben Vorſchub und untergruben jo den letzten Schein der Autorität. 
Don dem, was möglich, wa3 vernünftig gewefen wäre, davon war nie bie 
Rede; eine mäßigende Gewalt auf die Leidenjchaften zu üben, fiel Niemandem 
ein. Chimären zu verheißen, Unordnungen hervorzurufen, Widerftand zu predigen, 
die Nothivendigkeit zum Ergreifen der äußerten revolutionären Maßregeln dar- 
zuthun und die Menge in einem phantaftiihen Zirkel feſtgebannt zu erhalten, 
ſchien ihre einzige Aufgabe. Aus alledem mußte fich zulegt bei den Mafjen 
eine Abneigung gegen den früheren Zuftand der Dinge, bejonder3 aber gegen 
dad Königthum, entwideln. Was man laut nicht wagte auszuſprechen, ward 
in der Stille genährt und vorbereitet. Die günftigen Abftimmungen, die da3 
Minifterium in verjchiedenen, ſelbſt noch in zweifelhaften ragen, wie in der 
Gonftablerangelegenheit, in der Zuderfrage, in der Oftbahnangelegenheit er— 
langte, ſchienen es völlig einzufchläfern, denn ich Habe nicht wahrnehmen können, 
daß von feiner Seite her auch) nur das Mindefte geichehen wäre, ſich die Parteien 
günftig zu erhalten oder fie zu gewinnen. Es hatte fich der Herren eine Sorg— 
lofigfeit bemäcdhtigt, die als der Vorbote ihres nahen Sturzes zu betrachten war. 

In der Frage über die Oftbahn, am 15. Auguft, bejtieg ich zum erſten Mal 
die Tribüne. Der jpäter befannt gewordene Abgeordnete von Krotoszyn, Bauer, 
batte e3 übernommen, der Anficht des Minifterii in diefer Angelegenheit ent= 
gegenzutreten. Nachdem mehrere Redner für und gegen das Project aufge: 
treten waren, nahm ih da3 Wort und bemühte mid), kurz und Klar die 
Zweckmäßigkeit der Minifterialvorlage zu erörtern. Ich ſchreibe e3 nicht mir 
zu, daß die Abftimmung zu Gunften des Minifterii ausfiel. Die Sache wurde 
nämlich durch die rheiniſchen Abgeordneten protegirt, und dieſe waren damals 
noch allmächtig in der Nationalverfammlung. ch Hatte nur das DVerdienft, 
die etwas hohlen und unbegründeten Räfonnements des Herin Bauer in’s rechte 
Licht zu ftellen. Er nahm mir dies damals jehr übel und verficherte, er werde 
mid) eclatant widerlegen, worauf ich ihm antwortete, daß ich nur darauf warte, 
um die Rejerven vorrüden zu laffen, die ich noch in Bereitichaft Hätte. Uebrigens 
hatte es mit diefer Sache noch eine ganz eigene Bewandtniß. Ich Hatte aus 
der Tagesordnung zwar erjehen, daß die Vorlage am 15. Auguft, am Tage, als 
ich zum erften Mal in der Nationalverfammlung erſchien, zur Discuffion fommen 
werde; aber e3 hatte mir Niemand gejagt, daß ich mich an der Debatte be» 
theiligen jolle. Dies war meinem Vorgänger in meiner Eigenſchaft als Militär- 
commiſſarius des Kriegsminiſteriums infinwirt worden, welcher mir jedoch fein 
Wort davon mitgetheilt hatte. Da die Sache von langer Hand her vorbereitet, 
die Arbeiten an der Bahn jelbft jchon begonnen, die Abgeordneten mit Plänen 


152 Deutihe Rundſchau. 


verjehen und im Sinne der Vorlage bearbeitet worden waren, jo glaubte ich gar 
nicht, daß außer den Miniftern des Innern, des Handel oder deren Com— 
mifjarien Jemand das Wort nehmen werde. Als jedoch die Debatte ſich dem 
Ende näherte, trat der Minifter Hanjemann auf mich zu und erinnerte mid), 
daß es nun Beit fei, meinerjeit3 die militärifchen Vortheile der vorgejchlagenen 
Richtung zu erörtern. Ich war hierüber nicht wenig exftaunt und betreten. 
Zum erjten Mal vor einer ſolchen Verfammlung zu jprechen, und nun vollends 
undorbereitet, war eine recht peinliche Aufgabe. Ich gedachte des Raths, den 
vor nicht langer Zeit der alte 3. den Abgeordneten de3 vereinigten Landtages 
gegeben Hatte: 

Tritt friſch auf, 

Mach's Maul auf, 

Und hör’ bald auf! 
Da ih nur mit der Majorität zu gehen und den Abgeordneten, Landrath Bauer, 
der die Oſtbahn von Driefen ab über Schneidemühl und Conitz, ftatt im Nebe- 
und im Weichjelthale, geleitet haben wollte, zu widerlegen hatte, jo war die 
Sade an ſich nicht ſchwierig. Ich will nicht jagen, daß mein „maiden-speech* 
gerade ein Mufter von Beredtjamfeit geweſen; aber es war den Leuten jchon 
genügend, daß einmal Jemand vom Kriegsminifterium zu ihnen ſprach. Sie 
jchienen darauf einen befonderen Werth zu legen. „Nun,“ fagten die Abgeordneten, 
„hat doc das Kriegsminiſterium einmal geſprochen, nun wird man fich doc 
mit ihm verftändigen können.“ Man kam mir von vielen Seiten her freundlich 
entgegen, und ich erhielt VBerficherungen vollauf, daß man bei Offenheit und 
Entgegentommen das Kriegsminiſterium bereitwillig und nad Kräften unter- 
ftügen werde. Weit entfernt, mir dies im mindeften beizumefjen, nahm ich e3 
vielmehr nur für den allgemeinen Ausdrud des Wunſches der Kammer, in der 
Stein’ihen Sade eine Verföhnung herbeizuführen: Ich habe bei all’ den Fragen, 
in welchen ich jpäter noch das Wort nahm, bei der Frage über die Unterftüßung 
der Anvaliden (am 1. September); über die Bewaffnung der Bürgerwehr auf 
Staatäfoften (am 5. September); über die Formirung der Artillerie der Bürger- 
wehr (am 26. September), troß der Bemühungen des Grafen Reichenbach, mir 
das Bejteigen der Tribüne unmöglich zu machen, diejelben Beweiſe einer gewiſſen 
Freundlichkeit erfahren. 

Die ungünftige Abftimmung am 9. Auguft ſelbſt, ſowie die Erklärung von 

135 Abgeordneten, welche jenen Beſchluß der Kammer für unzuläffig erklärten 
und darin den beleidigenden Verſuch zu einem Zwange der Gewiffen durch die 
Drgane der Regierung, den Anfang einer Inquiſition erblickten, Hatte der 
Bervegungspartei Beforgniffe eingeflößt. Nebenbei war ihr der Eindrud diejes 
Beichlufjes auf die Armee ſelbſt nicht entgangen. Sie wünſchte daher eine Ver— 
jtändigung. Herr von Unruh hat alfo ziveimal Recht, wenn er jagt, daß e8 dem 
Minifterio ein Leichtes gewejen fein würde, fi) die Majorität, die es 21/, Monate 
lang gehabt, bei nur einigem Gejchid auch noch länger zu erhalten. Es würde 
dabei natürlih nicht an Aergerniſſen mander Art gefehlt haben; aber da3 
burſchikoſe und oft an das Mafloje grenzende Auftreten einzelner Mitglieder der 
Berfammlung, welches gewiß nicht ausgeblieben wäre, würde am Ende dod an 


Berlin vor, unter und nad dem Minifterium Pfuel. 153 


der Haltung des gefunden und befjeren Theiles derjelben gejcheitert jein und feine 
Remedur gefunden haben. Wie richtig dieje meine Anficht ift, mag die Thatjache 
beweijen, daß, als die Mitglieder der Schweidnitzer Commiſſion abgehen jollten, 
der Abgeordnete Schulze-Delitzſch, der fi während einer Abftimmung in 
ein Geipräh mit mir über die Angelegenheit einließ und dem ich empfahl, 
darüber zu wachen, dab fich einzelne Draufgänger durch ihre Parteianfichten 
nicht hinreißen ließen, ein leidenjchaftliches Urtheil zu fällen, mir das Verſprechen 
gab, er werde Alles thun, um die Wahrheit an’3 Licht zu fördern, und der Exfte 
jein, die Unschuld des betheiligten Militärs zu proclamiren und zu verfechten, 
im alle ſich herausftelle, daß fie die Angegriffenen gewejen wären und ſich nur 
vertheidigt hätten. „Glauben Sie doch, Herr General,” fügte er hinzu, „daß 
meine Partei an der ganzen Sache feine Freude hat; das Minifterium zwingt 
una ja, fie jo zu nehmen.” Ich konnte mich natürlich nicht auf eine lange 
Erörterung einlafjen, jondern fügte nur den Wunſch Hinzu, daß die Angelegenheit 
vorzugsweiſe durch die Commiſſion jelbft auf den verfaffungsmäßigen Weg zurüd- 
geführt werden möchte. „Berfallen Sie nur nicht auf den Gedanten von 
Gonventsdeputirten,“ fügte ich halb ſcherzhaft Hinzu, „denn allzu Scharf macht 
immer ſchartig.“ 

Wie wahjam übrigens die Gegner der Regierung in und außerhalb der Ver- 
fammlung waren, erfuhr ich von mehreren Seiten her. So arbeitete man da— 
mal3 ſchon daran, eine Deputation aus den verjchiedenen Fractionen zuſammen— 
zubringen, um dem Miniſterio zu erklären, daß e3 das Vertrauen der VBerfammlung 
verloren habe und daß e3 daher abtreten möge. Aber jei es, daß die Anjchürer 
und Faiſeurs noch zu leife auftraten, oder aber, daß die Berfammlung in ihrer 
Gejammtheit noch nicht genug terrorifirt war, die Sache ſcheiterte, — fie war 
aber, wie wir jehen werden, nur vertagt. — Das Sprecdhendfte über die Ver- 
bältniffe bleibt immer, daß das Minifterium, troß der großen Unzufriedenheit 
gegen daſſelbe, jeither ftet3 in der Majorität war. Die Rübenzuderfrage fand, 
wenngleich nicht allgemeinen Anklang, jo doch eine übergroße Unterftüßung in 
der Kammer und erfüllte Hanjemann mit der fichtbarften Freude, als die 
glänzende Majorität ihn ſeines Sieges vergewiſſerte. Ach jehe ihn in Gedanken 
noch, ftrahlenden Antlites, durch die Reihen der Berfammlung jchreiten und ſich 
jeines Erfolges freuen, nachdem er während der Abftimmung ſelbſt ſich anjcheinend 
theilnahmslos verhalten und mit verjchiedenen Abgeordneten über ganz gleich- 
gültige Dinge geiprochen, oder die Einwände einzelner ſächſiſcher Deputixten, die 
ihm beweijen wollten, wie jehr ungerecht diefe Steuer jei, nad) Kräften wider- 
legt hatte. Die anderen Minifter verhielten fih um jo ruhiger, als ob fie die 
Sade gar nicht berühre. Es war in dem Minifterium etwas Mattes, Müdes, 
ich möchte jagen etwas Abgeftorbenes; die Minifter fühlten es, daß die Bewegung 
noch nicht beendet jei, aber fie hatten noch nicht begriffen oder noch nicht ent- 
ichieden, welche Rolle Jeder von ihnen in dem Drama eigentlich zu übernehmen 
haben würde. 

Das Uebelſte indeflen bei der ganzen Sade war, daß fi) die National- 
verfammlung fichtbar mehr nach Links ſchob, daß fi) die Straßenkrawalle 
mehrten, daß die Autorität ftücweife mehr und mehr Terrain verlor, und daß 


154 Deutſche Rundſchau. 


die Beſchlüſſe der Nationalverſammlung ſchon eine Art obligatoriſcher Despotie 
nach Außen zu bildeten. Es iſt hier und dort angedeutet worden, als ob das 
Miniſterium den Straßenunfug, wenn auch gerade nicht provocirt, doch gern 
geſehen Hätte. Ich kann jedoch verſichern, daß ich hievon nie das Mindeſte 
wahrgenommen; daß ich im Gegentheil wiederholt gehört habe, wie der Miniſter 
des Innern ſowol als ſeine Collegen von all' den Scandalen tief ergriffen geweſen 
find. Auch glaube ich mit Beſtimmtheit jagen zu können, daß man in Potsdam 
diefe Dinge jehr übel vermerkt hat. Ob fi aber nicht im Schoße des 
jogenannten Junkerparlaments Leute befunden haben, denen dergleichen nicht 
unlieb war, wer wollte darüber eine bejtimmte Anſicht haben, jo lange nicht 
Beweiſe vorliegen ? 

Die lekten günftigen Abftimmungen, deren fi) da3 Minifterium Aueröwald- 
Hanfemann erfreute, waren die in Bezug auf da3 Bürgerwehrgeſetz. Es darf 
hiebei nicht überfehen werden, daß e3 das erjte und nothiwendigfte Beftreben 
einer Revolution ift, jich eine bewaffnete Macht zu ſchaffen, deren Schuß fie fi 
anvertrauen kann. Man weiß aus der Gejchichte, da mit diefer Frage aud) 
die Revolution entjchieden iſt. Die Beftrebungen der Aufftändiichen waren alſo 
auch jofort auf die Gründung einer Bürgerwehr gerichtet; nicht daß die loyalen 
Bürger und Beamten, die ih Anfangs für diejelbe hergegeben, einen Hinter: 
gedanken gehabt, jondern dieſe Hatten die redliche Abficht, Mebergriffen der Unruh— 
ftifter zu fteuern. Die Vorftellungen von Nationalgarden und Bürgerbewaffneten 
waren num einmal aller Welt geläufig geworden. Die Revolutionärs aber, welche 
die honnetten Leute düpirten, wie fie dies ftet3 gethan und fortan auch ferner 
thun werden, verbanden damit ganz andere Begriffe. Wenn ich nicht irre, jo 
fam der erſte Vorſchlag zu einer allgemeinen Bürgerwehrverfaffung mit jelbft- 
gewählten Führern — alfo ganz nad) dem Mufter der franzöſiſchen — von 
dem Geheimen Regierungsrath Abegg aus Kreuznach. Herr Generallandichaftsrath 
von Rodbertus aber brachte ihn an demjelben Tage — am 15. Juni — erweitert 
und mehr bindend für die Regierung vor das Haus. Der Entwurf jollte jeinem 
Antrage gemäß dem Plenum von einer Commijfion vorgelegt und nad) gehöriger 
Erörterung der Krone zur Erklärung unterbreitet werden. Herr von Rodbertus 
hatte die franzöfifche Revolution zu gut ftudirt, um nicht zu wiſſen, was bei 
derjelben die Unruhſtifter trieb, die Organifation und die Bewaffnung der Bürger- 
ehren zu betreiben. „Pour desarmer moralement les soldats du roi, pour les 
desenchanter, il importait d’armer physiquement le peuple. Lä, oü le citoyen 
est arme, le soldat est citoyen. Cet 6vönement d’une peur universelle arracha 
tout-A-coup les Frangais de leur servile stupeur,“ war damal3 das Stichwort 
der Meuterer. 

Herr von Rodbertus, der Sohn eines Greifswalder Profefjors, der eine 
jorgfältige Erziehung erhalten hatte und, wenn ich nicht irre, durch Heirath in 
den Bejit eines Gutes gelangt war, joll früher ein guter Royalift getvejen fein. 
Aus mir nicht befannten Gründen war er in’3 demofratijche Lager übergegangen 
und gehörte fortan zu den erbittertften Gegnern der Regierung. In feiner 
Nachbarſchaft nicht jonderlich geliebt, erfreute er ſich aud in der National- 
verfjammlung nur geringer Sympathien. Mit dem bekannten Caplan von Berg 


Berlin vor, unter und nad) dem Minifterium Pfuel. 155 


in innigem Verkehr, einige Tage Minifter des Cultus, ftand er dennoch ziemlich 
ilolirt in der VBerfammlung, jo oft er auch durch exrtravagante Vorjchläge, die 
meiften3 jehr gut abgefaßt und vorbereitet waren, hervortrat. In wie weit er 
dabei von Anderen beeinflußt worden, läßt ſich nicht bejtimmen. ebenfalls 
war er jehr unbequem. Bei ber Trage über die Bürgertvehr fam e3 in den 
Commiſſionen zu jehr lebhaften Erörterungen, die jedoch nicht immer zum Vor— 
theil der Bewegungspartei ausfielen. Diejer ſchwebte allerdings Klar vor, was 
fie wollte, aber auch den Gutgefinnten entgingen die Gefahren de3 Unweſens 
keineswegs, welches mit den Nationalgarden getrieben werden konnte. Ich hatte 
die unangenehme Aufgabe, allen diefen Commiffionen beizutwohnen und aud) 
Öffentlich aufzutreten, um die Bewaffnung der Bürgerwehr auf Staatzkoften zu 
bintertreiben. Durch eine offene und wahrhafte Angabe unferer Waffenbeftände 
unter bejonderer Erwähnung aller der Principien, die für die vollftändige Aus- 
rüftung einer Armee bei allen europäifchen Völkern Geltung hätten, glaubte ich 
die Verſammlung für meinen Zweck günftig zu ſtimmen. Ws id von ber 
Tribüne trat, jagte Herr Hanjemann zu mir: „Sie haben jehr Unrecht gethan, 
Ihren Reihthum jo zu verrathen, Sie werden jehen, daß man Jhnen die Gewehre 
abnehmen wird;“ die Abjtimmung aber: 121 zu 201, während 80 Mitglieder 
noch gefehlt hatten, bewies das Gegentheil. 


Wiener Mufikbrief. 





Wien, im März 1877. 


Der Mangel an neuen Opern treibt bier wie anderäwo zu allerlei Wieder- 
belebungsverfuchen an alten. Zwei Lieblingsopern aus unferer Kinderzeit, Lieblings— 
opern in ganz Europa, find nach vieljähriger WVerjchollenheit wieder aufgetaucht: 
„Zampa” von Herold und „Die Ballnadht” von Auber. Beide mußten 
fi mit jehr mäßigem „Achtungserfolg“ begnügen; noch richtiger könnte man von 
einem Erinnerungs- und Enttäufchungserfolg jprechen. Man erinnerte fi) Nummer 
für Nummer an all das Vergnügen, dad man ehedem in der „Ballnacht” und in 
„Zampa“ erlebt und — war enttäufcht, es jebt nicht wiederzufinden. „Zampa“ 
halte ich troßdem noch für lebensfähig und wirkſam, wo ein gewaltiger und liebens— 
würdiger Sänger die Hauptfigur darftellt und die Uebrigen ihn wenigſtens tadellos 
unterftüßen. Hier fand die Wiederaufführung des „Zampa“ nicht im Hofoperntheater, 
fondern in der „Komifchen Oper“ ftatt, mit ganz unzureichenden Kräften. Der 
Zenorijten=Beteran Sontheim war ald Zampa halb Lächerlih, Halb widerwärtig, 
wie dad von dem diden alten Seren nicht anders zu erwarten ftand. Sontheim 
befitt noch einige jchöne, vollflingende Töne, mit denen er zu wirken vermag, wenn 
die muſikaliſche Phrafe ihm Zeit läßt, Athem zu jchöpfen. Schon vor ſechs bis acht 
Jahren, bei feinem letzten Gaftjpiel in Wien, war Sontheim jo kurzathmig, daß er 
alle gebundenen Mtelodieen zerreißen und mitten im Tacte Athem jchöpfen mußte. 
Diefer Uebelftand Hat, immer zunehmend, der Umgebung Sontheim’ jo ernftliche 
Sorge bereitet, daß die Stuttgarter Aerzte ihm bekanntlich jede weitere Bühnen- 
thätigfeit unterfagten. Sontheim, der eine ruhmvolle Sängerlaufbahn von vierzig 
Jahren Hinter fi) hat und forgenfrei, in ficherem Wohlſtande lebt, kann fich aber 
zum Ausruhen — jelbjt auf Lorbeeren — nicht entfchließen. Er zieht e& vor, auf 
einer untergeordneten Bühne, in ganz ungenügender Umgebung, jeine ehemaligen 
Glangrollen zu — parodiren. In einer einzigen Partie, als Eleazar in der „Jüdin“, 
ift Sontheim noch möglich; nicht nur macht ihm die Maske eines böjen alten Juden 
feine Schwierigkeit, jelbjt die fatale Athemnoth des Sängers nimmt man hier mit» 
unter ala unwillfürliche Charakteriftif des jüdiſchen Fanatismus. Die Tenoriften find 
doch recht übel daran — fie können nicht wie die Helden und Liebhaber im Schauspiel 
bei vorgerüdten Jahren in ein älteres Rollenfach übertreten. Eleazar in der „Jüdin“ 
ift die einzige große Tenorpartie diefer Art, das letzte Aſyl für fingende Patriarchen 
wie Sontheim. Warum find auch alle Tenorpartieen über den Einen Leiften der 
Jugend und Schlanfheit geichlagen? Warum werden jo wenig alte Juden componirt, — 
jett wo unter den jungen Chriften die Heldentenore täglich mehr jchwinden? Sontheim 
hat leider nicht die Selbjterfenntniß und Selbſtachtung, bei diejer Rolle zu bleiben ; 
er gibt noch alle jugendlichen, flotten Liebhaber, wie den Lyonel in „Martha“, den 
Zroubadbour, George Brown, den Boftillon von Longjumeau, Fra Diavolo und zu- 


u 2 a a a ZT D-00000 5.2 engen Or ES SEE" EHE — — >0 


Wiener Mufifbriei. 157 


legt auch noch den unwiderſtehlichen Verführer JZampa! Wan kann diefe Oper, die 
für unfere jüngere Generation eine Novität ift, nicht ärger compromittiren, als durch 
ſolche Bejegung der Titelrolle. Wie große Wirkung hat no Piſchek als Zampa 
erzielt, in zahlreichen Wiederholungen und auf allen deutfchen Bühnen! 3 jpricht 
für die Oper „Zampa“, daß fie gleich bei ihrem Erſcheinen viel größeres und an- 
baltenderes Anjehen in Deutichland genoß als in Frankreich, wo die glänzenderen 
Erfolge von Herold’ „Marie” und „Le pre aux clercs* (Zweikampf) fie in Schatten 
ſtellten. Dieje beiden muſikaliſchen Converſationsſtücke, einheitlicher und ruhiger in 
der Form, repräfentiren auch vollftändiger ihr Genre — „Marie“, das rührende Fa— 
milienbild, der „Zweilampf”, das Intriguenluſtſpiel — während „Zampa“ mit ver» 
wegener und nicht immer wählerifcher Hand Tragiſches und Komiſches durcheinander 
miſcht. Uns gilt trotzdem „Zampa“ Tür das muſikaliſch Eigenthümlichite und Reichite, 
wozu Herold's Talent fich aufgeſchwungen, und wenn noch Heutzutage deutjche 
Schriftiteller die unbedeutende Waubdeville- Mufit der „Marie“ und den gequälten, 
falten Esprit des „Zweikampf“ auf Koften des „Zampa“ herausſtreichen, jo gehört 
das wol auf die lange Lifte der ererbten und nicht geprüften Kunfturtheile. Seine 
der zahlreichen Partituren Herold’3 vermag den üppigen, leidenjchaftlichen Klängen 
aus „Zampa's“ drittem Act Etwas an die Seite zu ftellen. Iſt es nur der Zauber 
der Jugenderinnerung, was und dieſe Melodien noch Heute vergoldet? Das glaube 
ich doch nicht, jo gerne ich mir jenen Zauber zurüdrufe und manche Nacht, die ich 
unter dem erjten GEindrude des „Zampa” in kindiſchen Schauern und kindiſchem 
Entzüden verträumte. In diefer Muſik ftrömt eine reiche melodifche Ader, pocht ein 
(ebhafter dramatischer Puls. Friſche, Lebendigkeit, eine gute Charakteriſtik für das 
Schauerliche, das Schelmijche und Zärtliche zeichnen fie aus und laſſen ung manchen 
dilettantifchen und bizarren Zug, manche leere Stelle mit in den Kauf nehmen. In 
den beiden erjten Acten herricht die pilante Converſations-Muſik und der glatte 
franzöſiſche Nomanzenftil vor; die beiden Finale, an ſich von geringem mufifalifchen 
Gehalt, machen, belebt durch Inſtrumentirung und Scenerie, immerhin den Eindrud 
de3 Glänzenden. Die Stimmung des dritten Actes geht tiefer: wie unter Thränen 
zittert die ſüße Melodie des Schifferliedes; aus Zampa's Flehen („O, bebe nicht!“) 
fpricht eine verführerifch weiche Zärtlichkeit, angeglüht von unterdrüdter Leidenschaft, 
welche endlich im Allegro des Duett? als entfejjelte Sinnlichkeit auflodert. Die volle 
Leidenſchaft Liegt hier allein in der Melodie, nicht in dem malenden Orcheſter, wie 
jo oft bei den Neueren. Der Schluß der Oper ift matt, ein fajt allgemeines Uebel 
der älteren Opera comique. Die bier gewagte neue Steigerung aller dramatijchen 
und muſikaliſchen Effectmittel und Häufung von romantischen Gontraften hat Herold's 
Zampa“ eine kunftgejchichtliche Bedeutung verliehen. „Zampa”, im Mat 1830 zuerft 
aufgeführt, war der unmittelbare Vorläufer von „Robert der Teufel“ (1831) 
und bildet mit diefem, der „Stummen von Portici“ (1828) und „Wilhelm 
Tell“ (1829) das vierblätterige Kleeblatt der auffeimenden mufilalifchen Romantik 
in Frankreich. Man weiß, welche Revolution in der gefammten Opernmufil daraus 
erwuchs, eine Revolution, unter deren Einwirkung wir heute noch jtehen. Diejes fallt 
gleichzeitige Hervortreten vier verfchiedener Meifter mit Opern neuen Inhalts, neuen 
Stils und von jo demagogifcher Wirkung beweiit für den unbewußt zwingenden Zug 
der Zeit-Ideen, welcher hier mitwirfte. E3 begann auch auf dem Gebiete der Oper 
ein Bruch mit den Traditionen, eine franzöfifch -romantifche Schule. In dem Ein» 
Auffe diefer, Hauptfächli die Wirkung des Gontraftes ausbeutenden Doctrin findet 
auch das Tertbuch des „Zampa“ eine wenigftens entichuldigende Erklärung. Ueberdies 
wirfte noch direct der verführerifche Reiz von Mozart’3 „Don Juan” auf Herold's 
Phantafie.e Die Idee, den Don» Juan - Stoff nach Molière's „Festin de pierre* zu 
componiren, gab Herold aus Ehrfurcht vor Mozart auf; aber er drang in den Dichter 
Mellesville, ihm ein ähnliches Sujet für den bejcheidenen Rahınen der Opera 
comique zu bearbeiten. Zampa ift auch ein „Dissoluto punito“, der an der Statue 
der todten Gamilla Trevelt, wie Don Juan an der Statue des Gouverneurs, und 


“ 


158 Deutſche Rundſchau. 


ſchließlich wie Jener an der Hand des rächenden Geiſtes verſinkt. Leider iſt auch 
unſere „Komiſche Oper“ ſelbſt wieder im Begriffe zu verſinken, und zwar an 
der Hand ihrer Gläubiger. Dieſes Theater, das wir mit ſo ſchönen Hoffnungen 
begrüßten, kommt nächſter Tage unter den Hammer. 

Wie Herold's „Zampa“ in der Komiſchen Oper, ſo erlebte auch Auber's 
„Ballnacht“ im Hofoperntheater eine ſehr zweifelhafte Auferſtehung. „Gustave III. 
ou le bal masqué“ hat niemals zu ben beſten Werken Auber's gezählt; ihre großen 
Erfolge verdankt diefe Oper größtentheild der Balletmufit und dem Maskengepränge 
im letzten Act, — ein damals noch unabgenußter Effet. Trotz vieler graciöjer 
Einzelheiten und der allerliebften Figur des Pagen Hat man doch jederzeit gefühlt, 
daß in den leidenjchaftlichen Scenen Auber's Mufif und gar viel ſchuldig blieb. Be— 
fonders lebhaft mußte dies Verdi fühlen, da er aus dieſer ſchwachen Seite der 
Auber’schen Muſik den Muth jchöpfte, den ganzen Operntert der „Ballnacht” neu zu 
componiren. Seine Oper „Il ballo in maschera* ift zu befannt, al& daß wir fie 
hier zu jchildern hätten. Es fei nur bemerkt, daß fie troß zahlreicher Trivialitäten 
doch ohne Frage effectvoller, leidenjchaftlicher, dramatiſcher ift, ala Auber's Compofition; 
daß fie überall die letere verdrängt hat, und daß es daher jehr mißrathen war, heute 
wieder den Stiel umdrehen und den Jüngeren durch den Welteren verdrängen zu 
wollen. Auber's „Ballnacht“ wird nach zwei oder drei Wiederholungen ad acta 
gelegt und an ihrer Statt die Werdi’fche Oper wieder geipielt werben. 

Auber’3 „Bal masqué“ ftellt da8 Talent und die Gejchidlichkeit des Tertdichters 
Scribe in helles Licht und die Kritik kann bei diefer wie bei anderen Auber’- 
Ihen Opern gar nicht umhin, gleichzeitig Scribe Aufmerkjamkeit und Anerkennung 
zu fchenfen. Einige Erinnerungen an Eeribe dürften hier Pla finden. Sch habe 
in Paris von Freunden und Gollegen Scribe’3 viel über ihn erzählen hören, auch 
einen interefjanten Brief von Legouvé über die mufilalifche Thätigkeit Scribe’s in 
Händen gehabt. 

Scribe war gar nicht muſikaliſch; er jpielte fein Inſtrument und Hat ficherlich 
niemals eine Gejangslection gehabt. Trotzdem darf man ihn einen großen muſi— 
falijhen Erfinder nennen. Er Hat nämlich, der Erfte, ja faft der Einzige, das 
Genie für jene dramatiichen Situationen bejeffen, welche der Mufif neue Wege eröffnen 
und ihren ganzen Werth erjt durch die Muſik befommen. Solche Scenen find die 
Schwerterweihe in den „Hugenotten”“, die Licitation in der „Weißen Frau“, bie 
Domfcene im „Propheten“. Es gab nichts Charakteriftiichere® als die Art jeiner 
Mitarbeiterfhaft mit den GComponiften. Er begeifterte fih an ihnen, um fie wieder 
zu begeiftern. So verſchieden die Muſiker, für die er jchrieb, jo verfchieden waren 
feine Gattungen von Operngedichten. Auber’3 Scribe ift nicht der Scribe des 
Meyerbeer, und Meyerbeer’3 Scribe nicht der Scribe des Halévy. Die Indi— 
vidualität eines jeden biefer Tondichter wirkte energifch auf die feinige und gab 
ihm eine neue Art von AInfpiration. Er jchuf ihnen Dichtungen nach ihrem Eben- 
bilde. Freilich hat er, wie alle Librettiften, fi) manchmal auch geirrt in der Adreſſe. 
Die komiſche Oper „Der Schnee“ war erft Boieldieu angeboten, bevor fie an 
Auber gelangte. Aber in der Regel jpielte das Naturel desjenigen Gomponiften, 
dem ein beſtimmtes Libretto zugedacht war, eine große Rolle in den Gonceptionen 
Scribe’3. „Gustave III.“ (die Ballnacht) Hatte er für eine breitere, Leidenjchaftlichere 
Mufit angelegt, als die Auber’sche; uriprünglich war dieſes Libretto für Roſſini 
beitimmt, wohlgemerkt für den Roffini des „Wilhelm Tell“. Diefer intereffirte fich 
jehr für den Stoff und erwärmte fich bejonders für die Scene im vierten Acte, wo 
die drei DVerjchworenen den Namen des Mörderd auß der Urne ziehen. Roſſini's 
zunehmende Trägheit ließ diefen wie manchen anderen Plan unausgeführt. 

Bon Donizetti rühmte Scribe: „er ift der angenehmfte von allen meinen 
mufitalifchen Mitarbeitern; mit Allem zufrieden, fügt er fih Allem und verlangt 
niemals etwas.” Dagegen war Meyerbeer mit gar nichts zufrieden und verlangte 
immer irgend etwad. Diefe Unbequemlichkeit kam übrigend auch doch dem Poeten 


Wiener Mufitbrief. 159 


wieder zu jtatten. Meyerbeer, mit jeiner raftlos arbeitenden Phantafie, feinem 
Streben nad) Großartigem, feiner Jagd nach dem Unmöglichen, befruchtete die Er- 
findung Scribe’3, indem er fie aufftachelte, er zwang jeinen Librettiften ernjt und 
nachdenfend zu werden, wie er jelbit, und jo unglaublich war Geribe’3 geijtige Ela= 
ftieität, daß er wirklich alles Dasjenige wurde, was Mteyerbeer nöthig hatte. „Wenn 
Meyerbeer bei mir eintritt,“ ſagte Scribe, „jo bin ich auf Alles gefaßt. Er wird 
mir vielleicht jagen: „Was gäbe das für ein ſchönes Duett, zwilchen einer Roje und 
einem Froſch!“ Sobald Meyerbeer fein Libretto in Händen hatte, begann er jofort 
es nach feiner Art umzugeftalten. „Ah, cher maitre, was für einen jchönen erjten 
Act Haben Sie mir da in der „Afrifanerin” gegeben! Nur möchte ich lieber am 
Schluffe jtatt des Turniers ein Concil!“ Und Scribe machte das Concil. Meyerbeer 
liebte nicht die jchönen Verſe, fie jchienen ihm den Plab zu ufurpiven, der der Mufit 
gebühre. Der Zert zur Gnaben= Arie in „Robert der Teufel” war zuerft von 
C. Delavigne in etwas poetifcherer Diction verfaßt. Nach zwei Tagen fommt 
Meyerbeer ganz verzweifelt zu Scribe: „Ich kann darauf feine Muſik finden, das iſt 
ja ſchon Melodie, Sie jollen mir das umarbeiten.” „Sagen Sie lieber, ich joll es 
umbringen!“ rief Scribe lachend und jchrieb fein „Gnade für mi, Gnade für 
—* „Das laß' ich mir gefallen!” ſchmunzelte Meyerbeer, „das find Verſe, wie 
ich fie Liebe.“ 

Scribe betrachtete fich ala den Diener, beinahe ala den Sklaven feines Com— 
poniften. Was er als alleinige Domäne ſich vorbehielt, war die eigentliche dramatijche 
Erfindung; in Bezug auf die Verſe fügte er fich willig dem Componiften. Der 
Balfift Obin veränderte einmal willkürlich den Tert einer Stelle in der „Sicilianifchen 
Besper” und machte damit in der Probe großen Effect. Nach der Probe eilte er zu 
Scribe, bat ihn um Bergebung, daß er feine Verje in Proja aufgelöft habe und 
erjuchte ihn, num feine (Obin’s) Profa wieder in Verſe zu jeßen. „Ich werde mich 
hüten,“ erwiderte Scribe, „Ihre Stimme entwidelt fi am beiten auf Ihrem eigenen 
Terte; fingen Sie ihn, ich werde ihn jpäter für die gedrudte Ausgabe in Berje 
bringen.“ Scribe war in diefem Punkte, wie man fieht, ganz der Anfiht Boiel- 
dieu's, welcher behauptete, daß die Mufiker allein wüßten, ob ein Tert muſikaliſch 
lei. Eines Abends, auf dem Lande, gab er eine eigenthümliche Erklärung dazu: er 
öffnete das Fenſter über jeinem jchönen Garten, zeigte gegen Himmel und jagte zu 
feinen Freunden: „betrachtet diefen jchönen Mond! Wenn ich nun anfinge zu 
declamiren: komm' o Mond und leg’ deine Hand auf mein Herze! jo würde Euch das 
entjeglich dumm vorfommen, — wolan denn, es ift bumm, aber jehr mufifalijch.“ 

Eugöne Scribe war im Jahre 1791 geboren. Mit 18 Jahren jchrieb er 
(anonym) fein erftes Luftfpiel. Es fiel durch; doch fchon der zweite Verſuch war 
glüdliher. Von da an (1811) bis zu feinem Tode (1861), alſo in Zeit eines 
halben Jahrhunderts, Hat Scribe 422 Werke aufführen laffen. Dieſe enorme Lifte, 
in welcher etwa 40 ungedrudt gebliebene Theaterftüde gar nicht aufgenommen find, 
Ipecificirt fich wie folgt: 47 Luftipiele und Dramen, 28 große Opern, 95 komiſche 
Opern, 244 Vaudevilles, 8 Ballete. Außerdem Hat Scribe Erzählungen und Romane 
geichrieben. Der größte Theil jeiner wichtigeren dbramatifchen Arbeiten, die fünfactigen 
Quftipiele, die großen Opern, viele fomijche Opern und Waubevilles find von ihm 
allein veriaßt. Um alles Uebrige vollenden zu können, brauchte Scribe Mitarbeiter 
und er hat deren 130 gehabt, nämlich 75 literarifhe und 55 Tondichter. Es ift 
eine vom Neid ausgehedte, alberne Verläumdung, daß Scribe feinen Namen auf 
Werke gejeßt habe, an denen er nichts gearbeitet. Im Gegentheil beftätigen alle 
feine Mitarbeiter, daß fein Stüd aus feinen Händen fam, das er nicht volljtändig 
ſelbſt umgejchrieben hatte. Einer feiner Mitarbeiter pflegt jogar, befcheiden genug, zu 
erzählen: „In allen Stüden, die ich mit Scribe gearbeitet habe, iſt nicht Ein Wort 
von mir ftehen geblieben.“ 

Betrachten wir das Repertoir des Wiener Hofoperntheater® und der Komifchen 
Dper in den lehten zwei Wochen. Da finden wir: Die Hugenotten, Robert der 


160 Deutiche Rundſchau. 


Teufel, Der Prophet, Die Afrikanerin, Die Ballnacht, Die Jüdin, Die Weihe Frau, 
Fra Diavolo. 

Sauter Libretto'3 von Scribe! Das allein reiht Hin, um uns die große 
Wichtigkeit Scribe’3 für die Opernmuſik augenfällig zu machen und die fchmerzliche 
Lüde, die fein Tod in den Kreiſen der franzöfifchen Muſiker zurüdliep. 

Im Hofoperntheater beginnt nun rege Leben und bunte Abwechslung. 
Kaum bat Chriſtine Nilsſon ihr langes Gaftfpiel triumphirend beichloflen, und ſchon 
rüden die Jtaliener ein, um mit Adeline Patti an der Spibe ihre Zweimonat- 
Herrfchaft anzutreten. Diefe Herrſchaft foll diegmal keine ausſchließliche fein, wie 
in den früheren Jahren; deutjche und italienische Worftellungen werden mit einander 
abmwechjeln. Unter den lebteren erfcheint Wagner’3 „Walkyre“ als erjte Novität. 
Die unausgefegten anftrengenden Proben zur „Walkyre“ nehmen neben den Sängern 
auch das Orchefter jo jehr in Anipruch, daß leßteres für feine „Philharmoniichen 
Goncerte” feine Novität mehr ftudiren Eonnte, ſondern ſich mit erprobten Reper- 
toirenummern begnügte. Auch die „Gefellichaftsconcerte“ brachten eine einzige 
größere Novität, eine ſymphoniſche Dichtung ihres ausgezeichneten Dirigenten Her- 
bed, betitelt „Künſtlerfahrt“. Das nicht Hochbedeutende, aber freundliche, 
graciöfe und reizend inftrumentirte Orchefterjtüd fand lebhaften Beifall. 

Unter den fremden Virtuoſen, welche diesmal, jpärlicher als jonft, jich zur Goncert- 
faifon hier einfanden, hat ungewöhnlichen Beifall nur der ſpaniſche Biolinvirtuoje 
Herr Sarofate errungen, deifen Spiel an Klangfchönheit und blendender Technik 
faum zu übertreffen ift. Geift und Gemüth kommen dabei allerding® ein wenig zu 
kurz... Unfer Hofopernfänger Walter, vortrefflicher Liederfänger und weit mehr 
lyriſcher ala dramatifcher Tenor, gab ein Concert, das er mit dem vollitändigen Vor— 
trag ſämmtlicher „Müllerlieder” von Franz Schubert ausfüllte Der Saal war 
zum Grdrüden voll. Die Verehrung der Wiener für ihren Schubert hat eine ganz eigen- 
thümliche, faſt verwandtjchaftliche Zärtlichkeit. Mag fie hin und wieder (namentlich in 
Kreifen, deren Erinnerungen mit Schubert jelbit verflochten find) etwas zu weit gehen und 
ohne ftrenge Unterfcheidung auch die Ichwächeren Werke des Lieblings vergöttern, — al? 
fünftlerifche Erfcheinung im Großen und Ganzen fann diefer geniale und liebenswürdige 
Tondichter faum überjchägt werden. Man kann ihn nicht jchöner charaterifiren, ala es 
8. Ehlert mit folgendem Ausſpruch that: „Würde ein höheres Weſen, mit menjch« 
lihen Dingen unbekannt, fich vertraut machen wollen mit Allem, was unfer Herz 
bewegt, ich wüßte feinen Rath, dafjelbe raſcher in den Beſitz einer grenzenlofen Ueber: 
ficht menschlichen Seins zu verfegen, ala indem ich ihm die Lieder Franz Schubert’3 
zeigte. Hier findet fich Alles aufgezeichnet, twad wir an Wonnen und Klagen be- 
fiten..... Sei müde oder aufgeregt, krank oder übermüthig vor Gefundheit, fei 
glüdfelig oder unfelig, befriedigt oder verzweifelt, ſei welchen Alters und welchen 
Volks du willft, Kranz Schubert wird dein Herz bewegen.“ Aber auch Schubert’ 
icher Nektar will mit Maß gejchlürft fein, und den ganzen aus zwanzig Liedern 
beitehenden Cyclus „Die jchöne Müllerin” in Einem Zug vorzutragen, bleibt ein 
gewagtes und zweifelhaites Erperiment. Daffelbe wurde zum erften Mal in Wien 
von Julius Stodhaujen gewagt. Wenn e3 je einen Sänger gab, der Solches 
mit ficherem Erfolg unternehmen durfte, jo ift es Stodhaufen, deffen unvergleichlicher, 
tief eindringender und fein nuancirender Vortrag nicht nur jedes Lied im feiner vollen 
Gigenart wiedergab, jondern aus manchem etwas geradezu Neues zu machen verjtand. 
Durch den Vortrag des ganzen Cyclus erzielte Stofhaufen den wichtigen Vortheil, 
das bisher Iyrifch Vereinzelte auch einmal dramatisch auffaffen zu können. Wir 
haben damals das Bejtechende diejes Einfalls mit großer Befriedigung anerkannt, 
mußten aber doch zugleich vor einer Wiederholung des Erperimentes warnen, Die 
Nachtheile eines folchen Igrifchen Monftreconcertes treten empfindlich hervor, Tobald 
der Reiz der Neuheit fie nicht mehr det. Es hat ung jederzeit viel mehr Genuß 
bereitet von Walter eine jeiner gemiüthvollen Individualität zufagende Auswahl 
aus den „Müllerliedern“ zu hören, ala wir bei feinem Vortrag des ganzen Cyclus 


Voltswirthichaftliche Rundſchau. 161 


empfanden. Das Schwelgen in lauter zarten, rührenden Empfindungen durch alle 
zwanzig Liebesſtadien des guten Müllerburjchen Hindurch mußten wir jchließlich mit 
einer tiefen Ermattung bezahlen. — 

Don den mufifalifchen Novitäten, welche unfere Borftadttheater in jüngjter 
Zeit brachten, verdient nur Offenbach's „Reiche Bäderin” flüchtige Erwähnung. 
Die Parijer haben ein altes Volkslied von einer reich gewordenen Bäderin mit dem 
Refrain: „La boulangere a des &cus“. Diejer Refrain wird in der Handlung 
der neuen Operette gleichſam auseinandergelegt und fortgeſetzt. Die Muſik enthält 
einige heitere, pifante Nummern, daneben viel unbedeutende Lückenbüßer und Reminis- 
cenzen aus Offenbach’3 früheren Werfen. Wer jo unausgeſetzt und flüchtig producirt, 
wie Offenbach jeit 25 Jahren, muß bei dem glänzenditen Talent bald ermatten und 
ichlieglich bankerott werden. Faſt muß man ftaunen, daß ihm noch immer jo viel 
einfällt, wie in dieſer „Reichen Bäckerin!“ Die Novität gefällt in der trefflichen 
Aufführung des Garltheaters, obwol fie zu Offenbach's jchwächeren Sachen gehört. 
Gleichzeitig haben wir fein neue® Buch über Amerika kennen gelernt: „Offenbach en 
Amerique‘. Das iſt Offenbach's ſchwächſte Operette. Ed. Hanslick. 


Volkswirthichaftlihe Rundſchau. 


— — 


Zur Frage der Differenzialtarife. 


—— — 


Fritz Krönig, Die Differenzialtarife der Eiſenbahnen, ihre Entwicklung, Bedeutung und 
Berechtigung. Nach amtlichen Quellen. Berlin, Franz Vahlen. 1877. 


L 


Unter den vielen Fragen, welche die wirtbichaftlichen Kreife unſeres Vaterlandes 
ſeit Jahren beunruhigt haben und noch Heute beunruhigen, nimmt die Frage ber 
„Differenzialtarife auf den Eifenbahnen“ nicht den untergeordnetften Pla ein. Seitdem 
die deutſchen Eijenbahnverhältniffe durch die Beftrebungen nach einer Reform der 
Tarife, nach dem Erwerb von Eifenbahnen für das Reich wieder mehr in der Leute 
Mund gefommen find, ift auch diefe Frage wieder in erhöhtem Grade Gegenftand 
der Öffentlichen Discuffion geworden; machen doch viele und nicht bebeutungslofe 
Stimmen ihre principielle Stellung zu dem Reichseifenbahnproject davon abhängig, 
ob die Differenzialtarife in ihrer gegenwärtigen Geftaltung beibehalten werben follen 
oder nicht. Diefe Grörterungen Haben aber beinahe ausjchließlich in Anknüpfung an 
vereinzelte thatfächliche Erjcheinungen auf dem Gebiete des Eiſenbahntarifweſens jtatt- 
gefunden. Es find faft nur praftiiche Gefchäftsleute, Induftrielle, Landwirthe, welche 
einen einzelnen Tarif, weil er ein Differenzialtarif ſei, als nützlich preifen, als 
ichädlich verurtheilen, und welche aus dem einzelnen concreten Falle ihre Stellung 
zu der ganzen Frage herleiten. Der Begriff des Diiferenzialtariis wird 
dabei ala ein allbefannter vorausgejeßt. Diefe Vorausſetzung ift nichts weniger ala 
zutreffend. Unter Differenzialtarif ftellt fich faft Jedermann etwas Verjchiedenes vor. 
Als im Jahre 1872 ein Vertreter der Reichäregierung der Enquéête-Commiſſion, 
welche ausſchließlich die Differenzialtarife ihrer Berathung unterzog, die Frage vor— 
legte: „was für einen Begriff die einzelnen Herren der Gommiffion mit dem Aus— 
drude Differenzialtarife verbänden,“ blieb man die Antwort jchuldig. Ebenfo wenig 
bejaß unfere volfäwirthichaftliche Literatur bisher ein Werk, aus welchem eine volle 

Deutiche Rundſchau. IIT, 7. 11 


162 Deutſche Rundſchau. 


und umfaſſende Kenntniß der Entwicklung und des Weſens der Differenzialtarife zu 
ſchöpfen war. Um zu einem einigermaßen richtigen Einblick in die Bedeutung dieſes 
proteusartigen, immer twieder unter den Händen zerfließenden wirthichaftlichen Gebildes 
zu gelangen, mußte ſich der Unkundige aus einer ungeorbneten, aller Orten zerftreuten 
iteratur von Zeitungs- und Journalartikeln, von Enquöte- und Parlamentsverhand- 
lungen, von Berichten der Handeläfammern und landwirthichaitlichen Vereine und 
endlich von einzelnen Broſchüren, deren man ſchwer Habhaft werden konnte, zu unter- 
richten verfuchen. Es war daher ein glüdlicher Gedanke des preußiichen Handels— 
minifters, die Acten feines Minifteriums, in welchen das reiche Material aufbewahrt 
wird, welches an dieſer Gentraljtelle der preußiichen Staats- und Privatbahnen 
zufammengeflofjen ift, einem höheren Eifenbahnverwaltungsbeamten zur Verfügung 
zu jtellen zum Zwede der Anfertigung einer Arbeit „über die Entwidlung, Bedeutung 
und Berechtigung der Differenzialtarife der Eifenbahnen“. Die Arbeit wurde dem 
Negierungsafleffor und Mitgliede der Kgl. Eifenbahndirection der bannover’ichen 
Staatsbahn Fri Krönig, Übertragen und iſt vor Kurzem veröffentlicht worden. 

Mir ftehen nicht an, das uns vorliegende Buch als ein wohlgelungenes und 
verdienftvolles zu bezeichnen, durch welches eine bedauerliche Lücke in unferer deutjchen 
Gifenbahnliteratur vortrefflich ausgefüllt wird. Es ift und daher eine angenehme 
Pflicht, unfere Leſer auf die nichts weniger als Ddidleibige, intereffant und an— 
regend gejchriebene Schrift durch eine kurze Wiedergabe ihres Inhalts aufmerkſam 
zu machen. 

Das Merk zerfällt in zwei Theile, eine hiſtoriſche Darftellung (S. 3—82) und 
ein Refume (S. 83— 122). Nur der erite Theil ift officiell; er ſtützt fich auf die 
Acten des preußischen Handelsminifteriums. Die Schlußfolgerungen, welche aus diejer 
Darjtellung im zweiten Theile gezogen werden, bilden die perjönlichen Anfichten des 
Verfaſſers. 

Der erſte Theil beginnt mit einer kurzen Unterſuchung des „Begriffs der 
Differenzialtarifſe“. Der Differenzialtarif iſt fein nach eigenen abſoluten Geſetzen 
gebildeter, von den übrigen Tarifen ſpecifiſch verſchiedener, ſondern vielmehr ein 
Tarif, welcher ſich nach irgend einer Richtung hin von einem anderen, dem für die 
betreffenden Verhältniſſe normalen Tarif, relativ unterſcheidet, und deſſen Unter— 
ſcheidung nur in dem einen Punkte einen für alle Differenzialtarife überein— 
ſtimmenden Ausdruck findet, daß nämlich der Differenzialtarif billiger iſt, als der 
Normaltarif. Nun gibt es aber bekanntlich bis heute noch nicht einmal für eine 
einzige deutiche Eifenbahn, geichtweige denn für einen Verband demticher Eifenbahnen, 
für jämmtliche deutfche, oder gar für ſämmtliche Eifenbahnen der civilifirten Welt, 
einen Normaltarif. Es ift der Wiſſenſchaft und der Praris noch nicht gelungen, 
ein Gejeh ausfindig zu machen, nach welchem die Vergütung für eine Transport» 
leiftung richtig bemeifen werden muß. So lange feine Regel gefunden ift, fann man 
erft recht feine Ausnahme finden; wenn daher die Einen jagen, e& gebe überhaupt 
feine Differenzialtarife, während die Anderen behaupten, jeder Tarif jei ein Differenzial- 
tarif, jo kann man, ohne parador zu fein, beiden Theilen Recht geben. Cine jernere 
Schwierigkeit der Begriffäbeitimmung beruht darin, daß die Meinungen darüber 
auseinandergeben, welche Berfchiedenheiten in der Tarifbildung nothwendig, welche 
zuläffig, welche umerlaubt find; und diefe Schwierigkeit fteigert ſich noch daburdh, 
daß für eine Gegend, für einen Zweig wirtbichaftlicher Thätigkeit zuläffig oder gar 
notbiwendig ſein fann, was für eine andere abjolut ſchädlich wirft; daß heute eine 
von der gewöhnlichen Norm abweichende Tariibildung jehr nützlich fein kann, welche 
morgen die Intereffen eines Induftriezweiges auf das lebhafteſte beeinträchtigt. Der 
Verfaffer unferer Schrift ftellt diefe Schwierigkeiten zufammen, er beleuchtet an der 
Hand derielben die verschiedenen Verſuche, welche man gemacht hat, eine Begriffs- 
heftimmung ausfindig zu machen, und fommt zu dem Grgebniß, daß „der Ausdrud 
‚Difrerenzialtarit* eine Bezeichnung für einen ziemlich unbeitimmten Tarifbegriff ift, 
defien Inbalt nach dem Belieben jedes Ginzelnen weiter oder enger geiaßt werden 


Boltswirthichaftliche Rundſchau. 163 


kann. Da ein genau präcifirtes, allgemein anerfanntes Unterſcheidungsmerkmal fehlt, 
jo hat der Eine jo viel Berechtigung für feine Auffaffung, wie der Andere“. Bei 
diefer Sachlage ift denn auch fein Verſuch gemacht, eine neue Definition des 
Differenzialtarifs zu geben. Wir glauben, mit Recht. Die Agitation für und gegen 
die Differenzialtarife würde fich in den richtigen Grenzen bewegen, wenn fie fich 
darauf beſchränkte, daß die Freunde derjelben für ihnen nüßliche und Anderen nicht 
ichädliche, die Gegner gegen ihnen jchädliche und Anderen nicht nügliche, eventuell 
folche, bei denen der Vortheil für den Einen den Nachtheil für den Anderen, und 
umgefehrt, überwiegt, kämpften; wenn man, mit anderen Worten, ftatt für oder gegen 
„die Differenzialtarife” Für oder gegen einen beftimmten Differenzialtarif in 
die Schranken träte. Die hiſtoriſche Entwidlung der Differenzialtarife ift in der That 
denn auch unter dem Einflufje derartiger Beitrebungen vor fich gegangen. 


I. 


63 ijt eine eigenthümliche Ericheinung, daß eine aus eigenem Antriebe hervor— 
gegangene Agitation Für die Differenzialtarife niemals ftattgefunden hat. Nur die 
Gegner derjelben haben zu verjchiedenen Zeiten die Offenfive ergriffen; die Freunde 
haben fich ftet3 in der Defenfive gehalten und bis dahin mit Erfolg die Angriffe 
der Gegner zurüdgeichlagen. Dieje Angriffe erfolgten zu drei verſchiedenen Zeitpunkten, 
jedesmal aus verjchiedener Richtung, und jedesmal im Beginn eines neuen der lebten 
Sjahrzehnte. Ende der dvierziger Jahre wurde der erjte, der fogenannte Norddeutſche 
Berbandstarif unter einer Anzahl Eifenbahnverwaltungen vereinbart. In den Jahren 
1850 und 1851 bejchwerten fich die Vlothoer Zuder- und Delraffinerien, unterjtüßt 
durch die Handelskammer in Minden, über die Schädigung ihrer Intereffen dadurch, 
daß die Tarife nach Verbandaftationen für Syrup, Rohzuder und Raps billiger ge 
jtellt feien, al3 die Tarife nach ſolchen Stationen, welche nicht in den Norddeutichen 
Verbandsverkehr aufgenommen waren. Die Unbilligfeit diefer Differenz trat vor— 
nehmlich darin hervor, daß die Tarife der auf derjelben Route näher gelegenen 
Nichtverbandaftationen abjolut theurer waren, als die der entfernter gelegenen 
Berbandzftationen; die Beitrebungen der Beichwerdeführer richteten jich auf eine 
Aufnahme der ungünstig geitellten Stationen in den Verbandstarif. Ihre Anträge 
wurden befürwortet vom preußiichen Handeläminifterium, fie jcheiterten an dem 
Miderftande der damaligen hannover’schen Regierung. Die innere Urſache ber 
Differenzen lag in dem Beftreben der Eifenbahnverwaltungen, duch Herabjegung 
ihrer Frachten die Goncurrenz mit dem billigeren Waſſerweg zu ermöglichen. 

Im Laufe der nächiten Jahre dehnten fich die Verbandstarife weiter aus: die 
Folge davon war eine Vermehrung der Differenzialtarife und die Nothwendigkeit 
für die höchite Auffichtsbehörde in Preußen, grundjäglich zu den Differenzialtarifen 
Stellung zu nehmen. Man zeigte fi) von Anfang an gegenüber den Bejtrebungen 
der Eifenbahnen, ihre Trachten im Berbandäverfehre zu ermäßigen, außerordentlich 
entgegenfommend, erachtete die Bildung der Tarife nach jallender Scala für unbedingt 
zuläffig und hielt nur an dem Grundjaße jet, daß niemals der Tarif don der 
näheren Station aus theurer fein dürfe, als von der entfernter gelegenen Station 
derjelben Route. In diefem Sinne wurden durch ein Refcript vom 18. Februar 1863 
die —— Privatbahnen zur Einführung von Tarifermäßigungen allgemein er— 
mächtigt. 

Gegen Ende der fünfziger Jahre Hatten ſich inzwiſchen mehr und mehr Ver— 
bandstarife mit außerpreußifchen Stationen gebildet; Verbandstarife, welche vor 
Allem auch die Seehandelspläße injofern begünjtigten, als für die zum überſeeiſchen 
Transport bejtimmten oder ſeewärts hHereinfommenden Güter ermäßigte Exporte, 
Import: und Tranfittarife geichaffen wurden. Dieſe Tarife erregten den lebhaften 
Widerfpruch einiger binnenländifcher Stapelpläße, welcher fich zunächſt auf dem all« 
gemeinen deutjchen Handelätage, der vom 20. Februar bis 2. März 1860 in Berlin 

11* 


164 Deutihe Rundſchau. 


verfammelt war, äußerte und fodann in Petitionen und Beichwerden der Aelteſten 
der Berliner Kaufmannjchaft, der Breslauer Handeldfammer, einer großen Anzahl 
angejehener rheinifch - weitfälifcher Eifeninduftrielleer und des Gölner Handelsvereins 
entjchiedenen Ausdrud fand. Alle diefe Beichwerden richteten fich gegen neuentftandene 
Berbandstarife, die Berliner gegen folche im Verkehr zwiſchen jächfifchen Stationen 
und Hamburg, die Breslauer zwifchen öfterreichiichen Stationen und Danzig und 
Stettin (hHauptjächlich Getreidetarife), die weſtfäliſch-rheiniſchen gegen deutſch-belgiſche 
und ähnliche, vornehmlich aus Goncurrenzrüdfichten gegen die Wafferfrachten hervor— 
gegangene Tarife. Alle diefe Pläbe weifjagen den Ruin ihres Handels durch die neuen 
Differenzialtarife, ohne daß es ihnen übrigens gelingt, diefe Prophezeihungen anders 
ala mit allgemeinen Redensarten zu begründen. Die Folge davon ift denn auch die 
Ablehnung aller Anträge durch den Minifter und die Volfövertretung. Die Sprache 
des Cblner Handelävereins gegen die Rheiniſche Eifenbahn ift jo bezeichnend, daß 
wir und nicht verfagen können, eine Stelle aus der Petition hier folgen zu 
laſſen. „Der Tarif,” jagen die Cölner, „jei ein Gewaltftreich gegen Gleichheit, Recht 
und Billigfeit, ein unmoraliicher Mißbrauch der monopoliftiichen Stellung der Eifen- 
bahnen; er werte jeden Calcül um; die fittlichen Elemente der Concurrenz — der 
Fleiß und die Intelligenz; — würden um ihr Necht gebracht, die natürlichen Vor: 
theile, welche die Vorjehung den einzelnen Ländern und Städten unabänderlich zu— 
gedacht (!), würden ihrer ſegensreichen Beitimmung beraubt, die Geographie werde auf 
den Kopf geftellt, da8 Ferne werde nah, das Nahe fern. Gegen einen folchen Tarif 
müſſe fich das fittliche Bewußtfein jedes Vernünftigen empören, und Tür das Ver: 
fahren der Rheinifchen Eifenbahn .. . . wille man feinen Beweggrund und feinen 
bezeichnenden Ausdrud zu finden.“ Da die Preffe diefe ganze Bewegung gegen die 
Eifenbahnen im Allgemeinen unterjtüßte, jo nahmen fi nunmehr die Vertreter der 
Wiſſenſchaft der Tarifpolitif der Eifenbahnen an; es erfchienen die befannten Bro— 
ihüren von Dr. Honigmann („Der Kampf gegen die Eifenbahnen mit befonderer 
Rüdficht auf die Differenzialtarife”) und von Dr. Dtto Michaelis („Das Monopol 
der Eifenbahnen“ und „Die Differenzialtarife der Eifenbahnen“ ; legtere Schrift nennt 
Krönig mit Necht „das Bedeutendfte, was vom wifjenjchaftlichen Standpunkt aus 
über den vorliegenden Gegenftand gefchrieben ift“). Es gelang denjelben, die öffent: 
liche Meinung wiederum mehr zu Gunften der Differenzialtarife umzuftimmen, und 
die beiden deutſchen Handelätage zu Frankfurt (1865) und zu Berlin (1868) nahmen 
über diefe Materie Rejolutionen an, welche mit den Refolutionen der Jahre 1860 
und 1862 in dem directeften Widerſpruch jtanden. 

Seitdem verftummte die Agitation der Zwiſchenhandelsplätze gegen die Differenzial- 
tarife jaft vollftändig. Der dritte Angriff gegen diefelben ging in den Jahren 
1870 und 1871 von den Landwirthen aus. Gine Beichwerde des landwirth- 
ſchaftlichen Central-Vereins für den Nebe-Diftricet über die Differenzialtarife für Vieh 
auf der Ditbahn wurde vom preußifchen Handeläminifter abjchlägig beſchieden. Im 
Dctober 1871 richtete darauf der Sagan»Sprottauer land» und Forftwirthichaftliche 
Verein eine Petition an den deutjchen Reichstag mit dem Antrage, dahin zu wirken, 
daß endlich die Differenzialtarife der Eifenbahnen aufhörten. Obgleich die Petitions- 
commilfion Uebergang zur Tagesordnung über diefe Eingabe vorſchlug, beichloß das 
Plenum des Reichstags, den Reichskanzler aufzufordern, die Frage der Differenzial- 
tarife einer eingehenden Prüfung von Sachverſtändigen der Landwirtbichait, des 
Handels, der Induftrie und der Eifenbahnverwaltungen unterziehen zu laflen und von 
dem Rejultat diefer Unterfuchung Mittheilung zu machen. In Folge diejes Beichluffes 
wurde eine Gommiffion, bejtehend aus je fünf Vertretern der Landmwirthichaft, des 
Handels und der Induſtrie und der Eifenbahnverwaltungen zufammenberufen, welche 
vom 18. bis 21. März 1872 in Berlin tagte, in welcher die Geijter ftarf auf 
einander plaßten und welche jchließlich per majora gegen die Stimmen der Land» 
wirthe die Differenzialtarife für zuläffig und 8 nicht für wünſchenswerth 
erflärte, ihre Herftellung an irgend welche feitjtehenden Normativbeitimmungen zu 


Volkswirthſchaftliche Rundichau. 165 


binden. Daraufhin fand der Bundesrath in dem Ergebniß der Enquöte „feinen ge- 
nügenden Anlaß, auf die Eifenbahn-Differenzialtarife bezügliche Maßregeln zu treffen“. 

Im weiteren Verlaufe jeiner Darjtellung gedenft der Verfaſſer noch der Stellung, 
welche die beiden Entwürfe eines Neichgeifenbahngejeges zur Frage der Differenzial- 
tarife einnehmen; ferner der Verhandlungen der Neichstarifenquöte- Commilfion des 
Jahres 1875, einer dor Kurzem erjchienenen Broſchüre des Tandwirthichaftlichen 
Generaljecretärd KHreiß- Grünmwehr, ſowie zweier erneuten Petitionen der Breslauer 
Kaufmannjchaft, deren erfte unter dem Gindrude der Verhandlungen der Commiſſion 
des Jahres 1872 einfach abjchlägig bejchieden wurde, während die leßtere, gegen den 
Stettin » galigifch - rumänischen See-Tranfittarif für Getreide gerichtete, dem Handels— 
miniſter Veranlaffung zur Einberufung einer Commilfion von Vertretern der verjchie- 
denen Intereffenten auf den Januar 1876 nach Berlin bot. Auch diefe Conferenz 
fam wiederum zu dem Grgebniß, daß den Beichwerdeführern der Nachweis einer 
Schädigung ihrer Interefjen durch den betreffenden Tarif nicht gelungen fei, und das 
eingehende und höchſt intereffante Rejcript des preußifchen Handelsminiſters dom 
5. Auguft 1876, durch welches die Zurüdweifung der Bejchwerdeführer begründet 
wird, theilt Krönig (S. 72—82) volljtändig mit. 

Das thatjächliche Ergebniß der Hiftoriichen Darftellung läßt fich aljo kurz dahin 
zuſammenfaſſen, daß troß aller Angriffe die Differenzialtarife fih ala nothwendig 
herausgeftellt haben; daß insbefondere die preußiiche Regierung eine feindliche Stellung 
zu denjelben nicht eingenommen Hat. Die Anfchauung der Organe des Reichs richtet 
fi ebenfalls nicht gegen die Differenzialtarife ala eine allgemein und abjolut ver« 
werjliche Einrichtung; dagegen hat man fich auch an diefer Stelle mehrfach bemüht, 
Mittel und Wege ausfindig zu machen, um den jchädlichen Wirkungen einzelner 
Differenzialtarife vorzubeugen. 


II. 


In dem zweiten Theile feiner Arbeit gibt der Verfafjer feine perjönlichen An— 
fichten über die Differenzialtarife. Er unterfucht die Entjtehungsgründe derfelben, 
wägt ihre wirthichaftlichen — theils angeblichen, theils wirklichen — Nachtheile und 
Vortheile gegen einander ab und wirft jchließlich die Frage auf, ob und welche 
Mittel durch die Gejehgebung oder durch die Verwaltungd- und Auffichtsbehörden 
der Eijenbahnen zu ergreifen jeien, um die guten Wirkungen der Differenzialtarife zu 
fördern, dem nachtheiligen Einfluß derſelben auf einige wirthichajtliche Verhältnifje 
zu fteuern. Wir müfjen es uns verfagen, auf die Haren, ruhigen, den jchwierigen 
Stoff volllommen beherrfchenden Ausführungen an diefer Stelle näher einzugehen ; 
wollen indefjen nicht unterlafien, allen Freunden und Gegnern der Differenzialtarife 
das Studium diefes Theiles der Schrift auf das wärmſte zu empfehlen. Wir haben 
faum eines der Argumente vermißt, welche für oder gegen die Differenzialtarife in's 
Teld geführt zu werden pflegen; wir haben ung auch mit der jachgemäßen und 
objectiven Erörterung jedes einzelnen Argument3 faſt durchweg einverjtanden erklären 
fönnen. Bielleiht erweift Krönig dem Verfaſſer der jüngjten, gegen die Differenzial- 
tarife vom landwirtbichaftlichen Standpunkt aus gejchriebenen Brofchüre des General- 
jecretärd Kreiß-⸗Grünwehr zu viel Ehre und erleichtert fich zugleich in Etwas jeine 
Arbeit, wenn er diefe Brojchüre wiederholt zum Ausgangspunkt ausführlicher Er- 
Örterungen nimmt, und fich beifpieläweije ©. 88 — 94, ©. 98, ©. 102 — 110 faft 
ausfchließlich mit derjelben beſchäftigt. Andererjeits aber läßt es fich nicht verfennen, 
daß gerade die Widerlegung diefer agrariichen, jcheinbar auf Zahlen gejtühten Streit- 
Ichrift auf die unbefangenen Gefinnungsgenofjen dieſes Landwirthes eine vortreffliche 
Wirkung ausüben muß. Krönig weilt eben nach, daß auch die Zahlen des Herrn 
Kreiß nichts ala Phantafiegebilde und Gejpenjter find, die das helle Tageslicht nicht 
vertragen Fönnen. 

Der Verfaffer unjerer Schrift ift aber ein ebenfo entjchiedener Freund der 


166 Deutſche Rundſchau. 


Differenzialtarife, als ein entſchiedener Gegner der Auswüchſe dieſer Tarifgebilde. 
Die Differenzialtarife ſind nothwendig und unvermeidlich. Die Gefahr der— 
jelben beruht aber in ihrem inneriten Grunde auf dem engen und unaufldslichen 
Zujammenhange der Tarifpolitif mit der Zoll- und Handelspolitif. 
„Das Princip des Freihandels und das Differenzialtarifprincip,“ jagt der Verfaſſer 
S. 112, „Stehen auf dem Boden gleicher volfswirthichaftlicher Anfchauungen, indem 
beide die Befriedigung der inländiichen Confumtion auf dem wohlfeilften Wege, jelbit 
wo es zum Schaden der inländifchen Production durch ausländifche Producte ges 
ichehen müßte, ald die vornehmſte Seite ihrer Aufgabe auffaffen.“ 

Diefe Erwägungen führen den Verfaſſer zu der Forderung einer ftaatlidhen 
Gontrole über Differenzialtarife. Die verfchiedenen Methoden, durch welche 
diefe Gontrole auszuüben ift, werden einer jorgfältigen Prüfung unterzogen, und der 
Verfaſſer jchlägt vor, daß die Auffichtsbehörde ſich darauf beichränfe, von Fall zu 
Tall zu prüfen, ob durch einen beſtehenden Differenzialtarif berechtigte Intereſſen 
« verleht find, und dab, wenn eine jolche Verlegung nachgewiejen ift, welche durch 
eine Ermäßigung der Eifenbahntarife reſp. Gewährung einer differenziellen Ver— 
günftigung wieder ausgeglichen werden kann, die Eifenbahnen eine jolche zugejtehen. — 
Diefe Prüfung der Tarife ſoll in allen Berfehren, denen eine ausländifche Concurrenz 
oder die Goncurrenz einer Waſſerſtraße gegemüberjteht, nachträglich, aus Ver— 
anlaflung etwaiger Beichwerden; im internen Berker aber vorher, durch die 
Auffichtsbehörde erfolgen, und Krönig meint, daß „dieſes Mittel in feiner richtigen 
Anwendung unzweifelhaft ausreichen werde, um allen berechtigten Wünfchen genug 
zu thun.“ 

Konnten wir und mit den theoretifchen Schlußfolgerungen, welche der Verfaſſer 
aus feiner Unterfuchung zieht, im Wefentlichen einverjtanden erflären, jo glauben 
wir, daß er in feinen, vorftehend wiedergegebenen, praftifchen Borfchlägen vor den 
Gonjequenzen .feiner eigenen Darftellung zurüdjcheut. Wer die ganz ungeheure 
Michtigkeit der Eifenbahntarifpolitif richtig erichaut hat, der muß noch einen Schritt 
weiter- geben; er muß Privatgefellichaften, welche durch ihre Eifenbahnen nicht nur 
das allgemeine Wohl fördern wollen, ſondern auch die Tafchen ihrer Actionäre zu 
füllen gezwungen find, die Möglichkeit, auf eigene Hand Tarifpolitik zu treiben, 
gänzlich entziehen, und diefer Schritt führt mit Nothwendigfeit zu den Staatöbahnen, 
d. h. für unfere Verhältniffe zu den Reichsbahnen, für deren Tarife wiederum 
geieglihe Grundlagen gejchaffen werden müflen. Innerhalb der gejeßlichen 
Schranken kann dann immerhin eine freie Bewegung der einzelnen Glieder des 
Eiſenbahnnetzes ftattfinden. — Was aber insbejondere die Differenzialtarife der 
Eifenbahnen betrifft, jo ijt eine Auffichtsbehörde, wie fie jet in einzelnen Staaten 
Deutichlands bejtehen, ebenfo wenig wie eine Eifenbahnverwaltung im Stande, den 
Nuten oder Schaden eines Differenzialtarif3 richtig zu beurtheilen. Dazu ift ihr 
Gefichtöfreis zu eng und ihr wirtbichaftlicher Sachverſtand zu gering. Auch diefem 
Mangel kann wiederum nur abgeholfen werden durch Reihsbahnen, durch Ein— 
feßung einer aus Mitgliedern der Gentralverwaltungaftelle des Reichs, nebſt Sach— 
verftändigen aus den Kreiſen aller Antereffenten beftehenden Behörde, eines, wie wir 
etiva jagen möchten, Reihseifenbahnrathes, welcher alle Tarife, die außerhalb 
des gejetlichen Rahmens zur Hebung von Handel und Induftrie oder Landwirthichaft 
bejtimmter Pläße oder ganzer Gegenden eingeführt werden jollen, einer wirklich jach- 
verftändigen Prüfung unterzieht und diejelben, unter Einhaltung der im Uebrigen für 
Aufhebung der Tarife geltenden Beftimmungen, erforderlichen Falls auch wieder rüd- 
gängig macht. Wenn ſolche, wol nur bei Reichsbahnen mögliche Behörde ftets 
vorhanden ift, jo kann, wo die Zeit und das wirthichaftliche Bedürfniß drängt, dieſe 
Prüfung innerhalb 24 Stunden vor fich gehen, aljo eine jchädliche Verzögerung in 
Einführung oder Aufhebung eine Tarifs nicht jo leicht vorfommen. 

Wir begreifen es übrigens, warum der Berfafler dieſe Conjequenzen nicht gezogen 
hat. Aber wir begreifen nicht, warum er die legte halbe Seite feiner Schritt Hinzugefügt 


Vollswirthſchaftliche Rundichau. 167 


hat. Mit den erjten 15", Zeilen auf ©. 122 ift Mrönig volljtändig am Ende einer 
abgeichlofienen und abgerundeten Darftellung. Es folgt ein Strih und nunmehr 
noch 21 Zeilen, welche uns den guten Gindrud, mit dem wir eben das Buch aus 
der Hand legen wollten, jaft verdorben hätten. Auf Einmal jchneit nämlich Die 
ganz unmotivixte Behauptung berein, daß eine der vornehmjten Urfachen der 
Differenzialtarife da3 Nebeneinanderbejtehen verichiedener Tarifſyſteme, d. 5. aljo die 
Einführung des elfaß-Tothringifchen Tarifſyſtems ſei; daß zur Bejeitigung der 
Differenzialtarife daher dieſes Syitem aufgehoben werden müſſe; und e8 wird ge- 
ichloffen mit dem Wuniche, daß die Bemühungen um Einführung eines einheitlichen 
Tarifſyſtems in Deutjchland endlich den erjehnten Abichluß finden möchten. — Wenn 
dieje Fragen bei der Unterfuchung Krönig’s eine Rolle jpielen jollten, jo mußten 
fie früher, im Laufe der Darjtellung, erwähnt und erledigt werden. Statt deſſen ift 
ihre Hereinziehung von S. 1— 122!/, vermieden. Und nun tauchen fie plößlich, 
und zwar gerade am Schluß, auf, um ebenfo plößlich wieder zu verfchwinden. Ein 
oberflächlicher Lefer und Kritiker, der fich auf Lectüre des Anfangs und des Endes 
eined Buches zu bejchränfen pflegt — und deren find leider recht viele — kommt 
durch folche Kunftjtücchen Leicht zu der Meinung, Krönig's Buch Liefere den Beweis, 
daß das bevorjtehende neue Tarifſyſtem den Differenzialtariien zum allgemeinen Nuß 
und Frommen ein Ende machen werde; und eine jolche Wirkung würde dem neuen 
Syſtem viele Freunde gewinnen, die jebt von ihm nicht? wiffen wollen. In der 
Ihat aber ergibt fich aus der ganzen Darftellung Krönig's ſelbſt, daß Differenzial- 
tarife troß des neuen Syſtems bejtehen bleiben werden, wie fie heute beftehen. Zur 
Verherrlichung des neuen Syſtems konnte der Verfaſſer jeine Arbeit nicht ſchreiben; 
er hätte dann aber auch vermeiden müſſen, den Anjchein zu erregen, ala ob er dies 
troß alledem gethan hätte; jeine beffere Ueberzeugung mußte fich dagegen fträuben, 
am Schluſſe jeiner Arbeit für dag neue Tarifjyitem in einer Weife Propaganda zu 
machen, welche mit feinen übrigen Ausführungen im offenbarften Widerfpruche jteht. 
Doch wir wollen nicht jo weit gehen, das alte Sprüchwort von dem guten Ende, 
das Alles gut macht, umzukehren, und dem Verfaſſer, troß feiner lebten 21 Zeilen, 
wiederholt unferen Dank für feine gediegene Arbeit ausſprechen. 


ttt. 


Literarifhe Rundſchau. 


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Blümner’S Ausgabe von Leifing’3 Laokoon. 


— — yo 


Lefſſing's Laokoon herausgegeben und erläutert von Hugo Blümner, Prof. der 
Archäologie an der Univerfität Königsberg. Mit Holzichnitten. Berlin, Weidmann'ſche 
Buchhandlung. 1876. 


Bei feinem Werke unjerer claffiichen Literatur (Windelmann’3 „Gejchichte der 
Kunſt“ etwa ausgenommen) ift für heutige Leſer ein fortlaufender Commentar fo 
unentbehrlich, ala bei Leſſing's Laofoon, auch abgejehen von dem Bebürfniß der 
Schule, für welche die Wichtigfeit gerade diefer Lectüre wol allgemein anerkannt ift. 
Herr Profeffor Blümner Hat den Dank Aller verdient, die das einzige Werk ftudiren 
wollen, indem er fich der Löſung diefer überaus jchiwierigen, bisher nur ungenügend 
gelöjten Aufgabe unterzog. Seine Arbeit beruht auf den umfafjenditen und müh— 
feligften Studien aller einjchlägigen Gebiete der Literatur und bietet die Refultate 
derjelben in gedrängtejter und zugleich faßlichſter Darftellung; ‚fie zeigt durchweg 
philologifche Akribie und Gewifienhaftigfeit, einen ficheren und gebildeten Gejchmad, 
ein jelbjtändiges Urteil. 

Schon darum bedarf der Lejer des Laokoon einer fortwährenden DOrientirung, 
weil fich nicht blos über die Gruppe jelbjt eine eigene Literatur gebildet hat (das 
DVerzeichniß derfelben bei Blümner weift 70 Nummern auf), fondern auch faſt jeder 
Sat Leſſing's beftritten, eingejchränft oder erweitert worden ift. Seit Herder in den 
„kritiſchen Wäldern” mit der Befehdung des Laofoon den Anfang gemacht hat, find 
die von Leſſing dort gejtellten und beanttworteten Fragen immer auf’8 Neue erörtert worden ; 
direct und indirect haben die ſpäteren äfthetiichen Schriftjteller von Kant und Schiller 
bis auf Viſcher und Roſenkranz an Lejfing angelnüpft. Nichtsdeftoweniger durfte der 
Heraudgeber jagen, daß troß mancher berechtigter Einwände die äfthetifchen Grundjähe 
Leſſing's unerjchüttert geblieben find. Alle Modificationen und Berichtigungen haben 
ihren eigentlichen Inhalt unangetaftet gelaffen, und wo Leifing an der Wahrheit vor- 
beigejtreift Hat, ijt es meift fein Irrthum gewejen, der den Weg zur Findung des 
Mahren gewiefen hat. Einige Beifpiele werden Hinreichen, um dies zu zeigen. 

Bekanntlich geht Leifing von der Bemerkung Windelmann’s aus, daß Laofoon in 
der Gruppe nicht, wie in Birgil’3 Schilderung, ſchreie, jondern ſeufze. Schon dies 
ift von Overbeck und Brunn geleugnet worden, die behauptet haben, Laokoon ſtoße 
in der That Schmerzenzfchreie, Klagelaute aus. Zur endgültigen Beantwortung diefer 
Trage war die nicht allzuhäufige Verbindung eines kunſigeübten Blickes mit der voll- 
fommenen SKenntniß der Musfelbewegungen des menschlichen Körpers erforderlich, 
wie fie eben nur ein Anatom befigt: fie ift von Wilhelm Henke in Tübingen 
(den die Leſer der „Rundſchau“ als Berfaffer des ſchönen Aufſatzes über „Michel 


Literariiche Rundſchau. 169 


Angelo“ kennen) in einer fleinen, zu wenig beachteten Schrift („Die Gruppe des 
Laokoon“, 1862) gegeben worden. Blümner hat daraus das Nöthige mitgetheilt. 
63 ift darin gezeigt, daß die Annahme, Laokoon jchreie, ſchon vom mebdicinifchen 
Standpunkte aus zu verwerfen, der dargeitellte Moment aber der Ruhepunkt ift, der 
zwifchen Infpiration und Erjpiration des Geufzers Liegt. 

Die Künftler des Laokoon, jagt Leifing dann, mußten Schreien und Geufzen 
mildern, weil fie überhaupt den höchften Grad des Schmerzes nicht darftellen konnten, 
ohne das höchſte Princip der Kunſt, die Schönheit, zu verlegen. Der Darftellung 
der entjtellenden Leidenſchaften enthielten fie fich entweder ganz oder ſetzten fie auf 
geringere Grade herab, in welchen fie eines Maßes von Schönheit jähig find. Diejer 
Sat trifft nicht völlig das Richtige. Nicht die Leidenjchaften fetten fie herab, jondern 
die gleichfam pathologischen Affectionen des Körpers, die fie begleiten, deuteten fie 
entweder nur an oder befeitigten fie ganz; fie brachten den Vorgang der Seele jo 
viel als möglih von feiner materiellen Erſcheinung abgelöft zur Erfcheinung. — 
Freilich gilt dies nur für die beite Zeit der griechiichen Kunſt, nicht mehr für die 
der Laofoongruppe: im vollften Sinne aber für die der Niobe, der Medufa Rondanini. 
Die Niobe beweist auch jchon allein, daf die Verhüllung des Agamemnon auf dem die 
DOpferung der Iphigenie darjtellenden Bilde des Timanthes nicht den von Leſſing an— 
gegebenen Grund haben konnte: daß nämlich der Schmerz des Vaters ſich nur durch 
bäßliche Verzerrungen Hätte äußern können. Leſſing jagt: „Was Timanthes nicht 
malen durfte, das ließ er errathen.“ Vielmehr, er zog vor errathen zu lafſen, was 
er ebenſowohl hätte malen fünnen, wie e8 der Meifter der Niobe plaſtiſch darftellen 
fonnte. Er glaubte wol, jein Bild würde ergreifender fein, wenn er der Phantafie 
des Betrachters durch feine Darjtellung feine Schranken jehte, wenn er ein Ertrem 
des Affects ahnen ließ, das erjchütternder war, als die erfchütterndfte Wirklichkeit. 
Allerdings bemerkt Blümmer jehr richtig, daß Timanthes ein Vorbild an der all- 
gemeinen griechiichen Sitte umd überdies an Euripides hatte, der ebenfall® in feiner 
Beichreibung jener Scene den Agamemnon fich verhüllen läßt. 

Der dritte Abjchnitt des Laokoon enthält zwei Yundamentaljäße von Leifing’s 
Theorie: der von der bildenden Kunſt zur Darftellung gewählte Moment muß ein 
fruchtbarer, er darf dagegen fein tranfitoriicher fein. Beide Forderungen, jagt der 
Herausgeber, find jchon zu Leſſing's und noch mehr in neuerer Zeit Gegenitand heftigen 
Widerſpruchs geworden; Aeſthetiker und Archäologen fpalten fich Hier gewiflermaßen 
in zwei Heerlager. Gewiß bedarf Leſſing's Verbot der Darftellung der äußerſten 
Staffel des Affects, die unfruchtbar jei, weil die Phantafie nicht darüber hinausgehen 
könne, der Einſchränkung: auch Hier bleibt der Phantafie Spielraum genug, da fie 
das Entftehen der dargeitellten Situation rückwärts verfolgen fann. ferner bedarf 
die Definition des fruchtbaren Moments der Ergänzung: er muß nicht blos die Phan— 
tafie zur Vorſtellung deffen, was folgen wird, anregen, fondern ihr auch dahin die 
Richtung geben, da fie fonft leicht irre gehen würde. Sodann verlangt Leſſing's 
Ausſchließung des tranfitorifchen Moments eine präcifere Beitimmung diejes Begriffs, 
als er jelbjt fie gegeben hatte. Seine Behauptung, daß ein lachendes Geficht von 
der Darjtellung firirt als ein grinjendes erjcheine, wird durch zahlreiche, vortrefflich 
wirtende Darftellungen des Lachens, bejonderd in Gruppenbildern, widerlegt (man 
denke 3. B. an das prächtige Bild Defregger’3 „Der Beſuch“, auf der lebten Berliner 
Ausftellung). 

Undarjtellbar ift nun das „rein Tranfitorifche, das fich ohne die geringite Paufe 
Bewegende“, das „plötzlich Ausbrechende und Verfchwindende“, und die hat Leifing 
allem Anfchein nach bei feinem Verbot im Sinne gehabt, aber nicht ſcharf genug 
ausgefprochen. Daß in der That auch der für die Laofoongruppe gewählte Moment 
fein rein tranfitorifcher ift, Hat Henke in der angeführten Schrift vortrefflich gezeigt: 
eö ilt der Augenblid vor dem Seufzen, der Moment des Anhaltens vor dem Aus— 
athmen, „der kritiſche Stillftand tragifcher Erjchütterung“. 

Wie in diefen Fällen ift die auf den von Leifing gelegten Fundamenten fort- 


170 Deutiche Rundſchau. 


bauende äjthetifche Forſchung öfter zu einer etwas abweichenden Formulirung feiner 
Grundfäße und Regeln gelangt, ohne jedoch, wie gejagt, fie umzujtoßen oder ihren 
eigentlichen Inhalt anzutajten. Auch wo die jeit jener Zeit im weitejten Umfange 
erfolgte, außerordentlich große Vermehrung des Vorraths antiker Kunſtdenkmäler eine 
Berihtigung von Leſſing's Aufftellungen veranlaßt Hat, Hat diefe nur die Form, 
nicht den Sinn derjelben getroffen. Leſſing's Behauptung, daß die Alten feine 
Furien dargeftellt hätten (Tempelfiguren und Werke der Bilderfprache ausgenommen), 
ift durch zahlreiche jeitdvem bekannt gewordene Monumente (namentlich Vaſenbilder 
und Sarfophage) zwar jcheinbar widerlegt, in Wirklichkeit aber nur glänzend bejtätigt 
worden: denn alle dieje Erinnyen haben nichts Furienhaites. 

In der umfangreichen Literatur der an Leſſing's Sätze anfnüpfenden, fie be— 
ichränfenden oder weiter entwidelnden äſthetiſchen Schriften orientirt der Herausgeber 
den Leſer vollfommen durch reichliche, auch die neuejten Arbeiten berüdfichtigende 
Mittheilungen. Seinen forgfältig abwägenden Zufammenfafjungen wird man überall 
mit Intereſſe folgen, feinen Ergebniffen in der Regel, wo nicht immer, zuftimmen können. 

Auch die antiquariichen, philologiichen und Fiterariichen Nachweifungen find in 
zwedmäßigiter Weiſe und richtiger Beſchränkung auf das für gebildete Leſer Erfor— 
derliche gegeben. Ganz entbehrlich werden jie für die wenigiten jein. Wie viele 
fennen heute noch die in jener Zeit vielgelejenen äjthetiichen Schriften, auf die Leſſing 
fi) beruft oder die er beitreitet, von Lodovico Dolce, Dübos, Webb, Harris, 
Richardſon, Shaftesbury u. ſ. w.? Intereſſant ift, daß Leifing auch (ficherlich ohne 
es zu ahnen) im jeiner Trennung der Poejie von den bildenden Künſten einen Vor— 
gänger gehabt Habt. Der Römer Marliani (Berfaffer einer Topographie der Stadt 
Rom im 16. Jahrhundert) fagt in jeiner Bejchreibung des Laokoon: „obwol die 
Künjtler der Schilderung Virgil's gefolgt zu fein jcheinen, haben fie ihn doch nicht 
durchweg nachgeahmt, da fie erkannten, daß Vieles dem Ohr gefällt und fich dafür 
ichiet, aber nicht auf gleiche Weife dem Auge (©. 62). 

Daß der Herausgeber die Fragmente und den Nachlaß zum Laokoon möglichit 
weit herangezogen und beſonders Paralleljtellen oder erweiternde Bemerkungen daraus 
angeführt hat, ijt nicht nur vollkommen gerechtfertigt, ſondern es dürfte fich auch für 
eine Ipätere Ausgabe der Wiederabdrud der Fragmente und des Nachlafjes (mindeſtens 
in der von Lachmann getroffenen Auswahl) empfehlen. Auch hier ift Manches von 
großem Intereſſe. Es ift wol nicht jo allgemein befannt, als e3 zu jein verdiente, 
daß ſich in dem Nachlaß auch eine franzöfiiche Ueberſetzung der Vorrede zum Laokoon 
mit Weglaffung der drei lebten Abfchnitte, dagegen mit folgendem Höchjt merfwürdigen 
Schluffe befindet (Ausgabe von Lachmann XI. 169)*): „Il y a quelques anndes 
que j’en ai donné le commencement en Alemand. Je vais le rediger de nouveau 
et d’en donner la suite en Frangois, cette langue m'étant dans ces matieres tout au 
moins aussi familiere que l’autre. La langue allemande’‘, quoique elle ne lui cède 
en rien etant manie comme il faut, est pourtant encore & former, à creer möme 
pour plusieurs genres de composition, dont celui ci n'est pas le moindre. Mais 
a quoi bon se donner cette peine, au risque meme de n’y reussir pas au gout de 
ses compatriots? Voilä la langue francgoise deja toute erée, toute formde: risquons 
done le poquet. Et qu’y a-t-il A risquer? Tout delicats que les Frangois sont sur 
le chapitre de leur langue: je les connois d’assez bonne composition à l'égard d’un 
etranger, qui n’y pretend A rien, qu'à etre clair et preeis“. Mag dieſer Gebanfe 
einer jranzöfifchen Bearbeitung und Fortjegung des Laokoon ein noch jo vorüber- 
gehender gewelen fein: Leſſing Hat ihn doch einmal gehegt. Auch er aljo, der un— 
ermübdliche und umerjchrodene Führer in dem Kampfe zur Befreiung deutſcher Literatur 
und Bildung aus franzöfiichen Feſſeln, hat einmal, wenn auch nur für einen Augen- 
blid, ein Erlahmen jeiner Kraft gefühlt. Nichts mahnt fo eindringlich als dieſe 
Thatfache, welch” ungeheure Schwierigkeiten Leifing zu überwinden hatte, um der 








*) Die Orthographie Leſſing's ift durchaus beibehalten. 


xiterariſche Rundſchau. 171 


deutſchen Proſa die Ausdrucksfähigkeit, Schärfe und Klarheit zu geben, die ſie ihm 
verdankt. 

Die Fragmente hat Blümner, wie natürlich, nach der vollſtändigſten Ausgabe 
des Leſſing'ſchen Nachlaſſes zum Laofoon, der Hempel'ſchen, citirt. Ueber das 
Verhältniß dieſer Ausgabe zur Lachmann' ſchen ſei eine Bemerkung geſtattet. Beide 
beruhen auf demſelben handſchriftlichen Material, den in Benoni Friedländer's, 
dann ſeiner Erben Beſitz befindlichen Aufzeichnungen Leſſing's. Ebenſo wie Lachmann 
dieſe Blätter von B. Friedländer zur freieſten Verfügung erhalten hatte, war auch 
von deſſen Erben dem Herausgeber der Hempel'ſchen Ausgabe ihre uneingeſchränkte 
Benutzung geſtattet worden. Lachmann gab nur eine Auswahl aus dieſen Papieren, 
in der Hempel’schen Ausgabe find fie vollitändig veröffentlicht. Ohne Lachmann, 
der fich auf das Wichtigſte beſchränken zu jollen glaubte, einen Borwurf zu machen, 
wird man doch die Veröffentlichung des ganzen Nachlaſſes danfenäwerth finden. 
Mir erhalten dadurch einen befleren Einblid in Lejfing’3 Art zu arbeiten, in die 
Entſtehungsgeſchichte des Laokoon. Namentlich die vollftändige Mittheilung eines 
Entwurfs zu demjelben, der allem Anfchein nach der Urentwurf ift (Bd. II. ©. 192 ff.), 
und von dem Lachmann nur die erjten vier Seiten gegeben hatte, iſt jehr willtommen. 
Man fieht Hier, daß Mendelſohn's Einwendungen gegen einige Punkte nicht ohne 
Einfluß auf die jpätere Faſſung geblieben find. Wenn nun Lachmann feine Mit- 
theilung dieſes Entwuri® (XI. 143 feiner Ausgabe) mitten in einem Sabe mit einem 
„u. ſ. w.“ abbrach, geſchah dies ohne Zweifel aus feinem anderen Grunde, ald weil 
ihm das Gegebene ala Probe zu genügen ichien. Die von dem Herausgeber der 
Hempel’schen Ausgabe ©. 181 (und auch von Anderen) geäußerte Vermuthung, daß 
Lachmann ſich vielleicht einem Verbot des Beſitzers zu fügen gehabt habe, ijt völlig 
grundlos, und Benoni fyriedländer Hat wahrlich am Allerwenigiten verdient, jo ver- 
dächtigt zu werden. Selten ift wol ein Sammler in der Mittheilung jeiner Koſt— 
barfeiten jo liberal gewejen ala er, und Nichts lag ihm ferner, ala irgend einen 
literarifchen Befi zu verheimlichen. 

Den Werth der Blümner'ſchen Ausgabe des Laokoon erhöhen noch die Ab— 
bildungen, die in gutem Holzichnitt, außer der Gruppe ſelbſt (bei welcher die richtigen 
Ergänzungen der Arme des Vaters und des jüngften Sohnes angedeutet find), die 
übrigen antifen Darftellungen des Gegenstandes geben, namentlich das intereffante, 
fürzlich entbedte Pompejanifhe Wandgemälde. Möchte denn dieſe treffliche Arbeit 
nicht blos in den Kreiſen der Kunftireunde, der Lehrer, der Stubdirenden (für die jie 
der Berfaffer zunächit beftimmt hat), jondern überall, wo man fich ernſtlich bemüht 
in den Geift Leffing’3 einzudringen, die weitejte Verbreitung finden. 

Königsberg. 8. Sriedländer. 


Uarda. 


Uarda. Roman aus dem alten Aegypten von Georg Ebers. 8 Bände. Stuttgart und 
Leipzig, Ebuarb Hallberger. 1877. 


Als Ebers dor zwölf Jahren die erjte Auflage der „Aegyptifchen Königstochter“ 
druden ließ, glaubte er die von ihm gewählte Form der dichterifchen Belehrung oder 
der belehrenden Dichtung, wie man es nehmen will, noch entfchuldigen zu müſſen. 
Der Gelehrte machte feine Berbeugung vor den Berufsgenoſſen und wies auf die Menge 
der wißbegierigen Weltleute Hin, denen gleichwol die ftrenge Geiftesarbeit nicht mundet. 
Der Dichter aber bat um Nachficht für „piychologiiche Anachronismen”. Man 
werde den Einfluß chriftlicher und moderner Denkungsweiſe in feinen Charakterbildern 


172 Deutiche Rundſchau. 


ſpüren, folle jih daran aber nicht ftoßen: denn rein antife Charaktere möchten uns 
ungenießbar ericheinen. — War das Alles nun bloße Beicheidenheit? Angeſichts der 
glänzenden Aufnahme, welche die „KHönigstochter” bei der Kritif und dem Publicum 
nicht nur Deutichlands, fondern, wie die mannigfachen Ueberjegungen beweijen, auch 
des Auslandes fand, möchte man es glauben. Es würde aber ein Blid in das erjte 
beſte Gapitel der jet vor und liegenden „Uarda” genügen, um eines Beſſeren zu 
belehren. Das jüngere Werk ift in der That die jchärffte Kritik des älteren; es zeigt 
glänzenden, bewundernswerthen Fyortfchritt in jedem Zuge. Diefer Roman, mit dem 
der franfe Gelehrte die Stunden hinweg täufchte, in welchen der ernite, volle Dienft 
feiner Wiſſenſchaft ihm verfagt war, fteht, wir jprechen es mit voller Ueberzeugung 
aus, auf der Höhe der erzählenden und jchildernden Kunſt, neben dem Beiten, was 
das lebte Jahrzehnt in diefer Lieblingsform unferer zeitgenöffiichen Dichtkunft geichaffen 
bat. Was zunächit den fachlichen Inhalt angeht, die hier verarbeiteten antiquarifchen, 
Hiftorifchen, ethnologiſchen Kenntniffe, jo könnte e8 an fich vermeſſen erjcheinen, An- 
gefichts der „Königstochter“ von „Fortſchritten“ reden zu wollen; und doch braucht 
man fein Aegyptolog zu fein, um wenigjtens den Fortichritt in der Berwerthung 
jener Gelehrſamkeit auf jeder Seite zu merken. Der frühere Roman, bei allem 
Reichthum und aller Gediegenheit des antiquariichen Inhalts, konnte eine gewifle 
mofaifartige Behandlung nicht verleugnen. Deutlih war die lehrhafte Abficht, 
waren die Quellen des Verfaſſers faſt überall erfennbar; oft ziemlich undermittelt 
drängten fich die gelehrten Excurſe in die Erzählung (ganz abgejehen von den Hinten 
angehängten Anmerkungen) ; es roch Hier und da wirklich jtarf nach der Lampe. So 
erinnerte beiſpielsweiſe das Gaftmahl der Rhodopis beinahe an ein Gapitel aus 
Beder’3 „Charikles“. Die Erzählung, welche Halliad da von den olympifchen Spielen 
vorträgt, hat mit der Situation und der dichterifchen Handlung jo gut als gar nichts 
gemein, und fie ift nicht die einzige ihrer Art. Man wird, wenn auch nicht verjtimmt, 
fo doch einigermaßen abgekühlt, und ein gewiffer Zwittercharafter des Werkes ift nicht 
zu verfennen. Ueber das Alles nun, ich möchte jagen über diefe Vorübungen, ift 
Ebers in der „Uarda“ völlig Hinweg. Die Welt des alten Wunderlandes am Nil 
ift ihm fichtlich eine zweite Heimath geworden, in der er nur jelbitverftändliche Dinge 
fieht. Sie hat ihn in Natur, Denfmälern, Gejchichte alle ihre Geheimniffe enthüllt. 
An den fruchtftroßenden Geftaden des heiligen Stroms hat er dad Segenswerk der 
Iſis und des Horus belaufcht; über jeinem Haupte hat Sechet, die „löwenköpfige 
Göttin”, mit ihren Gluthitrahlen gewüthet; im Thale der Königsgräber hat er die 
Schakaln und Fledermäufe, das unheimliche Gefchlecht des Anubis, von vieltaufend- 
jährigen Trümmern verjcheucht; die Heitere Pracht der königlichen Paläfte und Gärten 
von Theben ijt ihm jo vertraut, wie es ihm die jchattigen Höfe und Hallen des 
heiligen Seti- Haufes mit ihren Myſterien find. Die Räthſelſchaft der Denkmäler 
bat für ihn feine Geheimniffe; fie erzählt ihm nicht nur von den Schlachten und 
Triumphen des Ramjes, jondern auch von dem kleinen täglichen Leid und Genuß des 
einfachen ägyptiichen Krieger und Landmannes. Jene Erſtlingskinder der Gejchichte, 
welche die Meberlieferungen der Yahrtaufende mit dem unerflärten Wunder einer 
reichen, fertigen Givilifation eröffnen, fie beleben fi dor dem Auge des Forſchers 
wie Menfchen von geftern und Heute. Und diefe ganze, wundervolle Fülle von An— 
Ihauungen und Offenbarungen der entlegenjten Vorzeit ftrömt, quillt, jprudelt uns 
bier aller Orten entgegen, jo vollfommen aufgelöft in des Dichters Anjchauung und 
Gefühl, daß wir ihre eigenartigften Erfcheinungen ala jelbjtverjtändliche Dinge Hin- 
nehmen und uns nach wenigen Gapiteln auf dem räumlich und zeitlich jo weit ent— 
legenen Schauplaße heimijch fühlen, wie im eigenen Haufe. Damit ift denn aud 
für den Dichter jene Erwägung weggefallen, welche ihn einft veranlaßte, den Rahmen 
feines Erſtlings-Romans in nicht unbedenklicher Weife zu erweitern. Ebers fürchtet 
nicht mehr, wie damals, und zu ermüden, wenn er das reine, in fich abgeſchloſſene 
altägyptijche Leben in feiner ganzen ungebrochenen Yülle und Eigenthümlichkeit uns 
vorführt. Er Hält fich nicht mehr verpflichtet, durch Einführung von Griechen, Juden, 


Literariiche Rundichau. 173 


PVerjern, Medern für Abwechjelung zu jorgen. Selbjt die verführerifche Epifode, in 
welcher Pentaur, der geniale ägyptiſche Dichter- Priefter, feinen Jugendgenoſſen und 
einftigen Mitfchüler, den „Meſu“ (Mojes) auf dem Sinai findet, fie ift in feufcher 
Selbitbefchräntung innerhalb jeft gezogener Grenzen gehalten und wirft deshalb um 
fo reiner und kräftiger. Wie nahe lag da die Verfuchung zu einem religions = philo- 
fophifchen Erguß! Hier der jchwärmerifche Adept, den feine heilige Zunft um einer 
unerlaubten Regung menjchlichen Fühlens und freieren Denkens willen unbarmherzig 
verjtößt, den nach jurchtbaren Tagen des Elends der Jubel der eben wiedergewonnenen 
Freiheit erfüllt; — dort der aus der Priejterichule in die Wüſte entflohene willens— 
gewaltige Denker, der Hirt mit der Königs- und Prophetengeftalt, und beide umweht 
von den Schauern der heiligen Frühe auf dem Gipfel des Gottesberges. Welch’ ein 
Motiv! Und Ebers begnügt fich mit einem Gelpräch von wenigen Zeilen. „Meju“ 
wendet fich betend von der aufgehenden Sonne ab. „Warum wandteft du dich ab 
von des Sonnengottes Erſcheinung?“ — „Weil ich zu einem Anderen bete, als ihr. 
„Die Sonne und alle Sterne find wie Epielbälle der Kinder in feiner Hand. Die 
„Erde ift feiner Füße Schemel, der Sturmwind fein Athem und das Meer ijt vor 
„Teinem Auge wie der Tropfen an dieſem Halme.“ — „Lehre mich den Großen 
„fennen, zu dem Dir beteft!* rief Pentaur. — „Suche ihn!“ entgegnete der Andere, 
„und du wirft ihn finden, denn aus Leid und Elend fommft du, und an biejer 
„Stätte, an einem Morgen wie diefer, ward er mir offenbar.“ — „Der fremde 
„wandte fich ab und bald verbarg ihn ein Felſen dem finnend in die Weite ſchauenden 
„Dichter.“ — Damit ift die Epifode beendet. Pentaur kehrt zu den dringenden 
Aufgaben des Tages zurüd; der mächtige epifche Strom der Handlung wird nicht 
länger aufgehalten, als es nöthig tft, um unfere Aufmerkſamkeit zu jchärfen und uns 
dann jeine innerlich treibende Kraft deito beſſer empfinden zu laſſen. 

Und hier berühren wir den entjcheidenden Punkt für die Würdigung des Romans. 
Ebers ift in feinem guten Rechte, wenn er diesmal ausdrücklich ald Dichter, nicht 
als der populär jchreibende Gelehrte gemeflen jein will. Er hat in der That eine 
ächte, jchöne, lebendige Dichtung geichaffen, eine bleibende Zierde unſerer Literatur. 
Sein gediegenes und umfaſſendes Wiſſen gibt feinen Schilderungen, feinen Charakteren 
eine wohlthuende Fülle und Beftimmtheit der Localfarbe, des individuellen Lebens; 
aber nicht einen Augenbli macht es fich ala eine ſchwer zu tragende Rüftung fühlbar. 
Aus dem vieltaufendjährigen Schutt jener untergegangenen Gultur läßt er Menſchen 
eritehen, die und jo natürlich, jo warm, jo lebensfriſch anmuthen, wie Freunde, deren 
Thaten und Schidjalen wir mit Spannung und herzlicher Theilnahme folgen müſſen, 
und die doch ihre ganz beftimmte Eigenart behalten, während das aus der Seele des 
Dichters jtrömende Yicht intelligenter Humanität fie gleichzeitig in anheimelnde und 
wohlbefannte Farben taucht. Es ift eine fleine Welt, in der alle Typen der Eivili- 
lation fih verfammeln. Vom heldenhaften, großherzigen Könige bis zum unreinen 
„Paraſchiten“ (Leichenzerfchneider) herab, dem Paria der altägyptiſchen Gefellfchait; 
vom idealen Märtyrer des Gedanken bis zum leidenjchaftlichen Selbjtlinge und zum 
perfiden Intriguanten find da alle Echattirungen des Glücks und des Charakters 
vertreten; und eine mächtige, wohl angelegte, nie ftodende Handlung hält alle 
Elemente im Fluß und läßt die Theilnahme nie ermatten. Wem aber gebührt der 
Preis? Welche Geftalt faßt beberrfchend das Jntereffe zufammen? Allerdings, wie 
wir nur gleich jagen wollen, nicht etwa Uarda, die Titelheldin. Diefe duftige don 
füßem Geheimniß umgebene „Roſe“ (das ift die Deutung des Namens) bleibt durchaus 
Nebenfigur. Ihr Ausjcheiden würde den Roman wol um einige twunderfchöne Scenen 
kürzen, nicht aber den Bau der Handlung in feinen Grundlagen erfchüttern. Dagegen 
wäre unſeres Grachtend hier noch weit mehr als dem Erftlingäwerfe der Titel der 
„Königatochter” gerechtfertigt gewwefen. Noch mehr ala dort Nitetis, die unglüdliche 
Braut des Kambyfes, tritt hier Pent-Anat, des Löniglichen Ramfes’ II. herrliche 
Tochter, in den Mittelpunft der Theilnahme. Ebers hat Hier einen weiblichen 
Charakter von einer Gediegenheit, Gejundheit und Lieblichkeit, einem Reichtum der 


174 Deutiche Rundſchau. 


Anlage und einer plaftifchen Kraft und Fülle gezeichnet, die von vorne herein alle 
Herzen gewinnen müffen. Und neben der hochgefinnten und menschlichen Fürftentochter 
dann das priejterliche Freundespaar, Pentaur, der ideale Schwärmer, dem die Mufe 
den Weiheluß der Schönheit und des Glücks ertheilte, und Nebjecht, der Arzt, der 
Forſcher, der Märtyrer des Wahrheit juchenden Gedanfens! Wie zwei mächtige 
Säulen tragen fie, mit Pent-Anat, dad Intereſſe der Handlung, während die bunte 
Reihe der ergänzenden, antreibenden und retardirenden Geftalten um dieje Mitte mit 
feinjtem künſtleriſchem Verſtändniß gruppirt ift. Einem Mißverſtändniſſe ift hier 
gleich zu begegnen, das da und dort wol auftauchen dürfte. Es wäre möglich, daß 
dem Dichter tendenziöfe Sympathien und Antipathien, etwa Gulturfampi-Stimmungen, 
zum Vorwurf gemacht würden. In der That könnten nur jehr naide Leſer Die 
Verſchwörung der Priefter gegen den kriegeriſchen, fiegreichen Soldatenkönig leſen, 
ohne jich zu erinnern, daß e3 eben nichts Neues unter der Sonne gibt; und welchen 
tiefer Blidenden würde aus den Zügen und Schickſalen Nebſecht's, des heldenhait 
refignirten, unbejtechlichen, jfeptifchen, unermüdlichen Forſchers nicht die ganze Majeftät 
des „Vitam impendere vero‘“, nicht da® ganze, volle Siegesbewußtſein des wiſſen— 
ſchaftlichen Gedankens, auch unjeres Zeitgedanfens, anfprechen? Es ift aber ein 
gewaltiger Unterfchied zwiſchen unfünftlerifcher „Tendenz“ und jolchen ewigen Lebena- 
beziehungen, die eben den Beweis für die rein menjchliche Wahrheit der Dichtung 
führen. Ameni, der hochgebildete, ſtaatskluge, im Grunde humane, aber in bie 
ehernen Mauern des Standesegoismus gebannte Priefter; Gagabu, der joviale, be= 
bäbige, wohlgenährte geiftliche Herr; neben und hinter ihnen der denkfaule, neidifche, 
bejchränfte Troß des geiftlichen Heeres: das find ebenfo nothwendige und ewige 
Typen, wie die Geftalten des Dichter und des Forſchers, denen es in den Schranken 
des Dogmas, der Kaſte, zu enge wird. Es ift nicht Eberd’ Schuld, wenn die Priejter 
des Seti-Hauſes nicht nur durch ihre Talare und Krummſtäbe an ihre heutigen 
Gollegen erinnern; wenn feine alten Aegypter den Gegenjaß zwiſchen culturfchöpferifcher 
Menſchlichkeit und tödtender Selbftfucht und Zrägheit jo zur Anfchauung bringen, 
daß uns das „De te fabula narratur‘‘ in den Ohren fummt Kann der Dichter 
dafür, wenn man im neunzehnten Jahrhundert nach Chriſti Geburt die famoſe Ge- 
Ichichte von dem Herzen des heiligen Ammons-Widders, das in ben todten Leib des 
Priefterd gefahren war, vielleicht ala Anfpielung aufnimmt? 

Ein befonderes Lob verdienen die Liebesfcenen. Ihre ſchlichte Natürlichkeit ift 
unendlich wirffamer, ala der declamatorifche Jambenftyl jener befannten Stellen der 
„Königstochter”, Für welchen dort die Vorrede nicht ohne Veranlaffung um Entjchul- 
digung bittet. Eher wäre vielleicht ein kritiſches Wörtchen geftattet über eine gewifje 
Harmlofigfeit in Verwendung allerdings altbewährter, aber eben ſehr altbewährter 
Kunftmittel zur Würze der Handlung. Die Vertaufchung von Kindern, die dann 
durch ihren Charakter die Phyfiologen in Erftaunen ſetzen, die wunderbaren Tren- 
nungen, Rettungen, Wiedererfennungen, die erftaunlichen, aller Mechanik jpottenden 
Heldenthaten gehören dahin. Wir wundern und weiter nicht, wenn ein altägyp- 
tifcher Dichter etwa die Lage des Ramſes in der Schlacht bei Kadeſch uns alfo 
Ichildert: „Er befand fich allein, und fein Anderer war bei ihm! Und als er hervor- 
trat, von Allen geſehen, die hinter ihm waren, da ward er umzingelt don feindlichen 
Magen zweitaufendfünfhundert” ꝛc. Mber von Schlachtſchilderungen in einem modernen 
Noman erwarten wir doch mehr Anjchaulichkeit und etwas jparfameren Gebrauch der 
Hyperbel. — Doch das find am Ende Nebenfachen, die unter den Vorzügen der 
trefflichen Leiftung verfchwinden. Alles in Allem dürfen wir die „Uarda“ als reine, 
ſchön menschliche Dichtung ebenjo empfehlen, wie ala geſchmackvollſte Einführung in 
eine viertaufend Jahre Hinter uns Liegende, aber durch die moderne Wiſſenſchaft voll- 
ftändig erichloffene Gulturepohe. — Wer die „realijtiiche* Strömung unjerer zeit- 
genöffiichen Dichtung in ihrer Berechtigung würdigen will, der halte ſich an jolche 
Keiftungen, nicht an, allerdings zahlreichere, Speculationen auf das rohe jtoffliche 
Reizbedürfniß der Menge! F. Kreyſſig. 


Literariihe Rundſchau. 175 


Ein Dentidh-Amerifaner über die Politif als Wiſſenſchaft. 


Treatise on Politics as a Science by Charles Reemelin. Cineinnati, 1875. 


Während die öffentliche Meinung fich mehr und mehr der Anfchauung zuneigt, 
daß wir aus den politischen VBerhältniffen der Vereinigten Staaten von Amerika mehr 
lernen fönnen, wenn wir diefelben ala warnendes Beifpiel ftatt als leuchtendes Vorbild 
für unfere heimifchen Zuftände betrachten, müfjen uns die dortigen focialen Verhältniſſe 
nach jehr vielen Richtungen hin ala erftrebenawerth ericheinen. Einen neuen Beweis 
bierfür liefert da8 vor Kurzem erjchienene, in der Ueberfchrift genannte Werk eines 
früheren Landamannes; denn der Name „Reemelin” ift nichts ala eine der leider noch 
jo oft vorfommenden Ueberſetzungen deutjcher Namen in's Amerikanifche ; der Verfafler 
heißt eigentlich Karl Rümelin, er entftammt der befannten ſchwäbiſchen Familie und ift 
ein Better des Kanzler Rümelin in Tübingen. Schon in jungen Jahren fam er ohne 
alle Mittel nach Amerika, erwarb fich durch eifernen Fleiß und Ausdauer ala Kauf— 
mann ein bedeutendes Vermögen, und widmete jeitdem jeine Mußeftunden den in der 
Jugend unter dem Zwange der äußeren Berhältniffe verfäumten wifjenfchaftlichen 
Studien, betheiligte fich in hervorragenden Stellungen am öffentlichen Leben und gab 
einen beträchtlichen Theil feines fauer erworbenen Vermögens wiederum aus für gute 
Öffentliche Zwede. Grgebniffe feiner Studien, fleinere und größere Abhandlungen 
volfäwirthichaftlichen und jtaatswifjenjchaftlichen Inhalts, find in den amerifanifchen 
Zeitjchriften mehrfach abgediudt, vor Allem jeine Arbeiten über finanzielle Fragen 
erfreuten fich des allgemeinen Beifalls der dortigen jachverjtändigen Kreiſe. Ein Theil 
diejer Auffäge, vermehrt durch Arbeiten verwandten Inhalts, ift unter dem obigen 
Zitel zufammengeitellt. Diejelben find, wie der Verfaffer in der Einleitung bemerkt, 
au verſchiedenen Zeiten, unter wechjelnden Eindrüden und unter dem Einfluffe der 
jedesmaligen Lecture gefchrieben, umgearbeitet, ergänzt. Ein verjtorbener Freund Hat 
ihn bejtimmt, fie als ein zufammenhängendes Ganzes durch den Drud zu veröffent- 
lihen. Der Berfaffer will mit ihnen fein abgejichloffenes und abgerundetes „Syitem 
der Politik“ vorlegen, er gibt fich aber der Hoffnung hin, daß „in denjelben nichts 
enthalten ijt, was nicht in irgend einer Beziehung zu diefer Wiſſenſchaft fteht“. 

Ein Blick auf das Inhaltäverzeihniß der fünfunddreißig Gapitel des Buches 
betätigt die Richtigkeit diefer Selbftkritil. Die erjten acht Gapitel behandeln politijche 
ragen allgemeinen Inhaltes: den Werth der Staatswifjenichaft überhaupt, die 
politiiche Seite de Menjchen, die verichiedenen Staatäverfaflungen, die Fähigkeit, 
zukünftige politifche Ereigniffe voraus zu beurtheilen, die Veränderlichkeit der Staats- 
formen. Dann folgen vier Gapitel über die verichiedenen Seiten der Regierungs- 
gewalt, die Erfordernifje einer tüchtigen Erecutive, Legislative und Gerichtöverjaflung. 
In den nächjten acht Gapiteln werden wiederum Bemerkungen gemacht über richtige 
und verkehrte politifche Beſtrebungen, den wahren und den faljchen Ehrgeiz in der 
Politik, Gentralifation und Decentralifation, Coordination und Subordination. Die 
folgenden fünf Gapitel find finangpolitiichen Inhaltes, fie enthalten kurze Abhand- 
lungen über die verjchiedenen Arten der Steuern, das Öffentliche Schuldenweien, das 
Geld» und Münzwejen. In den lebten zehn Gapiteln werden dann wieder die An— 
fichten des Verfaſſers über verjchiedene Fragen allgemeiner Natur, meiſt Tagesfragen, 
mehr oder weniger ausführlich dargelegt: die Gegenjäe zwiichen der Moral des 
Individuums und des Staatsmannes; den wahren und falichen Patriotismus; das 
Verhältniß von Nationalität und Sprache, der Religion zur Politik; die Stellung 
der frauen in der Politik (der Verfaſſer ift ein entjchiedener Gegner der übertriebenen 
Gmancipationabeftrebungen vieler amerifanifcher Kreife); das Verhältniß von Arbeit 
und Gapital; die Grundlagen einer gefunden Politik und Aehnliches. 

Der Verfaſſer hat durch und durch gefunde politische Anschauungen, er weiß in 
der deutſchen, englifchen, franzöftichen und amerikanischen einschlägigen Literatur 


176 Deutihe Rundicau. 


tüchtig Befcheid und hat mit Eifer und richtigem Verftändni das, was er gelejen, 
auch in fich aufgenommen. Er jchwärmt nicht für eine beftimmte Staatsforn, der 
Inhalt, nicht die Form, ift ihm die Hauptjache, und die Form muß für verjchiedene 
Gemeinwejen und für verjchiedene Zeiten auch verfchieden fein. Daß aber die ameri- 
fanifche Demokratie nichts weniger als das deal einer Staatöverfafiung ift, darauf 
wird wiederholt mit Nachdruck hingewiefen; überhaupt jcheut fich der Verfaffer nicht 
an vielen Punkten jchonungslos die faulen Stellen in den amerikaniſchen öffentlichen, 
Zuftänden zu geißeln, die dortige Beamtenwirthichaft und Stellenjägerei, die verkehrte 
Wirthſchafts- und Zollpolitit unverhohlen ftreng zu verurtheilen. Wirthichaftlich ift 
Neemelin ein entjchiedener Freihändler, ein Gegner des Papiergeldes, ein Anhänger 
internationaler Müngverträge; feine Bemerkungen über die verjchiedenen Arten der 
Beitenerung, das Budgetrecht find durchweg zutreffend und richtig und wol der 
fachlich bedeutjamfte Theil jeines Werlchens. Man fühlt Hier, daß der Verfaſſer 
diefe Verhältniffe nicht allein durch theoretiiche Arbeiten fennen gelernt, fondern daß 
er eine reiche, umfaffende Praris ala Finanzmann durchgemacht hat. Alle feine An- 
ſchauungen find aber von einem wohlthuenden Jdealismus durchdrungen, ein Vorzug, 
deflen er fich jelbjt recht wohl bewußt ift, denn er bemerkt in der Einleitung, er ſehe 
voraud, daß ihm auch wegen dieſes Buches auf’3 Neue der „Vorwurf“ gemacht 
werden werde, er ſei ein Idealiſt, ein Theoretifer, „aber er halte auch mehr von der 
ehrlichen Theorie, als von der unehrlichen Praris“. 

Können wir hiernach gern zugeben, daß das Buch reich an gefunden Gedanken und 
zutreffenden Urtheilen ijt, jo müflen wir andererfeitö hervorheben, daß der deutjche 
Lejer wenig Neues und Originelle® in demfelben finden wird. Die ſchwächſte Seite 
des Verfaſſers ift aber die Syſtematik, er verfteht nicht, feine Gedanken nach einer 
Haren Dispofition logisch zu gruppiren. Das Buch ijt nicht ſowol eine Abhandlung 
über die Politif ala Wiſſenſchaft, als vielmehr eine Sammlung von Aufjäken über 
einzelne politifche Fragen, welche in feinen organifchen Beziehungen zu einander 
ftehen, und denen ebenfo wenig ein leitender Gedanke zu Grunde liegt. Auch fehlt 
es in Folge defjen nicht an Wiederholungen und Abjchweifungen. Was die formelle 
Seite betrifft, jo jällt e8 öfters auf, daß R. mit feiner Belefenheit, feinen Gitaten 
allzu jehr prunft, daß er mit einer zu behäbigen Rebjeligfeit feine Gedanken aus- 
ipinnt. Wir gönnen ihm aber von Herzen die freude, dieſe Früchte jeiner Studien 
gedrudt vor fich zu jehen, und manche unferer deutjchen Kaufleute mögen in diejem 
Landsmann ein Vorbild dafür erbliden, daß unter dem Drange einer mühevollen 
materiellen Bejchäftigung auch ein warmer und aufrichtiger Idealismus bewahrt 
werden kann und bewahrt werden Jollte. 


Gordon Baldwin. 


Novelle 
bon 


Rudolph Lindau. 


— — 


I 


Georg Forbes hatte weder Zeit noch Geld geipart, um jeine Junggeſellen— 
wohnung jo hübſch wie nur möglich einzurichten. Er beſaß einige Erfahrung 
und hatte viele Länder und Leute geſehen; er war jo reich, daß man jogar in 
New-York, jeiner Heimath, von jeinem „großen“ Vermögen ſprach, — und er 
hatte nicht zu thun, als was ihm Vergnügen machte. Unter ſolchen Bedingun- 
gen hält es nicht ſchwer, namentlich wenn man Paris bewohnt, fich bei jeinen 
Bekannten den Ruf eines Mannes von vorzüglidem Geſchmacke zu eriverben. 
Forbes hatte fich bei einem jungen, talentvollen Künftler, der ihm einige große 
Beftellungen verdankte, guten Rath geholt; er Hatte jodann die beiten Pariſer 
Arbeiter monatelang beſchäftigt und jeinem Tapezirer einen gewiffermaßen un- 
begrenzten Gredit eröffnet. Auf diefe etwas koſtſpielige, aber äußerſt einfache 
und bequeme Weije war e3 ihm denn auch gelungen, jein Kleines, in der Nähe der 
Champs Elyises gelegenes Hötel äußerft geſchmackvoll und behaglich einzurichten. 
Die Bilder von Corot, Rouffeau, Diaz, Roja Bonheur zc., die den Salon, das 
jogenannte Arbeitszimmer und den Speijejaal ſchmückten, gehörten zu ben noto- 
tisch guten Werken der genannten Meiſter; der große Rubens im Schlafzimmer 
war authentiſch; die Kronleuchter und Uhren waren Prachtitüde franzöſiſcher 
Induſtrie; und nirgends konnte man bequemere Sejjel und Divans finden, als 
in den wohnlidhen, gegen die Sonnenftrahlen wie gegen die Kälte glei gut 
geſchützten Gemächern des „Hötel Forbes” der Rue Dumont d’Ilxrville. 

Beinahe eine ganze Woche lang, nachdem Forbes von feinem Haufe Befit 
genommen hatte, war er jeden Morgen mit neuem Vergnügen, mit einem Stolze, 
al3 jeien die Schönen Sachen, über die er fich freute, jein eigenes Werk, durch 
Säle und Zimmer gewandert; auch hatte er mit zufriedenem Lächeln die Com- 
plimente über jeinen vorzüglichen Gejhmad entgegengenommen, die jeder feiner 
Beſucher ihm darzubringen ſich für verpflichtet hielt; aber bald hatte er fih an 
den Anblick der Bilder, Porzellane und Bronzen ebenjo gewöhnt, wie an feine 

Deutſche Rundſchau. III, 8. 13 


182 Deutſche Rundſchau. 


bequemen Seſſel und an ſeinen guten Koch; und zur Zeit, wo wir ihn kennen 
lernen, vier Jahre nachdem er ſich in Paris niedergelaſſen hatte, war das, was 
ihn in ſeiner Wohnung umgab, nicht mehr im Stande, ſeine Aufmerkſamkeit 
auch nur einen Augenblick zu feſſeln. 

Das Leben, welches der nun dreiunddreißig Jahre alte Georg Forbes führte, 
war trotz anſcheinender Mannigfaltigkeit ein einförmiges. Er wohnte ſieben 
Monate lang im Jahre in Paris. Während des Sommers reiſte er von einem 
Vergnügungsorte zum andern. Man traf ihn dann in Trouville, Biarritz oder 
in den Pyrenäen, wol auch in Baden oder Homburg, wo damals noch geſpielt 
wurde. Einmal war er ſogar nach den Vereinigten Staaten zurückgekehrt und 
hatte ſein vornehmes, kaltes, gelangweiltes Geſicht in Saratoga und Newport 
gezeigt. Während des ganzen Winters und im Frühjahr, bis Ende Mai, lebte 
er in Paris. Er ritt dann des Morgens im Bois de Boulogne ſpazieren, früh— 
ftückte zu Haufe, gähnte eine Stunde lang über Zeitungen, Briefe und Romane, 
ichlief auch wol darüber ein, machte einige Viſiten oder zeigte feine Pferde in 
der Avenue de l'Impératrice, und erjchien endlich gegen fieben Uhr im Gafe 
Anglais oder bei Bignon, um dort jeine Mahlzeit einzunehmen. Nach dem 
Eſſen ging er in ein Theater oder in eine der Soiréen der jogenannten „Ameri- 
kaniſchen Colonie“. Dort madten ihm Mütter mit erwachjenen Töchtern und 
junge Wittwen den Hof. Auch traf er in diefen Kreifen mit Männern zufammen, 
die fih jagten, der junge Millionär könne ihnen wol einmal irgend einen Dienft 
erweiſen, und die deshalb feine Mühe jcheuten, um ihn zu amüjiren. Aber 
Forbes war nicht erkenntlich für die zuvorkommende Liebenswitrdigkeit, mit der 
man ihn überall behandelte, und Niemand unter jeinen zahlreichen Bekannten 
konnte jich rühmen, mit ihm auf vertraulidem Fuße zu ſtehen. Er war miß— 
trauiſch. In früheren Jahren war er einige Male hintergangen worden, wie 
dies auch armen Menjchen im Leben paſſirt; aber er hatte es nicht vergeſſen 
und nicht verziehen und fürdhtete immer, daß Jedermann, der ſich ihm näherte, 
e3 auf jein Geld abgejehen habe. Den Glauben an uneigennübiges Wohlwollen, 
der niemals ftark bei ihm entwidelt geweſen war, Hatte er längjt verloren; 
Freundlichkeit, jobald fie über banale Höflichkeit hinausging und bemerkbar 
wurde, galt bei ihm für intereſſirte Schmeichelei und machte ihn noch zurück— 
baltender und vorfichtiger, als er e3 gewöhnlich war. Daher fam es auch, daß 
junge, anftändige Männer, die ſich unter gewöhnlichen Verhältniſſen vielleicht 
mit ihm befreundet hätten, fi von ihm abgeftoßen fühlten und fi von ihm 
zurüdzogen, jo daß jein intimer Umgang immer trauriger wurde und zuleßt 
beinahe nur noh aus Menſchen beftand, die fein Mißtrauen und feine Miß— 
achtung verdienten. 

Den jpäten Abend verbrachte der vereinfamte Mann im Club. Er jpielte 
und gewann häufig bedeutende Summen. Große Verluſte hatte er nie zu be— 
Hagen. Er pointirte mit feinem eigenen baaren Gelde ruhig und vorjichtig. 
Gewann er, jo war er jtet3 bereit, Alles, wa3 er vor jich hatte, wieder auf's 
Spiel zu ſetzen, und ſchob mit derjelben Gelaffenheit ein paar Louisd’or oder 
einen Haufen zerfnitterter Bankbillete vor jih hin. War ihm das Glüd nicht 
günftig, jo verlor er, wa3 er an baarem Gelde mit jich führte — einige Taufend 


Gordon Baldwin. , 183 


Franken — und ftand dann gähnend auf — er gähnte häufig —, um in dag 
Leſezimmer zu gehen, die Abendzeitungen zu leſen und zur gewöhnlichen jpäten 
Stunde nah Haufe zu fahren. Er war ein gefährlicher, correcter, unbeliebter 
Spieler. Man konnte ein Vermögen an ihn verlieren, aber niemal3 mehr, als 
was er gerade in der Taſche hatte, von ihm gewinnen. Seine älteften Be— 
fannten erinnerten ſich nicht, daß er jemals beim Spiele Geld geborgt habe. 

Eines Abends, im Monate December 186., erfehien Forbes wie gewöhnlich 
um elf Uhr im Club und nahm, nachdem er rechts und links guten Abend zu— 
genickt Hatte, am grünen Tiſche Platz. Er Hatte in der vorhergehenden Nacht 
eine bedeutende Summe gewonnen, und einer der jungen Leute, die am meiften 
verloren hatten, Henry Wetmore, forderte ihn lächelnd auf, „eine ordentliche Bank 
zu legen”. Forbes antwortete zunächſt gar nicht; als Wetmore aber jeinen 
Borichlag wiederholte, entgegnete der Andere halblaut und nadläffig, es ſei 
gegen ſeine Grundjäße, eine neue Partie als die Fortſetzung einer alten zu be— 
trachten; er fange joeben an zu jpielen und wiſſe vorläufig noch nicht, ob es 
ihm heute beſſer pafjen werde, eine Bank zu nehmen oder dagegen zu pointiren. 

„Sehr bequeme Principien,“ meinte Wetmore und zucte dabei ſpöttiſch 
lächelnd die Achteln. 

Forbes ſah ihn lange und feſt an und antiwortete nach einer peinlichen 
Pauje: „Wenn Sie ungehalten find, weil Sie geftern verloren haben, jo 
kann ich darüber nur mein Bedauern ausſprechen; der Gedanke, daß Sie 
Streit mit mir ſuchen, weil ich gewonnen habe, liegt mir fern; das Recht, mir 
Vorſchriften zu machen, wie ich zu jpielen habe, kommt Ihnen nicht zu; auch 
bezweifele ich, daß Sie es beanjprucdhen. Aber wenn Sie glauben, daß ich Ihnen 
eine Revanche Ichuldig bin, jo belieben Sie die Summe zu nennen, um die Sie 
mit mir jpielen wollen, und ic) werde mir ein Vergnügen daraus machen, mich 
ſofort zu Ihrer Verfügung zu ftellen.“ 

Der arme Wetmore, dem man von allen Seiten beihmwichtigende Blicke 
zuwarf und der nur mit großer Mühe dad Geld zujammengeborgt hatte, da3 
er vierumdzwanzig Stunden lang jchildig geblieben war und heute Abend zahlen 
mußte, verwünjchte im Herzen feinen glücklichen, mächtigen Gegner. Aber diejer 
hatte in der Form da3 Recht auf feiner Seite zu bewahren gewußt, und Wetmore 
fühlte, daß er allein ftehe und nichts Weijeres zu thun habe, als die Sache auf 
fi beruhen zu laffen. Er murmelte übler Laune, aber nit unhöflih: „Sie 
nehmen die Gefhichte zu ernſt; fie war nicht jo gemeint.“ Forbes zählte darauf 
fein Geld, ſpielte noch vorfichtiger als gewöhnlich, verlor eine Kleinigkeit und 
zog fich gegen zwei Uhr Morgens zurüd. Nachdem ex den Club verlafjen hatte, 
fing Wetmore von Neuem an, ich über ihn zu beklagen, und diesmal fand er 
von allen Seiten Zuftimmung. 

„Was mich tröftet,“ ſchloß er jeine Rede, „ift, dat Forbes, obgleich er viel 
mehr gewinnt, al3 Einer von una, doch fein rechtes Vergnügen am Spiele hat. 
Ich ärgere mich wol, wenn ic verliere, aber dafür macht es mir auch Spaß, 
wenn ich zufälligerweije einmal gewinne. Forbes langweilt fi) immer. Ich 
gönne e3 dem unangenehmen, reichen Menfchen.“ 

Forbes wußte genau, al3 er nad Haufe fuhr, daß man ihn in diejem 

13* 


184 Deutiche Rundſchau. 


Augenblid im Club angriff, und daß unter den zahlreihen Belannten, die ihn 
dort mit freundlichem Lächeln zu begrüßen pflegten, nicht Einer war, dem es 
eingefallen wäre, ihn in feiner Abweſenheit zu vertheidigen. 

Am nächften Morgen, während de3 Rittes im Bois de Boulogne, machte 
er Reijepläne. „Ich will auf ein paar Wochen nad Nizza, Florenz und Rom 
gehen,” jagte er ſich. „Vielleicht amüſire ich mich dort etwas beffer, als hier. 
Jedenfalls befomme ich doc dann einmal wieder andere Gefichter zu jehen, als 
die von Wetmore und Compagnie. Die ganze Gejelihaft ift mir unausftehlich.“ 

Als er eine Stunde jpäter wieder in feiner Wohnung war, überreichte ihm 
jein Diener zwei Briefe, die joeben für ihn angefommen waren. Er legte die- 
jelben, ohne fie angejehen zu haben, auf den Tiſch, und erſt nachdem er ſich 
gelaffen umgekleidet und darauf durch einen Bli auf die Uhr überzeugt Hatte, 
daß man ihn in einer Viertelftunde zum Frühſtück rufen werde, warf er fi 
am Kamin in einen Seſſel und las die Briefe. Diejelben lauteten wie folgt: 

„97 Avenue Friedland. Mittwoch. 
„Lieber Herr Forbes! 

„Wollen Sie und das Vergnügen mahen, Freitag Abend um jteben Uhr 
bei uns zu effen? Herzliche Grüße. 

Marie Leland, geb. von Montemars.” 

„Die Frau kann e3 nicht unterlaffen, Jedermann fortwährend daran zu 
erinnern, daß fie aus einer vornehmen Familie ift und den alten Leland nur 
jeines Geldes wegen geheirathet hat. — Geborene von Montemars! Was geht 
mic da3 an? Aber Johanna Leland ift ein ſchönes, Eluges Mädchen. Ich habe 
Freitag Abend nicht? Bejonderes zu thun. Ich werde die Einladung annehmen.“ 

Das Billet wurde wieder methodiſch in ſein Couvert geſteckt und bei Seite 
gelegt. 

Der zweite Brief war ein längeres Schriftftüd. Forbes, jobald er einen 
Blick auf die Adreffe geworfen und die Handichrift erkannt hatte, entfaltete das— 
jelbe mit unfreundlihem Stirnrunzeln und las jodann mit gejpannter Aufmerk- 
ſamkeit: 

„Hakodate, 2. September 186.. 
„Lieber Georg! 

„Du wirft mir die Gerechtigkeit widerfahren laſſen, daß ich Dich ſeit ge— 
raumer Zeit mit Nachrichten von mir verichont habe. Ach würde Dir aud) 
heute nicht jchreiben, wenn ich es vermeiden könnte. ch weiß, daß meine Briefe 
Dir kein Vergnügen machen, und jchreibe Dir deshalb nicht gern. Ich Habe 
Dir nichts Unangenehmes mitzutheilen und bitte Dich, den Brief nicht ungelejen 
bei Seite zu werfen. 

„Als ich vor vier Jahren in Hakodate ankam, lernte ich einen jungen Eng— 
länder Namens Gordon Baldwin kennen. Er nahm mich, ohne daß ich irgend 
welche Anſprüche an ihn geltend machen konnte, mit herzlicher Freundlichkeit in 
jeinem Haufe auf, und ich bin monatelang fein Gaft geivejen. Ich war feit 
langer Zeit nicht mehr an Wohlwollen gewöhnt. Baldwin’s Güte machte einen 
tiefen Eindrudf auf mic) und ich war ihm dafür jehr dankbar. ch gewann 
ihn lieb, und er, der wol fühlen mußte, wie ergeben ich ihm jei, befreundete 


Gordon Baldwin. 135 


fi ebenfalls mit mir. Ich war lange Zeit wie ein fteuerlojes Schiff umher— 
geworfen worden, ohne irgendwo Ruhe oder Sicherheit zu finden, und ich wagte 
faum zu hoffen, daß das Glück mich endlich in einen Hafen geführt hätte, wo 
e3 mir gejtattet jein würde, zu raften. Ich glaubte, Hafodate in wenigen Mo- 
naten wieder zu verlaffen, und war deshalb in meinen Neußerungen Baldwin 
gegenüber nicht jo vorfichtig, wie ich es hätte jein jollen. Ich Hatte bei meinen 
Mittheilungen feinen böfen Zweck im Auge. Ich meinte, es würde mir geftattet 
fein, mir den gegenwärtigen Augenbli nicht durch argwöhniſche Verfchloffen- 
heit zu verderben. ch beſitze die ruhige Zurückhaltung, die Dich auszeichnet, 
leider nicht. 

„Ich erzählte aljo Baldwin während der langen Spaziergänge, die wir mit 
einander machten, Einiges aus meinem Leben. Meinen Namen verjchwieg ich 
ihm, denn ich wollte dem Berjprechen, das ich Dir gegeben hatte, nicht untreu 
werden. Ich nannte mic) Graham. Ich ſagte Baldwin, daß ich reiche Ver— 
wandte bejäße, von denen mich ein Unglüd, über das ich ſchweigen müſſe, fir 
immer trenne. Ich ſprach auch von Dir. Du wirft dies unerklärlich finden, 
denn Dir würde der Gedanke, von mir zu ſprechen, niemals fommen. Wir 
find eben jehr von einander verjchieden. Ich erzählte nur Gutes von Dir: ich 
rühmte Deinen Scharfblid, Deine Ruhe und Gnergie. ch ſprach von den 
außerordentlichen Erfolgen, die Du im Leben gehabt haft, und die Du haupt» 
jählic Deiner Klugheit und Entichloffenheit verdantft. Von dem Verhältniß, 
in dem toir zu einander ftehen, ſagte ich Nichts. Ach bezeichnete Dich als einen 
Jugendfreund. Du fiehft, große Andiscretionen habe ich nicht begangen. Es 
fann Dir nicht Schaden, wenn der harmloje, leihtgläubige Baldwin annimmt, 
Du Habeft einem armen Schluder Namen? Graham vielleiht einmal einen 
Dienft erwieſen. 

„Hakodate liegt weit aus der Welt. E3 wohnen dort, außer den Japaneſen, 
einige wenige engliſche, amerifaniiche und deutiche Kaufleute. Fremde Reijende 
verirren fich beinahe niemals dorthin. Ich Jah jahrelang nichts mehr, was 
mid an meine Vergangenheit hätte erinnern können, und fühlte mich nad) und 
nad zu neuem Leben erwachen. Die erften Kleinen Gejchäfte, die ich unternahm, 
hatten guten Erfolg. Baldwin verihaffte mir Gredife in Yokohama, Schanghai 
und Hongkong, die mir geftatteten, mein neues, unverhofftes Glück bei größeren 
Unternehmen auf die Probe zu ftellen. Alles gelang mir — und heute befite 
ich ein beſcheidenes, wohlerworbenes Vermögen und bin ein geachtetes Mitglied 
der fremden Gemeinde von Hakodate. Alles dies habe ic” Gordon Baldwin zu 
verdanten. Ohne ihn wäre ich zu Grunde gegangen, denn meine Mittel und 
mein Muth waren erichöpft, ala ich in Yeſſo anlangte. 

„Bor einigen Wochen zeigte mir Baldwin an, er beabfichtige nun, nachdem 
er ſechs Jahre lang in China und Japan gelebt hatte, eine Reife nad) Europa 
zu machen. Bei der Gelegenheit ſprach er auch Deinen Namen au, den er 
unglüclichertveife nicht vergeffen hatte, objchon derjelbe jeit langer Zeit nicht 
mehr über meine Lippen gelommen war. — Ich hatte Baldwin früher erzählt, 
daß Du Paris bewohnteft, und nun erjuchte er mid), nicht ahnend, daß es mir 
unangenehm jein könnte, jeine Bitte zu erfüllen, ihm ein Einführungsichreiben 


186 Deutiche Rundichau. 


für Did mitzugeben. Ach konnte ihm dies nicht abjchlagen, ohne mir in jeinen 
Augen eine Blöße zu geben, oder jeinen Verdacht zu erregen. Ich hätte vielleicht 
irgend eine Ausflucht finden können; aber ich durfte mich nicht der Gefahr aus— 
jegen, daß der Zufall ihn mit Dir zufammenführe. Ich habe ihm aljo einen 
Brief für Dich gegeben. Berücdfichtige die Umftände, unter denen dies gejchehen 
ift, und verzeihe mir die Freiheit, die ich mir genommen Habe, Bedenke, wie 
unendlich viel ih Baldwin verdanke, und nimm ihn dafür freundlich bei Dir 
auf. Ich habe Baldwin zu verftehen gegeben, daß es Dir peinlich ſein könnte, 
von meiner Vergangenheit zu ſprechen. Ich bin ganz ficher, daß er jede Aeuße— 
rung vermeiden wird, die Dich in Verlegenheit jegen könnte. 

„Du wirft in meinem Freunde den edelften, beiten Menſchen kennen lernen. 
Gr ift einige Jahre jünger als Du; das unabhängige Leben in der Fremde hat 
ihn jedoch frühzeitig gereift. Er ift aus guter Yamilie; aber jeine nächften Ver— 
wandten find todt, und er fteht jo ziemlich allein in der Welt; er hat ein an= 
genehmes Aeußere; er ift gebildet, wohlerzogen. Du wirft überall, wo Du ihn 
vorftelft, Ehre mit ihm einlegen. Ich bemerfe nur noch, um feine Charakteriftik 
jo vollftändig zu maden, wie Dich dies interefjiren kann, daß er bereits ein 
nicht unbedeutendes Vermögen befitt, und daß jein Geſchäft in Hakodate, defjen 
Leitung er mir während feiner Abwejenheit anvertraut, ihm in den letzten Jahren 
20— 25,000 Dollars p. a. eingetragen bat. 

„Und nun jage ih Dir Lebetvohl, lieber Georg. Ich erivarte Feine Antwort 
von Dir auf diefen Brief, und es ift nicht wahricheinlih, daß ich bald wieder 
Veranlaſſung haben werde, Dir zu jchreiben. 

„Dit unveränderter Liebe 
Dein Thomas.“ 

Der Diener trat in dem Augenblid, wo Forbes diefen langen Brief durch— 
gelejen hatte, in das Zimmer und meldete, daß das Frühſtück aufgetragen jei. 
Forbes faltete den Brief zufammen, ſteckte ihn in die Seitentajche jeines Rockes 
und begab ſich mit nachdenklicher Miene in den Speiſeſaal. 


ll. 


In einem der vornehmjten Caf63 des Boulevard des Italiens jaß an einem 
fleinen Zijche, der für zwei Perfonen gededt war, ein junger Mann von fünf- 
bis achtundzwanzig Jahren. Sein Aeußeres Hatte bereit3 die Aufmerkjamkeit 
der Kellner, der „dame du comptoir“ und mehrerer Gäfte erregt; denn obgleich 
man dem Fremden beim erften Blide anjah, daß er der guten Geſellſchaft an— 
gehöre, jo erſchien er doch in dem mit raffinirtem Luxus ausgeftatteten Saale, 
inmitten der eleganten Herren und Damen, die an den benachbarten Tiſchen 
jaßen, gar nicht an jeinem Platze. Ex trug einen verjchoffenen Reifeanzug, der, 
wie er jelber, Wind und Wetter getroßt haben mußte. Er hatte jchlichtes 
blondes Haar und klare graue Augen, vor denen fid) der neugierige Blick der 
Säfte, die ihn muftern wollten, unwillkürlich und fchnell gejenkt hatte, Die 
Naſe und der Mund waren groß, aber keineswegs häßlich; die Stirn war hoch 
und, bis einen Yingerbreit über den Augenbrauen, wo der Hut fie gegen bie 


Gordon Baldwin. 187 


Sonne geihüht hatte, auffallend weiß. Der Reft des hageren, energiichen Ge— 
fihte3 war von der Sonne ftark gebräunt und contraftirte in der Farbe ſeltſam 
mit der milchweißen Stirn, dem gelben Haar und den graublauen Augen. Er 
trug einen langen, röthlich-blonden, fiber die feinen Mundwinkel herabfallenden 
Schnurrbart. Der gerade, kühne Blick, der Kleine, runde Kopf, die breiten 
Shultern, die Eräftige Bruſt, die langen Berne, die großen, wohlgeformten, 
jehnigen Hände bildeten zufammen eine Ericheinung, welche unwillkürlich an 
vergangene Zeiten erinnerte. Ein eiferner Helm und ein mädtiges Schwert 
hätten viel beifer zu der Geftalt des Fremden gepaßt, ala der hohe, ſchwarze 
Hut und der leichte Spazierftod, die ihm ein Kellner bei dem Eintritt in den 
Saal abgenommen hatte. 

Der junge Mann hatte bereit3 mehrere Male nad) der hr gefehen. Mit 
dem Glodenjchlage fieben winkte er einem der dienftthuenden Kellner, der auch 
jofort an feiner Seite war umd höflich fragte, was zu Befehl ftehe. 

„Beben Sie mir ein gutes Diner,“ war die Antwort. 

„Der Herr belieben feine bejondere Wahl zu treffen ?“ 

„Thuen Sie das für mid. Geben Sie mir ein gutes Diner.” 

„Der Herr befahlen für zwei Perjonen zu decken?“ 

„Sa, aber mein Freund ſcheint nicht zu kommen. Sollte er fi nur ver- 
ipätet haben, jo können Sie ihn nad) jeiner Ankunft bedienen.“ 

Der Fremde ſprach franzöſiſch ziemlich geläufig, aber mit einem leicht er- 
fennbaren engliſchen Accent. Der erfahrene Kellner, an dem ſeit zehn Jahren 
große und reiche Perjönlichkeiten aus aller Herren Ländern vorübergegangen 
waren, claffificirte in jeinem Geifte den neuen Gaft wie folgt: „Ein verjchrobener 
Lord, der in Indien Tiger geſchoſſen hat und jet auf Parijer Revier jagen will.“ 

Der vermeintliche Lord hatte beveit3 Auftern, Suppe und Bafteten zu ſich 
genommen und war gerade damit bejehäftigt, einem ihm vorgelegten Jubftanziel- 
leren Gerichte Gerechtigkeit widerfahren zu laffen, als die Thür weit geöffnet 
wurde und Georg Forbes, mit tadellojer Eleganz gekleidet, in den Saal trat. 
Er ging grüßend am Büreau vorüber und blieb vor dem fonnenverbrannten 
Fremden ftehen. Diejer blickte auf und ſagte zwiſchen zwei Biſſen: 

„Sie fommen etwa3 jpät. Sie jehen, es hat mich weiter nicht genirt.“ 

„Es jcheint, daß man mit Ahnen pünktlich fein muß,” antwortete Forbes 
lächelnd. 

„Nein, das verlange ich nicht, jo lange man nicht von mir beanjprucht, 
daß ich warten fol. Nehmen Sie Plat. Ich habe bereit3 bemerkt, daß ich 
beiferen Appetit habe, al3 Sie, und wenn Sie ſich etwas beeilen, jo werden wir 
noch gleichzeitig beim Defjert anlangen.” 

Forbes that, wie der Andere ihm geheißen hatte, und nahm die Speifefarte 
auf, die er forgfältig zu ſtudiren fchien. 

Wie fam es, dat Baldwin, dem er erſt feit fünf Tagen kannte, fich mit 
ihm Freiheiten nahm, wie fein Anderer feiner Pariſer Bekannten? Gin Jeder 
von diejen twitrde Forbes wenigſtens eine Viertelftunde erwartet, oder, wenn er 
dies nicht gethan, Entſchuldigungen vorgebracht haben. Baldwin hatte feinem 
Genoffen nicht eine Minute Friſt geichentt, und der Gedanke war ihm gar nicht 


188 Deutſche Rundſchau. 


gekommen, daß er ſich deswegen zu entſchuldigen habe. Und Forbes, der nie— 
mals Rückſichten nahm und durch die zuvorkommende Höflichkeit, die man ihm 
von allen Seiten erwies, ſtark verwöhnt war, fand Baldwin's Benehmen nicht 
nur ganz in Ordnung, ſondern murmelte ſogar: „Bitte um Verzeihung“ — 
worauf der Andere nur freundlich nickte, als wolle er ſagen: „Gern gewährt.“ 

Vor ſechs Tagen hatte Forbes eine Depeſche aus Marſeille erhalten, die 
folgendermaßen lautete: „Graham wird Sie auf meine Ankunft vorbereitet 
haben. Ich werde morgen früh zu Ihnen fommen. Gordon Baldwin“; und 
am nächſten Morgen, gegen zehn Uhr, war denn au) Herr Gordon Baldwin 
in grauem, verjchoffenem Reijeanzuge, mit xundem Hut und tadellofer Wäſche 
bei ihm erſchienen. Er hatte Forbes wie einem alten Bekannten Herzlich die 
Hand geihüttelt und hatte dann gleich in jo ruhiger, vernünftiger, gemüthlicher 
Weije zu jprechen angefangen, daß Forbes, der zuerjt etwas verlegen und Talt 
gewwejen war, bald darauf und unwillkürlich eine freundliche Miene und einen 
gejelligen Ton angenommen hatte. Eine Stunde war in angenehmer Plauderei 
Ichnell dahingegangen. Baldwin jaß in einem der großen Seſſel und erzählte 
von Japan, von Graham, von feinen eigenen Geſchäften und Plänen. Hie 
und da würzte er jeine Rede durch eine humoriſtiſche, ſtets wohlwollende Be— 
merfung, wobei jeine Klaren Augen dann freundlich lachten; und Forbes lauſchte 
mit einem ihm ganz neuen, aufrichtigen Vergnügen. — Als der Diener in das 
Zimmer getreten war, um anzuzeigen, daß das Frühſtück aufgetragen fei, hatte 
Forbes den Unbekannten gebeten, mit ihm zu effen; und nad) der Mahlzeit hatte 
er ihn erfucht, während der wenigen Tage, die er in Paris zu bleiben gedente, 
bei ihm zu wohnen. Baldwin hatte diefe Einladung mit derjelben Ungezivungen- 
heit angenommen, wie die Gigarre, die ihm fein Wirth zehn Minuten vorher 
angeboten hatte und die er in jenem Augenblid mit ſichtlichem Wohlbehagen 
tauchte. 

Seitdem waren Forbes und Baldwin von früh bis jpät beinahe unausgeſetzt 
zujammen geweſen, und ein eigenthümlic vertrauliches Verhältniß hatte ſich in 
der kurzen Zeit zwiſchen den beiden, gänzlich von einander verjchiedenen Menfchen 
gebildet. Baldwin fand dies natürlich und dachte gar nicht daran; aber Forbes 
wunderte fi im Stillen darüber. Er konnte fi nicht erklären, wie e8 kam, 
daß er jich, jobald er mit Baldwin zufammen war, ein anderer und ein befjerer 
Menſch fühlt. Er konnte mit dem „Wilden von Yeſſo“, wie er ihn getauft 
hatte, ungeziwungen ſprechen und jcherzen, und er überraſchte fich mehr als ein- 
mal dabei, wie er ihm unaufgefordert, ja mit Vergnügen, vertrauliche Mitthei- 
lungen machte. — Baldwin verlangte abſolut Nicht von Forbes. Dies war 
das Geheimniß des angenehmen Eindruds, den er auf den mißtrauijchen, reichen 
Mann machte. Er hatte e8 weder auf feine Pferde, noch auf jeine Loge in der 
Oper, noch auf fein Geld abgejehen. Er ignorirte vollftändig und aufrichtig, 
daß fein Wirth „der reiche Forbes“ jei. Er jah in ihm Nichts als den quten 
Kameraden. Forbes fühlte dies. Es war ihm ein neues, wohlthuendes Gefühl, 
mit einem Menſchen zu verkehren, der feinen Dienft von ihm verlangte, ja dem 
er nicht einmal einen Dienft erweifen konnte. 


Gordon Baldwin. 139 


„Run, was haben Sie beftellt ?* fragte Forbes, nachdem er Baldwin gegen- 
über an dem Zijche im Cafe Plab genommen hatte. 

„Ein gutes Diner.” 

„Ich hoffe, daß Sie e3 befommen werben. Woraus befteht es?“ 

„Das weiß ich vorläufig noch nicht; aber ich bin bei ausgezeichnete 
Appetite und bereite mich noch auf die angenehmften Ueberraſchungen vor.“ 

„Sie haben dem Kellner die Wahl überlaffen ?“ 

„Wie Sie zu jagen belieben.“ 

Forbes lächelte. 

„Können Sie ſich aus dem Unfinn vernehmen?“ fuhr Baldwin fort, indem 
er nun die Speiſekarte aufnahm: „Potage Parmentier, Filet de soles Joinville — 
warum nicht Nemours oder Montpensier —? épigrammes d’agneau; chaufroid 
de Volaille u. j. w. Da verftehe ich die Ainos von NYeſſo noch befjer, als dies 
culinariiche Kauderwelſch.“ 

Forbes antwortete darauf nur, indem er einen Kellner rief und bei diejem 
in kurzem Ton und mit Angabe vieler Details ein „kunſtgerechtes“ Diner be- 
ftellte. Baldwin hörte aufmerffam und fichtlich ergößt zu. 

„Was Sie nicht Alles wiſſen!“ jagte er lächelnd. „Sie müſſen hier mein 
Lehrer werden.“ | 

„Mit Vergnügen. A propos: find Sie beim Schneider geweſen?“ 

Jawol.“ 

„Wann werden Sie Ihren Anzug bekommen?“ 

„Morgen Abend.“ 

„Es iſt Zeit.“ 

„So?“ meinte Baldwin gelaſſen. Dann betrachtete er aufmerkſam die 
Aermel ſeines Rockes und ſagte nachdenklich: „Der Anzug hat vor ein paar 
Monaten ein kleines Capital in San Francisco gekoſtet. Es iſt wahr, daß er 
ſeitdem viel ſchlechtes Wetter in den Prairien und auf dem Atlantiſchen geſehen 
hat, aber ich finde, daß er noch ganz gut iſt. Gleichviel. Von morgen ab 
werde ich in Ihrer Gegenwart nur noch in feſtlichen Gewanden erſcheinen.“ 

Gegen halb acht Uhr war ein ältlicher, vornehmer Herr, der einer jungen, 
eleganten und ſchönen Dame den Arm bot, in den Saal getreten und hatte mit 
jeiner Begleiterin an einem Tiſche, Baldivin gegenüber, Pla genommen. Forbes 
hatte die Eintretenden, denen er den Rüden zufehrte, nicht ‚bemerkt; dagegen 
hatte die Dame die ruhige, wohlwollende Aufmerkſamkeit Baldwin’3 auf ſich 
gezogen. Dies war auf der anderen Seite nicht umbemerft geblieben, und 
die Blicke des Reifenden und der jungen Parijerin waren fi) bereit3 mehrere 
Male begegnet. 

Torbe bemerkte, daß Etwas hinter jeinem Rüden vorging, und fragte 
nachläffig: 

„Was betrachten Sie ſo beharrlich?“ 

„Ein hübſches Geſicht.“ 

Forbes drehte ſich langſam um; dann ſtand er leicht erröthend auf und 
näherte ſich mit einer höflichen Verbeugung dem Tiſche, an dem der alte Herr 
und die junge Dame ſaßen. Dieſe erwiderten ſeinen Gruß in freundlicher Weiſe. 


190 Deutſche Rundſchau. 


„Ihre Frau Gemahlin ift wol noch nicht nach Paris zurückgekehrt?“ fragte 
Forbes. 

„Nein, wir erwarten fie erſt morgen,” antwortete der alte Herr. „Und 
Sie jehen, wie wir unjere Freiheit mißbrauchen. Wir haben feit vier Tagen 
nicht ein einziges Mal zu Haufe gegeffen. Johanna will, daß ich ihr die Parifer 
Reftaurant3 zeige, und als gut erzogener Vater beeile ich mich, ihr zu gehorchen.“ 

„Iſt der Herr dort Ihr Freund, von dem Sie geftern ſprachen?“ fragte 
jet das junge Mädchen leije. 

„sn der That,“ antwortete Forbes in demjelben Tone; und verlegen 
lächelnd jeßte er Hinzu: „Sie jehen, ic) habe nicht übertrieben: er fommt friſch 
au der Wildniß; aber er wird in wenigen Tagen civilifirter ausfehen, und 
dann werde ich mir erlauben, ihn vorzuftellen.“ 

„Ihr Freund wird und jederzeit willfommen jein,“ entgegnete der alte Herr. 

Forbes nahm darauf wieder Baldwin gegenüber Plat und erzählte diefem 
in der affectirt unbefangenen Weife, die man anzunehmen pflegt, wenn man von 
einem antejenden Dritten ſpricht, daß das junge Mädchen Fräulein Johanna 
Leland, die Tochter des reihen Banquiers Leland aus New-York, ſei. 

„Reich oder arm,“ war Baldwin’3 Beicheid, „fie ift außerordentlich hübſch 
und gefällt mir.“ 

„Sie jollen ihre Bekanntſchaft machen,“ fuhr Forbes fort. „Ich habe Sie 
bereit3 angemeldet und werde Sie, jobald Sie es wünſchen, vorftellen.“ 

Johanna Leland wußte jehr wohl, daß die beiden jungen Leute in diejem 
Augenblide von ihr ſprachen. Aber fie war daran gewöhnt, Gegenftand fremder 
Aufmerkjamkeit zu jein, und blidte vollftändig unbefangen um fih. Nach weni— 
gen Minuten erhoben fi Forbes und Baldwin, um den Reftaurant zu verlaffen. 
Forbes trat noch einmal an den Tiſch des Herrn Leland, um ſich zu empfehlen, 
während ber lange Baldwin mit einer halben, linkiſchen DBerbeugung, wie man 
fie Belannten macht, denen man noch nicht vorgeftellt ift, vorüberging. 


II. 


Wenige Tage, nahdem Baldwin Fräulein Leland zum erften Male gefehen 
hatte, war er von Forbes bem jungen Mädchen und deren Eltern vorgeftellt 
worden, und in kurzer Zeit zählte er zu den häufig und gern gejehenen Gäften 
in dem Hauje der amerifaniichen Familie. Zu Anfang des Monat März hatte 
er ih nad) London begeben, um dort einige Gejchäftsfreunde zu bejuchen; aber 
er war von diejer Reife nach einer Woche, weit früher, als er angezeigt, nad) 
Paris zurückgekehrt, und num hielt ex ſich bereit3 feit zwei Monaten dort auf, 
ohne auch nur anzudeuten, daß er bald wieder fortzugehen beabfichtige. 

Forbes war damit vollftändig einverftanden; ja, er freute fic darüber. 
Seine ganze Lebensweiſe war durch die Gejellfchaft des Heiteren, anſpruchsloſen 
Gaſtes, den er im Haufe hatte, in angenehmfter Weile verändert. Er dachte 
bereit3 mit Unruhe daran, dat da3 Zuſammenſein mit ihm über kurz oder lang 
ein Ende nehmen müßte Baldwin hatte nämlich, noch vor feiner Reife nad) 
England, einmal beiläufig erwähnt, daß er gegen Ende des Jahres nad) Hako— 
date zurückkehren würde. 


Gordon Baldwin. 191 


„Warum wollen Sie nicht in Europa bleiben?” fragte Forbes. 

„Beil ich mein Geihäft in Japan habe,” anttwortete Baldwin, „und mein 
Vermögen in meinem Haufe dort angelegt iſt.“ 

„Können Sie Ahr Geihäft nicht liquidiren?’ fragte Forbes weiter. „Sie 
werden doch nicht die Abficht haben, Ahr ganzes Leben lang unter halbeivilifirten 
Japanejen und wilden Ainos zu verbringen?“ 

„Das beabjihtige ic in der That nicht, aber ih muß es ſchon jo lange 
dort aushalten, bis ich genug verdient habe, um ohne mein japaneſiſches Geſchäft 
in Europa leben zu können.‘ 

„Wie viel Zeit gedenken Sie dazu zu gebrauchen ?“ 

„Bier bis fünf Jahre, wenn ih Glück habe.” 

„Fünf Jahre, wenn Sie Glüd haben! Das ift eine lange Zeit. Und wenn 
es Ihnen nicht gut geht?" 

„Daran habe ich nie gedacht. Ich laſſe das Morgen für ſich ſorgen. 
Kommt Zeit, kommt Rath!“ 

„Wann werden Sie abreiſen?“ 

„Das hat noch gute Weile. Gegen Ende des Jahres. Wenn ich zum 
Frühjahr wieder in Hakodate bin, jo iſt das zeitig genug.‘ 

Man war nun im Monat Mai. Baldwin hatte von feiner Abreiſe nicht 
wieder geiprochen,; ja, ex jchien gar nicht mehr daran zu denken. Und in 
der That, er dachte auch nicht mehr daran. Die jhönen Augen von Johanna 
Leland hatten es ihm angetdan. Er war über alle vernünftigen Maßen in fie 
verliebt. Er ſchwärmte im wahren Sinne des Wortes für die braunäugige, 
goldhaarige, ſchlanke Amerikanerin. AM fein Denken, Wünfchen, Hoffen war 
bei ihr. Die noch nicht erklärte Leidenſchaft machte ihn jo jelig, unglücklich, 
leihtherzig, ſchwermüthig, großmüthig, verzagt und albern, wie fie andere Leute, 
die jich im derjelben Lage befinden, zu machen pflegt. Nur in einem Bunte 
unterſchied fi) Baldwin von den meiften VBerliebten: er war nicht ſchwatzhaft. 
Er hatte Forbes noch nicht in jein Vertrauen gezogen, was jedoch nicht ver- 
hinderte, daß dieſer feit langer Zeit vollftändig Kar in der ganzen Sache jah. 
Auch Johanna und Herr und Frau Leland hatten, ohne daß dies großen Scharf- 
ſinn ihrerjeit3 erfordert hätte, da3 Geheimniß des neuen Hausfreundes errathen. 

rau M. Leland, „geb. von Montemars“, war darüber keineswegs erfreut; 
aber fie war auch nicht geradezu beunruhigt. Ihre Kluge Johanna flößte ihr 
großes und gerechtfertigtes Vertrauen ein. Herr Baldwin war nicht ein Schwie- 
gerjohn nad rau Leland’3 ruhig calculivendem Herzen. Seit geraumer Zeit 
hatte fie in ihrem Geifte den reichen Georg Forbes für ihre Tochter erwählt. 

Der alte Herr Leland war dem jungen Engländer gewogen; aber er hatte 
Nichts im Haufe zu jagen. Seine Frau wollte ihn nicht einmal ausreden laſſen, 
al3 ex eines Abend3 in ſchüchterner Weije gewagt hatte, von den liebenswürdigen 
Eigenichaften „des jungen Mannes aus Japan“ zu reden. 

Johanna endlich war auf ihren jüngften Sieg nicht bejonders ftolz. Sie 
war daran gewöhnt, zu fiegen. Baldwin mißfiel ihr durchaus nicht; aber der 
Gedanke, daß fie fi mit ihm verheirathen könne, war ihr nie gelommen. Dan 
hatte ihr während der leßten vier Jahre — fie war num dreiundzwanzig Jahre 


192 Deutſche Rundichau. 


alt — den Hof in den verjchiedenften Formen gemadt. Sie zählte in ihrer 
„Sammlung“ jentimentale, leidenjchaftliche, ſchwermüthige, witige und verftän- 
dige Courmader. Ein Jeder hatte jie eine Zeit lang amüfirt und war ihr 
jodann gleichgültig, wenn nicht läftig getvorden. Drei von ihnen hatten juc= 
cejfive um ihre Hand angehalten. Sie hatte diefe Anträge unbedingt, ohne einen 
Augenbli zu überlegen, zurückgewieſen. Was fie eigentlich) von ihrem zukünfti— 
gen Gemahle verlangte, welche Eigenjchaften derſelbe befiten follte, um ihr zu 
gefallen, war ihr jelbft nicht Elar. Ein großer Name, eine hervorragende Stellung, 
ein bedeutendes Vermögen würden fie vielleicht, wenn auch nicht verführt, jo 
doc nachdenklich” gemacht haben. Keiner der drei abgewieſenen Bewerber 
hatte eine diejer drei Eigenjchaften bejeffen. Auch Baldivin war weder befannt 
noch reich genug, um dadurch ihre bejondere Aufmerkjamkeit auf ſich zu ziehen. 
Die ſchlichte Einfachheit feines Weſens, die ihr etwas Neue3 war, „amüfirte“ 
fie. Das war Alles, was fie zu feinen Gunften jagen konnte. 

Der einzige Mann in ihrer Umgebung, welcher ihre geheimften Gedanken 
beihäftigte, war Forbes, der dieſe Auszeichnung jedoch nicht jeinem Reichthum 
verdankte. Zwar dachte Johanna wol auch daran und jagte fi), daß es ange- 
nehm jein twürde, eines Tages alle ihre Bekannten und Freundinnen durch Auf: 
wand und Prunk überftrahlen zu fünnen; aber was ihre Gedanken haupfſächlich 
zu Forbes hinzog, war die vornehme Gleichgültigkeit des jungen Millionärs. 

Man findet in Amerika hie und da Abkömmlinge deutſcher und engliicher 
Emigranten, bei denen die Einflüffe eines neuen Klimas und einer anderen Lebens- 
weile die Spuren ihres Urſprunges in wenigen Generationen verwiicht haben. Die 
typiſchen Züge ihrer Vorfahren find beinahe gänzlich verſchwunden. Sie haben 
knochige, ſchmale, feine Geſichter; eine eigenthümlich zarte Hautfarbe; große, 
kluge, lebhafte Augen; wohlgeformte, Heine Hände und Füße und lange, hagere 
Gliedmaßen. Ihre Haltung ift fühn und edel; ihre Bewegungen find unge- 
zwungen und fiher. Sie gleichen in ihrem Aeußeren viel mehr den Enteln alter, 
großer Gejchlechter, ala den Nachkommen breitſchultriger, unterſetzter Proletarier, 
welche Noth und Elend aus der Heimath vertrieben hatten; und man erfährt 
nicht jelten, daß fie jelbft in ihrer Jugend noch Gewerbe betrieben haben, die 
in Europa nur von den unteren und armen VBolfsclafjen ausgeübt werden. 

Forbes war einer diejer gewifjermaßen „unmotivirt“ vornehm ausjehenden 
Leute. Seine Großeltern waren verarmte Bauern geweſen; fein Vater Hatte in 
den Minen von Californien fein Vermögen aus der Erde gegraben; aber der 
zartgebaute Georg Forbes trat deijen ungeachtet mit auffallend vornehmer Ruhe 
und Sicherheit auf. Dazu fam, daß jein Reichtum einen Fünftlichen Nimbus 
um ihn verbreitete. Er ritt und fuhr die Ichönften Pferde; er gewann oder 
verlor beim Spiele mit vollfommenem Gleihmuthe,; er verlangte von feinem 
Menjchen einen Dienft oder auch nur eine Gefälligkeit; Niemand imponirte ihm; 
er war höflich und gleichzeitig rückſichtslos; endlich verftand er es, ſich einfach 
und mit Geſchmack zu Eleiden. 

Johanna jah und bewunderte dies Alles; im Grunde ihres Herzens über- 
ihäßte fie jogar die mannigfachen Vorzüge ihres reichen Landsmannes; und 
gleichzeitig fühlte fie, daß ihre ſchönen Augen nur wenig Macht über ihn aus— 


Gordon Baldwin. 193 


übten und daß jeine Ruhe in ihrer Nähe eine volllommene jei. Sie härmte ſich 
darüber mehr, als Jemand e3 ahnte und fie es fich jelbft geftehen wollte. 

„Wenn er nicht jo reich wäre,” dachte jie, „Jo würde ich ihm twenigftens 
zeigen können, daß er mir beſſer gefällt ala die Narren und langweiligen Menfchen, 
die mich umgeben; aber ich wage e3 faum, freundlich” mit ihm zu fein, damit 
er ſich nicht etwa einbilde, ich habe es, wie die Mädchen, die mit ihm coquettiren, 
und die Männer, die ihm jchmeicheln, auf feinen Reichthum, abgefehen. ch 
möchte, er verlöre einen guten Theil feines Vermögens ; dann würde er erkennen, 
wo er jeine wahren Freunde zu juchen hat. Sie behandelte Forbes mit weit 
größerer Zurüchaltung, al3 ihre anderen Bekannten, namentlich auch Baldwin. 
Für diefen hatte jie immer ein aufmunterndes Lächeln und ein freundliches Wort. 
Forbes bemerkte dies und Jpottete darüber. „Sie will mic) auf den armen 
Baldwin eiferfüchtig machen,” ſagte er fih. Der Sohn des Goldgräbers nährte 
wenig Illuſionen; er Hatte feine hohe Meinung von den Menſchen im Allge- 
meinen und bon Johanna Leland im Bejonderen. Er war nicht jo leicht zu 
zähmen wie der „Wilde von Neffo“. 

Eines Tages, ald Forbes gegen ein Uhr Morgens aus dem Club nad 
Haufe fam, nachdem er Baldwin zwei Stunden vorher im Salon von Frau 
Leland gelafjen hatte, jah er, daß jein Gaft noch Licht in feinem Zimmer hatte. 
Er begab fich zu ihm und fand ihn nachdenklich auf» und abgehend. 

„Run?“ fragte er, „was hält Sie zu jo jpäter Stunde noch wach?“ 

„Seßen Sie ſich,“ antwortete Baldwin, „ich habe mit Ahnen zu ſprechen.“ 

„Mein Rath ift: thun Sie es nicht.” 

„Was?“ 

„Berheirathen Sie ſich nicht!“ 

Baldwin blickte überrafcht auf. „Wer hat Ihnen denn gejagt, daß ich mich 
verheirathen will?“ fragte er. 

„Run, Sie ſelbſt!“ entgegnete Forbes lachend. „Glauben Sie, daß es nod) 
für irgend Jemand, der Sie kennt, ein Geheimniß jein kann, daß Sie in Fräu— 
fein Zeland verliebt jind ?" 

Baldwin ſchwieg eine kurze Weile. Dann nahm er das Geipräd wieder 
auf: „Sie erijparen mir eine Vorrede und ein Geſtändniß; das ift mir ganz 
vecht. Ich kann alfo gleich zu den Ereignifien des heutigen Abends übergehen. ... 
Bald nahdem Sie uns verlaffen hatten, fand ich zufälliger Weile Gelegenheit, 
mit Fräulein Johanna ungeftört zu jprechen. Herr Leland ja am Whiſttiſche; 
jeine Frau unterhielt fi mit den älteren Damen; Johanna war, nachdem Sie 
ih entfernt hatten, allein in dem Eleinen Nebenzimmer geblieben, wo der Thee 
aufgetragen war, und dort gejellte ich mich zu ihr. Ich weiß nicht mehr 
wie e3 Fam, daß ich von meiner Liebe ſprach. Kurz, ehe ich es jelbft wußte, 
hatte ich gejagt, was ich auf dem Herzen trug. In dem Augenblide, wo id) 
ihre Antwort erwartete, wurden im Salon die Stühle gerückt, und man bereitete 
fi dort zum Aufbruch vor. Hohanna erhob fich jchnell und trat in das Neben- 
zimmer. Die Gäfte nahmen Abſchied, und wenige Minuten Tpäter befand ich 
mich mit Heren und Frau Leland allein. Johanna war verſchwunden. ch 
hatte den Kopf noch voll von dem, was ich joeben gejagt, und wollte eine Ent- 


194 Deutiche Rundſchau. 


icheidung haben. Ich erzählte alſo in wenigen Worten, was zwiſchen mir und 
Fräulein Johanna vorgefallen war, und bat die Eltern, mir die Hand ihrer 
Tochter zu bewilligen. Der alte Herr Leland ftand verlegen auf und fagte: 
„Das müſſen Sie mit meiner Frau abmachen”; dann ging er an den Whifttifch 
und ſchien fich aufmerkſam damit zu bejchäftigen, die Karten und Spielmarfen 
einzupaden. Frau Leland, die am Kamin ftehen geblieben war und mich nicht 
zum Siten nöthigte, hielt mir mit halblauter Stimme eine längere Rede, in 
der fie in Kürze jagte: fie wiſſe aus meinem eigenen Munde und von Ihnen, 
daß ich nad) Japan zurückzukehren beabfichtige; fie könne ihre Einwilligung nicht 
zu einer Heirath geben, die fie zwingen werde, ſich von ihrem einzigen Finde 
zu trennen. — Ich wußte nicht, was ich antworten ſollte. Die Sache zeigte 
fih auf einmal von einer jo gänzlich unerwartet projaiichen Seite. Ach wurde 
verlegen und erinnete mich nicht mehr, was ich ihr erwiderte Sie jah mid), 
währenddem ich ſprach, ruhig und theilnahmslos an; der alte Leland wickelte 
noch immer die Karten ein. Aber ich fonnte und wollte mich nicht gleich für 
geichlagen erklären. Johanna Hatte meinen Antrag nicht angenommen, aber 
fie hatte ihn auch nicht zurückgewiejen. Ich durfte noch Alles hoffen. Die Mutter 
jelbft Konnte daran Nichts ändern. Ich brachte alfo endlich hervor, daß ich den 
mir von Frau Leland gegebenen Beicheid nicht ala einen definitiven annehmen 
könnte; daß ich die Mutter erjuchte, mit der Tochter zu ſprechen, und daß ich 
um die Erlaubniß bäte, mir morgen Nachmittag Antwort zu holen. Ich kann 
Ihnen nicht jagen, wie peinlich mir der falte, geichäftsmäßige Ton war, in dem 
die Unterhaltung geführt wurde. Frau Leland antwortete: „Sch werde mit 
meiner Tochter Tprechen. Ahr Beſuch wird mir jederzeit angenehm fein; aber 
ich werde nimmer meine Zuftimmung dazu geben, daß fi) mein einziges Kind 
von mir trenne, um in einen Welttheil zu ziehen, in dem fie für mich fo gut 
wie verloren wäre.“ 

„Eine längere Pauſe trat ein, während der ihre Augen mit demjelben Aus- 
druck unfreundlicher Kälte auf mir hafteten. Ich Eonnte mir meine Lage nicht 
recht Har machen. ch beivegte mich wie in einem Traume. Alles war jo 
fremd, jo vollftändig unvorhergejehen. Ich war zu den Lelands gekommen, tie 
ich jeit Wochen dorthin ging: in der Hoffnung, Johanna zu jehen, aber ohne 
die beftimmte Abficht, mich ihr gegenüber zu erflären. Und nun hatte ich ge= 
Iprocdhen, hatte nicht einmal eine Antwort von Johanna erhalten und follte 
plößlih in förmlicher, geihäftsmäßiger Art, ala handele es fih um etwas 
ganz Gewöhnliches, gemöthigt werden, dem gehofften Glüd zu entjagen! Ich 
fühlte, daß es mir in dem Augenblid nicht möglich war, einen vernünftigen 
Gedanken zu faſſen; es blieb mir gerade Ruhe und Urtheil genug, um einzujehen, 
daß ich durch ein unüberlegtes Wort Alles unbeilbar verderben könnte. ch 
nahm aljo meinen Hut und ſagte noch einmal: „Spredden Sie mit hrer 
Tochter und geftatten Sie, daß ich mir morgen Ihren Beſcheid hole.“ Einige 
Minuten darauf befand ich mich in der Straße, und jeit einer Stunde bin ich 
nun hier. Sie jehen, ich bin ruhig; aber ich befenne, daß ich mir nicht zu rathen 
weiß. Stehen Sie mir bei, Forbes. Was Toll ich tun? — Und wenn mir Frau 


Gordon Baldwin. 195 


Leland morgen wiederholt, was fie mir heute gejagt Hat! Was dann? Rathen 
Sie mir!“ 

Baldwin ſprach in der That ziemlich ruhig; aber jeine Augen glänzten wie 
im Fieber; jein Blid war unftät, und feine Stimme hatte einen heijeren Klang. 

Forbes trat an den Kamin, warf einen Bli auf die Uhr, jah in den 
Spiegel und ordnete mit der Hand jein ſchönes, Fraufes Haar. Baldwin ließ 
ihn nicht aus den Augen. 

„Slauben Sie,” fragte Forbes endlich jehr gelafjen, „daß Sie auf Fräulein 
Leland’3 Beiftand rechnen können ?" 

„Wie ſoll ich das willen?” enmtgegnete Baldwin. ungeduldig. „Ich Habe 
Ihnen ja gejagt, daß fie mich verlafjen hat, ohne mir irgend welchen Beſcheid 
zu geben.“ 

„Ja, lieber Freund, da weiß ich wirklich nicht, was ich Ihnen rathen joll.“ 
Er brachte jeine Cigarre, die auszugehen drohte, durch einige jchnelle Züge wieder 
in Brand. „Warten Sie zunächſt bi3 morgen,” fuhr ex fort. „Hören Sie, 
wa3 Mama Leland Ahnen zu erzählen hat.‘ 

„Wenn dieſe nun aber einfach wiederholt, wa fie mir heute Abend 
gejagt hat?“ 

„Warten Sie da3 ab.” 

„Weiter willen Sie mir Nichts zu jagen?“ 

„Beim beften Willen nicht.“ 

„Da bin ich aljo gerade jo Klug wie zuvor.‘ 

Forbes antwortete darauf nicht, und Baldwin, nachdem er eine Minute 
Yang leife pfeifend, den Blick ftarr auf den Boden gerichtet, dagejefjen hatte, 
ſagte endlich: 

„Sehr wohl. Ich will aljo bis morgen warten.” Darauf rieb er fich die 
Stirn und die Augen und jeßte hinzu: „Ich bin todtmüde.“ 

Forbes wünfchte ihm gute Nacht und entfernte ih. Eine BViertelftunde 
ipäter lag er gähnend im Bette, die Abendzeitung in der Hand, die er vor dem 
Einſchlafen zu lejen pflegte. Nach ferneren zehn Minuten ließ ex das Blatt auf 
den Boden fallen, blies das Licht aus, und bald darauf war er ruhig und feft 
eingejchlafen. 

Am nächſten Morgen,gegen elf Uhr erhielt Baldwin, der eine fchlafloje 
Nacht verbracht Hatte und bleich und niedergejchlagen auf feinem Zimmer jaß, 
einen Brief von Herrn Leland. Derjelbe lautete wie folgt: 

„Avenue Friedland. Montag früh. 
„Mein lieber Herr Baldwin! 

„Nachdem Sie uns geftern Abend verlafjen hatten, habe ich noch eine lange 
Unterredung mit meiner rau und meiner Tochter gehabt, und es liegt mir nun 
die Verpflichtung ob, Ihnen das Rejultat derjelben mitzutheilen. ch bedauere 
aufrichtig, Ihnen feine guten Nachrichten geben zu können. — Johanna ift unjer 
einziges Kind, und Sie werden begreifen, daß twir und nicht von ihr trennen 
wollen. Sie ift Ihnen dankbar für den Antrag, den Sie gejtellt haben, und 
fühlt fich dadurch geehrt; aber ſie beabfichtigt nicht, ſich dem ausdrüdlichen 
Wunſche ihrer Eltern zu twiderjegen. Unter diefen Umftänden würde e3 für 


196 Deutſche Rundſchau. 


Sie, und auch für uns, unnütz peinlich ſein, wenn Sie, wie Sie dies geſtern 
Abend beabſichtigten, heute noch einmal auf Ihre Bewerbung zurückkommen 
wollten. — Unſer Entſchluß ſteht unwiderruflich feft. — Jh wünſche Ihnen 
von ganzem Herzen alles Gute. Ich hoffe auch, daß wir ung in ſpäteren Jahren 
noch einmal antreffen werden und daß wir jodann unter anderen Verhältnifjen 
eine Verbindung wieder anknüpfen können, die mir jehr angenehm geweſen ift. 
Meine Frau jendet Ihnen ihre beften Grüße, und ich verbleibe, mein Lieber 
Herr Baldwin, 
„Ihr ganz ergebener Friedrich Leland.“ 

Baldwin blieb, nachdem er den Brief geleſen hatte, lange unbeweglich, wie 
verfteinert, fiten. Um zwölf Uhr trat ein Diener in das Zimmer, um zu jagen, 
daß das Frühſtück aufgetragen jei und daß Herr Forbes im Speijefaale warte. 
Baldwin antwortete, er werde fommen; aber er vergaß, was er gejagt hatte, 
und nad einer Viertelftunde juchte Forbes ihn auf, um in Erfahrung zu bringen, 
was ihn zurücdhalte. Baldwin reichte ihm, ohne ein Wort zu jagen, den Brief, 
auf den Forbes einen flüchtigen Blick warf. 

„Wir wollen nad dem Frühſtück darüber ſprechen,“ jagte er. „Kommen 
Sie. Es ift halb ein Uhr.” 

Baldwin folgte jeinem Wirthe mechaniſch und Jah ihm eine halbe Stunde 
ſprachlos am Tiſche gegenüber. Forbes hatte eine lange Promenade zu Pferde 
gemacht und war bei ausgezeichnetem Appetite. Nachdem er diejen geftillt, war 
er jedoch bereit, fich wieder um die Herzensangelegenheiten feines beften Freundes 
zu fümmern. 

„Beben Sie mir den Brief noch einmal,” jagte er, al3 ex mit Baldwin 
im Rauchzimmer ſaß; „ich möchte ihn ordentlich durchftudiren, ehe ich Ihnen 
meine Meinung darüber Tage.“ 

Darauf ſteckte ex jich behaglicy eine Gigarre an, warf fi in einen Seflel, 
legte jeine Beine auf einen Stuhl, der vor ihm ftand, und nachdem er es ſich 
auf diefe Weife bequem gemacht und feine hübjchen Kleinen Stiefel einen Augen— 
blick mit Wohlgefallen betrachtet hatte, begann ex zu leſen. 

„Den Brief hat Mama Leland dictirt,“ bemerkte er, al3 er bis zur Unter- 
ihrift gelangt war. „Der alte Herr hätte ihn niemals fchreiben fünnen. Ich 
fenne feinen Styl. — Sie hat fih übrigens? Mühe gegeben, unbeholfen und 
natürlich zu erſcheinen. Ihre eigenen Billetchen find hübſcher abgerundet. Aber 
der Brief ift in feiner Art nicht ſchlecht. Es fehlt nichts darin. Die geborene 
von Montemar3 hat jeden neuen Angriff ihrerſeits vorhergejehen und im Vor— 
aus abgewehrt.“ E 

„Forbes, thuen Sie mir einen Gefallen.‘ 

„Mit Vergnügen.“ 

„Sehen Sie zu Frau Leland; legen Sie ein Wort für mid ein.‘ 

„Aber, verehrtefter Freund, was ift da noch zu jagen? Vater, Mutter, 
Tochter weiſen Ihren Antrag einftimmig zurück. Folgen Sie meinem Rathe: 
jeien Sie vernünftig; laffen Sie die Sache auf fich beruhen.’ 

Baldwin blickte Forbes mit Verwunderung an und antwortete nicht. Dieſer 
mochte fühlen, daß er, in der Abficht, die Sache, die ihn wenig interejfirte, aus 


Gordon Baldwin. 197 


der Welt zu jchaffen, eine Ungejhidlichkeit begangen hatte, und fuhr, mit einiger 
Unficherheit im Tone und in der Rede, wie Jemand, der Ausflüchte ſucht und 
diefe während des Sprechens zu finden hofft, wie folgt fort: 

„Seßen Sie ſich in die Lage der Frau... Sie hat vielleicht nicht ganz 
Unrecht ... Sie will ſich nicht von ihrer Tochter trennen... Wenn Sie eine 
Tochter hätten, würden Sie e8 gerne jehen, daß fie zu den Ainos zöge? ... 
Können Sie nicht einen neuen Antrag auf anderer Baſis formuliren? ... Können 
Sie nit jagen, Sie wollten in Europa bleiben? ... Vielleicht Tieße ſich auf 
dieje Weile Alles nah Wunſch arrangiren ... Aber feien Sie Ihr eigener 
Advocat. Miſchen Sie feinen Dritten in die Angelegenheit. Das könnte einen 
ungünftigen Eindrud machen. Qui veut va — qui ne veut pas envoie!“ 

„Nein, ih muß nad Japan zurückkehren,” erwiderte Baldwin, „meine 
Intereſſen würden zu jehr darunter leiden, wenn ich jet hier bliebe.“ 

„Run, bringen Sie ein Opfer!” warf Forbes ein. 

„Wenn e3 jih um weiter Nichts handelte!” antwortete Baldwin. „Jeden 
Heller, den ich bejite, würde ich gern hingeben, wenn e3 mir dadurch gelingen 
fönnte, Frau Leland günftig für mich zu ftimmen. Aber al3 armer Mann dürfte 
id) nicht wagen, um Johanna's Hand anzuhalten . 

Er ſtockte plöglicd) und ging einige Male nachdenklich im Zimmer auf und 
ab. Dann fuhr er fort, gleichſam zu fich ſelbſt jprechend: 

„Ein Mittel gäbe e3 vielleicht, die Sache in Ordnung zu bringen.” 

„Welches?“ 

„Wenn Jemand mir einen Theil meines Geſchäftes, das wirklich gut und 
ſolide iſt, abkaufen wollte.“ Er warf einen ſchüchternen Blick auf Forbes. 

„Wie wäre das zu machen?“ fragte dieſer gedehnt. 

„Die Sache ift mir jelbft noch nicht ganz Klar,” antwortete Baldwin; „der 
Gedanke ift mir in diefem Augenblide zum erjten Male gefommen. Ich will 
darüber nachdenken und werde heute Abend mit Ihnen davon ſprechen.“ 

„Ja, thun Sie das,“ meinte Forbes in gleichgültigem Tone. Dann jah 
er nach der Uhr und ſetzte Hinzu: „Ich habe noch einige Viliten zu machen. Ich 
efje um fieben im Cafe Anglais. Wir können uns dort treffen, wenn Sie wollen. 
Jedenfalls werde ih um neun Uhr zu Haufe fein.“ Er verließ darauf mit 
einem furzen Kopfniden das Zimmer „Ich jehe Meifter Gordon Baldwin 
fommen,“ jagte er vor fih Hin, al3 er draußen war. „Immer die alte 
Geſchichte!“ 

Baldwin hatte keine Ahnung davon, was in Forbes' Geiſte vorging. Er 
arbeitete während de3 ganzen Nachmittags an einer Aufftellung feines Vermögens. 
Er hatte verjchiedene Gejchäftspapiere bei ſich, welche es ihm möglich machten, 
fi in feinen Abſchätzungen auf beftimmte Zahlen und Daten zu jtüßen. Ex 
konnte jomit den Beweis führen, daß er ein Vermögen von nahe an 150,000 
Dollars befite. Dabei glaubte er ſich jedoch) vollfommen berechtigt, jein blühendes 
Geſchäft zu einem nicht unbedeutenden Preife in Anſchlag zu bringen. Er führte 
fodann aus, daß Jemand, der 50,000 Dollars baares Geld in jeine Firma ein- 
ſchießen wollte, um jein Affocie zu werden, eine gute und ſichere Geldanlage machen 


würde, und er erklärte ſich bereit, ſeinen Freund Graham in Bm auf dejjen 
Deutſche Rundſchau. III, 8. 


198 Deutſche Rundſchau. 


Zuſtimmung er im Voraus rechnen konnte, unter dieſer Bedingung als ſeinen gleich— 
berechtigten Compagnon in fein Haus aufzunehmen. Diefe Summe von 50,000 
Dollars, mit der ſich Graham in die Firma einkaufen jollte, würde jodann dazu 
dienen, dem jungen Geſchäfte eine noch größere Ausdehnung zu geben und das— 
jelbe auch in Europa zu etabliven. Die Leitung diefer europäischen Filiale des 
Haufes von Hafodate wollte Baldwin übernehmen. 

Damit ſchloß das Memorandum. In einem Begleitichreiben zu demfelben, 
da3 Baldwin ebenfall3 ſofort aufjeßte, erſuchte er Forbes, feinem Freunde 
Graham die Summe von 50,000 Dollars vorzufhießen. Als Sicherheit dafür 
war er bereit, jein und Graham's Grundeigenthum in Hakodate an Forbes zu 
verjchreiben. Das Rifico, welches diefer lief, wenn er das Darlehen machte, 
erihien demnad in der That nur jehr gering. 

Baldwin Hatte mehrere Stunden lang hintereinander ſchnell und anftrengend 
gearbeitet, um das Memorandum und den Brief fertig zu machen. Er war 
aufgeregt und las jeine Arbeit num noch einmal durch. Diejelbe befriedigte und 
berubigte ihn. Er war mit volllommener Ehrlichkeit zu Werke gegangen. Er 
hatte feine Werhältniffe nicht beſſer darzuftellen verſucht, als fie es Waren. 
Einem Fremden würde die von ihm gegebene Aufklärung zwar nicht genügt haben. 
Aber Forbes war fein Fremder. Baldwin wußte, daß diejer ein großes Ver— 
mögen beſaß. Er nahm an, daß er bereit jein würde, ihm und Graham, der 
ja jein Jugendfreund war, den verlangten Dienft zu leiften. — Als er nad) der 
Uhr jah, bemerkte er, daß es zu jpät getvorden jei, um ſich nod zur rechten 
Zeit nad) dem Café Anglais zu begeben. Er nahm demnach eine hajtige Mahl- 
zeit in einem Rejtaurant in den Champs Elyjees zu ſich und begab ſich jodann 
wieder direct nad) Haufe. 

Forbes ließ auf fi) warten. Es war nahe an zehn Uhr, als er in feiner 
Wohnung erihien. Er bradte etwas zu jeiner Entſchuldigung vor, das 
Baldwin gar nicht hörte, und folgte diejem übler Laune in fein Zimmer. 

„Hier!“ jagte Baldiwin, indem er ihm das lange, deutlich gejchriebene 
Memorandum überreichte „Lejen Sie zunächſt dies Schriftftüd aufmerkjam 
durch.” 

Forbes, der jeinen Hut nicht abgelegt hatte und ausjah wie Jemand, ber 
nicht viel Zeit zu verlieren hat, blätterte die enggejchriebenen Seiten ſchnell um 
und war Ibald am Ende der Arbeit, die dem ehrlichen Baldwin ftundenlange 
Mühe gefojtet hatte. 

„Ih weiß noch nicht, welcher Art Ihre Conclufionen find,“ ſagte er, 
ohne die Augen von dem Schriftſtück aufzuheben und nervös in demjelben blät- 
ternd; „aber einen großen Fehler, an dem das Ganze jcheitern dürfte, kann id) 
Ihnen bereit3 jet fignalifiren ... Ich bin auch ein Geſchäftsmann;“ — bieje 
(eten Worte wurden etwas mürriſch geſprochen, als beantworteten fie einen 
Widerſpruch, den Baldwin erhoben. Diejer aber Hatte fein Wort gejagt und 
jah Forbes nur unruhig fragend an. 

„Sie ſchätzen Ihr Vermögen auf 150,000 Dollars,“ fuhr Forbes fort. 
„Das ift nun ſchon nicht ganz richtig, jobald fie die Hälfte für 50,000 Dollars, 
alio mit einem Verluſte von 25,000 Dollars, verfaufen. Sie find demnad), 


Gordon Baldwin. 199 


wenn die Transaction zu Stande fommen jollte, nach Ihrer eigenen Abſchätzung 
nur noch 125,000 Dollars werth. Aber jelbft daran würde Leland als vorjich- 
tiger Mann nod) die Hälfte ftreichen wollen, da Ihr Vermögen in einem Ge- 
ichäfte angelegt ift, da3 Heute gut geht, aber morgen Ichlecht gehen kann. — Für 
die 50,000 Dollars, die Sie erheben wollen, find Sie bereit, mit Graham joli- 
darijch zu bürgen. Sollten Sie aljo unglüdlihe Geſchäfte machen — und man 
muß Aehnliches berücfichtigen, jo lange man überhaupt noch Geſchäfte macht —, 
jo würden Sie möglicherweije ganz ruinirt jein. Dies allein wird den alten 
Leland veranlajjen, Ihren Status als auf ſchwachen Füßen ftehend zu ver- 
werfen.” R 

Gr jah Baldwin mit einer gewiſſen Ueberlegenheit an, als habe ex etwas 
jehr Exfreuliches entdeckt und wiederholte langjam das Wort „verwerfen“. Dann, 
nad) einer kurzen Pauſe, fuhr er fort: 

„Angenommen jedoch), daß Leland Alles, was Sie jagen, für baare Münze gelten 
laſſen wollte — ich fenne ihn: ex wird es nicht thun; aber nehmen wir e8 an —, 
jo würden Ihre Auseinanderjegungen ihn doc keineswegs befriedigen. Ich jehe“ 
— er blätterte in den Papieren — „daß Sie auf ein ſicheres Einfommen von 
12,000 Dollars rechnen. Sie bezeichnen diefe Summe als da3 Minimum. 
Leland wird nicht glauben, daß Sie ſich unterſchätzt haben, und in feinem Geifte 
werden dieje 12,000 Dollar3 al3 da3 Maximum ericheinen. — Aber, lieber 
Freund, was find 12,000 Dollars p. a. für ein jo verwöhntes Mädchen, wie 
Johanna Leland. In ihrem elterlichen Haufe wird das Doppelte und Dreifache 
ausgegeben, und die Leute finden fich nicht reich genug. Mit 12,000 Dollars, 
aljo circa 60,000 Franken, Revenuen kann man in Paris nicht große Sprünge 
machen. Pferde und Wagen 3. B. könnten Sie damit gar nicht halten. — Johanna 
Leland in einem Mietwagen! Undenkbar! ... Glauben Sie mir, lieber Bald- 
win, die Sache geht nit. Geben Sie fie auf.” 

„Hier, leſen Sie diejen Brief,“ antwortete Baldwin finfter. Er überreichte 
das zweite Schriftjtüd, welches Forbes aufforderte, Graham 50,000 Dollars 
vorzuſchießen. Forbes las e3 nur flüchtig durch. 

„Sie halten mich für reicher, als ich bin,“ jagte er. „Ich kann nicht jo 
leiht über 50,000 Dollars verfügen, wie Sie annehmen. Aber jelbft wenn ic) 
e3 könnte, twozu würde es nüben ? Ich wiederhole Ihnen, Leland ift ein viel zu 
praftiiher Mann, als daß er Ihr Anerbieten annehmen würde. Glauben Sie 
mir, Baldwin: geben Sie die Sade auf!” 

„Sie wollen mir aljo nicht Helfen ?” 

„Ih will Ihnen jehr gern helfen ... wenn es mir möglich iſt. Ich will 
nadhjehen, wa3 ich thun kann. Aber ich kann Ihnen noch Nichts feft verjprechen ; 
und ich wiederhole Jhnen: ich glaube nicht, daß Ihnen meine Hülfe Etwas 
nützen kann.“ 

„Was ſoll ich thun?“ 

„Ja, werther Herr, wie ſoll ich das wiſſen?“ 

„Kann ic Leland jagen, daß ich es möglich zu machen gedenke, in Europa 
zu bleiben, wenn er mir unter dieſer Bedingung die Hand ſeiner Tochter be— 
willigen will?” 

14* 


200 Deutihe Rundſchau. 


„sa, Jagen Sie ihm das; da3 kann nicht ſchaden; aber ... aber... wie 
gejagt, ich weiß noch nidht, ob ich Ihnen Geld verichaffen kann. Ich müßte 
es mir ſelbſt borgen. 50,000 Dollars ift eine große Summe ... eine BViertel- 
million Franken ... eine jehr große Summe ... Wenn Sie wüßten, was 
für Anforderungen an mich geftellt werden... Von allen Seiten ...“ 

Baldwin ſah Forbes mit einem jo eigenthümlichen, bitteren und mitleidigen 
Blicke an, daß der arme Millionär plöglic) ſtockte. 

„Sprechen wir nicht mehr davon,“ jagte Baldwin ſanft. „Ich Habe mid) 
geirrt.“ 

Ein Gefühl der Beſchämung und des Zornes hatte ſich Forbes' bemächtigt. 
Er fühlte, daß Baldwin in dieſem Augenblicke wie von einer ſtolzen Höhe auf 
ihn herabblickte. Aber hatte Jener ein Recht dazu? Worauf lief das Ganze 
am Ende heraus? Immer das alte Lied! Er, Forbes, ſollte Geld hergeben. 
War er denn zu Nichts gut in der Welt, als zu zahlen? anderen, fremden 
Menſchen aus Berlegenheiten zu helfen? Wer hatte ihm je geholfen? Niemand. 
Er verlangte Nichts von Baldwin. Welches Recht hatte diefer, ſich mit einem 
Geſuche an ihn zu wenden? Er hatte den wildfremden Menjchen lieb gewonnen, 
weil er ihn für uneigennüßig hielt. Aber Baldwin twar gerade ebenfo, wie alle 
anderen Menjchen, mit denen er in Berührung fam. Er wollte ihn, Forbes, 
benußen. „Ich will mid) nicht fortwährend und von Jedermann benußen und 
ausbeuten laſſen,“ jagte ex fi; „die Freundſchaft des Mannes ift mir feine 
50,000 Dollars werth. Nicht einen Heller mag ich dafür geben, wenn ich fie 
faufen jol. Sie hatte nur Werth für mich, jo lange fie nicht käuflich war.“ 

„Sie beurtheilen mich falſch,“ jagte er laut; „aber es würde zu Nichts 
führen, wenn ich auch den Verſuch machen jollte, da3 Mißverſtändniß aufzu- 
Hären ... Schlafen Sie wohl, Baldwin.“ 

„Bute Nacht.“ 

Ein paar Minuten jpäter hörte Baldwin das Rollen des Wagens, der jeinen 
Wirth in den Club führte. Forbes ſpielte dort wie gewöhnlich, aber womöglich 
mit noch geringerem Intereſſe, al3 dies feine Art war. Sein Verftand Lieferte 
ihm hundert jchlagende Beweiſe, daß er in feiner Handlungsweije Baldwin gegen- 
über in vollem Rechte ſei; aber jein Herz, jo falt es auch war, jagte ihm doch, 
daß er Hleinmüthig und unedel Handle. Nein! Baldwin war fein gewöhnlicher 
Abenteurer, der es nur darauf abgejehen Hatte, ihn auszubeuten!... Und neben 
ihm ftand ein anderer Mann, deſſen Bild Forbes nicht vericheuchen Konnte, ein 
Mann mit frühgealtertem Gefichte, mit traurigen Augen, mit einem ſchmerzlichen 
Lächeln um den Mund: Thomas. — Baldwin hatte diefem, ohne ihn zu fernen, 
Gutes erwiefen. „Wenn ich nicht ganz zu Grunde gegangen bin, jo verdanke 
id) es Baldwin,“ hatte Graham an Forbes gejchrieben. Wie ein Gewiſſensbiß 
nagte der Gedanke an dem Herzen des Millionärs. 

„Mag er das Geld haben,“ jagte er ſich plöglid. Eine föftliche Wärme, 
wie er fie jeit Jahren nicht mehr gefühlt hatte, füllte feine Bruft. 

„Ya banque!“ rief er und jchob einen großen Haufen Gold und Billete, 
die vor ihm lagen, auf den Tiſch. Er verlor. Es wurde ziemlich lange gezählt. 


Gordon Baldwin, 201 


Er wartete ungeduldig und zahlte eine nicht unbedeutende Summe. Dann ftand 
er auf und fuhr nad) Haufe. 

Baldwin’3 Fenſter waren nicht mehr erleuchtet. „Er jchläft ſchon,“ ſagte 
fih Forbes. Er ging in jein eigenes Zimmer; aber er war aufgeregt, und e3 
dauerte lange, bi3 er einjchlief. Als der Diener am nächſten Morgen zu etivas 
ipäter Stunde in jein Zimmer trat, überreichte er ihm einen Brief. Forbes 
erkannte Baldwin’3 Handſchrift auf der Adreſſe. Er zerriß dad Couvert haftig, 
was jonft gar nicht jeine Art war, und las folgende Zeilen: 

„Lieber Forbes! 

„Empfangen Sie meinen beften Dank für die freundliche Aufnahme, die 
Sie mir gewährt haben. Ich habe mich entſchloſſen, nach London zu gehen. 
Ihr Diener ſagt mir, daß Sie noch ſchlafen, und ich mag Sie nicht ſtören. 

Ihr ergebener 
Gordon Baldwin.“ 
IV. 

Vier lange Jahre waren jchnell dahingegangen. Baldwin zählte nun zwei— 
unddreißig Jahre, und Forbes näherte ſich den Vierzigern. rau Leland war 
geftoxben, ohne den großen Wunſch ihres Herzens, Johanna mit Herrn Forbes 
zu verheirathen, erfüllt zu ſehen. 

Johanna war noch jung und noch immer ſchön; aber fie war unzufrieden, 
verbittert, und dies zeigte ji in dem feftgeichlofjenen Munde mit den ſchmalen, 
geraden Lippen, in dem jcharfen Bli der braunen Augen und in dem herben, 
ftrengen Ausdrud des ganzen Gefihtes. Das Leben hatte ihr nicht gehalten, 
was fie davon gehofft. Die Jahre der erften, Friichen Jugend waren nun dahin. 
Ihre Freundinnen und Altersgenoijen, die meijten darunter weniger ſchön und 
reich al3 fie, waren verheirathet, Hatten fich ihre Pläße in der Gejellfchaft erobert 
und jchienen nun wie von einer erhabenen Stellung auf Johanna, deren Ueber— 
(egenheit fie als junge Mädchen willig anerkannt hatten, herabzubliden. — 
Zahlreiche Bewerber um ihre Hand hatten ſich vor einigen Jahren noch ein- 
geftelt. Sie Hatte fie zurückgewieſen. Sie wußte wol, weshalb. Der einzige 
Mann, deijen Gegenwart ihr Herz jchneller Schlagen machte, deifen Huldigungen 
ihrem Stolze geihmeichelt hätten, Georg Forbes, befümmerte ſich nit um fie. 
Ganz allmälig war der Kreis ihrer Verehrer Lichter geworden; feit dem Tode 
ihrer Mutter fühlte fie jich vereinfamt. Sie erihien nad) wie vor in den Ge— 
jellichaften der amerifanifchen Colonie, wo ihre große Schönheit und die hohe 
finanzielle Stellung des Heren Leland ihr noch immer einen hervorragenden Rang 
anwieſen; aber fie ftand dort allein. Die unverheiratheten Mädchen jcheuten ihre 
iharfe Zunge; die jungen Männer wurden verlegen, wenn fie den Bliden von 
Johanna Leland ausgejeßt waren. 

Manchmal gejellte ji) Georg Forbes zu ihr. Dann ftrahlten ihre Augen, und 
ein zärtlicher, vorwurfsvoller Schimmer glänzte darin; aber der Millionär jah 
davon Nichts. Er jah Johanna vollftändig unbefangen gegenüber, und während 
te ihn beobachtete und die geliebten Züge tiefer und tiefer in ihre Seele grub, 
fritifirte er mit impertinenter Ruhe die Toiletten der Anweſenden und machte 


202 Deutiche Rundſchau. 


hie und da eine jpöttifche Bemerkung über „die jungen Leute‘. Er behandelte 
Johanna wie einen Altersgenofjen, wie einen langjährigen Bekannten; gegen 
Mitternacht, wenn die Anderen heiter wurden, und Vergnügen und Aufregung 
die jugendlichen Gefichter rötheten, ftand er mit ſchwer unterdrüdtem Gähnen 
auf, um in den Club zu gehen und dort noch ein oder zwei Stunden lang zu 
jpielen. Er hatte fi in den leßten vier Jahren beinahe gar nicht verändert. 
Gr war noch immer derjelbe hagere, elegante Gavalier, deſſen Geſicht allen 
„Habitues“ der Boulevards, des Bois de Boulogne und der „Exften Vor— 
ftellungen“ wol befannt war. 


Forbes hatte Baldwin, nachdem diejer gegangen war, eine Zeit lang ſchmerz— 
lid vermißt; ja, er war nad) London gereift, um ihn dort aufzufuchen; ex hatte 
ihm auch geichrieben. Sein Brief war ohne Antwort geblieben. Dann hatte 
er feinen Gaft vergeſſen. Er mußte an manches Andere denken; an fich jelbjt 
in erfter Linie. Bon Beit zu Zeit, in Zwijchenräumen, die länger und länger 
wurden, tauchte die Erinnerung an den „Wilden“ noch in feinem Herzen auf. 
Und dann fühlte ex ſich beihämt und klein und ftrich ſich ärgerlich mit der 
Hand über die Stirn, als wolle er das läſtige Bild verſcheuchen. Er jagte ſich 
wol, um fich vor fich jelbft zu vechtfertigen und jeinen Verdruß, der einen Ge: 
wiljensbiffe gli, niederzuhalten: „Da habe ich 50,000 Dollars geſpart“; — 
aber ex glaubte dies jelbjt nit. Er wußte, daß das Geld, welches Baldwin 
damal3 von ihm verlangte, nicht für ihn verloren gewejen wäre, und daß er 
eine jeltene Gelegenheit in jenem gleihförmigen, unnüßen Leben, einen guten Men— 
ſchen an ſich zu feſſeln, ungenußt hatte vorübergehen lafjen. — Thomas Grahant 
war verihollen. „Wer weiß? Vielleicht ift ex todt,“ jagte er ſich. Ein un- 
heimliches Gefühl beiehlich ihn bei dem Gedanken, daß er dem letzten Wunſche, 
den Thomas ihm gegenüber geäußert hatte, dem Wunſche, Baldwin das Gute 
zu vergelten, das diejer an Graham gethan, nicht nachgekommen war. 


Baldwin hatte die vier Jahre in Japan zugebracht. Das Glüd war ihn: 
günftig geweſen und hatte ihn zum reichen Manne gemadjt. Graham, fein treuer 
und dankbarer Freund, war jeit drei Jahren bereits jein Aſſocie. Baldwin 
hatte ihn erfucht, auf ein Jahr nad) Europa oder Amerika zu gehen, um ſich 
einen langen Feiertag zu machen; der ftille, traurige Mann hatte dies ruhig, 
aber mit großer Beltimmtheit zurückgewieſen. „Hier in Hakodate habe ich end- 
lid Frieden gefunden,“ hatte ex gejagt, „und bier will ich bleiben. Es fehlt 
mir an Nichts; ich verlange nichts Beſſeres, al3 was ich habe. Gehen Sie nad) 
Europa. Ich gönne Ihnen von Herzen alles Gute, das Sie zu Haufe finden 
mögen; ich hoffe, al’ Ihre Wünſche werden dort in Erfüllung gehen. Was 
mich anbetrifft, jo habe ich draußen in der Welt Nichts mehr zu fuchen und 
bleibe bier.“ 

Baldwin Hatte jeinem Freunde Graham von den Grlebniffen in Paris 
erzählt. Er hat auch, aber ohne Bitterkeit, von der traurigen Haltung Forbes' 
ihm gegenüber geiproden. Graham war bei dieſer Mittheilung bla geworden. 
„Georg ift Kalt und mißtrauiſch,.“ waren damals feine Worte geweſen; „aber 
ich halte ihn nicht Für Schlecht. Es thut mir leid, daß fein Argwohn ihn irre 


Gordon Baldwin. 903 


geführt Hat. ch Hätte ihm gern Alles vergeben, was ich ihm manchmal vor- 
werfen zu dürfen glaube, wenn er Ihnen einen großen Dienft erwieſen hätte.“ 

Baldwin hatte bemerkt, daß die Unterhaltung über Forbes feinem Freunde 
peinlich jei. Die Erinnerung an Paris war auch für ihn eine traurige. Die 
beiden Freunde Iprachen nicht wieder von der verfehlten Neife nad) Europa. 

Mit der Zeit erbleichte die Erinnerung an Johanna in Baldwin’s Herzen; 
feine Liebe für fie wurde ruhiger, exfaltete, verſchwand allmälig. Auch der Un- 
wille über Forbes verlor an Heftigfeit. Der fleinmüthige Mann, den ex eine 
Zeit lang bitter veradhtet hatte, wurde ihm gleichgültig, Er dachte jelten an 
ihn; und wenn er ich jeiner toieder erinnerte, jo war e3 ohne Bitterfeit. — 
Die Zeit zerſtört Alles. 

Baldwin Hatte in den letzten Tagen des Jahres 186. von Graham in 
Hakodate Abichied genommen, um eine neue Reife nad) Europa zu machen. 
Ueber jeine Rückkehr nad) Japan war nichts Beftimmtes feftgejegt worden. 
„Bleiben Sie in Ihrer Heimath, jo lange es Ihnen dort gefällt,“ hatte ihm 
Graham gejagt. „Ich Treue mich bei dem Gedanken, daß Sie dort angenehme 
Zerftreuung finden werden. Sie find zu jung, um fich hier zu begraben, wie 
ich e8 gethan habe. Wenn es Ihnen gefallen jollte, in England oder Frank— 
reich zu bleiben, jo laſſen Sie fih durch Rückſicht auf mich nicht verhindern, 
diefen Plan auszuführen. Ich bleibe noch gern einige Jahre in Japan. Sollte 
ich mid) jpäter von hier fortiehnen, was ich aber augenblicklich für jehr unmwahr- 
icheinlich halte, jo werde ich died lange genug vorher merken, um Sie entweder 
zu bitten, mich hier einige Zeit abzulöfen, oder um die Geſchäfte jo zu ordnen, 
dat diejelben tweder meiner noch Ihrer Leitung bedürfen. Alſo kümmern Sie 
fich nicht um mich. Ich werde Hier ſchon allein fertig werden. Amüfiren Sie 
fih gut! Auf Wiederjehen!“ 

Und nun war Baldwin wieder in Europa; ein ftiller, ernfter Mann, älter 
im Herzen und im Ausſehen als in Jahren, aber vertrauend und Vertrauen 
erweckend wie früher. Er war vor wenigen Tagen mit einem der Dampfboote 
der „Messageries Imperiales“ in Marjeilles angelangt und befand fich jeit einigen 
Stunden in Paris, wo er in einem Hötel der Aue de la Pair abgeftiegen war 
und fi), vor feiner Weiterreije nad) London, eine Woche aufzuhalten beabfich- 
tigte. Es war im Monat März. 

Baldwin hatte, jobald er in Marfeille Fuß auf Franzöfiichen Boden gejeßt, 
Paris wiederſehen wollen. Er legte fich jelbft nicht Rechenichaft davon ab, was 
ihn eigentlich dorthin zog. Er hoffte nicht, Johanna wiederzufehen; ex wünjchte 
es nicht einmal. Er hatte fi nie wieder nad) ihr erkundigt; er wähnte fie 
längft verheirathet. In jeinem Geifte war fie für ihn verloren, war fie todt. Aber 
ex wollte die Stätte wieder bejuchen, wo fein junges, warmes Herz einen kurzen, 
ihönen Traum geträumt hatte; er jehnte ſich nach dem Orte wie nach der Stelle, 
auf der ein geliebter Todter ruht. Wehmüthige Jugenderinnerung zog ihn dort- 
bin. — Er hatte ji) im Hötel langjam umgekleidet und begab ſich nun nad) dem 
Café, in dem er vor Jahren, am Tage jeiner erjten Ankunft in Paris, gegeſſen 
hatte. Seltjam befannt erichienen ihm die Boulevards. Er begrüßte jie wie 
alte Freunde. Gr erkannte an den Schaufenftern dieſelben Photographien, die 


204 Deutſche Rundſchau. 


ihm vor vier Jahren dort aufgefallen waren. Es kam ihm vor, als wäre er 
nur wenige Tage abweſend geweſen. Alles ſtand am alten Platze; Nichts ſchien 
verändert. Nur er ſelbſt war ſo anders, ſo viel älter und hoffnungsärmer und 
trauriger geworden. 

Er ſetzte ſich in dem Café an denſelben Tiſch, den er vor Jahren mit 
Forbes einzunehmen pflegte; und ſiehe! derſelbe Kellner, dem Anſcheine nach mit 
derſelben weißen Schürze, derſelben weißen Halsbinde, denſelben lackirten Tanz- 
ſchuhen trat an ihn heran, um in dem wohlbekannten gleichgültigen Tone zu 
fragen: was der Herr zu eſſen befehle? 

„Ein gutes Diner,“ antwortete Baldwin. 

Der Kellner machte eine leichte, kaum bemerkbare Bewegung und ſah den 
ſonnenverbrannten Gaſt mit der weißen Stirn genauer an. Etwas wie Nach— 
denken lagerte ſich über das feiſte, farbloſe Geſicht und glänzte in den dunkeln, 
verſchmitzten Augen. Er entfernte ſich und beſtellte das Diner. Dann kehrte 
er zurück und blieb in Baldwin's Nähe ſtehen. Und plötzlich trat er auf ihn 
zu, und ſich mit höflicher Vertraulichkeit auf den Tiſch lehnend, an dem Baldwin 
ſaß, fragte er: „Erwarten der Herr vielleicht Herrn Forbes?“ 

Baldwin blickte Tächelnd auf: „Sie haben ein gutes Gedächtniß,“ jagte er. 

„Ich vergeſſe meine Glienten niemals,“ antwortete der Dann gejchmeichelt. 
Darauf fehrte er nad) der Küche zurüd, und dann kam er wieder zu Baldwin 
und jagte: „Ich habe die Karte etwas geändert. Ich erinnere mich, daß der 
Herr gern ſcharfe Sachen eſſen. ch Habe ein Huhn mit Curry beftellt.“ 

Wenige Minuten darauf trat Forbes in den Speijefaal. Der Kellner ging 
ihm entgegen und jagte: „Der Herr wird erwartet.“ Forbes blickte nach dem 
Tiiche, den der Kellner ihm gezeigt Hatte, und eine jähe Röthe ftieg ihm in das 
Gejiht. Er zauderte unſchlüſſig eine Secunde; dann näherte er fi) Baldwin. 
Diejer erhob fi) von jeinem Site, und einen kurzen Augenblick ftanden fich die 
Beiden verlegen gegenüber. Baldwin ftreefte zuerft die Hand aus, die Forbes 
ichnell ergriff und herzlich drückte. 

„Es freut mich jehr, Sie wiederzuſehen,“ jagte er. „Ich hatte feine Ahnung 
davon, daß Sie in Paris fein. Wann find Sie hier angefommen ?* 

„Bor ein paar Stunden.“ 

„Und wo find Sie abgeftiegen ?* 

Baldwin nannte jeine Wohnung. 

Der Kellner hatte Forbes untexrdeifen Hut und Ueberrod abgenommen und 
wartete laujchend, daß ihm Befehle exrtheilt würden. 

„Geben Sie mir dafjelbe Diner wie Herrn Baldwin,“ jagte Forbes, um 
den Kellner abzufertigen. Dann ſetzte ex fi), ſchob jein Couvert zurecht, ent— 
faltete die Serviette und füllte auf diefe Weiſe eine kurze Paufe aus. Endlich 
beugte ex fi) vor und jagte mit größerer Wärme, als ihm jonft eigen war: 

„Es hat fi ein Mißverſtändniß zwiſchen uns erhoben, Baldwin. Es thut 
mir jehr Leid. Ich habe Sie aufgefugt, al3 Sie mid) jo plößlich verlafjen 
hatten; aber ich konnte Sie nicht wiederfinden. Ich habe Ahnen auch unter der 
Adreſſe Ihres Banquier3 nad) London geſchrieben; mein Brief ift ohne Antwort 
geblieben.” 


Gordon Baldwin. 205 


„Laffen wir die alten Zeiten,“ meinte Baldwin. „Das ift Alles längſt 

vergangen.” 
Nein. Ih möchte Sie bitten, mir zu geftatten, Jhnen Aufklärung zu 
geben. ch verfichere auf mein Wort, Baldwin, daß ic) an demjelben Abend, 
two ich Sie zum legten Male jah, den Entihluß gefaßt hatte, Ihnen die Summe 
Geldes, die Sie gebrauchten, zur Verfügung zu ftellen.” 

„Sie famen etwas jpät mit hrer freundlichen Abſicht.“ 

„Ja, leider! Ich Habe es oftmals bedauert. ch bedaure es heute noch. 
Glauben Sie mir, id wäre Ihnen gern gefällig geweſen.“ 

„Ich glaube e8 Ahnen.“ E3 war diejelbe tiefe, ruhige Stimme, die Forbes 
vor Jahren gern gehört und die ihm damals Vertrauen und Zuneigung ein- 
geflößt Hatte; aber die ehrlichen Augen, die ihn gerade anblickten und vor denen 
ſich die feinen unwillkürlich jenkten, waren nicht mehr jo lebensluftig, über- 
miüthig wie damals. Sie blicten jetzt ernſt, faft traurig. Ein Gefühl der 
Scham, der Reue, wie er es bisher nie gefannt hatte, erfüllte das Herz de3 
veihen Mannes. Er hätte Baldwin um Verzeihung bitten mögen, er hätte 
willig eine viel größere Summe hergegeben, al3 diejer vor Jahren von ihm ver- 
langte, um jeinen Irrthum ungeſchehen zu machen. 

„Ich habe Ihre plötzliche Abreije jehr bedauert,“ wiederholte er. 

„Ich glaube es Ahnen. Laffen wir die Sache ruhen. Wie geht es Ihnen?“ 

Forbes erzählte, daR die legten vier Jahre einförmig, ohne jeden bemerfens- 
werthen Zwifchenfall, für ihn dahingegangen ſeien. Plötzlich unterbrach er ſich 
in der Darftellung jeiner eigenen Grlebniffe, um zu fragen, wie es Thomas 
Graham gehe. 

„Er ift mein Aſſocis geworden,“ antwortete Baldwin. „Ex befindet ſich 
wohl. Er ift ein guter, zuverläfjigr Mann. ch habe ihn jehr lieb gewonnen. 
JH bedaure nur, dat ihm Nichts zu erfreuen ſcheint. Er ift immer derjelbe: 
till, freundlich, wohlwollend und traurig.” 

„Wenn Sie ihm jchreiben,” jagte Forbes nad) einigem Nachdenken, „jo 
erwähnen Sie, daß ich) nad) ihm gefragt und mich gefreut habe, gute Nachrichten 
von ihm zu empfangen.“ 

„Weshalb wollen Sie ihm’ nicht jelbit jchreiben? Ich bin überzeugt, ein 
Brief von Ihnen wird ihm Freude machen.“ 

Darauf antwortete Forbes nicht und gab dem Geſpräche eine andere 
Wendung, indem er etwas haftig fragte: „Was haben Sie zu dem Tode der 
rau Leland gejagt?“ 

„sh wußte nicht, daß fie geftorben jet,“ erwiderte Baldwin betroffen. 
„Und wie geht e3 Heren Leland?“ jehte er zögernd Hinzu... . „und Fräulein 
Johanna?” 

Der alte Schmerz erwachte mit der Erinnerung an die alte Zeit. Aber es 
war ein Schmerz ohne Bitterkeit. Johanna gehörte in feinem Geifte einer fernen 
Vergangenheit an, die mit ihren ſchönen Hoffnungen unwiderruflich ver- 
ſchwunden war. 

„Herr Leland ift ganz der Alte,“ entgegnete Forbes. „Ich möchte jogar 
jagen, der Tod jeiner Frau habe ihn verjüngt. Er ift num wieder jein eigener 


206 Deutſche Rundſchau. 


Herr, und das war ihm ſeit dreißig Jahren nicht mehr paſſirt. Der Tod der 
unbequemen Frau iſt für Niemand ein großer Verluſt geweſen. — Fräulein 
Leland werden Sie wenig verändert finden. Nun ja, ſie iſt kein Kind mehr. 
Sie muß ſiebenundzwanzig Jahre alt ſein, und die erſte Jugendfriſche iſt bei 
ihr dahin. Mädchen altern ſchneller als Frauen. Aber Fräulein Leland iſt 
noch immer eine auffallend ſchöne Erſcheinung, das ſchönſte unverheirathete 
Mädchen in der ganzen amerikaniſchen Colonie, die wirklich viel Schönheiten 
aufzuweiſen hat. — Merkwürdig, daß ſie ſich nicht verheirathet hat! An Be— 
werbern hat es ihr nicht gefehlt; aber ſie hat alle Anträge zurückgewieſen.“ 

Baldwin war verſtummt. In ſeinem Gehirn kreuzten ſich tauſend Ge— 
danken. — Alſo Johanna war noch frei! Wie kam das? Er Hatte tie eine ab- 
ichlägige Antwort von ihr jelbft auf feinen Antrag bekommen. Ihre Eltern 
allein hatten geſprochen. War ed nicht möglich), daß fie ihn liebte? War es 
nicht vielleicht noch an der Zeit, fich Beicheid zu Holen, fein Glüc noch einmal 
dort zu ſuchen, wo er e3 vor Jahren zu finden gehofft hatte? Und wenn fte 
ihn liebte? Sein Herz ſchlug jchneller bei dem Gedanken... . Und wenn fie 
ihn nicht liebte? Nun, in diefem Falle war nichts Neues verloren; der Schmerz 
über ihren Verluſt war vernarbt und überwunden. Er konnte mit großer Ruhe 
an ein Zujammentreffen mit Johanna denfen. Ex hoffte in der That nur 
wenig davon; aber er fürdhtete Nichts; das Gefühl, das er für fie empfand, 
durfte faum mehr als Liebe bezeichnet werden; es war vielmehr eine große, 
eigenthümliche Neugierde. — Würde fie, wenn fie ihn wiederjah, beftürzt, oder 
freudig erregt oder theilnahmlos erjcheinen? Er wollte ſich darüber Gewißheit 
verichaffen. — 

Forbes mochte wol ahnen, was in Baldwin’3 Kopfe vorgehe, und fragte: 
„Werden Sie den Lelands einen Beſuch machen?” 

„Das weiß ich noch nicht,” antwortete Baldwin; „aber es würde mid) 
interejliren, fie wiederzujehen.“ 

„Das Vergnügen können Sie fich heute Abend noch verſchaffen. Begleiten 
Sie mid) in die Oper. Sie werden Herrn und Fräulein Leland in meiner Loge 
finden.“ 

Baldwin zauderte. „Soll ih Sie abholen?“ drängte Forbes, der die erjte 
Gelegenheit, jeinem alten Gafte gefällig zu jein, benutzen wollte „In einer 
halben Stunde fann ich in Ihrem Hötel fein. Gerade zu guter Zeit, denn es 
ift nahe an acht Ahr.“ 

Baldwin willigte ein, und die Beiden verliegen den Rejtaurant bald darauf. 
Als fie eine Stunde |päter in Forbes’ Loge traten, war dieje noch leer. Aber 
nad) wenigen Minuten erjchienen Herr Leland und Johanna. Letztere erkannte 
Baldwin auf der Stelle und wich mit einem leijen Ausruf der Ueberraſchung 
einen Schritt zurüd. Sie wurde jedoch jofort wieder, und ohne daß ihr dies einen 
Kampf gekoſtet hätte, vollftändig Herrin ihrer jelbft. — Baldwin war ihr ftets 
gleichgültig gewejen. Sie hatte jeit Jahren gar nicht mehr an ihn gedacht. Er 
war ein Bekannter aus vergangenen Tagen, ein alter, abgewielener Liebhaber. 
Meiter nichts. Gr war im Strome der Zeit untergegangen und vergefien, ohne 
auch nur bedauert zu werden. Was ging es fie an, wenn ex wieder auf der 


Gordon Baldwin. 907 


Oberfläche auftauchte? Sie reichte ihm unbefangen die ſchmale behaudjchuhte — 


Hand, nickte ihm mit einem freundlichen Lächeln zu und ging an 
um auf einem der Seſſel, vorn in der Loge, Plat zu nehmen. 

Dem alten Herren Leland mußte Baldwin noch einmal vorgeftellt werden; 
aber jobald er fid) „des jungen Mannes aus Japan“ twieder erinnert hatte, 
was eine qute halbe Minute dauerte, zeigte er aufrichtige Freude, ihn wiederzu— 
jehen, erkundigte ſich flüfternd nach feinem Befinden und nad feinen Verhält- 
niffen und drückte jeine Befriedigung, einen alten Freund wohl und gejund 
tiederzufehen, aus, indem er ein halbes Dubend Male „delighted* — ent: 
züdt — ausrief. Er beftand darauf, daß Baldwin vorn, neben feiner Tochter, 
Pla nehmen jollte, und blieb mit Forbes hinten in der Loge ftehen, um fid) 
von diefem erzählen zu laſſen, was er von feinem Freunde twußte. 

Und Baldwin? Die Bruft war ihm wie zugeihnürt. Er hatte Johanna 
während der lebten Jahre vergefjen; aber num erwachte in feinem Herzen wieder 
die jelige Unruhe, die ex ftet3 in ihrer Nähe gefühlt. Johanna erichien ihm 
ichöner als je. Sie trug die einfache Toilette eines jungen Mädchens, aber fie 
ftrahlte darin, in Baldwin'3 Augen, wie eine Königin. Sie jah ſich nachläſſig 
im Haufe um, al3 juche fie dort befannte Geſichter; und Baldwin konnte fie, ohne 
ihren Bliden zu begegnen, die ihn verlegen gemacht haben würden, beobachten. 
Ihre Züge waren ſchärfer und dadurch noch feiner geworden; fie war bleicher 
al3 früher; ein Ausdrud von Traurigkeit und Sanftmuth — jo ſchien es 
Baldwin — Hatte fi über das Antlik gelagert und die frühere ſtolze Sieges- 
gewißheit verſcheucht. Einen kurzen Moment berührte ihr Blick ihn. Er fühlte 
ſich erblaſſen. Der triumphirende Uebermuth, der Früher in ihren Augen geglänzt 
hatte, war verihwunden; jie blicdten nun müde und klagend, Hülfe ſuchend 
gewwifiermaßen. Johanna war noch jchöner, als fie je geweſen war! 

Der Vorhang fiel und machte der ftummen, beivundernden Betrachtung 
Baldwin's ein Ende. Und nun wandte fie fi zu ihm und fragte theilnehmend, 
wie e3 ihm gegangen ſei, wann er Japan verlaffen habe, ob er in Europa zu 
bleiben gedente ? 

Baldwin Hatte vollftändig vergefjen, daß er vor einer Stunde nur neugierig 
geweſen war, zu jehen, welchen Gindrud dad Zufammentreffen mit Johanna 
auf diefe machen würde. Sie war weder bejtürzt, noch freudig erregt, noch 
talt. Sie war ruhig, freundli, wohlwollend, von unwiderſtehlicher Liebens- 
würdigkeit. Sein unerfahrenes, großes Herz ſchlug ihr mit allen Pulſen ent- 
gegen. Ein twonniger Schmerz, Hoffnung und Wehmuth füllten es. Er bewahrte 
nur mit Mühe feine Faſſung. Und Johanna ſah dies Alles und lächelte be- 
zaubernd und blidte freundlich, vertraulich zu ihm hinauf. 

Baldwin war einfilbig und zerftreut, als er nad) dem Theater in Begleitung 
Forbes' nad) jeinem Hötel zurückkehrte. 

„Sie hören nicht, was ich Ihnen ſage,“ bemerkte diefer lächelnd. 

„Ich bitte um Verzeihung,“ antwortete Baldwin. „ch bin etwas von der 
Reife ermüdet. Sie fragten mi), wo id) morgen eſſen werde. Es ift mir 
gleichgültig. Wo Sie wollen.“ 

„Im alten Gafe dan, um fieben Uhr. Ich gehe am Abend auf eine 


205 Teutihe Rundſchau. 


Stunde zu den Sands. Wollen Sie, daß id Sie vorftelle? Sie finden dort 
möglicherwweije einige alte Bekannte wieder; jedenfalls treffen Sie die Lelands 
dort. Frau Sanda it eine langjährige Freundin von mir. Ih Tann Sie 
ohne Weiteres bei ihr einführen.“ 

Baldwin nahm das Anerbieten an, und damit trennten ſich die Beiden. 
Forbes fragte ſich während des Nachhauſegehens, ob er Baldwin einladen jollte, 
wieder jein Gaft zu werden. Aber er fürchtete, eine abſchlägige Antwort zu 
erhalten, legte fih, ohne einen Entſchluß gefaßt zu haben, zu Bett und war 
bald darauf feſt eingejchlafen. Johanna träumte in jener Nacht, Forbes erkläre 
ihr endlic) jeine Liebe. Baldwin’ Müdigkeit von der Reife war verſchwunden: 
er ging noch lange Zeit unruhig in feinem Zimmer auf und ab, und Wie 
vor vier Jahren waren alle feine Gedanken bei Johanna Leland. 


V 


Baldwin hatte, wie Forbes dies vorhergejehen, einige alte Bekannte bei den 
Sands angetroffen. Er war von diejen gebeten worden, fie zu bejuchen, und 
hatte verjchiedene Einladungen angenommen; jo war e3 gefommen, da er, 
wenige Tage nad) feiner Ankunft in Paris, jeden Abend in Gejelihaft ging und 
faft täglih mit Johanna zujammentraf. Er war nun bereit3 vier Wochen in 
Paris. Er verjchob jeine Abreife von einem Tage zum andern, aber er fand 
jtet3 wieder einen Vorwand, um die Stadt, wo ex Johanna jehen konnte, nicht 
zu verlafjen. 

Baldwin war ein ruhiger, verjtändiger Dann, dem das Leben in der Fremde 
Selbftändigkeit und Entjchlofjenheit gegeben hatte, wie jie Leute, die fortwährend 
von Freunden und Berwandten umgeben in der Heimath leben, nur jelten in 
demjelben Maße erwerben. Aber jein Herz, da3 eine Zeit lang an der Er— 
innerung jeiner Liebe in Paris gezehrt hatte und jeitdem nicht wieder bewegt 
worden war, das Herz des „Wilden“, wie Forbes ihn von Neuem getauft hatte, 
war friſch und unerfahren, wie das eines Stindes. Er liebte mit der Kraft de3 
Mannes, mit der Unerfahrenheit des YJünglings: von ganzer Seele und mit 
ganzem Gemüthe. — Und Johanna war nicht mehr vollftändig gleichgültig für 
die Leidenſchaft, die fie einflößte. Sie empfand ſchmerzlich die Einjamkeit, in 
der fie jeit einiger Zeit lebte; fie vermißte den Hof von Anbetern, der ſich 
früher um fie gedrängt hatte. Sie hatte da3 Recht, Bewerber theilnahmlos 
zurüdzuweijen, rüdjichtslos ausgeübt und bereute nicht, was ſie gethan Hatte; 
aber fie bemerkte mit peinlicher Bitterfeit, daß ſich nun Niemand mehr um ihre 
Gunft zu bewerben ſchien, daß jie die Macht über Männerherzen, die fie jo 
ihonungslos ausgeübt, nun verloren hatte. Manchmal war fie aufrichtig ſchwer— 
müthig, ja jentimental. Auch alte, herzlofe Menſchen können fich jelbft tief 
bedauern. — Sollte fie nicht zu dem Ziele gelangen, das ihre Yugendgenojfinnen 
nun beinahe ſämmtlich erreicht hatten? War fie nicht ſchöner, reicher, klüger als die 
meiften von ihnen, al3 alle? Wenn fie Mittel und Künfte ‚hätte anwenden 
wollen, wie dieje, jo hätte fie auch heute noch triumphiren können. Aber das 
wollte fie nit. Ihr Stolz empörte ſich gegen den Gedanken, daß fie, die ſchöne 


Gordon Baldwin. 909 


Johanna Leland, um Liebe werben ſollte. Wenn fie das gewollt hätte, jo würde 
fie vor Jahren das Herz von Georg Forbes berüct haben. Aber fie war auch 
ihm gegenüber ftet3 kalt und zurückhaltend geweſen. Niemand konnte und jollte 
willen, am wenigſten Forbes jelbft, wa3 in ihrer Seele vorging. — Sie wollte 
geliebt fein, und wenn fie es war, dann wollte fie, al3 freie Herrin, ihr jung- 
fräuliches Herz ala herrlichen Preis Dem ſchenken, den fie wieder lieben konnte. 
Und nun jchien Niemand mehr den Werth diejes Preijes zu achten. Da fam 
Baldwin. Sie erfannte wol, wie hoch er über den eleganten, gezierten Männchen 
ftand, in deren Mitte er ſich augenblicklich bewegte. Wie gerade und uner- 
ſchrocken blidte das große, Klare Auge! Aller Blide jenkten fi) davor. Wie 
treu und wahr Hang die tiefe Stimme! Wie ernft, gelaffen, mwürdevoll war 
da3 Wort! Aber der ftolze Blick wurde fanft, jobald er dem ihrigen begegnete; 
die Stimme ſank zu einem zärtlichen Flüſtern herab, wenn er mit ihr ſprach; 
und jeine Worte, die kaum anzudeuten wagten, was jein ganzes Herz erfüllte, 
jagten doch mit jo rührender, ſchüchterner Einfachheit, daß er fie liebe, wie jie 
nie zuvor geliebt war. Ya, Gordon Baldwin war ein Mann! Auf ihn konnte 
fie ſich verlaſſen. Jeder feiner Blutstropfen gehörte ihr, wenn fie nur wollte. 
Bei ihm brauchte fie nit um Liebe zu werben, wie bei dem falten, miß— 
trauifchen Georg Forbes. Nein, in Baldwin’3 Augen war ihre Liebe ein un- 
ſchätzbar Köftliches Kleinod. 

Eines Abends, ala Baldwin wieder mit Johanna in einer Gejelliehaft bei 
gemeinjchaftlichen Bekannten zufammentraf, zeigte er ihr an, daß er nun feinen 
Aufenthalt in Paris nicht mehr verlängern könne und in wenigen Tagen nad) 
England reijen müſſe. 

„Sie fommen hoffentlich bald nad) Paris zurück?“ fragte fie. 

Er antiwortete darauf „Vielleiht” und jehte nach einer Paufe leiſe Hinzu: 
„Wollen Sie mir geftatten, morgen zu Ihnen zu fommen, um von Ihnen Ab— 
ichied zu nehmen?“ 

„Gern erlaube ich das,” entgegnete fie lächelnd. 

„Fräulein Leland . . .“ begann Baldwin von Neuem. Dann ftocte er 
twieder. Sie ſah ihn etwas verwundert, aber freundlih, aufmunternd an. 
„Morgen aljo,“ jebte er Hinzu. „Ich werde mir erlauben, um fünf Uhr zu 
Ihnen zu kommen.“ 

Wenige Minuten vor der genannten Stunde erfchien Baldivin am nächften 
Zage in demjelben Salon, in dem er vor vier Jahren um Johanna’3 Hand 
angehalten hatte. Herr Leland war ausgegangen. Yohanna befand fich allein. 
Fräulein Leland war eine jelbftändige junge Dame, die ſich bei Lebzeiten ihrer 
Mutter bereit3 einer großen Unabhängigkeit erfreute und die jeit mehr als einem 
Jahre, vollftändig unbefümmert um ihren Vater, der ihr in Allem, was den 
Hausftand anging, freie Hand ließ, diejenigen Perfonen empfing, die fie zu jehen 
wünſchte. 

Baldwin hatte ſich auf dem Wege von ſeiner Wohnung nach der Avenue 
Friedland überlegen wollen, was er Johanna ſagen würde; er war jedoch zu 
keinem Entſchluſſe gekommen. Er wollte ſeine Liebe endlich erklären; dieſen 
Vorſatz hatte er nun gefaßt; aber in welcher Weiſe er ihn ausführen ſollte, 


210 Deutſche Rundſchau. 


war ihm noch unklar. Er wagte es nicht, ſich die ganze Situation auszumalen. 
Was ſollte er thun, wenn Johanna ihn abwies, wie ihre Mutter dies vor 
Jahren in ihrem Namen gethan hatte? Wie ſollte er ihr danken, wenn ſie 
ihm ihr Glück anvertraute? Er wußte auf keine dieſer Fragen zu antworten. 
Unwillkürlich ſchüttelte er den Kopf, als wolle er die wirren Gedanken, die in 
ihm wogten, verſcheuchen. Er machte gewiſſermaßen die Augen zu, und halb 
hoffend, halb verzweifelnd, wagte er den verhängnißvollen Sprung in die 
Dunkelheit. 

Johanna, die leſend im Salon am Fenſter ſaß, kam Baldwin einige Schritte 
entgegen und reichte ihm ihre kleine, hagere Hand. Er behielt fie in der ſeinen 
und Jah ſich jcheu in dem großen Zimmer um, wie Jemand, der nach Hülfe 
ſucht oder eine Gefahr fürchtet. Sie wollte ihre Hand janft frei machen, aber 
er hielt fie feſt und ſagte: 

„Fräulein Leland, vor Jahren habe ich wie Heute vor Ihnen geftanden 
und eine Frage an Sie gerichtet, die Sie nie beantwortet haben... . Johanna, 
vertrauen Sie fi mir an... Johanna... .“ 

Er jah fie flehend, jpradhlos an. Unendliche Traurigkeit, Liebe, Hingebung 
lagen in jeinen Augen. Ihr Herz ſchlug ſchneller. Weshalb follte fie die große 
Liebe, die ihr dargebracht wurde, verſchmähen? ... Forbes? ... Das Bild 
des geliebten Mannes erſchien einen kurzen Augenblick vor ihrem Geiſte: der 
ſpöttiſche Mund, der forſchende, theilnahmloſe Blick, das müde, vornehme Antlit. 
Dann verſchwand die Erſcheinung, und ſie ſah Baldwin, den ſchlichten, ernſten 
Mann mit dem treuherzigen Geſichte, in dem Alles lebte und Alles von Liebe 
für ſie ſprach. Sie zog die Hand nicht zurück. Ihre Augen ſenkten ſich; ſie 
neigte ſich nicht zu ihm, aber er zog ſie ſanft an ſeine Bruſt, und ſie leiſtete keinen 
Widerſtand mehr; und ehe ſie es wußte, ruhte ihr Haupt an ſeiner Schulter. 
Sie weinte leiſe: über die große Liebe, die ſie einflößte, über das Glück, das ſie 
in dieſem Augenblicke undeutlich, aber aufrichtig hoffte und über den plötzlichen, 
aber nun unwiderruflichen Untergang aller Hoffnungen ihres Herzens. Er küßte 
ihr die keuſche Stirn und fagte gerührt: „Mein ganzes Leben joll Ihnen für 
dad Glüd, dad Sie mir jchenken, danken.“ Dann führte er fie an das Fenſter, 
wo fie halb bewußtlos in einen Sejjel jan. Er war nun wieder Herr feiner 
jelbft geworden, und obgleich noch tief bewegt, konnte er ruhig mit ihr jprechen. 
— Wollte fie ihrem Vater Mittheilung von dem, was gejchehen war, madıen, 
oder jollte er dies thun? — Sie antwortete nit. — Nahm fie an, daß ihr 
Vater ſich feiner Verbindung mit ihr widerjegen werde? — „D nein.” — Dies 
faum hörbar von ihr. 

„Run, dann haben wir Nichts mehr zu fürchten. Alles wird gut werden.” 

„Sa, Alles wird gut werden,“ antwortete fie. Aber fie konnte ihm nicht 
in die Augen bliden. Geftern noch war jie die Herrin gewejen, deren Lächeln 
oder Stirnrunzeln über das Glüd oder Elend Baldwin's entjcheiden mochten. 
Nun fühlte fie ih ſchwach und entwaffnet. Sie hatte ihre Pfeile verſchoſſen; 
fie hatte ihre Wahl getroffen, ihr Schidjal war befiegelt. Es war ein ganz 
anderes, al3 fie, jelbft in ihrer Verzweiflung, immer noch gehofft hatte. Sie 
mufterte Baldwin verftohlen, als jähe fie ihn zum erften Male. Konnte fie auf 


Gorbon Baldwin. 211 


ihn ftolz jein? Gr hatte Nichts von dem eigenthümlich vornehmen Welen, das 
Forbes in ihren Augen auszeichnete; aber er war ein ftattliher Mann. Sie 
hatte nicht zu befürchten, daß man jeiner oder ihrer jpotten werde. Ihre 
Freundinnen würden fich über die Wahl, die fie ſchließlich getroffen, wundern. 
Alles in Allem Hatte fie feinen großen Preis errungen. War fie deshalb jo 
ipröde und anſpruchsvoll geweien, um jchlieglich ihre Hand einem Manne zu 
reihen, der weder einen berühmten Namen trug, nod ein großes Vermögen 
beſaß? Ja, wenn fie Forbes geheirathet hätte, jo würde Jedermann dies 
natürlich gefunden haben. Sie hatte lange gewartet, aber in diejem Falle Hätte 
fie jchließlid) etwas Großes erreicht. Aber wer war Gordon Baldwin? Ein 
Mann, den Niemand kannte, um den fih Niemand kümmerte. — Unwillkürlich 
hob ein tiefer Seufzer ihre Bruft. Sie vernahm undeutlich, gleihfam wie im 
Halbjichlafe, was Baldwin ihr erzählte. Er ſprach von jeinem Leben in Japan, 
jeitdem er Johanna verlaffen. Wie er unglüdlih geweſen jei; wie er ſich 
durch Arbeit habe betäuben wollen; wie er Ruhe, aber niemals Zufriedenheit 
gefunden habe. Er erzählte von der Sehnſucht, die ihn nad) Paris gezogen 
hatte, obgleich er hoffnungslos dort angefommen ſei; von dem Schreden, mit 
dem er von Forbes erfahren, daß noch nicht Alles verloren; von dem Zu: 
fammentreffen mit ihr in der Oper, wo fie ihm jo traurig, fo ſchön erichienen 
jet, von dem Wiedererwachen der alten Liebe, die nie in ihm geftorben war; 
von jeinem unbejchreiblihen Glüde endlih, fi) nun von ihr geliebt zu 
wiſſen. 

Sie lächelte wehmüthig. Ihr Herz war voll zum Zerſpringen. Er konnte 
nicht wiſſen, daß Schmerz um das verlorene, einſt gehoffte Glück es füllte. Die 
Thräne, die auf der marmorbleichen Wange perlte, der Seufzer, der die jung— 
fräuliche Bruft hob, das Lächeln, das die angebeteten Züge verflärte, Alles jagte 
ihm nur Eins: „jie liebt mid)”. 

Die große Stukuhr ſchlug laut und bedächtig fieben. Baldwin jah erftaunt 
auf. Die zwei Stunden waren ihm wie wenige kurze Minuten dahingeflogen. — 
Sie fühlte fi) müde, elend, wie ein geichlagener Soldat auf der Flucht, der 
Nacht und Einjamkeit ſucht. Er erhob fih. Sie reichte ihm die Hand, aber 
fie blieb fiten. Er beugte fih zu ihr herab und küßte ihr noch einmal die * 
Stirn. Sie ließ ihn gewähren. 

„Auf heute Abend, meine einzig Geliebte,“ jagte er. 

„Auf heute Abend,” wiederholte fie mechaniſch. — Und endlich war fie allein. 
Sie blieb noch einige Minuten lang, ftarren Blickes, unbeiveglich fien. Dann 
ſtand fie auf und ſchlich wie eine Nachtwandlerin geräufchlos, ohne zu jehen, 
auf ihr Zimmer. 

Das nun alio war da3 Ende ihrer ftolgen Träume! Sie jollte ihr Leben 
als Frau Gordon Baldwin leben und bejchliegen! Sie bereute nicht, wa fie 
gethan; nein fie empfand darüber eine bittere, höhnijche Freude. „Nun wird 
fih Here Forbes endlich klar machen, daß ich es nicht auf fein verhaßtes Geld 
abgejehen hatte.” Ihr größter Wunſch in diefem Augenblicke war, daß er dies 
fühlen und daß ihm dies Schmerzen verurjachen möchte. „Wird er nun, da id 
ihm verloren bin, bedauern, nicht um mic) geworben zu haben?” fragte fie fi). 





212 Deutſche Rundſchau. 


Sie ſchüttelte verzweifelnd das Haupt. „Ich bin ihm niemals Etwas geweſen.“ 
O wie bitter, wie bitter war dies Wort! — Sollte ſie ihr Glück noch einmal 
verſuchen? Ihre Wangen flammten plötzlich auf und ihre Augen blitzten — 
Sollte ſie Baldwin ſchreiben, ſie habe ſich geirrt, ſie habe ihn getäuſcht, ſie 
bäte ihn um Verzeihung, ſie wolle ihr Wort zurück? Baldwin würde Alles 
thun, was ſie von ihm verlangte. Sie war ihrer Sache ganz ſicher. — Sie 
ſtand auf und näherte ſich langſam dem Schreibtiſche. Aber dann ſank ſie 
wieder auf einen Stuhl zurück und bedeckte das Geſicht mit beiden Händen und 
meinte. — Wozu konnte ihre Freiheit ihr nüßen? Sie war jahrelang frei ge- 
weſen, und Forbes hatte fie nicht eines Liebenden Blickes gewürdigt. Nein, 
Gottlob, jo tief war fie nicht gejunfen, daß fie um jeine Liebe hätte buhlen 
mögen. — Sie haßte ihn. — Sie wollte nicht jeinetwegen ihr ganzes Leben 
vertrauern. Sie wollte ihm nicht die Genugthuung gönnen, fie einfam dahin: 
altern zu jehen. Er hatte ihr einmal gejagt: „Baldwin ift der beſte Menſch, 
den ich kenne.“ Er follte jehen, daß der befte Menſch glücklich fei, fi) ihr ganz 
hinzugeben. Sie neßte ji) das Geſicht mit kaltem Waſſer, um die Spuren ihrer 
Thränen zu verwiſchen. Sie war plöglicd ruhig geworden. Die eijige Kälte 
des Menſchen, der fein Theuerjtes verloren und die Verzweiflung über den 
Berluft überwunden hat, war über fie gefommen. Sie war in wenigen Minuten 
viel älter geworden. Sie hatte nun mit allen Hoffnungen und Jugendträumen 
abgejchlojjen. Sie trat vor den Spiegel, um ihr Haar zu ordnen. Ein bleiches 
Geſicht mit heißen Augen blickte ihr entgegen. Sie nidte dem Bilde unheimlich 
lächelnd zu und jagte: „Adieu, Johanna Leland.“ Dann ging fie in den Salon, 
wo ihr Bater jeit einigen Minuten beveit3 auf fie wartete, um fie in den 
Speiſeſaal zu führen. 

Das Verhältniß zwiſchen Herrn Leland und ſeiner Tochter war nicht ein 
derartiges, al3 daß es Johanna große VBerlegenheit verurjacht hätte, ihm den 
Vorfall des Nachmittags zu erzählen. Sie that dies nad) dem Eſſen, in wenigen 
Worten, in ruhiger, unbefangener Weije. 

„Wie gefällt Dir Herr Gordon Baldwin?“ fragte fie, al3 jie ihrem Vater 
den Kaffee eingeſchenkt und diejer jich mit großem MWohlbehagen eine Gigarre 
angeſteckt hatte, eine Freiheit, die ex fi im Salon des Haufes, zu Lebzeiten 
von Frau Leland „geb. von Montemars“ niemals erlaubt haben würde. 

„Ein Harmanter Mann; ein ganz dharmanter junger Mann.“ 

„Würde er Dir als Schwiegerjohn willfommen jein?“ 

„Hm?! Was jagt Du?!“ 

Johanna twiederholte ihre Frage. Der alte Leland ließ beinahe die Tafje 
fallen, die ex in der Hand hielt. Er ſetzte jene jchnell auf den Tiſch, legte die 
Gigarre mit zitternder Hand daneben; dann näherte er ſich feiner Tochter und 
bliete fie ftumm fragend an. 

„Herr Baldwin hat heute Nachmittag um meine Hand angehalten.“ 

„Nun?“ 

„Er wird Dich heute Abend um Deine Einwilligung bitten.” 

„Die gebe ih ihm von ganzem Herzen; die hätte ich ihm nie verweigert... 
Meine geliebte Tochter, ich bin glüdlih... Sch bin ein alter Mann. — Id) 


Gordon Baldwin. 213 


fann jeden Tag fterben. Es hat mir die leßten Jahre verbittert, zu denfen, 
daß ih Dich vereinfamt zurüdlaffen müßte Nun kann ich ruhig leben und 
werde ruhig fterben. Baldwin ift ein guter, edler Menſch. Er hat mir immer 
gefallen. Ich habe oft bedauert, daß Deine felige Mutter feinen Antrag zurüd- 
gewiejen hatte. — Meine liebe Johanna, mein einziges Kind, meine gute 
Tochter ...*“ Er umarmte fie zärtlich ; ex war viel aufgeregter als fie, jo jehr, 
daß ihm ihre Ruhe gar nicht auffiel. Sie jollte ihm erzählen, wie Alles ge- 
fommen jei, und fie hatte auch ſchon angefangen, in trodenen Worten zu bes 
richten, was am Nachmittag vorgefallen war, al3 ein Diener die Thür öffnete 
und Herrn Baldwin anmeldete. 

Leland ging ihm mit jugendlichen Schritten entgegen, drückte ihm mit 
freudeftrahlendem Gefichte die Hand und jagte nur: „Willkommen, mein 
lieber Sohn!“; dann jeßte ex ſich zitternd, unfähig, für den Augenblid noch ein 
Wort hervorzubringen, nieder. 

Baldwin war beinah ebenjo aufgeregt, wie der alte Herr. Johanna be- 
obacdhtete fie beide mit faſt verächtlichen Bliden. Sie hatte ihren Kampf aus— 
gefämpft; fie war ermattet, jehnte fi nad) Ruhe. Die Aufregung in ihrer 
Nähe war ihr unangenehm. Wozu der Lärm? — Sie hörte theilnahmlos zu, 
wie ihr Vater und Bräutigam Zukunftspläne machten. Sie nidte oder jagte 
„Ja,“ wenn ein Blic oder ein Wort fie um ihre Zuftimmung bat. Ihr war 
nun Alles vet. Es ſchien ihr beinahe, ala handele es fih um Etwas, wobei 
fie eigentlich gar nicht intereffirt jei. Sie lebte wie in einem Traum. Alles 
war undeutlich, verworren. Handelte es ſich wirklich um ihr eigenes Schickſal? 
Berfügten die beiden Männer über fie? War fie nicht mehr frei? War Forbes 
nun für immer für fie verloren? — Noch einmal kam ihr der wilde Gedanke, 
der in ihrem Zimmer in ihr aufgeftiegen war. Sie wollte fich erheben und 
rufen: „Haltet ein! Ihr inet Euch! Ich Habe Euch getäufcht! Ich Liebe 
einen Anderen!‘ Aber e3 ſchien ihr, ala ſähe fie Forbes ſpöttiſch lächeln. Nein, 
Alles war befjer, ald von diefem Mtanne verhöhnt, vielleicht ſogar bemitleidet zu 
werden. — Und Baldwin war ein guter, edler Menſch. Sie wollte ihn lieben 
lernen. Alles konnte noch gut werden. 

E3 war aljo bejchloffen: die Verlobung jollte morgen den intimeren Be— 
fannten mitgetheilt werden, und in zwei Monaten, im Juli, konnte die Hochzeit 
ftattfinden. 

„Wo wollen wir wohnen? In Paris oder in London? fragte Baldwin. 

„Wo Sie wollen,“ antwortete Johanna. 

„In Paris,“ meinte der alte Herr Leland. „Nirgends in Europa kann 
ein junges Ehepaar ein jo angenehmes Leben führen, wie in Paris. Ich bin 
nun einmal an das Leben hier gewöhnt, und es würde mir ſchwer fallen, in 
meinem Alter neue Gewohnheiten anzunehmen. Aber Ihr habt hier ja aud) 
alte und qute Freunde: die Imgard, Kellog, Sands, Forbes, Hewitt und viele 
Andere...“ 

„Nun ja, in Paris denn,” jagte Johanna; und dies ſchloß die Unterhaltung. 

(Schluß im nächſten Heft.) 


Deutſche Rundichau. III, 8. 15 


Nus Griechenland. 


a 


Argos und Myhkenä. 


Don 
W. Lana. 


Bergab gleitet dex Weg ... 
Weit, hoch, herrlich der Blid 
Rings in's Leben hinein, 
Dom Gebirg’ zum Gebirg’ 
Schwebet der ewige Geift, 
Ewigen Lebens ahndevoll. 


Das war eine beglüdende Fahrt! Bon den kahlen arkadiſchen Berghöhen 
hinab an den leuchtenden Golf von Nauplia. Die Verwandlung geſchah fo 
raſch, daß fie ein Märchen ſchien, und doch langjam genug, um die einzelnen 
wechjelvollen Bilder auffangen und einprägen zu können. Erſt war tief unten 
ein Heiner Ausſchnitt des erjehnten Meeres fichtbar geworden. Wie dad dem 
Auge wohl that, das tagelang in den grauen, öden Bergkefjeln ſich eingejchlofjen 
ſah! Doc unverjehend hatte es der jelfige Vordergrund wieder verſchlungen. 
War es Täufchung gewejen? Nein, dort öffnet fi ein neuer Ausſchnitt, Hier 
ein dritter, und nun erſcheint eine zufammenhängende Küfte mit zadigen Bergen, 
eine weißichimmernde Stadt am Ufer mit hochragender Burg, jonnbeglänzte 
Segel auf der blauen Fläche, Inſeln am fernen Horizont. Plöglich eine Biegung 
der Straße, und wir find wieder mitten im Gebirge; wilde Felsmaſſen thürmen 
fi rings, in gelblicden und rothen Farben auf einander gelagert. Zur Linken 
hoch oben ſchwarze, ſchwere Wolkenballen, die auf den Kamm des Gebirges zu 
drüden jcheinen und in denen die höchſten Gipfel des Artemifion verſchwinden. 
Aber ſchon zeigt fi in den Tyelsfpalten am Wege häufigeres Buſchwerk, gelb» 
blühende Sträucher Ihmüden die Wände, und von den Schluchten winkt das 
dichte Laub der Platanen herauf. Eine neue Biegung, und jet liegt deutlich 
die ganze Bucht zu unferen Füßen, Nauplia mit der Palamedesfeftung gerade 
gegenüber; in langer Kette faſſen die arachnäiſchen Berge den Meeresftreifen ein, 
und da3 Auge folgt der weitgeftredtten Linie, bis die legten Vorjprünge zufammt den 
gejelligen Inſeln im Dufte verſchwimmen. Links von Nauplia aber die jonnige 


Aus Griechenland. 215 


Ebene, und deutlich erkennbar die uralten Mauern von Ziryns, der Schweiter- 
ftadt von Mykenä, der Heimath des Herakles. So wechjelt in zweiſtündiger 
Fahrt, die in zahlreihen Windungen zur Ziefe geht, Bild um Bild. Oder ge- 
nauer, diejelben Bilder kehren abwechjelnd tvieder, doch jedes Mal deutlicher und 
völliger. Jet breitet fich die Ebene weiter aus, e3 erjcheint die Stadt Argos 
und zu ihrer Linken die burggefrönte Larifa als ein Feder VBorjprung des Chaon 
in das Flachland. Und über dem niedrigen Berglamme, der die Ebene im 
Norden begrenzt, jehen fühngeformte Gipfel herüber, der ſcharf abgejchnittene 
Apeſas und Akrokorinth und, ſchon jenjeit3 des Iſthmos, die ſchneebedeckte 
Geraneia. Tiefer und tiefer find wir herabgeftiegen, ein immer reicherer Pflanzen— 
wuchs umgibt uns, der Delbaum erjcheint und der Maulbeerbaum und die hohe 
Pappel, und während zuvor gleihjam zwei getrennte Landſchaften abwechjelnd 
vor unjerem Auge fi) abgelöft Hatten, find fie einander allmälig näher getreten 
und haben fich zu einer einzigen zufammengefügt: ein baumreicher Vordergrund 
mit Menjhenwohnungen, dahinter die Meeresbucht, eingefaßt von näheren und 
ferneren Bergen, und darüber endlich der wirkliche blaue Himmel Griechenlands, 
nah dem wir bei der Wanderung durd) den Peloponnes Tag für Tag und 
immer vergebens ausgeſchaut hatten. 

Der Wagen hält, wir find zu Myli, bei den Mühlen von Nauplia, da, wo 
der Pontinos, ein Ausläufer des arkadiſchen Grenzgebirges, bi3 an das Meer 
fih vorjchiebt und auf diejer Seite die Ebene de3 Inachos abſchließt. Nauplia 
mit dem Felſen, der nod heute den Namen des homerischen Helden Palamedes 
trägt, liegt gerade gegenüber, und wer dorthin will, kann ſich von hier im Boot 
überjegen lafjen, in einer Stunde, wenn der Wind günftig ift, während man 
auf der Fahrſtraße über Argos an vier Stunden braudt. Gerne jtiegen wir 
aus, um und an dem Orte umgujehen, nahmen aber mit Ueberraſchung wahr, 
daß der Kutſcher ſich verabjchiedete und anfing, auch unfere Gepädftücde auszu— 
räumen. Der Wagen war in Tripolita bis Argos gemiethet; aber wir wurden 
belehrt, daß allen Reiſenden das Gleiche widerführe; es jei fejtitehender Grund» 
laß, daß die tripolitanischen Fahrzeuge nicht weiter ala bis Myli gingen, wo 
fie durch argoliſche Roſſe abgelöft würden. Da wir nun nicht begehrten, daß uns 
zu Liebe eine Ausnahme von ehrwürdiger Landesfitte gemacht würde, fügten 
wir und qutwillig, obwol die Kutſche, die wir nachher befteigen jollten, von 
ziemlich übler Beichaffenheit war. 

Myli ift das alte Lerna. Der Ort befteht aus einer Anzahl zerftreuter 
Häufer, darunter etliche Khane. Hinter ihnen fteigt unmittelbar der Berg in 
die Höhe, der mit den Trümmern eines mittelalterliden Kaſtells geſchmückt ift. 
Die Gärten und die ftattlihen Bäume geben dem Ort ein freundliches Anjehen. 
Dan fieht jofort, hier fehlt e8 dem Boden nicht an Feuchtigkeit; ja wir wurden 
bald gewahr, daß hier des quten und in Hellas jeltenen Elements nur gar zu 
viel vorhanden if. Denn zum Strand hin breitet fi ein hohes Scilfmeer 
aus, deſſen Halme im Winde wogen. Es bededt die Ränder eines ſchwarzen 
Gewäſſers, des halkyoniſchen Sees der Alten, ein unheimlicher Ort, der die 
möpthenbildende Phantafie der Hellenen in mannigfadher Weije in Bewegung ge= 
legt hat, und von deſſen unergründlicher Tiefe heute noch das Volk erzählt. Der 


15* 


216 Deutiche Rundſchau. 


See ift übrigens nur halb ein Werk der Natur, zur Hälfte ift ex fünftliches 
Menſchenwerk, zur Bändigung wilder Natur erdadt. Sich ſelbſt überlaffen, 
würde ſich hier weithin das Sumpfwaſſer ausdehnen, das dadurch entfteht, daf 
die Quellen, die hier unter dem arkadiſchen Grenzgebirge hervorbrechen, in dem 
ihmalen und flachen Küftenland feinen Raum zur Entwidlung finden und jo, 
unabläjfig hervorſprudelnd, die Strede bis zum Meer überfluthen. So war 
es in grauen, vorgejhichtlichen Zeiten. Hier haufte die lernäiſche Waſſerſchlange, 
welche die Felder verwüftete und die Heerden zerriß, und deren Häupter, wenn 
fie mit dem Schwerte abgehauen wurden, bejtändig wieder nachwuchſen, ja ſich 
vermehrten, ein Sinnbild für die unbezwingliche Macht der Quellzuflüſſe, die, 
an einem Ort glücklich verftopft, an einem anderen mit verjtärkter Gewalt 
wieder hervorbradhen, bis endlich dem Herakles die Bändigung aud) dieſes Un— 
geheuers gelang. Die fefte Eindämmung und Regelung des Gewäſſers, das war 
die jegensvolle That, die, wie andere Triumphe der Bodencultur, der Mythus 
auf den Sohn der Altmene übertrug, und ein Tempel der Demeter an diejer 
Stelle verfündigte, daß durch die herakleiſche That die böjen Dünfte verſcheucht 
und der Boden für den Anbau nährender Früchte geivonnen worden war. Ganz 
£onnte die Hydra nicht vertilgt werden, man mußte zufrieden jein, ihre Wir- 
kungen eingegrenzt zu haben, und jo ijt der Sumpf noch heute vorhanden, aber 
dur) Dämme eingefriedigt und durch regelmäßigen Abflug in das Meer geleitet, 
wo er die Mühlen treibt, von denen der Heutige Ort den Namen hat. 

Der Pflanzenwuchs, jo jehr er Diejenigen überrafcht, die aus dem Inneren 
des Peloponnejes fommen, muß in früheren Zeiten und bis in unjer Jahr— 
hundert freilich noch erftaunlicher gewejen jein. Im Unabhängigkeitstampfe hat 
auch dieje Gegend ſchwer gelitten; ausgedehnte Maulbeerpflanzungen und Del: 
wälder find damals vernichtet worden. Das Mühlendorf, wo die Päfje aus 
Arkadien nad) der Ebene von Argolis berabführen, ift mehrmal3 ein Zeuge 
friegerifcher Ereigniffe gewejen. Zumal im Jahre 1822, als Dramali Paſcha 
mit jeinem Heere die Ebene von Argos überſchwemmte und die Lariſa belagerte. 
Kolofotronis ließ damals die Mühlen bejegen, um das weitere Vordringen Dra— 
. mali’3 in den Peloponnes zu verhindern. Das gelang den Griechen auch voll- 
fommen; e3 gelang ihnen jogar, von bier aus das Heer des Paſcha zu be= 
unrubigen und die Belagerten in der Larija, die an Wafjermangel litten, wohl: 
behalten herauszuholen, indefjen Dramali thatlos und nußlos in Argolis ver- 
harrte und zuletzt aus Mangel und Noth, da ex den Weg nad Süden verjperrt 
jah, zum Ausweg nad Korinth genöthigt war, der ihm jo verderblich werden 
ſollte. Auch im Jahre 1825, als Ibrahim in das Innere des Peloponnejes 
vorgedrungen war, entipann jich ein Kampf bei den Mühlen. Ibrahim wollte, 
in Zripolifa angelangt, jofort bis Nauplia vordringen. Allein eine tapfere 
Schaar von 300 Mann unter Ypfilanti’3 Befehl warf fi den von den Bergen 
herabgeftiegenen Aegyptern entgegen, konnte aber freilich troß aller Tapferkeit 
nicht verhindern, daß Ibrahim nach Argos gelangte, von two er indefjen, ohne 
einen Angriff auf Nauplia zu wagen, fi nad Tripolitza zurückwandte. 

Wir ſaßen wieder im Wagen, auf der Straße nad) Argos. Zur Rechten 
die Bucht, vor uns die Burg von Hohenargos mit der Stadt zu ihren Füßen, 


Aus Griechenland. 217 


zur Linken da3 Gebirge, deſſen Abhänge aber immer weiter zurücdtvichen, um 
der Ebene Raum zu laffen, die fi in weiten Halbfveis um die Meeresbucht 
legt. Nach kurzer Zeit gelangten wir an einen Fluß, der raufchend vom Berge 
zum nahen Meer abfließt. Es ift der Eraſinos, der Lieblihe, von den Alten 
jo genannt, weil für die aus der vertrodneten argoliichen Ebene Kommenden 
hier zuerft fließendes Waſſer und willfommener Baumwuchs ſich zeigt. Er ift 
nach uralter Deutung der Abfluß des ftymphaliichen Sees hoch oben in Arkadien 
und legt alio, wenn ſich diejes jo verhält, einen unterivdiichen Lauf von 200 
Stadien zurüd, bi er aus einer Grotte am Oftabhange des Chaon wieder zum 
Vorſchein fommt, um in raſchem, kurzem Laufe dem Meer zuzueilen. So wohl- 
gebaut im Uebrigen die Straße ift, jo führt doch feine Brücke über den Erafinos. 
Die Pferde riffen den Wagen durch den Fluß, der feine hochgeſchwollenen Wogen, 
unſanft begrüßend, zu den Inſaſſen hereinſpritzte. 

Je näher wir aber nunmehr der Stadt des Inachos kamen, um jo mehr 
fing an der abenteuernde Leihtfinn uns zu bedrüden, mit dem wir auf der 
Landftraße dahin fuhren. Wie wird e8 uns in Argos ergehen? Wo erden 
wir in diefer Nacht die Häupter niederlegen? Daß dieje Stadt, die zwar nicht 
mehr, wie zu des Paujanias Zeiten, unter die reichften und blühendften in 
Griechenland gerechnet werden kann, aber doch mehr ala 10,000 Einwohner zählt, 
eine Gafthaufes für europäifche Reifende entbehrt, wußten wir. Ein joldhes 
hatten wir auch auf der jeitherigen Wanderung durd) den Peloponnes nirgends 
erlebt; aber dafür war uns überall hilfreiche Gaftfreundichaft zu Theil geworden 
in Häufern, denen wir durch gute Freunde empfohlen waren. Das hatte uns 
die Reife möglich gemacht ohne einen Dragoman oder Reiſemarſchall, ohne einen 
umſtändlichen Apparat von Reijegeräthichaften mit uns zu führen, als da find: 
Bettgeftelle und Matragen, Zelte, Teppiche, Koch und Kochgeſchirre nebft 
energiichen Proviantvorräthen; Alles Dinge, die mitzuführen für Denjenigen 
unerläßlich ift, der fich zum Uebernachten in den leerftehenden Khanis einrichten 
muß. Doc hier in Argos waren unfere Empfehlungsbriefe zu Ende. Wir 
fonnten nirgends um ein gaſtliches Dad) anflopfen. Unfere einzige zweifelhafte 
Hoffnung war der „luftige Agamemnon“. Mit dem ehrwürdigen Namen des 
Atriden ift nämlich ein zapeveior, eine Art Kaffeehaus, geſchmückt, und darauf 
waren wir verwieſen worden, al3 der Plan zu unferer Reife feftgeftellt wurde. 
„Sch ſelbſt,“ ſagte Dr. Hirichfeldt in der Bella Venezia zu Korfu, „bin einmal 
im luftigen Agamemnon über Nacht geweſen; es ift eine elende Herberge, aber 
am Ende beffer al3 gar feine, und wenn Sie glücklich einmal jo weit gekommen 
find, wird Ihnen Ihr Stern ja wol auch weiterhelfen. Im ſchlimmſten Fall 
bleibt Ihnen immer noch der Rüdzug auf Nauplia offen.” 

Das war der ganze Troſt, der ſich unjeren beflommenen Betrachtungen bei- 
miſchte, als wir, zur Linken die hohe Felsburg der Larifa, in die Stadt ein- 
fuhren. Die Straßen find breit, und die Häufer, von der Bazarſtraße abgejehen, 
meiftens in weiten Abftänden gebaut, von Gärten umgeben, in denen häufig 
Cypreſſen und andere Bäume ftehen. Der Anblid wäre freundlich genug, wenn 
nicht die Häufer ſelbſt von höchſt ärmlicher Beichaffenheit wären, jo daß man 
eher in einem großen Dorf als in einer der berühmteiten Städte von Hellas 


218 Deutſche Rundſchau. 


ſich zu befinden vermeint. Die Straßen waren aber ſehr belebt, in Feiertags— 
gewändern ſtanden die Argeier in dichten Gruppen umher, denn heute war der 
6. April, den die Griechen als Jahrestag des Anfangs ihres Befreiungskampfes 
feiern, und die Gruppen wurden immer dichter, als wir in der Mitte der Stadt 
angefommen waren und der Wagen jebt vor dem Haufe hielt, das die Aufſchrift 
trug: zugereiov 6 Ayauduvom. 

Schon das Aeußere verrieth wenig Gutes und ſtimmte die Hoffnungen be- 
trächtlidy herab. Petros, der Dolmetich, jprang eilig vom Bock, und ihm gefellte 
fih Einer der Reifegefährten; diefe Beiden follten auf Kundſchaft ausgehen, in= 
deffen die Anderen vorläufig im Wagen verblieben. Es verftand ſich von jelbft, 
daß alsbald ein Haufe Eingeborener dem Wagen fich näherte, auch wenn nicht 
der jeltene Anblid einer fremden Dame hinzugefommen wäre, die Neugier nod) 
mehr anzureizen. Leider dauerte es nicht lange, jo famen die Beiden wieder 
umderrichteter Dinge zurüd: wegen des Feſttags, ſagten fie, fei das Gafthaus 
völlig bejegt, und in den licht- und Iuftlojen Winkeln, die ſie bei genauer Durch— 
juchung vorgefunden, ſei feine Möglichkeit, die Nacht zuzubringen. Nun drängten 
jih auch die Argeier mit wohlmeinendem Rathe herbei; von ihnen ermuthigt, 
beichlofjen die beiden Sendlinge, von Neuem auf Kundſchaft auszuziehen, während- 
dem die Menge immer ſtärker anſchwoll und enger die Kutſche umdrängte, ge— 
räuſchvoll und mit lebhaften Geberden den ſchwierigen Fall erörternd. Die Lage 
wurde kritiſch, al3 nad) einiger Zeit die Abgefandten abermals mit der Botichaft 
zurückkamen, daß fein Quartier aufzufinden und aud in den Khanis feine 
Möglichkeit einer Unterkunft je. Es mußte nun ernfthaft erwogen werden, ob 
wir nicht doch nad) Nauplia fahren jollten — Navplion, jagen die Griechen — 
oo, wie wir wußten, ein freilich bei der Reiſewelt übel beleumdeter Gafthof ſich 
befindet, zu dem gleichfalls der Vater Iphigeniens feinen Namen hat hergeben 
müſſen, und wohin wir noch überdies einen Empfehlungsbrief an einen Officier 
ber dortigen Garnijon in der Taſche hatten. Aber wir verließen ungern Argos, 
two wir noch nicht einmal das alte Theater gejehen hatten. In diefem bedent- 
lien Augenblid jahen wir einen würdigen älteren Herrn in fränkiſcher Kleidung 
auf die Menge zufchreiten, die ehrerbietig vor ihm zurüdwid. Er erfundigte 
fi mit geftrenger Amtsmiene nad der Urſache des plößlichen Auflaufs. Die 
Antwort wurde ihm aus hundert zufammenjchreienden Kehlen zu Theil. Jetzt 
dem Wagen ſich nähernd, fragte er Petros: „Sind die Fremden Ingleſioi?“ — 
„Es find Germanoi,“ war die Antwort; worauf er ohne weitere Umſtände einen 
uns unverftändlichen Befehl dem Kutjcher ertheilte, neben dem in demſelben 
Augenblid ein Polizeifoldat den Bock beſtieg. „ES ift der Polizeidirector von 
Argos,” flüſterte Petros, als der Wagen fortrolltee Das waren ja recht lieb— 
liche Ausſichten. Sollten wir deutjche Reihsbürger vielleicht al3 Wagabunden 
behandelt twerden und die Frage der Unterkunft auf eine jo einfache als uner- 
wartete Weife ſich für uns löſen? 

Es war uns ein freundlicheres Loos beſchieden. Der Polizeidirector, anftatt 
es übel mit uns zu meinen, hatte in angeborenem helleniihem Sinn für Gaft- 
freundſchaft unjerer Hilflofigkeit fid) erbarmt und uns in feine Wohnung ein- 
geladen. Die Fremdlinge jollten wiſſen, daß fie auf griehiichem Boden ſich be- 


Aus Griechenland. 219 


finden, two die Uebung der Gajtfreundichaft als eine jelbftverftändliche Pflicht 
gilt. Sein Sohn lief neben dem Wagen her, um uns jofort in der Wohnung 
zu empfangen, bi3 fein Vater nachgekommen wäre. Als diejer kurz darauf jelber 
anlangte, war jein Erftes, daß er ſich entſchuldigte, uns Nichts weiter bieten zu 
fünnen, al3 Dach und Fach. Er jei erſt feit wenigen Wochen in Argos, und 
jeine Familie befinde fich nebft dem gefammten Hausrath noch in Athen. Er 
jei genöthigt, mit feinem Sohne und dem Diener Dimitri, jenem Polizeijoldaten, 
inzwiſchen ein Junggejellenleben zu führen. Durch diefe Mittheilungen wurden 
wir auf’3 Neue in Spannung verjegt, auf welche Weile unjer Nachtlager in 
dem, wie wir und nur allzu deutlich überzeugten, faft leeren Haufe ſich geftalten 
werde. 

Das Haus war freundlich außerhalb der Stadt gelegen, an der Straße 
nad Tiryns und Nauplia. Ein Garten umgab es, und gegenüber waren gleich- 
fal3 Gärten, deren Mauern von einzelnen Cypreſſen überragt wurden, und 
über die man nad) der Burg von Hohenargos ſah. Die Straße nad Nauplia 
hat vermuthlich ſchon im Altertum diefelbe Richtung eingeſchlagen, und jo be— 
fanden wir und ohne Zweifel nahe der Hiftoriichen Stelle, wo Pyrrhos, der 
König von Epiros, elend fein Leben verlor. Es war in dem Kriege, den diejer 
Sprößling aus dem Haufe de3 Achilleus mit dem König Antigonos von Makedonien 
führte, weil diefer ihm in dem Krieg mit den Römern nicht beigeftanden mar. 
Das Heer des Antigonos ftand in Argos, Pyrrhos hatte jein Lager bei Nauplia. 
Von da brach er in nächtlicher Weile auf, drang durch das ſchlecht bewachte 
Thor unbemerkt ein, doch in der Stadt jelbft Fam e3 zu einem erbitterten 
Kampfe, in der engen Straße ftocte das Kriegsvolk und konnte mit feinen un- 
behilflichen Elephanten nicht mehr vor- noch rückwärts, und al3 ber König die 
Stadt wieder verlafjen wollte, fand fich unglüclicherweife das Thor durch einen 
geftürzten Elephanten verſperrt. In diefer Verwirrung traf ein Ziegelftein, von 
einem Weibe geworfen, den König zu Tode, auf dem Marktplatz wurde ihm 
ipäter ein Grabdenkmal errichtet, an der Stelle, wo man jeine Leiche verbrannt 
hatte. Das war im Jahre 272 vor Chrifti Geburt. 

Jet ift von Denkmälern des Alterthums einzig das Theater erhalten, und 
wir verloren Feine Zeit, in Begleitung des Gaftfreundes daſſelbe aufzufuchen. 
Diejer war des Italieniſchen etwas mächtig, doch blieb er auffallend wortkarg, 
und aus einigen hingeworfenen Aeußerungen war abzunehmen, daß politifches 
Mißvergnügen, an dem wir freilich unjchuldig waren, ihn des Aufenthalts in 
Argos nicht froh werden lief. Er war nämlih al3 Anhänger des geftürzten 
Minifteriums Bulgaris von Athen hierher verjeßt worden, und deutete jeufzend 
an, daß e3 feine Kleinigkeit jet, aus der Hauptftadt nach der Provinz, vom 
Kephiſos an den Inachos verpflanzt zu werden, was auch wir theilnehmend zu 
begreifen verficherten, obgleich unfer Sinn jet weit mehr nach den Ueberreſten 
des alten Theater gerichtet war. 

Diefe befinden fih am füdöftlichen Abhang der Lariſa, unweit der Stelle, 
wo fir, von den Mühlen fommend, die Stadt betreten hatten. Man bemerkt 
ion aus geraumer Entfernung da3 weite Halbrund mit den tohlerhaltenen 
Steinfigen. Um den Raum für bdaffelbe zu gewinnen, ift nicht blps in ben 


220 Deutiche Rundſchau. 


Burgfelſen hineingegraben worden, jondern die Stufen jelbjt find aus dem natür= 
lichen Fels gehauen, und an den Rändern verlieren fie fid) dermaßen in das 
unbearbeitete Geftein, daß man vor einem Werk der Natur eher denn der Kunft 
zu ftehen vermeint. Man zählt ungefähr 70 folder Sikreihen übereinander, 
deren regelmäßige Folge zwei Mal durch einen breiteren Umgang unterbrodgen 
ift, fo daß von unten nad) oben drei Abtheilungen von einander ſich jondern. 
Die oberften Sibreihen ‚waren ohne Zweifel die am mindeften geachteten; dafür 
genofjen fie aber am beften und freieften die Herrliche Ausficht, welche von 
diefem Theater fi) ausbreitet. Denn die Griehen fürdhteten nicht, durch den 
freien Ausblid auf Meer und Gebirg die Aufmerkſamkeit der Zujchauer von der 
Handlung auf der Bühne abzulenken und zu zerjtreuen. Vielmehr jcheint es, 
fie ſahen in der Landihaft, die duch das Scenegebäude nur einem Theil der 
Zuſchauer entzogen war, unter Umftänden eine Verſtärkung, oder vielleiht auch 
eine Milderung der Wirkungen, welche die auf der Bühne vorgeftellten Hand- 
lungen auf die Gemüther ausübten, Welch’ ein Ausblid vom Dionyfiostheater 
in Athen, das, an den Südabhang der Akropolis gelehnt, dem ſaroniſchen Golf 
zugefehrt ift! Doch jelbjt mit ihm konnte jich das Theater von Argos kühnlich 
mefjen,; ja in viel unmittelbarerer Weije ſpielte gerade Hier die von uralten 
Sagen erfüllte Landjchaft zu den dramatiſchen Gebilden mit, in welchen eben 
diefe Sagen in immer neuer Geftalt den wechſelnden Gejchlechtern lebendig 
blieben. Niemals hat e8 ein Theater gegeben, das in eine jo beziehungsreiche 
Umgebung gejtellt war. So weit von den oberften Stufen das Auge reichte, 
ein Kranz uralter Ueberlieferungen, die in verflärter Geftalt über die Bühne 
gingen. Ringsum die ftummen, doc) eindrudsvollen Zeugen zu den Worten der 
Dichtung. Wenn des Aeſchylos „Schußflehende” dargeftellt wurden — dort 
unten jehimmerte der Strand, wo Danaos mit feinen verfolgten Töchtern lan- 
dete; der Weg, den fie von der Hüfte zur Stadt einjchlugen, lag unmittelbar zu 
Füßen des Theaters. Dort begegnete ihnen der König von Argos und verhieß 
den Fremden feinen Schuß; dort war der heilige Hain, wo fie vor den Ver— 
folgern fih bargen und in feierlihem Gelange dem Volk von Argos Heil und 
Segen wünjchten, und wenn Danaos auf das Meer hinausdeutete, wo die Flotte 
der Verfolger nahte, jo folgten die Augen Aller nad) derjelben Stelle des 
Meeres, jo daß die Worte des Dichterd und der Anblick der natürlichen Scene 
zu Einer Wirkung zufammenfloffen. Wenn die Jrrfahrten der Jo, die Leiden 
der Dana, wenn die Thaten des Bellerophontes und des Herakles über die 
Bühne gingen — hier redete die ganze Gegend von ihnen, hier war die Hei- 
math aller jener Sagen; wenige Schritte vom Theater zeigte man die eherne 
Kammer, in der Akriſios feine Tochter Danaë gefangen hielt, und von jenjeits 
der Ebene glänzten die Trümmer der Burg von Tiryns herüber, wo Herafles 
der Altmene, der Enkelin de3 Perſeus, geboren war. Und vollends, wenn Die 
großen Tragödien vom Atridenhaus aufgeführt wurden, jo ſchien die Bühne von 
jelbft bis zum weiten Halbfreis des Gebirgs ſich auszudehnen. Dort war das 
Heraion, der Bundestempel, in welchem Agamemnon von den verbündeten 
Fürſten zum troiſchen Heereszuge ſich Treue ſchwören ließ. Wenn der Wächter 
Klytämneſtra's des Zeichens anſichtig wurde, das aus der Ebene des Skamandros 


Aus Griechenland. 921 


von Höhe zu Höhe fortgepflanzt, „in ftetem Flammenlaufe jich fortwindend“, 
die endlihe Einnahme von Ilion anzeigte, jo lag der Gipfel des Arachnaion, 
wo die letzte Feuerſäule aufftieg, „die Leuchte dumkler Nacht, die hellen Tags 
Lichtglanz verkündigt umd in Argos weit umher Fyeftreigen aufweckt“, gerade den 
Zuſchauern gegenüber. Und wenn die letzten Gräuel des Atridenhauſes vorgeftellt 
wurden, jo mußten die Blicke der Zuſchauer unwillkürlich zur Linken ſich richten, 
nad) jenem unheimlichen Winkel im Gebirg, wo Mykenä längft in Trümmern lag, 
da3 den Griechen doch wol auch darum eine verjchollene und gemiedene, ja 
faum mehr genannte Stätte war, weil der Name ſchon die Erinnerung an ent- 
jegliche Frevel und Blutgerichte aufweckte, teil es ein von den Göttern gezeich- 
neter Ort war: 

Mord hauchen diefe Mauern, blutumtrieften Morb, 

63 fteigen Moderbünfte wie von Gräbern auf. 

Die Stufen des Theater? waren im Schutt der Jahrhunderte begraben 
und find erft in neueren Zeiten twieder aufgededit worden. Als Kapodiftrias im 
Auli 1829 die exfte helleniſche Nationalverfammlung berief, wählte man zum 
Berfammlungsort das alte Theater von Argos, deſſen Stufen zu diefem Zwecke 
bloßgelegt wurden. Unten war eine Art von Saal erbaut, auf den Stufen 
aber ſaßen die Zujchauer, die Augen auf die mit friſchen Lorbeern geſchmückten 
Helden des Landes gerichtet. Argos war ſchon in ber römischen Kaiſerzeit der 
Sit des Landtags der Panhellenen geweſen. Jetzt ſchien e3 ein bejonders 
erhebendes Schaufpiel, die Kolofotronis und Mauromidhalis, und wie fie alle 
hießen, im Angeficht des Volks, unter freiem Himmel und an jo gemweihter 
Stätte tagen und das neue Vaterland begründen zu jehen. Freilich wird gerade 
von dieſer Verfammlung, deren fich der ehrgeizige Präfident ganz als feines 
Spielzeug bediente, wenig Rühmliches berichtet, auch war die Stätte eines 
Theaterd vielleiht nicht ganz vorfichtig gewählt, und man hat e8 Ipäterhin für 
eriprieglicher gehalten, die Volfövertretung von einem Schauplaß zu ent- 
fernen, der mit der Zeit doch auch die bedenkliche Erinnerung an die jpöttifchen 
Dichtungen des Ariftophanes hätte wachrufen können. 

Vor dem Theater fteht in geringer Entfernung die hohe Ruine eine Bad- 
fteingebäudes, deſſen dunfle, braunrothe Farbe Träftig von der Umgebung ſich 
abhebt und plößlih ein Stüd römiſcher Campagna in diefe Gegend zaubert. 
Mit feinen Tonnengewölben und Niſchen gehört es fichtlich einer jpäteren Zeit 
an; e8 war wol ein römilches Bad. Im Uebrigen find die Alterthümer von 
Argos nahe beieinander. Nördli vom Theater, am Fuß der Larifa hin, ift 
eine Strede kyklopiſchen Mauerwerks erhalten, und ebenjo find auf der Höhe 
des Felſens die mittelalterlihen Mauern der inneren Burg auf kyklopiſche Werke 
aufgelegt. Das ift Alles. Keine Stadt war einftens reicher an Tempeln, 
Heiligthümern, Bildjäulen und Reliquien aller Art, die bis in die heroiſche Zeit 
hinaufreihten. Zeigte man doch hier noch dem Paufaniad da8 Denkmal des 
Prometheus und das Grab ſeines Bruders Epimetheus, den Schwurort der 
Sieben, die gegen Theben zogen, und die Erzbilder diejer fieben Fürften, ein 
GSteinbild, das die Fromme That der Brüder Mleobis und Biton darftellte, die 
Grabmäler der Könige Danaos und Pelasgos, das Ehrenmal für die vor den 


299 Deutiche Rundſchau. 


Mauern Ilions und auf der Rückkehr umgelommenen Argeier, jelbit den Erd— 
hügel, der das von Perjeus abgeichlagene Haupt der Gorgo Medufa bededtte, 
und das Grab der Frauen, die den Dionyſos auf jeinem Siegeszug von ben 
Injeln des ägätjchen Meeres nach Argo3 begleiteten. Solche und andere Merk— 
würdigfeiten ſah Pauſanias, der aber freilich zu diefem Reichthum ar Gegen- 
ftänden frommer Verehrung zweifelnd den Kopf jchüttelt und verfichert, auch die 
Fremdenführer jeien jich wol bewußt, daß fie nicht Alles der Wahrheit gemäß 
erzählen: „indeilen erzählen fie e8 doch; denn es ift nicht jo leicht, die Menge 
von dem Gegentheil deſſen, was fie glaubt, zu überzeugen.” Jetzt ift ſowol von 
diejen Sehenswürdigfeiten, als von den zahllofen Tempeln und Götterbildern, 
den Werfen des Prariteles und Skopas, des Polyfleitos und Lyſippos, feine 
Spur mehr vorhanden. Die Stadt und ihr Name haben ſich zwar durch die 
Jahrtaufende erhalten. Aber ſeitdem fie, im Jahre 267 nad Chriftus, durch 
Gothen und Heruler zum erften Mal in Ajche ſank, ift ihr dieſes Scidjal 
tieder und wieder, umd noch in den Freiheitskriegen mehr als einmal begegnet. 
Was jet auf der tiefen Schuttdede erbaut ift, hat Nicht3 mehr gemein mit der 
Stadt des Inachos oder des Pheidon; weder die Römerzeit noch das Mittel- 
alter hat Denkmäler zurücgelaffen, in den Straßen ſucht man vergebens irgend 
eine Spur früherer Epochen. 

E3 war Dämmerung geworden, al3 wir nad Haufe zurüdkehrten. Die 
Plätze und Hauptjtraßen zeigten zu Ehren de3 Feſtes wohlgemeinte Verſuche 
einer Beleuchtung. In den Schenken und vor denjelben wimmelte e8 von feſt— 
freudigen Argeiern, und bei dem Panagienklofter, das auf halber Höhe der Burg, 
der Stadt zugefehrt und weithin fihtbar, auf einem kecken Felsvorſprung erbaut 
ift, begann man eben ein Feuerwerk abzubrennen. 

Wir waren mit der Hoffnung zurückgekehrt, uns nun bei einem Mahle 
gütlich zu thun; allein dieſer Abficht ftellte fi) ein unvermuthetes Hindernif 
entgegen. Petros theilte uns mit, daß der Gaftfreund in Ermangelung jeines 
Haushaltes ſich genöthigt jehe, uns gänzlich jelbft zu überlaffen, wie wir unfere 
Mahlzeit uns zu beſchaffen und einzurichten gedächten. Zum Glüd wurde uns 
Dimitri, jener graubärtige Polizeiſoldat, zur Verfügung geftellt, der, ein Veteran 
aus dem Unabhängigkeitskrieg, mit militärifcher Geradheit an der Thür ftand, 
unferer Befehle getwärtig, die er mit untertwürfigem Ernſte entgegennahm. Petros 
wurde mit ihm ausgejandt, um jchleunig die nothwendigjten Erfordernifje einer 
Mahlzeit einzufaufen, und Frau Emma, die deutiche Hausfrau, wibderftand nur 
ſchwer der Verſuchung, dieje Erpedition als Sachverſtändige zu begleiten, um 
etwaige Erfahrungen über den Wochenmarkt der Argeier einzufammeln. Da nun 
aud der Polizeidirector als feinen Beitrag zu dem gemeinfamen Mahle den 
Nachtiſch lieferte, jo geftaltete ji) das Ganze zu einer Art von Pidnid, und 
diefer Umftand ermuthigte unvorfichtigerweije die Fremdlinge, ihre einheimiiche 
Sitte, wonach die vornehmften Ehren und Pflichten bei Tiſche den Damen zu- 
fallen, nad Argos zu übertragen. Wir merften aber an dem dunkelrothen 
Haupt und den gefräntten Mienen des Gaftfreundes bald, daß wir und gegen 
die Landesfitte gröblich verfündigt hatten, und mußten uns nun gefallen laſſen, 
daß derjelbe mit verboppelter Energie jeines Amtes waltete, das er ſich nicht 


Aus Griechenland. 223 


entreißen ließ, ja mit leidenſchaftlichem Eifer ausſchöpfte und auf unjere Teller 
goß, welche Beihäftigung ihm denn auch bald das geftörte Gleichgewicht de3 
Gemüths mwiederheritellte. Noch viel erftaunlicher aber war die Energie, die er 
entjaltete, jobald die Mahlzeit glüdlich beendigt war. Denn nun entledigte ex 
ich plötzlich ſeines Rockes und begann ſchweigend, mit wüthender Geſchäftigkeit, 
von dem Sohne unterſtützt, die Nachtlager zu bereiten. Er ſchleppte Teppiche 
herbei, die in der Nachbarſchaft zuſammengeholt waren, trug auf ſeinen mäch— 
tigen Schultern ein hölzernes Bettgeſtelle, Bretter, Matratzen, Polſter von einem 
Raum zum anderen, wobei er jede anderweitige Unterftüung jchroff zurückwies, 
und konnte in Kurzem die Rejultate jeines Schweißes und zur Benützung an- 
weiſen: für den einen Theil der Gejellihaft hatte er feine eigene Bettftelle her- 
gerichtet, für die Anderen waren in dem Zimmer, wo wir geipeift hatten, 
Teppiche auf den Boden gebreitet. Er überſchaute noch einmal jein Werk, ſchien 
zufrieden, dann verließ er mit feinem getreuen Dimitri da3 Haus, da, wie er 
fagte, die Unruhe der Feſtnacht ihn noch zu einem amtlichen Gange durch die 
Straßen nöthige. Bon der Burg fliegen eben die letzten Raketen über der 
Inachosebene auf. 

Die Annehmlichkeit einer Fahrſtraße, die wir von Tripolitza an genofien 
hatten, war ſchon in Argos wieder zu Ende. Um nad Korinth zu gelangen, 
mußten wiederum Reitpferde gemiethet werben, die uns der dienfteifrige Dimitri 
bejorgte. Auch in Argos aber ift der europäiſche Sattel von Lederzeug, ijt 
Steigbügel, Zaum, Zügel, kurz die ganze europäiſche Aufſchirrung des Pferdes 
ein unbefanntes Ding, und als am Morgen die Rofje vor die Wohnung des 
Tolizeidirectord gebradht wurden, jahen wir mit Seufzen voraus, daß und noch 
zwei harte Reittage bevorftanden, nicht wegen der Entfernungen, jondern wegen 
de3 harten Sites, der uns in der landesüblichen Weije zubereitet war. Als 
Sattel war nämlich wieder der Samari aufgefchnallt, das hölzerne Ungeheuer 
mit feiner breiten, ambarmherzigen Fläche und den jcharfen Rändern, die nur 
durch die übergelegten Teppiche zur Erträglichkeit abgemildert waren. Und 
wieder verjah ein elendes Stridihen die Stelle des Zügels, während ein anderer 
Strid, kunſtlos zur Schleife geknüpft, als Steiabügel diente. Der Polizeidirector 
ließ aber die Thiere, nachdem fie unſere Reijegeräthichaften aufgenommen hatten, 
vor das mykeniſche Thor führen. Dort jollten fie und erwarten. Er ſelbſt lud 
jeine Gäfte noch zu einem archäologiſchen Gang durd) die Stadt ein, um ihnen 
etliche tweriger befannte Schäße zu zeigen. 

Er führte uns zu einem freundlichen Pla mit Bäumen inmitten der Stadt, 
an welchem das Gerichtsgebäude fteht. Im Hof defjelben lagen zahlreiche Meber- 
tefte von Tempeln, Säulenftücde, Architrave; von Sculpturen aber nur eine vier- 
eckige Platte mit dem Relief eine weiblichen Kopfes. Er ift gut gearbeitet, das 
Geficht ganz nad) vorn gerichtet, die Augen weit geöffnet, über die Stirn läuft 
eine MWellenlinie zur Andeutung des Haar, und an Stelle der Ohren ſitzen zivei 
Schlangen, die fi) erft nach unten, dann twieder nach oben zurüd richten. 63 
war aljo wol ein Gorgohaupt, wobei und wieder einfiel, daß Argos die Grab- 
jtätte fire das von Perjeus abgeichlagene Medufenhaupt in jeinen Mauern ver- 


224 Deutiche Rundſchau. 


ehrte. Dann betraten wir auch das Innere des Yuftizpalaftes und jchritten 
durch die Amtszimmer, obwol die Herren Mreisrichter, Referendarien und Ge- 
richtsſchreiber bereit3 fleißig über den Acten ſaßen. Das hinterfte Zimmer diente 
zugleich al3 Antiquitätencabinet. In den Eden waren xohere und umfang- 
reichere Weberrefte der alten Kunſt untergebracht, Anderes wieder lag oben auf 
den Regiftraturfäften, wo der alterthümliche Roft des Marmord mit einem 
dichten, melancholifchen Actenftaube ſich verſchmolz. Die werthvolleren Refte 
aber waren in dem Fach eines Kaftens untergebradt, der im Uebrigen mit 
Handbüchern und Actenfascikeln angefüllt war. Es machte einen erbarmungs— 
würdigen Eindrud, als wir hier eine etiva einen halben Meter große Venus 
von Milo Liegen ſahen, „die Göttin im Gefängniß“, noch dazu mit abgejchla- 
genem Kopfe; doch milderte fi unſer Mitgefühl, ala wir jahen, daß es eine 
ziemlich jchlechte Copie aus jpätrömifcher Zeit war, in welcher die edlen Glieder 
gefallſüchtig entftellt und aus der Göttin jchier eine Tänzerin getvorden war. 
Anderes war aber aus guter Zeit, jo namentlich ein ſchöner Löwenkopf, der als 
Waflerjpeier diente und der, wie andere Fragmente, von einem Heretempel her— 
rühren follte; ich weiß nicht, ob von dem, der auf dem Marftplat der alten 
Stadt ftand, oder von dem der Hera Akraia am Abſturz der Larifa, two jeht 
das Panagienklofter ſich befindet. Auch zierliche Terracotten, Lampen, Heine 
Erzfiguren lagen in diefem Heiligthum der Themis durcheinander. In der Ge- 
richtsſtube ſelbſt aber jah es nicht viel anders aus, denn in denen der Heimath. 
Die aufgethürmten Prozekacten glichen genau den unjrigen, nur daß fie in der 
Sprache Homer’3 verfaßt waren. Auch die Atmofphäre war die gleiche, und 
obmwol nicht mehr ein Bild des Othon Baftlevs, jondern das jeines Nachfolgers 
Georgios die Hauptiwand zierte, irrte man wol nicht, wenn man in dieſem 
Naume auf die Nachhaltigkeit der joliden bayriſchen Tradition ſchloß. Nur die 
Höflichkeit der Herren ließ Nichts zu wünſchen übrig. 

Zum Abjchiede gab una der Gaftfreund noch einen Troſt mit auf den Weg, 
der und faft in Beſtürzung verjeßte Er jagte nämlih, daß auf dem Wege 
nad Korinth ſich zuweilen unnüßes Gefindel herumtreibe, das uns läſtig werden 
fönnte. Sollte und aber von ſolchen Nebelthätern oder aud) von unjeren Pferde: 
führern Unangenehmes3 begegnen, fügte er hinzu, jo möchten wir nur vertrauens— 
voll ihm, dem Polizeidirector, telegraphiren, tworauf uns fein mächtiger Schub 
nicht fehlen werde. Glüdlicherweile kamen wir jedoch nicht in die Lage, von 
feinem gütigen Anerbieten Gebrauch zu machen. E3 fcheint nicht, daß e3 ums 
viel von Nuten gewejen wäre. Denn wir bemerkten zwar auf dem Wege nad) 
Korinth beitändig neben un3 die beruhigenden Stangen und Drähte, gelangten 
aber nirgends an einen Ort, wo wir die Möglichkeit erſahen, ein telegraphiiches 
Hilfsgeſuch nad) Argos aufzugeben. 

Am Ende einer langgeftredten Straße erwarteten uns die Pferde. Dankbar 
verabjchiedeten wir uns von dem Gajtfreund und jchlugen nun unferen Weg 
nordwärt3 mitten durch die Ebene ein. Ein Rundkranz von Bergen umgab 
ung; denn auch nach Süden rüdten die Vorgebirge der Kynuria von der einen Seite 
und von der anderen die Felſen von Nauplia fo nahe zuſammen, dab nur wenig 
zur Vollendung de3 Ringes fehlte. Dieje Ausficht nad) dem Golf mit den viel- 


Aus Griechenland. 225 


zadigen Bergen, von denen er eingerahmt ift, that fi immer herrlicher auf, 
je weiter wir uns entfernten, jo daß ſich, jo weit dies bei der Verpackung auf 
den Samarijätteln mögli war, die Blide gern nad) rückwärts wandten. Aber 
auch nad) vorwärts feſſelten das Auge noch eine gute Strede die feinen Formen 
de3 Berges Apejas, der über den Treton herüberjehend noch den ganzen unteren 
Theil der Ebene beherrſcht. Dieje jelbft ift einföürmig Bäume find nicht zu 
jehen, und aud die Anpflanzung mit Gerfte und mit Taback bot zu diejer 
Jahreszeit noch wenig Grün. Der Himmel war leicht bededt, doch ſchwirrten 
muntere Lerchen in die Höhe, durch die jungen Fruchthalme hüpften Wachteln, 
auch auf den Telegraphendraht hatten ſich hie und da Vögel gejeßt, die ſich ernſt— 
haft die Karawane bejahen. Näher dem Gebirge freiften mächtige Adler, zum 
Zeichen, daß wir uns einem alten Königsſitze näherten. 

Nach einer Kleinen Stunde famen wir an den Inachos, der, aus dem Arte— 
mifiongebirge entjpringend, die ganze Ebene von Nord nad) Süd durchflieht, 
oder vielmehr in unvordenklichen Zeiten durchfloffen hat. Denn ſchon den 
Griechen war er nur al3 vertrodneter Fluß befannt, und fie erzählen, daß, als 
die älteften Landeskönige in dem Streite zwiſchen Pofeidon und Here das Land 
der letzteren zujpradhen, der Meergott aus Race den Flüſſen der Ebene das 
Waſſer entzogen habe. Selbft zu diejer Zeit, im Frühjahre, bezeichnete feinen 
Lauf nur ein leeres Kiesbett. 

Jetzt traten die Berge der Oftfeite näher und näher. Es war aber ein 
unerfreuliher Anblick; fie find kahl und ftellten ji) nocd immer wie eine zu= 
jammenhängende unbelebte Steinmafjfe dar. Wir erkannten wol die Trümmer 
des Heraion, des älteſten LandesheiligtHums, am nahen Abhang; als uns aber 
die Führer au) die Stelle von Mykenä zeigen wollten, vermochten wir noch 
Nichts aus der einfürmigen Gebirgswand zu unterjcheiden. Erſt ala wir in 
die Nähe des Dorfes Charvati gelangten, jchien es, als ob ſich die Bergwand zu 
unjerer Rechten mit einem Male außeinanderihöbe: zwei unförmliche brüderliche 
Gipfel ſchießen aus gemeinjamer Wurzel von der Ebene auf, zwijchen ihnen tritt 
in halber Höhe ein Hügel vor, der an der Rückſeite, gleihjam an den Haupt- 
famm angewachſen, frei nach vorn herausipringt und in Terraſſen zur Ebene 
niederfteigt. Eben diejer Hügel, der jelbjt wieder mannigfach gegliedert ift, trug 
einft die Stadt und auf jeinem höchften, oftwärt3 gerichteten Aufſatz die Burg 
von Mykenä. Eine tief eingejchnittene alte trennt ihn auf der Süd- wie auf 
der Nordfeite von den zwei mächtigeren Bergen, aus deren Schoß er gleichſam 
hervorquillt. So Halb in den Bergen eingejchloffen, Halb aus ihnen vortretend, 
verborgen und doch zugleich gebietend, beinahe ungejehen und doch die Wege des 
Flachlandes belauernd, Hatte der Hügel eine ganz ungewöhnlich günftige Lage 
für ein Herrengeſchlecht, das die Ebene und zugleich die vom Norden über das 
Gebirge führenden Päſſe beherrihen wollte. Ein Adlerneft ohne Gleichen, das 
an die Bergwand gebaut jchon durch jeine Lage ein weit älteres Zeitalter ver- 
fündigt, al3 die Griechenftädte der geichichtlichen Zeit, die fich auf freiftehenden 
Akropolen erhoben, dann unterhalb dieſer Schußmauern ſich ausbreiteten, um 
noch ſpäter, al3 die Furcht vor Seeräuberei aufhörte, bis an die Hüfte jelbft 
ji) vorzuwagen. 


226 Deutſche Rundſchau. 


Bevor das Dorf Charvati erreicht wird, das bereits am Abhang hinauf 
gebaut iſt, trifft man, noch in der Ebene, einen Khan, und bei dieſem hat eine 
Abtheilung Gensdarmerieſoldaten ihre Station. Gerade die Einwohner von 
Charvati ſind nicht zum beſten beleumundet, weshalb man hier zum Schutz für 
Fremde und Einheimiſche eine Wache aufgepflanzt hat. Die Soldaten ſchienen 
aber von ihren Pflichten wenig in Anſpruch genommen; ſie waren guter Dinge 
und vergnügten ſich in der Morgenſtunde mit Ballwerfen, wobei der Gelehrte 
in unſerer Geſellſchaft, der jederzeit ſeinen Pauſanias aufgeſchlagen hatte, nicht 
verfehlte, uns zu belehren, daß dieſe Begegnung um ſo bemerkenswerther ſei, als 
das erſichtlich bis in die Gegenwart vererbte Discusſpiel gerade in dieſer Gegend 
erfunden worden ſei, und zwar von keinem geringeren, als von König Perſeus, 
dem Gründer von Mykenä. Charvati ſelbſt iſt ein äußerſt ärmliches und 
ſchmutziges Dorf, und wir waren froh, daß wir ohne Aufenthalt unſeren Weg 
fortſetzen konnten, nur daß, als wir die ſteilen Gaſſen aufwärts ritten, eine 
Anzahl freiwilliger Führer unſerer Karawane ſich anſchloß. In nordweſtlicher 
Richtung ſteigt der felſige Pfad in jähen Terraſſen an; nach etwa zehn Minuten 
erreicht man einen Abſatz, ein Kleines Plateau, das fi von Süd nach Nord 
erftreckt. Obwol e3 nur ſchmal ift, muß doch hier der größte Theil ber ehe— 
maligen Unterftadt Mykenä geftanden haben, die Homer einmal „wohlgebaut“, 
ein andermal „breitftraßig” nennt, und die ſich bis unter den eigentlichen Burg- 
hügel hinzog. Jetzt erft konnten wir auch diejen, den jchroffen Felſenaufſatz, 
deutlich wahrnehmen, zufammt dem Mauerwerk, dad bald Höher, bald niedriger 
den jcharfen Rand befrönt. Zwar in der Farbe hätten wir es nicht von dem 
bräunlichen Geftein zu unterjcheiden vermocht, aber jhon von hier gejehen fällt 
die Mauer durch die Größe der einzelnen Werkftüce in die Augen. Das Herz 
pochte ftärfer, und es fam ein feierliches Schweigen über die Reijegefährten, ala 
wir zuerft der kyklopiſchen Mauern anfichtig wurden, die wir jo oft bejchrieben, 
fo oft ſchon in Büchern abgebildet ſahen. Iſt's nicht jo? — eine holde Ver— 
wirrung pflegt fich unjerer Sinne zu bemädhtigen, wenn e3 endlich Wirklichkeit 
wird, wenn wir einer jo uralt geweihten Stätte leibhaftig gegenüberftehen. 
Sin die Erregung des Augenblids mijcht fi) ein Erinnern an die Zeit, in der 
die jugendliche Phantafie ſich zuerft mit diefen Namen erfüllte und jehnjüchtig 
diefen Bildern nachhing. Seht wollte die ganze homeriſche Welt übermäcdhtig 
jih in die Empfindung drängen, und hell Klang in diefem Traume nur immer 
wieder der ftille Jubel: es ift Wirklichkeit, da ftehen fie, die Mauern von Aga— 
memnon’3 Palaft, feftgefügt und ungerftörbar heute wie vor dreitaufend Jahren! 

Seht aber hält uns zunächſt ein anderes, nicht minder ehriwürdiges Baus 
dentmal jet. In der Mitte des Langgeftredten Plateau's, an deifen öſtlichem 
Abhange wir fortreiten, erhebt fi) vor uns ein mäßiger Erdaufiwurf, unicheinbar; 
man würde arglos vorüberreiten, wenn nicht, jobald man an die Dftieite des- 
jelben gelangt ift, plößlicd) der Hügel fich öffnete und durch einen Funftvollen 
Eingang in fein Inneres blicken ließe. Es ift das jogenannte Schaßhaus des 
Atreus oder, wie der Volksmund es heute benennt, das Grabmal des Aga— 
memnon. Gin Thorweg, der unbededt in regelmäßig geihichteten Quadern aus» 
gebaut ift, führt, in den Hügel einjchneidend, auf die geradwinklig abjchließende 


Aus Griechenland. 227 


Eingangsmauer zu, in deren Mitte die Thüröffnung fich befindet. Dieje ift breiter 
an der Baſis und verjüngt fich nad) oben, dadurch verftärkt ſich der Eindrud 
majfiger Gedrungenheit. Ein ungeheurer horizontaler Querbalken ſchließt die 
Oeffnung. Ueber demjelben ift in der Mauer ein hohes Dreieck ausgejpart, 
in der Art, daß die horizontalen Steinlagen nach oben zu immer näher zu— 
jammentreten und zulett ſich jchließen, dicht unter der oberjten Steinlage, die 
vom Erdreich überdeckt ift. innerhalb diejer dreiedigen Lücke hat fi), damit 
dem Ernſten da3 Anmuthige nicht fehle, ein üppiger Feigenbaum angefiedelt, 
dejjen grüne Blätter reizend fich abheben von dem gelblichen Stein, wie von 
dem dunklen Hintergrund des Innenraums. Unregelmäßige Stufen, die höher 
liegen, al3 der urſprüngliche Eingang, führen in das Innere hinab, und nun 
empfängt den Staunenden rings da3 weite, volllommen geſchloſſene Steingewwölbe, 
in das nur vom Eingang her freundliches Licht herabfällt. Hat fich daS Auge 
erit an das nächtige Dämmerlicht getvöhnt, jo wird e3 gewahr, daß da3 Gewölbe 
oder vielmehr der Schein defjelben auf eine jehr einfache und doch höchſt finn- 
reiche Art hergeftellt ift, wie denn auch die Ausführung eine jchon bedeutend 
entwidelte Kunſt verräth. Der ganze Raum war offenbar zuerft ausgegraben 
und freigelegt, um nun jorgfältig ausgemauert zu werden. Auf dem Boden 
wurde zunächft ein freisförmiges Band von mächtigen, regelmäßig behauenen 
Quadern herumgeführt. Ueber diefe wurde eine zweite Schicht von QDuadern 
gelegt, aber fo, dat fie über den Rand der erften Lage nad) innen fich vorftredte, 
der Innenraum ſich aljo verengte, und in diefer Weiſe wurde Schicht über 
Schicht gelegt, jo daß die höhere immer über die untere fich vorjchob, bis zuletzt 
ein Schlußftein auf die noch übrige Deffnung gejegt werden konnte. Weber dem 
Ganzen aber jchüttete man wieder die Exde zu, jo daß nur der Eingang die 
Erijtenz des Innenraumes verriet. Die Rundung wurde vollends dadurch her— 
geftellt, daß die treppenfürmig vorftehenden Eden abgeſchlagen und geglättet 
wurden. Die mächtigen Steine find ohne Mörtelverband an und über einander 
gefügt. Ein ganz gewaltiges Werkftüd von unerhörter Größe (feine Länge wird 
auf 27 Fuß, feine Breite auf 16, feine Höhe auf 31, Fuß angegeben) ift über 
dem Eingang angebracht und entipricht jenem anderen nach außen gefehrten 
Querbalten, der den vorderen Thoreingang überdedt. 

Dom Inneren des Gewölbes führt in nördlicher Richtung, aljo rechts vom 
Eingang, eine vieredige, wiederum nach oben verjüngte Thür in einen Seiten- 
raum, der ganz in den rohen Fyelfen gehauen ift und ein unvegelmäßiges Viered 
bildet. Die Führer zündeten eine Fackel an, um dieſe vollfommen finftere Felſen— 
fammer zu exhellen. Auch erzählten fie, daß der „zugros“ Schliemann, oder, 
wie fie den Namen ausſprechen, Kſliemann, bier Nachgrabungen veranftaltet 
habe, ohne jedoch Anderes als werthloje Terracotten und eine Anzahl Lampen zu 
Tage zu bringen. Schliemann war von feinen wiederholten Bejuchen in den 
Jahren 1869 und 1874 bier den Leuten eine wohlbefannte Perjönlichkeit, und 
fie wußten au), daß derjelbe in Bälde wiederfommen werde, um jeine Nach- 
grabungen in umfaljender Weije wieder aufzunehmen. Dieſe Erzählung hatte 
eine unerwartete Folge: fie verjeßte den guten Petros, unfern Dolmetſch, in nicht 
geringe Aufregung. Plöglih überfam ihn eine unbezwingbare Luft, in die ruhm— 


228 Deutihe Rundſchau. 


volle Reihe der archäologiſchen Schafgräber einzutreten. Warum jollte er nicht jo 
gut graben und finden können, als ein Anderer? Freilich, waren die Werkzeuge, 
mit denen ex ben Boden aufzufchürfen begann, mangelhaft genug und verjpradhen 
dem improvifirten Unternehmen wenig Erfolg. Allein auch die Führer und die 
Chawatioten zeigten fi mit einem Male von leidenichaftlidem Eifer erfüllt 
und halfen nad; Kräften zu dem quten Werke. Im zu leuchten, rafften fie von 
draußen eilig dürres Grad und Reißig zufammen und zündeten es an, was aber 
alsbald den Raum dermaßen mit Rauch erfüllte, daß wir umfererfeit3, auf 
Ruhm und Gewinn verzichtend, ſchleunig die Flucht ergriffen. Petro3 aber blieb 
ausdauernd an der Arbeit und ruhte nit, bis er uns etliche Scherben, dazu 
auch eine türkiiche Pfeife, als das Ergebniß feiner Nachforſchungen vorweiſen 
fonnte, Er jelbjt jchien befriedigt, minder waren e3 die Albanejen des Dorfes, 
die ungern die Hoffnung auf goldene Schäße fahren ließen und erft mit Er- 
löfchen de3 letzten Spans wieder zum Tageslidht kamen. 

Was der Zweck und die Bedeutung diefes und ähnlicher unterirdiicher Ge— 
wölbe aus der heroiſchen Zeit war? Gewißheit darüber läßt ji, da fie heute 
vollfommen leer find, ſchwer gewinnen. DBielleiht kommen noch weitere Schlie- 
mann'ſche Funde den Vermuthungen zu Hilfe. Die Meberlieferung des Alter: 
thums erflärte fie für Schatzhäuſer; andererjeit3 legt die Analogie verwandter 
Bauten die Deutung nahe, daß es Grabdenktmäler, königliche Todtenfammern 
waren. Seht ift die vorherrichende Anficht die, daß fie jowol das Cine, als 
das Andere waren: der Kleinere Seitenraum nämlid die Grabjtätte eines mäch— 
tigen Königs, während die weite Rundhalle, die vor derjelben ſich aufthut, zur 
Aufnahme der von ihm gejammelten Schäße beftimmt war, insbejondere von 
Waffen, erbeuteten Koftbarkeiten, Trophäen aller Art. Frühere Forſcher haben 
an der Rundivand Nägel und Nägeljpuren aufgefunden, an denen nicht blos 
diefe Prachtftücde aufgehängt worden jein mögen, jondern die, wie man annimmt, 
dazu beftimmt waren, Mtetallplatten, Kupfer oder Bronce, zu tragen, mit denen 
der ganze Innenraum auögelegt war. Dieje Wände warfen, wenn Fackellicht bei 
feierliden Anläffen die Halle erleuchtete, blendenden Widerjchein zurüd, und man 
denft unwillkürlich an die ehernen Prachtgemächer der heroiichen Zeit, deren 
Homer Erwähnung thut; jo wenn ex des Alkinoos Wohnung bejchreibt: 

Denn wie der Sonne Glanz umherftrahlt oder des Mondes, 
Strahlt des hochgefinnten Altinoos ragender Wohnfik. 

Wänd' aus gebiegenem Erz erftredten ſich hierhin und dorthin, 
Tief hinein von der Schwelle, gefimft mit ber Bläue des Stahles. 

Auch das äußere Thor, das jet den nadten Stein zeigt, jcheint urſprünglich 
mit reihem Schmude verjehen gewejen zu fein. Wenigftend hat man vor dem 
Eingang, und zumal in einer nahen, jet verſchwundenen Gapelle eingebaut, 
Stüde von Halbjäulen aus grünem Marmor, die mit jeltjamen Arabesten ges 
ſchmückt find, jowie Tafeln von bunten Marmorarten gefunden, und jchließt 
daraus, daß einft die ganze Vorderſeite de3 Eingangs eine reiche farbige Deco- 
ration getragen habe. Dieje Ueberrefte find jetzt zerftreut; ein Theil ift in’s 
britiſche Muſeum gewandert; fie deuten auf eine in Hellas völlig fremdartige, 
an den Orient erinnernde Kunſtweiſe. 


Aus Griechenland. 229 


Geht man auf jenem ſchmalen Plateau nordwärts weiter, jo gelangt man 
unter die Mauern der Akropolis. Rechts am Wege liegt ein zweiter Erdhügel, 
der gleichfalls einen unterirdiihen Gewölbebau bezeichnet. Der Eingang ift 
deutlich erkennbar, das Innere aber ift eingeftürzt, verfchüttet, und war bis 
dahin unzugänglid. Erſt Schliemann hat neuerdings mühſam ſich den Weg in's 
Innere gebahnt und die Mebereinftimmung des Baues mit dem mohlerhaltenen 
Schatzhaus feftgeftellt. Hat man auch diefen Erdaufwurf hinter fi) und biegt um 
die nordiveftliche Ede de3 Burgfelſens, jo fteht man mit einem Male vor dem 
Haupteingang zur Burg, vor dem berühmten Löwenthor. Heute, wie vor drei 
Jahrtauſenden, bewachen die beiden Schildhalter, hoch aufgeredt, den Zugang zur 
Burg, don der ber Thurmmwächter der Klytämneftra, ſcheu feine eigenen Ge- 
danken zurüchaltend, jagte: 

Das Haus hier jpräcdhe felbft am lauteften, 
Wär’ ihm ein Laut verliehen. 

Jedermann kennt die Umriffe des Löwenthores, zahlreihe Abbildungen 
prägen fie ſchon der Jugend ein. Dennoch wird Niemand diefer Stätte nahe 
treten ohne geheimen Schauer wie vor einer Offenbarung. Das wirkliche 
Größenverhältniß, das erft die Umgebung liefert, die Farben des Gemäuers, des 
Felſengrundes und des Himmels, die Trümmermaſſen, die rings aufgehäuft find, 
der jpärliche Pflanzenſchmuck, die feierliche Einfamkeit, welche die Stätte um- 
gibt, da3 Alles macht doch den Eindrud zu einem völlig neuen. Das ältefte 
Werk der bildenden Kunft auf dem Boden unſeres Welttheild. Das Zeugniß 
einer längft entſchwundenen Epoche, bie den Griechen jelbft zu einer mythiſchen 
geworden war. Ein Denkmal der uralten Verbindung diefer Landſchaft mit dem 
Morgenlande, wie fie in den einheimilhen Sagen fich wiederfpiegelt und durch 
diefe laut redenden Steine erhärtet ift. Noch fieht man in der Ferne den 
Meeresftreifen und die Küfte, an der die Einwanderer aus Aegypten, aus Phö- 
nizien, aus Lydien landeten, die Anfänge des Willens, eine neue Gefittung, 
unermeßliche Schäße und eine fertige Kunftübung mit fich führend. Ein Ueber- 
reft diefer Epoche, ftand Mykenä mit feinen Werken al3 eine fremde Welt mitten 
in Griechenland. Und doch war wieder den Hellenen dur) Sage und Dichtung 
fein Ort vertrauter al3 diefer. Immer wieder wandten ihre Dichter ſich den 
unerjhöpflichen Stoffen zu, welche das Schickſal des einft hier hauſenden Herrfcher- 
geichleht3 darbot. In immer neuen Bearbeitungen bannten fie gleichfam den 
Fluchgeiſt, der an diefen Mauern baftete, indem fie die uralt graufigen Sagen 
in das Licht einer Schönen Menjchlichleit rüdten und in Sühne und Exrlöjung 
ausklingen ließen. Dieje trogigen Mauern erbaute ſich das Gefchlecht, das dafür 
büßen mußte, daß jein Urahn, Tantalos, mit den Göttern wie mit Seines⸗ 
gleichen verkehrt und an Zeus’ Tiſche geſeſſen hatte. 
Erde Grund“. 





Zu et © ZN 
An Strömen ftammverwandten Bluta 7 _ 7 Mrarn N 
Raft ewig fort der dunkle Mord, {| UH 344 


Und netzt ſich neu, wohin er auch fi wäh 
Im Thau des blut’gen Kindermordes. 


Denn in diefen Mauern ſetzte der Bruder dem Bruderd ich det eigenen 


Kinder vor. 
Deutſche Rundſchau. III, 8. 16 







230 Deutſche Rundichau. 


Ha, ſeht ihr jene Kleinen dort am Königshaus 
Gelagert, eitler Träume Nachtgeftalten gleich ? 

Es jcheinen Knaben, die des Freundes Arın erichlug: 
Das Mahl vom eigenen Fleiſche füllt die Fleine Hand; 
Sie tragen jelbit, o graufe, jammerbolle Laft! 

Ihr Herz und Eingeweide, die der Vater af. 

Durch diefe Pforte Jchritt der Atride mit „Mykenä's fampfrüftigem Ge- 
wühl“, um Rache zu nehmen für den Schimpf, den ber troifche Königsjohn dem 
Bruder angethan, im Haufe des Atreus frech den gaftlichen Tiſch entmweihend. 
Durch diefe Pforte Schritt auch Iphigenie, ala fie vom Vater argliftig angelodt, 
durch Hoffnung auf den Ehebund mit dem Peliden getäufcht, in das Lager der 
Fürſten nad) Aulis gerufen wurde, um mit ihrem Herzblute die wilden Stürme 
Thrafia’3 zu bändigen. Und während Agamemnon des Priamos’ Befte den 
Untergang bringt, finnt bier in der Burg das ehebrecherifche Paar auf tückiſche 
Rache: Klytämneftra, weil der Gatte das Kind ihr erichlug, Aegifthos, um zu 
rächen, wa3 Atreu3 an feinem Vater gethan. Und als der Fuß, der die Troer— 
burg zertrat, auf hohem Siegeswagen wieder die Schwelle der Heimath betritt, 
ift ihm ſchon „der Mörderivanne graufer Trug” bereitet. Laut rühmt fich die 
Arge jelber ihrer That: 

Und jo vollzog ich's und verleugn’ es nimmermehr, 

Dat weder Flucht ihm übrig war noch Widerftand. 

Ein endlos lang Gewebe, gleich dem Fiſchernetz, 

Schlang id um ihn, ein reiches Prunkgewand des Leibe. 

Hier in diefer Burg genießt das ſchuldvolle Paar Jahre lang die Früchte 
der Blutthat, die Herrihaft und die ererbten Schätze des Haufe. Die eine 
der Töchter, gerettet von der Göttin, weilt ſehnſüchtig am fernen Strande der 
Barbaren; die andere aber fibt als eine Fremde, Verftoßene im Baterhaufe; 
„verlaſſen, einſam wallt fie, vom Schidjal umbergeftürmt, gleich der klagenden 
Nachtigall, ftet3 den Vater bejammernd,“ und harrt auf die Wiederkehr des 
rächenden Bruderd. Und endlich erjcheint der Erjehnte, 

Der Muttermörber, ber des Vaters Tod vergilt, 
Ein irrer Flüchtling kehrt er heim aus fremden Land, 
Den Götterfluch zu krönen, der dies Haus verfolgt. 
So hat ſich's von Geſchlecht zu Geſchlecht erfüllt: 
Wer fällte, fällt; wieder büßt der Mörder. 
So lange Zeus waltet, waltet dies Gefep. 
Auch Oreſtes büßt feine That: 
Ueber Feſtlands Weiten treibt ihn der Erinnyen Schaar 
In ruhelojer Irre durch die Erbe hin 
Und über Meer und meerumraujchtes Infelland. 

Doch „die Zeit entfündigt Alles und fie jelbft ergraut“. Dem Fluch: 
beladenen ift die Rettung nicht verjagt. Gütige Götter nehmen den Wahnfinn 
bon jeiner Stirn und Tcheuchen die Verfolgerinnen zurüd, Der Fluchgeiſt des 
Hauſes ift endlich verjöhnt, das große Trauerjpiel endigt mit Erlöſung, Wieder- 
jehen, Heimkehr. Die Stürme ſchweigen. Wie Lichtgeftalten heben fich Oreftes, 
Iphigenie, Elektra ab von dem düfteren Hintergrunde ihres Hauſes. Doch auf 


Aus Griechenland. 231 


Mykenä ſelbſt Fällt Fein Strahl mehr von der Gnade der Götter: die milde 
ausflingenden Schlußaccorde find von der Dichtung nad) Delphi, nad Tauris 
und nad dem Hügel de3 Ares zu Athen verlegt. Für die alte Königsburg 
bleibt nur da3 öde Grauen zurüd. Mit der That des Dreftes ift auch Mykenä's 
Rolle ausgejpielt, und während über dem übrigen Hellas der Tag der Geſchichte 
aufgeht, verfintt Mykenä in tiefere Dunkel, zur Sage geworden, wo bie 
griehiihe Geſchichte beginnt. 

Zu dieſer ſchickſalvollen Schwelle des Löwenthors Führt ein ähnlich gebauter 
Thorweg, wie zum Schakhaus. Zur Linken begrenzt ihn, auf den vorjpringenden 
Teljengrund gebaut, die Umfaffungsmauer der Akropolis; an fie ſchließt das 
Thor im rechten Winkel an, und von diefem twieder ſtreckt fich parallel mit der 
Mauer eine Baftion vor, jo daß aljo, wer dem Eingange ſich näherte, in einem 
ausgemauerten Hohlweg jich befand, der von beiden Seiten beſchoſſen werden 
fonnte. Die Werkftücde find durchgängig von mächtiger Größe: fie liegen regel- 
mäßig behauen, in horizontalen Schichten; zuweilen greift ein Stein, um das 
Gefüge noch fefter zu machen, in Geftalt eines Winkelhakens in die nächftfolgende 
Reihe über, offenbar eine Erinnerung an die Art, Holzbalken zufammen zu 
fügen. Die eigentliche Thoröffnung wird durch zwei gewaltige fteinerne Pfoften 
gebildet, die fich nach oben verjüngen und durch einen horizontalen Querbalten 
bedect find. Ueber diejem ift in der Mauer wieder eine hohe dreifeitige Deffnung 
audgejpart, die aber durch eine Steinplatte ausgefüllt ift, welche das berühmte 
Reliefbild trägt. Zwei ſymmetriſch gebildete, ausdrucksvolle Löwinnen find in 
Profilftellung gegen einander gekehrt; ihre ftraffe Haltung deutet auf Wachſamkeit 
und bereiten Kampfesmuth. Die VBordertagen ruhen auf einem altarähnlichen 
Aufſatz, der in drei horizontale Platten fich gliedert, zwiſchen denen noch eine 
Hohlkehle eingejpannt ift. Auf diefem Altar fteht, die beiden Löwinnen trennend, 
eine Säule, die ji) nad) unten verjüngt und die ein Fräftig geformtes, fremd⸗ 
artige8 Gapitäl trägt: über einem an das dorifche Capitäl erinnernden Wulft 
find zwei Platten aufgejeßt, zwiſchen denen eine Reihe von vier Kugeln ange: 
bradt if. Die Köpfe auf den beiden langgeftredten Zeibern hatten die Höhe 
diejes Capitäls; fie hoben aber aus dem Relief in völliger Bildung frei ſich ab 
und waren dem Gintretenden drohend entgegengeftredt. Längſt find die Köpfe 
abgejchlagen, aber die Bedeutung des Schmuds: die Sinnbilder der Stärke be- 
wachen die heilige Schwelle, jpringt noch heute deutlich in die Augen. 

Das Thor war indefjen damals, im April 1876, noch nicht zu paſſiren; wir 
mußten, um auf die Höhe der Burg zu gelangen, neben demfelben aufwärts Klettern. 
Die Zufahrt lag mit wüften Trümmermaſſen bedeckt, die nun Schliemann hat bei 
Seite ſchaffen laffen, jo daß der alte Fußboden wieder blosgelegt wurde und 
zum erften Male nad Jahrtauſenden der Durchgang wieder benußt werden 
konnte. In der Nähe des Thors, aljo im vorderen Theile des inneren Burg» 
raum, fließen wir auf eine große Anzahl gegrabener Löcher, die von Schlie— 
mann’3 Anweſenheit im Jahre 1874 herrührten, und die nun der Fortſetzung 
der Arbeit harrten. Es waren Schachte, die eben für einen einzelnen Arbeiter 
Raum boten. Man hatte fie aber zum Theil wieder zugeſchüttet, wahrjcheinlich, 
damit nicht in Schliemann’3 Abweſenheit vorzeitige Funde aufgededt würden. 

16* 


232 Deutiche Rundſchau. 


Daß er hier die Gräber de3 Königshauſes finden würde, war Schliemann feſt 
überzeugt, und fein merkwürdiger Spürfinn ift auch in diefem Falle auf einer 
richtigen Fährte geweſen: hier hat er innerhalb eines kreisförmigen Baues fünf 
Gräber blosgelegt. Sie waren durch Steinplatten bezeichnet, die zum Theil 
Reliefbilder trugen; in einigen fanden ſich noch die. bier beigeleßten Leichname 
vor, deren einer um feiner jeltenen Größe und guten Erhaltung willen ihm 
würdig fchien, feinem Geringeren al3 dem weitherrſchenden König Agamemnon 
felbft anzugehören: ein naiver Ausbruch berechtigter Finderfreude, der bei dem= 
jenigen nit überraſchen kann, der vor acht Jahren auf Ithaka in den lleber- 
reften der angeblichen Königsburg eine Anzahl kleiner, mit Ajche gefüllter Grab- 
gefäße fand und in feinem Reifebericht dazu bemerkt: „wol möglich, daß ich in 
meinen fünf kleinen Urnen die lleberrefte des Odyſſeus und der Penelope oder 
ihrer Nachkommen beſitze.“ Daß es in der That königliche Gräber find, die er zu 
Mykenä aufgededt bat, ift ein Schluß, der, jo weit heute ein Urtheil erlaubt 
ift, fich nicht wird anfechten laſſen. Beweis die Yülle von Koftbarkeiten, die er 
aus diefen Grüften zu Tage gefördert hat: außer einer Menge eherner Waffen 
und Geräthichaften, großartige Funde an Gold: goldene Helme, Diademe, 
Spangen, Ringe, Gürtel, Wehrgehente, Schwertgriffe, Beinjchienen, Masten und 
Schmuckſachen aller Art, alfo ein förmlicher Schaf, der in die Erde verjenkt 
zugleich einen Mafftab gewährt für ben reichen Befig, der über der Erde ver- 
blieb, und jomit eine urkundliche Betätigung des Reihthums von Mykenä, der 
von Homer wie von den Tragifern erwähnt, faft ſprüchwörtlich war, und der 
in der Dichtung geradezu zum Fluche des Tantaloshaujes gemacht wurde. 

Das Merkwürdigfte ift, daß Schliemann gerade an dieſer Stelle die Gräber 
vermuthete, two fie fich wirklich vorgefunden haben. Schon bei jeinem erften 
flüchtigen Beſuch im Juli 1869 Hatte er ſich dieſe Stelle auserjehen und die 
Meinung ausgedrückt, daß man duch Nachgrabungen ohne Zweifel die von 
Paufanias erwähnten fünf Gräber auffinden würde Pauſanias nämlich Hatte 
ihn zu dieſer Ueberzeugung geführt. Diefer befuchte auf feiner Rundreiſe durch 
Hellas, etwa im Jahre 170 unferer Zeitrehnung, Myfenä und fand es faft 
genau in demjelben Zuftande, in dem e3 fich noch heute befindet. Er redet von 
der wohlerhaltenen Ringmauer, vom Lömwenthor und erwähnt dann „die unter- 
irdiſchen Gemächer bes Atreus und feiner Söhne, die fie ala Behältniſſe ihrer 
Schätze benußten, ferner daB Grab des Atreus und die Gräber aller Dexer, 
welche, mit Agamemnon aus Ylion zurüdgefehrt, Aegiſthos bei dem Gaftmahle 
ermorbete,“ worauf er fortfährt: „Ferner find hier begraben Agamemnon, 
Eurymedon, fein Wagenlenter, Teledamos und Pelops, welche beide ein gemein- 
Tchaftliches Grab haben (denn Kafjandra foll fie ala Zwillinge geboren haben 
und Wegifthos ermorbete fie als Knäblein nad ihren Eltern) und Elektra. 
Klytämneftra aber und Aegiſthos liegen etwas entfernter von der Mauer be- 
graben; denn innerhalb berjelben, wo Agamemnon jelbft lag und die mit ihm 
ermordet find, wurden fie de3 Begräbnifjes nicht gewürdigt.“ Dieje Bejchrei- 
bung zeichnet fich, wie häufig bei Paufanias der Fall ift, nicht durch beſondere 
Deutlichkeit und Anſchaulichkeit aus; ex ſchrieb für jene Landsleute, die außer 
der Hilfe feines Reiſehandbuchs zugleich überall die Fremdenführer vorfanden, 


Aus Griechenland. 233 


deren Angaben auch jeine Hauptquelle waren. Es ift jeinen Worten blos dies 
zu entnehmen, daß jene fünf Gräber, die er zufammen nennt, im Gegenjaß zu 
denen von Negifthos und Klytämneftra, innerhalb der Mauer, und zwar nahe 
derjelben gezeigt wurden. Aber innerhalb welcher Mauer? der der Akropolis 
oder derjenigen, welche die Unterſtadt Mykenä einſchloß? Offenbar unterläßt 
e3 Paufanias, Beides zu unterfcheiden; er nennt in Einem Athen die unter: 
irdiiehen Gewölbe, die in dem Raume der Unterftadt liegen, das Grab des 
Atreu und die fünf anderen Gräber. Schliemann aber deutete fi) die Stelle 
frifehtveg jo, daß dieſe genannten Gräber innerhalb des eigentlichen Burgrings 
Yiegen müßten, und zwar fuchte ex fie nahe dem Haupteingang, obwol e3 immer- 
hin auffallend fein muß, daß die Begräbnißftätte zunächft dem Eingang ſich 
befand. Allein wer kann ihm eine Auslegung ftreitig maden, die, mit vollem 
Glauben verfolgt, anjcheinend durch die wirkliche Entdeckung betätigt worden 
ift? Uebrigens geht aus der Beichreibung des Paufanias nicht einmal das mit 
Sicherheit hervor, da dem Reiſenden de3 2. Jahrhunderts die Gräber wirklich 
gezeigt wurden. Möglich, daß blos eine örtliche Tradition vorhanden war, daß 
an diejer, vieleicht nicht genau bezeichneten Stelle fi) Gräber befinden und daß 
dies die Gräber Agamemnons und der Seinigen jeien. Ohne Zweifel war da= 
mals jchon eine dichte Trümmerſchicht um das Löwenthor angehäuft. 

Das Zujammentreffen des Schliemann’schen Fundes mit der Angabe des 
Paufanias ift merkwürdig genug. Freilich kann nur die Prüfung der Funde 
ſelbſt ficheren Aufſchluß darüber geben, welcher Zeit fie angehören: ob jie gleichen 
Alterd mit den noch vorhandenen Baudentmälern find, oder ob fie eine jpätere 
Anfiedlung an diefem Orte bezeugen, von der die Geſchichtsbücher ſchweigen. 
Daß Paufaniad die Meberrefte von Mykenä in demjelben Zuftande vorfand, 
twie fie noch heute erhalten find, macht es nicht eben wahrſcheinlich, daß der 
Ort twieder einmal bewohnt, ein Herrenfiß war und zu Königsgräbern gedient 
hat. So lange aber der Beweis für die jpätere Herkunft der Schäße nicht ge- 
liefert ift, was doch wol durch den Styl nicht blos, jondern auch durch In— 
ſchriften und, jo weit e8 fi) um die mittelalterlichen Zeiten handelt, mindeftens 
durch die Anbringung des Kreuzeszeichens ſich müßte feftftellen laſſen, darf ſich, 
ohne Spott zu verdienen, die Anficht aufrecht halten, daß dieje Königsgräber 
dem heroiichen Zeitalter angehören, demjelben Königsgeſchlechte, deſſen Erinne— 
rung in den fpäteren Dichtungen vom Atridenhaus fortlebte, demjelben, deſſen 
Griftenz ſchon durch die kyklopiſchen Mauern, die Burgen von Tiryns und 
Mylenä und die unterirdiſchen Schatzgewölbe dafelbft bezeugt ift. Ob freilich der 
Agamemnon des troiſchen Sagenktreijes in diefen Gräbern zu finden ift, das ift 
tieder eine ganz andere Frage. Gejeht auch, die von Schliemann gefundenen 
Gräber find diejelben, die Pauſanias erwähnt; gejegt auch, in dem Grabe, das 
dem Paufanias als da3 des Agamemnon gezeigt wurde, wäre eine Leiche auf- 
gefunden: jo wäre das noch immer ein höchſt ſchwacher Beweis für Die 
Identität. Man kennt die jelten zu erſchütternde Gläubigkeit, mit der Pauſanias 
von Ort zu Ort ſich in den Griffel dictiren ließ, twas über die Landesgeſchichte 
und über die Denkmäler der Vorzeit von Mund zu Mund fi fortpflanzte. 
Die Griechen waren überhaupt den Ueberlieferungen von ihrer älteften Geſchichte 





234 Deutiche Rundſchau. 


gegenüber, keineswegs kritiſch geftimmt. Sie freuten fich über das jchöne Gewebe 
von Geihichte und Dichtung, ohne es aufzutrennen, und in den troiſchen Be— 
gebniffen, von denen die Helbenlieder meldeten, verehrten fie den Anfang ihrer 
nationalen Geſchichte. Denjelben unverwäüftlichen Glauben theilt der wackere 
Medlenburger, der ſich aus der Aufdeckung aller noch vorhandenen Spuren aus 
dem heroiſchen Zeitalter jeinen rühmlichen Lebensberuf gemacht hat. Er ift voll- 
fommen überzeugt: ber mächtige König, der in Mykenä gebot, ift derſelbe, der 
als Bruder des unglüdlichen Ehemanns der Helena die Achäer zum Kriegszug 
gegen Jlion ſammelte, in Aulis feine Tochter Iphigenie opferte, Ilion verbrannte 
und nad der Rückkehr heimtüdiich von der Gattin und deren Buhlen erichlagen 
wurde, Die Wiffenihaft zerftört umerbittlich dieſen fröhlichen Glauben; nicht 
ohne Erjaß dafür in der Aufdeckung der gejchichtlichen Motive zu bieten, die den 
ſchönen Dihtumgen zu Grunde liegen. Vorfichtig jucht fie Sage und Geſchichte 
auszuſcheiden. Sie beftreitet nicht das Walten eines mächtigen vorhiftorifchen 
Heroengefchlehts in Myfenä, von dem ja die Steine laut genug zeugen; aber 
fie hat erhebliche Zweifel über die Geichichtlichkeit der Dinge, die und Homer 
erzählt und die Tragifer vor Augen ftellen. Die Steine ja, die läßt fie gelten: 
nicht aljo die Verje der Dichter. Die Herrjchaft jenes Fürftengejchlechtes, jo jagt 
fie, dauerte bis zur doriichen Wanderung, hier verliert ſich jeine Spur; allein 
erft die Volkerbewegungen, welche dieſer Wanderung entjprangen, die Eroberungs- 
züge, die aus dem nunmehr überfüllten Lande nach der Eleinaftatiichen Küfte 
unternommen wurden und dort einen Kranz blühender Colonien ſchufen, find 
die geſchichtliche Grundlage der epiſchen Dichtung geworden. Das Haus de3 
Pelops ift alfo bereit3 vernichtet in der Zeit, da die Hellenen zur Ausfahrt nad) 
der troiſchen Küfte ſich zuſammenthun. Die große Thatjache der doriſchen Ein- 
mwanderung in den Peloponnes jchiebt fich trennend ein zwiſchen die Achäer— 
herrichaft in Myfenä, von der die großen Bauten herrühten, und zwiſchen bie 
Eroberung des dardaniſchen Landes durch die Achäerfühne Beide Epochen Hat 
die Dichtung vermijcht; von beiden hat fie eine Erinnerung beivahrt, aber die— 
jelben ungeformt Kraft des ewigen Rechts der poetijchen Freiheit und aus diejen 
zufammengeflofjenen Erinnerungen ein Kunſtwerk gebildet, da3 den Griechen jelbft 
jo lebenswahr erſchien, dat fie darin die treue Ueberlieferung ihrer Vorzeit zu 
befiten glaubten. 

Mit der doriſchen Wanderung beginnt jich die Geichichte der Griechen aufs 
zubellen, und mit berjelben Kataftrophe verſchwindet Mykenä aus der Geichichte. 
Das Atridenhaus hat in diefen Stürmen jeinen Untergang gefunden, und bie 
neuen Herren, die von dem Lande Befit genommen, verlaffen Mykenä, verlaffen 
den ſchon jetzt vertrodnenden oberen Theil der Ebene und maden das 
dem Dteere näher gelegene Argos zum Mittelpunkt ihres Reichs. Als eine be— 
icheidene Landſtadt erhält ſich Mykenä, ohne Zweifel bereit3 auf der Trümmer- 
ichicht der uralten Königsftadt erbaut, noch bis in's 5. Jahrhundert vor Chriftus. 
Ihre Bürger nahmen jelbftändig am peloponneftichen Kriege Theil: ihrer achtzig 
kämpften und fielen mit den Spartiaten bei Thermopylä, und vierhundert Reiter aus 
Mykenä und Tiryns nahmen an der Schladt von Platää Theil, mährenddem 
Argos in Folge feiner andauernden Kriege mit Sparta jo geſchwächt war, daß es zu 


Aus Griechenland. 235 


Haufe blieb und Lieber auf jeine innere Wiederherjtellung und Kräftigung bedacht 
war. Es ftrebte dieje duch das damals jchon beliebte Mittel der Auffaugung 
benadhbarter Städte an. In gewaltfamer Weife wurde unter einer Reihe von 
Sandftädten aufgeräumt. Auch die ehrwürdigiten, Tiryns und Mykenä, wurden 
nicht geſchont; ja die Eiferfucht auf ihren älteren Ruhm ſchürte noch den Haß; 
man fonnte zwar die gewaltigen Mauern nicht bezwingen, aber der Hunger 
brach zulegt den Widerftand. Die Stadt wurde gänzlich zerftört, und ihre 
Einwohner, die Unterkunft in der Stadt Argos verſchmähend, zogen ala Aus- 
wanderer in alle fyerne. Das war im Jahre 468 dv. Chr. 

Mykenä war und blieb jeitdem zerftört. Es fehlt bis jetzt jede fichere Spur, 
daß jpäter wieder irgend welche Anfiedelung in diefem Winkel verjucht wurde. 
Thukydides fand die Stadt in Trümmern, und Strabon jagt übertreibend, vom 
Hörenjagen, daß fie gar nicht mehr vorhanden ei. Daß Pauſanias vor 1700 Jahren 
den Ort gerade jo vorfand, wie er jebt ift, wurde jchon erwähnt. In Tiryns bat 
Schliemann Topficherben gefunden, die er in die Zeit der fränkiſchen Herrichaft 
jet, und die beweijen, daß der näher bei Nauplion gelegene Ort damals wieder 
beftedelt worden ift. In Mykenä ift Nichts dergleichen gefunden worden. Es 
blieb verjchollen, und als vor Hundert Jahren der Engländer Chandler zum 
erſten Male twieder den Peloponnes bereifte, vermochte er auf dem Wege von Argos 
nad Korinth den Atridenfiß nicht einmal aufzufinden. 

Es ijt eine geweihte Stätte, die, wie wenige, den nachfinnenden Geift zu 
feierlihem Ernſte zwingt. Lange verweilten wir zwiſchen dem ehrwürdigen 
Mauerwerk, das, wie die Griechen jagten, von den Kyflopen, von übermenjc- 
lien, aus der Ferne geholten Baumeiftern herrührt. Die Umfafjungsmauer der 
Akropolis folgt, bald Höher, bald niedriger, genau dem Rand des Felſens mit 
feinen Eden und Vorjprüngen. Das Innere des ummauerten Raumes ift nicht 
eine geebnete Fläche, der Boden fteigt vielmehr in Kleinen Terraſſen noch weiter 
in die Höhe, um nad) Often, wo ſich der Burgraum verengt, wieder zu finten. 
Diefe Terrafjen find gleichfalls durch vereinzelte Refte von Mauern bezeichnet; 
ohne Zweifel befand fi auf dem oberften und innerften Raume, doppelt und 
dreifach eingefriedigt, die eigentliche Königsburg. Das Mauerwerk zeigt ver- 
jchiedene Bildung. Man findet jene xohefte Art von Kyklopenmauern wie in 
Tiryns: Felsftüde, die faſt ohne künſtliche Bearbeitung aneinander gefügt, 
während die Lücken, die bei diejer zufälligen Aufthürmung entftehen, durch Eleinere 
Steine ausgefüllt find. Doc bildet die Mauer zum größten Theile ein kunſt— 
volles Netzwerk. Die Steine find nämlich vieledig behauen, aber jo jorgfältig 
an einander gefügt, daß bie Flächen, troß der größten Freiheit und Willkür in 
Behandlung der Polygone, genau aufeinander paffen. Nur einzelne Theile, wie 
die bevorzugte Umgebung des Löwenthor3, zeigen die Anfänge regelmäßigen 
horizontalen Quaderbaus. Ein zweites kleineres Thor befindet ſich am Abhang 
der Nordfeite. Es ift weit einfacher gebildet als da3 Hauptthor: zwei mächtige 
Steinblöre, über die ein dritter gelegt ift. Auf den le&teren ift noch einmal 
ein jchmaleres Felsſtück gethürmt. In der Mauerede eingewurzelt, verbreitet 
ein Straud) feine grünen Zeige über den Eingang. Der Pfad, der durch dieje 
Mebenpforte von der Burg Hinunterführte, läßt fi, obwol er mit Trümmern 


236 Deutiche Rundſchau. 


bedeckt ift, noch deutlich erkennen. Ex leitet in die nördliche Schlucht Hinab, die 
bon einem Kleinen Bache bewäflert ift. Freundliches Grün ſchmückt jeine Ränder. 
Selbft für den Anbau von Feldfrüchten hat man in diefer Einſenkung Raum 
getvonnen. 

Ganz anders ift der Eindrud, wenn man auf der innerften Wurzel des 
Burghügels fteht, da, wo er an den Schooß der höheren Bergwand angeheftet 
erjcheint, und num von hier ſüdwärts in die andere Schlucht Hinabblidt. Un— 
mittelbar von der Burg geht es jäh in eine fchaurige Fyelfenenge hinab. Ein 
tojender Wildbad Hat ſich einft hier, von Fels zu Fels, zu Thale geftürzt; jetzt 
ift er längft verftummt und verfiegt, — die Sonne brennt heiß in die Erd— 
ipalten herein, feine Pflanze entkeimt dem nadten Geftein. Und nadt, traurig, 
zerriffen, thürmt fich jenjeit3 die fteile Bergwand auf, die hoch den Burghügel 
überragt. Die Ausficht nach der Ebene ift hier vollftändig verjperrt, man be- 
findet ſich inmitten einer entjeßlichen Steinwüfte, und der wilde Ort ftimmt zu 
den wilden Sagen, die fi an ihn knüpfen. Dieſe Abgejchiedenheit athmet 
unerhörte Leidenſchaft, verſchloſſene Wuth, brütende Rache, tückiſch vorbereitete 
Gewaltthat. Hier werden fie lebendig, die geipenftigen Schatten de3 Atriden- 
hauſes. Was thut's, wenn die Gelehrten den troifchen Krieg zur Sage maden? 
Iſt darum, was die Dichter von Agamemnon und Iphigenie fangen, weniger 
Wirklichkeit? Oder mindert e3 die Weihe diejer alterdgrauen Mauern? Nirgends 
eindringlicher, al3 an diejer Stelle, empfindet man die ungzerftörbare Lebenskraft 
jener Geftalten, ihre Wirklichkeit, ihre Gegenwart. Wo find die Stätten, die 
grauenhafte Blutthat bejudelte? Und wo erwuchſen die lieblichen Kinder, die 
dem unjeligen Haufe entiproffen? Wo war der mahlreiche VBäterjaal, darin 
Iphigeniens Lied erflang — 

Dft fang fie ba Liebevoll, kindlichfromm, 

Die Heldenjungfrau, das heitre Glüd, 

Das ſelige Loos des Vaters. 
Saß nicht hier Elektra, wenn fie dem heiligen Licht, o wie oft, ihr gramvoll 
Klagelied vertraute, und wo war das düſtere Gemach des Unglüdshaujes, darin 
fie verzweifelnd die blutende Bruft mit den Händen zerfchlug, eine verlafjene Waije 
fich verzehrte, dDarbend an leeren Tiſchen, wie die Fremde verhöhnt und erniedrigt, 
und bie Erinnyen zur Rache am Mord des Vaters herbeirief und den helfenden 
Bruder? 

Wie wird es dann auf einmal wieder helle, wenn man au3 der unheimlichen 
elfenede über den Burghügel nad) der vorderen Seite zurüdichreitet. Die 
Schatten verſchwinden. Mit jedem Schritt fühlt fi die Seele freier. Die 
weite Landſchaft erjcheint in ihrem vollen Zauber. Stolze Berge umftellen die 
Ebene in der Runde. In ihrer Mitte jpringt die Larifa vor mit dem weißen 
Streifen der Häufer von Argos, und in der Ferne erglängt daß völferverbindende 
Meer — es ift, al3 ob man aus der Nacht zum Tage, aus beängftigenden 
Träumen zur Wirklichkeit erwachte: aus den Regionen der grauen Sage find wir 
wieder auf den lichten Schaupla der Geſchichte zurückgekehrt. 


Der amerikanifhe Bürgerkrieg 


Don 
F. von Meerheimb. 


XV, 

Bald nach diefen Vorgängen fiel eine Proclamation des Präfidenten Jefferſon 
Davis in Sherman’3 Hände, die ihm die Lage der Confüderation, die Stimmung 
des Volkes und Hood's nächſte Aırfgabe verrieth. Zuerft klagt Davis über den 
Mangel an Patriotismus, der leidenichaftliche Aufruf Beauregard’3 und des 
Gouverneur? Brown hatte wenig Grfolg gehabt, in den letzten Gefechten 
hatten die Gonföderirten geringe Energie gezeigt, und die Zahl ber Defertionen 
mehrte ih. Hood’3 Armee zu verftärken, hatte die Regierung feine Mittel, 
daher jollte er einen indirecten Krieg führen, die Bahnen nad Chattanooga und 
Naſhville zerftören, umd wenn die Uniond-Armee fi) au Mangel an Lebens- 
mitteln nad Norden oder Süden twende, follte ſich das ganze Volk erheben, 
alle Lebensmittel, Wege und Brüden vernichten und ihr das Schickſal der 
napoleonijchen Armee 1812 in Rußland bereiten. Das Volt von Georgien 
zeigte nım, da die Hand des Krieges ſchwer auf ihm lag, ein geheimes Gefühl 
für die Union (a latent union feeling), und ein bitteres Gefühl gegen bie Ur— 
heber der Secejfion regte fih! „Mehrere Male,“ fchreibt Sherman an Halle‘, 
„wurde mir gejagt: „Wir wollen gern Alles dulden, was wir erlitten, wenn 
Ihr nur jet nad) Süd-Carolina geht und es denen eintränkt, die Alles ver- 
ſchuldet“. 

Anfangs October ging er Hood, der auf Dalton und Allatoona vorrückte, 
entgegen; dieſer wich ihm überall aus, und zerſtörte nur bie Eiſenbahnen. 
Statt ihm nad) Alabama zu folgen, ließ er Shofield mit 2 Corp zur Ver— 
ftärfung von Thomas zurüd, der Schon im September nad) Tenneffee gegangen 
war, um dort dad Commando zu übernehmen. Er felbft ging nad Atlanta, 
um don dort feinen Zug nah Savannah zu beginnen. In einem Briefe an 
Grant ſchreibt er: 


„Bis wir Georgien wieber bevöltern können, ift ed unnüß, es zu behaupten; aber die gänz: 
liche Zerftörung feiner Straßen, feiner Gebäude, feiner Bevölkerung, feiner militäriichen Hilfs: 


238 Deutihe Rundichau. 


quellen ift nothiwendig. Der Verſuch, jeine Straßen zu behaupten, foftet una monatlich taufenb 
Mann, und gewährt uns feinen Vortheil. Ich kann den Marſch ausführen, and make Georgia 
howl. — Hoob fann nad) Kentudy oder Tennefjee gehen, aber id; meine, ex wirb gezwungen 
fein, mir zu folgen; anftatt defenfiv zu fein, werde ich offenfiv fein, ftatt zu rathen, was er 
beabfichtigt, joll er meine Pläne errathen. Der Unterichied macht im Kriege 25°, aus (nad) 
ber Schuliprache iſt das der Vortheil der Jnitiative). Ich kann mich nad) Savannah, Eharlefton 
oder der Mündung ber Chattahoochee wenden, ich ziehe e8 aber dor, durch Georgien, Alles ver: 
nichtend, nach ber See zu gehen. Ich muß mehrere Alternativen haben, denn wenn ich auf 
eine Straße beichränft bin, mag ber Widerſtand bes Feindes meinen Marich verzögern und 
Mangel an Lebensmitteln mag ausbrechen. Aber wenn ich Alternativen habe, die ich mir frei— 
zuftellen bitte, fann ich eine jo excentriiche Bahn wählen, dab fein General das Object meiner 
Operationen errathen joll. Deshalb, wenn Sie hören, daß ic) abmarſchirt bin, beftellen Sie 
Späher in Morris: J3land, Oſſabaw-Sound, Penjacola und Mobile: Bay. ch werde irgenbivo 
wieder zum Borfchein fommen, und glauben Sie mir, ic fann Macon, Augufta, Savannah 
nehmen und im Rüden von Charlefton wieder auftauchen, jo daß ich es aushungere. Die 
Dperation iſt nicht rein militärifch und ftrategiich, aber fie wird die Schwäche be3 Südens zeigen.” 

Ein anderer Brief von Sherman an Grant vom 20. September, in dem 
er jeinen Plan eines Marſches an die Küfte auseinanderſetzt, ſchließt mit folgen- 
den charakteriſtiſchen Worten: 

„Sch bewundere Eure zähe (dogged) Hartnädigfeit und Euren Muth (pluck) mehr denn 
je. Wenn Ihr Lee ſchlagen (whip) und ich an das atlantijhe Meer marſchiren kann, wird 
Uncle Abe uns, denke ich, zwanzig Tage Urlaub geben, damit wir unfre Kinder (the young 
folks) jehen können.” 

Trotz der Zweifel an der Ausführbarkeit des Unternehmens, die fih in 
Lincoln’3 Gabinet geltend machten, gab Grant die erbetene Autorifation; ſprach 
aber aus, daß er Savannah ala Object den Vorzug gebe, und Dalton al3 nörd— 
liche Grenze der Zerftörung der Bahn beftimme. Grant hatte gewünſcht, daß 
Sherman Hood folgen und defjen Armee vernichten möge, ehe er fih nad) Süden 
wendete. Aber er fügte fich der höheren Einficht feines bewährten Unter-Feldherrn. 

Damit ber Feind weder Atlanta bejegen, noch die Bahn benußen könne, 
wurden beide vernichtet, nachdem in den erften zehn Tagen de3 November noch 
alle Kranken und viel Material nad) Chattanooga geihafft, Munition, Proviant 
und Reconvalescenten von dort zur Armee gebracht waren. Am 11. November 
Nachts Fam der letzte Train an, und unmittelbar darauf begann die Zerftörung 
der Bahn, der Brüden und der Stadt. 

Eine Garnifon in Atlanta zu laffen, wäre eine nutzloſe Schwächung der 
Kräfte geweſen — Sherman verbrannte feine Schiffe; feine Armee in der Ge- 
lammtjtärfe von 59,000 Mann konnte in Georgien bei ftetem Vormarſch durch 
Fouragirung leben. Die Corps, die in Roms und Kingston geftanden, waren 
ion nad Atlanta gezogen, am 11. telegraphirte Sherman nah Wafhington 
„All is well“, ließ den ZTelegraphen vernichten, und bi3 Ende December blieben 
Lincoln und der Kriegsminifter ohne alle Nachrichten von der Armee in 
Georgien. 

Sherman hatte fein Heer in zwei Flügel getheilt, den linken führte Slocum, 
den rechten Howard, jeder Flügel beftand aus zwei Corps. Jedem Flügel war 
ein Pontontrain, jedem Corps eine Artillerie-Brigade, ein Train und eine 
Pionier-Abtheilung zugewiejen. Die Gejammtftärfe des Heeres betrug am 
10. November: 


Der amerifanifche Bürgerkrieg. 239 


52,796 Infanterie, 
4,960 Eavallerie, 
1,788 Artillerie. 


59,545 Mann. 
Kil-Patrik führte zwei Divifionen Cavallerie und zwei reitende Batterien. 

Am 9. November war folgender ArmeesBefehl erlaſſen: 

we. . . Die gewöhnliche Marſchordnung ift in vier parallelen Golonnen, jedes Corps hat 
feinen Munitions- und Proviant:Train. Hinter jedem Regiment ein Wagen und eine Ambulance; 
ift Gefahr nahe, fo marſchirt der Train in der Mitte, Avant» und Arriöregardbe ohne Wagen. 
Um 7 Uhr Morgens wirb täglich aufgebrochen, und täglich werben 30 Kilometer gemacht. 

Die Armee joll durch Fouragiren leben. Jede Brigade hat unter geeigneten Officieren 
Fourage-Commanbdo'3 zu organifiren, die dafür forgen, daß bie Wagen immer für 10 Tage 
Tortionen, für 3 Tage Rationen haben. Die Soldaten dürfen weder die Häufer ber Einwohner 
betreten, noch irgend einen Erceh begehen, beim Halt auf dem Marſch und im Bivouat dürfen 
fie dicht an der Straße Kartoffeln und Rüben fammeln. Die Corps-Commandanten haben das 
Recht, Mühlen, Häufer, Eottongina*) ꝛc. zerftören zu laſſen — ala Princip gilt — wo ber 
Marſch der Armee nicht behindert wird, ſoll feine Zerftörung flattfinden, wo die Brüden zer- 
ftört, die Wege ruinirt find, wo Guerillad uns beläftigen, joll die Zerftörung nad) Maßgabe 
ber Feindſeligkeiten eintreten. 

Pferde, Maulejel, Wagen bürfen nach Bedarf requirirt werben, immer unterjcheide man 
zwilchen dem feindlichen Reichen und den meift neutralen, friedlichen und fleifigen Armen. Die 
Honragier-Abtheilungen müflen den Abgang der Armee an Pferben ergänzen, bürfen aber feine 
Ercefje begehen, feine Drohungen ausftoßen ıc., müſſen auch jeder fyamilie wo möglich das zu 
ihrer Exiſtenz Nöthige belaffen. Neger, die nühlich werben können, dürfen mitgeführt werben; 
aber die Menge ber vorhandenen Lebensmittel muB berüdfichtigt werben, denn bie Hauptjache 
find bie bewaffneten Soldaten. — Jedes Corps fol ein Pionier-Bataillon organifiren, das ber 
Avantgarde folgt, die Strafen befjert und an einzelnen Stellen verbreitert; Colonel Poe, Ober- 
Ingenieur, joll jedem Flügel der Armee einen ausgerüfteten Pontontrain zur Verfügung ftellen.” 

Nah Slocum’3 Befehl jollte jeder Soldat feiner beiden Corps, al3 eijernen 
Beftand zwei Portionen gejalzenen Fleiſches im Torniſter tragen, für zwei Tage 
hart Brod, für fünf Tage Zuder, für zehn Tage Kaffee und Salz. Plünderung 
wurde auf's ſtrengſte geftraft, auf jedem Marſch bildet eine Brigade die 
Arrieregarde, um alle Stragglerd (Marode, welde die Marſch-Colonnen ver- 
laſſen) zu arretiven. „Die ſchaden der Disciplin, der Ehre des Corp3 und ge- 
fährden die Sicherheit jedes Einzelnen.” 

Am 11. November ging Kil-Patrik mit der Cavallerie über Jonesborough 
und Lovejoy gegen Macon vor, um Wheeler, der allein mit jeinem Gavallerie- 
Corps und einigen Georgia-Miliz-Regimentern gegenüberftand, glauben zu machen, 
Macon ſei das Ziel der Operationen. Sherman juchte während des Zuges alle 
unfruchtbaren Gefechte zu vermeiden, um mit einem möglichſt intacten Heere 
bald im Rüden von Savannah und Charlefton ftehen und fi mit der Flotte 
in Verbindung ſetzen zu können. 

Sherman war am 16. November mit dem 14. Corps aus Atlanta gerüct, 
bei herrlichem Herbftwetter marſchirten die Truppen fröhlich nah Süden, die 
tauchenden Trümmer der Stadt im Rüden. Ein Soldat ftimmte das Lied an 
„John Bromwns Seele geh’ voran“ und ein vieltaufendftimmiger Chor fiel ein 


*) Maichine zum Entfernen der Samentapjeln an der Baumwolle, 


240 Deutfche Rundſchau. 


„Glory, glory, Hallelujah” — nie, ſagte Sherman, wurde das Lied mit mehr 
Begeifterung und in befjerer Harmonie mit Zeit und Ort gejungen. 

Keiner der Dfficiere oder Soldaten kannte das Ziel des Marjches, aber fie 
waren in froher, zuverfichtlicher Stimmung (a devil may care [hol’3 der Teufel] 
feeling) und gemeine Soldaten riefen dem vorüberreitenden Sherman zu „Uncle 
Billy, ich glaube Grant wartet auf una bei Richmond“. 

Slocum ging längs der Augufta-Bahn vor, und zerftörte fie bis Madiſon. 
Am 23. ftanden alle Corps in der Höhe Milledgeville-Gordon. Am 18. Hatte 
Beauregard folgende, etwas phrafenhafte Proclamation erlaflen: 

„Dolt von Georgien! Erhebe Dich zur Vertheidigung bed vaterländilchen Bodens, jammle 
Dih um Deinen tapfern Gouverneur und Deine braven Soldaten, verbrenne und zeritöre alle 
Straßen in Sherman’3 Rüden, Front und Flanke, und bald wird feine Armee in Deiner Mitte 
Hungers fterben. Sei vertrauend, fei entjchloffen. Glaube an eine waltende Vorfehung, und 
ber Erfolg wird Dein Streben trönen. Ich eile zu Euch, um Euch bei der Vertheibigung von 
Haus und Herb zu unterftüßen.“ 

Brown rief alle Männer von 16—45 Jahren, mit Ausnahme der Geift- 
lichen, Richter und Eijenbahn-Beamten, zu den Waffen, verſprach den Sträflingen 
Befreiung, wenn fie die Waffen ergreifen wollten, und etwa Hundert, au dem 
Gefängnig von Milledgeville, traten in die Armee ein; aber im Allgemeinen 
hatte der Aufruf geringen Erfolg, auch die Bevölkerung zeigte ſich Friedliebend. 
Sherman ließ in Milledgeville Magazine und öffentliche Gebäude zerftören, die 
Baumwolle al3 Staat3eigentfum verbrennen, das Privateigentfum wurde 
überall geſchont. 

Während der linke Flügel der Armee noch einige Tage dort blieb, rückte 
der rechte jüdlich der Macon-Savannah-Bahn gegen den Oconnee vor. Wheeler 
wandte fi) nach Augufta, da3 er bedroht glaubte, Kil-Patrik folgte ihm, und 
ging gegen Wainesborough. Als Howard den Dconnee am 23, erreichte, fand 
er das jemjeitige Ufer ſtark beſetzt. Da die Stelle ungünftig war, ließ er 16 
Kilometer unterhalb eine Brücke jchlagen, während er den Feind durch einen 
Scheinangriff feft hielt; am 25. war die Brüde vollendet. Das 15. Corps 
ging über, und der Feind zog fich eilig zurück. Slocum Hatte den Oconnee 
ohne Hinderniß paffirt, am 28. überjchritten beide Flügel den Ogechee, wendeten 
fi jüdöftli, erreichten Mitte December Millen, und gingen nun in jehnellen 
Märſchen zwilchen dem Savannah und Ogechee gegen die Küfte vor. Nur das 
15. Corps blieb auf dem rechten Ufer des Ogechee, überfchritt ihn bei Eden, 
warf ein kleines feindliches Corps zurüd, und drang als Avantgarde der ganzen 
Armee bis zur Savannah-Golf-Bahn, zerftörte fie, und ftand num ſüdöſtlich der 
Stadt Savannah. Die Hauptarmee folgte in forcirten Märſchen; aber das 
bisher günftige Wetter wurde ſchlecht, ſtarke NRegengüffe machten den ohnehin 
jumpfigen Boden ungangbar, oft mußten meilenlange Knitppeldämme gelegt und 
Brüden über die vielen, den Weg durchſchneidenden Flüßchen gefchlagen werden, 
dennoch ging ed unaufhaltfam weiter und am Abend des 10. December ftanden 
die Spiten der drei Colonnen etwa eine deutjche Meile vor Savannah. Da 
einzelne Soldaten durch die Erplofion auf dem Wege vergrabener Bomben und 
Zorpebo’3 verwundet wurden, ließ fie Sherman durch Gefangene auffuchen. 


Der amerilaniſche Bürgerkrieg. 241 


Dem General Stedman, der in Chattanooga commanbdirte, hatte er im Juli in 
Betreff feindlicher Torpedo’3 folgende Inftruction gegeben: „Wenn ber Feind 
auf den Anmarjehlinien unjerer Colonnen, dem Annäherungdterrain zu feinen 
Pofitionen, den Zugängen zu feinen Brüden und Defileen Torpedo's legt, jo 
gehört das zu ben erlaubten Kriegsmitteln. Gefchieht es aber im Rüden ber 
Armee, werden bie rückwärtigen Verbindimgen der Armee durch Landeseinmwohner 
oder Guerillas in folder Meile gefährdet, jo ift dies Chicane, und man kann 
Gefangene oder feindlich gefinnte Einwohner zum Auffuchen der Torpedo's ver- 
wenden, oder die Wege, ehe man fie benubt, durch ſchwere Wagenladungen voller 
Gefangener probiren laſſen.“ Dafjelbe Verfahren wurde auch in Georgien und 
Carolina angewendet; es entipricht den Gebräuchen in europäijchen Kriegen. 

Auf dem Marſche von Millen bis vor Savannah hatte Kil-Patrif die 
Arrieregarde gebildet, und die Angriffe Kleiner Cavallerie-Abtheilungen zurüde 
gewiefen — Wheeler blieb in Augufta, ungewiß, ob Sherman ſich gegen Char— 
lefton oder Savannah gewendet. 

Am 16. November war die Unions-Armee aus Atlanta marſchirt, fünf: 
undziwanzig Tage ſpäter ftand fie vor Savannah, faft 600 Kilometer waren 
zurückgelegt, große Ströme überbrüdt, zahllofe Hinderniffe überwunden, viele 
Meilen Eijenbahn zerftört, und der Feind, in freilich wenig bedeutenden Gefechten, 
zurückgeworfen. 

Am 11. und 12. December verſchanzten ſich die Truppen im Halbkreiſe, 
der ſich zehn Meilen lang, von Savannah bis an die Golf-Bahn, erſtreckte. 
Die großen Außenwerke der Stadt waren wohl angelegt, ſtießen an tiefe Moräfte 
und waren mit ftarfen Geſchützen armirt. Am 9. Abends ſchickte Howard den 
Gapitain Duncan mit zwei Spähern auf einem Kleinen Boot den Ogecheeftrom 
abwärts, um Dahlgreen und der Flotte Nachricht von der Ankunft des Heeres 
zu geben. Duncan und feine Gefährten fuhren nur in ber Nacht, verftedten 
fih bei Tagesanbruch in den jumpfigen Reisfeldern, pafjirten in einer regnerifchen 
Naht glücklich Fort Mac Allifter und erreichten den Offabaw-Sound, wo ein 
Kanonenboot fie aufnahm und fofort nad) Hilton-Head brachte. General Fofter 
erhielt Howard's Depeſche: „Wir haben den vollftändigften Erfolg gehabt, die 
Armee ift vom beften Geifte bejeelt“. Um jo jehnell wie möglich Verbindung 
mit der Flotte herzuftellen, beſchloß Sherman Fort Mac Allifter, da3 im Januar 
und März 1863 den Panzerſchiffen widerftanden, anzugreifen. Das Fort beftand 
aus ftarken Erdwerken, 3 Halbbaftionen, 2 Courtinen, davor ein pallifadirter 
tiefer, 40 Fuß breiter Graben und war mit 21 ſchweren Geſchützen armirt. 
Alle Annäherungsiwege waren von den Baftionen aus durch Haubiten beftrichen. 
Sjenjeit3 de3 Grabens waren Verhaue und Torpedo'3 gelegt. Mac Allifter Tiegt 
am Sübdende des Ofjabaw- Sound und am reiten Ufer des Ogechee, der dort in 
den Sound fi) ergießt, e8 Hinderte die Communication mit der Flotte. Die 
Beſatzung unter Major Anderfon war nur 250 Mann ftarf. Ein zerftörter, 
nad dem Fort führender Damm wurde in der Naht vom 12, zum 13. her- 
geftellt und eine Brüde über den Ogechee geſchlagen; Kil-PBatrif war ſchon am 
12, weiter oberhalb über den Fluß gegangen, um das Fort und die Umgegend 
zu recognosciren; am 13., bei Tagesanbruch, ging General Hazen mit einer 


242 Deutiche Rundſchau. 


Divifion des 15. Corps über die Brüde und begann da3 Fort anzugreifen. 
Um 1,4 Uhr Nachmittags war e3 von allen Seiten umzingelt, die Spiten ber 
Golonnen nur 600 Schritt vom Graben entfernt, aber der Weg bis zum Graben 
führte durch jumpfige NReisfelder, die feine Dedung boten. Trotz des Feuers, 
der Verhaue und der Torpedo’3 drangen die Angreifer, ein Schwarm von Ti- 
railleuren, bi8 an die Gräben, fprangen hinein, überftiegen die Pallifaden, 
erftiegen die Bruftiwehren und nahmen die Beſatzung gefangen. Zwanzig Minuten 
hatte das ganze Gefecht, dem Sherman und Howard zujahen, gedauert. Der 
Berluft der Divifion Hazen, welche Sherman bei Shiloh und Vicksburg geführt, 
und der er bejonder3 vertraute, betrug 23 Zodte, 82 Verwundete; der der 
Garifon 14 Todte und 21 DVerwundete, 215 Mann wurden gefangen und 
zunächſt zum Wegräumen der Torpedo's verivendet. 

Sherman jah ein Kanonenboot der unirten Flotte nahen, fignalifirte es 
herbei, beftieg e8 und jchrieb in der Gajüte am 13. folgende Depeſche an die 
Regierung in Wafhington: 

„Heute wurde Mac Allifter geftürmt. Wir haben Verbindung mit ber Flotte. Vorher 
wurden alle nad Savannah führenden Bahnen zerftört und der Ort vollftändig eingeſchloſſen. 
Die Armee ift in befter Ordnung und Allem gewachſen. Das Wetter war jchön, die Lebens: 
mittel ausreichend. Unſer Marich war ſehr angenehm, Guerilla Hinderten und gar nicht. 
Savannah erreichten wir am 10., fonnten aber vor Erftürmung von Mac Allifter feine Nach: 
richt geben. Ich glaube, Savannah Hat 20,000 Einwohner und 15,000 Mann Garnifon unter 
Harder. Wir haben bei dem Zuge keinen Wagen verloren, viele Neger, Pierbe, Maulejel ge: 
wonnen, unfer Fuhrweſen ift befler ald vorher. Wir haben 200 Meilen Eifenbahn gründlich 
zerftört und viele VBorräthe und Lebensmittel mitgeführt, die Lee und Hood nähren follten. 
Meine erfte Sorge muß fein, meine Neger, Pferbe und Eſel los zu werben. Die durch bie 
ichnelle Erftürmung von Mac Allifterd gewonnene Verbindung mit ber Flotte macht alle 
Drohungen, mich auszuhungern, zu Schanden. Ich halte Savannah ſchon für gewonnen.“ 

In Verbindung mit ber Tylotte wurde nun Savannah eingejchloffen und 
belagert, durch die Sümpfe wurden Knüppeldämme gelegt und der Batteriebau 
begonnen. Am 16. wurde Hardee aufgefordert, zu capituliven, lehnte e3 aber 
ab. Sherman dehnte num den linken Flügel weiter au, um die Nordfronte 
Savannah’3 zu umfaſſen und der Garnijon den Rückweg nad) Charlefton abzu— 
Ichneiden. In der Nacht zum 22. räumte Hardee unter dem heftigen, auf den 
linken Flügel der Unions-Armee gerichteten, euer der Panzerwidder Georgia 
und Savannah die Stadt, nachdem er vorher die Dod3 und andere öffentliche 
Gebäude zerftört Hatte, und z0g auf einem Damme, der durch die Sümpfe führt, 
nad Charlefton. Am Morgen des 22. rüdte Sherman ein und telegraphirte 
an demjelben Tage an den Präfidenten Lincoln: 

„Ih bitte Euch ala Weihnachtsgabe die Stadt Savannah mit 150 ſchweren Geſchützen, 
vielen Vorräthen und etwa 25,000 Ballen Baumwolle überreichen zu dürfen.“ 

Lincoln anttwortete: 

„Dielen, vielen Dank für das Meihnachtägeihent Savannah. Als Sie Atlanta verliehen, 
war ich in Sorgen, wenn nicht in Angft; aber ich hielt Sie für fähiger, ben von Ihnen ge 
faßten Plan zu beurtheilen, und dachte, wer nicht wagt, gewinnt nicht. Nun das Unternehmen 
mit Erfolg gekrönt ift, gebührt aller Ruhm Ihnen. Sagen Sie der Armee, den Officieren und 
Mannichaften meine bantende Anerkennung.” 

Da3 große Ziel der Unternehmung war mit verhältnigmäßig geringen Opfern 
erreicht. In etwa fünf Wochen hatte die Armee von 59,000 Dann eine Strede 


Der ameritanifche Bürgerkrieg. 243 


von 300 Meilen Länge und 20—60 Meilen Breite durchzogen, hatte das Eijen- 
bahnviereck, deſſen Spitzen Atlanta, Macon, Augufta, Savannah bilden, mit 
der Gründlichkeit, die lange Uebung in ſolcher Arbeit gewährte, faft ganz zerftört 
und alle Brüden gejprengt. Bon dem Momente an, two die Armee Atlanta ver- 
ließ, lebte fie befjer ala im Lager; Mais, Geflügel, namentlihd Truthühner, 
Kartoffeln, Syrup und Anderes fand man in Menge, Rindvieh, Pferde, Ejel 
wurden zu Taufenden mitgeführt. Bei Savannah angelangt, Hatte die Armee 
Fleiſch für 50 Tage in lebenden Häuptern bei fih. Die Befehle über das Foura— 
giren wurden im Ganzen ftreng befolgt; die Bevölkerung zeigte fi) nirgends 
feindfelig, nur einzelne Acte der Gewaltjamfeit famen vor. Sklaven jeden Alters 
und Geſchlechts benußten die Gelegenheit, frei zu werden, und vor Savannah 
folgten gegen 10,000 der Armee. Einige thaten ala Wegweiſer, Kutſcher, auch ala 
Spione, die die Orte verriethen, two Baumtvolle verſteckt war, qute Dienjte, die 
meiften waren der Armee eine Laft. Wo Baumtvolle gefunden wurde, verbrannte 
man fie;*) gegen 15,000 Ballen find auf dem Wege nad der Küfte vernichtet 
toorden. 

Der Feind hatte dem Marfche geringe Hinderniffe entgegengejeßt; die 
Georgia-Miliz war nur widerwillig dem Aufrufe gefolgt und zeigte wenig Luft 
zu fechten. Das einzige Mal, wo fie angriff, erlitt fie ſchwere Verlufte. 

Wheeler wurde überall über das Ziel der Unternehmung getäuſcht, glaubte 
fie erft gegen Macon, dann gegen Augufta gerichtet, wo er zuletzt unjchlüffig 
ftehen blieb, weil ex nit wußte, ob Sherman fi gegen Savannah oder 
Charlefton wenden würde. Auf dem ganzen Zuge von Atlanta bi3 an die See, 
hatte die Armee an Zodten, Verwundeten und Vermißten nur 1388 Mann ver- 
loren; von den Todten und Verwundeten fommen die Hälfte auf die Erftürmung 
von Mac AMlifter. So find die tactifchen Leiftungen der Truppen nicht bedeutend 
gewejen; aber bewunderungsmwerth bleibt die geniale Conception, die allein Sher- 
man's DVerdienft ift, die große Marihfähigkeit der Truppen und ihre von feiner 
Armee der Welt erreichte Fähigkeit im Meberwinden von Terrainſchwierigkeiten. 
Die Regimenter waren meift aus Illinois, Michigan, Wisconfin, Miſſouri, aljo 
aus dem halbcultivirten MWeften, durch ein hartes, arbeit3volles Leben an Ent— 
behrungen, Anftrengungen gewöhnt, im Fällen von Bäumen, Bauen von Blod- 
häufern, Dämmen und Brüden geübt; endlich hatten faft Alle die mehrjährigen 
Gampagnen am Mifftifippi mitgemacht, in denen militärijche Arbeiten im größten 
Maßſtabe ausgeführt wurden. Nah dem Abzuge Hardee’3 hatte Savannah 
jofort capitulixt; die Feſtungswerke hatten geringen Schaden gelitten, aber die 
Stadt war voller Flüchtlinge, denen es an Lebensmitteln fehlte, die ihnen num 
durch den reichen mitgeführten Proviant gegeben werden fonnten. Alle Baumes 
wolle wurde confiscirt und nad) dem Norden geſchickt, um da verkauft zu werden. 
Die Bevölkerung der Stadt war nicht feindlich, fein Ballen Baumwolle wurde 


*) Mit Baumwolle, die im zweiten Jahre des Krieges als Staatzeigenthum der Conföderation 
erflärt war, bezahlte die Regierung Pulver, Schiffe und anderen Kriegsbedarf; fie wurde daher 
nicht für Privateigenthum angeiehen und von der Unionsarmee überall confiscirt und verbrannt, 
ober nad) dem Norden geichidt. 


244 Deutiche Rundſchau. 


verhehlt, und nach dem Abzuge der Garnifon und nachdem die Einſchüchterung 
buch die Terroriften aufgehört hatte, trat — wie in ganz Georgien — ein 
bitterer Haß gegen Charlefton und Süd-Garolina, die Fadelträger und Brand- 
ftifter der Seceffion, hervor. 

Während der Operation nad) Savannah ftanden Thomas und Shofield 
zum Schub von Chattanooga, Naſhville, der Bahn in Tennefjee und dem nörd- 
lichen Theil von Georgien, Hood gegenüber. Thomas war ein energifcher, be= 
jonnener, tapferer Dann, aber es fehlte ihm der Geift der Initiative, die Schnellig- 
keit der Entſchlüſſe. Er dachte und handelte langſam, aber fiher. Sherman, 
ber jonft mit Anerkennung von ihm jpricht, erzählt, er fei ein einziges Mal im 
Kriege im Galopp geritten. Für feine Soldaten jorgte er trefflih und wurde 
von ihnen geliebt. Yet hatte ihn Grant mehrmals umfjonft aufgefordert, 
die Offenfive gegen Hood zu ergreifen. Erft am 6. December gab er ihm ben 
beftimmten Befehl, und erwartete die Schlaht am folgenden Tage. Grant 
ſchrieb jpäter, e3 jei ein hartes Stüd Arbeit gewejen, Thomas zum Angriff zu 
bringen, aber dann löſte diefer jeine Aufgabe vortrefflihd. Nachdem Shofield 
Hood's Angriff am 30. November bei Franklin zurückgeſchlagen, fiegte Thomas 
am 15. December entjcheidend bei Naſhville; nur Trümmer der energifc ver- 
folgten Armee kamen nah Alabama zurüd und wurden im Winter 1865 zu 
dem Heere gezogen, das Johnſton in Nord-Carolina zu bilden ſuchte. So ficher 
war Tennefjee geworden, daß Sherman wagen konnte, Ende Januar Shofield 
mit 20,000 Mann auf Dampfichiffen nad) Cincinnati und von dort auf der 
Eijenbahn nach Alerandria, an der Mündung des Potomac, bringen zu lafjen. 
Bon dort gingen fie zu Schiff nad Wilmington und Neu-Bern an der Hüfte 
bon Nord-Carolina, nachdem fie neun Tage dur) das Zufrieren des Potomac 
feftgehalten worden. Im Februar konnte Shofield an den jpäteren Opera- 
tionen Sherman’3 in Nord-Garolina theilnehmen. 

Sobald Sherman Nachricht von Thomas’ Sieg über Ho0d’3 Armee und von 
deren Vernichtung erhalten, ging er an die Ausführung feines neuen Planes, den 
er in Briefen an Grant und Halled entwidelt. Ex wollte nad) Zerftörung des 
ganzen Eifenbahnneßes in Süd- und Nord-Carolina und nad) der Iſolirung oder 
Einnahme von Charlefton und Wilmington über Raleigh gegen Peteröburg in 
DVirginien vordringen. Ende Januar ſchrieb er an Grant: 

„Mein Plan ift jo lange und wohl von mir überlegt, daß er mir klar wie das Tageslicht 
ericheint. Mehr Truppen verlange ich nicht, große Heere find auf den Wegen in Carolina nicht 
zu bewegen und im dortigen Terrain nicht zum Gefecht zu entfalten. Ich glaube nicht, daß 
irgend ein General mehr ala 60,000 Mann im Gefecht Leiten kann; unfere Kriegführung ift vers 
ihieden von der in Europa, wir befämpfen nicht feindliche Armeen, fondern ein feindliches Volt; 
Alt und Yung, Reich und Arm muß die eiferne Hand des Krieges fühlen, jo gut wie die orga— 
nifirten Armeen. In diefer Richtung war mein Zug durch Georgien von wunderbarem Erfolge; 
Zaufende, die durch die Lügenzeitungen im Glauben erhalten waren, wir feien überall geichlagen, 
fahen num die Wahrheit und hatten feine Luft, diefelbe Erfahrung zum zweiten Dale zu machen, 
Gewih hält Zefferfon Davis fein Bolt in guter Disciplin; aber ich dente, dad Vertrauen zu ihm 
ift in Georgien erichüttert und wird es bald in Sübd-Carolina fein. Uebrigens brennt bie ganze 
Armee darauf, fi an Süd⸗Carolina zu rächen, und ich zittere, wenn ich an fein nahe: Schidjal 
benfe; aber ich weiß, baf es Alles verdient hat, was ihm bevorfteht.” 

Grant hatte gewünſcht, daß Sherman nad) der Einnahme von Savannah 


Der amerikanische Bürgerkrieg. 245 


zur See mit jeinem Heere nad) dem James-River gehen möge, um directen An- 
theil an den Operationen gegen Rihmond und Peteröburg zu nehmen. Aber er 
gab nach und genehmigte Sherman’3 Plan, der weſentlich das Aufgeben von 
Rihmond und Petersburg, Lee's Gapitulation und den Untergang der Conföde- 
ration herbeiführte.*) Am 6. December 1864 Hatte Grant an Sherman ge- 
ſchrieben: 

„Mein Plan iſt, dab Ihr Euch an der Seelüſte feſtſetzt. Laßt alle Cavallerie und Artillerie 
dort, foviel Infanterie ald nothwendig, und kommt mit dem Reft der Infanterie jo bald als 
möglich zu Schiff hierher. Wenn Ihr feine Einwendungen gegen dieſen Plan habt, bie ich nicht 
ſehe, fo braucht jedes Schiff, dad Ihr verwenden könnt. Euren Stellvertreter könnt Ihr 
felbft wählen. 

Hier wie in anderen Fällen fügte Grant fi) dem ihm geiftig überlegenen 
Sherman; aber man fieht, wie jehr es ihm damals in Birginien an Infanterie fehlte. 

Das Merk der Verwütung, dad Sheridan im ſüdweſtlichen Virginien aus— 
geführt, begann — vor dem in vier Colonnen in breiter Front, gedeckt durch 
eine Wolfe von Zirailleuren, vorrüdenden Heere lag ein üppige, reiches Land, 
hinter ihm eine Wüfte, e8 war, al3 hätte ein Heuſchreckenſchwarm Alles ver- 
nichtet.**) Das Heer lebte duch Fouragiren, wie in Georgien, aber hier flohen Die 
meiften Eintvohner, verfteckten ihre Borräthe oder jchleppten fie mit ſich. Da das Heer 
überall auf jeinem Wege Hindernifje fand, lockerte ſich, bei dem Haffe der Untirten 
gegen Siüd-Garolina, die Disciplin, und manche Gewaltthat geihah. Wo ein- 
zelne fouragirende Patrouillen den Feinden in die Hände fielen, wurden fie ge— 
tödtet; bei Chefter fand man einen Officier und 7 Mann ermordet, an jeder 
Leiche hing ein Zettel mit den Worten: „Tod allen Fouragirern“; an einem 
anderen Orte fand man 20 Leichen mit derjelben Bezeichnung. Sherman jchrieb 
dem conföderixten General Hampton, der ihm mit ſchwachen Kräften gegenüber- 
ftand, er babe 1000 Gefangene in Händen, und werde für jeden Gemorbeten 
zwei Gefangene erſchießen laffen, den Befehl zur Execution von 54 Gefangenen habe 
ex bereitö gegeben. Das Recht, in Feindesland durch gewaltjame Requifition zu 
leben, müfje er beanſpruchen; wolle ihm Carolina durch die jetzt geflohenen Be— 
hörden die nöthigen Nahrungsmittel liefern, fo jolle fein Dann mehr fouragiren. 
Hampton drohte in feiner Antwort mit noch ſchärferen Reprefjalien. Kurz ehe 
Sherman in Golumbia einrücte, Hatte der conföderirte General Hampton e3 
verlaffen, aber vorher alle Baummollenvorräthe angezündet. Die fliegende, 
brennende Baumwolle veranlafte eine Feuersbrunſt, die, von den Unionstruppen 
gelöjcht, die Nacht wieder ausbrach und den größten Theil der Stadt in Ajche 
legte. Mit Sherman’s Bewilligung gab Howard dem Mayor der Stadt 500 
Stück Vieh für die Armee und 100 Stück Gewehre, zum Schub gegen das Eigen— 
thum bedrohende Banden. 

Im Februar und März fielen alle Punkte an der Küfte von Savannah bis 
zur Grenze von Virginien, die vom Lande her und von ber Tylotte gleichzeitig 
angegriffen wurden, in die Hände der Union; Lee's Armee in Richmond und 
Petersburg war vollftändig ifolirt, noch größer war der moraliſche Eindrud des 


*) Pollard, the lost cause. 
**) Sherman Report of the campaigne of the Carolinas, 
Deutſche Rundſchau. III, 8. 17 


246 Deutiche Rundſchau. 


Siegeszuges durch da3 Herz der Gonföderation, deren Grenzen der Krieg in den 
drei erften Jahren nur berührt hatte. In Goldsborough traf Sherman mit 
dem von der Küfte aus vorgedrungenen Shofield im Mai zufammen, um fich 
von da gegen Raleigh zu wenden. Johnſton, dem der Befehl über alle Truppen 
der Gonföderirten in Nord-Carolina übergeben war, juchte umjonft die Ver— 
einigung von Sherman und Shofield zu hindern; mit feinen wenigen, neu aus— 
gehobenen und entmuthigten Soldaten konnte er feine Schlacht wagen; er hatte 
fih nad) Raleigh zurüdgezogen, um fi) don dort nad Richmond zu werfen. 
Aber Ihon Anfang April waren Petersburg und Rihmond geräumt, und bald 
darauf follte Zee zur Gapitulation gezwungen werben. 

Sherman erjcheint duch ſeine Willenzftärfe und geiftige Klarheit als einer 
der erften Tyeldherren Amerika's, feine Pläne find wohldurchdacht, bis in's Detail 
vorausberechnet, ihre Ausführung ift kühn und die rückſichtsloſe Energie geht 
bi3 zu Schonungslofer Härte. Er ſcheint eine, dem jpäteren Präfidenten Grant 
weit überlegene Natur. Sein Aeußeres entfpricht dem Inneren, er ift faft 6 Fuß 
hoch, hager, mehr jehnig al3 muskulös, zähe, von eiferner Gejundheit und fähig, 
große Strapazen zu ertragen. Seine ſcharf marlirten Züge, die unruhigen, 
ftehenden Augen unter überhängenden Wugenbrauen, die bedeutende gefurchte 
Stirn zeigen einen Charakter, in dem Verftand und Wille übertwiegen. 

Ernft, umeigennüßig. unermüdlich, thätig, jelbft bedürfnißlos, aber treu 
für jeine Soldaten forgend, beſaß er deren Liebe und Vertrauen im vollften 
Maße; dem Icheinbar Falten, ablehnenden Manne wurde das während de3 Krieges 
bei dem Tode eines don ihm jehr geliebten, im Lager anweſenden Kindes, in 
rührender Weije gezeigt. Seine interefjanten Memoiren gab er auf den Wunſch 
feiner Familie und feiner Freunde ſchon bei Lebzeiten heraus; fie enthalten 
Iharfe, rücjichtslofe Urtheile über viele noch lebende Feldherren und Staats— 
männer jener Zeit; die meift nüchterne, ftreng ſachliche Darftellung wird durch 
eine große Zahl harakteriftiicher Anecdoten unterbrochen, die des ernften Mannes 
Freude an einem derben Spaß zeigen. 

Wenn die jchredliche Art der Kriegführung, die planmäßige Verwüſtung 
blühender Länder an die dunfelften Bilder aus dem dreißigjährigen Sriege er- 
innet, jo vrerjöhnt es mit dem Feldherrn, der die Zerftörung befahl, daß er nur 
mit ſchwerem Herzen die härteften Mittel ergriff, weil fie allein ſchnell und 
ſicher zum Frieden führten, den er und alle Befjeren im Volk und Heer erjehnten. 
Bald nad) der Einnahme von Gold3borough, auf der glänzenden Höhe feines 
Erfolges, ſchrieb er: „ch bin des Krieges jatt, all’ fein Ruhm und Glanz ift 
trügender Mondjchein, jeder Erfolg erfauft durch eine thränenſchwere Saat von 
Blut und Elend. Wir mußten die Union erhalten oder untergehen und mußten 
die Secejjion unterdrüden; aber nun, da der Feind untertvorfen am Boden Liegt, 
ift e8 mir, als müßte ich jedem Empörer jagen: gebe Hin und fündige hinfort 
nicht mehr.“ 


XVL 


Während Sherman jeinen Zug nah Savannah, nad Sid- und Nord» 
Garolina ausführte, ftand Grant mit 80,000 Mann vor Peteröburg, Sheridan 


Der amerilanifche Bürgerfrieg. 247 


am oberen Shenandoah, in Welt - Birginien und Wajhington 30,000 Dann, 
Thomas bei Naihville mit 40,000 Dann, Ganby in Louifiana und dann vor 
Mobile 30,000 Mann, längs des Miſſiſſippi und verichiedenen Stationen etwa 
80,000 Mann, fo daß inclufive der Armee bei Savannah etwa 320,000 Mann 
de3 Unions-⸗Heeres im Felde waren. Ihnen ftand Lee, der zu fpät zum Ober- 
befehlshaber aller Heere der Conföderation ernannt war, mit faum 150,000 Dann 
gegenüber, von benen faft ein Drittheil unter Kirby Smith in Texas und Weft- 
Louifiana von den anderen Heeren getrennt war. Bei Richmond und Peteräburg 
ftanden noch 50,000 Mann, im Shenandoah-Thal nur einige Cavallerie-Regi- 
menter und irreguläre Truppen, in Nord» und Süd-Carolina ftand Beauregard 
mit 20,000, Hood in Alabama mit etwa ebenjoviel Mann. Der Muth der 
Conföderation war gebrochen wie ihre Kraft und wie das PBertrauen in 
Jefferſon Davis. 

Dagegen hatten Sherman’s Erfolge die Zuverfiht im Norden gehoben; am 
Schluſſe des Jahres 1864 Hatte das Volk der Union durch die Wiederwahl Lincoln’3 
jeine Nebereinftimmung mit dejjen Politik ausgejprochen; der nahe Fall der Eon- 
föderation wurde allgemein ertvartet, die Meberlegenheit de3 Nordens an Menſchen— 
fräften umd allen materiellen Deitteln des Krieges trat immer fichtbarer hervor. 

Im Winter war wenig auf dem Kriegsichauplate in Virginien gejchehen. 
Sheridan hatte die ſchwachen Corps, welche den fühlichen Theil des Shenandoah- 
Thale bejeßt hatten, vertrieben, im Februar das Land zwiſchen Staunton, 
Charlottesville und Lynchburg verheert, die dortigen Eifenbahnen vernichtet. Ein 
Verſuch Lee’3, gegen Eity-Point vorzugehen und Grant von feiner Verpflegungs- 
linie abzudrängen, war mißglüdt. Ende März verſuchte er, da8 Centrum der 
weit ausgedehnten, befeitigten Einſchließungslinie am Appomator zu durchbrechen, 
aber den in jo vielen heißen Kämpfen bewährten Truppen verjagte der Muth. 
Selbft einige der durch Ueberraſchung genommenen Werke gingen bald wieder 
verloren, und Viele ergaben ſich freiwillig zu Gefangenen. 

Grant beſchloß, Lee's Armee von ihrer letzten Zufuhrslinie abzuſchließen, 
um fo die Iſolirung der durch die Eifenbahn verbundenen, al3 eine PBofition zu 
betrachtenden Feſtungen Rihmond und Petersburg zu vollenden. Am 26. war 
Sheridan mit jeinem Gavallerie-Corp3 aus dem Shenandoah-Thal zurücdgefehrt. 
Die von Lynchburg und Danville kommenden Bahnen vereinigen fich bei 
Burkersville; durch eine Umgehung follte fi) Sheridan der von dieſem Knoten— 
punkt nah Richmond führenden Bahn bemädhtigen. Lee Hatte feinen rechten 
Flügel verftärkt und bis Five-Forks ausgedehnt, ein wichtiger, nun befeftigter 
Punkt, drei Kilometer von ber Bahn nah Danville, in dem fidh viele Straßen 
fchneiden. Nach einigen unentjchiedenen Gefechten nahm Sheridan am 1. April 
die Werke von Five-Forks, warf Lee’3 rechten Flügel nach den Verſchanzungen 
von Peteröburg zurüd und ſetzte fich in Befit der Danville-Bahn. 6000 Mann 
wurden zu Gefangenen gemacht und viele Geſchütze und ahnen erbeutet. Die 
meiften Werke waren ſchwach vertheidigt worden, der Verluft der Unionsarmee 
war gering. Lee beichloß, in der Naht vom 2. zum 3. April Richmond und 
Peteröburg zu räumen und ſich nördlich der Danville- Eijenbahn nad) Weiten 
zurüczuziehen, um fi) womöglich mit Johnfton bei Raleigh zu vereinigen. Am 

17* 


248 Deutſche Rundſchau. 


Morgen des 3. April rückte Wilcox in Petersburg, Weitzel mit einer Neger— 
Diviſion in Richmond ein. Sie fanden die Werke unbeſetzt, aber auf den Wällen 
ſtanden noch gegen 500 ſchwere Geſchütze, gegen 6000 meiſt Verwundete wurden 
gefangen genommen. 

Lee hatte ſeinen Rückzug in vier Colonnen angetreten, hatte, ohne auf dem 
Marſche angegriffen zu werden, den Appomatox auf zwei Pontonbrücken über— 
ſchritten, um über Burkersville nach Danville zu marſchiren. Er hatte in den 
letzten Wochen allein an Gefangenen 20,000 Mann verloren, ſo daß ſein Heer 
kaum 30,000 Mann betragen haben kann. Am 3. und 4. war die Unions— 
Armee zur Verfolgung aufgebrochen, und es glückte Meade, Burkersville früher 
als Lee zu erreichen, und Lee, der ſich nun nad Lynchburg wendete, von Dane 
ville und den Südſtaaten abzufchneiden. In einem Arrieregarden-Gefecht bei 
Harpers-Farm wurde Ewell’3 Corps am 6. April durch Sheridan zur Uebergabe 
geztvungen, ein Gifenbahnzug mit Lebensmitteln war aus Verſehen nicht einge- 
troffen, und jo nahın Zee, der jpäter al3 einer feiner Generale die Hoffnung, ſich 
durchzuſchlagen, aufgab, am 9. April in Appomator Courthoufe die ihm geftellten 
Gapitulationg-Bedingungen an. 26,000 Mann, von denen nur 7800 mit Ge- 
wehren bewaffnet waren, ſtreckten, von allen Seiten umſchloſſen und ohne Ver— 
pflegung, die Waffen. 

Als Lee von den Soldaten, die ihn elend, zerlumpt und hungernd, aber 
weinend und mit der alten Verehrung umringten, Abjchied nahm, erftickten 
Thränen die Stimme de3 jonft unbeweglichen Mannes von vollendeter Selbft- 
beherrſchung. (Das Wort „self possession“ der englifchen Spradhe jagt noch mehr.) 

Nach Richmond zurückgekehrt, durchritt er Schtweigend die Straßen und wehrte 
alle Zeichen der Liebe und Begeifterung ab, die dem Feldherrn auch nach der 
Gapitulation des Heeres und nach dem Sturze der Gonföderation von allen Theilen 
der Bevölkerung gebracht wurden. Bei dem Beginn des Krieges hatte ex erklärt, 
nur für die Vertheidigung ſeines Heimathlandes fortan den Degen ziehen zu 
wollen; nach Auflöfung der Conföderation wurde er nad) feinem eigenen Wort 
„Wieder ein treuer Bürger der Vereinigten Staaten“, von jedem Gefühl der Rache 
oder der Teindichaft blieb feine Fromme Seele fern. Die Anerbietungen jehr 
vortheilhafter Stellungen in Amerika und England ſchlug er au, nahm aber 
die Stellung eines Director des Wajhington-Gollege in Lerington an und von 
dem ihm beftimmten Gehalt nur einen Kleinen Theil, obwol er fein ganzes und 
großes Vermögen im Stiege verloren hatte. Lee ftarb am 12. October 1870, 
al3 die deutſchen Heere vor Metz und Paris ftanden, und jo wurde der Tod de3 
größten Virginierd, wie fein Biograph Cooke ihn nennt, in Europa kaum be— 
merkt. Ein Schriftjteller aus den Norditaaten jagte damals von dem Verſtor— 
benen, wa3 ſich heute Schon bewährt hat: „Er lebte, um der Welt zu zeigen, 
welche Liebe und Verehrung ein Soldat Denen, für die er kämpfte, troß feiner 
Niederlage und feines Mißerfolges einflößen Tann, und welche Bewunderung 
ihm auch Die zollen, gegen welche er gefämpft. Sein fledenlofer Ruhm wird 
mit jedem Tage wachſen, und die Zeit ift nicht fern, tvo fein Name nicht einem 
Theil, jondern dem ganzen einigen Volke von Nordamerika ein theures Cigen- 
thum jein wird.“ 


Der amerikanijche Bürgerkrieg. 249 


Robert Lee war bei Beginn de3 Krieges, trotz feiner 54 Jahre, noch ein 
ſchöner Dann, von hoher, ſchlanker Geftalt, friſcher Gefichtsfarbe, fefter Gefund- 
heit; vier Jahre rauhen Kriegslebens, fteter Sorgen und unfäglicher Anftrengungen 
bleichten jein Haar, ließen aber die Kraft feines Willens ungebrochen. Der milde 
Ernſt feiner Züge imponirte, aber der freundliche Blick feines Auges gewann ihm 
alle Herzen, und wenige einfache, warme Worte, die er zu feinen Soldaten ſprach, 
übten in den jchwierigften Momenten ihre Gewalt. Obwol er fein Deitglied 
der Mäßigkeitsvereine war, trank er faft nie geiftige Getränke, rauchte nicht 
und theilte im Felde immer die Koft der Soldaten; alle reichen Geſchenke an 
Lebensmitteln, die für ihn beftimmt in feinem Hauptquartier — einem einfachen 
Zelt ohne Schilöwache mitten im Lager — ankamen, fandte er zu ben Ver- 
wundeten. Sn feiner tiefen Religiofität war, wie in der Jackſon's, ein puri— 
taniſcher Zug — ftrenges Pflichtgefühl, Wahrheit und Einfachheit bildeten den 
Grundcharafter feines Weſens, der fich jo ernft als liebenswürdig auch in feinem 
Tamilienverfehr ausſprach. Seinem Sohne, der fi) als Gavallerieführer im 
Kriege auszeichnete, jchrieb er einft: „Ihue Deine Pflicht, mein Sohn, Du kannſt 
nie mehr thun, thue nie weniger.“ 

Sherman hatte bei Raleigh am 29. April eine Gapitulation unter für bie 
feindliche Armee günftigen Bedingungen abgejchloffen, die er zur Ratification 
nah Wajhington jandte. Johnſton hatte fih mit 27,000 Mann und 110 Ger 
ihüben ergeben. Al Motiv giebt Sherman an, daß er fürdhte, die Armee 
Johnſton's würde ſich bei härteren Bedingungen zerftreuen und plündernd im 
Lande umberziehen; ferner wünjche er, nach dem Siege den Südftaaten den Wieder- 
eintritt in die Union möglichft zu erleichtern. Bei aller Anerkennung von Sher- 
man’3 humaner Abficht kann man es nur billigen, daß Johnſon die Capitu— 
lationsbedingungen nicht ratificirtee Der General einer Armee, der eine 
feindliche Armee zur Gapitulation gezwungen, garantirt in ihr allen Bewohnern 
ber Gonföderation ihre politiichen Rechte und Freiheiten, ihre perfönlichen Rechte 
und ihr Eigenthum, endlich eine allgemeine Amneſtie. Hier überſchritt Sherman 
jedenfalla jeine Befugniffe. Der Präfident und fein Cabinet mußten es ſich vor— 
behalten, jo mweittragende VBerheigungen auszufprechen; unter „perſönlichem Eigen 
thum“ verftanden die Conföderirten auch die Sklaven, deren Emancipation Lin— 
coln ſchon erklärt hatte. Am 14. April 1865 war Lincoln dur den Schaue 
ſpieler Booth, einen Fanatiker der Conföderation, im Theater ermordet worden; 
ihm war der Vice-Präfident Johnſon im Amte gefolgt. In diefen Tagen eines 
berechtigten Schmerzes und der Entrüftung über da3 Verbrechen war die Partei- 
leidenfchaft neu entflammt und das Cabinet wenig geneigt, die mildere Behand» 
lung eines jüdftaatlichen Heeres und die verſprochene Amneftirung der Empörer 
zu billigen. Die Capitulation wurde in einer für Sherman kränkenden Weiſe 
caffirt und Grant abgeſchickt, um eine neue, in derjelben Weile wie die mit Lee 
verabredete, abzujchließen. Sherman jah in der verleenden Form, in welcher 
die von ihm abgejchloffene Kapitulation umgeftoßen wurde, eine Intrigue des 
Kriegsminifterd Stanton, deifen Haltung in der Sklavenfrage und deſſen Ein- 
miſchung in die Operationen im Felde ev mehrfach getadelt Hatte. Die von 
Waſhington gejendeten treasury agents (Finanzbeamte) nahmen ohne jede Con— 


250 Deutſche Rundſchau. 


trolle alle Baumwolle in Beſchlag, und ſchon damals fanden gewaltige Verun- 
treuungen ſtatt. Die „New-York Times“ vom 24. April veröffentlichte einen 
Brief Stanton’3 an Grant, in weldem die böswillige Verleumdung wiederholt 
wird, Sherman ſei beftochen worden, um Sefferfon Davis mit ben geraubten 
Schätzen nad) Merico oder Europa entfliehen zu lafjen. In einem Briefe an Grant, 
der veröffentlicht wurde, vertheidigte fih Sherman in würdiger und überzeu= 
gender Weiſe gegen die durch den Krieggminifter Stanton erfahrene Beleidigung. 
In Walhington, in feiner Heimath Ohio, wie in der Armee, die er zu jo vielen 
Siegen geführt, fand er reiche Anerkennung, deren lauter Neußerung er fich gern 
zu entziehen ſuchte. Durch Grant’3 Verwendung, der, neidlos wie Lincoln, immer 
bereit war, fremdes DVBerdienft anzuerkennen, wurde Sherman nad) dem Frieden 
zum Generallieutenant ernannt, und jeit der fpäter erfolgten Wahl Grant’3 
zum Präfidenten ift Sherman Oberbefehlshaber der Armee. 

Mobile war am 9. April in Canby's Hände gefallen, nachdem dad Spanijh- 
Fort geftürmt worden war; ebenjo capitulirten alle Tleineren Feftungen öſtlich 
des Miſſiſſippi. Nur in Texas ſuchte Kirby Smith den Kampf fortzujfegen und 
forderte alle Bewohner de3 Trans-Miſſiſſippi zur Vertheidigung des VBaterlandes 
und der „häuslichen Inftitutionen”, nämlich der Sklaverei, auf. Da aber weder 
die Bewohner noch die höheren Officiere feines Heeres Luft zur Fortjegung des 
Kampfes zeigten, Schloß er am 25. Mai eine Capitulation, unter ähnlichen Be— 
dingungen wie die früheren, zu New-Orleans ab. 

Zu allen Zeiten hat die Stimme des Volles die Thaten großer Feldherren 
am höchſten erhoben; die Leitungen der Staat3männer, der Gejeßgeber, wie der 
Dichter und Gelehrten erjcheinen ihr in geringerem Glanz; e3 liegt dem das 
richtige Gefühl zu Grunde, daß der volle Werth des Mannes, daß der Wille, 
ber Kern des menſchlichen Weſens, nur im Kriege, vor Allem im Führer des 
Heeres, zu voller Entfaltung kommen fann. Weil im großen Feldherrn fich die 
jeltene Vereinigung eiſerner Willensftärfe, höchfter Mlarheit und Schärfe des 
Dentens, unermüdlicher Thätigfeit, alter Ruhe und vollendeter Selbſtbeherrſchung 
findet, jo gibt es unter vielen trefflichen Führen zweiten Ranges nur wenige 
de3 erjten. Mac Glellan, Rojenkranz, Mac Pherfon, Grant waren tüchtige, 
vielleicht audgezeichnete Generale, ebenfo viele der conföderirten Armee, wie Jadjon, 
Hood, Longftreet, Johnfton ; aber der vierjährige Bürgerkrieg, der alle Kräfte 
einer jo energiichen und reichbegabten Nation entfaltete, zeigt und nur zwei große 
Teldherren, Sherman und Lee. 

Lincoln’3 Nachfolger, Johnſon, ſuchte nad) Beendigung de3 Krieges die 
Linie der von feinem Vorgänger verfolgten Politik inne zu halten. Seward, 
der bisherige Führer der auswärtigen Politik, am 14. April durch einen Mit- 
verſchworenen von Booth ſchwer verwundet, blieb mit faft dem ganzen 
Minifterium. Die weſentlichen Ziele de3 Krieges, die Erhaltung der Union und 
die Aufhebung der Sklaverei, waren energiſch durchgeführt, die Sübftaaten 
wurden bi3 zu ihrer ſpäteren Reconftruction einteilen militärifch organifirt, 
im Mebrigen eine Amneftie erlafjen, die auf Jeden, der e8 beanjpruchte, aus— 
gebehnt wurde. Nur der Präfident Jefferſon Davis, der, nad) wenig würdiger 
Flucht in Weiberkleidung, am 10. Mai in Nord-Carolina vom Oberften Pritchard 


Der amerifanijche Bürgerkrieg. 251 


gefangen genommen war, wurde von der Amneftie ausgefchloffen und zur Unter- 
fuhung nad Fort Monroe gebracht; zu lebenslänglicher Haft verurtheilt, ift er 
fpäter begnadigt worden. Wer aus der Geſchichte aller Zeiten weiß, wie 
ſchonungslos nad) Bürgerkriegen die fiegreiche Partei den überwindenen Gegner 
zu Strafen und zu zertteten jucht, muß erfreut anerkennen, daß die Union gleich 
nad) dem Kriege, den fie oft ohne Erbarmen geführt, in den Südſtaaten feine 
Feinde, ſondern Glieder deifelben Staates, des gemeinjamen Vaterlandes ſah. 


Ebenjo wie Lee, der nad Auflöfung der Gonföderation „wieder ein treuer 
Bürger der Vereinigten Staaten war, für deren Wohl er täglich betete”, fo 
hatten auch der Vice-Präfident Stephens, Johnfton, Longftreet und die beiten 
Männer im Heer und Volk des Südens zuerft nad) abgeſchloſſener Gapitulation 
ihre Amneftirung nachgeſucht und fich offen für unbedingten, rückhaltsloſen An— 
Ihluß an die Union erflärt. Im Norden fuchten die Führer des Heeres, Grant, 
Sherman, Thomas und Andere, nad) dem Frieden da3 Schickſal der Ueber— 
Wwundenen zu erleichtern und ihre wirklichen Rechte zu wahren. Auch Charles 
Sumner, der jeit Jahren die Befreiung der Sklaven leidenjchaftlich verfochten 
und der als der geiftige Führer in dem Kampfe um fie anzufehen ift, trug in 
der gejeßgebenden Verfammlung von Maſſachuſets darauf an, die Namen der 
Schlachten in dem beendeten Bürgerkriege nicht mehr in den Fahnen zu führen. 
Jede kränkende und die Südftaaten verleßende Erinnerung jollte vermieden 
werden. Der alte, troß mander Irrthümer hochverdiente Summer, der einft im 
Senat von dem Sflavenhalter Broof3 überfallen und ſchwer gemifhandelt worden, 
erlebte die Kränkung, dab die Vertretung feines Geburtsftaates, Maſſachuſets, 
wegen jeines Antrages ein, jpäter wieder aufgehobenes, Tadel3votum über ihn 
ausſprach. Die Ermordung des wohlmeinenden, gemäßigten Lincoln war ein 
großes Unglüd für den Süden; fie fachte die Parteileidenfhaft zu neuer Gluth 
an und ftellte den, folder Aufgabe in feinem Sinne gewachſenen Johnſon an 
die Spitze des Staates. Die Politiker von Fach, in den Zeitungen, bei den 
Wahlen und im Congreß, die Lieferanten und Börjenjpeculanten fuchten den 
niedergeworfenen Feind aller Rechte zu berauben und den errungenen Sieg im 
eigenen, perfönlichen Intereſſe auszubeuten. Da im Gebiet der Conföderation 
bie Eleine, bisher herrſchende Minorität der Gebildeten und Befitenden nicht 
mit den Negern wählen wollte und ſich von der Betheiligung an den Wahlen 
für die Gemeinde, die Grafihaft und den Staat zurüdhielt, jo kamen alle 
Nemter in die Hände der „Carpetbaggers“ aus dem Norden, der „Swallowags“ 
im Süden, welche die Stimmen der Neger wie der weißen Proletarier durch 
Verfprehungen und Schmeicheleien leicht zu gewinnen wußten.*) In wenig 
geringerem Grade ift die Demoralifation des öffentlichen Lebens, nicht die des 
Privatlebens, im Norden verbreitet; der Gentleman zieht ſich von der Politik 
zurüd, und im Senat, in dem Repräjentantenhaufe, in der Regierung der Staaten 


*) „Carpetbaggers“ heißt Handgepäd:Träger und bezeichnet bie armen, aus dem Norben 
per Eijenbahn kommenden Stellenjäger, die fi) im Süden bereichern wollen. Swallowag ift 
nicht zu überſetzen, wol aus to swallow, freſſen, verjchlingen, an fich reißen und wag — Galgen: 
ſtrick gebildet. 


252 Deutjche Rundichau. 


wie in den Beamtenftellen der Union findet man im fteigenden Maße hab— 
jühhtige Jntriguanten. Die Gefahr, ftatt dauernder Anftitutionen, den ganzen 
Mechanismus der Verwaltung von den VBoltswahlen abhängig zu machen, bie 
gejeßgebenden und regierenden Gewalten allein aus ihnen hervorgehen zu 
laffen, zeigt Amerika in grellem Lichte. Die Demokratie, welche fich wie ein 
Strom über alle Eulturvölfer im Often und Welten ergießt, die Gleichheit, 
nicht Freiheit, und eine faſt jchrankenlofe Staatögewalt im Dienft der augen- 
blicklichen Majorität erftrebt, durchbricht oder überfluthet nach Toqueville's MWort 
alle Dämme, die ihr entgegengeftellt werden. Es gilt alfo, jagt er im Hinblid 
auf Frankreich, die Völker durch Self government, durch Theilnahme am öffent: 
lihen Leben, zur Achtung vor dem Geſetz zu erziehen, damit fie die unabwendbar 
nahende Demokratie ertragen fünnen. In den Bereinigten Staaten beftanden 
die Selbftverwaltung wie der gejegliche Sinn, den Stahl ein Erbtheil der 
anglifanifchen Race nannte; und daß diefer Sinn im Heere wie im Volk noch 
lebte, zeigte fich in großartiger Weile, al3 nad) dem Frieden eine Million Sol- 
daten und die fiegreichen Feldherren in vielen Schlachten, ohne ein Wort des 
Widerſpruchs, ohne jede Störung der öffentlichen Ordnung, ohne Belohnung für 
joviel Mühe und exduldete Gefahr, zur Arbeit ihres häuslichen Lebens in die 
Heimath zurücdkehrten. Im Verlauf de3 Krieges haben die Nordftaaten ettva 
1,500,000 Soldaten, darıınter 1,200,000 Freiwillige auf drei Jahre, eingeftellt. 
Die anderen Freiwilligen waren auf 3—9 Monate, auf 1—4 Jahre engagirt. 
Ueber 79%/, des Heeres waren eingeborene Amerikaner, 7%, Jrländer, 9%, Deutjche, 
der Reit Engländer und andere Nationalitäten. 

Nach) Stanton’3 Yahres-Rapport von 1866 waren am 15. November 1865 
800,963 Mann entlaffen, am 9. November 1866 1,023,021. 11,043 Freiwillige, 
theil3 Weihe, theil3 Farbige, blieben im Dienft. 

In dem vierjährigen Kriege hat das Heer der Nordftaaten 56,000 Dann 
in den Gefechten verloren, 35,000 ftarben an ihren Wunden in den Lazarethen, 
184,000 an Krankheiten, eine noch größere Zahl ftarb jpäter nad) der Ent- 
laffung aus den Lazarethen.*) Den Gejammtverluft der conföderirten Heere 
Ihäßt Draper auf etwa 300,000 Mann. 

Meifterhaft war im Norden die Thätigkeit der freiwilligen Hilfs-Comité's, 
auch die Einrichtung der Lazarethe, der Transportwagen für Vertvundete und 
der Ambulancen. Auf dem Schlachtfelde von Getty3burg, an heißen Julie 
tagen, trafen, von New-York gejendet, außer Erfriihungen und Verbands— 
Gegenftänden, große Mafjen von Ei3 ein, um die Wunden zu fühlen und den 
brennenden Durft der Verwundeten zu löſchen. Dagegen wurde in biejem 
Bürgerkriege feine Convention zum Schutze der Gefangenen und der Verwun— 
deten, die in Feindes Hand fielen, geſchloſſen, was ſelbſt im breißigjährigen 
Kriege mehrfach gejchehen war. 

Die Schulden der Union beliefen ſich nad) der Beendigung des Krieges auf 
2,749 Millionen Dollard, weit mehr als da8 Doppelte ber 5 Milliarden 
Francs, die Frankreich an Deutſchland gezahlt; der Verluft, den die Südftaaten 


*) Report of the secretary of war 186465. 


Der ameritanifche Bürgerkrieg. \ 253 


erlitten, einjchließlich deffen durch die Emancipation der Stan wird auf 
6000 Millionen Dollars geihätt. Der Wohlftand des an Hilfsquellen ſo zeichen 
Landes war, auch im Süden, feineswegs vernichtet; im Norden nahm die Ein- 
mwanderung während de3 Krieges noch zu, und der Bau der Bacifichahn 
fonnte energijch fortgejegt werden. Beide Gegner haben im Kampfe die Zähig- 
feit, Kraft und Glafticität de3 amerifanijchen Charakters gezeigt und bilden 
nad) ihrer Vereinigung eine Macht, die ſchon jeht über zwei Weltmeere hintveg 
ihren Schatten nad) Europa und DOftafien wirft. 

Freilich Eonnte jelbjt ein jo gewaltiger Krieg die Gegenjäbe, die in hundert 
Jahren fich entwicelt und geihärft hatten, nicht mit Einem Schlage aufheben. 
Die Grenzen der Staatenrechte und der centralen Unionsgewalt können exit nad) 
längerer Friedensarbeit feſt und ficher beftimmt werden. Nicht allein jenjeits 
des atlantijchen Meeres betätigt fich die Erfahrung, daß eine dee, die, nach— 
dem ihr lange die Geltung verjagt worden, zur Herrihaft gefommen, zuerft 
rückſichtslos und gewaltfam auftritt. So war in Nord-Amerifa feit Jahr» 
zehnten das Gefühl für die Union, für den Geſammtſtaat zurückgetreten hinter 
dem Streben nad) Erwerb und Gewinn, unterdrüdt duch die demokratiſche 
Partei, welche größere Unabhängigkeit der Staaten von ber Gentralgewalt 
forderte. Seit dem Siege über die Südftaaten haben der Präfident, der Con» 
greß und die republifaniiche Partei in einzelnen Fällen eine faft ſchrankenloſe 
Herrſchaft geltend zu machen gejucht, was, als Rückſchlag, eine neue Erftarkung 
der demofratiichen Partei herbeigeführt hat. 

Die Gewährung ftaatsbürgerlicher Rechte an 4 Millionen Neger, die 1863 
ein die Zukunft der Union fichernder und jegensreicher Entſchluß Lincoln's war, 
fann nur in Jahrzehnten, wenn viele Gewohnheiten und VBorurtheile im Norden 
wie im Süden vergeflen find, eine Wahrheit werden. Erſt wenn die Bill 
des alten Kämpfer für die Emancipation, Sumner, welche diejelben Schulen 
für Weiße und Neger fordert, eine Generation hindurch wirkſam gemwejen, mögen 
fih Haß, Verachtung und das Gefühl der Rache mildern, und dann erjt wird 
fich zeigen, daß die Emancipation der Sklaven Bedingung der Erhaltung der 
Union war, daß fie eine Nothivendigkeit und ein Segen für die Union ge— 
worden.*) 

Den Vereinigten Staaten ift die Herrſchaft auf dem weſtlichen Gontinent 
fo gewiß, als ein immer fteigender Einfluß auf die Geſchicke von Aſien und 
Europa. Am Beden des mittelländiichen Meeres entwickelte ſich die Geſchichte 
des Alterthums und des Mittelalters, am atlantiſchen Dteere die Gejchichte der 
neuen Zeit; jo werden ſich an den noch ſchweigenden Kiften des großen Oceans 
die Gejchicke der kommenden Jahrhunderte erfüllen. 


*) Dies Urtheil ftimmt keineswegs mit dem hervorragender Generale des Unionäheeres überein. 
So jagt Sherman in feinen Memoiren: „Die Negerfrage begann (1864/65) fichtbar zu werben, 
und Diele jahen vorher, daß die freiheit der Sklaven nicht blos gefichert werben folle, daß fie 
auch Stimmrecht erhalten würden. Ich hätte mir damals ein ſolches Rejultat nicht träumen 
laſſen; ich wußte, daf die Sklaverei für immer tobt war, aber ic) jehte nicht voraus, daß man 
die früheren Sklaven plöhlich, ohne alle Vorbereitung, zu Stimmenden machen würde, in focialer 
und politifcher Hinficht allen Anderen gleichgeftellt.“ 


Elwas von Lenz. 


Von 
Profeſſor L. Urlichs in Würzburg. 





Ueber die Bedeutung des unglücklichen Benz ala Dichter ift man wol im 
MWejentlicden einig:\es fteht feft, daß er unter allen Dichtern der Sturm- und 
Drangperiode ald Lyriker nach Goethe der größte war, und daß fein dramatifches 
Talent zwar durch twunderlichen Humor, phantaftiiche Willkür und falſche Behr- 
haftigkeit gehindert wurde, etwa Vollkommenes zu jchaffen, daß es aber echtes 
Leben, ſcharfe Charakteriftit und ergreifende Kraft entwidelte. 

Sein Charakterbild ſchwankt in der Geſchichte: fein vertrauter Freund, 
Goethe, wirft ihm „einen entichiedenen Hang zur Intrigue“ dor, und zwar 
„zur Intrigue an fi, ohne daß er eigentliche Zwecke dazu gehabt hätte“.*) Er 
erzählt eine wunderliche Gejchichte von den Bemühungen des jeltiamen Mannes, 
dem älteren feiner beiden Pfleglinge die Neigung feiner Geliebten in der Ab— 
mwejenheit gegen die Werbungen des jüngeren Bruderd dadurch zu erhalten, daß 
er fich jelbft in die Schöne verliebte, „ohne gewahr werden zu wollen, daß er 
fo gut al3 die Uebrigen ihr nur zum Scherz oder zur Unterhaltung diene“. 
Dieje Erzählung läßt den guten Dichter in einem jo zweideutigen, ja einem jo 
lächerlichen Lichte erjcheinen, daß man fich nicht wundern darf, wenn jeine eif- 
rigen Vertheidiger entiveder wie Gruppe **) fie ignoriren oder wie Dorer-Egloff ***) 
bezweifeln. Wol aber muß man fi wundern, daß jein heftigfter Gegner 
Dünter }) Lenzens eigene Ausſagen, feinen Soldaten liege eine wahre Gejhichte 
aus Straßburg zu Grunde, nicht recht glauben will. 


*) Wahrheit und Dichtung, XIV. Bud, Bd. 22, ©. 186 ff. der Ausgabe von 1840. Vergl. 
noch ebd. S. 57—59, 104, 248. Bb. 27, S. 270. Bd. 31, ©. 24. 
**) Reinhold Lenz, Leben und Werke. Berlin, 1861. 
4*5) J. M. R. Lenz und feine Schriften. Baden, 1857. ©. 155. 
+) Blätter für literarifche Unterhaltung 1862. ©. 489. Ich werde dieſen Aufjak künftig b., 
ben früheren, Morgenblatt 1858, Nr. 37 f., a. nennen. Ber lebtere ift in dem Buche „Aus 
Goethe'3 Freundeskreiſe“, 1868, ©. 87 ff., faft unverändert abaedrudt und mit einem Zufaße 
bereichert worben. 


Etwas von Lenz. 255 


Nun Fährt aber Goethe fort: „Mündli und nachher jchriftlich Hatte er 
„mir die jämmtlichen Irrgänge feiner Kreuz- und Querbewegungen in Bezug 
„auf jenes Frauenzimmer vertraut. Die Poefie, die er in das Gemeinfte zu legen 
„wußte, ſetzte mich oft in Erftaunen, jo daß ich ihn dringend bat, den Kern 
„dieſes mweitjchtveifigen Abenteuer geiftreich zu befruchten und einen Kleinen Ro» 
„man daraus zu bilden; aber e8 war nicht feine Sade, ihm konnte nicht wohl 
„werden, ala wenn ex fich grenzenlos im Einzelnen verfloß und ſich an einem 
„unendlichen Faden ohne Abfiht hinſpann.“ „Wie,“ fragt Dorer ©. 159, 
„tonnte Goethe in Wahrheit und Dichtung jo jprechen, da damals der Wald» 
„bruder von Lenz in feinen Händen lag und ex felbft denjelben jogar feinem 
„Freunde Schiller zur Veröffentlihung in den Horen mitgetheilt hat?“ 

Wenn Goethe den Waldbruder meinte, werden wir diefe Trage mit Nein 
beantworten müfjen. Denn die Fabel diejes Romans ift von der oben geſchil— 
berten Situation durchaus verſchieden und ihre reale Grundlage in anderen 
Berhältniffen zu ſuchen. Aber Schiller Hat von Goethe nicht diefen Roman 
allein erhalten. „Einige Lenziana” ſchickt ihm Goethe am 1. Februar 1797 *); 
Schiller nimmt fie mit lebhafter Freude entgegen, er meint (Nr. 275), daß 
„dieſe Fragmente immer einen biographifchen und pathologifchen Werth haben 
müſſen.“ &3 waren alſo mehrere: die Gedichte brachte der Mufenalmanad) 1798, 
den Waldbruder die Horen, von denen in Schiller’3 Briefe allein die Rede ift 
(vgl. noch Nr. 311 und 312), aus denen Dorer-Egloff ihn twieder abgedrudt Hat. 
Ein anderes Stücd behielt Schiller einftweilen zurüd: hätten die Horen da3 
Jahr überlebt, jo würden wir es wahrjheinlich in dem folgenden Jahrgange leſen. 

Denn jener biographiiche Aufſatz, über deſſen Inhalt Goethe berichtet, eriftirt 
‘zum großen Theile noch. Bei der Duchficht des Schiller-Archivs in Greifenftein, 
welches, Dank der unermüdlichen Sorafalt der verewigten edeln Tochter des 
Dichterd, noch manchen ungehobenen Schat birgt, fiel mir ein gut, aber nicht 
von einer Gopiften=, jondern von de Autors eigener Hand verfaßtes Manufcript 
in die Hände, „auf geringes Gonceptpapier gejchrieben, deſſen er (Lenz) fich ge- 
„mwöhnlich bediente, ohne den mindeften Rand weder oben, noch unten, noch an 
„den Seiten zu lafjen.‘ ch gebrauche Goethe's Worte (a. a. D. ©. 189), weil 
fie für beide Theile gleich charakteriftiich find. Auch die „fließende Hand‘ (©. 57) 
läßt fich nicht verfennen. Mir war Klar: ich hatte ein Manufcript von Lenz 
vor mir. Meine Freude wurde zwar durch die Wahrnehmung getrübt, daß in 
der Mitte und am Ende ein Stüd fehlt. Aber ich glaubte dennoch, auch in 
diefem fragmentariichen Zuftande twerde feine Mtittheilung den zahlreichen Freun— 
den von Lenz intereflant, den unzähligen VBerehrern feines großen Freundes will- 
fommen jein. 

Das urjprünglich in einer anderen Sprache, wahrſcheinlich der franzöfiichen, 
geichriebene Tagebuch umfaßte wenigftens 30 Herbittage, von denen einzelne 
theilweile auf dem Lande während des Herbftes d. h. der Weinlefe zugebracht 
wurden. Das Jahr wird zwar nicht genannt, läßt ſich aber ficher ala 1774 
beftimmen. Denn den Abend des 24. Tages brachte Lenz im Geift zu, demjelben 


*) Briefwechiel Nr. 274, Bd. I, ©. 262 der Ausgabe von 1870. 


256 Deutſche Rundichau. 


Gafthofe, wo Goethe mit Herder zuerft zufammengetroffen war, in der Gejell- 
ſchaft des Dichter? Werthes und ſeines Barons. MWerthes, ein Schüßling 
MWieland’3, Hatte fi) im Frühling 1774 zu Jacobi nad Düffeldorf begeben 
(Wieland an Jacobi 13. Mai, Jacobi's auserleſener Briefwechjel 1, Nr. 54) 
und, ohne Zweifel auf deſſen Empfehlung, die Stellung eine Hofmeifterd bei 
dem jungen Freiherrn von Hompeſch erhalten, den er im Herbft in die Schweiz 
begleitete. Am 13. December empfing Jacobi einen Brief von ihm aus Genf, 
worin er von einem zweiten Bejuche bei Le Sage berichtete (ebend. Nr. 67). 
Dort hatte er ſich aljo jchon eine Zeit lang aufgehalten; im Jahre 1776 weilte 
er noch mit ihm in Lauſanne (Dorer-Egloff S. 200). Alfo reifte er im Herbft 
1774 durch Straßburg. Auch der Monat de3 Jahres Tanrı ermittelt werden. 
Am 6. Tage las Lenz Goethe'3 Werther. Diejen ſchickte der Verfafjer vor dem 
23. September an Keftner (Briefe Nr. 104), aljo ungefähr um diejelbe Zeit an 
feinen Straßbirger Treund. Da nun der 12. Tag ein Samdtag war, mithin 
der 6. ein Sonntag, wird Lenz den Werther am 27. September, jpäteftens am 
4. October, gelefen haben. Mit dem 22. oder 29. September aljo beginnt dag 
Tagebuch. Mit diefer Datirung ftimmt der Umſtand überein, daß Lenz Lavater’3 
Schrift gegen den Landvogt Grebel mit einem Schüler las. Denn dieje hatte er 
vor dem 18. Juni erhalten; an diefem Tage verlieh er fie an einen Franzoſen, 
ohne Zweifel feinen Freund, den Romantiker Ramond de Garbonnieres (Dorer- 
Egloff, S. 181, Stöber, der Actuar Salzmann, ©. 31).*) Die deutjche Be— 
arbeitung fällt ſpäter. Denn da fie an Goethe gerichtet wird, dem er „zuerft 
mündlich, dann jchriftlich” feine Leiden mitgetheilt Hatte, kann fie erſt nad 
Goethe’3 Beſuch gegen das Ende des Mai 1775 unternommen worden fein. Doch 
ift auch fie no in Straßburg vollendet worden. Denn die Schöne fingt einen 
Pialm nad der Compofition de3 Herrn Meyer’ „von hier“.**) 

Wir beivegen uns größtentheild unter Bekannten, den Genoffen jene geift- 
reihen Vereins, an dem unter Salzmann’ Vorſitz auch Goethe Theil genommen 
hatte: der ehrjamen Jungfer Lauth (L—), in deren Haufe Krämergafje Nr. 13 
die Zijchgejellichaft zufammen kam, dem verehrten Actuar Salzmann (S—n) 
jelöft, der, von Lenz in feine Gejellfchaft eingeführt, wie ſich's gebührt, zum 
Rechten fieht; Lenzens älteftem und nächſtem Freunde, dem Straßburger Ott, 
einem franzöfiichen Sprachlehrer, der fpäter in xruffiichen Dienften nad Wien 
und Peteräburg ging (Stöber b. ©. 102). Unbelannt ift mir G— — ein [don 
älterer Mann, welcher Michaelis gegen Lenz vertheidigte und deswegen von ihm 
injultirt wurde. Wahrſcheinlich war irgend ein Gerücht von einem der geift- 
reichſten Werke des Dichterd, dem Pandaemonium germanicum, ***) jenem Be— 


2) ch werde dieſe Schrift künftig b., die andere „Der Dichter Lenz und Friederile von 
Sefenheim”, 1842, a. nennen. Die Schrift deſſelben Verfaſſers über Röberer habe ich nicht bee 
nußen können. 

*") Ich kenne biefen Meyer nicht; Meyer von Lindau, allerdings ein fleihiger Mufifer, war 
ſchon 1771 in Wien (Stöber b., ©. 80). 

**) Nollendet twurde dad Stüd, das Lenz im Sommer 1775 an Herder ſchickte (A. Herder's 
Nachlaß 1, S. 229), erſt in biefem Jahre. Früher konnte der Wirkung von Werther nicht ges 
dacht werden. Lenz lieh es nicht bruden, weil ihn Goethe gemahnt hatte, Wieland ungeichoren 
zu laſſen. 


Etwas von Lenz. 257 


fannten zu Obren gefommen. Denn darin twird „der jelige Michaelis“, der im 
Jahre 1772 geftorben war, verjpottet (Schriften 3, S. 224). Vielleicht haben 
wir in ihm jenen Gerhardi zu erbliden, der fi im Jahre 1771 in Straßburg 
aufhielt (Meyer bei Stöber b. ©. 79). Endlich finden wir unter den Neben- 
perjonen den Baron Hohenthal (H—), dem Lenz Stunden gibt und dem er 
eine poetiiche Abendmahlzeit verdankt. Ihn juchte er ſchon 1774 zu einer Reiſe 
in die Schweiz zu beivegen, die er im Juli 1777 antrat, aber nur bis Sitten 
fortjeßte (Dorer ©. 204, 216 f., 219). Es war ein alter Bekannter Schlofjer’z, 
den er nach dem Tode von Goethe's Schweiter bejuchte, alfo in der Nachbar— 
Ihaft, im Elſaß, anfällig. Die neu angekommenen Landsleute mögen junge 
Liepländer oder etwa der Berliner Flies oder Fries und fein Begleiter ge- 
weſen jein. 

Der Boden und die Umgebung von Lenzens Abenteuer find rein hiſtoriſch; 
folglich ift fein Grund, an diefem jelbft zu zweifeln, einer ſeltſamen Tragifomöpdie. 
Die Scene fpielt in dem Haufe eines wohlhabenden Kaufmanns am Paradeplat, 
da3 der beiden Töchter wegen von mehreren jungen Leuten bejucht wurde. Wie 
die Familie hieß, jagt der Verfaſſer nicht; da indeffen die Heldinnen oder Neben- 
perjonen jeiner Kleinen Romane Bulac, Freundlah, Weylacdh genannt werben, 
möchte ich glauben, daß der Name auf —lach endigte. Man jpielte Karten, 
Glavier, Harfe, fang fleißig, auch in öffentlichen Concerten, interejfirte ſich für 
da3 Theater und die Eugenie von Beaumarchais. Wohlftand und Bildung 
berrichte im Haufe; der Ton war frei, aber anftändig — kurz man führte ein 
deutjches, fein bürgerliches Leben, ähnlich dem Frankfurter reife, worin Goethe 
verehrte. Wie es jcheint, war eine Tochter verheirathet; wenigftens wird ein 
Heiner Neffe erwähnt; um die nächſt ältefte, eine ausgezeichnete Sängerin, be— 
mühte jih Ott. Zu einer Heirath fam e3 nicht, denn er ruft am 23. Decem=- 
ber 1780 aus: „wurde ich nicht Schon von der Bruft einer Geliebten losgeriſſen“ 
(Stöber b. ©. 102). Die jüngfte Tochter, eine ſchlanke Schöne, hätte eine Partie 
machen können, wie fie aber vor dem Beginn unjere® Dramas ab, weil ſich ihr 
eine glänzendere Ausficht eröffnete, 

Ein kurländiſcher Edelmann, Herr von Kleift, hatte außer einer ver- 
heiratheten Tochter drei Söhne, die ſich nach und nad) zu ihrer Ausbildung und 
zum Militärdienft im Elſaß zujammenfanden. Die beiden älteften begleitete 
ihr junger Landmann Lenz, nicht al3 Hofmeifter (demn gegen diefen Titel hat 
ex fi) verwahrt, Dorer ©. 135), aber ala Gejellichafter, oder, wie ihn Goethe 
nennt, als Mentor. Ex hatte bei ihnen Wohnung und Tisch und erhielt ge— 
legentliche Geſchenke; von einer feſten Bejoldung ift nirgends die Rede, Lenz war 
aljo genöthigt, Privatunterricht zu ertheilen. Nachdem man fi) eine Zeit lang 
in Berlin und Leipzig aufgehalten Hatte, langte die Gejelihaft im Frühling 
1771 in Straßburg an. Im Jahre 1773 (denn es ift von 4—6monatlichen 
Neijen die Rede) verliebte fich der Ältefte, den Lenz mit dem ehrenden Namen 
Scipio bezeichnet, in die jüngfte Tochter des Kaufmanns. Seine Briefe beftellte 
Lenz, ja er machte Verſe für ihn, wovon mwahrjheinli ein Gedicht vom 
23. April 1774 (Schr. 3, ©. 241) erhalten ift. Er jelbft war gleichgültig, denn 


258 Deutiche Rundſchau. 


er „blutete aus alten Wunden“.*) Er Hatte im Frühling 1772 den jüngeren 
Bruder in die Feltung Fort-Louis begleitet und von dort aus den wunderlichen 
Liebeshandel mit Goethe’3 geliebter Tyriederife angefponnen, den das ſchöne Ge— 
dicht „Die Liebe auf dem Lande“ (Schiller’3 Muſenalmanach 1798, ©. 74, 
Dorer ©. 131) mit einer Heirath fälſchlich beichließt.**) Friederike hatte ihm 
wol jchließlich einen Korb gegeben. Bon da war er mit bemfelben Officier im 
Herbft nah Landau gegangen, two fich der Plan, durch Reformen der Kriegs— 
baufunft ſich Hervorzuthun, entwidelte (An Salzmann bei Stöber a. Nr. 10 
und 11). Bald darauf kehrte er nad) Straßburg zu dem älteren Bruder zurück, 
während der jüngere mit jeinem Regimente bis gegen die Mitte des nächſten 
Junimonats blieb. Um dieſe Zeit ſchrieb Lenz an Lavater (Dorer ©. 179): 
„Ich bin Gejellihafter eines Curländiſchen Cavaliers, der im Begriffe fteht nad 
„Haufe zurüdzugehn, mich bier zu laffen. — — So aber muß gerad itzt dag 
„Schickſal jeinen jüngern Bruder, der bei einem andern Regimente fteht, mit 
„einem Regiment gegen den Tag deiner Abreije hieher führen (den 11. haben 
„Ne Ordre erhalten auszumarjchiren), der Bruder erwartet ihn, noch da3 lebte 
„mal vor feiner Heimreife ihn zu fprechen, und ich, in die allergeringften ihrer 
„beiden Geſchäfte vertwicelt, darf mich nicht von ihnen trennen — bejonders da 
„Diefe Reile in dem ganzen Lebenslauf des älteften Epoche macht.“ Es war 
die Krifis jenes Liebesverhältniſſes. Der ältere Bruder verſprach jeiner Geliebten 
die Ehe und hinterlegte die darüber ausgeftellte Urkunde, worin er eventuell 
eine bedeutende Summe als Entihädigung verſprach, bei einem Notar, Kurz 
vor jeiner Abreife traf ein dritter Kleiſt, der jüngfte Bruder, ein, ebenfalls in 
der Abſicht, in ein franzöfifches Regiment zu treten. Er betheiligte ſich nicht 
allein an jenem Geſchäft mit lebhaften Eifer, jondern ſchlug ſogar eine heim 
lie Vermählung vor. Scipio reifte ab; jein ältefter Bruder blieb ala Officier 
in Straßburg der weiteren Entwidlung de3 Dramas ziemli fern; der jüngfte 
zog mit Lenz in daffelbe Quartier und trat fortan in den Vordergrund. 

Und Lenz? Während er jenes Geſchäft mit dem Notar vorbereitete, an einer 
Unterſuchung der rechtlichen Folgen einer Mißheirath fich betheiligte, hatte er 
gleichzeitig an den jüngften Bruder, welchen er auf der Durchreife nad) dem Elſaß 
(in Leipzig?) Tennen gelernt hatte, die Liebe des älteften berichtet und durch deffen 
Vermittlung bei dem Vater die Rückberufung Scipiv’3 betrieben und erweckt. 
Erfte Intrigue. 

Als er in des Bruder? Wohnung das alte Verhältniß fortjegen durfte, war 
er überglüdlid. Nun entſpann fich die zweite tolle Verwicklung, welche das 
Tagebuch mit feltener Naivetät darſtellt. Der Schwager, wie ihn Lenz nennt, 
beftürmte den Bruder mit Briefen, worin er ihn aufforderte, dem Water feine 
Liebe zu geftehen; ex interejfirte fich jo lebhaft für die Braut, daß Lenz mit Recht 


*) Denjelben Ausbrud gebraucht Lenz am 10. Juni 1772 (Stöber a. S. 49). Ebenſo ftimmt 
ber „reifefertige Kranich“ (ebd. S. 57) mit dem „lahmen Kranich“ in Weimar überein. 

**) Andere Gedichte von Lenz, die ſich auf biefe Liebe beziehen, kenne id) nicht mit Aus» 
nahme der Elopftodifchen Ode ‚„Ausfluß des Herzens“ (3, ©. 234), die er zu der Zeit verfaht 
haben muß, ala er feine religiöfen Betradjtungen an Salzmann richtete. Oder follte die „Todes— 
wunde“ (Schr. 3, 244) noch die alte fein ? 





TER 1 P} 


Etwas von Lenz. 259 


oder Unrecht glaubte, er jei jelbft in fie verliebt. Um fie nun vor dieſem zweiten 
Liebhaber zu ſchützen, verliebte fich Lenz felbft, und zwar fterblid. Er ift von 
ihrer Gegenliebe troß mancher Ziveifel mehr und mehr überzeugt. Darüber ent« 
fteht ein heftiger Streit mit dem Nebenbuhler, es fommt zu einer zärtlichen Scene 
mit Araminten und — — Hier bricht die Handſchrift ab. 


Wir können die Geſchichte kühn fortfegen. Als fich Lenz endlich gegen feine 
Schöne erklärt, wird er ernftlich zurückgewieſen; der Schwager fordert Genug- 
thuung; ein Duell wird verabredet, aber zum Blutvergießen ift e3 nicht gelommen. 
Denn — man hat den leichtgläubigen Dichter zum Beften gehabt. unge Cur— 
länder hat man auf deutjchen Univerfitäten hinlänglich kennen gelernt, um zu 
begreifen, daß dergleichen Scherze, wie fie der jüngfte Hleift mit Wuth und Degen 
gegen feinen Begleiter treibt, ihren Sitten nicht widerſprechen. In dem Betragen 
der beiden Mädchen miichen ſich Mitleid und Muthwille zu ungleichen Theilen. 
Die ältere Schwefter ſchießt ſchmachtende Blicke ab, die jüngere bedauert feinen 
Verluſt im Kartenfpiel, ermahnt ihn wohlmeinend, jeine alten Freunde nicht zu 
vernachläjfigen, faßt aber ihr Urtheil über den zudringlichen Liebhaber in dem 
bündigen Snittelverje zufammen: „Hier fig’ ih auf dem Bennenkarren und habe 
„neben mir einen Narren.” Einen Narren! Der kecke Scherz enthält eine düftere 
Prophezeihung. Uns, die wir da3 Schickſal des Unglüdlichen Tennen, will es be— 
bünfen, al3 ob die Anlage zum Irrſinn Schon damals, wie das dumpfe Rollen 
eined Vulcans vor dem Ausbruche, fich zeigte. Das jchonende Wort „whimsical‘ 
Harakterifirt ihn in Goethe's Munde, und jchon am 23. November 1775 fchreibt 
Jacobi (auserleſ. Briefwechjel 1, S. 232): „Lenz hat, wie wir jämmtlich wiſſen, 
„einen herrlichen Geift in fi; aber vor feinen Augen ſchweben faft immer Wolfen 
„und Dünfte, jogar wenn er ald Dichter fieht.“ 


Hinreißend ſchön ift da3 Tagebuch geihrieben; jeden Lejer muß, wie Goethe, 
„Die Poeſie, die er in das Gemeinfte zu legen weiß, in Erftaunen jeßen.“ Aber 
wie grelle Gegenjähe zeigt da3 Betragen des Menjchen! Mit einem Buche über 
Kriegsbaukunſt in der Hand Ipaziert er einher und denkt an wichtige Reformen, 
aber er glaubt an Träume und Kaffeeſatz. Ohne Antriguen kann er nicht leben, 
er treibt fie con amore, ohne Sinn und ohne Eigennuß; mitten-in feiner Liebe 
ipricht er im Lehrtone über Vapeurs; feinem Feinde hält er einen Vortrag über 
den Unterjchied von Frauen und Goncubinen. Den Werther hat ex gelefen — 
er ftürzt zum Gonditor und kauft Zuderbrod. Seine Freunde vernachläſſigt und 
mißhandelt er, aber zu durchreifenden Fremden und neuen Antömmlingen fliegt 
er bin. Salzmann allein behandelt er ehrerbietig und macht ihn zum Richter 
über feine Liebe. Was diefer wol Goethen geanttwortet haben mag, al3 dieſer ihn 
bald nachher (am 5. December 1774, Stöber b. ©. 59) gefragt hatte: „Wie fi 
Lenz aufführt, möcht’ ich auch gern von Ihnen hören.“ Bielleicht etwa jo: 
Thörichte Streiche macht er noch immer, aber ein guter Junge bleibt er den— 
„no, und wir haben ihn alle lieb. Aber gegen Frauen benimmt er fich wie 
„Falſtaff gegen die Iuftigen Weiber.“ In der That hält er alle fir verliebt, er 
jelbft verliebt fich mit dem Kopfe, und die Eitelkeit bringt fein Herz in Bewegung. 


Dann aber ift e8 mächtig ergriffen. Leidenſchaft, Zorn und, wie wir ver— 





by Googl& 


260 Deutiche Rundſchau. 


muthen dürfen, Beihämung treiben ihn und ergießen ſich in mißlungener Profa, 
in geiftreihen Dramen, in herrlichen Gedichten. 

Den Rath, welchen ihm Goethe 1775 gab, einen Kleinen Roman aus dem 
Abenteuer zu bilden, hat er befolgt. Noch in Straßburg jchrieb er den „Zerbin 
oderdieneuere Philoſophie“, welcher im erften Stück des deutichen Mujeums 
1776 erſchien (Schr. 3, ©. 143 fi). Man vergleiche folgende Stellen: 

Zerbin S. 150. | Tagebud). 
„der er aber ein befiegeltes Verſprechen, „ein ſchriftliches — und Ver⸗ 
„Te gleich nach ſeines Vaters Tode zu „ſchreibung einer ungemein hohen Summe 
„heirathen, in den Händen eines könig— "Geldes zur Eicherheit, die bey einem 
„lichen Notars Hinterlaffen Hatte,“ | re Notär verfiegelt niedergelegt 
| „war 


Dffenbar war der königliche Notar in dem Eurfürjtlichen Leipzig die Kopie, 
der Straßburger da3 Original. Der Held Zerbin ift Lenz ſelbſt. Er docirt 
doppelte Baufunft, Kriegsbaufunft, ehrt Feſtungen erobern (S. 147, 150, 154); 
feine Aufwärterin liebt ihn im Tagebuche aufrihtig und leiht ihm im Roman 
fünf Gulden, Die beiden Kleiſt erfcheinen al3 feine Schüler Altheim und Hohen— 
dorf; beide machen der jchönen Renata, die mit ihnen und Zerbin Karten jpielt, 
den Hof; auch Zerbin entbrennt in Liebe. Sie aber ift eine abgefeimte Kokette; 
Zerbin zieht fi mit blutendem Herzen zurüd, und es fommt zu einem Zwei— 
kampf, aber hier zwijchen den vornehmeren Liebhabern. Die übrigen Züge der 
Erzählung find freie Dichtung; nur daß die Heldin 22 Jahre alt war, ift wahr: 
ſcheinlich, Zerbin's Entdekung, daß mit ihm nur gejpielt worden war, gewiß 
wahr. Das Product ift matt und dürftig: „es war nicht feine Sache“, lautet 
Goethe's ſchonendes Urtheil. 

Weit fruchtbarer hat der tiefe Eindruck des Erlebniſſes auf Lenzens beſtes 
Drama „Die Soldaten“ gewirkt. Bisher ſchienen die Winkelzüge in ſeinen 
Briefen, wenn man ihn nicht gerade mit Düntzer für einen Komödianten halten 
wollte, unbegreijlid. Am 25. Juli 1775 ſchickt er das Stüd an Herder (Nad)- 
laß 1, ©. 225), am 28. Auguft verfichert er: „Das ift nad) dem ftrengjten Ver— 
„Hand wahre Geſchichte, in den innerften Tiefen meiner Seele empfunden und ge— 
„weillagt. Aber jo Hoffe ich maskirt, daß das Urbild jelber, das num fein Herder 
„it, ji nimmer wieder darin erfennen twird.” Am 29., 30. September, am 
18., 20. November redet er begeijtert davon, thut aber zuleßt jehr heimlich damit : 
er will nicht, daß e3 vor einem Jahre gedruckt werde. Ebenjo in den Briefen 
an Zimmermann, der da3 Werfchen an den Verleger Reich und dem Verfafjer ein 
höchſt nöthiges Honorar von 15 Ducaten bradte. Der Drud begann mit dem 
neuen Jahre; Lenz ift erfreut und erjchroden; das Honorar braucht er nöthiger 
ala jein Leben; aber er wünjcht, das Stüd möge erft um Michaelis ausgegeben 
werden umd zwar unter wunderlichen Vorfichtsmaßregeln, pjeudonym mit dem 
falſchen Drudort Amfterdam (6., 15. März 1776; Büchner, a. d. Papieren d. 
Weidmann'ſchen Buchhandlung 2, 50, 59).*) Erſt nachdem er Straßburg ver- 


”) Zimmermann jchidte das Honorar an Herder und diefer es an Merd für Lenz. Außer 
bem fandte Zimmermann am 25. März einen Vorſchuß in Boie's Namen für die Helwing'ſche 
Buchhandlung an Merd. Diejes Iehtere Geld hatte Lenz am 9. April in Weimar noch nicht 


Etwas von Lenz. 961 


— 


laſſen hat, ſchreibt er aus Darmſtadt an Herder: „Ich will dir alles ſagen, Herder! 
„Das Mädchen, das die Hauptfigur meiner „Soldaten“ ausmacht, lebt gegen- 
„wärtig in der jüßen Erwartung, ihren Bräutigam, der ein Officier ift, getreu 
„wiederfehren zu jehen. Ob der’3 thut oder fie betrügt, fteht bei Gott. Be— 
„trügt er jie, jo könnten die „Soldaten“ nicht bald genug befannt gemacht 
„werden, um den Menjchen zu zericheitern oder zu feiner Pflicht vielleicht noch 
„zurüczupeitihen. Betrügt er jie nicht, jo könnte vielleicht das Stüd ihr 
„ganzes Glück und ihre Ehre verderben, obſchon nichts als einige Farben des 
„Details von ihr entlehnt find und ich das Ganze zujfammengelogen habe. — 
„Das ift die Bewandtniß: nun entſcheide!“ — No aus Weimar, nachdem da 
Stüd im März (Zimmermann an Herder, Nachlaß 2, 362 F.) erfchienen und Lenz 
al3 Berfaffer anerkannt war, fchreibt er, da er feine Eremplare in dem Buchladen 
fand: „Nach Straßburg dürfen fie nicht.” Einen guten oder wenigftens einen 
triftigen Grund zu diefer neuen, unſchuldigen Intrigue hatte der Verfaſſer aller- 
dings: mit dem jüngften oder dem jüngeren Kleift war er ausgejöhnt, er fürchtete 
neue Zerwürfniſſe. Noch am 23. October 1776 jchreibt er an Salzmann (Stöber 
a. ©. 82 ff.): „Wollen Sie jo freundlich jeyn, lieber Aktuarius, Röderern, falls 
„er noch in Straßburg ift, zu jagen, ev möchte mir da3 Paket von Herren von 
„Kleift nur mit der Poft zuſchicken, weil ich jehr ungeduldig darauf bin; die Briefe 
„könnt' er mir jelbft mitbringen.” Und als Nachſchrift: „Sollte Röderer etwa 
„gar das benannte Paket von Herren von Kleiſt noch nicht erhalten haben, jo jeyen 
„Sie doc jo gütig und begrüßen ihn jelbjt darum. Er weiß ſchon wovon bie 
„Rede ift. Und verfichern ihm von mir viele Empfehlungen.“ Wahrſcheinlich 
enthielt da3 Paket, das Lenz bei der Abreiſe zurückgelaſſen hatte, jeine Schriften. 
Als nun die ftolzgen Hoffnungen, ex werde fi „einmal in herzoglich jächfiicher 
Uniform” ſehen laſſen, jämmerlich gejcheitert waren, befiel ihn die Angft wegen 
der „Soldaten“ von Neuem: ex zettelte eine neue Intrigue an. Seinen Freund 
Klinger weiß ex zu bewegen, daß diefer am 6. März 1777 in einem Briefe an 
Reich die Autorfchaft mit ihren Folgen auf fi nimmt (dv. Beaulieu Marconnay 
in Goſche's Archiv 2, ©. 245 fi). Mit vollem Rechte urtheilt darüber Zimmer- 
mann in einem Briefe an Neid) vom 30. März (ebdj. ©. 256): „Was Sie mir 
„von Goethe jchreiben, ift wie gewöhnlich, und was Sie von Lenz jagen, zum 
„todt lachen. Ich denke, Klinger wird Sie wohl deswegen auf dem Theater nicht 
„Toltern und ſchreyen lafjen, ob Sie ihm gleich Fein Gertificat geben wollen, daß 
„er Berfafler der Soldaten und des Engländers jey.“ Auch den Grund der ängft- 
lichen Heimlichkeit hat Zimmermann am 2. Mai (niht März) 1776 richtig er- 
rathen. „Vermuthlich waren die Originale in Straßburg, wo er bis hierher ge— 
„lebt hat, und wo diejes jehr unangenehme Folgen bei den dafigen Offtciers für 
„ihn hätte haben fünnen.” (Büchner a. a. O. ©. 65.) 

Denn daß die Soldaten auf der Kleiſtiſchen Liebſchaft beruhen, beweilt der- 
jelbe notarielle Act, welcher den ſtärkſten Einfluß auf Lenz gemacht hatte. „Kurz 


erhalten. Ich bemerke dies gegen Düntzer's Anmerkung zu Herder's Nachlaß 2, ©. 371. Daß 
die Soldaten „Komödie“ heißen, ift gegen Lenzens Wunſch geichehen. Er wollte den Titel in 
„Schaufpiel“ verändert willen (undatirter Brief, der am 14. März ankam). 

Deutſche Rundſchau. IT, 8. 18 


262 Deutſche Rundſchau. 


„und gut,“ jagt Weſener (3, S. 287), „ſchick herauf zu unſerm Notarius droben, 

„ob ex zu Haufe ift, ich will den Wechjel, den ich für ihn unterjchrieben Habe, 
"vibimiren laffen, zugleich die Kopey von dem Promesse de Mariage und alles 
„den Eltern ſchicken.“ 


Danad) dürfen wir die Perfonen de3 Tagebuchs benennen : 


Der Bater, ein Kaufmann . . . Mejener. 

Die Mutter -. - . 2 2 220. Frau Weſener. 
Die Braut . . » 2 2.2.0. Marie 

Ihre Schweiter.. . +. Charlotte. 
Der zurüdgewiejene Freier + Gtolgius, 
Scipio von Hleift . - .» » =». Desportes. 

Der — et ee Ye, ar BE 

un . . Gifenbarbt. 


Blafjer wirkt die — deſſelben Berhältniffes auf die bald nachher ge- 
dichtete Komödie: „Die Freunde mahen den Philofophen“. Reinhold 
Strephon ift Lenz; er bat fieben Jahre lang (176975) von feinem erzürnten 
Vater kein Geld erhalten und befindet fih in taujend Verlegenheiten. Für den 
untiffenden Edelmann Don Alvarez: Hleift I.*) macht er Gedichte an die Geliebte; 
fremde Briefe ſteckt er ein (Lenzens fpecielle Liebhaberei). Die Heldin heißt Sera- 
phine, wie in dem gleich zu beiprechenden Gedichte. Aber die Verwicklung mit 
ihrem Liebhaber Don Prado und die Löjung ift freie Dichtung nach Goethe's 
Stella. 

Die Gedichte, welche man auf jenes myſtiſche, willkürlich erfonnene Ver— 
hältniß in Weimar zu beziehen fortfährt, **) nachdem Dünter einleuchtend bewieſen 
hat, daß die Grundlage der Hypothefſe falſch ift, find echte, Schöne Kinder der Muje; 
mit ergreifender Wahrheit ftellen fie des Dichter Gefühle dar; nur darf man 
nicht aus der Poefie die projaiiche Wirklichkeit, jondern muß aus ihr die Dichtung 
erklären. Am leichteften gefchieht dies mit dem Gedichte Nr. 198 (bei Zöppritz 2, 
©. 312). Die Ueberſchrift: „Dis ward den Abend vor dem Duell geſchr.“ ift 
durchgeftrichen. Lenz glaubte, er werde einen Zweikampf zu beftehen haben, zu 
dem es nicht gefommen ift. Cine Schöne, die ihn zurückgewieſen hat, diejelbe 
Seraphine, welche in der Komödie den weiblichen Fernando fpielt, redet er mit 
den Häglichen Worten an: 

Haft bu mich je in den beglüdten Stunden, 
Da ich noch nicht verſtoßen war, 
Wohl anders als ein Kind gefunden? 

Kindiſch war die Liebe zu einer Braut in der That, aber begreiflich ift es, 
wenn fie einmal über ihren Ausbruch entrüftet dem Schtwager ihre Noth 
ee Dies reine Feuer macht ein Bube, fich zu rächen, 

Mir zu dem jchwärzeften Verbrechen ? 
Und du mit ihm? 


Der Scherz hatte fih in Ernſt vertvandelt: Lenz war von dem jüngften 





*) „D, ein gut gut Sind! aber — jchredlich dumm!” So jchildert ihn die Hauswirthin 
(a. Herder's Nachlaß 1, ©. 218). 
**) Böpprik, aus F. H. Jacobi’ Nachlaß 2, ©. 287 ff. 


Etwas von Lenz. 263 


2 


Kleiſt gefordert worden, nachdem Seraphine (oder Araminta) fich beleidigt ge- 
fühlt hatte. Worin die Beleidigung beftand, würde das Ende des Tagebuchs 
lehren. Einen Erſatz bietet wol das Gediht „Der verlorene Augenblick“ 
(3, ©. 249). Die Schöne hatte er überraiht. In Balltoilette, einem weißen 
Kleide mit Rojen, und reichlich) parfümirt lag fie auf dem Sopha. „In weißen 
Gewölfen, | Mit Rojen umjchattet, | Duftete fie hinüber zu mir, | In Liebe hin— 
geſunken.“ An das Herz hatte Lenz fie gedrüdt — aber nicht gefüht. Doc 
wage ich nicht, das jchöne, aber dunfle Gediht mit Beſtimmtheit auf dieſe 
Situation zu beziehen.*) Ohne Schuld an de3 Dichters Irrthum war Seraphine 
nicht geweſen. In einem der Concerte, welche fie mit ihrer Schwefter bejuchte, 
hatte jie ihm tröftend und nedend eine Papillote zugeworfen. In dem Dant- 
gedicht (Zöpprit Nr. 197, ©. 311) wünſcht fich der Dichter den Tod von ihrer 
Hand: 

Selbft ad! dein Glück verlangts, ich fühl’ es, ach! mit Zittern, 

Daß ich im Wege bin — jo thu es befte Hand! 

Ih muß mir täglich nur das Leben mehr verbittern, 

Und thuſt du's nicht — dann Gott! erhalt mir den Verſtand! 

Es überriejelt den Lejer. Wenn „ihm, in Abſicht auf Beurtheilung und 
Imputation immer feine Halbnarrheit, ein gewifjer von Jedermann anerkannter 
bedauerter, ja geliebter Wahnfinn, zu Statten kam“ (Goethe 27,470), jo wiſſen 
wir nur zu gut, daß ein jchredliches Vorgefühl feines Schickſals die Empfin- 
dungen auc des gefunden Dichter verdüfterte. — Eine wichtige Folge hatte 
der Handel für den armen Lenz. Sein Vater verzieh ihm die eigenmächtige 
Reile nad) Straßburg nicht; er ließ ihn ohne Unterftüßung, und was nüßten 
ihm deſſen vorwurjsvolle Briefe? Jetzt entging ihm auch die Hilfe de3 Herrn 
von Kleift. Von der gutmüthigen Hausfrau, weldhe Lavater im Juli 1774 des 
„herzguten Jungen“ wunderliches Leben und die Dummheit jeines Pfleglings 
ergöblich geichildert hatte (a. Herder’3 Nachlaß 1, ©. 217), mußte er ausziehen, 
er war ganz auf fich jelbft angetviefen. Nachdem er den Herzog von Weimar 
gejehen hatte, vor Goethe'3 Ankunft, etwa im April 1775, jchrieb er an Lavater: 
„sh wohne zivar jelbft nicht mehr da, indeſſen ftehe ich doch immer in Zu- 
lammenhang mit ihnen“ (Dorer ©. 181); er ift zufrieden, „weil fein Schidjal 
beiler worden.“ Aber wie? Den ganzen Tag läuft er „wie ein Poftpferd 
herum“ und gibt Lectionen (ebd. S. 193). Iſt es ihm zu verargen, wenn er 
auf alle Weile aus Straßburg fortzulommen verſucht? Wir verjeßen uns 
ſchwer in die fümmerliche Eriftenz eines Klinger, Lenz, Wagner u. A. Wenn 
wir jelbft den wohlhabenden Goethe jeine unruhigen Blide nad) Darmftadt, 
Karlsruhe, Weimar richten jehen, wenn wir die Bekümmerniſſe von Herder und 
ipäter Schiller'3 Pläne, Entwürfe, Anleihen und Nöthe, bis er ſich mit geborgtem 
Gelde in Körner’3 Arme rettet, mit Lenzens trauriger Lage vergleichen, jo dürfen 
wir ihm fein Hangen und Bangen, jeine übertriebene Borftellung von der Wich— 
tigfeit feiner Arbeiten nicht bejonders verübeln. Wie lange freut er ſich der 
Ausficht, den Sohn des „Berliner Münzjuden“ Ephraim, jeinen Schüler Flies 


*) Vielleicht jchildert e3 blos eine poetiſche Vifion. 
18* 


264 Deutiche Rundſchau. 


oder Fried, nach Italien zu begleiten! Am 29. Juli 1775 erwähnt er fie gegen 
Lavater (Dorer ©. 196), am 28. Auguft gegen Herder (Nachlaß; ©. 226); auch 
da ſich die Sache in die Länge zieht, hält er im November und December daran 
feft (ebd. ©. 233. Dorer ©. 195 und 198), und im October 1776 war Flies, 
wie er glaubte, no in Straßburg (Stöber a. ©. 84). 

Und doch verjeßte ihn die Befreiung von dem Drud feiner Umgebung, jo 
lange man feine Stunden bezahlte (und im Uebrigen borgte), in eine behagliche 
Stimmung; für feine 15 Sols badet er in dem Gärten am Contade und 
dankt in einem anmuthigen Gedichte (Stöber a. ©. 89, Gruppe ©. 310, 
Zöppriß 3, 302) dem freundlichen Wirthe, dem Bilde oder der Bildjäule des 
Baterd Rhein, die mit „zerzoddeltem Haar“ in dem Badeplatze an der FU ftand.*) 
Damal3 war er „von jeder Sorge frei, von jeder Leidenihaft“. Daher ift 
dieſes Jahr fein productivftes geweſen. Er jehrieb die „Soldaten“, „Die ver- 
[orenen Wolfen”, den „Zerbin”, die Komödie „Die Freunde machen den Philo— 
ſophen“, den „Petrarch“. Dieje poetiſche Erzählung (3, 79 ff.) ift in einem 
Thale (dem Steinthal?) zur Zeit der Ernte gejehrieben und 1776 in Winterthur 
herausgegeben worden. Da num Lenz ein größeres Gedicht, ohne Zweifel das— 
jelbe, in einem Briefe an Lavater (Dorer ©. 198) gedrudt zu jehen wünſcht 
und zugleich meldet, daß feine Ueberjegung von Oſſian in der „Iris“ zu er- 
fcheinen angefangen habe, d. h. in den Juni» und Juliheften 1775, muß der 
Petrarch in den Auguft dieſes Jahres fallen, wahrſcheinlich vor die letztgenannte 
Komödie.*) Auch Hier ericheint die unglüdlihe Liebe, nur anders gewendet. 
Der Schwager ift verſchwunden, Scipio-Colonna hat ih mit Laura-Araminten 
vermählt, „insgeheim, weil ihm fein Nitterftand die Ehe unterjagt“. Die feier- 
liche VBermählung, wovon in Straßburg die Rede geweſen ift, ift alfo vollzogen. 
Benz Petrarca, Eolonna’3 Freund, ift „arm mie der Mond, der nur von frem— 
der Güte jcheint, aus feinem Baterland vertrieben — fein erzogen — und fo 
ſchiffbrüchig nun“. Mit diefen beiden letzten Schöpfungen jchließt die Ein- 
wirkung de3 Tagebuchs, einzelne Reminifcenzen abgerechnet, ab. Die Vorträge 
in der deutſchen Gejellichaft (jeit dem 5. November) find von jeder leiden— 
ſchaftlichen Aufregung frei. Aber der Dichter war nicht dazu gemacht, ruhig 
zu bleiben. 

Dom Winter 1775 an begeiftert ihn eine Leidenfchaft, die, platonisch im 
höchſten Grade, wie feine bisherigen Erlebniffe, einen komiſchen Beigefhmad hat. 
Das liebſte Geſchäft des „Narren auf Charaktere” war, fremde Briefe zu lejen 
An Herder ©. 228, an Lavater bei Dorer ©. 197, Goethe 27, 271). Als er 
die Briefe der Baronin Henriette von Waldner, vermuthlich bei feiner Wirthin 
Jungfer König, mit welcher auch Herder’ 3 Braut im Briefwechjel ftand, im 
Herbſt erhafcht Hatte, verliebte er fi in die unbefannte Briefftellerin, und zwar 


*) Megen bes heitern Tons ſetze ich da Gedicht in den Sommer 1775. 

**) Die flüchtigen Aufſätze (2, 289 ff.) fallen in ben Winter. Abdrüde des „Familien: 
gemälbes" erwartet Lenz Ende Mai 1776 (Dorer ©. 202). In einem undatirten Briefe an 
Sayfer fragt Lenz, was aus jeinem Petrarch geworden ift (Grenzboten 1870, IV, 457). Diefer 
Brief bezieht fi auf einen an Lavater am 29. Juli geichriebenen (Dorer ©. 196), ift alfo in 
den Auguft zu ſetzen. Darin flagt Lenz ſchon über Schulden. 


Etwas von Lenz. 265 


zuerſt in eine faljche, die er im Concert oder Theater gejehen hatte (Schr. 3, 247, 
Dorer ©. %, 103), Auch als er die wahre Verfaſſerin, um die ſich ein Herr 
von Oberkirch beivarb, ausfindig gemacht hatte, blieb er ihr eine Zeit Yang un: 
befannt (Schr. 3, 242, Zöpprig 2, S.309); endlich gelang ihm, wonach er lange 
geftrebt hatte (Schr. 3, 251). Welche Mittel ex angewendet bat, weiß man 
nit. Vermuthlich benutzte er die Verbindung mit Lavater, dem er ihren 
Schattenriß und ihr Bild verſchaffte. Der Brief, worin er ihm das Bild für 
jeine Phyfiognomif in Ausficht ftellt (Nr. 11 bei Dover ©. 194), ift bald nad) 
Lindau’s, eines Hannoveraner3, den Goethe in der Schweiz bejucht hatte, Rück— 
kehr und bald nach des letzteren Ankunft in Weimar, aljo im November, ge- 
jchrieben. Nicht ohne Mühe gelingt es, ihr einen Brief an Lavater und wol 
auch das Bild abzugewinnen (ebd. S. 197); den Brief hat Lenz feiner Gewohn— 
beit nad), ehe er ihn abjendet, gelefen und ohne Bedenken erbrochen. Vielleicht 
fällt die perſönliche Bekanntſchaft noch jpäter; denn, wie Düntzer b. ©. 286 
bemerkt, jpricht Benz am 6. März 1776 in einem Briefe an Knebel (Knebel's 
Nachlaß 1, 56) von einer ausgezeichneten Dame von Adel, deren Bekanntſchaft 
er „neulich“ gemacht Hatte. Es mag im Garneval gejchehen fein. Genug, er 
war entzüct und feierte jeine Schöne in allen Tonarten, vorwiegend in Moll. 
Gruppe hat die Vorzüge dieſer merlwürdigen Gedichte geſchmackvoll entwicdelt ; 
die bedeutendften find nit in Straßburg, jondern in Weimar gejchrieben, und 
nicht alle beziehen ſich auf die Waldner. 

Dieje Liebe, wenn nicht im Herzen, jo doch im Kopf, riß fich Lenz plötzlich 
von Straßburg und feinen Schulden los. Halb zog es ihn nad) Weimar, halb 
ſank er hin. Den Herzog und Mehrere jeiner Umgebung kannte er perſönlich; 
Goethe hatte ihn im November gemahnt, Wieland zu ſchonen, und jchon dadurch 
den Gedanken xege gemacht, e3 ebenjo zu verjuchen, wie fein glüclicher Freund: 
mit Wieland ſich zu vertragen und von dem Herzog ſich eine bejjere Lage zu er- 
wirken. Freilich war der Unterſchied groß: Goethe war eingeladen, und Lenz 
ging auf's Gerathewohl. Aber hatte er nicht feinen vertrauteften Freund dort? 
Konnte der ihn nicht halten und fördern? Die Trennung des Jahres 1772, 
das Wiederjehen im Jahre 1775, der ununterbrodhene Verkehr hatte die Freund: 
ichaft, wie es jchien, unlösbar befeftigt. Mit hingebender Bewunderung ordnete 
der Schwächere fi) dem Genius unter, aber er war nicht blos der Empfangende, 
hatten doch feine Soldaten Goethe das Motiv zu Egmont’3 bürgerlicher Liebe 
und der rührenden Figur Bradenburg’3 gegeben. Man konnte weit kommen 
auf dem glatten Boden, aber man Eonnte leicht ſtraucheln und fallen. 

Bon Merk in Darmftadt freundlich; empfangen, in Frankfurt von Klinger 
und Schleiermader eingeholt (Grenzboten 1870, II, 491), im Goethe'ſchen Haufe 
gefeiert (Holtei, Dreihundert Briefe ©. 132), erhielt er unterwegs, einige 
Stunden hinter Frankfurt nad) Weimar, die Nachricht, daß Fräulein von 
Waldner mit dem Herrn von Oberkirch verlobt jei. Er ift außer ſich und be- 
ſchwört Lavater, er jolle fie durch einen abmahnenden Brief von der unwür— 
digen Verbindung abhalten (Dorer S. 160), Natürlich wünſcht er auch bei 
diejer Intrigue im Verborgenen zu bleiben. „Nur wenn Du merken läfjeft, daß 
ich dahinter ſtecke, ſo bin ich verloren.“ Der Brief ift unmittelbar nad) dem 


266 Dentiche Rundſchau. 


im März von Darmftadt ar Herder geichriebenen (Nachlaß 1, ©. 239) abge= 
faßt; denn im beiden ift von der Herder in Weimar auferlegten Probepredigt 
die Kede. Die Braut, mit der er in feiner näheren Verbindung geftanden bat, 
wird ihm die Verlobung nicht angezeigt haben, jondern, vielleiht in ihrem Auf- 
trage, ein Freund. Seinen Schmerz drückt da3 unvergleichliche Gedicht (Schr. 3, 
248) aus,T wol eines der jchönften, die unſere Literatur beſitzt, Die Worte 
„wo Niemand weiß, wer mich verbannt” find nicht im buchſtäblichen Sinne zu 
nehmen. 

An einem omindjen Tage, dem 1. April, traf Lenz in Weimar ein. Goethe 
empfing ihn nad) feiner Rückkehr am 4. mit offenen Armen, führte ihn bei Frau 
von Stein ein. Anfangs ging Alles vortrefflid. Nicht allein war Wieland, 
wie das jeine Art war, von ihm entzüdt (Gruppe ©. 45), ſondern aud die 
höchſten Herrichaften bezeigten ihre Gemwogenheit. Der Herzog jorgte für jeinen 
Unterhalt, und mit der Herzogin Mutter ftand er ausgezeichnet; er feierte fie in 
galanten Gedichten. Goethe fpeifte öfters mit ihm im Garten, ſchlief dort mit 
ihm; noch im Juni erwähnt ihn das Tagebuch (Keil, Bor hundert Jahren, 
1. Bd.). Seine närriſchen Streiche wurden beladht und verziehen. Aber im 
Juli Scheint ſich feine Stellung getrübt zu haben; man wurde feiner überdrüſſig; 
er ging in das einjame Berka. Dort bejuchte ihn Goethe am 17. Juli und am 
6. September; er fand ihn „jo glüdlicy ala er es fein Fann“. Das Tagebud) 
enthält das bedeutjame Wort: „Schweigen“. Bis zum 12. September war 
er fleißig. Er ſchrieb u. a. das zierliche Gedicht an Wieland (3, S. 263), den 
Tantalus und den Waldbruder. Die erfte Erwähnung diejes wunderlichen 
Romans thut die Herzogin Mutter in einem undatirten Briefe an ihren Sohn 
(Keil ©. 34 f.), der am 20. Juli den Schadht de3 neu eröffneten Bergwerks in 
Ilmenau befuhr und am 14. Auguft wieder in Weimar anlangte. Nach einigen 
Scerzen über das Graben nad) Schäßen fährt die Mutter fort: „Grüßt alle 
Brüder Herze, die es oben gibt, und jollten e3 auch Waldbrüder feyn, jo bittet 
fie, daß fie mein gedenken!“ Der Plan des Romans war ihr aljo bekannt 
(hatte ihr Goethe davon erzählt oder Lenz geichrieben?). Es unterliegt alfo 
feinem Zweifel, daß er dort gejchrieben wurde; daß er nicht vollendet wurde, 
rührt von der unerwarteten Aenderung von Lenzens Verhältniffen her. Auch 
konnte der Dichter vor der Ausjöhnung mit Wieland nicht jeiner Figuren, 
Dlinde, der Schatouilleufe, des Idris, ſich bedienen. 

Der Waldbruder jchließt die Liebe zur Waldner ein und ab. Dies beweift 
vor Allem die heftige, zuletzt zornig drängende Sehnſucht Herzens nad dem 
Bilde feiner Geliebten. Ein ſolches Bild eriftirte allerdings. Lenz nennt am 
14. April 1776 (Dorer S. 199) ein Porträt von Baley, nach welchem für 
Savater’3 Phyfiognomik ein Stich von Halbholz gemacht wurde. Der Maler 
wird von Heinede (diet. des artistes) und Füßly genannt; man kennt aber 
blo3 dies eine Werk von ihm; wahrjcheinlich lebte er in Straßburg, ebenjo tie 
der Supferftecher; denn wir wiſſen, daß Lavater in Straßburg ftechen ließ 
(Dorer ©. 181). Sowol Lenz ald auf Grund früherer Bekanntſchaft der Herzog 
und Goethe fanden die Abbildungen unzulänglich (Dorer ©. 181), Wenn ich 
ber Wiener Ausgabe von 1829 trauen darf, jehe id) das Porträt in den Ab» 


Etwas von Lenz. 267 


bildungen IV, Th. 10, Nr. 122. Dies Bild wird Fräulein dv. Waldner Lenz 
nicht gegeben haben. Wol aber beſaß er einen Schattenriß, den er Lavater ge— 
ſchickt Hatte und ſtürmiſch, faſt ebenjo ungeduldig, wie der Waldbruder Herz, 
von jeinem Freunde zurücdverlangte (Dorer ©. 195, 199, 201, vgl. mit ©. 125, 
128). Dieſes Bild wird er durch Röderer zurüderhalten haben; er befränzt es 
in den jchönen Verjen 3, 251 und zwar „in dunfeln Wäldern” (ebd. ©. 243). 
Der Roman ift alfo unzweifelhaft auf dem Lande, in Berka, gejchrieben. Er 
enthält eine bunte Miſchung von Orten und Perjonen, aber viele echte, aus des 
Dichters Leben gegriffene Züge. Er hat jeinen Dienft (bei Hleift) niedergelegt 
muß den ganzen Tag informiren, Leute, die träger als Steine find; dennoch ift 
ihm das Geld ausgegangen, und Niemand will ihm mehr borgen. Die Gräfin 
(Frl. v. Waldner) nennt er nach Goethe Stella, er liebt ſie aus ihren Briefen 
ſchwärmeriſch und lernt fie bei der Wittwe Hohl, bei der er gewohnt hat, kennen ; 
fie läßt fich malen; ihre Verlobung wird ihn wie ein Donnerſchlag treffen. 
Sein Freund Rothe, an den das Bild fommt, ift ganz Goethe, der glückliche 
Goethe, den er in dem Briefe an Lavater S. 200 Migare nennt, wie ihn die 
Augen der Freundſchaft und des Neides jehen. Ya, vielleicht jchildert das elende 
Tamilienconcert S. 99 die Mufit im Amthaus (Tagebuch 6. Auguft). Auch 
die Wittwe Hohl, die theure Olinde, jcheint einige Züge von der Yungfer König 
entlehnt zu haben. Der Roman ift wirklid „ein Pendant zu Werther's Leiden”, 
unter den Erzählungen bei weiten die vorzüglichite. 

Nicht ohne Einfluß jcheinen die Bejuche von und bei Goethe geblieben zu 
fein. Die Ahnung, daß man ihn in Weimar „wie ein krankes Kind“ behandelte 
und daß man fich über ihn freute, aber auch über ihn lachte, war ihm auf- 
gegangen. Das Erzeugniß diefer kränkenden Wahrnehmung ift da3 geniale 
Dramolet Tantalus, ein Tiſchgenoſſe der Götter, aber zugleich die Zielſcheibe 
ihrer Scherze. Goethe lad es am 14. September, am 16. jchrieb er an Mterd: 
„Er hat Sublimiora gefertigt.“ Innige Theilnahme widmete jeiner Lage die 
edle Frau dv. Stein. Daß Goethe nicht der beite Lehrmeifter des Englifchen 
jein mochte, hatte fie am 25. Auguft erfahren; fie ließ Lenz zu fich einladen, 
und am 12. September ritt er, freudig überrafht, nad Kochberg, von wo er 
am 31. October in ihrer Gejellihaft nad Weimar zurückehrte Nicht ohne 
Empfindlichkeit jah Goethe ihn Hinziehen. Dort jcheint das überfpannte Stüd 
„Der Engländer” unter dem wohlthätigen Eindrud der englifchen Lectüre und 
dem quälenden jeines Berhältnifjes zum Hofe, vielleicht dev Herzogin Mutter, ent- 
ftanden zu jein. Der Brief an einen Buchhändler Weymar d...... 1776 
(Holtei II, ©. 131) bietet „ein neues Stüd” an, wofür 5 Louisd’or verlangt 
werden, ein in den Augen des Dichter hohes Honorar. Mithin Hatte das 
Stüd nur einen fleinexen Umfang. Diefer Umftand paßt auch auf den Tantalus. 
Da aber diefer in Goethe’3 Händen zurüdblieb, der Engländer bei Rei im 
Jahre 1777 wirklich erichien und zwar zu Anfang des Jahres (Zimmermann 
an Reich 30. März), glaube ich, die Abjendung in den November 1776 ſetzen zu 
dürfen. Das Werk ftößt den Lejer ebenſo jehr zurück, wie es ihn anzieht: mit 
Grauen jehen wir den Berfafjer in den Vorftellungen des Wahnſinns wühlen, 
die an ihm jelbft zur Wahrheit werben jollten. Es Eonnte kaum fehlen, daß 


268 Deutſche Rundichau. 


fi) Lenz bei täglihem Umgang aud in Frau v. Stein ein wenig verliebte, 
und gewiß nicht, daß er ihr Verhältnig zu Goethe zu erjpähen juchte. Beim 
Abſchied dichtete er die jchönen Verje: „So ſoll ich dich verlaflen, Liebes Zimmer, 
two in mein Herz der Himmel niederjant” (3, 252). Er preift die Gefühle, 
welche Shafejpeare der Wirthin einflößte (vgl. Stöber a. ©. 83), und ſchließt 
mit einer tactlojen Verheißung: „Sa, es exiwartet did, was du nicht Löfen 
„Lönntelt, Der Räthjel Allentwidelung, Und höherer Gefühle Schwung, Wovor 
„dir Ichwindelte, die du dir jelbft nicht gönnteft. Indeſſen wird die weiße Hand 
„De Yünglings Ungeftüm beichränten, Und wenn die Seele ſchon auf blaffen 
„Lippen ftand, Die Luft zum Leben wiederſchenken. ch aber werde dunkel jeyn, 
„Und gehen meinen Weg allein.” Da Lenz jelbft der Jüngling nicht fein kann, 
muß Goethe gemeint jein, — man glaubt die Briefe an Frau dv. Stein zu lejen, 
die Lenz vielleicht erwijcht hat. Er verjpricht ihr die Scheidung und Goethe’3 Hand. 

Mit heiteren Hoffnungen kehrte der Dichter nad) Weimar zurück. Am Rande 
des Abgrunds jchrieb er an Salzmann am 23. October die übermüthigen Worte: 
„Vielleicht ſehen Sie mich einmal in herzoglich jächjiicher Uniform wieder“ 
(Stöber a. ©. 84). Es jollte anders fommen. Goethe empfing ihn noch einmal. 
Am 1. November jagt das Tagebuch: „Mit Lenz Mittag im Garten gefien. 
Herz, mit." Dann ſchweigt es drei volle Wochen lang. „Hätt’ ich nur Goethes 
Winke eher verftanden. Sag’ ihm das,“ Elagt der Verziveifelnde am 30. November 
Herdern (H. Nachlaß I, ©. 244). Der Wink wird bei jener Gelegenheit gegeben 
worden jein; Goethe wurde nicht verjtanden — und jchtwieg. 

Das Tagebuch Fährt fort ©. 92: „Den 25. Nachts Ball. Den 26. Lenzens 
„Eſeley. Den 27. früh nad) Berka. Um 11 Uhr zurüd, angezogen [in ben 
„Garten zur Winterwohnung). Den 28. fortwährender Verdruß. Zu DB 
„gegangen. Zur ©. Zu Thusnelden. Rejolvirt duch Herdern jchreiben zu 
„laffen. Den 29. dummer Brief von Lenz. Kalb abgeſchickt. Einſiedels hartes 
„Betragen. Den 30. Lenz lebte Bitte um noch einen Zag ſtillſchweigend accor- 
„Dirt. Einſiedels Billet. Den 1. Dec. Gepadt. Bei © gegejfen. Abends im 
„Concert. Nachts bey Bertuch“. 

Eine Tragödie liegt in diefen Zeilen, eines Menſchen Lebensglüd wurde 
zerftört. Faſt um diejelbe Zeit brachte 1777 die Erinnerung an den jähen 
vorjährigen Sturz den erjten Anfall des Wahnſinns hervor, welchem Lenzens 
Geift erliegen jollte. 

In die Einzelheiten dev Vorfälle zu dringen, welche Lenzens Entfernung 
von Weimar veranlaßten, ift müßige Neugier. Vielleicht hatte ex fi auf dem 
Balle täppiich betragen, getwiß aber waren, wie auch Düntzer b. 488 bemerft, 
Goethe und Frau dv. Stein gleihmähig beleidigt. Denn als Lenz im Jahre 
1781 aus Riga an feine ehemaligen Weimarer Freunde gejchrieben hatte, jagte 
Goethe feiner Freundin am 23. März: „Hier ift ein Brief an Lenzen, Du 
wirft daraus jehen, was und wie Du ihm zu jchreiben haft‘; am 25.: „Ich 
danke für den Brief an Lenz” (Br. an Fr. v. St., 2, ©. 52 f.). Die Ant- 
worten jollten möglichft gleichlautend ausfallen, folglich waren Beide in gleichem 
Maße betheiligt. Auch erkennt Lenz in feinem Briefe an Herder an, daß er 
Goethe „sehr beleidigt” hat (Nachlaß 1, ©. 245). Die Beleidigung hatte ein 


Etwas von Lenz. 269 


Pasquill enthalten, welches Goethe zu leſen verihmähte (ebd. ©. 244). Daß 
diefer gerade am Tage nad) der „Eſeley“ fih nah Berka, Lenzens früheren 
Aufenthaltsorte, begab, ſcheint die Ermittelung der Sache bezweckt zu Haben. 
Das Ergebniß war fein erfreuliches, denn der VBerdruß dauerte am folgenden 
Zage fort. Das Pasauill, wie der Verfaſſer e8 nennt, wahrſcheinlich ein 
Dramolet oder eine Matinde, dergleichen man fi) damals gegenfeitig zu ver- 
zeihen pflegte, wird in ungebührlicher Weiſe Hofzuftände, insbefondere das Ver— 
hältniß zwiſchen Goethe und Frau v. Stein, komiſch oder ſatiriſch dargeftellt 
haben. Die Herzogin Mutter und ihre Hofdame, Fräulein v. Göhhaufen, waren 
nicht angegriffen, denn die Fürſtin lieferte ohne Zweifel da3 von Herder ange- 
botene Reijegeld und äußerte fich auch jpäter, wie Wieland, wohlmollend über 
den Armen. Aber fie hatte Lenz verzogen: e3 ift nicht unwahrſcheinlich, daß 
er ihr und der ſpottſüchtigen Göchhauſen fein Product vorgelejen und ſich ſpäter 
(am 28.) auf ihre Billigung berufen bat. Für Goethe war der Vorfall aud) 
nach einer anderen Seite hin empfindlid. Seine Antwort auf Ginfiedel’3 
Billet (Grenzboten 1873, II, ©. 298) beweift: 1) daß Einftedel auf Lenzens 
Abreife gebrungen Hatte, mwahricheinlich im ntereffe der Herzogin» Mutter; 
2) daß jein Schreiben auch Goethe getadelt oder wenigftens ermahnt hatte. Den 
erften Punkt macht Goethe kurz ab, auf den zweiten geht er umftändlicher ein. 
„Lenz wird reifen, Ich Habe mich gewöhnt bey meinen Handlungen meinem 
„Herzen zu folgen und weder an Mißbilligungen noch an Folgen zu denen. 
„Meine Eriftenz ift mir jo lieb, wie jedem andern, ic” werde aber juft am 
„wenigften in Rückſicht auf fie irgend etwas in meinem Betragen ändern. ©.“ 
Alfo hatte ihn Einfiedel, und zwar im Zujammenhang mit Lenzens Vergehen, 
darauf aufmerkſam gemacht, daß jeine eigene Eriftenz in Weimar durch fein 
Betragen gefährdet werde. Da er an dem genialiichen Muthwillen eben jo qut 
betheiligt geweſen ift, twie Goethe, diejer feinem Herzen folgen will, Kann kaum 
etwas Anderes gemeint jein, als die Herzensneigung des Dichter3 zu Frau v. 
Stein. Er war jo tief verlegt, daß Wieland ſich nicht getraute, ihm von dem 
MWahnfinn feines ungetreuen Freundes Nachricht zu geben; erſt fein Tod hat 
ihn verjöhnt. 

Tief gebeugt verließ Lenz Weimar am 1. December; man wußte nicht, 
wohin er fich gewendet hatte (Wieland, auserl. Br. 3, 268); denn daß er Goethe’3 
Eltern und Merk vermeiden würde, war fidher. Einen wehmüthigen, tief- 
empfundenen Abſchied nahm der Dichter von Kochberg; die Quelle, die Bäume, 
neben denen er mit rau d. Stein gejeflen hatte, redet er an (3, 253): „ich ſoll 
„euch verlaffen, Sie verlaffen, von ihr vergeſſen, Wie ein vorübergewehter Wind- 
„bau! Ad, ich beſchwör' euch, ihr fchöner zu grünen, Wann der Frühling fie 
„wieder hierher lot, Wann fie unter Gelächter und Freunden Und ihrer Kinder 
„Jubelgetümmel, Zu euch kehrt.“ Die Schweiz, wohin Lavater ihn lud, Emmen- 
dingen, two er Goethe's Schwefter und den trefflichen Schloſſer wiederfand, zogen 
ihn an. In einer trodenen, lehrhaften Erzählung, „Der Landprediger” 
(3, 93), vermiſcht er echte Züge aus feinem und feines Freundes Leben. So 
wahr die Angabe, daß Schl— (Schloffer) im Umgang mit Gelehrten und Künft- 
lern Troft für feine Einjamkeit ſucht, jo glaubwürdig ift die Notiz, daß Jo— 


270 Deutſche Rundichan. 


hannes (Schloffer) Albertinens (Corneliens) Sehnſucht nach Geſellſchaft über- 
wacht, erfährt und gleich Lieschen (Gerock) kommen läßt. Das Motiv des ent— 
deckten Briefes iſt echt Lenziſch. In Emmendingen konnte ſein krankes, von 
Reue und Schmerz gequältes Herz nicht geſunden; der Tod der verehrten Cornelie 
regte ſeine poetiſche Ader noch einmal an. Vorher und nachher ſehen wir ihn, 
von theilnehmenden Schweizer Freunden unterſtützt, bald in den Gebirgen umher— 
irren, bald auf dem Wege nad) Italien von ſeinem Reiſegefährten, Hrn. v. Hohen- 
thal, getrennt, in nüchternen Reflerionen und matten Anjäßen zur Dichtung fi 
ergehen. Auch die alte Schlauheit fommt noch einmal auf: die Briefe des 
Dichters Kleiſt ſucht er fich zu verichaffen, um die Verbindung mit der Familie 
zu erneuern; die geipannten politiſchen Verhältniffe in Zürich interejfiren ihn; 
Hoffnung zur Ausföhnung mit feinem Bater gibt Kaufmann’3 nordiiche Reife — 
dann wird die Erinnerung an die Weimarer Kataftrophe jährig, im November 
exrduldet ex den erften Anfall von Wahnfinn, und im Januar 1778 erfolgen 
die herzzerreißenden Scenen im Steinthal, welche und Stöber's erftes Büchlein 
jo anſchaulich malt. Friederike und Frau dv. Stein beichäftigen feine Phantafien, 
und wie ein reuiger Abbadonna ſchaut er nach dem verlorenen Paradieſe zurüd. 
Spät, im Sommer 1779, holt ihn fein Bruder nad) Lievland zurück. Er vegetirt, 
geheilt, aber unter vergeblichen Plänen und gejcheiterten Hoffnungen, bis im 
Jahre 1792 in Moskau der Tod den in Deutichland Vergeſſenen erlöft. 
Ueberbliden wir den Lebenslauf des Unglüdlichen noch einmal. Mit feinem 
Bater überworfen, an lähmende Feſſeln gebunden, durchzieht der 21jährige Jüng— 
(ing Deutſchland. „Ein unreifes Machwerk,“ eine Ueberſetzung aus Pope, läßt 
ex bei einem Buchhändler zurüd; er freut ſich 1772, daß es ihm zurückgeſchickt 
wird (Stöber a. ©. 52). Der Umgang mit Goethe läßt ihn ſich ala Dichter 
fühlen; jein exftes Auftreten mit dem 1772 in Fort-Louis gedichteten „Hof— 
meiſter“ erweckt die Fühnften Hoffnungen; er ift fich feines Werthes bewußt. 
Die Lebens: und Leidensichicjale in Straßburg halten den poetifchen Drang 
nicht zurüd; ex ſchlägt fi) durch die gemeinften Widerwärtigkeiten glüdlich nad) 
Weimar durch — aber er fommt der Sonne zu nahe, und der zerfchmetterte 
Phaethon finft in Naht und Dunkel. Welch’ reicher Geift ward hier zerftört! — 
Bliden wir vom Dichter auf den Menſchen, jo häufen fich die MWideriprüche. 
Bon allen bedeutenden Zeitgenoffen gefeiert, geliebt, verhätjchelt, kann er nicht 
anders al3 herzensgut und liebenswürdig getvejen ſein. Und doch, welche alten, 
welhe Schwächen zeigt der Charakter. Eitel, feig, bis zur Tücke jchlau und 
doc) unverftändig, ja thöricht malt er fich jelbft; er wechjelt zwiſchen Kleinmuth 
und Uebermuth: wir dürfen Goethe's Charakteriftit nicht im mindeften über: 
trieben, wir müſſen fie ehrlich und richtig nennen. Aber denken wir uns ben 
unerfahrenen Jüngling, deſſen Lebensgang alltägliche Noth auf jedem Schritte 
hemmt, faft aufgegeben von den Seinigen, verhindert, feine ſchönen Kenntniſſe 
würdig auszubeuten, denken wir ihn durch die ftete Vergleichung mit dem vom 
Glücke getragenen Freund aufgeregt, dem Alles gelingt, wie ihm Alles mißräth; 
denken wir ihn durch das aufdämmernde Bewußtjein einer angeborenen wahn— 
wibigen Dispofition geängftigt; und halten wir dagegen die hohen Ziele feiner 
Dichtung, den edlen Zorn über die ſüßliche Ausartung des Geſchmacks, die Be— 


Etwas von Lenz. 971 


geifterung für Shafejpeare, die Bewunderung für Goethe, den Fyreimuth, womit 
er Wieland no auf der Flucht gefteht, daß er der Urheber der Angriffe gegen 
ihn gewejen war: wir werden jeine unleugbaren Schwächen milde beurtheilen, 
jeine Leiftungen überwiegend in die Wagichale legen. Denn diejer eitele, ängſt— 
liche, haltungsloje Jüngling — Ein war er vor Allem, ein Dichter von Gottes 
Gnaden, ein Poet, wie Wieland jelbft erflärt, A triple carillon. 


| Tagebud. 


Jh muß dir lieber Goethe — zum Verſtändniß deifen, was du lefen wirft, 
einige Nachrichten voranjchiden. 

Ich Habe das Tagebuch unter den Augen meines bitterjten Feindes und von 
dem ich abhieng — geichrieben, in einer Sprache, die er nicht verftund, aus der ich 
es dir wörtlich überſetze. Bisweilen hat er mir über die Schulter Hineingefehen. 

Scipio, mit dem ich eine Reife durch Deutjchland gemacht, Hatte in & eine 
Geliebte, von der er fich ein paarmahl auf vier bis ſechs Monathe Hatte entfernen 
müflen. Im diefer Zeit beftellte ich feine Briefe an Sie und Jhre an ihn, ohne 
daß ichs nöthig gehabt. Kein Intereffe zog mich in das Haus, als das meinem 
freunde zu dienen. ch fand fie zwar liebendwürdig, ich freute mich zu weilen über 
das was ich an ihr wahrnahm, wie man fich über eine Hiftorie freut. Allein mein 
Herz blutete von alten Wunden. 

Das rührte mich, daß Scipio mir bisweilen von ihr erzehlte, daß fie fih von 
meinen bisher ausgeftandenen Mühjeeligkeiten unterrichtet und fo ganz natürlich ihr 
Mitleiden drüber bezeugt Hätte. Auch daß ich deutlich merkte, wie fie ihn geftimmt 
hatte, mir verichiedene mir beträchtliche Wohlthaten zu erweilen. | Sch Hatte eh- 
mals, eh ich wujte daß Seipio fie liebte, ihr ein Hein Gejchent von Büchern und 
einige zärtliche Verfe gemacht über ein Filet, woran ich ihr jtriden Half und fie mir 
ſchenkte um mich daran zu üben. Auch dichtete ich für Scipio viel angenehme 
Sachen, nachdem er mir fein Herz eröfnet hatte, die er ihr bey gewiſſen Gelegen- 
heiten überreichte und viel Beyiall erhielten. 

Als in der Zeit, da Scipioß Leidenschaft aufs höchite geftiegen war, ein Freyer 
für Araminten erichien, brachte er fie und die Eltern durch ein jchriftliches Ehever- 
Iprechen und Verichreibung einer ungemein hohen Summe Geldes zur Sicherheit, 
[das durchitrichen] die bey einem königlichen Notär verfiegelt niedergelegt ward, dahin, 
jelbigem den Abjchied zu geben. Er hatte vor Verfertigung diefer Schrift die Rechte 
jeine® Baterlande® mit mir und andern freunden unterfucht und befunden, daß 
eine Mißheurath ihm an feinem zeitlichen Glüd feinen Abbruch thun könnte. 

Sn dem Eheverfprechen, der eher ein Ehfontradt genannt werden könnte, hatte 
er unter andern fich verpflichtet in höchjtend einem Jahr zu feinem Vater zu reifen 
und deßen Einwilligung auszuwürken: welches er auch ins Werk jehte, wiewohl fein 
Herr Vater felber ihn zurütberief, woran ich unter der Hand mit gearbeitet Hatte. | 
Scipio jüngfter Bruder (den ich Hinführo nur den Schwager nennen will) war 
mir dazu behülflich geweſen. ch fchrieb ihm nach Deutjchland den ganzen Zujtand 
der Haudhaltung feines Bruderd, mahlte ihm die Nothwendigfeit einer Nüdreife mit 
ächten Farben vor, er überjchidte den Brief jeinem Bater und darauf erfolgte das. 

Ch hätt’ ih mir den Einfall eines Kometen verjehen als grad in dem 
Zeitpunft da der ältefte in den Wagen fteigen wollte, die Ankunft feines jüngjten 
Bruders in X wohin er niemal® zu fommen gefonnen geweſen. Er ſagte mir, ich 
wäre der Hauptbewegungsgrund diefer Reife, die kurze perfönliche Bekanntſchaft 


273 Deutſche Rundſchau. 


die wir in —g gemacht, mein Ruf und am meiſten die Briefe die ich gezwungen 
geweſen mit ihm zu wechſeln hatten ihm das Verlangen eingeflößt, von meinem 
nähern Umgange zu vortheilen. Von allen Seiten waren Glückwünſche und ich 
ſelbſt hielt dieſe Eräugniß für eine Wolthat des Himmels, mir in der ſchlüpfrigen 
Lage in die mich Scipios Abreiſe ſetzte, eine Stütze anzubieten. 

Ich hatte aus des Schwagers Briefen die vortheilhafteſten Meynungen von 
feinem Karackter gefaßt, die ich Hier nun allenthalben ausbreitete, beſonders in 
Aramintens Haufe. Zugleich wandt’ ich all meine | Talente an, ihn auf die vor— 
theilhajtejte Weiſe für dieſes Haus, für Araminten und für die Sache feines Bruders 
einzunehmen. Undanfbare Bemühungen! Dazu fam, daß er anfangs gegen mich 
die größte Abneigung Tür diefes Haus und für Aramintens Perjon bliden ließ, wo 
ich denn immer wieder neue Kräfte aufbieten mußte. Denn ich fand es nothiwendig 
daß er dad gute Verftändniß feine® Bruder? in dem Haufe unterhielt und in ge= 
wiſſer Art feine Nifche einnähme, theild um die Eltern und Araminten zu beruhigen, 
die nach Scipios Abreife ganze Nächte tränend durchwachte und Engheiten befam, 
die ihr Farbe und Fülle raubten, theild weil ich von feinem Einfluß auf den Vater 
und die Berwandten alles hofte Mean fieht wie unleidenjchaftlich ich damals zu 
Werk gieng. 

Alles gelang mir. Er vermittelte fih in der Sache mit einem Ungeftüm den 
ich nicht zurükzuhalten wagte. Denn nehmt einem gewöhnlichen Menfchen den 
Enthufiaamus — und fein Archimed Fann ihn aus der Stelle bewegen. Er fchrieb 
Brief auf Brief an feinen Bruder und richtete alles (wieder feine ausdrüdliche Bitte) 
fo ein, daß fie dem Water in die Hände fallen mußten. Ich konnte dabey nichts 
weiter thun | ala daß ich die Briefe abjahte und wenn er GSeitenlang Gejchmier 
hinzuſetzte, das Ding herumzuftimmen fuchte wie möglich. Denn er führte zur 
Urſache an, er fenne den Leichtfinn und die Furchtſamkeit feines Bruderd und wolle 
ihn auf diefe Art dringen, dem Vater dad Geſtändniß zu thun. Obſchon derjelbe 
dreymal unterwegs gejchrieben hatte, leidenſchaftlicher ala ich mir vorgeftellt. Nur 
dad machte mich auch furchtſam, daß er durch einen Ort*) und in demjelben fich 
aufhalten mußte, wo er zwey Jahre lang in eine der eriten Schönheiten die ich ge— 
ſehen, verliebt gewejen und mit der er zu Anfang noch in X zärtliche Briefe ge— 
wechſelt. Was dort vorgefallen, habe ich bis dato noch nicht erfahren können. 

Mas mich zu beunrubigen anfieng, war daß der Schwager fich nicht jcheute mir 
merken zu laffen, wenn aus der Sache Jeined Bruder? nicht? würde, wolle er 
Araminten heurathen. Er ſprach thöricht von ihr, er gieng täglich Hin (wiewol er 
dabey fleiſſig jtudierte) er machte ihr Geſchenke, die ihn im jeiner jonft jo fargen 
Haushaltung und bey der Kürze mit der der Vater ihm von jeher den Zaum hielt, 
jurüdjeßten. Ich machte ihm ernftliche Vorftellungen, bemühte mich | ihm an 
andern Geſellſchaften einigen Geſchmack beyzubringen. Alles war vergeblich und jeit 
dieſer Zeit fieng er an fich vor mir zu fürchten. Täglich vedte er mir von den Un— 
möglichkeiten die er in der Sache feine Bruders abjähe, von ausjchweiffenden Ent- 
wäürfen die er machte, ihn zurüfzubringen, die wie Geiffenblafen jobald man fie nur 
anjah zeriprungen, von feinen Heldenthaten und edlen Gefinnungen, von jeinen Be— 
griffen vom Eheftande u. ſ. F. täglich zeigte er fich mir anders, bald äuſſerſt erbittert 
auf Araminten, bald bis zur Abgötterey von ihr bethört, allemal aber fette er 
mich in die Nothwendigkeit ihr Sachwalter zu werden und wenn ich all meine 
Beredjamfeit zu ihrer Vertheidigung anwandte, hörte er mir mit Vergnügen zu. 

Ich Hatte einen Brief für ihn aufgejeßt, in dem er den Vater von der ganzen 
Sade von Anfang bis zu Ende unterrichten jollte, wenn er desfalld an ihn fchriebe. 
Denn Scipio hatte mir mit einem Handjchlag verfprochen, jobald er anfäme, ihm 
durch jeinen Hausgeiſtlichen die Entdeckung thun zu laffen und dahin zu vermögen 
daß er an Aramintens Vater jchriebe, wenn es auch in feiner andern Abficht wäre 


*) Leipzig oder Berlin? 


Etwas von Lenz. 273 


ala um ihn zu vermögen, die Sache zu unterdrüden. | Alsdann jollte Aramintens 
Pater ihm auf eine edle Art antworten (er hatte mit ihm abgemacht, er jollte mir 
den Brief vorher zum Durchficht geben). Nun wollte ih daß zu gleicher Zeit der 
Schwager jchriebe und das edle Verhalten des ganzen Haufe in diefer Sache mit 
den jchönften Farben jchilderte. Denn er jelber hatte kurz vor der Abreife feines 
Bruders den Vorſchlag gethan, er ſolle fich heimlich mit ihr vermählen, um dem 
Vater die Einwilligung defto ficherer abzunöthigen. Aramintend Vater aber verab- 
icheute diefen Gedanken, erflärte jehr edel, feine Tochter brauche nicht verdächtig zu 
handeln, fondern frey und dor den Augen der ganzen Welt und wiederſetzte fich mit 
der Mutter diefer Ausſchweiffung im Hirm des Schwagerd erzeugt und von mir und 
Scipio mit allen Gründen unterftüßt, auf eine Art die mir Tränen auspreßte. 

Der Schwager fchrieb meinen Brief ab, Tas ihn als feine eigene Arbeit in 
Aramintens Haufe vor und erwarb fich dadurch ein unbegrenztes Zutrauen. 

Hier will ich abbrechen, um meinem Tagebuch nicht vorzugreiffen. Dies war 
nur Skelet, das dein eigenes Genie und Blick ins menfchliche Herz mit Fleiſch be 
tleiden wird. | 


Eriter Tag. 


Ich Hatte verbrüßliche Neuigkeiten von Haufe gehabt. Mich zu zerftreuen gieng 
ih Hin und fand dort ein niedlich junges Weib, mit der ich mancherley redte. 
Araminta that nicht eyfferfüchtig. 


Zweiter Tag. 


Den Abend vor dem Konzert gieng ich Hin, das niedliche Weib war bey ihr, 
fie war bleich, Hatte etwas verlojchenes Teuer in den Augen. Die Abendtrommel 
gieng vorbey, die andern alle traten in der benachbarten Hammer ans Fenſter, ſie 
blieb allein ſitzen, ich verließ fie nicht. Ich fragte fie, ob fie nicht wohl wäre, fie 
antwortete, fie hätte die ganze Nacht nicht gefchlaffen und heute Morgen Uebligfeiten 
gehabt. Sie Lächelte mich an als ich wie erftaunt drüber jchwieg, ſprang auf und 
lief in die Kammer zu den andern, wohin ich ihr Tolgte. 


Dritter Tag. 


Ich jchaffte mir Gelegenheit wegen des Konzert? den Morgen früh Hinzugehn. 
Ich fand fie in dem reitzendſten Nachtkleide, ihre lange braune Flechten jpielten um 
ihre Schultern, fie pußte ihren Eleinen Neffen zum Konzert an und fagte mir fie 
putzte ihren Liebhaber, der wird heut den Eroberer machen fagte ich, damit gejchähe 
mir fein Gefallen antwortete fie. Ich ſehr nachdrüdlih „Sie haben nie Neben- 
bulerinnen zu befürchten, Ihr Spiegel kann Ihnen dafür Bürgfchaft leiſten.“ Sie 
ihwieg wie nachfinnend eine Weile aber nun ſah ich fichtbar wie ihr Humor fich 
veränderte. ch blieb bis zum Mittag dort und fie blieb wieder ihre Gewohnheit 
bis zum Effen unangefleivet. Taufend Muthwillen wechjelte mit Ernft ab. Ich Hatte 
ihr Nachtkleid gelobt, ihre Flechten an meine Lippen gedrüdt, die Mutter hieß fie 
einigemal fich ankleiden fie wollte nicht. Sie zeichnete mix jelbft ihr Bild ab, ob» 
ſchon fie nie zeichnen gelernt, ziemlich glüdlich und getreu, Löfchte es gleich wieder 
aus, ich rettete doch eins von dieſen Verfuchen. Sie erzehlte mir daß einer rühmlich 
von mir gejprochen, und ala ich ihr die Nichtigkeit dieſes Lobes begreiflich gemacht, 
jagte fie mir jehr ernithaft, daß Verdienſte doch immer Verdienſte blieben. Im 
Konzert plauderte ich viel mit andern Weibern, aber kein Wort mit ihr. Sie war 
nicht aufgeräumt. 


Vierter Tag. 


Nachmittags ganz meinem Kummer überlaffen fpazierte ih um die Wälle, ein 
Buch von Kriegsbaukunſt in der Hand um mich zu zerftreuen. Ich traf auf den 
Bater, dem ich einige Höflichkeiten machte wegen des Vergnügens das uns gejtern 


274 Deutſche Runbichan. 


feine ältefte Tochter gegeben, die das erjtemal öffentlich zum DBezaubern gefungen 
hatte. Ganz jpät gieng ich Hin, jprach ein Paar Worte mit der ältejten, trat dann 
in die Kammer, wo fie (Araminta) mit dem Schwager im Fenfter lagen. | Als fie 
mich ſah, flog ihre Hand in den Bufen, fie zog einen Brief von Scipio hervor, 
leſen Sie! ich las und bezeugte ihr meine Freude. Sie war undorfichtig genug zu 
jagen, Sie haben mir jo viel mißvergnügte Abende gemacht, theilen fie num auch 
mein Vergnügen. Ich bin weder im Stande Ihnen vergnügte noch mißvergnügte 
Stunden zu verurjachen jagte ich ziemlich betroffen und flog fort die Nachricht von 
diefem Briefe in einem eyfferfüchtigen Haufe das ich bisweilen bejuchte u. das fich 
auf Scipio’3 Stillſchweigen was zu gut that, auszubreiten, worum fie mich jehr ver» 
bindlich erfuchte. 
Fünfter Tag. 


War mir traurig, doch war ich ruhig weil ich fie glüdlich glaubte. Ich gieng 
erſt Nachmittags hin, fie war nicht zu Haufe, als fie fam lag ich mit einer ihrer 
Freundinnen im Wenfter, der fie von der Straffe wie au Muthwillen unzälige Küſſe 
zuwarf. Sch lief die Treppe herunter, fie beraufzuführen, fie muß dies für einen 
Vorwurf gehalten haben, ward jehr ernjthaft, nahm auch meinen Arm nicht an, wo- 
bey fie jehr erröthete. Als wir oben waren thaten wir über eine Kleinigkeit eine 
Wette, die ich verlor, als ich ihr das Geld gab behielt fie und warf es mir nachher 
undermuthet in die Hand zurüf. Ich jchlich mich fort wie beleidigt, fie hatte es 
bemerkt und lies mir Vorwürfe machen durch den Schwager. | 


Sechſter Tag. 


Ih laß deinen Werther. — Ein Inſtinkt führte mich einen Zuderladen vorbey, 
wo ih für ihre Franke Bruft Zuckerwerk kaufte. Ich bracht’ es ihr als für die 
geitrige Wette jo ich verloren, und überreichte e8 ihr — zitternd. So daß ber 
Schwager jelbft e8 anmerkte. Sie hatte mit ihm Kleine Kartenfpiele geſpielt, ala ich 
merkte daß fie aufhörten jagt’ ich, ich wollte fie nicht unterbrechen und gieng haſtig 
fort fo ſehr fie mich bat. Sie hatte Urfache ihm zu jchmeicheln, er wollte in 
ihrem Namen Seipio ein Geſchenk ſchicken, dak er feinem Schweiterfohn überreichen 
jollte, und in einem volllommenen Anzug für den Seinen beftand, den fie an— 
gegeben hatte. 

Giebenter Tag. 


Ich gieng nicht Hin. Sie glaubte mich böfe, ließ mir jagen durch den 
Schwager daß ich nicht hinkäme. 


Achter 


Gieng wieder nicht hin. So oft der Schwager nach Hauſe kam bracht' er ein 
groß groß Kompliment von ihr, wobey ich alle meine Selbſtbeſitzung zu Hülf nehmen 
mußte, daß er aus meinen Gebährden nicht Argwohn einnahm. Sie ließ mir durch 
ihn ſagen, ich ſollte doch hinkommen, heut noch auf den Abend, ſie gienge aus den 
Nachmittag Einkauf zu machen. Ich gieng hin aber den Nachmittag (alles das würkte 
der Werther) und blieb mit der Schweſter, Abends kam ſie nach Hauſe, ſchien ein 
wenig erſtaunt daß ich ſchon da war, redete doch viel mit mir von ihrem Einkauf — 
ich gieng fort den Schwager zu Holen, um feine Meynung auch | dazu zu geben — 
wir jeßten uns alle an einen Kleinen Tiſch, fie hatte nicht da® Herz mich anzufehen, 
ihre Blicde fonft immer lange Minuten auf mich geheitet, gleiteten immer ab von 
mir. Sie jagte, [fie] hätte einen Brief zu jchreiben, ich ſchnitt ihr eine Feder, der 
Schwager thät's nah, aber gerieth ſchlecht. Sie verfuchte feine Feder mit den 
Worten, „beiter Freund“ dann erſt meine halb unter der Hand — Götter was ah 
ich erfcheinen? „Mein Herz” ich verlor alle Sinnen. Der Schwager wie ber 
Zeuffel merkte e&, die Angft gab mir Gegenwart genug, dem einen andern Verſtand 
anzudreben. 


Etwas von Lenz. 275 


Neunter — Zehnter Tag. 


Die Komplimenten jo mir der Schwager immer daher brachte befümmerten 
mich, ich wollt’ ihr darüber Borwürfe machen, jonderli da er argwöhniſch zu 
werden anfieng. Ich gieng Donnerjtags Hin, fand das niedliche Weib da und grofle 
Gejellichaft. O welche zärtliche Scene hatt’ ih. Sie maulte zu Anfang, rüdte jo: 
dann ihren Stuhl jo daß fie mir halb den Rüden zufehrte und mix die Ausficht 
nach der jungen rau benahm. Ich war jo herzlich damit zufrieden und recht ala 
ihr zuwieder zuleben, jah ich unverwandt nach der jungen rau und hatte das Vergnügen 
recht nach Herzenaluft meiner Araminta Züge zu verfchlingen, da jedermann und der 
Schwager jelbjt glaubten, ich jchielte nach dem Weibe. Endlich ward fied auch über 
drüſſig daß ich jo Luftig darüber wurde und ſetzte fich hart bey der Frau, um mic) 
beffer im Geficht zu haben. Da gieng nun die Freude erft recht an für mich. | 
Ich machte dem Weiblein einige Mienen und jah meiner Araminta ungejtöhrt und 
unbefahren zu ganzen Biertelftunden in die Augen. Sie merfte e8 am Ende und da 
entjtund ein Lächeln um ihre Augen und ihren Mund die noch Halb zornig waren, 
daß ich die Herrlichkeit des Lächelns kaum aushalten konnte. Ihr muß es auch fo 
ergangen jeyn als fie fich jo gut betrogen fand, fie ftand auf und gieng fort und ich 
nachdem ich dem MWeibe noch einige Mienen gemacht, trunken von meinem Glüd, 


ſchlich fort. 
Wieder erjter Tag. 


Schon wieder jeßten mich ihre Komplimente und Unvorfichtigkeiten in Beftürzung. 
Sie gieng jo weit, daß fie mir auf den Abend durch den Schwager ein Rendezvous 
geben ließ ich gieng vorher fort anderwärt3, er war jelber fo rafend über jeine 
Commiſſion worden, daß als er allein war, er einen groffen Spiegel entzwey ſchmiß 
und hernach jagte, er ſey heruntergefallen,, welches unmöglich war, Strid und Nagel 
und alles waren unverjehtt und e8 war mit einem Schlüffel eingeworfen, wie er fich 
jelbft hernac) gegen mich verredte. Und ich Elender bin noch nicht im Stande ge- 
geweien, ihr darüber Vorwürfe zu machen. Als wir in das beitellte Haus kamen, 
wohin ich den Schwager führte, fiel ich im Dunkeln wegen des jchrödlichen Regens 
in einen tieffen Keller hinab, blieb aber auf der jechiten Stuffe ungefähr glüdlich 
aufrecht auf meinen Füßen ftehen. Eine Kaffeefagwahrjagerin hatte mird | einft 
prophejeyt und mich gewarnt, und in der That im Fallen fiel mir ein. Der 
Keller war tie. Der Schwager hatte nicht die geringjte Bewegung gemacht, mir 
zu helfen und als ich herauffam lachte er. Ich trat ganz bejtürzt in die Stube 
und fand einen fremden jungen Doktor da mit ihr im Kartenjpiele, der unten wieder 
vorfommen wird. Der Vorfall verichafte mir einen Pla im Lehnſtuhl und ihr zur 
Seite und von ihr beflagt. Da lacht’ ich im Herzen aud). 


Zwedter Tag. Samſtag. 


Welche Marter nicht immer um fie zu feyn. Ich flog Hin den Nachmittag, 
fand fie an ihren Vogelbauern, daß fie ihre Bögelchen jpeißte und die Bauer pußte. 
Ich half ihr. Sie lehrte mich wie zu machen, und immer Hatte ich was verdorben, 
worüber fie mich dann zankte und auch auf die Hand ſchlug. Als ich fam fragte 
fie, ob ich geftern zufrieden geweien wäre, ich Jah fie mit einigem Unwillen an, wie 
fie mir die Frage thun könnte. Ein Blick! Ich erfundigte mich auch nad) dem 
jungen Dodtor, worauf fie mir ganz verdrüßlich antwortete, fie hätte ihn gejtern 
das erjtemal bey ihrer Freundin gefehen. Als ich weggehen wollte, juchte fie mir 
einen Regenjchirm im Vorhauſ' im Schranken, ich wollt fie zurükhalten, fie jtellte 
fih ala zu fallen und jeßte fich in den Schranken hinein, wo fie mich wieder anſah — 
Ich ſank Halb über fie und küßte ihr ehrerbietig die Arme, fie zu bitten, daß fie 
meinetwegen nicht juchen möchte. Sie befahl mir den Abend wiederzufommen, ich 
thats nicht, aber ich jpapierte mit einem | guten Freunde S—n auf dem Pla 


276 Deutſche Rundſchau. 


vor ihrem Fenſter auf und ab. Schon wieder groſſe Komplimente auf den Abend 
durch den Schwager. Ich hätte mögen raſend werden. Sie hatte Briefe bekommen 
von Scipio, war aber dem ohnerachtet gar nicht aufgeräumt geweſen. Eins was 
mir den Kopf faſt in Stücken ſprengte (ſo kalt und gleichmüthig ich dabey ausſah) 
war, daß der Schwager mich aufzog über Reden die ſie mit ihm geführt, als ſie 
mich aus dem Fenſter geſehen, nemlich wenn aus der Sache mit ſeinem Bruder 
nichts würde, ſollte ich der einzige ſeyn, dem ſie ihr Herz ſchenken würde. Ich 
hatte wirklich mehr als herkuliſche Anſtrengung nöthig mich zu halten und mit 
ſtoiſchem Lächeln zu ſagen, ob er denn nicht ihre Art zu ſcherzen verſtünde. Das 
ſetzte ihn in ſo guten Humor, daß er ſein Herz ergoß und mir alle ſeine Briefe 
vorlas die er in ſeinem Leben erhalten hatte. Am Ende ſtellte ich mich ſchläfrig zu 
werden, nur daß ich ins Bett kam wo ich mich all meiner Verzweiflung überließ. 
Ich ſann die ganze Nacht wie ich ihr recht bittre Vorwürfe machen wollte, ich war 
ſchon entſchloſſen mich vor ihren Augen umzubringen, wenn ſie mir nicht mehr Be— 
hutſamkeit verſpräche. Ich hatte den Schwager glauben machen, ſie hab' es ihm 
auch halb aus Verdruß geſagt, weil Scipio diesmal ihr nicht geſchrieben hatte, 
ſondern dem Vater allein. Das that die beſte Wirkung auf ihn und ſeit dem Auf— 
ſchluß war er aus ſeiner Mürriſchſamkeit zu ausſchweiffender Luſtigkeit über— 
gegangen. | 
Dritter Tag. 


Der Sonntag war der fatale Tag wo ich mit dem ſtandhaften Entſchluß hin— 
gieng meine Drohung ind Werk zu fehen, wenn fie mir nicht Beflerung veripräche. 
Aber was ift der Menjch und feine Vorfäße, wenn er gegen eine Menſchin anzieht? 
Ein Kriegsheer würde mich nicht wanfend gemacht Haben. Ich fand fie in dem 
ausjchweiffendluftigften Humor auf der Erde, ganz Muthiillen und Freude. Wie 
jegt Vorwürfe für fie finden, ihr ernjthafte Gefichter jchneiden? Sch glaube fie Hielt 
den Schwager für böje, weil er den ganzen Vormittag nicht da gewejen war. Sie 
tanzte, fprang, warf fi ins SKanape, nahm unvermerkt ihrem Schooßhund einen 
Floh ab, lief auf mich zu und glitjchte ihn mir mit ihrer Hand in meine offene 
Bruft, die ich zu ganz andern Abjichten geöfnet hatte. Ich konnte nicht fünf Worte 
nach einander mit ihr ſprechen. Das niedliche Weib kam. Sie ſetzte ihren Muth» 
willen noch ein etwa jort — auf einmal ward fie ehrbar — dann traurig, den 
Abend ala wir Karten jpielten befanı fie Engheiten, land auf, fieng an zu weinen — 
Mein Gott wie durchborte dad mein Herz! Ich blieb zum Nachteffen da, fie mit 
luftigen Hiftorien aufgumuntern, die Angft machte mich Halbrafend für Muthwillen — 
welches am Ende doch auch bei ihr anfchlug. 


Vierter 


Diefer war ein Feittag für mich in aller Abficht. Ich gieng gleich nach dem 
Ehen Hin, ihr zu melden, daß S—n hinkommen | wollte, der Schwager würde ihn 
einführen. Ich wollte ihr die Schnallen zumachen ala fie in meiner Gegenwart 
andere Schuh anlegte, fie verhinderte mich dran, ward jo gar böfe aber jo voll Liebe, 
daß ich hätte weinen mögen, fie fniff mir meine beyden Baden, ihre Lieblingskareſſe 
die ich ſchon offt von ihren Händen genofjien und dann im dritten Himmel war. 
Doc jagte fie mir dabey fie hätte die Nacht nicht zu wohl geichlaften. S— kam, 
man fpielte, man fang, ich überjeßte ihr die Italienischen Worte, die fie mit Ver— 
gnügen anhörte und fich das cor mio zweymal wiederholen lieg. S— bejah die 
Gemählde, ich jagt’ ihm endlich, fie haben eins noch nicht gejehen, daß das jchönite 
ift, und jo nahm ich fie dreift bey der Hand und führte fie gegen den Spiegel, fie 
beklagte fich bey der Mutter, daß ich Herr S— das ſchönſte Gemähld hätte zeigen 
wollen, und mich vor den Spiegel geſtellt. S— jagte, es jey vielleicht nicht ſowohl 
Galanterie getvejen als das Herz jo mich das gelehrt, ich machte einen Büdling. 
Gr that mir einen Gefallen mit der Anmerkung. Sie lief hinaus eine Mignatur 


Etwas von Lenz. 977 


zu holen, Anette und Lübin in einem Ringe von Elfenbein ausgearbeitet. Ich ward 
in dem Stüdchen einen VBogelbauer gewahr, den jie durchaus nicht jehen wollte, 
ich wiederholt’ ihr das Wort zwey dreymahl, fie beklagte fi) bey ©. über meinen 
Muthwillen, der und beyde nicht verjtand. 

Der Schwager fagte mir er befände fich nicht wohl und gieng fort auszureiten, 
fam erſt jpät wieder. . Unterdeffen | unterhielt ich ſie etliche Stunden allein und 
fagte ihr taufend jchöne Sachen, doch war ich zu träg mwohllüftig unjer Vergnügen 
durch eine ernjthafte Unterredung don dem was ich wieder fie hatte zu unterbrechen. 
Don ihrer Bruft redten wir und ich brachte fie glüdlich dahin zu glauben daß ihre 
Engheiten fein Uebel von Bedeutung wären. Sie huftete auch diejen Abend jelten, 
der Schwager fam ich macht” ihn wieder aufgeräumt durch Erinnerung alter Ges 
Ichichten, fie jchlug einen Ausgang vor zu einer Freundin, wo wir den jungen Dodtor 
wieder fanden. Sie that mir die Liebe, fich in einen Lehnſtuhl zu mir zu ſetzen, 
den fein Menjch einnehmen wollte, da fie vorher beim Dodtor ſaß und nun genoß 
ich den glüdjeeligften Abend. Unjere Kniee berührten fich jo unfichtbar und mir 
drückten wechjelfeitig durch diefe geheimen und verjtohlnen Berührungen ſoviel ver— 
jchiedene Empfindungen und Bewegungen des Herzens aus, der Luſt, der Betrübniß, 
der Furcht vor des Schwagerd Bliden der ihr auf der andern Seite ſaß, des Ent- 
züdens, der Liebe, daß Engel über diefem Konzert erſtaunt jeyn würden. O welde 
Seeligkeit! in der Verwirrung abwechjelnder Empfindungen, (wobey ich immer mit 
ihrer Nachbarin lachte und ſchöckerte und nur bisweilen einen Blitzblick auf fie warf) 
vergaß ich einmal — ihr die Karten zu geben, die ganze Gejellichaft lachte und fie 
ſchien erftaunend böfe über diefe VBernachläffigung. Aber ihr Blick jagte mir welch 
Vergnügen e8 ihr gemacht hätte. ch war wie albern für Freude ala mir fort: 
giengen und ich ihre Schwelter nach Haufe führte. Sie merkte es, that jehr ehrbar 
am Arm des Schwagerd, berief und jogar (denn ich machte die ältefte mit mir 
trafen) | fonnte fich aber doch nicht entbrechen, bisweilen mit uns zu jauchzen und 
zu fingen. Den Abend trachtete ich meinen Schwager der Funken gefangen Hatte 
und mürrifcher war als jemald auch in meine Laune zu bringen. Er ſchmähte auf 
fie, ich vertheidigte fie nicht ich Lied Wein bringen, ftellte mich betrunfen, ward nun 
voller Schmerz und Verzweiflung, welches ihn jo vergnügt machte, daß wir bis zwey 
Uhr Mitternacht hinein wachten und mit unfern Hausleuten jchöderten. Als wir 
ung gelegt hatten Fonnt ich nicht einjchlaffen, denn er Hatte in unferer Unterredung 
einflieffen Taffen Clephchen Habe ihrer Freundin heimlich beim MWeggehen jagt, fie 
wollten Sonntag fpazieren fahren. Nun aber ala wir vorhin allein von ihrer Kran» 
beit fprachen, jagte fie mir don einem Quackſalber der fich anheiſchig gemacht: fie zu 
furiren, wenn fie zu ihm aufs Land hinaus führe. Der junge Doctor der bei ihrer 
Freundin eingemiethet war, der Duadjalber, das Land, alles das vereinigte fich in 
meiner Jmagination zu einem fo fcheußlichen Karritaturgemälde, daß mich diefes 
Geipenft fein Auge zu machen Tieß. 

Fünfter Tag 

63 war nichts, e8 war ein Dampf. Im Vorbeygehen muß ich bemerken daß 
unfere franzöfirenden Satyriker jehr unrecht thun, die Dämpfe (vapeurs) der Weiber 
lächerlich zu machen. Es ift in der That ein jehr gewöhnlicher Zufall der zärtejten 
und empfindlichiten Herzen daß fich ihnen bisweilen Gegenjtände um fie her | in 
einem gewiſſen Nebel darflellen der fie entjtellt und verungeheuert — ein Lichtjtrahl 
der Vernunft und alle dieſe fürchterlichen Gruppen des Schrödens zerſchmelzen in 
reine Himmelsluft. Unterdeſſen leidet man folange diefer Dampf währet mehr als 
hundert Krankheiten für die Mecepte gejchrieben werden. Ich gieng bin, Tand fie 
eben im Begriff einen Löffel Latwerg Hinabzufchlufen, wobei fie ihr Liebes Geficht 
jehr verzog. Als fie fich nicht entjchlieffen konnte, veichte fie mir halblachend den 
Löffel, ich war wie der Blih damit hinunter, in meinem Leben Kat ınir nichts jo 
herrlich geihmält. Sie Hüpfte Tür Freuden (ihre gewöhnliche Bewegung, die bey 

Deutfche Rundichau. TII, 8. 19 


278 Deutiche Rundſchau. 


ihrer erjtaunenden Länge ihr doch jo unnahahmlich reitend läßt) lief zu Vater und 
Mutter und erzehlt's ihnen jauchzend. Die Mutter hatte die Schwachheit e8 dem 
Schwager zu jagen, der eben Hineintrat. Doch hatt’ e& feine üble Wirkung, mein 
geftrig Mittel Hatte ihn in viel zu gute Laune geſetzt, er hielt mich für einen 
albernen jeufzenden Liebhaber womit ich zufrieden war. Araminta hatte mir vorhin 
in der Stille gejagt, Sie würde Sonntag ein neu Kleid anlegen grün und roth ge- 
jtreifter Taffent, ich Hatte ihr geantwortet, ich wüßt' igt fein gröffer Unglüf für 
mich) ala während der Zeit blind zu werden. — Wie fie itzt dem Schwager 
ichmeichelte, fie hatte mich vorher heimlich eingeladen zum Herbſt auf ihr Landgut, 
ist Tud fie ihn und jagte dabey mit einem ganz falten Zon der mich entzüdte: 
wenn Herr — — auch von der Parthey jeyn will, ich verbeugte | mich ganz nad): 
läfig und jchwieg. Sie reiften den halben Weg im Fiacre die andere Hälfte auf 
einem Bauerwagen, ſie hatte es fo eingerichtet, daß die erſte Hälfte der Schwager 
bey ihr jaß und die andere ich, doch konnt’ es der Schwager nicht Lafjen fich wenig- 
ten vorne zu und zu jeßen, two er uns zwar nicht jehn aber doch hören fonnte. 
Wir machten Knüttelverfe ich: „ich wünjchte diefen Bennenktarg, dir zum Hochzeits— 
bett mir zum Sarg.” Der Schwager ſah ih um, fie jchien böfe und machte ge— 
ſchwind jolgenden: „ich fi auf einem Bennenfarren und Hab neben mir einen 
Narren.” Die Eltern beriefen fie, ich aber, ohne mich im geringiten zu verändern, 
weil ich jür meine Verwegenheit nicht? gelinderd erwartet hatte „ein Narr ift gar 
ein jchöner Name, wenn er außgeiprochen wird von einer jo jchönen Dame” fie riß 
in diefem Augenblid ihre neidijchen Nee vom weilfen Buſen, gab mir einen Blid 
der Freude, jagte mir mit der zärtlichjten Stimme daß das ſcharmant wäre. Vorhin 
im Fiacre hatte fie mir gewinkt, ich ftieg auf den Tritt ihr gegenüber, fie nahm bes 
Schwagerd Trefjenhut von feinem Kopf und ſetzte ihn mir auf da ich mich mit 
beyden Händen hielt, zugleich befahl fie dem Schwager er jollte mir'n jchenfen weil 
er mir jo gut ftünde, welches diejer auch jogleich that. Wiervohl ich ihn ihm doch 
hernach gelafien habe. Sie befahl mir auch, inskünftige nie mehr vor ihren Augen 
zu erfcheinen, wenn ich mir nicht ein fer a cheval Hätte frifiren lafjen. Im Herbft 
war ich jo oft ala möglich ihr zur Seiten und jo oft ich mich umjah, ftand fie 
auch wieder bey mir da. Es ſchien ala wollte fie gut machen, was fie mir auf 
dem Bauerwagen | gejagt Hatte. Einmal als wir einen koſtbaren Augenblid allein 
waren, jang fie plößlich mit der füfjeften Naivetät ganz leife, mich göttlich anlächelnd 
eine Arie aus dem lebten Konzert: „Harre auf Gott — Gott mein Gott — wie 
ein Hirsch fchreyet nach frischem Wafler, jo jchreyet meine Seele Gott zu dir. Was 
betrübft du dich meine Seele u. bift jo unruhig in mir? Harte auf Gott“ *. — 
O Göthe hier laß mich die Feder weglegen und weinen. 

Ich jehe wohl, daß jo eingebildet ich von meiner Menjchenfenntniß war, ich an ihr 
allein mich aufs gröblichite geirret. Ich hielt fie für ein munter tändelndes gutartiges 
Ding — derzeiht mir die Läfterung eures Meifterjtüfs ihr Götter! Ich jehe Tieffen des 
Genies in ihr. Der ganze Roman den fie mit dem Schwager jpielt, dem fie (fo wie 
auch ehmals Scipio) aus meinen Verſen glauben macht, ich ſey ein gutherziger Thor, 
auf dem fie gleich anfangs zu heftige Eindrüfe gemacht und den man doch jetzt jo 
bisweilen ein wenig tröften mufte, damit er nicht hypochondriſch würde. Unter diefem 
Scleyer bin ich wie in der Wolfe der Venus auch vor den Icharffichtigiten Blicken 
der und umgebenden Argufje ficher und geniefje mein Glüd von ihr geliebt zu jeyn 
in der Stille unbefahren. Ich Habe jogar jelber manche Worte aufgelaufcht die fie 
dem Schwager von der Art jagte wenn ihn der böſe Dämon befiell. Mich aber zu 
verfichern hab ich auch von ihr übern Schwager manches Wort, noch mehr aber 
manche Grimaffe (die ihr jo ſchön ftehen) aufgefangen. Die Zeit wird | auf- 
tlären, wer von uns beyden der glüdliche gewejen. 


*) Bon einer recht glüflihen Kompofition des Hn. Meyer? von hier. Ich 
werde den Pialm auswendig lernen und alle Morgen bethen. 


Etwas von Lenz. 979 


Schöter Tag 


Diefen Morgen lag ich auf der Folterbank meiner Gedanken in einem jchröd- 
lichen Zuftande. Ich war determinirt, eine Reife in die Schweit zu thun, von wo 
ich ein Einladungsichreiben erhalten hatte und das auf der Stelle. Diefer Entſchluß, 
den ich ſelbſt zu beftreiten zitterte, verjeßte mich in die äufferfte Traurigkeit, und ich 
war den ganzen Vormittag nicht im Stande das geringfte zu arbeiten. Das quälte 
mich am meiften, daß ich ihr neu Kleid itzt nicht zu ſehen Eriegen würde, vielleicht 
in meinem Xeben nie, wozu fie mich doch jo fjchmeichelnd eingeladen Hatte. Bey 
Tiſch ward als ob ein anderer Geift mich bejeelte, in einem Augenblid als ich mit 
dem Schwager jo da ſaß veränderte fi) mein ganzer Entichluß, den ich ſonſt nur 
mit dem Leben fahren Laffen zu können glaubte. Sch jah fie meine fchleunige Abreife 
hören, fich verrathen — denn ihre ganze Seele fitt auf ihrem Gefiht — und uns 
beyde unglücklich machen. Sie unglüdlih!! und ich freute mich über meinen 
Wankelmuth — machte einen ganz andern Plan und jehte mich in Bereitichaft ihn 
noch diefen Abend auszuführen. Diefer war zu bleiben — von bem Schwager aus— 
zuziehen und fo in völliger Freiheit und die Duaal meiner Seele von niemand beobadh- 
tet oder gehemmt, den Ausgang der Sache abzuwarten. Sobald Scipio zuverläffiger 
jchreiben und fie von des Schwagers Leidenjchaft durch andere Anftalten die ich 
machinirte, nicht mehr zu befürchten haben würde, wollte ich unverzüglich um meiner 
eignen Ruhe willen, die Reife in die Schweiß vornehmen. | Ich gieng den Nachmittag 
bin, fie bot mir den Stuhl der vor ihr ftand und an dem fie ihre Arbeit jeftgemacht 
hatte. Man dente mit welchem Gewiffen ich ihr grad gegenüber ihr nun in Die 
Augen jah. Ich fragte fie, ob es ſey, um ihr Schatten zu machen, daß fie mich fo 
jebte, fie legen alles von der übelften Seite aus, ſagte fie: e8 ift aus Freundſchaft“ — 
der Schwager räufperte fih. Du jollteft den Kerl jehen wie er zu huſten u. zu 
frächzen anfängt und braun und blau im Geficht wird, wenn fie mir jo was fagt. 
D was ich empfand bei ihren Bliden, halb auögelofchen in Schmerz, bey ihrer 
ſchönen Pfirfichbläffe, auf der Folter jaß ich da. Die Schweiter rief mich zum Klavier 
und jpielte mir eine der jchönften Italienifchen Arien mit Blicken die mich wünjchen [sic] 
machten, ich könnte fie lieben. Araminta fam zu uns, in dem Augenblid hörte ich 
feinen Ton mehr, jene merkte es, ward bleich für Zorn, machte einige Ausſchweiffungen 
— ich konnt' e& nicht aushalten, fondern gieng plößlich fort, Araminta hielt mich 
diesmal nicht zurüd, wie jonft gewöhnlich. Den Abend fpazierte ich ganz allein im 
Dunkeln einige Stunden auf dem Stadtgraben. O wenn die Nacht nicht wäre, wo 
tänden troftlofe Verliebte Zuflucht? Ich war getröftet und vollkommen ftarf wieder 
als ich nach Haufe fam gleich als ob ich im Frifcheften Brunnen gebadet hätte. Ich ſagte 
dem Schwager als er nach Haufe kam, eine vorhabende Reife nach der Schweih 
zwänge mich von ihm auszuziehen, er wurde darüber jo froh und getraute fich jo 
wenig e8 merken zu laſſen, daß das mir eine wahre Garnavalatomödie gab. Ich 
ftellte mich immer beforgter, feine Freund-ſchaft würde ſich durch diefen Schritt 
beleidiget glauben, er war ganz betäubt und wuſte faum was er mir fagen Tollte. 
Er ftammelte einige Worte daher, die er ſelbſt nicht verftund. Nach einer Weile 
fagte er, in Frankreih hab er doch fchon eine jehr üble Gewohnheit abgelegt und 
das nur feit einigen Tagen, ala ich ihn fragte, was für eine das jey, die Eifferfucht 
antwortete er, bier fieng ich eine Predigt über die Leidenfchaft an zu halten und 
mahlte fie ihm jo lächerlich ab daß er jelbjt mitlachen mußte. „Ach,“ ſagte er, „ich 
wünfchte nichts mehr, als daß mein Bruder bald zurüffäme” aber das jo ſcheu und 
furchtſam, daß der wahre Sinn diefer Worte offenbar durchichien. Ich ftellte mich 
ala ob ich ihn nicht verftünde, beharrte auf der Güte des Karackters, feines Bruders, 
auf die Wahrjcheinlichkeit jeiner baldigen Wiederkehr u. ſ. f. Hierauf jagte er, er 
wünſche, das Negiment in welches er träte, gienge nach Gorfita — bald wär’ ich 
in ein lautes Lachen außgeborjten und hätte jo meine ganze Rolle auf immer verhungt. 

Ein befondrer Vorfall begegnete mir diefen Abend. Als er nach Haufe kam, 

19* 


280 Deutjche Rundſchau 


trat ich aus der Kammer ihn mit dem Licht entgegen. Nun hatt’ ich ehmals einen 
Traum, den ich noch bis diefe Stunde nicht vergefien fan. Bor zwey Jahren als 
ich noch mit feinen beyden ältern Brüdern zuſammenwohnte, träumte mir einft, ich 
führte einen Wagen mit zwey grofjen jchwarzen Pferden. Das eine lief plößlich aus 
den Strengen heraus, ich fuhr mit dem andern eine | Strede fort, ala es auf einmal 
auch fich jelber losfpannte und die Leute mirs nicht aufhalten konnten. Mittlerweile 
war ich mit dem Wagen im Angeficht eines grofjen Schloiles fihen blieben, wo ich 
denn Hineingieng und an einer groffen Tafel aß, woran mein Vater und Scipio und 
meine Verwandte jajlen. Auf einmal fam eine Eleine Gejtalt Hinein (ich entjinne 
mich deutlich, daß fie was vom Schwager Hatte, nur alles zwergmäffig) die auf mich 
jugieng und mich zu meiner eignen Berwunderung bis in den Winkel hineinrang, wo 
fie mich zu überwältigen anftieng, daß mir der Odem ſchon vergieng. Scipio jo 
deucht’ ed mich, kam dazu, nahm fich meiner an und fchaffte den rothen Zwerg fort. — 
Einige Stüfe dieſes Traums waren wirklich jeither ſchon in Erfüllung gegangen, ich 
hatte mich vom ältejten gejchieden — hernach vom mitteljten und das mit nicht 
wenig Geräufch, wovon ich dir wieder eine ganz eigene Hiftorie Jchreiben könnte wenn 
ich nicht alle Ausfchweiffungen mich vorgeſetzt hätte zu vermeiden. Alſo blieb mir 
nur noch der Reft über, den ich immer mir vom Schwager erklärte und irgend eine 
gewaltfame Scene mit ihm befürchtete. — Diejen Abend, grad in dem Augenblid da 
ich ihm entgegentrat, hatte ich an den verzweiffelten Traum gedacht, meine voreilende 
Phantaſey Hatte mir Araminten abgebildet, die vielleicht in ihrem üblen Humor etwas 
zu viel Abneigung jür ihn könnte verrathen haben. Wie, dacht ich, wenn er igt mit 
blofjem Degen hereinträte — du bift unbewainet — und den Zwerg: | traum wahr 
machte! — Stell’ dir mein Entjeßen vor, als jo wie ich den Gedanken dachte der 
Schwager hereintrat und jo wie er mich anfichtig warb den Degen zog und auf mic) 
einftürzte, dad Geficht ganz verzerrt. Ich wich fchnell zur Seite aus, da feine 
Degenſpitze mir jchon auf dem Bruftlaß ſaß, etwas zu jchnell, ala daß er den Spaß 
länger fortjeßen fonnte, da er in dem Iuftigjten Humor don der Welt war. Gr 
lachte überlaut — vielleicht ein ganz Parthey nekifcher Gnomen mit ihm: ich lachte 
auch — dachte aber, die joll mich vielleicht zu einer ernſthaftern Scene von diefer 
Art vorbereiten und panzerte meine Brujt.*) 


Siebenter Tag. 
Morgens früh 

Er hält mich wohl für einen guten Narren. Diefen Morgen lieg ich mir ein fer 
a cheval frifiren, weil fie mir geftern öffentlich zum zweytenmal verboten hatte, 
jemals wieder in der grecque ihr unter die Augen zu fommen. Sogleich fam er, 
mir zu erzehlen, er habe den ganzen Vormittag Bifiten zu machen, um mich ficher 
zu machen, meyn’ ih. Er bildt fich ein, ich werde fogleich früh Hinlauffen, mich 
ihr in der neuen Frifur zu weifen, da meine Haußleute mir alle jagten, daß fie mir 
fo gut gienge und will mich da überrafchen. — ch werde ſehen, ob er nicht wird 
zur Parade dort gewejen jeyn. (Das Haus fteht am Paradeplat und man fieht 
alle Morgen die Wache dort abziehn) | 
Nachmittags. 

D Gott! verleyhe mir Weißheit und Standhaitigkeit, die Unfchuld und Tugend 
zu retten und zu rächen. Es ift entjchieden, fie liebt mich — aber fie fteht am 
Rande eines Abgrund. Wie gut daß ich nicht in die Schweiß reifte, da meine 
Gegenwart Hier vielleicht jo nothwendig iſt. Ich traf fie glüflicher Weiſe diejen 
Nachmittag allein, das heißt ohne den Schwager, denn in jeder andern Gejelljchaft 
ift fie ganz für mich da. Sie bezeugte jogleich Freude über meine neue Friſur 
(vielleicht mehr über meinen Gehorfam) nahm mich an die Hand und führte mich 


*) Du wirft in der Folge jehen, wie gegründet diefe Ahndung geweſen und wie 
heilfam, daß der Zwergtraum fich meinem Gedächtnis jo tief eingegraben Hatte. 


Etwas von Lenz. 281 


zu ihrer Mutter, zeigte mir ein neues Fichu (das deutſche Wort weiß ich nicht) das 
fie um ihre weiſſe Bruft geftedt. Wir genoſſen der glüklichſten Augenblide — 
eins noch, ich jagt’ ihr in meinem Baterlande küſſe man jobald man in eine 
Geſellſchaft käme jeder Dame erft die Hand und fodann den Mund, ich wollt’ es 
ihr mweifen, füßte ihr die Hand, fie bog fich zu mir herab, ich ftrebte zu ihr empor, 
unfere Lippen waren wie eleftrifirt und zogen fich wechjeljeitig an, ganz nah bey 
einander — und einer aus der Gefellfchait kehrte fich um nach uns — fie zog haſtig 
zurüd — da hätteft du den Tantalus jehen jollen. Aber ihr Blid — das verbotene, 
lüfterne, fatte, ſeelige, herrliche darin entjchädigte mich völlig. Ihr Lächeln — gleich 
ala ob wir beyde auf einer Kleinen Schelmereyg wären ertappt worden, die faum 
merfliche Bewegung ihrer Lippen die fich wieder in ihre alte Lage zurüffeßten — jo- 
viel Göthe! und das alles in einem Augenblid — ich fterbe wenn ichs verfolge. | 

Auf einmal kam mir — ich weiß, Gott weiß nicht, woher, der längjt entſchlaffene 
Gedanke, das Geheimniß des Gejprächd aufzullären das fie die vorige Woche mit 
dem Schwager über mir geführt hatte, als ihr Vater den Brief von Scipio erhielt 
und ich unter ihrem Fenſter auf dem Platz fpazierte, das Geſpräch, das fo vortheilhait 
für meine Liebe und fo nachteilig für meine Ehre war, wenn Scipio fie verlieife, jolle 
ich feinen Plaß einnehmen, und grad heraus, fie wünſchte fich einen Mann wie mich. 
Ach machte einige Umſchweiffe, fie fürzte mir den Weg mit ihrem gewöhnlich fchnell 
durcchdringenden Verftande. Weil fie alles jo jchnell errieth was ich jagen wollte, 
Ichließ ich Tat, von dem Geſpräch müfe mehr wahr ſeyn ala ich auch in meiner 
beftigften Unruhe glaubte. Ihr Muthwill verwandelte fich plößlich in das fchönfte 
Ernſthaft, das ich ihr jemals gejehen, fie fagte mir gleich, & ift wahr daß ich immer 
guts von ihnen geredt Habe fowohl zu Scipio als zu jeinen Brüdern und ich fann 
auch nie anders, denn ich kann mich nicht verftellen. Ach Gott wie viel Verficherungen 
fie mir gemacht hat, daß fie mit mir nie anders umgienge als wie e& ihr ums Herz 
wäre und daß ich mich doch darauf verlaffen könnte — ich hätte mich zu ihren Füſſen 
werfen mögen und ihre Kniee mit meinen Tränen netzen — wie viel Yobeserhebungen, 
meines Herzens meiner Führung, wobey ihr das Teuer aus den Augen leuchtete — 
ich kann e8 unmöglich bejchreiben aber denken werde ich immer dran und e& war mir 
als ob ein Engel vom Himmel fommen wäre und mich wegen meiner Hand- | Lungen 
aufmuntern wollte durch die liebevolle Verficherung , feine einzige davon fey unbemerkt 
geblieben. Sie drang nur immer in mich, ihr doch zu jagen, was mich denn in ihren . 
Reden könnte beleidigt haben, jemehr fie in mich drang, defto mehr Wiederjtand fühlte 
ich in mir, es ihr zu jagen, bejonders da mir ein geheimer halbverguügter Blick von 
ihr verrieth, daß fie e& zu hören wünſchte, um mit mir über dieje Miaterien ſich 
weiter auslaffen zu Können. Hätt' ich nicht durch fie ſelbſt Augenblide vorher 
Belohnung meiner Tugend erhalten: ich wäre ſchwach genug geweien, ihr alles zu 
fagen. Aber fo Hatte fie, da ſie mich jebt jo allmächtig beftritt, mir jelbjt vorher 
die Waffen zur Gegenwehr in die Hände gegeben. Sie, wiederholte mir, ihre 
Unterredung mit dem Schwager wörtlich — aber fie wußte über den Hauptpunkt fo 
leicht wegzuglitichen wobey ihr jchönernithaftes Geficht über u. über erröthete und 
immer der Verräther im Aug lauerte, daß ich deutlich wahrnahm, fie wollte mir 
nur Gelegenheit geben das fatale Wort zu nennen um mir hernach darüber ihr ganzes 
Herz zu öfnen. Ich faßte mich — Gott warft du es, der mir die Stärfe gab, ober 
war es Irrthum? Die Zeit wirds ausweiſen — ih nahm ihre Hand voll der 
lebhaftejten Empfindung zwifchen meine beyden und bat fie, mir Lieber jenes Federmeſſer 
ins Herz zu drüfen, als zu verlangen daß ich ihr mehr Jagen follte. Das hatte fie 
mir zugeftanden, fie hätte den Schwager verfichert, wenn auc aus der Sache feines 
Bruders nichts würde | werde ihre Freundjchaft gegen ihn und mich nie nachlafien 
und wir möchten unjere Bejuche nur nach wie vor fortfeßen. ch vermuthe iht 
mehr ala wahricheinlich aus dem ſchalkhaften Blid womit fie das begleitete und 
immer in mich drang, ob er mir noch mehr gejagt, fie habe im Scherz hinzugeſeht 
(da fie mich eben vorbeygehen jehen) alsdenn heurathe ich Herrn — Hätte ich ihr 





282 Deutiche Rundichan. 


dies gejagt, jo hätte ein Wort das andere gegeben und — ein Zettel warnte mich, 
den fie mich einmal hat ziehen laffen, (es war ein Lotteriefpiel in Verfen. Den Tag 
ala ich in den Keller fiel: fie lies mich ganz allein ziehen und ich ſtekte ihn jchnell 
wieder unter die Karten, ohne ihn ihr zu weifen) vous avez un amour jo ungefähr 
qu’un accident vous a fait r6ussir, et qui vous pourroit mener loin. Sch werde 
immer diefe Befonnenheit behalten, wenn ich in ähnliche Verfuchungen fommen jollte. 

At wandte fich die Unterredung auf den Schwager und ich erfuhr wunderbare 
Sachen, als fie ihr Liebes Herz jo ganz gegen mich ausjchüttete, die mir in die Geele 
hineinfchnitten. Seine boßhaften Launen gegen fie, feine Eifferfucht, wodurch er fie 
oft vor den Augen der ganzen Welt proftituirte, feine erniedrigenden Liebkoſungen, 
ala ob fie ein Mädchen wäre da8 von der Gafje aufgehoben worden. Ich beichtwur 
jie mir alles zu jagen, ich würde mit Ernft und Liebe trachten ihn zu hofmeiſtern 
und fchlüg es nicht an, alles feinem Bruder jchreipen und wenns mit Gefahr meines 
Lebens wäre. O wie der Engel fich mir | jo öÖfnete und mir fogar verſprach, auf 
mein Anhalten, obgleich fie im Anfang Schwürigfeiten machte, mir jelbft einen Brief 
voll Beichwerden an Scipio anzudertrauen, wenn der Schwager feine Begegnung 
nicht änderte. Ich konnte ihre gerechten Klagen kaum aushalten, noch weniger die 
Zobeserhebungen mit denen fie mich zu Boden drüdte indem fie die meinigen über 
ihr englifches Betragen und über ihre Gebult erwiederte, meine ganze Leidenjchaft 
war in diefem Augenblid verſchwunden und Hatte fi in Ehrfurcht Bewunderung 
und Mitleiden verwandelt. Dies letztere vertvandelte fich faſt in Wuth, als ich zu 
Haufe über das Geſpräch nachdachte, das der Schwager über Tiſch mit mir geführt 
und e8 mit ihrer Erzehlung von diefem Vormittag verglich. Ich Hatte mich nemlich 
nicht betrogen, er war noch früher als zur Parade da geweſen als fie eben ihr 
Schnürleib anlegte und hatte fich wollen Freyheiten nehmen, worüber fie gezwungen 
gewelen, ihm Grobheiten zu fagen, auf die er fich wegbegeben. Den Mittag redte 
er mir von Heurathen, Entführungen, bis er zuletzt auch auf die Konkubinen kam 
und behauptete fie jeyn jo rechtmäſſig als die Ehen, wenn man jeinen Kindern die 
gehörige Erziehung gäbe und fich ſein Kebsweib auf dem Zodtenbette antrauen Liefle, 
welches ich ihm nun fehr beftritt. Den Abend ängjtigte ich ihn recht, ich erzehlte 
ihm nemlich ganz troden, Araminta hätte mir gejagt er wäre den Wormittag da 
geweſen, wäre aber bald meggegangen weil fie eben im Schnürleib geftanden. Sie 
hätte mir aber dabey jehr piquirt gefchienen (worüber ich ihn jcharf in die Augen 
faßte. Zu merken, daß | fie mich ums Himmelswillen gebeten Hatte, ihm nichts von 
allem merken zu laffen und daß ich zugleich wagte, wenn fie meine Faljchheit erführe, 
könnte fie ihm in der Uebereilung auch viel von dem entdefen, was ich ihr anvertraut.) 
Das Wort piquirt jehte ihn ganz auffer Faſſung er befürchtete, fie hätte mich was 
merken laſſen, fein Gejpräh am Mittag wog ihm auf dem Gewiſſen, er jchlug die 
Augen nieder und ward roth, fieng auf eine jehr ehrerbietige Art von Araminten an zu 
iprechen, rühmte mir ihre Tugend, fagte mir, ex habe fie bisweilen nur von weiten 
ber wollen auf die Probe ſetzen, kam vom hundertſten ins taufendjte, bis er endlich 
bey einer Liebe ftehen blieb die er in Deutichland gehabt und die ihm glücklicher 
Meife den Faden zum Ausgang aus diefem Labyrinth reichte, in welchem ich ihn 
verfolgte. Er wollte mich durch Briefe und wer weiß was glauben machen, er habe 
in — einem Fräulein die Ehe verfprochen, ich jollte fie bejuchen wenn ich nad) 
Haufe reijte, ibt jey er oft entichloffen gewejen, ihr wegen ihrer grojien Armut jährlich 
200 Dukaten auszumachen, bis er im Stande ſey fie zu heurathen — kurz ich jehe 
daß er eben jo verſchmitzt als boßhaft ift, aber wenn er ein Proteus wäre, ich werde 
ihn halten. Gr weilt einen Eiffer eine Liebe für feinen Bruder, die nichts als eine 
Larve feiner Leidenſchaft it, noch kürzlich hatt er ihm einen Brief geichrieben (und 
vielleicht nicht Fortgeichiet) der ganz aufgebläht von Liebkojungen war, die im Grunde 
nichts jagten. Mit dergleichen Briefen jucht und weiß er fich bey Araminten in 
Gunst zu | jegen, der er wohl alle Woche einen vorlieft. Mir will er glauben machen, 
fie liebe jeinen Bruder nicht mehr und fie will er überreden, daß fein Bruder 


Etwas von Lenz. 233 


wankelmüthig jey, zu dem Ende lieft er ihr all die Ermahnungen vor die er ihm 
giebt und die völlig unndthig find. ch merke dies und rede immer mit ihr von 
Scipio mit der größten Zuverficht. Sogar mir erregt er immer neue Zweiffel wieder 
ihn, geftern beim Schlaffengehen jagt’ er mir, mein Bruder hat doch überall Liebjten 
gehabt wo er fich aufgehalten, wir wollen doch jehen, ob er diefe auch wird Lauffen 
laffen. Als ich ihm dagegen jtritt, lenkte er ein. Er jucht mich immer zu überreden, 
gleich nach Haufe zu reifen und nicht in die Schweiß, er fürchtet meine Gegenwart 
bier, beſonders weil er jehr oft feine geheimjten Gedanken vor mir ausgejchüttet, von 
denen ich ihn anfangs immer mit Gelindigkeit zurülzuführen juchte. Ich werde diejes 
Betragen jovielmöglich noch immer beybehalten jo lang ich bey ihm bin, um ihn 
ganz auszuholen und jeinen geheimen Entwürfen entgegen zu miniren. Hernach kann 
ich den Medujenkopf ſchon auskehren. Gott der du meine Abfichten fieheft und daß 
ih fie nur glüflich will und daß, für ihre Glük zu fterben mir der angenehmite 
Augenblid meines Lebens jeyn wide du mußt mir zu Hülfe kommen. Gie 
überläßt fi ganz mir, fie hat mir heut in feiner Gegenwart ganz leife ins Ohr 
gejagt, ala fie mit mir meinen Hut juchte, ich möchte doch morgen Vormittag wieder 
fommen: wer weiß was fie mir | mehr zu eröfnen bat. Sch muß meine Brujt 
bereiten, Stand zu halten wieder ihre Reitze, damit ich nicht ftrafbarer werde als 
der dem ich richte. Auch darf ich die Sachen nicht übereilen, er bat in der That 
manche Aufopferungen für fie gethan, wie leicht könnten diefe nur Abirrungen feiner 
Leidenschaft jeyn, die fie jedem einzuflöffen vermögend ift. Vielleicht kann ex ohne 
Schärfe geheilt werden, wenn fie meinem Rath nur folgt und zu Zeiten eine gewifje 
Entfernung gegen ihn annimmt, denn er kann ihr doch auch noch zu vielen Dingen 
ungemein nüßlich jeyn. Bey alledem könnte er Verdacht faſſen, dies gejchehe auf 
meinen Antrieb und hernach gegen mich bey Scipio (defjen Zutrauen er ganz hat) 
erſchröckliche Verleumdungen ſchmieden, bejonderd aus ihren fleinen undorfichtigen 
Reden da — und ich würde jodann der Zerftörer ihres ganzen Glüks. 

Jemehr ich feine Handlungen von der Abreife Scipios an bis itzt, zufammenftelle 
und vergleiche, deſto verbächtiger wird er mir. Wozu das romantijche Projedt, fein 
Bruder Sollte fich den letzten Tag vor der Abreife heimlich mit ihr trauen Laffen. 
Er verdunfelte mir auch damals die Sache durch jeinen Eyffer und Ungeftüm. Wozu 
die Verwirrung mit den Briefen, wieder den außdrüdlichen Befehl jeines Bruders, jo 
daß fie dem Vater in die Hände fallen mußten, deffen Naturell er zu kennen vorgab. 
Auf der andern Seite konnte dad Mißtrauen gegen jeinen Bruder — Nacht 
überall. Das was mich am meiften mißtrauifch macht, ift die Furcht die ihn befiel und 
die er mir entdefte, jedesmal wenn er ins Haus träte. War das kein böfes Gewifjen ? 
Es läßt fich Freilich auch entfchuldigen — warten ’r! 


Achter Tag. 


Ich gieng Hin auf ihren Wink: ich wagte von ihm mitten in unfrer Unterredung 
überfallen zu werden, aber ich war zu allem gefaßt. Ihre Schweiter hatte Singftunde, 
Araminta fetzte mich auf einen Stuhl neben ſich, aber wie jehr war ich verwundert, 
fie heute ganz verändert zu finden. ch fragte fie ob fie gut gejchlaffen hätte, fie 
jagte nein, fie habe jaft die ganze Nacht gewacht, ich jagte ihr das nemliche don 
mir und Ienfte gleich das Gejpräch dahin wo wir geftern aufgehört Hatten, berichtete 
ihr, ich habe dem Schwager gejagt, fie Habe mir piquirt über ihn gejchienen, daß er 
mir drauf geftottert er habe fie auf die Probe ſetzen wollen. Sie ſchien faft ein 
wenig unzufrieden mit mir, ich mußte weiter reden. ch ſagte, ich Habe es für 
nöthig gefunden, weil er den Mittag ganz bejondre Reden mit, mir geführt, die ich 
ihrer Delikateſſe zu jchonen ihr nicht jagen wollte. Das bejänftigte fie nicht, fie Jagte 
mir mit aller möglichen Freundlichkeit, daß fie viele Freundichait für den Schwager 
hätte und daß wenn er feine Saunen nur in etwas ablegte, fie ihm vecht gut 
werden könnte. 


234 Deutiche Rundſchau. 


Ih beitand demungeachtet darauf, daB ich ihm in Anjehung ihrer nicht die 
beiten Abfichten zutraute, und rieth ihr eine gewifle | *) 


r — Eu — — —— — — — —“ — 


Vierter Tag. 


Geiten Abend jpät fam der Schwager ziemlich mißvergnügt nah Haufe, ich 
bracht ihn aber durch die Erzehlung von Aramintens weijen Aufführung jo weit daß 
er es bereute, ihr Vergnügen geftöhrt zu haben. Heut Morgen fühlt ih Weh auf 
der Bruſt (ich Hatte auf dem Land in die Hitze getrunken) bey Tiſch beftel ihn fein 
böjer Geiſt, er jagt’ ich werde wohl ißt auch Engheiten befommen wie fie. Ich jagte 
ihm teoden daß ich mir nicht viel aus dem Leben machte. Nach Tisch ward ich zu 
feinem Bruder (e8 find ihrer drey, zwey hier und Scipio zu Haufe) geruffen, dem ich 
ein wenig von feiner unvernünjtigen Führung eröfnete und ihn überredte djter in das 
Haus zu gehn um ihm das Gegengewicht zu halten. ch werde dieſe Mine fort- 
ſetzen und hofje die jtärkfjten Schanzen des Schwager damit umzuwerfen. Wir be- 
redten uns beyde an Scipio zu jchreiben, damit er dadurch auf die Führung feines 
jüngjten Bruders aufmerkſamer und vorfichtig gemacht werde. Unterdejjen mag jein 
Theilnehmen an diefem Haufe fortwähren, die Duelle mag davon feyn welche fie 
wolle. Er lernt mit ihr die Harfe zujammen und bejorgt heute die Spedition, des 
Prejents. Und fie jpielt ihre Rolle fürtreflich, ich bin erjtaunt gewejen welche Gleich- 
gültigleit fie diefen Nachmittag gegen mich bliden ließ in feiner Gegenwart, und ob= 
ichon er grad drauf zufam ald wir von ihm jprachen (unſre Hausjungfer war ba 
und ſchmähte auf ihn jämmerlich, dab ich ihn ſelbſt zu entichuldigen juchte) wie fie 
ihm zu liebkoſen wufte. Gott wie unglüdlich bin ih. Ob er von unjern Gefchichten 
etwas geargwohnt Hat | er fieng wieder an feine Bramarbasliturgie abzufingen, dies 
geichah zu Haufe welchen Kübel er heut hätte fich zu jchlagen, wenn er auch auf 
dent Plat bleiben jollte, ich blieb ganz gerubig. Endlich zog er gegen unſere Haus— 
jungjer, um fie zu erichröden: ich merkte wohl wo das Spiel binauswollte und 
bereitete meine Brut, er jtieß in der That auf mich zu, ich blieb wie ein 
Marmor jtehen und 's gelang ihm nicht, mich auch nur mit den Augen wimpern zu 
machen. Endlich als er nicht aufhören wollte, jagt’ ich ihm ganz gelaflen, jteden 
Sie ein und als das auch nichts fruchtete, faßt ich ihm mit beyden Händen in den 
Degen, da er ihn nicht aus der Stelle brachte, nun denke wie viel Ernſt bey feinem 
Muthwill gewejen da er aus aller feiner Macht arbeitete mir den Degen durch die 
Hände zu ziehen, aber es gelung ihm nicht. Er hätte mir beyde Fäufte zer- 
ichnitten, woher mir die Stärke fam weiß ich nicht, obſchon ich ihm fonjt an Kräften 
[nicht?] überlegen bin. Ich weiß nicht wie ich diefen Tag geftimmt war, daß ich 
mich nicht ärgern fonnte und ed war ein Glüd, jonjt hätt’ ich meine Sache für 
immer verdorben. Er war jo verwirrt und bejtürzt über meine Stärke und Faflung, 
daß er mich anfieng ganz traurig zu bitten, ich möchte doch meinen Degen auch 
ziehen, wir wollten nur jcherzen zufammen, er ſchwüre mir auf feine Ehre, ich follte 
allein ſtoſſen, er wolle nichts thun ala pariren. Ich kam nicht aus meiner Laune, 
ſondern antwortete lachend: Warum das? ich jcherze niemals mit bloffem Degen. 
Ha, fagte ler (und ich wünfchte Dir jein Gefiht dabey abmahlen zu fünnen) wenn 
Sie nicht ziehen, fo ftoffe ich Ihnen durchs Herz. Stoffen Sie nur immer drauf 
loß, antwortete ich noch mehr lachend, ich werd Ihnen mit der Hand abpariren. 
Und wozu würd es ihnen nutzen, jeßte ich ganz nachläffig Hinzu. Diefe Worte machten 
ihn tieffinnig, und ich jah auf feinem Gefiht daß der Geijt der Eifferfucht ihn ver- 
ließ. Er gieng aus meinem Zimmer und nachdem er eine halbe Stunde jtubirt, 
"am er wieder, füßte mir die Schulter, ſagte er wollte mir Hände und Fülle füllen, 


) Hier fehlen etwa fünf Tage, mworunter eine Landpartie vorfam — mahricheinlich eine 
Lage von vier Blättern. 


Etwas von Lenz. 285 


wenn ich nur meinen Degen gegen ihn zöge. Wozu denn? antwortete ich nun ganz 
ernithaft und ftand auf, Sie müſſen mir vorher die Urfache jagen. Er ohne mich 
abzuwarten machte Miene, mir grade durchs Herz zu ftoflen, und hätte den Stoß 
vollführt, hätte ich ihm nicht durchs ſeitwärtsausbiegen parirt. Wir waren allein 
im Zimmer. Eben als ich Entſchluß faſſen wollte die Sache ganz ernfthaft zu 
nehmen, jchlug er ein Gelächter auf, daß es ihm doch gelungen wäre mich zu er- 
ichröden. Ich Lächelte mit und jagte ihm nur, Sie machen zu ihren Späflen jo 
ernsthafte und traurige Gefichter, daß man fich Leicht betrügen kann. Hierauf machte 
er das Padet von NAraminten an feinen Bruder fertig und ich gieng zu ihr, wohin 
er denn auch fam und mich mit Reden verwirren wollte aber mit gleicher Münze 
bezahlt ward. Er rühmte mir feinen Yortgang auf der Harfe und ſagte er wolle 
mir ein Stüd fpielen, daß ich danzen follte dazu wie eine Habe. Ich werde danzen 
grad wie Sie jpielen — und er verftummte. Ich gieng diefen Abend zeitiger | fort um 
nicht der Abfertigung des Prejents im Wege zu jeyn, es wurde mit Kaufmannsgütern 
fortgeſchickt. Zu Haufe fand ich ein Billet von Herrn MWerthes der mit jeinem Baron 
mich aufgefucht Hatte, ich gieng halb ungern in den Geift, ward aber durch einen 
recht vergnügten Abend der bis in bie Mitternacht dauerte für die Mühfeeligkeiten 
diejes Tages recht gut belohnt. 
Fünfter Tag. 

Welche Pein! ich leide wie ein Verdammter. Grofje Götter! jchlagt mich nicht 
gänzlich danieder. Den Mittag kommt der Schwager heim, erzehlt mir ganz ver- 
gnügt, das Prejent wäre abgegangen, macht mich auch ganz vergnügt dadurch. Auf 
einmal plaßt er aus: wie? Sie wollen Araminten italienifch lehren? ch jtelle 
mich als ob ichs ganz vergefjen hätte, ach ruf ich endlich, ich erinnere mich und 
erzehl ihm ganz ungefünftelt die VBeranlaffung, fie Habe neulich eine italienische Arie 
gefungen die ich ihr habe überjehen müflen und da hab ich ihr vorgeichlagen, und 
dergleichen. Er überladet mich mit Lieblojungen, Freundichaftsbezeugungen, Enthu— 
fiagmus, jagt er wolle die Stunde mit nehmen, verjpricht mir güldne Berge, verjpricht 
mir mehr LZedtionen in der Stadt zu verſchaffen, als ich jemals verlangen werde. 
Ich fihe erftaunt verwirrt ftumm, meine gleichgültige Rolle will mir nicht mehr 
gelingen, ich ftelle mich Falt zu haben, Klage über Fieber, weil ich über den ganzen 
Leib zitterte von den verfchiednen Leidenfchaften die mich bejtürmten. Alle meine 
Sinnen endigten ſich bier. Auf welche Art mußte | fies ihm vorgetragen haben. 
D granfames und zärtliches Herz! Ich jah wohl ein daß es war um mir (weil ich 
mich ist vom Schwager trennen jollte) den Zutritt in ihr Hauß frey zu behalten 
und zugleich mir aus des Schwager8 Beutel eine Eleine Sportel zu verichaffen. Ach 
fie hat viel mehr für mich gethan und gewagt, als ich jemals für fie gethan und 
gewagt habe. Noch heutzutage ift mirs ein Rätzel wie fie ihm die Sache vorgetragen 
hat , doch Hab ich aus einigen ihrer Reden nunmehr gemerkt, daß fie ihm mit der 
unfinnigen Hofnung gejchmeichelt, mit ihm nach Italien zu gehen. Welche Ver— 
wegenbeit! da fie ihn verabjcheut, wie fie mir ſelbſt geftanden. Unterbeffen da jie 
ist aus jeinem Munde redete, konnt ich ihm nicht wiederjtehen, er bejchwur mich 
die einzige Freundichaft die einzige Gütigkeit die ich ihm erweifen möchte, ich jollte 
nicht nad) der Schwei gehen, ich ſollte in Strasburg bleiben und ununterbrochen _ 
beyde italienisch lehren. (Sie Hatte erfahren, daß ich nach der Schweiß Hatte reiſen 
wollen) Des Todes wollte ich jeyn, ich verjprach, ich verjprad) alles. Welche Ab- 
ſtechung. Den Zag vorher hatte er fich noch mit mir herumgejtritten wie ein Narr, 
ich möchte doch gejcheidt jeyn und dem Ruf meines Vaters in mein Vaterland folgen 
und lieber gleich abreifen, Lieber heut ala Morgen. Heut hingegen nichts ala Rath— 
ichläge mich hier einzurichten, drang ich jollte und müßte ihm veriprechen hier zu 
bleiben, Projekte | Anerbietungen — nur nicht reifen. Graufame bift du es alſo 
die auch meine Feinde bejeelt, mich hier feſtzuhalten, um meine Folter zu verlängern. 
Täglich foll ich dich jehen — und in jeiner Gefellichaft! Stell dir vor Goethe! mit 


286 Deutihe Rundſchau. 
welchen Serzenöbewegungen ich ihn anhören mußte fich zu diejem Projedt Glüd 
wünſchen und daß er fich dadurch noch einen Zutritt ind Haus erfpahrte, auch wenn 
die Sache mit feinem Bruder zurülgienge. Und ich foll ihm dazu die Waffen leihen, 
mich tödlich zu verwunden täglich und fie zwingt mich dazu! Groſſe Götter! ihr 
thut mir Unrecht — verzeyht — ich will fie jehn fie mit meinen Bliden jtraffen, 
zu ihren Füſſen fterben für Schmerz und für Erfenntlichkeit. 


Nahmittag. 


68 iſt vorbey, ich will fie nicht mehr lieben, es iſt eine Undankbare, Klein— 
gläubige, Leichtfinnige — Gott weiß was? Ich gehe zu ihr, treffe fie mit der 
Mutter allein, jag ihr mit einem bittern Ton, ich habe vom Schwager gehört, jie 
hab ihm den Vorſchlag gethan mit ihm Jtalienifch zu lernen. Er ift jeher vergnügt 
darüber fette ich Hinzu und ich auch, ich bin entzückt darüber, wobey ich fie zornig 
anfah. Sie entjchuldigte fich, jie hätte befürchtet, er würde es ihr für eine Falſchheit 
auslegen, wenn fie ohne fein Willen italienifch von mir gelernt hätte, da ich jetzo 
von ihm auszöge. (In der That fann fie da wohl recht Haben, aber was geht es 
mich an.) Sogleich um mich zu bejänftigen, führte fie mich in die Kammer | mir 
ihre Lektion auf der Harfe zu repetiren. Hier hab ich einen der gröften Fehler ge: 
macht, der nur zu machen if. Wir waren allein. Sie that dies ausdrüflich um 
mir Gelegenheit zu geben mein Herz u. alle verliebten Borwürfe vor ihr auszu— 
ſchütten und dann fich zu rechtfertigen, jo daß die Mutter nicht hörte, die jehr zu— 
frieden mit unjerer Freundfchaft, jehr unzufrieden aber mit unſrer Liebe bei allen 
Gelegenheiten fich bezeigt. Meine verdammte Behutfamkeit verhinderte mich, auch 
war ich nicht mehr böje, wer fann mit einem ganzen Himmel voll Freud und Lächeln 
böje jeyn. Im Gegentheil von unbefannten Gefühlen der Erfenntlichkeit ergriffen, 
faßte ich mafchinenmäffig ihre Hand und verjchlo& mir den Mund damit über fünf 
Minuten. Meine Wuth jebte fie ganz auffer Faſſung fie fpielte, aber nicht lange 
und falſch, ich wie fie immer zurecht und mußte zu dem Ende meine Hand zwijchen 
ihren Arm und Bruft gehen laffen, fie drüfte ihre Schneebruft gegen meine Hand, 
aber ich blieb in den Grenzen der ftrengjten Ehrfurcht und wie konnte ich anders, 
ohne der verworfenſte Böjewiht zu jeyn? Sie Hatte nur zwey Tadte bei ihrem 
Meifter gelernt und e8 war die zweyte Stunde erjt gewejen: bewundre die Macht 
des Kleinen Gott3! in einigen Minuten hatte fie jet mit meiner Hülfe das ganze 
Stüd heraus. Sie jauchzte und rief es ihrer Mutter zu und daß ich ihr jet immer 
weiſen jollte — der Schwager trat herein und ward nicht im geringjten eyfferfüchtig 
wiewol er un® beyde allein auf dem Kanapé fand, das ſetzte mich in Wuth, ich hätte 
weinen mögen. | Die gute Mutter brummte ein wenig über unfer Harfenfpielen, das 
brachte mich wieder zu mir jelber. Wir giengen in die Stube — lieber Goethe ich 
fann über diefe Stelle nicht weg ohne daß mein Blut in den Adern erjtarrt, ich 
muß mir fie ganz mit ihr aufklären, es ift der Franke Fleck den ich in meinen Ge— 
Iprächen mit ihr immer anzurühren vermeide, ohnerachtet fie mir oft Gelegenheit dazu 
giebt, fie zeigt mir aber immer joviel gutes Gewiſſen dabey in ihren Bliden, daß ich 
dag Herz nicht habe anzufangen — Sie erzehlte dem Schwager wie geichwind fie bey 
mir gelernt hätte umd daß fie mich bitten wollte alle Tage mit ihr zu repetiven, ich 
jeßte mich an einen Eleinen Tifch, ihr einige Noten zu jchreiben, der Schwager fam im 
geringiten nicht au& feinem guten Humor. Er trieb e8 jo weit, daß fie einen Schrey 
machte und böje ward, ich jah auf und beyde mit einem finftern Ernſt lange an, 
jie begegnete meinem Blick ungezwungen, er aber kehrte die Augen ab. Die älſteſſte 
führte mich ans Klavier mir eine neue Arie vorzufpielen die fie von ihrem Sing: 
meifter befommen Hatte. ch vertiefte mich in den Sinn der Worte der jehr rührend 
war, jah und Hörte nicht, bis ich mich janft an der Schulter angeitoffen fühlte, wie 
einer der aus einem Traum gewelt wird. Sie war e8, fie gieng mir vorbey als ob 
jie aus der Kammer was zu nehmen hätte und Tragte mich da ich mich plößlich um— 


Etwas von Lenz. 287 


wandte was doc das Wort bedeutete: trema. Ohne meine Ant | wort abzuwarten 
gieng fie in die Hammer. 

Ich Unglüdlicher verftand fie nicht. Nach einigen Minuten machte fie diejen 
Gang zum zweyten male, ich jtellte mich fie nicht zu jehen, um der Schwefler zu 
ichonen, ich fühlte Ihre Hand wieder ohne daß es jemand gewahr ward, weil fie 
fo lang ift ich jo Klein und fie mir Hart vorbey gieng. Seht kehrte ich mich nicht 
um. Der Schwager folgte ihr in die Kammer. In dem Augenblid hörte ich meinen 
Namen ruffen. Sie hatte die Thür Halb offen und ftand in einer weinenden muth- 
willigen Stellung ala ob fie fich geſtoſſen hätte, der Schwager bey ihr der fie be— 
klagte. Ich fragte fie ob ich vielleicht fie angeftoifen hätte, ja freylich Sie, antwortete 
fie mir halb weinend Halb muthwillig und ſetzte fich wieder auf ihren eriten Plab. 
Ach aber fuhr fort nach der Arie zu hören und lobte und applaudirte don neuent. 
Ich Unfinniger! der ich den Sinn ihrer Handlungen nicht entziffern fonnte. Grau» 
james Schidjal jpielft du immer Ball „mit unjerm armen Kopf und Sinnen“. Ich 
weiß nicht ob fie Verdruß gefaßt Hatte über mein gefühlvolle® Zuhören und die 
zärtlihen Blide die ihre Schweiter mir im Singen warf, kurz ich jah fie in dem 
Augenblid mit einem feften entjchloffenen Schritt und finftern Blid die Stube 
hinunter nach der groffen Thür zugehen und der Schwager folgte ihr. Sie fehrte 
fih nicht um nach mir, wie fie ſonſt immer thut wenn fie mich vorbeygeht | 
fondern jah jteif vor fih Hin. Ich war jo vor den Kopf gefchlagen von alledem, 
daß ich mit all meinen Sinnen nicht begreiffen konnte, wo das hinauswollte. Endlich 
hört’ ich mich ruffen. Sch ftürzte zur Thür hinaus, fie fragte mich, Sie haben doch 
unſer Puppenkäftchen jchon gejehen, dad oben auf der Bühne jteht. Ich Hatte es in 
der That mit ihrer Schwefter noch nicht jeit gar lange bejehen, aber ich jagte ganz 
feft, nein! fie wiederſprach mir eben fo feſt, Sie haben es gejehen ſagte fie, ich gehe 
es Herrn v — zu zeigen, aber jagen Sie niemanden wo wir hingehen. Hierauf ftieg 
fie mit ihm Hinauf, nachdem fie von ihrem Mädchen den Schlüffel gefodert Hatte. 
Ich dachte die Länge lang den Boden hinzuſtürzen, gieng ohne Verjtand zum Klavier 
zurüf, als die Arie aus wahr, nahm ich ganz majchinenmäflig Hut und Gtod und 
fort. Mein erjter Gedanke war in die Schweiß, ich wollte mich in dem Moment 
auf den Poltwagen ſetzen. Zum Unglück gieng feiner ab. ch wäre zwey dreymal 
bald mitten auf der Strafje niedergefallen jo jchwindelte mir. Unjeeliger Schwindel! 
unjeelige Leidenſchaft! Hätt ich nicht in dem Augenblick die ganze Gegenwart 
meines Geiltes behalten und ihnen auf dem Fuß nachfolgen jollen, objchon fie mirs 
verboten hatten, objchon — aber ich Hätte durch diefeg Mißtrauen das ganze Haus 
beleidigt, wo alles mit jo fichern Schritten geht. Ich muffte zum Baron H— der 
glüflicherweife nicht zu Haufe war und mir aljo ein Biertel Stunde zum | 
Erholen ließ. Wär er da gewejen er müßte mich für betrunken oder wahnwihig 
gehalten haben. Jch gieng auf und ab, jah aus feinem enter in den Fluß, dacht 
es zu Öfnen und Herausjtürzen, ala er hereintrat. Er fragte mich ob mir nicht 
wohl wäre, ich hatte jchon ſoviel Befonnenheit, eine Lüge herauszujtammeln. Taujend 
Entjchlüffe drängten fich in meinem Kopf herum, ohne daß ich einen einzigen deut— 
lich denken konnte. Ich wollte wieder hin, vielleicht braucht fie meiner Hülfe — 
aber gleich fiel mir ein, fie ijt deffen nicht werth und erftidte alles. Ich haßte und 
verabjcheute fie jeßt jo jehr als ich fie jonjt geliebt hatte. Sie auf immer zu ver— 
laffen, nie wieder vor meine Augen, das war die einzige Stimme die ji) unaufhör— 
lih in meiner Huchzenden Brut hören lie. Alles jchien mir jo angelegt, jo ver: 
anjtaltet, daß ich es Tür lächerlich hielt Lärmen zu jchlagen. Ach hätte ich fie ge- 
fannt! Auch haben mir die Folgen und ein ruhiges Nachdenken bewiejen daß es 
alles angelegt war. Die Mutter da, die Schweiter da, beyde gehen fort hinaus, fie 
ruft mich durch die Thür ins Vorhaus hinaus, jpricht laut mit mir, fodert laut die 
Schlüffel von ihrer Magd, die zu dem Ende in die Stube geht, deren Thür 
offen geblieben war und doc) verbietet fie mir zu jagen wo fie hingegangen 
wären. Aber der böje Geift jah itzt in mir, ich ſah fie nur in den allergraufamften 


288 Deutiche Rundſchau. 


Umjtänden, alle Fragen des Baron H— beantwortete ich verwirrt, er ſchlug mir eine 
Spazierfarth vor, ich verbat fie ich lief unter dem Vorwand ein Buch zu holen 
nach Haufe ich wollte mich umbringen, aber immer hielt mich der | agraufame Ge- 
danke zurüf, fie ift deſſen nicht wert. Ach wie alles Eiß mir in der Bruft war. 
Ich dachte wie ich dem Baron H— eine Reife in die Schweiß einſchwatzen wollte. 
Aber wel ein Unglük und wie jehr bedauerte auch er es, daß die beyden Deutjchen 
mit denen ich geitern Abend im Geift zufammen aß, heut Morgen früh jchon abge: 
reifet waren, ſonſt hätten wir vier Geſellſchaft zuſammengemacht. Hier erjt fieng fich 
meine Brut wieder an den Flammen zu Öfnen. Wie wenn alles dies Maskerade 
gewejen wäre mir zum beiten angejtellt, den Schwager zu beraufchen? Wir Lajen 
mit H— die Gejchichte vom Yandvogt Grebel, ala ich am Ende war fonnt ich mich 
nicht länger halten, ich nahm meinen Degen und lief wie ein Unfinniger hin auf den 
Schauplag. Wie ein Richter will ich erfcheinen dacht ih, alles aufklären, rächen 
oder verzeyhen. Wie erftaunte ich als ich alles daſelbſt in der beiten Ruhe und Ord— 
nung antraf. Kein einziges verwirrtes und verjtelltes Geficht ald meines, Eine 
Fremde war da, die ganze Familie mit dem Schwager jpielte Karten, der Vater ſaß 
dabei und laß im Buch. ch Ipielte eine elende Rolle. Die Ruhe der Seelen wohnt 
alfo auf allen jchuldigen Gefichtern dacht ich und verläßt nur die unfchuldigen ? 
Ih mußte mit jpielen, fie brachte mich aus aller Faſſung. Der Schwager war in 
dem liebenswürdigjten Humor von der Welt, wie fonnte er das, wenn er feinen 
Bruder — entjeglih. Sie war höflich gegen den Schwager, er halb ſcherzhaft jchlug 
ihr ein Spazierreife in den Herbſt vor, fie wie mit einem Ton de Mitleidens 
vergejellichaftet mit | einem Seitenblid auf mich jchlug fie aus. Die Mutter die 
vorher über mich gebrummt hatte, war itzt aufferordentlich freundlich gegen mich, 
Das was am meijten mir die Schuppen von den Augen zog, war daß als ich in die 
Stube trat und mich Hinfehte, fie noch immer aufferordentlih munter und vergnügt 
war, jo wie ich aber da blieb und beharrte meine Augen von ihr abzuwenden, fie 
ihren Humor jo fichtbar veränderte, daß folches zulegt den Schwager jelbjt beun- 
ruhigte, der doch vorhier Iuitiger als Phaöton war. Um ihn zu beruhigen jah fie 
ihn mit einem jeynfollenden zärtlichen Blick an den ich belaujchte und nichts ala 
Zorn und Verachtung drinnen jand, Hierauf befam ich einen*der noch zorniger war, 
Majeität und Hochmut, gleich als ob fie zu meinem Verdacht durchgedrungen wäre 
und ihn verachtete. Ach verlor wie natürlich erjchröflich, ich jpielte ohne Verſtand. 
Sie verlieren, jagte fie kurz, nicht viel, antwortete ich troden. Es jchien daß ihr 
der Sinn dieſer Worte durch die Seele gieng, ihr Blid wurde feuriger und ver— 
wirrtelr] und da fie feinen Gegenftand zu ihrem Zorn finden konnte, jo ließ fie ihn 
an ihrer Schweiter aus, die eben einen Fehler im Spiel gemadt. Als das Spiel 
aus war rüfte ich meinen Stuhl and Klavier auf dem ich einige Griffe that, ich 
ichielte dem ohnerachtet Hin und jah daß fie ihrem Vater ins Ohr flüfterte welcher 
lächelte. Sie merkten daß ich jchielte und jagten mir, ich wäre wohl verdrüßlic) 
daß ich joviel verloren hätte. Hier kehrte ich mich jehr ernithaft zu Araminten und 
jagte mit Nachdrud: Ich glaube | nicht, daß ich verloren habe, worüber fie in 
Nachdenken verfiel, mittlerweil der Schwager mit der älteften Schweiter Händel 
hatte. Hernach weckte ich fie gleichlam aus dem Traum durch die Frage die ich zwey 
dreymal wiederholen mußte, eb fie mir fie beantwortete: Wer bat denn ge— 
wonnen? Sch habe drey Suls gewonnen, jagte fie mir endlich) ganz ungeduldig. 
65 war nicht wahr, ich hörte hernach vom Schwager, dab er eine Menge Geld ger 
wonnen hatte, aber fie hatte das Herz nicht, mir ins Geſicht zu jagen, der Schwager 
hätte gewonnen. 

Beym Heimgehen jagte mir der Schwager, er wär in feinem Leben noch nicht 
jo vergnügt nach Haufe gegangen. Wie jo? fragte ich, er antwortete mir nicht. Es 
wird wohl jeyn, weil daß Prejent unterwegs iſt. Wieder feine Antwort. 

Unjer Geſpräch überm Nachtefjen war jehr ernithaft, ich wollte mich aufklären 
um einfchlafen zu können. Wir redten vom König von Preuffen, von da fam ich 


Etwas von Lenz. 239 


auf die Bordelle in Berlin und die Antwort jo er den Biaffen gegeben, die ihm dar- 
über VBorftellungen gethan: „Wollt ihr eure Weiber und Töchter hergeben?“ Ach 
mablte ihm lebhaft vor die Unordnungen die junge Freygeiſter in Familien an— 
richten könnten und rührte ihn daß ihm die Augen wäſſerten. Das tröftete mich, 
wär er jchuldig geweien, er hätte müſſen böf’ auf mich werden, denn ich Takt’ ihn 
teuflifch Scharf dabey in die Augen. Er jprach | nur mit Andacht vom König in 
Preuffen, bedauerte daß er nicht in feinen Dienjten geblieben, prahlte daß er 
mit ihm geiprochen, für einen feiner Verwandten jollicitirt hätte, ſagte er wäre bey 
all jeiner Sröffe im Umgange jo zuthätig und freundlich als ich. Ich glitichte nicht 
ab von meinem Thema dem Frauenzimmer, und freute mich daß er dem Geſpräch 
nicht allein Stand hielt ſondern es auch fortſetzte. Redten von der Tugend der 
Frauenzimmer und wie unentbehrlich fie allen übrigen Reiten fey,. Er meynte wenn 
eine Frau einen Mann hätte der fie nicht befriedigen könnte, wär es ihr feine Sünde 
einen andern zu halten nur daß es niemand erjühre. Ach jagte, jo würden Sie 
einen guten franzöfiichen Ehmann abgeben — er lenkte endlich wie alle Abend vor 
Schlaffengehen feine Gewohnheit ift, daß Gejpräc auf feinen Bruder, wo ich ihm 
denn wieder Hoffnung einjprechen mußte. Unter andern jagte er, er würde frant 
für freude werden wenn fein Bruder wiederfäme. 


Sehäter Tag. 


Gieng micht hin. Spazierte mit G— der mir ein Wort jagte übern Michaelis 
(wiewohl unwilfend, daß ich je etwas wieder ihn gejagt oder gejchrieben) das ich 
mir vomahm ihm zu verjalzen. 


Siebenter Tag. 


Ich gieng Hin, die Parade zu jehen. Sie war nicht da. Kam gegen Mittag, 
wir grüßten uns jtumpf und ich ſagte nicht | eim einzig Wort zu ihr. Den Nach— 
mittag gieng ich halb rajend aufs Kaffeehaus. G— kam zum Unglüd mir in die 
Queer, ich proftituirte ihn öffentlich. Knöpfte ihm die Weite auf bis auf die Hoſen, 
er ward blaß und lachte. Es war fein Mittel da ihn böfe zu machen, er gab mir 
jogar da wir hinausgiengen, denn ich jchleppte ihn wohl zwey Stunden herum, zu 
verftehen, er jey über die Jahre weg, da man Chrenhändel ausmachte. Da führt 
ih ihn auf die Promenade und fand eben meine ganze Gejellichaft dort, weil e3 
ein jehr jchöner Sonntag war. Wir giengen uns zweymal hart dvorbey ohne ums 
anzufehen, endlich als fie fich niedergeſetzt Hatten trat ich an fie, redte aber ihre 
Nahbarin an, obichon ich grad vor ihr ftand. Ihr furchtſamer und bejcheidener 
Blick rührte mich tief.” Ich ward das kleine niedliche Weib am Ende der Bank ge- 
wahr und grüßte fie, Araminta glaubte ich beurlaubte mich und machte mir ein 
Segentompliment ich blieb aber vor ihr ftehen und ſetzte mein Gejpräch mit der 
Nachbarin fort, fie gab mir num einen Blid der unausfprechlich viel ſagte und ſetzte 
hinzu, aber fie benehmen mir ja die Ausficht auf die Promenade. Ich wich ein 
wenig, fagte ich würde gleich jortgehn ich hätte mir vorgenommen die Komödie zu 
ſehen. Was für ein Stüf giebt man fragte die Nachbarin eine Franzöſinn, den 
englifchen Wayſen jagte ih, Araminta bückte fich Herüber uns zuzuhören, unter dem 
Vorwand daß fie ihre Uhr mit jener ihrer vergleichen wollte. Wir redten | über 
das Stük, fie fagte zu ihrer andern Nachbarin mit einem Seufzer: Und wir wollen 
Karten jpielen, das wird eben jo qut jeyn. Als ich aus der Komödie nach Haufe 
fam fand ich die Stube abgeſchloſſen und der Schwager Hatte den Schlüffel ınitge- 
nommen zu Araminten, um mich dahin fommen zu machen, wie ich Hernach erfuhr, 
damit ich den Abend dort mit ihnen verbringen möchte, denn gemeiniglich mach ich 
fie luſtig mit Kleinen SHiftorien. Aber ich wollte diesmal nichts verftehen, ſon— 
dern fpeifte in meiner Wirthin Zimmer zu Nacht, worüber er mir hernach Vor— 
würfe machte. Ich erzehlte ihm drauf den Innhalt von Eugenie (die man diesmal 
ftatt des Wayien gegeben Hatte) jo lebendig daß er ganz melankolifch ward und als 


290 Deutliche Rundſchau. 


ich ihm erzehlte, es hiefje der Verf. des GStüls jey in Wien gefangen und rajend 
geworden, fagte er, er werde es auch werben. 


Achter Tag. 


Sch gieng heut wieder nicht hin. Den Abend als ich ganz vergnügt don einer 
poetiichen Abendmalzeit mit Br. H— heimkehrte, fand ich den Schwager ganz 
auffer allen Sprüngen. Sie war in groffer Gefellfchaft nach Kehl hinaus jpaziert 
und ala er fich angeboten mitzugehen hatte fie ihn bedeutet, e8 hienge nicht von ihr 
ab. Den Abend war fie ganz melankoliſch zurüfgelommen. Und nun hatte er eine 
Botſchaft an mich, ich möchte morgen doch um 10 Uhr Vormittags zu ihr fommen und 
das ganz unfehlbar, fie wollte mit mir ihre Lektion auf der Harfe durchgehen, ehe der 
Meijter füme. | Jch war vergnügt genug darüber (verrätherijches Herz!) muſt' es 
aber verbergen und alles anwenden, ihn wieder zufrieden zu jprechen. Er hatte fie mit 
dem jungen Muſikus in Argwohn der diefen Abend dort gejpeijet. Ich gieng den 


Neunten Tag 


bin, aber jet entichloffen, mein Herz los zu machen. Verrätheriſch Herz! wie 
wenig fenn ich dich. Ich war dreypiertel Stunde zu jpät gefommen, behielten aljo 
nur noch eine Biertelftunde bis zur Ankunft des Meifterd. Sie bezeugte mir ihren 
Unwillen darüber auf die janftefte Art von der Welt, rvedte zwey Worte mit mir 
über die wunderliche Aufführung des Schwager® und bat mich dabey mit den 
zärtlichften Bliden ihm nicht wiederzufagen — unglükliches Herz! Ach Hatte 
verjprechen müflen den Nachmittag wiederzufommen, gieng zum Dtt den ich wohl 
über ein halb Jahr vernachläffigt hatte, aus zu groffem Antheil an Scipios Gefchälten. 
Diejer edle Bube behielt mich zum Mittagseffen, faßte mich an taufend weichen 
Seiten, dab ich ihm mein ganzes Herz erbfnete. Das heißt joweit es jeinen 
Augen erlaubt jeyn darf Hineinzujehen. Da er täglich in dem Haufe mir zugejehen 
bat, gab ich ihm zu ein und andrer meiner feltfamfcheinenden Proceduren den 
Schlüfjel, worüber er erſtaunte. Es war Aramintens Werk und wieder einander zu 
nähern, fie warf mir einmal vor, warum ich nicht mehr | mit ihm gienge, da fie 
doch wüſte daß ers nicht um mich verdient hätte. Seht richtete ich ihn ab, (da ich 
vom Schwager ausziehen wollte) defien Gefinnungen und Handlungen auszujpioniren, 
zu welchem Ende ich ihm dort die franzöfifche Lecktion verſchafte. Ich entdekte ihm 
meinen Plan auf die Zulunft, und er vergalt meine Dffenherzigfeit mit der Recht- 
fertigung einiger feiner Handlungen und Enthüllung feines Plans, wo ich ziemlich 
deutlich in meiner Warnehmung beftärkt wurde, daß er Augfichten auf die ältefte 
hätte und durch die Vergnügungen bie er in dem Haufe vorfchlug und anzettelte den 
Sram und Melankoley der jüngiten zu zerjtreuen juchte. Ich bat ihn haushälteriſch 
und vorſichtig damit zu jeyn, damit er nicht ihr Glück verderbe, wenn der Schwager 
[fich] einfallen Lieffe, dem Bruder die Sachen aus einem faljchen Licht vorzuftellen, 
welches er bey jedem neuen Anlaß drohete. Denn er iſt wie ein grießgrammiger 
MWolf und Bär, fobald er nur fieht dab die Gejellichaft anfängt Luftig zu werden, 
meynt es jey wieder den Reſpekt den fie ihm und feiner künftigen Schwiegerinn 
Ihuldig find und macht taufend dumme Streiche alles Vergnügen wenn es auch nur 
die mäſſigſte Höhe erreicht Hat und noch ganz in den Schranken der Gittfamfeit fich 
freywillig einferfert, dennoch zu zerftören und zu verwirren. — ch gieng den 
Nachmittag wieder Hin fand den Schwager und fie beyde maulen. Ich mußte fort 
weil ein neuankommener Landsmann mich hatte juchen | laffen, fie ließ mich nicht 
loß, ohne daß ich verfpräche noch einmal wiederzukommen, welches ich denn auch 
that. Fand fie Karten fpielen, fie machte dem Schwager taufend böſe Streiche, welche 
er alle mit groffer Geduld verdaute weil fie ihm in meiner Abwejenheit ein Prejent 
mit einem jchön geftridten Beutel gemacht. Vorm Abendefjen wollte ich fortgeben, 
er gedachte dazubleiben, fie rief aber, warten Sie Herr L. . . z, als er feinen Hut 
juchte, er mußte alſo fort mit mir. Im Herabfteigen fagte ich zu ihm: Herr 


Etwas von Lenz. 291 


von: .. wir efjen heut die Henkersmalzeit zujammen, weil es der lebte Abend 
war, da ich mit ihm zufammenwohnt. Ich war in der That den Abend anderswo 
verfprochen,, er überredte mich aber abjagen zu laffen, er wollte Wein holen Lafjen, 
wir wollten uns diefen Abend zum letztenmal noch recht miteinander luſtig machen. 
Das erinnerte mich meines Traums jogleich und meine Ahndung ward wahr gemacht. 
Wir tranken, er redte von jeinem Hange zur Eifferfucht, ich jagte ihm frey heraus, 
daß jein Karakter überhaupt viel zu argwöhnifch wäre. Der Student der in unferm 
Haufe wohnt, fam um zehn heim, mit einigem Geräufch, das kränkte jeine Majeftät 
er jchimpfte laut auf ihn, daß der Menjch oben es hören mußte, ich berief ihn jehr 
nachdrüflih. AU gut, er fieng an zu jpaffen, wollte mich ſcherzweiſe aufheben, das 
wird | ihnen nie gelingen jagte ich und in der That gelang e8 ihm nicht worüber 
feine Augen voll Feuer wurden, doch ließ er noch nichts auäbrechen. Endlich nach 
taujend Albernheiten nahm er die Zitter und wollt unjere Hausjungfer jchlagen 
damit, ich erzehlt ihm von einem Ballet das ich gejehen, wo ein Mufifant dem 
andern feine Baßgeige auf dem Kopf entzweyfchlägt, ja jagt’ er, ich Habe Sie ba 
mitipielen jehen, Sie irren fi antwortete ih, Sie haben in den Spiegel gejehen, 
das machte ihn wütig, er wollt’ aber noch nicht das Anſehen Haben. Cinige 
Augenblide nachher nahm er feine groffen Stiefel mit den Stiefelhölgern drin und 
jagte mir, er woll mir ein Prejent mit den Stiefeln machen, wenn ich ihm erlaubte, 
nur einen Schlag mir auf den Kopf damit zu thun. Und Sie fagte ich werden mir 
erlauben den andern Stiefel auf Ihrem Kopf zu probiren. Das machte ihn rajend, 
er jtund auf und fagte er wollte mich aus dem Fenſter werjen, da müſſen Sie voran 
fchrie ich und ftund gleichfalls auf, unfere Hausjungfer warf fich ihm in die Arme. 
Laß ihn kommen jagte ich, er griff nach jeinem Degen, Sie werden auf einen wehr— 
lojen Menſchen doch nicht ziehen, ſagte ih. Er antwortete mir ich könnte meinen 
juchen, und Löjchte zugleich das Licht auß, er wolle ſich mit mir im Dunkeln jchlagen. 
Ich hätte bald gelacht, bejonders über unfere Hausjungfer, die ein Gejchrey und 
Gequick anfieng und nicht wujte, ob fie es wagen dürfte Licht zu Holen und feine 
Arme loß zu laffen, denn er hatte den Degen zwifchen beyden Fäuſten, und das 
Mädgen liebt mich aufrichtig. Ich riß fie mit Gewalt loß von ihm und hieß ihr 
in Zeufel® Namen Licht bringen, blieb alfo mit dem Schwager allein in den Finſter— 
niſſen, unbewehrt, hatte ihn aber am Arme angefabt ala ob ich treuherzig mit ihm 
redete, bey der geringften Bewegung die er gemacht, hätt’ ich ihm Arm und Bein 
gebrochen. Zugleich redte ich jehr nachdrüklich und vernünftig mit ihm, der wie ein 
Maulaffe da ſaß in der größten Unentichlofjenheit, wie daß ich noch nicht ſoviel 
Mein getrunfen hätte, mich den lebten Abend daß ich mit ihm zujammen wäre, 
mit ihm berumzurauffen, jo jehr er mich auch beleidigt hätte, er jagte mir ich Hätte 
ihn beleidigt, ich verftünde feinen Scherz und wenn ich Offizier wäre, jo könnte die 
Sade jo nicht bleiben, wir wollen von der ganzen Sache abbrechen ſagte ih und 
Ichlaffengehen, das wird das beſte ſeyn. Unfere Hausjungjer fam wieder mit dem 
Licht und war erftaunt und ganz ruhig und friedlich beyeinander anzutreffen, er 
den Degen in der Hand und ich feinen Arm in meiner. Beym Schlaffengehen gab 
er mir die jchönften Worte von der Welt, redte ſoviel von feiner Freundichaft 
für mich, fragte mich, da ich it von ihm fchiede, ob ich auch wohl die Heimlichkeiten 
von ihm und, feinem Bruder andern wiebererzehlen würde. ch jagte, das würde 
ſehr unvernünftig von mir gehandelt jeyn, da ich mir jelbjt verdrießliche Folgen davon 
zu erwarten hätte, da ward er ruhig und jchlief ein, nachdem ich ihm nochmals das 
Berjprechen wiederholt Hatte, von diejer Scene niemanden was zu jagen. (ch bitte 
dich aljo gleichfalls, fie immer bey Dir zu behalten.) Es hätte mir in der That 
nicht viel Ehre gemacht, mich in gewiffer Abſicht mit meinem Patron gejchlagen zu 
haben und auf diefe Art von ihm gejchieden zu jeyn. Vielmehr jagte ich allen 
Landsleuten, wir hätten noch den lebten Abend zuſammen wader mit einander 
geichmauft. 


19 
> 
ID 


Deutſche Rundſchau. 


Zehnter Tag. 


Beym Erwachen war er mein beſter Freund. Zeigte mir einen Brief von 
Aramintens Vater, den er unter ſeinem Kuvert fortſchicken wollte. Zugleich aber 
hatte derſelbe unter dem Kuvert ſeines andern Bruders einen Uriasbrief an Scipio 
geſchrieben, worin er ſeinen mürriſchgroben und unerträglich eyfferſüchtigen Karakter 
abgemahlt, mit welchem Verfahren Araminta nicht gar zu zufrieden war, obgleich ihr 
eignes Wohl es nothwendig gemacht hatte. Ich ſchrieb mit ein Paar Worte in 
diefen Brief und trug ihn jelber auf die Pot. ch ſetzte mich der Gefahr aus, vor 
dem Poſthauſe mit ihm zufammenzutreffen. Nachdem ich umgezogen war, fchrieb ich 
den Brief aus Jungfer & ... Haufe an Goethen und gieng drauf jogleich Hin. 
Welche wohllüftige Augenblide auf die Gefahr. Sie plettete alles ließ fie jtehen 
und führte mich in die Hammer, die Yedtion auf der Harfe durchzugehen. Fehite, 
daß ich fie zurechtweifen jollte, ließ immer die eine Hand finken als ob fie müde 
wäre, die ich dann mit Küffen beftrafte. Drückte wieder meine Hand an ihr Herz, 
wenn ich zwijchen ihrem Arm und Bruft durch fie zurechtwies. Gott verzeyhe mir 
alles! Sie gieng wieder zu ihrem Weißzeug, den NAugenblid drauf fagte fie, laſſen 
Sie und noch einmal jpielen. Wir flogen wieder in die Kammer, fie redte mehr als 
fie jpielte, zeigte mir hernach ihre Bänder und Blumen, ftelte mir eine Rofe in die 
Haare, und als ich fie herausnahm und wieder in ihr Haar jteden wollte, riß fie 
mir fie aus der Hand und ftefte fie fi vor die Bruft. Ich war im Himmel, 
Sie wollte mir leugnen daß fie von dem Brief ihres Vaters wüſte, ich glaube um 
mich nicht zu ftolz zu machen. Wir kehrten wieder zum Weißzeug, immer unruhig 
immer unbejtändig war fie, ich fragte fie, ob fie das Geheimniß wüſte ein glühend 
Eifen ohne Schaden anzufaffen. Sie fragte wie, ich jagte man muß es aus allen 
feinen Kräften drüfen jo brennts nicht. Sie Iegte mir das Bügeleifen hin die Probe 
zu machen. ch ergriff ihre Hand und drüdte fie aus allen meinen Kräften. Wie 
fie gelacht hat! Alles was fie glättete, legte fie fich am zu jehen, wie es ihr Liefle 
und fragte mich. 


(Das Ende fehlt.) 


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Michael Bakunin und der Radicalismus. 


Gleich der Mehrzahl der Männer, welche ala Stimmführer des ruſſiſchen 
Radicalismus bekannt geworden, gehörte Michael Bakunin feiner Abftammung 
und Erziehung nad) der herrſchenden Claſſe an. Drei Jahre jünger als Alerander 
Herzen, zwei Jahre jünger al3 Belinski, vier Jahre älter al Iwan — 
wurde dieſer merkwürdige Menſch im Jahre 1814 als Sohn eines reichen, 
Torſhok'ſchen Kreiſe des Gouvernements Twer anſäſſigen Gutsbeſitzers aus alt. 
bojariſchem Gejchledht geboren. Hatten die Träger diejes Namens gleich in der 
ruſſiſchen Gejchichte Feine hervorragende Rolle gejpielt, jo zählten jte doch von Alters 
her zu der Ariftofratie, aus welcher Hof und Generalität fich refruticen und die 
ein traditionelles Anrecht auf Berüdfihtigung im höheren Staatsrecht befigt: noch 
gegenwärtig iſt ein dem Agitator nahe verwandter Bakunin General-Adjutant 
des Kaiſers, ein anderer Adelsmarſchall eines der „inneren“ Gouvernements. — 
Für einen im Jahre 1814 geborenen ruſſiſchen Edelmann verftand ſich von 
jelbft, daß er für die militärifche Laufbahn beftimmt wurde — bildete der 
Dienft in der Garde doch die unumgängliche VBorbedingung für jede ariftofratijche 
Garriere: von der Möglichkeit einer Exiſtenz außerhalb des Staatsdienftes hatte 
Herr Bakunin der Vater aber ebenjo wenig eine Vorftellung, wie die Mehrzahl 
jeiner Zeitgenofjen. 

Wie herfömmlid duch franzöfiihe Gouverneure mangelhaft vorgebildet, 
trat der Knabe um die Mitte der zwanziger Jahre in die Petersburger Artillerie 
ſchule, ein militäriſch zugejchnittenes Gadettenhaus, welches von den übrigen 
Anftalten diefer Art nur dadurch verſchieden war, daß fich von bejonders be= 
gabten Zöglingen desjelben bei einiger Anftrengung das Alphabet der mathe: 
matiſchen Wiſſenſchaften erlernen ließ. — Im Uebrigen jpiegelten ſich in diejer 
Fachſchule diejelben Gegenſätze wieder, welche das geſammte ruſſiſche Leben da⸗ 
maliger Zeit beherrſchten und auf welche das Jahr 1825 ein ee 

Deutſche Rundſchau. III, 8, 


294 Deutſche Rundichau. 


Schlaglicht geworfen hatte. Die junge Generation des Adels und des Militärs 
war unter den freifinnigen Traditionen emporgefommen, denen Alexander I. 
während der erften Hälfte feiner Regierung gehuldigt hatte und die zufolge der 
Befreiungskriege und des mehrjährigen Aufenthaltes der Armee in Frankreich 
zum Gemeingut der höheren Stände geworden waren. Unter der Herridaft 
diefer Ideen brach — dicht Hinter dem Grabe Alerander’3 — ein Aufftand des 
jungen Militäradel3 gegen den Fortbeſtand des abjolutiftiichen Syſtems aus, der 
mit blutiger Strenge niedergefhlagen wurde und zu einer Reaction Veranlaffung 
gab, wie die xuffiiche Geſellſchaft fie noch nicht erlebt Hatte. Die Regierung, 
die — von den kurzen Epifoden unter Elifabetb und Paul abgejehen — jeit 
den Tagen Peter’3 des Großen die Trägerin fortjchrittlicher Ideen die Haupt- 
vorfämpferin der europäiſchen Bildung gewejen war, trat zu diefer Bildung in 
ausgeiprochenen und bewußten Gegenjat und jah in der Repreſſion derjelben 
ihre vornehmfte, auf den Namen nationaler Principien getaufte Aufgabe. Die 
in friihem Aufftreben begriffene ruſſiſche Literatur wurde in die Feſſeln der 
Genjur geichlagen, der Verkehr mit dem weſtlichen Europa gehemmt, der Zuzug 
ausländijcher Gelehrten und Künftler jo gut wie abgejchnitten. Der mit der 
Leitung de3 öffentlichen Unterrichts betraute Admiral Schiſchkow übernahm es, 
die während der Regierung Alerander’3 aufgegangenen Saaten humaner und 
freifinniger Bildung mit der Wurzel auszuraufen und an ihre Stelle ein bloßes 
Dreſſurſyſtem zu ſetzen. Am ſchwerſten Laftete dafjelbe auf den Militärlehr- 
anftalten, die binnen Kurzem in Stätten intellectueller und ſittlicher Verwahr— 
lofung umgewandelt wurden und denen man Alles großmüthig nachſah — 
nur nicht die Theilnahme an dem Beften, mas ihre Zeit hervorgebracht Hatte. 

Die Folgen dieſes Umſchwungs kann man fich leicht vorftellen. Während 
die Mafje der heranwachſenden Jugend in Unbildung und Sittenlofigkeit verfam 
und nichts Anderes als den Cultus der Tages- und Modegötzen ſchätzen lernte, 
gewöhnten die befjer angelegten Köpfe fi daran, in der Verneinung alles Be- 
ftehenden das alleinige Heil zu jehen. Die thörichten jungen Schwärmer, welche 
durch den kindiſchen Erhebungsverſuch vom 14. December 1825 unjägliches Un- 
heil angerichtet und ihre Irrthümer am Galgen oder in den Einöden Sibiriens 
bezahlen gemußt hatten, wurden der Jugend der Miilitärlehranftalten zu Heiligen, 
denen man in aller Stille, aber gerade darum mit hingebendem Eifer, huldigte. 
Während äußerlich Alles in Gehorfam und leblojer Uniformität erftarb, wurden 
die Gedichte Ryléjew's und feines Freundes Beſtuſhew in Hunderten von Ab- 
ihriften verbreitet und von einer Gadettengeneration der anderen al3 Heiligthum 
überliefert. Mit den „Opfern des 14. December“ in irgend einer Beziehung zu 
ftehen, galt für einen enticheidenden Vorzug, unter der Zahl der Verſchworenen 
ehemalige Kollegen aufweijen zu können, für eine Art Verdienft. Nächft dem 
erſten Gadettencorpg galt in dieſer Nüdfiht die Anftalt, welcher der junge 
Bakunin anvertraut worden war, für bejonders begnadigt: nicht nur daß die 
Artillerie ala „gelehrte Waffe“ von Alters her im Rufe eines gewiſſen Liberalis- 
mus ftand und daß das Abzeichen „vorgejchrittener Gefinnung“, der nad) eng— 
lichen Mufter zugeſchnittene Badenbart bei den Dfficieren derjelben häufiger 
zu finden war, al3 bei anderen Truppen — der große Dichter und todesfühne 


Michael Bakunin und der Rabdicalismus. 205 


Rebell Conrad Ryléjew Hatte der Garde-Artillerie angehört,*) ebenjo die beiden 
Boriſſow, Gorbatſchewsky, Betihanow, Peſtow, Kiréjew, die Oberften Borftel 
und Jentalzow und zahlreiche andere Decembermänner. 


Ob Michael Bakımin fi während feiner Gabettenjahte durch bejonderen 
renolutionären Eifer hervorgethan, oder ob er ſich mit dem durchſchnittlichen 
Maß liberaler Gefinnungstücdhtigkeit begnügt hat, wiffen wir nit. Daß die 
MWiderjprüche, welche da3 damalige rufftfche Leben betivegten und dem heran— 
wachjenden Geſchlecht die Gefahr des Verfallens in Extreme beinahe zur Noth- 
wendigfeit machten, auch auf ihn eingewirkt Haben, fteht dagegen außer Zweifel, 
und eine eigenthümliche Verfettung von Umftänden forgte dafür, daß die in den 
Jüngling gepflanzten Reime von ben Einflüffen, welche der werdende Dann 
empfing, nicht erftict wurden. Für fähigere und irgend ftrebjame Gadetten 
verſtand fich von jelbft, daß fie nad) Ablegung des jog. „Auslaffungs-Eramens“ 
in die Garde entlaffen und dadurch in die Lage gebracht wurden, als Zeugen 
und Theilnehmer der Herrlichkeiten des Hof- und Refidenzlebens und im Taumel 
endlojer Feſte und Scauftellungen ihre gefährlichen Yugendträume möglichft 
raſch und gründlich vergefien zu Können. Obgleich der junge Bakunin ein vor- 
zügliches Eramen gemacht hatte und obgleich der Wohlftand feiner Familie ihm 
die Mittel zur Beftreitung de3 für einen Garde-Officier erforderlichen Auf: 
wandes reichlich bot, wurde der junge Officier nicht zur Garde, jondern zur 
Armee verjeßt, d. 5. dazu verurtheilt, den beften Theil jeines Lebens in einem 
elenden, von den Mittelpuntten ruffischer Gefittung fern abliegenden weißruſſiſchen 
Bauerndorf zu verbringen. Alexander Herzen, der mit Bakunin jeit dejjen Ju— 
gend befreundet war, berichtet, dieſe Wendung jei die Folge eines Zwiſtes 
geweſen, den B. mit feinem Water gehabt und den diejer ftrafen gewollt; — 
nach einer anderen, an und für fi nicht unwahrjcheinlichen Verſion joll der 
Director der Artilleriefchule feinem ehemaligen Zögling mißgünftig getvejen fein. 
MWie dem auch geweſen — Michael Bakunin verließ als 21jähriger Jüngling 
die Reſidenz, um das folgende Jahr feines Lebens in der Bauernhütte zu ver- 
(eben, die ihm al3 Quartier angeiviefen worden war. Auf den Umgang mit 
rohen oder doch leichtlebigen Kameraden, auf bie Freuden der Flaſche und bie 
Zärtlichkeiten einer beliebigen Dorfdirne angewieſen zu fein, und das nicht für 
eine kurze Uebergangszeit, jondern möglicherweife für den vollen Reſt jeines. 
Lebens, war für Bakunin ein vernichtender Gedanke. Don jeher zur Grübelei 
geneigt und in einer Umgebung aufgewachſen, welche den Müßiggang für den 


*) Seine Erziehung hatte Ryléjew im erften Cadettencorps erhalten, das zu Folge dieſes 
Umſtandes und des Gewichte, welches die Zöglinge auf denſelben legten, viele Jahre lang, und, 
tie es jcheint, nicht ohme allen Grund, für „suspect* galt. Höchſt bezeichnend ift in biefer 
Rüdfiht, was der Verfaffer der „Memoiren eines xuffiichen Defabriften“ (ein Officier bes 
finnländifchen Garde-Regiments, der ala Theilnehmer des Aufftandes zu zehn Jahren Zwangs— 
arbeit in Sibirien verurtheilt worden war) berichtet: „Mein Bruder, Gadett im erften Gabetten: 
corps, theilte mir mit, daß jeine Mitichüler ftolz darauf feien, mehrere Namen von früheren 
Zöglingen ihres Inſtituts in der Zahl der Verurtheilten zu finden, und daß fie mich bebauerten, 
weil ich nicht deffelben ehrenvollen Looſes wie ihr ehemaliger Kamerad Ryléjew theilhaft ge: 
worden“ (a. a. ©. p. 147). — Ryléjew war nämlich gehängt worben! 

20* 


296 Deutiche Rundſchau. 


natürlihen Beruf des Menſchen von guter Herkunft anfah (auch die jog. thätigen 
Leute jener Periode waren, im Grunde genommen, doch nur „‚tres oceupes A ne 
rien faire‘) verſank der junge Artillerie» Officier in eine Lethargie, die um fo 
auffälliger war, ala man ihm auf ben erften Blick ein leidenfchaftliches, ent- 
ſchieden cholerijches Temperament und eine ungewöhnliche Energie anfehen konnte. 
63 kam jchon nad) kurzer Zeit jo weit mit ihm, daß er alle gejellichaftlichen 
Verbindungen mit feinen Kameraden aufgab, ſich vollftändig ifolirte und 
(wir folgen aud Hier einem Bericht Herzen’s) ganze Tage im Schlafrod und 
auf dem Bette liegend verträumte. Dabei Tonnte es natürlich nicht bleiben. 
Es wurden Klagen über Dienftvernadhläjfigungen laut, und dem Befehls- 
haber der Abtheilung, der Bakunin im Uebrigen wohlgefinnt war, blieb Nichts 
übrig, als dem jungen Mijanthropen die Wahl zwilchen ftrengerer Pflichterfüllung 
oder Einreihung feines Abſchiedsgeſuches zu ſtellen. Bakunin entjchied fich für 
die leßtere Alternative: kaum zweiundzwanzigjährig, beendete ex feine „dienftliche 
Laufbahn“, um zu thun, was der ruſſiſche Edelmann gewöhnlich erft thut, wenn 
er das halbe Leben, mindeftens das vierte Jahrzehnt defjelben, Hinter fich Hat, 
d. h. ala „Particulier“ und Conſument des Arbeitserlöfes feiner Leibeigenen in 
Moskau zu leben. 

Die Zahl der jungen Männer, weldhe unter ähnlichen Berhältniffen in 
demjelben Moskau lebten und in dexen Kreiſen der verabjchiedete Arxtillerie- 
Lieutenant feinen Umgang zu fuchen hatte, war Legion. Wem es im Givil-, 
Hof: oder Militärdienft nicht geglüct war, wer ſich zurückgeſetzt oder übergangen 
glaubte, wer da3 für einen ruſſiſchen Landwirth alten Styl3 erforderlihe Map 
von Apathie nicht aufbringen zu Fönnen glaubte, oder endlich des gewerb3- 
mäßigen Umhertreibens in deutjchen Bädern oder bei Gourtijanen des Palais 
Royal müde war, der zog fich in den Tagen des Kaiſers Nicolaus regelmäßig 
nah Moskau, in den Gentral- Schmolliwinkel des heiligen ruſſiſchen Reiches, 
zurück. Im Gegenjat zu dem uniformen, europäifirten, gejchäftig unruhigen 
und dabei. jtet3 von den Launen und Stimmungen des Hofes beherrichten Peters— 
burg hatte die erfte Hauptftadt des Reichs, „Mütterhen Mostwa, die weiß- 
fteinevne, die vielfuppelige”, fich ein großes Stüd focialer Unabhängigkeit und 
altväteriiher Bequemlichkeit zu erhalten gewußt. Hier waren für die gejell- 
ſchaftliche Stellung noch andere Rüdjichten maßgebend, al3 die de3 Ranges und 
der Garriere, hier hatte das nationale Herkommen noch eine gewifje Geltung, 
hier gab es, noch Leute, die troß ihrer Mipliebigkeit bei Hofe eine Rolle jpielten 
und fi um den Muth einer jelbftändigen Meinung nicht bringen ließen — 
hier konnte man (Wenigftens innerhalb getwiffer Grenzen), auch ohne vorgängig 
eingeholte polizeiliche Erlaubniß, leſen, reden und treiben, was man wollte Für 
Leute, die in der Wahl ihres Wohnorts nicht durch äußere Rückſichten beengt 
waren und die etwas auf ihre Unabhängigkeit hielten, verftand ſich gleichſam 
von jelbft, daß fie nicht nach Petersburg, jondern nad) Moskau zogen und dort 
ihren „Kreis“ juchten. 

Eintönig und geiftlos genug jah e8 freilich in der Mehrzahl dieſer „reife“ 
aus. „Willen Sie, was man in Moskau einen Kreis, einen geſellſchaftlichen 
Cirkel nennt?“ läßt Turgenjew feinen „Hamlet des Schtſchigrow'ſchen Kreiſes“ 


Michael Bakunin und der Rabicaligmus. 907 


fragen. „Ein jolder Kreis iſt der Ruin jeder jelbftändigen Entwidelung, ein 
Taules, welkes Leben neben einander, dem man Form und Bedeutung eines ver— 
nünftigen Dinges gibt; er jet Geſchwätz am die Stelle der Unterhaltung und 
entwöhnt von der Arbeit; er impft feinen Gliedern die literariſche Krätze ein 
und vaubt der Seele jede Friſche und Jungfräulichkeit. Statt Freundichaft und 
Brüderlichkeit werden Plattheit und Langweile, an Stelle der Offenheit und 
Theilnahme, Unverftand und Anmaßung geboten! rn einem folchen Kreiſe 
behält Niemand eine reine und unberührte Stelle in feinem Herzen übrig, denn 
jede der Glieder defjelben Hat das Recht, mit ungewaſchenen Fingern in bie 
ftillften Winkel der Seele de3 Anderen hinein zu fahren.“ — Der „Kreis, in 
welchen Bakunin gerieth, gehörte der hier gejdilderten Gattung nit an: 
er umfaßte die bebeutendften jungen Talente des damaligen Moskau und war 
von einem Intereſſe erfüllt, welches da3 gefammte damalige Europa ergriffen 
hatte und auch in Rußland bedeutfame Wirkungen üben ſollte, — von der 
deutſchen, jpeciell der Hegel'ſchen Philoſophie. 

Deutſche Philoſophie wurde an der Moskauer Hochſchule bereits ſeit dem 
Jahre 1826 gelehrt. Der erſte Prophet dieſer bis dahin völlig unbekannt ge— 
weſenen Lehre war ein Profeſſor Pawlow geweſen, der ſeine Vorleſungen über 
Phyſik mit Ausführungen aus den naturphiloſophiſchen Syſtemen Schilling's 
und Oken's eingeleitet und ſeinen Schülern zur Pflicht gemacht hatte, ſich aus 
den Schriften dieſer Meiſter Antwort auf die Frage zu holen: „Was tft die 
Natur? Was heißt die Natur ergründen?“ und dann erſt zum Studium ber 
einzelnen Disciplinen überzugehen. Die Bekanntſchaft mit Hegel murbe ber 
ruſſiſchen Jugend erft acht bis zehn Jahre jpäter duch einen Schüler Pawlow's 
mit Namen Stanfewitjc vermittelt, einen wohlhabenden Privatmann, der 
weder eine Profefjur, noch ſonſt ein öffentliches Amt bekleidete, ſondern in einem 
Treundeskreije für das Syſtem des Berliner Philoſophen Propaganda machte. 
Diejem Kreije gehörte eine ganze Anzahl von Männern an, die in der ruffiichen 
Literatur und Bildungsgeihichte Epoche gemacht Haben: der in der Folge zu 
einer ruſſiſchen literariſchen Großmacht gewordene radicale Kritiker Belinski, der 
Hiftorifer Granowski und Alerander Herzen repräfentirten die äußerfte Linke dieſes 
Cirkels, — die Begründer der Slawophilenpartei Chomjäkow und K. Akſakow 
glaubten in der Hegel’ichen Lehre eine Beitätigung ihrer confervativ-romantijchen 
Staat3- und Gejellihaftsauffaffung gefunden, zu haben. Stankewitich wußte 
das Intereſſe feiner jungen Freunde für die neue Lehre bis zur Leidenſchaft 
zu fteigern. „Ueber jeden einzelnen Paragraphen der drei Bände Hegel’icher 
Logik“ — fo berichtet Herzen — „der Encyklopädie und der beiden Bände Aeſthetik 
wurde Nächte lang auf das lebhaftefte disputirt. Freunde, die jonjt unzer— 
trennlich gewejen waren, zerfielen für ganze Wochen wegen verjchiedener Auf: 
faffungen über das Weſen des „abjoluten Geiftes" und des „an und für ſich 
Seins”. Die unbedeutendften in Berlin und anderen Provinzial- und Kreid- 
ftädten der deutſchen Philofophie erfchienenen Brochüren wurden, jobald ſie nur 
von Hegel handelten, mit großen Koften und Schwierigkeiten verſchrieben und 
mit unermüdlichem Eifer Tage und Nächte lang gelefen, bis fie buchſtäblich 





298 Deutſche Rundſchau. 


zerleſen und unbenutzbar geworden waren. Die heute längſt vergeſſenen 
Werder, Marheinecke, Michelet, Wattke, Schaller, Rojenkranz,*) — ja Arnold 
Ruge ſelber, der Pförtner der Hegel'ſchen Philoſophie, ſie würden Thränen der 
Rührung vergoſſen haben, wenn ſie erfahren hätten, welche Erregung, welche 
leidenſchaftliche Theilnahme fie in Moskau erregten, wie unermüdlich ihre 
Schriften dort gelefen und gekauft wurden.” — Mit den Schlußfolgerungen, welche 
diefe Moskauer Hegelianer aus der Lehre ihres Meifterd zogen, wäre dieſer 
jelbft Freilich wenig einverftanden gewejen: nad der Auffaffung, welcher Herzen 
und deſſen nähere Freunde (und zu diefen gehörte Bakunin) Huldigten, beftand 
zwiſchen dem Wefen und inneren Sinn der Berliner Philojophie und den Theorien 
des franzöſiſchen Socialismus nämlich fein wejentlicher Unterfchied und mar 
diefe Philofophie Tediglih „die Algebra der Revolution“. „Als ich mid 
entſchloſſen hatte, ex ipsa fonte zu trinken, und nachdem Hegel's Terminologie 
mir geläufig geworden war,“ jo berichtet Herzen, „wurde ich gewahr, daß ber 
Meifter unjerer (d. h. der ſocialiſtiſchen) Anſchauung jehr viel näher ftand, als 
den Theorien jeiner nädjften Schüler. Seine Philofophie macht den Menſchen 
frei, twie feine andere Lehre, fie läßt feinen Stein der Hriftlichen Welt auf dem 
anderen, fie löft die Welt überlebter Traditionen vollftändig auf: aber fie ift 
— und wahrideinlich abſichtlich — ſchlecht formulirt.“ 

Während der „wahre Sinn“ des von Stankewitſch verbreiteten neuen 
Syſteins dem weiteren Sreife der Moskauer Philofophen noch Jahre lang 
für zweifelhaft galt, Stanfewitjch ſelbſt zu feinem definitiven Abſchluß gedieh 
und die Samarin, Akſakow u. ſ. tv. die in diefer Schule erworbenen Waffen in 
da3 Lager ſlawiſch-byzantiniſcher Rechtgläubigkeit hinübernahmen, entjchied 
Bakunin ſich jofort für die Herzen’ihe Auffaffung, der in der Folge auch 
Belinsti und Granowski beitraten. Bakunin galt für den fähigften philofo- 
phiſchen Kopf und den gründlichften Sachkenner des gefammten Kreiſes. Er, 
der bis dazu als phantaftiiher Müßiggänger dahin gelebt, feine Fähigkeiten 
brach gelegt, jeine Tage in dumpfem Brüten und planlojer Allerivelt3-Lectüre 
verbracht Hatte, er lernte das Deutſche, vertiefte ih in die Schriften Kant's 
und Fichte's, „brachte e3 im Verſtändniß der Hegel’ihen Logik zur Vollkommen— 
heit“ und machte die Verbreitung derjelben fürmlich zu feinem Lebensberuf. 
Belinski's Bekehrung wurde vornehmlich für fein Werk angefehen, Herzen impo— 
nirte er durch feinen unvergleichligyen „revolutionären Tact”, die Kühnheit feiner 
Schlußfolgerungen und die Kraft feiner Dialektit galten fir unwiderſtehlich; 
nah der Meinung jeiner Freunde hatte er im erften Anlauf den Gipfel zeit- 
genöffifcher Bildung und Entwicelung erklommen. — In Moskau war jeines 
Dleibens nicht mehr, nachdem der Stankewitſch'ſche Kreis fich feit dem Jahre 
1839 aufzulöfen begonnen hatte und feine beiden nächſten Freunde nad) Peters: 
burg übergefiedelt waren: wie vor ihm Katkow und Granowski gethan, ging 
Bakunin zu Anfang des Jahres 1841 nad) Berlin, um die in Moskau be- 


*) Daß dieje Männer „vergeffen” jeien, fönnen wir, wenigſtens was Deutſchland betrifft, 
Herzen nicht zugeben. 
Die Rebaction. 


Michael Bakunin und ber Radicaliamus. 299 


gonnenen Studien fortzujegen und an der Hand deutjcher Lehrer zum Abſchluß 
zu bringen. 

Hegel jelbft war, als Bakunin nad) Berlin fam, ſeit neun Jahren ver- 
ftorben; jein Syftem aber ftand auf dem Höhepunkt der Bedeutung, welche es 
für Deutjchland, für Preußen und vor Allem für Berlin erlangt hatte. „Die 
meiften philoſophiſchen Lehrftühle waren an Hegelianer vergeben, zur Erwerbung 
eines Lehramte3 war es unumgänglich, wenigftens mit den Kunftausdrüden der 
Schule befannt zu jein; eine zahlreiche, eifrige und talentvolle Jüngerſchaft 
übertrug die Ideen des Meifters mit Erfolg auf die verjehiedenen wiſſenſchaft— 
lien Gebiete, Yurisprudenz und Politik wurden zum Erſtaunen der alten 
Juriften nad) den Kategorien des „An ſich“, „Für ih“ und „An und für fi“ 
geordnet, — Maler, Poeten und Schaufpieler holten jich bei der Aeſthetik Rath 
und man ging damit um, in Berlin eine Hegel'ſche Theaterſchule zu errichten... 
Die neue Speculation hatte ihren Bekennern ein jo ftarfes Seldftgefühl ein- 
geprägt, daß der Laie ihnen gegenüber geradezu in Verzweiflung gerathen mußte; 
denn welche Anſichten und Gründe er immer entgegenhalten modte, — fie 
wiejen lächelnd auf den Paragraphen des Syſtems hin, in dem diefe Anfichten 
und Gründe bereit3 „aufgehoben“, d. h. zugleich in ihrer relativen Berechtigung 
anerkannt und von einem höheren Standpunkte aus widerlegt worden waren: 
die Gulturgefchichte ſchien ihr Ziel erreicht, feine weitere Fortbewegung mehr 
möglich zu jein.” Gerade wie zehn Jahre früher drängten junge Männer aus 
aller Herren Ländern, Polen, Ruffen, Neugriechen, Scandinavier u. ſ. w., fi) in 
die Hörjäle, welche durch den Mann Hiftorijch geworden waren, der, in Papieren 
auf dem Katheder wühlend, Huftend, ſchnupfend und ſich wiederholend, mühſam 
jeine magiſchen Worte vorgebracht hatte: fie Alle fühlten fi (wie Roſenkranz 
in jeinem „Leben Hegel’3“ treffend jagt) als Theilnehmer einer großen iwelt- 
hiftorifchen Umgeftaltung, fie Alle waren von diefem Pathos in jubftantieller 
Weiſe gehoben, weil durch die jungen Herzen und durch die jungen Köpfe ein 
neues Leben zitterte. — 

Die baumlange Geftalt des leidenjchafterfüllten, immer zum Disput auf» 
gelegten und in der That durch ungewöhnliche dialektiiche Schärfe ausgezeichneten 
ruſſiſchen Studenten war in den Kreifen der Zuhörer Michelet’3, Hotho's u. ſ. w. 
bald zu einer befannten Figur geworden, auf welche einzelne Genoſſen diejer mert- 
würdigen, heute beinahe fabelhaft gewordenen Zeit fi) vielleicht noch befinnen. 
Bakunin hielt fi, nachdem die erften beraufchenden Eindrüde der neuen Welt 
vorübergegangen waren, vornehmlich im Kreiſe jeiner Landsleute auf: mit Zur- 
genjew theilte ex eine Zeit lang die Wohnung, Katkow und Granowski waren 
jeine Tiſchgenoſſen. Wo Alles radical angehaucht und in dem Glauben an das 
Herannahen eines neuen Zeitalters befangen war, konnte die Entſchiedenheit von 
Bakunin’3 Anſchauungen nicht bejonders auffallen. Erſchreckte er jeine näheren 
Bekannten auch gelegentlich durch die wilde Entichlofjenheit, mit welcher er aus 
der gemeinjam geglaubten Lehre die letzten Conjequenzen zog und deren ſofortige 
praktiſche Verwirklichung veranlaßte, jo famen Ereentricitäten folder Art dod) 
zu häufig und bei zu zahlreichen Männern vor, welche kurze Zeit darauf in das 
Fahrwafler des Philifteriums einlentten, al daß auf Ausbrüche joldher Art be- 


300 Deutſche Rundſchau. 


ſonderes Gewicht zu legen geweſen wäre. Wenn ſelbſt in den Kreiſen, welche den 
jungen Fremdlingen für maßgebend gelten konnten, das „Geſetz des ſich gegenſeitig 
Ueberbieten⸗wollens“ ſein Recht verlangte — wenn von den Lehrern der neuen 
Weisheit allen Ernftes geglaubt wurde, „ba der Genuß des ſchlechthin Wahren“ 
und bie „Wirklichkeit des Göttlichen“ ſchon in diejer Gegenwart möglich jeien und 
daß das „Syſtem“ den Schlüffel zur Löfung aller Aufgaben der Zeit darbiete, 
fo konnte kaum für befrembend gelten, wenn ein junger, ſchlecht vorgebildeter, aus 
völlig heterogenen, halb barbariſchen Verhältnifien ftammender und plöglich in 
die Metropole der Antelligenz verichlagener Mann für die Beurtheilung des 
Möglichen und Erreihbaren das Maß verlor, und mit Hilfe der „Algebra der 
Revolution“ Rechnungen der getwagteften und zweifelhafteften Art anftellte. 

Wie lange Bakunin's Berliner Aufenthalt gewährt, vermögen wir mit Ge- 
nauigfeit nicht anzugeben. Zu Anfang des Jahres 1842 finden wir ihn in 
Dresben, wohin er übergefiedelt war, um den ihm ſympathiſcheſten der Ausleger 
Hegel’3, den von der gefammten jungruffiihen Philoſophenſchule hochverehrten 
Arnold Ruge, näher kennen zu lernen. Die „Halle'ſchen Jahrbücher“ hatten 
zu den Evangelien des Stankewitſch'ſchen Kreifes gehört, Herzen und Belinski 
fih an denjelben förmlich beraufcht: beſonders werth war ihnen die Entjchieden- 
heit geivejen, mit welcher der Herausgeber ſich gegen alle nationalen „Bornirt- 
heiten“ erklärt, die Sache Frankreichs und feiner focialiftiichen Literatur ver- 
treten und rundheraus gejagt hatte, daß das Heil allein vom Weften und feiner 
gepriejenen ‘Metropole zu eriwarten ſei. Das ftimmte nicht allein zu den jub- 
jectiven Neigungen dieſer Männer, welche die erfte Anregung von Fourrier und 
Proudhon empfangen und fich erft jpäter zu Hegel und defien Schülern getvendet 
hatten, ſondern bot zugleich treffliche Waffen im Kampfe gegen bie „Freunde von 
Ehemals“, die nationalen Schwärmer der Slawophilenſchule, dar, deren zuneh- 
mendem Einfluß man mit Beforgniß zujah. — Mit Auge fam Bakunin bald 
auf jo freundſchaftlichen Fuß, daß diefer ihn zur Mitarbeiterihaft an den 
„Jahrbüchern“ einlud. Der deutſchen Sprache war der jebt 28jährige junge 
Philoſoph Längft ebenſo Mteifter geworden, wie der Hegel’ihen Terminologie: 
er nahm darum feinen Anftand, der ihm getvordenen Aufforderung Folge zu 
leiften, und veröffentlichte in ben Nrn. 247 bis 251 des fünften Jahrganges 
der „Jahrbücher” (1842) eine „Jules Elizard“ unterzeichnete Abhandlung über 
die „Reaction in Deutjchland“, welche für feine — und vieler anderer Leute — 
damalige Anſchauung zu bezeichnend ift, als daß wir an ihr vorüberzugehen ein 
Recht hätten. Der richtige Standpunkt für die Beurtheilung dieſer Arbeit wird 
jih aber nur gewinnen laffen, wenn wir an die, Heute eigentlich nur dem Namen 
nad) befannten „Deutſchen Jahrbücher“ von 1842 näher herantreten. 

Zeitichriften von der Art ber „Jahrbücher“ wären in unferer praftijch- 
realiftiichen Zeit nicht mehr möglich: dreihundert und zehn Nummern im Jahr, 
jede acht eng gebrudte Seiten enthaltend und ausſchließlich der Kritik neuer 
wiſſenſchaftlicher und künftlerifcher, zumeift philoſophiſcher Erſcheinungen gewidmet, 
dabei in einem Stil gejchrieben, der nur unter der Borausfegung einer wenigitens 
annähernden Belanntichaft mit der Hegel’ihen Terminologie verſtändlich ift — 
wo fänden ſich für ein Unternehmen ſolcher Art in dem modernen Deutjchland 


Michael Balunin und der Radicalismus. 301 


Herausgeber, Verleger und — Lejer? Trotz der Mannigfaltigleit der behandelten 
Gegenftände tritt die einjeitige Tendenz des Herausgeber? mit einer Schärfe 
hervor, für die wir ſelbſt in unferer, immerhin gründlich von Barteieinfeitigteiten 
zerfreſſenen Zeit fein Analogon anzuführen wüßten. Mit einer Sicherheit, die 
auf den Beier von heute geradezu komijch wirkt, wird an der Meinung, daß die 
Derwirktlidung de „Staats, wie er jein ſoll“ ber in den „ahr- 
büchern” erfolgten Feftftellung de3 richtigen Staat3begriff3 auf dem Fuße 
folgen müſſe, unbeirrbar feftzuhalten. An jeder, auch der geringfügigften Zeit- 
ericheinung wird umbergezerrt, bis es gelungen, aus ihr ein Anzeichen der fom- 
menden großen Revolution zu machen. Drei Viertheile des gefammten der 
Redaction zur Verfügung jtehenden Raumes find der Philofophie und Theologie 
gewidmet; die Namen Hegel, Strauß und Feuerbach kehren faft auf jeder Seite 
und beinahe ebenjo häufig wieder, wie die Vergleichungen der deutjchen Fiterari- 
ſchen mit der franzöſiſchen politiichen Revolution. Im Mebrigen führen ein 
alles Maß überjchreitender Frranzoienktultus und geipreizter radicaler Gefinnungs- 
dünfel das große Wort, nur no von dem Ilnfehlbarkeitsgefühl übertroffen, das 
aus jeder Zeile ſpricht. Gleih im Eingangsartikel verkündet der Herausgeber, 
„daß die ganze Vergangenheit der chriftlichen Welt zujammengerollt und zur 
Stufe für den Himmel der neuen Zeit gemacht worden jei,“ „daß es ſchwerlich 
noch ein Mal gelingen werde, die Völker aus ihrer warmen irdiſchen Heimath 
in den chriftlichen Himmel zu vertreiben, und daß wol auch ihre Vertreibung 
aus dem irdiſchen Paradieje die Längfte Zeit gedauert haben werde,“ — „daß 
das aller Orts fich zeigende Beftreben, die Schaale der ganzen Vergangenheit 
zu zerbrechen, ein Zeichen dafür jei, daß ein neuer In halt fich bereits gebildet 
habe“. Die gleihe Sicherheit bezüglich des anbrechenden neuen goldenen Zeit- 
alter3 zeigen die Herren Mitarbeiter, — fie alle find in der Ueberzeugung einig, 
daß vor dem Glanz der fommenden Herrlichteit Alles, was die Welt früher 
beivundert hatte, in den Staub finfen müſſe. „Irren wir nicht,” jo beginnt 
ein „Adolf Stahr“ unterzeichneter Aufſatz, „Jo ift ein nenes deutſches Drama 
im Anzuge, das Drama des gebildetiten Volks der Erde, das ſich in der Welt- 
literatur auf den Thron zu jeßen beftimmt iſt.“ Eingegeben ift dieje Verheißung 
dem Berfafjer durch eine Aufführung — von Gutzkow's Patkul. „Daß der 
wahre Kunftgenuß überhaupt nur vom Drama der Gegenwart ausgehen könne“ 
(„was jedoch wahrjcheinlich früher geſchehen wird, ala e8 geſchrieben ift“), 
hatte ſchon einige Zeit vorher ein anderer Kritifer bei Gelegenheit der erſten 
Aufführung dev Sophokleiichen „Antigene“ in Berlin, apobiktijch feitgeftellt. Daß 
die zeitgenöſſiſche Lyrik nur nöthig Habe, auf dem von Herwegh und Prutz be- 
ſchrittenen Wege weiter vorzugehen, „damit Niemand den abgeftandenen Kohl“ 
früherer Zeiten leſe, konnte nicht mehr für zweifelhaft gelten, nachdem Ruge 
ſelbſt diejes große Wort geſprochen und mit Anführungen aus Herwegh's an 
Freiligrath gerichteten, „ganz Frühling und Zukunft athmender“ Apoftrophen 
(„PBartei, Partei, wer follte fie nicht nehmen, die noch die Mutter aller Siege 
war”) belegt hatte. Gnade fand vor den Augen diefer Allerneueften von 1842 
überhaupt nur, was zu den „Zeitgebanten“ eine Beziehung hatte, oder zur Er- 
härtung der wichtigen Thatjache verwendet werden konnte, daß bie Franzoſen 


302 Deutjche Rundſchau. 


uns in aller und jeder Rüdfiht den Vorjprung abgewonnen hätten. In dieſem 
Sinne und von diefem Standpunkte wird Gutzkow's „Princip- und Gefinnungs- 
lofigfeit“ an den Pranger geftellt, weil diefer Schriftfteller ji in feinen „Briefen 
aus Paris“ Hatte einfallen lafjen, „ein deutſches, in dicke, egoiftiiche Baumwolle 
gewickeltes Gemüth“ zu verrathen, und weil er zu feige geweien, „um ſich 
mit Jauchzen in den lebendigen, jegelreihen Strom eines großen Volkslebens zu 
werfen,“ — in diefem Sinne heißt e8 von Börne, „daß ex als Berfönlichkeit 
einzig daftehe in der deutſchen Geſchichte, daß er zu feiner Zeit der einzige Mann 
in Deutſchland, der Johannes Baptifta eines neuen Zeitalter3 geweſen jei,“ und 
daß ed „ohne die directe und indirecte Wirkung Börne’3 („deſſen unmittelbare 
Anſchauung in der erweiterten Hegel’ichen ihre Ergänzung fand“) der aus Hegel 
bervorgegangenen freien Richtung nur ſchwer möglich geweſen wäre, ſich zu con- 
ſtituiren“. Ergänzt werden dieje tieffinnigen Offenbarungen über das, was 
wahrhaft bedeutend und zufunftsreich jein follte, durch eine Reihe in gleich hohem 
Ton abgegebener Berdicte über unliebfame und darum „unbedeutendere” Zeit- 
erſcheinungen: Charles Dickens ift lediglich als „vergröberter Sterne an— 
zuſehen, deſſen Erzeugniffe vielfah (es ift vom „Nickelby“ die Rede) aus ber 
Sphäre der Kunſtwerke in die der oberflächlichen, dem täglichen Bedürfniß dienft- 
baren Unterhaltungslectüre zu verweilen find“; Schopenhauer wird von 
einem Anonymus ein für alle Mal als dilettantijcher, unbedeutender Scribent 
zu den Zodten geworfen, Pfiter wegen jeiner Hinweiſe auf Preußens deutjche 
Zukunft gerade in's Gefiht gejagt, „daß er den Dank Derer nicht gewinnen 
werde, welche die Philojophie feinen Rückſchritt machen jehen wollten”. Daß 
Griehenland einer bedeutenden Zukunft entgegen gehe, und daß „in dem 
Charakter und den natürlichen Anlagen dieſes Volkes ſchon jetzt die immer feftere 
Begründung eines beſſeren Zuftandes feine wejentliden Hemmniſſe finde“, war 
in denjelben Blättern jchon früher als Ariom behandelt worden. 

Sp war es um die Zeitjchrift beftellt, welche im Jahre 1842 an der Spiße 
der deutſchen Entwidlung zu marjchiren den Anſpruch erhob,*) und unter deren 
Schutze ber in einen Franzoſen (Jules Elizard) umgenannte Rufje Bakunin zum 
erften Male vor die Deffentlichkeit trat. Ruge's Freundſchaft hatte nicht ver- 
fehlt, diejes Ereignig mit einem vedactionellen Pojaunenftoß zu begleiten und 
dem angeblichen „Fragment eines Franzoſen“ die nachftehende, für die Tendenz 
der Jahrbücher höchſt bezeichnende Anmerkung vorauszuſchicken: „Wir theilen 
bier nit blos eine Merkfwürdigkeit mit; es ift eine bedeutende Thatſache. 
Dilettanten und abhängige Schiller, wie Coufin und Andere, hat die deutjche 
Philoſophie jchon früher im Auslande erzeugt: Leute aber, die den deutjchen 


) Wir fühlen una zu der Bemerkung veranlaft, daß wir in der harten Beurtheilung ber 
„Halle'ichen Jahrbücher” mit unjerm gefhägten Mitarbeiter nicht bedingungslos übereinftimmen 
fönnen; ihre Fehler und Jrrthümer wurzeln zum großen Theil in der Zeit, aus der fie hervor: 
gegangen, und troß ihrer Einfeitigkeiten und Nebertreibungen, zuweilen vielleicht durch dieſe, 
haben fie belebend auf ben allgemeinen Geift eingewirkt. Dennod enthält obige Kritik zu viel 
Wahres, um fie felbft aus Nüdficht für eine Vergangenheit, der wir vielfach verbflichtet, und 
für Namen, die wir gegenwärtig noch ehren, hier zu unterbrüden. 

: Die Redaction. 


Michael Bakunin und der Radicaliamus. 303 


Philojophen und Politikern philoſophiſch den Kopf gewaſchen, find bis jet außer 
unjeren Grenzen nicht zu finden geweſen. Sp entreißt und denn da3 Ausland 
auch den theoretiichen Kranz und wir bürfen wol hoffen, daß die neue That- 
lache: „ein Franzoſe verfteht und überficht die deutſche Philojophie, ſowol die 
von der jtricten Obfjervanz, al3 die von der rechten Mitte und vom Ertrem“, 
manchen Siebenſchläfer von jeinem Lorbeerfaulbett herunterwerfen werde. 
Vielleiht hat Herr Jules Elizard Recht, wenn er und eine große praktiſche 
Zufunft verheißt; aber gewiß bat er ſich in uns geirrt, wenn jein Beiſpiel 
und nicht vermögen follte, den theoretiihen Hochmuth abzulegen, freiwillig auf 
unſer Vorrecht zu verzichten und — horribile dietu — wahre — Franzoſen zu 
werden.“ — Die „bedeutende Thatjache” nun, von tweldher jo große und tiefgehende 
Wirkungen erwartet wurden, beſchränkte fi auf die Entwidlung der nachſtehen— 
den Sätze: Von den verjchiedenen Gattungen der in Deutichland vorhandenen 
Feinde der „Freiheit“ fommen nur die jungen in Betracht; das ältere Geſchlecht, 
„das feine phyfifche und moralifche Abjpannung unter dem Schleier des jo oft 
gemißbrauchten Wortes Erfahrung zu verbergen jucht“, ift nicht ein Mal 
der Erwähnung werth, „denn die Freiheit war ihm nie eine Religion“. Ebenſo 
bedeutungslos ift die der Ariftofratie, der commerciellen und dev Beamtenclaffe 
angehörige freiheitsfeindliche Jugend, denn dieſelbe befteht auß „von Haufe aus 
unlebendigen und todten Menſchen“. Beachtung verdient nur die dritte Kate— 
gorie von „Gegnern de3 Princips der Revolution“, die über ganz Europa ver- 
breitete xeactionäre Partei, „welche in der Politit Confervatismus, in der 
Rechtswiſſenſchaft Hiftoriiche Schule, in der ſpeculativen Wiſſenſchaft pofitive 
Philojophie genannt wird". Die Macht dieſer reactionären Partei (jo wird 
weiter deducirt) hat ihren Grund nicht in der Unzulänglichleit des demo— 
kratiſchen Princips (diejes ift ja das innerfte, allgemeinfte und umfafjendite, 
das einzige fi in der Geſchichte bethätigende Wejen des Geiftes), ſondern 
in der Unzulänglichleit der demokratiſchen Partei, welde „noch nicht zum 
affirmativen Bewußtfein ihres Principe gefommen ift“ und, „weil fie bie 
ganze Fülle des Leben? außer fih hat,“ nur als Negation der bejtehenden 
Wirklichkeit eriftirt. Demgemäß ergibt fih („nur laue Halbmenjchen können . 
da3 leugnen“), daß dasjenige, „deſſen ganzes Leben nur Zerftören iſt“ (nämlich 
die bemofratiiche Partei), „mit dem, was es ſeiner innerften Natur nach erftören 
muß, ſich auch äußerlich) nicht vertragen fan.“ Damit glaubt der Verfaſſer 
das ausſchließliche Exiftenzrecht der extremen Parteien ein für alle Mal nach— 
gewwiefen zu haben. Er geht jodann zu den reinen und conjequenten Reactionären 
über, welche das Pofitive durch Unterdrüdung des Negativen erhalten wollen, 
weil fie einzujehen außer Stande find, „daß das Pofitive blos darum das 
Bofitive ift, weil ihm das Negative gegenüber fteht, und daß das Pofitive im 
Fall eines volljtändigen Sieges über das Negative nicht mehr das PBofitive, 
londern nur die Vollendung des Negativen wäre”. Dieje Blindheit muß den 
Reactionären oder Pofitiviften indeffen nachgejehen werden, „da Blindheit der 
Hauptcharakter des Pofitiven ift und die Einfiht nur dem Negativen 
angehört“. „Wir“ haben jogar Grund, ihnen „in dieſer ſchlechten und ges 
wifjenlojen Zeit“ dankbar zu jein für ihre Offenheit und auch ihnen gegenüber 


304 Deutſche Rundſchau. 


von „unſerem ſchönen Recht der Unparteilichkeit“ Gebrauch zu machen. „Wir 
(d. h. die Vorkämpfer des revolutionären Principes) ſind nicht nur die dem 
Poſitiven entgegengeſetzteſfte negative Partei, ſondern haben unſern lebendigen 
Grund in dem allumfaſſenden Princip der unbedingten Freiheit, in einem Principe, 
das alles Gute, was irgend im Poſitiven enthalten iſt, auch in ſich enthält, 
nur daß es über das Poſitive, ebenſo wie über uns ſelbſt als Partei, erhaben iſt. 
Als Partei treiben wir nur Politik, als eine ſolche ſind wir aber nur durch 
unſer Princip berechtigt, ſonſt hätten wir nicht einen beſſern Grund als das 
Poſitive, und ſo müſſen wir, ſchon unſerer Selbſterhaltung wegen, unſerem 
Principe treu bleiben, d.h. uns als dieſe einſeitige nur politiſche 
Eriftenz in der Religion unſeres allumfaſſenden und alljeitigen 
Principe3 immerfort aufheben.“ — Windig reihen ſich diefen horriblen 
Säten des „deutſchen Philofophen und Polititern den Kopf waſchenden Pjeudo- 
Franzoſen die Behauptungen an, „daß der Standpunkt der Vermittelnden als der 
der theoretiſchen Unehrlichkeit bezeichnet werden müle..... weilein per— 
fönlidh böfer Wille in die Entwidelung des Geiftes überhaupt 
nicht hemmend eingreifen fann” und daß „die ganze Weisheit von Ver— 
mittelnden in der Behauptung beftehe, daß zwei entgegengejeßte Richtungen (nämlich 
die der Reactionäre und der Revolutionäre) als joldhe einjeitig und ſomit unmwahr 
jeien“. Zur MWiderlegung diefer Behauptung genüge ein Hinweis auf die Logik 
Hegel’3, „der als höchſte Spitze unferer modernen, einjeitig theoretiichen Bildung 
bereit3 der Anfang einer nothiwendigen Selbftauflöfung diefer Bildung ift“ und 
unmiberleglich nachgewiejen Hat, „daß der Gegenjab, al3 das Umfafjen feiner 
beiden einjeitigen Glieder, total, abjolut und wahr ift“. Weil das Po— 
fitive ein ſolches iſt, „in welchem die Bewegungsloſigkeit als ſolche geſetzt 
iſt und fich als abſolute Bewegungsloſigkeit reflectirt, die Reflexion auf 
die Bewegungsloſigkeit aber zugleich von der Reflexion auf die Bewegung 
untrennbar iſt .... hat das Poſitive eine doppelte Stellung in Beziehung 
auf das Negative“. Daraus wird dann weiter gefolgert, daß das Pofitive 
und dad Negative keineswegs (wie die Dermittelnden denken) gleichberechtigt 
find, und daß der Gegenfah fein Gleichgewicht, jondern Uebergewicht 
des Negativen, ala des „übergreifenden” Moments ift, und daß das Negative 
„ala das beftimmende Leben des Pofitiven jelbft, allein die Totalität des Gegen- 
ſatzes einfchließt und jomit auch das abjolut Berechtigte ift“. — In diejem 
Stil geht es jpaltenlang weiter, bis der Verfafler zu dem „Punkt“ fommt, „two 
die allmälige Wirkung des Negativen plötzlich aufhört und dieſes „zum jelbft- 
ftändigen Princip“ umfchlägt und damit der Uebergang „der Natur in eine quali- 
tativ neue Welt, in die Welt des fernen Geiftes” beginnt. „Haben Sie nicht,“ 
jo werden die Vermittelnden apoftrophirt, „auf dem Vordergrunde des durch die 
Revolution erhobenen Tempels der Freiheit die geheimnißvollen und furchtbaren 
Worte liberte, egalitE und fraternit& gelejen, und wiſſen und fühlen Sie nicht, 
daß diefe Worte gänzlihe Vernichtung der beftehenden politiſchen und ſocialen 
Melt bedeuten?“ Dann heißt e8 nad) einer Ausführung über die in England 
und Frankreich erftandenen Jocialiftijch-religiöfen Vereine, „welche der gegenwär- 
tigen politifchen Welt ganz fremd gegenüber ftehen und aus uns neuen, unbe- 





Michael Balunin und ber Radicaliamus. 305 


fannten Quellen ihr Leben ſchöpfen,“ zum Schluß folgendermaßen: „Die Luft 
ift ſchwül, fie ift ſchwanger von Stürmen! und darum rufen wir unfern ver- 
blendeten Brüdern zu: Thut Buße, thut Buße, das Reich des Herrn ift nahe! — 
Den Pofitiviften jagen wir, öffnet Eure geiftigen Augen, laßt die Todten ihre 
Zodten begraben und überzeugt Euch endlich, daß der Geift, der ewig junge, 
ewig neugeborene, nicht in verfallenen Ruinen zu ſuchen ift ..... Laßt ung 
alfo dem ewigen Geifte vertrauen, der nur deshalb zerftört und vernichtet, weil 
er der umergründliche und ewig jchaffende Quell alles Lebens if. Die Luft 
der Zerftörung ift zugleich eine [haffende Luft!” 

Daß diefer Gallimathias finnlofer Phraſen und Hohler Abftractionen, der 
den Leſer von heute wie das Geſchwätz eines Chor3 von „hunderttaujend Narren“ 
anmuthet, im Jahre 1842 unter der Aegide des „vorgeichrittenften“ deutjchen 
Journals erjcheinen und von dem berufenen Herausgeber deſſelben als Superlativ 
moderner philojophifcher und politiicher Weisheit angepriejen werden konnte, ift 
eine für den Charakter der Zeit und für die Entwidlung Bakunin's zu bedeut- 
jame Thatſache, als daß wir an derjelben gleichgültig vorübergehen könnten. 
Der mangelhaft vorgebildete, jahrelang ſich jelbft überlaffen gewejene Er-Lieute- 
nant der Artillerie war in der Abficht nad) Deutichland gegangen, die von jeinem 
Freunde Stankewitſch völlig unvermittelt überlommene Weisheit einer Revifion 
zu unterziehen, in der Culturwelt des MWeftens nachzuholen und auszugleichen, 
was die Bildung feiner Jugend ihm jchuldig geblieben war, ſich über die Ziele 
und die Arbeitämethode Derer zu orientiren, die ibm als Repräjentanten der 
höchſten Summe zeitgenöffiiher Civilifation genannt worden waren. Und 
wa3 Hatten dieſe Gulturbringer und Repräjentanten, zu denen das gejammte 
junge Geſchlecht ftaunend emporjah, die ſich der Unterftügung und Freundſchaft 
der Strauß, 8. Feuerbach, B. Bauer u. ſ. w. rühmten — was hatten jie ihm 
zu bieten vermocht? Denſelben myftiichen Formelkram, diejelbe „Algebra der 
Revolution“, mit welcher ex und feine Freunde in Moskau ihre Zeit verloren 
hatten, denjelben blinden Glauben an die Allgemeingiltigkeit ſpitzfindiger Ab— 
ftractionen, der die Herzen, Belinsti u. j. to. in den Wahn gewiegt hatte, daß 
e3 genüge, den richtigen Begriff des Staates zu proclamiren, damit derjelbe ſich 
jofort verwirklichen werde! Nicht al3 Schüler, ala Freund und Gleichberehtigter 
war er in den Kreis Derer getreten, die fich jelbft und Anderen für die Vorläufer 
der neuen, beſſern Weltordnung galten und auf die wirkliche Welt ebenjo vornehm 
herabblickten, wie ex jelbft, der jeinen Ruhm darin gejehen, ſchon als philojophijcher 
ABE-Schübe mit den Begriffen der Religion, der Nationalität, dev Geſchichte 
fertig geworden zu fein. Seine Erftlingsarbeit war als Meifterftück gefeiert, 
die wilde Energie jeiner Zerftörungsluft als mannhafte Entjchiedenheit bewun— 
dert, fein Glaube an das unbeichränkte Recht des „allein im Beſitz der Einſicht 
befindlichen“ negativen Princips in jeder Rückſicht gefräftigt worden! War da 
zu verwundern, daß ex mit dem feften Entſchluß, die unfehlbare Theorie mög- 
lichſt raſch und möglichſt radical in die Praxis umzuſetzen, „die Helle vor ſich, 
Finſterniß im Rücken“, feines Weges ging, und daß er alsbald mit dem Anſpruch 
hervortrat, der Culturwelt, die er eben erſt kennen gelernt, von deren wahren 
Weſen er kaum eine oberflächliche Vorftellung gewonnen hatte, Gejete zu geben 


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306 Deutiche Rundichau, 


und ihr die Bahnen künftiger Entwidlung dictatoriſch vorzuſchreiben? Bakunin 
ift fich treu geblieben, er hat nur die Gonjequenzen des Syſtems gezogen, twelches 
dem Zeitalter der Ruge'ſchen Jahrbücher für das allein mögliche galt, und 
nicht an ihm bat es gelegen, daß Diejenigen, zu deren Schule er fich bekannte, 
auf balbem Wege ftehen geblieben find und den Glauben daran, daß „die Luft 
der Zerftörung zugleich eine Ichaffende Luft jei”, in der Folge verleugnet haben. 

In Deutſchland glaubte Bakunin gelernt zu haben, was ſich irgend lernen 
ließ: im Januar 1843 verließ er Dresden, um nad Paris überzufiedeln und 
die Wunderftadt von Angeficht kennen zu lernen, welche feine deutjchen Freunde 
ihn al3 Mekka der Revolution anzujehen gelehrt Hatten, „in der ein an ber 
richtigen Stelle eingenommenes Mittagsmahl den Anſpruch begründen konnte, 
an der Geſchichte des Tages theilgenommen zu Haben“. Als Bakunin nad) 
Paris kam, war der Herzog von Orleans ſechs Monate zuvor umgelommen ; 
da3 Minifterium Guizot-Soult, das drei Jahre zuvor die Leitung der Geſchäfte 
übernommen hatte, ftand noch auf der Höhe jeiner Macht und feines Einfluffes ; 
die maßgebenden Kreije der Parifer Geſellſchaft Hatten ſich aber ſchon daran ge- 
wöhnt, über die Julimonarchie und deren conftitutionelle Verſuche hinwegzuſehen 
und bei den belletriftiichen Ausläufern der focialiftiihen Schule Troſt und Ent- 
ihädigung für die Langeweile zu juchen, an welcher Frankreich nad) einem be- 
rühmt gewordenen Ausſpruch Lamartine’s litt. Scheinbar herrjchte tiefer, gäh- 
nender Trieben; Heine's jcharfes Ohr hörte aber bereit3 „unter dem Tröpfeln 
der fortwährend in die Gapitalien hinablaufenden Zinſen“ und unter dem leifen 
Schluchzen der Armuth „etwas wie ein Meier Elirren, das gewetzt wird“. — 
Eugene Sue, jeit Veröffentlihung feiner „Deux cadavres“ eine anerfannte Größe, 
hatte im Feuilleton des „journal des Debat3“ den Abdrucd feiner „Mysteres 
de Paris“ begonnen und die gefammte gebildete Welt für die Geſchicke eines 
tugendhaften Freudenmädchens und eines edelmüthigen Meuchelmörders jo leiden- 
Ihaftli zu interejfiren gewußt, daß alle überfommenen fittlihen Begriffe für 
eine Weile auf den Kopf geftellt zu fein jchienen; Alfred de Muffet kurz zuvor, 
in jeiner „Barefje‘‘, da3 Geftändnig abgelegt, daß auf Erden nur nod eine 
jolide Macht, die des Geldes, thätig ſei; George Sand unter dem Einfluß ihres 
Treundes Michel den Roman „Comteſſe de Rudolftadt“ zum Ausgangspunkt 
einer ganzen Anzahl radicaler Weltverbefferungspläne gemacht; Michelet im 
Kriegdeifer gegen die Jeluiten einen Radicalismus entwickelt, der um jo größere 
Senjation erregte, al3 Niemand in diefem einfamen Stubengelehrten den Dann 
gewittert hatte, der (nad) Heine’3 befanntem Ausspruch) die größte Gefahr lief, 
„ein Nachfrevler von Robespierre und Marat zu werden‘. — Die drei Haupt: 
werfe des modernen Socialismus, Cabet's „Ikarie“, Proudhon's Buch über 
das Eigenthum und Louis Blanc's „Organisation du travail“ waren, obgleich 
bereit3 drei Jahre früher aus den Prefjen entlafjen, noch in Jedermanns Händen, 
und eine dunkle Empfindung davon, daß die alte Geſellſchaft fich den neuen An— 
Iprüchen gegenüber mehr aus Nothwendigkeit ala im Glauben an ihr gutes Recht 
vertheidige, hatte fich auch der vornehmen Leer und Leferinnen der „Mysteres“ und 
der jocialiftiichen Sand'ſchen Romane zu bemächtigen begonnen. — Daß Bakunin 
ſich den Eindrücken, welche den größten Theil der Pariſer Geſellſchaft beherrichten, 


Michael Bakunin und der Radicalismus. 307 


bedingungslos überließ, twar bei jeinen Antecedenzien jelbftverftändlih. Einmal 
entichloffen, in dem großen Kampf der Zeit nicht ala bloßer Zuſchauer, jondern 
als Mitftreiter Theil zu nehmen, knüpfte er mit verjchiedenen jocialiftiichen 
Parteiführern und den zahlreihen, berufsmäßig complottirenden Polen Ver— 
bindungen an, weldhe von den Almofen der Regierung Ludwig Philipp’'s als 
Emigranten in der franzöfiihen Hauptftadt Iebten, — alle an „Entſchiedenheit“ 
der Gefinnung und an revolutionärer Rückſichtsloſigkeit überbietend. Bejondere 
Hinneigung fol er zu Proudhon gefühlt Haben, deſſen Schriften zu den ſym— 
boliichen Büchern des Kreiſes Stankewitſch gehört hatten, und mit dem er 
ih außerdem durch die gemeinfame Verehrung für die Hegel’iche Philojophie 
verbunden wußte; ein dauernder Verkehr zwiſchen beiden Männern kann damals 
übrigens nicht ftattgefunden haben, da Proudhon im Jahre 1843 als Agent einer 
Transportgeſellſchaft nad Lyon überfiedelte und Bakunin durch feine polnifchen 
Freunde veranlagt wurde, ſich in die Schweiz, den damaligen Hauptfit aller 
communiſtiſchen und revolutionären Umtriebe, die Refidenz Weitling’3 und jeiner 
„armen Sünder‘ zu wenden, um bier die weitverzweigten Verbindungen an— 
zufnüpfen, die ihn in der Folge in den Stand jeßten, allenthalben, wo das 
Banner der Revolution erhoben wurde, auf dem Plate zu jein und fajt überall 
eine erhebliche Rolle zu jpielen. — Einen gewifjen Einfluß auf die Entſchließung 
zu diefer Neberfiedelung mag der Umftand geübt haben, daß die in Paris lebenden 
Ruffen gerade damals durch geheime Agenten ftreng überwacht wurden, und daß 
Bakunin das Miktrauen der Regierung jo gründlich erregt hatte, daß dieje ihm 
die nachgefuchte Verlängerung feines Reijepaffes abſchlug. Er war jahrelang 
genöthigt, ohne jede Legitimation und völlig von der Willkür der Polizei 
abhängig binzuleben, was in der Schweiz ungleich leichter hielt, ala in dem 
Frankreich Ludwig Philipp’s. 
(Ein zweiter Artikel folgt.) 





Berliner Chronik. 


— — ⸗ 


Die Theater. 


Berlin, den 10. April 1877. 


Bewegte Theaterwochen liegen hinter uns; vollauf konnte auch die größte Neugier 
und Schauluſt befriedigt werden; bedeutende Schaufpieler wetteiferten miteinander, Ver— 
juche mit eigenthämlichen dramatifchen Dichtungen wurden gewagt. Aber der äußere 
Glanz, die Bielgefchäftigkeit dürfen über die innere Leere nicht täufchen. Wol Löften die 
Theater, ala eine Gejammtheit betrachtet, den Wechjel, den fie auf die Neugier des 
Publicums gezogen, ein — dod) nicht mit neuen, ſondern mit alten Münzen. Nach 
wie vor ift die moderne Production wie im ewigen Eiſe erjtarrt, kein Frühlingswehen, 
fein Sonnenftrahl vermag fie zu beleben und zu erweden. Selbjt die Buchdramıen, 
jo viel ich ihrer angejehen, find arm an dramatifchen Zügen, ohne tragifche Ver: 
widelung bier, ohne komiſche Charaktere dort. Ueberall ein Ueberwiegen der Lyrik, 
überall ein ehlgriff in den Stoffen: Atho der Prieiterfönig, oder Kambyſes der 
Perjer, Otto III., oder der milde Welf werden niemals Bürger der modernen Bühne 
werden; all’ ihre wirklichen oder nur angedichteten Schönheiten erfegen ihnen nicht 
das jehlende Theaterblut. So lange unfere Dichter nicht einzig die Bühne, wie fie 
ift, bei ihren dramatifchen Arbeiten im Auge behalten, helfen uns weder ihre Studien, 
noch ihr Genius. Möglih, dat man ihnen nach Hundert Jahren einen Denkſtein 
jet, denn jeder jugendliche Dramatiker und mit ihm ein Halbes Dubend feiner 
Freunde wiegt fich in dem Unjterblichkeitswahn; aber diefer jpäte Ruhm macht nicht 
ihniatt, nicht uns. Die Behauptung num gar, daß dem Talente nicht die Pforten 
der Bühne geöffnet würden, ift für jeden Einfichtigen, ſeit der gejeßlichen Begründung 
der Theaterfreiheit, jener blaue Dunft, mit dem die Mittelmäßigfeit ihre Eriolglofig- 
feit zu verhüllen jucht. In Wien führt das Stadttheater beinahe in jeder Woche 
eine Neuigkeit auf, in Berlin hungern ſechs Theater nach einer neuen kräftigen Speije: 
bringt nur gute Waaren auf den Markt, an Käufern wird es nicht fehlen. Ume 
gekehrt wie in der Induftrie gründet ſich der theatralifche Nothſtand nicht auf die 
Ueberproduction, jondern auf die Unproductivität. Und Gaius foll mir nicht mit 
jeiner Komödie, Cethegus mit feinem Trauerſpiel ala Gegenbeweis fommen: ein 
Drama, zu deffen Lectüre ich fünf Stunden brauche, das eine völlige Umarbeitung 
vorausſetzt, um überhaupt nur auf den Brettern ftehen und gehen zu fönnen, it 
eben feine productive Arbeit. In dem richtigen Gefühl, daß die aufgewandten Mühen 
und Koften im bejten Falle mit dem mageren Kranze eines „Achtungserfolges“ be— 
lohnt werden würden, weifen die Directoren ſolche Stüde zurück. 

Seufjer — nichts als Seufzr! Aber man bedenke, daß jetzt ſeit jieben Mo— 
naten auch nicht ein neues Stüd auf jämmtlichen deutichen Bühnen dargeftellt wor— 
den ift, dem eine bedeutende dauernde Wirkung nachzurühmen, ein höherer literariicher 


Berliner Chronif. 309 


Werth zuzuſchreiben wäre. Am kläglichſten bei dieſer Mikernte ift e8 unſerer Hof- 
bühne ergangen, fie ift, ach! von allen Mufen verlaffen. Nicht einmal ein gutes 
Caſſenſtück Hat fie zu verzeichnen — doch, eins: Shakeſpeare's „Hamlet“, der durch 
die trefflihe Darftelung dee Hm. Ludwig mehrere Male Hinter einander das 
Schauſpielhaus bis auf den letzten Plaß füllte. Wie Niemand das Traueripiel aus— 
lieft und ausfennt, in dem Sinn, daß ihm nicht jede neue Lectüre neue Seiten, 
Schönheiten. und Räthjel darböte, fo lernt auch fein Schaujpieler die Rolle des 
Hamlet aus. Immer wird e3 für den geiftreichen Künjtler daran zu beſſern, zu 
modeln, jelbjt zu ändern geben. So ift denn Hrn. Ludwig’s Leiſtung noch feines= 
wegs eine alljeitig vollendete, aber fie bringt die Hauptzüge de Charakters zur glüd- 
lichften Erjcheinung und Ausprägung. Mit dem Anjtand de Prinzen verbindet der 
Darfteller die Melancholie de8 Träumer? und den bitteren jcharfen Ton des tiej- 
verlegten Gemüths, er hat Feuer und Leidenſchaft und weiß die Uebergänge aus der 
einen Stimmung in die andere in der beweglichen Seele Hamlet’3 jo fein und fünft« 
lerifch zu vermitteln, daß fie wie Ausftrömungen feiner Individualität erjcheinen; er 
jpielt nicht nur Hamlet: etwas von Hamlet ijt in ihm. Aber ein jo überrafchender 
Erfolg, wie jehr er auch für den guten Gejchmad des Publicums zeugt, beweift doch 
auf der anderen Seite die ganze Armuth des modernen Theatertreibend. Jahrelang 
hat dag Schaufpiel der Schaufpiele auf unferer Bühne, in unzulänglicher Darftellung, 
ein Färgliches Dafein gefriftet: e& ging um wie des alten Hamlet’s Geijt, und die 
wenigen Zufchauer, welche der Theaterzettel in die Borftellung gelodt hatte, kamen 
fi) wie die einfamen Wachpoften auf der Terrafje von Helfingdr vor. Steine Reform: 
da3 Auftreten eines begabten Schauspielers hat mit einem Schlage Alles geändert, 
aus dem leeren Haufe ein volles, aus dem jchläfrigen Publicum ein theilnehmendes 
gemacht. Stellt nur jede Kraft an den richtigen Plab, und von dem Niedergang der 
Schauſpielkunſt wird man nicht mehr in allen Zonarten reden. Daß eine Dichtung 
Shakeſpeare's eine andere Lebenskraft befibt, ala ein modernes Schaufpiel, verwundert 
Niemand; aber daß fie im unmittelbaren Tageserfolge alle Neuigkeiten bejiegt, daß 
„Hamlet“ im Sabre 1877 mehr Vorftellungen in jchneller Yolge erlebt, als alle 
neu aufgeführten Stüde vom October des vergangenen Jahres bis zum heutigen 
Tage zufammen, das ift allerdings eine Thatfache, welche das Nachdenken heraus» 
fordert. Statt den Kern der theatralifchen Vorftellungen zu bilden, wie es eine gejunde 
Entwidelung vorausſetzt, ſchrumpft die moderne dramatiſche Dichtung zu einem bloßen 
parafitifchen Schößling zufammen, der fich an den clajfifchen Stamm anjegt. Solch ein 
Schößling bedenklichiter Axt, halb an Iffland, halb an franzöfiſche Vorbilder fich anlehnend, 
ift da8 dreiactige Schaufpiel A.von Winterjeld’8: Guter Name, das 
am Donnerftag den 22. Februar zum erften Male auf der Bühne des Schau— 
fpielhaufes erſchien. Um anftändig aufzutreten, Hatte fich die Langeweile den guten 
Namen geborgt. Winterfeld Hat eine Art Schlafrodhumor, der in jeinen Erzählungen 
und Skizzen behaglich anmuthet; zur unglüdlichen Stunde wollte er einmal den 
Emithaften jpielen. Drei Acte hindurch rührt der edelfte der Menſchen, Graf Ernft 
von Stahlberg, in dem Großmuthabrei herum, er jalzt ihn mit feinen Thränen, die 
Verdächtigungen, die Verleumdungen feines Charakters geben den Cayennepfeffer dazu. 
Um die Schulden und faljchen Wechjel feines Bruderß zu bezahlen, legt jich der 
Graf die härteften Entbehrungen auf und ſcharrt das Geld, wie und wo er kann, 
aus jedem Winkel zufammen. Da weder feine Tochter Helene, ein Engel an Schön 
heit und Güte, und jein Neffe Graf Kuno, ein Luftiger Habenicht® und die einzig 
erträgliche Figur bes Stücks, noch feine Dienerichaft und die Nachbarn willen, wo 
all’ das Geld bleibt, gilt Stahlberg als der jchlimmfte Geizhals. Er ſpielt fich auf 
Harpagon und Timon zugleich Hinaus und würde noch Heute in dem verjallenen 
Schloß und dem fchönen Park feiner Bäter feinen Grillen nachhängen — voraus 
geiett, daß er nicht verhungert wäre —, wenn feine Tochter nicht einen Liebhaber 
gehabt hätte. Natürlich einen reichen, Heren Franz Holz, den einzigen Sohn eines 
Millionärd. Nach einigen Schwierigkeiten find die beiden jungen Xeute bis an die 
Deuiſche Kundſchau. II, 8. 21 


310 Deutſche Rundſchau. 


Schwelle der Verlobung gekommen. Hier aber liegt der Stein des Anſtoßes. Ohne 
Mitgift, meint der Millionenmann, kann der Sohn von Hans Holz nicht die Tochter 
des reichen Grafen heirathen. Bei dem Worte „reich“ lächelt der Herr Graf Stahl— 
berge Berndal wehmüthig-diaboliſch; Mitgift! haucht er. — Ich gebe meinem 
Eohn ein Capital von Hunderttaufend Thaleın, geben Sie Ihrer Tochter zehn- 
taujend. — Kann nit. — Nun, ich bin ein billiger Mann: fünftaufend! — 
Kann nicht! — Bei dem Gott Merkur, das geht über den Spaß! Tauſend? — Kann 
nicht, flüftert der Graf dumpf wie ein Gefpenft, mit jchlotternden Knieen, und fteht auf. 
Aus der Verlobung wird nichts, und wir haben das Vergnügen, den Jammer aus 
dem Schloffe in der Wohnung des Banquiers fich wiederholen zu hören. Zulekt 
bringt dann ein Notar das Geheimniß ded „guten Namens“ derer von Stahlberg an 
den Tag. Der Märtyrer — weder der des Glaubens noch derjenige der Familien— 
ehre find geeignet, dramatiiche Helden abzugeben — wandert, die Thräne im Auge, 
den Glorienjchein um das Haupt, aus einer Umarmung in die andere, und damit 
dad Geheimniß in der familie bleibe, werden Helene und Franz ein glüdliches Paar. 
Diegmal sans dot, wie es im Moliere Heißt. Wäre nicht Kuno Habenicht? (Herr 
Liedtde) geweſen, der immer ein paar goldene Sparpfennige in der Taſche und 
ein halbes Dubend Wite im Munde führt, das Stüd würde ſchon im erjten Act 
des Hungertodes geftorben fein. 

Eine größere und würdigere Aufgabe hat fich die Hofbühne mit der Vorführung 
des „Manfred“ von Lord Byron, mit der begleitenden Mufil von Robert 
Schumann, gefeht, die am Mittwoch den 20. März zum Beiten der Penfiong- 
Anftalt der Genoffenjchaft deuticher Bühnenangehöriger jtattfand. Cinige Wochen 
vorher war dag merkwürdige dramatiiche Gedicht, ebenfalls in einer Wohlthätigkeits« 
vorjtellung für die Unterjtügungscaffe des Vereins „Berliner Preſſe“, zum erſten 
Male in Berlin im National-Theater aufgeführt worden. Der befannte Schau— 
ipieler Ernft Poſſart hatte es von München, wo es wie in Wien, Karlsruhe und 
Weimar, jeit einer Reihe von Jahren wiederholt auf der Bühne erfchienen ift, herüber- 
gebracht. Daß Lord Byron die ſeltſame Dichtung nicht für das Theater bejtimmte, 
weiß Jeder. Am 15. Februar 1817 fchrieb er aus Venedig feinem Verleger: „Ich 
babe eine Art von dialogifirtem Gedicht oder Drama in Jamben vollendet, das in 
der Schweiz begonnen wurde. Es ijt in drei Ncten, von einer wilden, metaphyſiſchen, 
nicht zu bejchreibenden Gattung. Ich Habe Feine große Meinung davon; wenigjtens 
habe ich es jo eingerichtet, daß man es unmöglich auf das Theater bringen kann“ — 
und noch ſtärker am 9. März: „Ich habe dieſes Werk in einem wahren horreur vor 
der Bühne niedergefchrieben, mit der Abficht, jogar die Möglichkeit einer Aufführung 
auszufchließen, denn ich weiß, daß meine guten Freunde fich dennoch bemühen werden, 
das zu thun, was mir den größten Abjcheu einflößt, nämlich es aufzuführen.” Aber 
was find die Wünfche, die Verbote der Dichter gegenüber dem Heißhunger des 
Theaters! „Manfred“ kann niemals ein Repertoireftüd werden, allein mit der wun— 
derbaren Schumann’schen Muſik, in einer paffenden Einrichtung, wird es immer ein 
anzichendes, feſſelndes, nachdenfliches Schaufpiel fein. Der jchneidige und erjchütternde 
Gegenjaß zu Shakeſpeare's Geifterdramen, „Hamlet“ und dem „Sturm“. Unter Byron’s 
Werfen nimmt „Manfred“ nur eine zweite Stelle ein; weit wird die Dichtung von 
„Don Juan“, „Ehilde Harold”, „Kain“, diefen drei Unfterblichkeitszeugen des Dichters, 
übertwoffen; aber fie veizt nach zivei Seiten Hin die Aufmerkſamkeit der Leſer und 
gewinnt, gerade durch ihre Dunkelheit, das Unmerklärliche in ihr und um fie, die 
Theilnahme, Seit ihrer Veröffentlihung hat man eine Aehnlichkeit mit Goethe's 
Fauſt und etwas wie ein Schuldbefenntniß Lord Byron’ darin geſucht. Ließ und 
läßt doch der Inhalt des Gedichts alle möglichen und unmöglichen Auslegungen zu. 
Manfred ift ein angejehener Graf in den Bergen der Schweiz; auf hohem Felſen 
weit herrichend Tiegt fein Schloß; in einem einfamen Thurmzimmer, das fein Diener 
betreten darf, treibt er dunkle Künfte. Er kennt den Lauf der Sterne und beſchwört 
die Elementargeifter. Selbſt vor Ahriman, dem Höllenfürften, zittert ev nicht; denn 


Berliner Ehronit, 311 


kein Bündniß iſt er mit den dämoniſchen Mächten eingegangen, ſondern durch ſeine 
Wiſſenſchaft hat er ſie gebändigt. Stolz und furchtlos und wunſchlos iſt er, wie 
fie. Aber feine Macht und feine Kunſt erfreuen, beruhigen ihn nicht; dor der Zeit 
verzehrt ein düfterer Gram feine Lebenskraft. Die Geijter ruft er an, ihm Vergeffen- 
heit zu ſchenken: zu der angeborenen Schwermuth feine® Weſens, dem hamletifchen 
Zuge in ihm, zu dem Drang in die unerforfchten Tiefen und der Sucht, Uebermenfch- 
liches zu wagen, gejellt fich ein geheimnißvolles Schuldbewußtfein. Da die Elementar- 
geifter ihm fein Begehr nicht erfüllen können, will er ſich vom Felſen ftürzen. Ein 
Gemsjäger rettet ihn. Um in etwas feine fchwerbedrüdte Bruft zu erleichtern, ſchil— 
dert er der Alpenkönigin fein Leben. Bon allen Wefen hat nur ein ihn verftanden, 
ging nur eins ganz in ihm auf: feine Schweſter Aftarte. „Ich liebte fie Heiß,“ jagt 
er, „und fie liebte mich einft zu fehr, e8 war beinahe Todfünde, uns jo zu lieben — 
und fie — fie tödtete ih. Nicht meine Hand! Mein Herz brach das ihre, e8 hing 
und welkte an meinem. Blut vergoß ich, doch ihres nicht — und doch ward dies 
vergoffen, ich ſah's und konnte e8 nicht ftillen.“ So viel Worte, To viel Räthfel 
faft. Dies Geheimniß fchleppt er mit fich herum bis in die Unterwelt, wo auf feine 
Bitte Ahriman und die Schikfalsfchweitern den Schatten der Aſtarte bejchwören. 
„Dein Erdenleiden endet morgen,“ haucht ihm der Geift Liebend und todesfüh zu. 
Der etzte Act jpielt in Manfred’3 Schloß; ihn mit der Kirche zu verföhnen, tritt 
der fromme Abt von St. Morit bei ihm ein. Es iſt bezeichnend, daß wir auch von 
ihm feine bejtimmte Anklage gegen Manfred vernehmen, und ala der alte Diener 
Manuel eben von Aftarte erzählen will, wird er unterbrochen. Stolz und feſt weift 
Manfred die Ermahnungen des Abtes, aber auch die Dämonen zurüd, die fich feiner 
zu bemächtigen fuchen: 


„Ih war bein Narr nicht — bin nicht deine Beute! 
Mein Selbftzerftörer war ich, und ich will's 

Auch ferner fein! — Hinweg, ihr Spottgeburten! 
Die Hand des Todes faht mich, doch nicht eure —“ 


und noch einmal zu dem Abt fich wendend, verfcheidet er mit den Worten: „Das 
Sterben, alter Mann, ift nicht jo ſchwer.“ 

Die Aehnlichkeit diefeg Gedicht? mit dem Goethe’fchen Fauſt ift jehr gering; 
nicht nur fehlt die Lebens- und Geiftesfülle des deutfchen Drama’s, auch der Jauftifche 
Drang Elingt in „Manfred“ nur in gebrochenen Tönen nach. Uebrigens kannte Byron, 
al3 er während feines Aufenthalts am Genfer See im Sommer und Herbſt 1816, in 
feinem innigen Verkehr mit Shelley, die Keime feiner Dichtung von den gewaltigen 
Natureindrüden, den bald philoſophiſch ernften, bald leidenfchaftlich aufregenden Ge— 
fprächen mit dem neuen Freunde empfing, das Werk Goethe's nur in der oberfläch- 
lichjten Weile. Ein Bekannter, Mont Lewis, Hatte ihm einige Scenen daraus, in 
eigener Uebertragung in die englische Sprache, vorgelefen. Ganz ander als von 
diefer flüchtigen Aehnlichkeit aber fühlten fich die erſten Leer des „Manfred“, das 
englifche Publicum und darüber hinaus die Zeitgenoffen des Dichters, von dem Ge- 
heimnißvollen des Inhalts berührt. Wenn es auch erft durch die Veröffentlichung 
der Byron'ſchen Tagebücher befannt geworden ift, wie bis in’3 Einzelne hinein ber 
Dichter in „Manfred“ feine Stimmungen niederlegte und diefelben Schilderungen 
und Bilder wiederholte, die er bei der Beichreibung feiner Reife mit Hobhoufe in 
dad Berner Oberland gebraucht: unwillkürlich ſpringt das Individuelle, Selbit- 
erfahrenes, Selbfterlebtes auß dem Werke den Lefern entgegen. Es war fur) nad) 
der Trennung der Ehe Lord Byron's, als „Manfred“ erſchien. Schon ſchwirrten 
dunkle, häßliche Gerüchte über ihn in England, leiſe Fortgeflüftert von Mund zu 
Mund. In dem Liebesbefenntnig Manfred’3 wollte man die Andeutung eines 
fträflichen Verhältniſſes zwiſchen Byron und feiner Stiefſchweſter Augufta Leigh 
heraushören. Die Gejchwijterliebe ift ein Thema, das Byron nicht nur in „Manfred“, 
jondern au in „Kain“ erörtert. Auch Shelley quälte fi mit diefer Frage: ob 

21* 


312 Deutſche Rundichau, 


es tiber die Natur fei, feine Schwefter zu ehelichen? Die beiden Dichter wiefen auf 
frühere Zeiten, auf Stämme und Gejchlechter Hin, wo, wie bei den Ptolomäern, die 
Gefchwifterehe wenn nicht Geſetz doch Sitte geiwefen. Nur die Wenigften indeſſen 
wollten in diefer Berührung fo gefährlicher Dinge einzig die Luft zum Problematifchen, 
dichterifche Grübelei, den philofophifchen Trieb, einer frage der Moral auf den Grund 
zu gehen, erkennen: fie jegten, vor Allem in Lord Byron, ein verbrecherifches Gelüft voraus. 
Eine andere Fabel war bis zu Goethe nach Weimar gedrungen; er hat e& der Mühe 
für werth gehalten, fie aufzubewahren. „Als ein junger, kühner, höchſt anziehender 
Mann,“ erzählt er in feinem Bericht über Byron’s Dichtung, „gewinnt er die Neigung 
einer Florentiniſchen Dame, der Gemahl endedt e8 und ermordet feine Frau. Aber 
auch der Mörder wird in berfelben Nacht auf der Straße tobt gefunden, ohne daß 
jedoch der Verdacht auf irgend Jemand könnte geworfen werden. Lord Byron entfernt 
fih von Florenz und fchleppt folche Gefpenfter fein ganzes Leben Hinter fich d’rein.“ 
Wahr ift an der Gefchichte Nichts; nicht einmal Byron's Aufenthalt in Florenz: er 
ift befanntlich nur wenige Stunden in diefer Stadt geweſen. Abſichtlich hüllt der 
Dichter die That und die Schuld Manfred’s in Dunkel ein;. gerade das Unerflärliche 
gibt dem Ganzen den ängftlichen Reiz einer Gejpenftergeichichte.e Der Erdgeiſt, 
Mephifto find Geifter anderer Art als die Dämonen, die in „Manfred“ auftreten, noch 
einmal jo erhaben und unergründlich; aber einen gejpenftigen Eindrud, wie die 
Stimme, welche den Fluch über Manfred jpricht, Aſtarte's Erfcheinung, der böfe 
Geift des letzten Actes, bringen fie nicht hervor. Auf dieſes Grauen vor den elemen- 
taren Mächten, dor einer Unthat, vor fich jelbft, vor den düfteren und wilden Ge- 
danken, die in uns fchlummern, richtet fich aber die ganze Bewegung und der Inhalt 
des Gedichte. Dunkel wie der Tod ijt die Seele Manfred's, Tiefen, nicht aufzubellen, 
liegen darin. In „Manfred“ Todert nicht allein, wie Goethe jagt, die düftere Gluth 
einer grenzenlofen Verzweiflung, auch der Schauer vor dem eigenen Weſen athmet 
darin. Wielleicht ift die Muſik noch fähiger ala das Wort, dies auszudrüden; die 
Wirkung beider vereint ift eine tief ergreifende, jchwermüthig rührende. Darf man 
nun aber das Ganze, Lord Byron’ Verfe und Schumann’3 Melodien, aus dem 
Goncertfaal, wohin fie, bei dem Meberwuchern de Iyriichen Elements, als ihre 
eigentliche Heimath gehören, auf die Bühne führen? Ich glaube: ja, weil der Kern 
troß alledem ein dramatifcher ift; nur muß die Einrichtung eine andere fein, als fie 
in München und jet in Berlin beliebt wurde. 

Schon die decorative Eintheilung iſt eine verfehlte. Um einen Decorationswechſel 
zu fparen, läßt man Manfred inmitten der Berge, der Jungfrau gegenüber, die fieben 
Geifter beichwören. Im ſchwarzen Mantel, barhaupt, fteht er wie ein Zauberer auf 
einem Felsgrat; gemüthlich kommen die Geifter als grau verhüllte Geftalten daher, 
der fiebente Geift, ala „Ichönes Weib“ verkörpert, fchreitet gar im Balletcoftüm in 
bengaliicher Beleuchtung aus der Couliſſe. Was jchreibt dem gegenüber nun ber 
Dichter vor? „Manfred allein. Eine gothifche Galerie. Mitternacht” — und weiter: 
„ein Stern wird am dunkleren Ende der Galerie fichtbar, ex bleibt ftehen und man 
hört eine Stimme fingen.“ Wenn Manfred vor der Erjcheinung des Weibes be— 
finnungslos zu Boden geſunken ift, „wird eine Stimme gehört, welche die Beſchwörung 
Ipriht” — nicht treiben vier Vermummte ihr Hocuspocus mit dem Ohnmächtigen. 
Ebenſo thöricht und ungeſchickt ift es, den lebten Act in einer einzigen Decoration 
zu fpielen. Manfred ftirbt nicht in einem beliebigen Zimmer feines Schloſſes, jon- 
dern in jenem Thurmgemach, in dem Ajtarte umgelommen if. Das Mondlicht Fällt 
durch das Fenfter, matt brennt die Ampel. Wer fein Gefühl für den Zuſammen— 
hang diefer Dichtung mit der äußeren Umgebung bat, der jollte doch jeine Hand von 
ihrer fcenifchen Darftellung laffen. Da kann man ſich nicht wundern, daß der mond— 
beglänzte Eis- und Schneegipfel der Jungfrau, den die Schiefalsfchweitern bejchreiten, 
bei und zu einer „wilden Felägegend” wird. Bon einem Berfuch, dad märchenhaft 
Gefipenftifche des Ganzen annähernd zur finnlichen Erjcheinung zu bringen, war feine 
Rede: die Geifter und Schatten verhandelten gemüthlich in derfelben Linie auf drei 


Berliner Chronil. 313 


Schritte Entfernung mit Manfred. Ueber oder unter ihm find fie; die Elementar— 
geifter jchwebend, faſt geftaltlos in den Lüften; Ahriman, die Schidfalsjchweitern, 
die Schatten in ber Tiefe: er Elimmt einen fteilen Felapfad zu ihnen hinab und wird 
mitten auf dem Wege durch ihren Anruf zurüdgehalten; nur Aſtarte's Haupt big 
zur Bruft fieht er, wie durch einen Schleier. In der harten und breiten Greiflichkeit, 
mit der uns all’ dies Jdealifche und Schattenhafte auf der Bühne des Opernhauſes 
vorgeführt wurde, verlor das Gedicht ganz und gar den phantaftiichen Schauer. 
Ueberdies ift Herr Kahle nicht der glüdlichite Darfteller des Manired. Ihm fehlt 
das Genialifche der Perjönlichkeit und der melodiſche Wohlklang der Sprache, die 
das erſte Bedingniß für dieſe Rolle find; Herr Poffart, der den Manfred im National- 
theater fpielte, befißt wenigftend eine diefer Bedingungen: ein reiche, wandelungs- 
fähiges Organ, dem die fanften und jchmelzenden Töne eben jo zu Gebote ftehen, 
wie die jtarken und troßigen. Beide Künftler verfehlen e8 darin, daß jie auß dem 
leidenfchaftlichen Uebermenſchen, der fich ſelbſt zerjtört, einen philofophiichen Grübler, 
aus Lord Byron den Doctor Yauft vor feiner Verjüngung machen. Ihr Feuer jtedt 
ihnen im Kopf, Manfred fit die Gluth im Herzen; ihn tödten Liebe und Sehnjucht, 
Schuld, Schmerz und titanisches Wollen, nicht ein philoſophiſches Problem und das 
Welträthſel. 

Was uns die anderen Theater in den verfloſſenen Wochen geboten, beruhte 
weſentlich auf den Gaſtſpielen hervorragender Künſtler. Offenbar bedürfen die Gaſt— 
fpiele einer Reform; aber fie kann, der Natur der Sache nad), nur von den Schaue 
jpielern jelbft ausgehen. Die Einzel-Gaftjpiele erweifen fi) nur noch in den jeltenjten 
Fällen als zugfräftig, denn entweder ift der Schaufpieler einer jener befannten 
Virtuoſen, der fich jchon zum zehnten Dale in feinen alten Kleidern dem Publicum 
zeigt, ober feine Eigenart erjchöpft fich in drei, in vier Rollen. Für die Pro— 
dinzialftädte mag das Auftreten eines fremden Schaufpielers von einigem Werth 
feine Bedeutung haben, den Mitgliedern des Theaters künftlerifche Anregung und den 
Zufchauern reihen Genuß gewähren; in der Hauptftadt hat im Grunde allein noch 
ein Enſemble-Gaſtſpiel eine Berechtigung. Einzig von ihm kann eine jegengreiche 
Wirkung für die Schaufpieltunft und die Bildung des Geſchmacks der Mafje aus— 
gehen. In dem Neiz des vortrefflich abgetönten, beinahe zur Vollendung gebrachten - 
Zufammenfpiels liegt mit der Erfolg der Meininger begründet. In diefer Richtung 
bewegte fich denn auch das interefjantejte theatralifche Ereigniß des lebten Monate. 
Sau Charlotte Wolter und Herr Joſeph Lewinskhy traten in Leifing’s 
„Emilia Galotti” und in Hebbel's „Maria Magdalena” im Refidenztheater 
auf, Frau Wolter außerdem noch in der „Phädra” Racine's und in Dumas’ 
„Gameliendame“. Charlotte Wolter ift ein geborenes jchaufpielerifches Talent mit 
ftarken Leidenjchaftlichen Necenten, mit einer gewillen Neigung zu grellen Farben und 
Icharfen Strihen. In Lewinsky's Spiel und Wefen wiegt der Verſtand vor; bei 
bejcheidenen Mitteln wirkt er durch Ueberlegung, durch die richtige Erfaffung der 
Aufgabe, durch ein feines Abwägen von Licht und Schatten. Voll und ganz fommt 
das Dämonifche nur in feiner Darftellung d:3 Franz Moor zum Durchbruch, der in 
diefer Hinficht zu den originelljten Figuren der modern m Bühne gezählt werden muß. 
In feinen übrigen Rollen tritt die Farbe vor der Zeichnung zurüd; hier ift eine 
Aehnlichkeit mit Deffoir unverkennbar, dem ebenfalld die Richtigkeit der Gontouren, 
die Nachzeichnung der von dem Dichter vorgezogenen Linien über die farbige 
Ausführung ging. Lewinsky's Marinelli ijt in der Feinheit feiner Züge, in der 
Beicheidenheit feiner Natur, in der forgfältigen Durcharbeitung des fprachlichen Theils 
feiner Aufgabe eine meijterliche Leiſtung; aber. was hier dem Weſen der Rolle 
entipricht, denn Mtarinelli ift zuerst und zulekt der jchmiegfame Hofmann mit 
tadellojen, gefchliffenen Formen, thut anderen Figuren, die ein lebhafteres Colorit 
verlangen, Eintrag. So weit e8 feine Kraft geftattet, jchneidet Lewinzfy aus ganzem 
Holz, jelbjt auf die Gefahr Hin, nur einen harten und farblojen Holzjchnitt hervor— 
zubringen; Charlotte Wolter dagegen arbeitet, wie Dawiſon, in und mit Yarben. 


314 Deutiche Rundſchau. 


Die tiefften und die leuchtenditen Hat fie in verfchtwenderifcher Fülle auf ihrer Palette. 
Nicht immer gelingt ihr darum die gleichmäßige Ausbildung einer Geftalt; zuweilen 
ift e8 nur eine Scene, bie fie anzieht, über die fie ihre ganze Farbengluth ausſchüttet. 
Der finnliche Trieb ift in ihren Darftellungen eben ftärker, ala die jeelifche Vertiefung. 
Nicht den Untergrund eines Charakter, den tragiichen Ausbruch einer Leidenjchaft 
weiß fie am wahrften zu verkörpern. So gleichen fich beide Künftler gewiffermaßen 
aus und ihr Zufammenfpiel, zumeift in der „Emilia Galotti”, war bon einer jeltenen 
Harmonie. 

Das Gajtjpiel einer anderen Künftlerin, des Fräuleins Friederike Bognar, 
deren gefälliged Talent leider in dem ewigen Gaftiren von Stadt zu Stadt — 
beinahe hätte ich von Dorf zu Dorf gefagt — ſeinen beiten und jchillernditen 
Schmelz eingebüßt hat, brachte ung im Nationaltheater eine Aufführung des 
„deutichen Zrauerjpiels”: Agnes Bernauer von Friedrih Hebbel. Ohne 
einen rechten durchichlagenden Erfolg. Das Trauerfpiel ift im Jahre 1855 erfchienen 
und hat fich Hier und dort an das Lampenlicht gewagt; eine bleibende Stätte hat 
es au? feiner Bühne gefunden. Hebbel vergriff fih in der Mehrzahl feiner Stoffe; 
in der Judith, der Genoveva, der Agnes Bernauer hatte er Sagen und Legenden 
vor ſich, deren Reiz gerade in ihrer Naivetät beſteht. Ohne jedes Gewiffensbedenten 
dor wie nad) der That geht das Heldenweib von Bethulien in das Lager der Afiyrier 
und jchlägt dem weintrunfenen KHolofernes das Haupt ab; wie ein rechter Böferwicht, 
aber zugleich wie ein echter lebendiger Menjch, kein Phantafiehomunculus, bedrängt, 
fränft und vernichtet Golo die jchuldlofe Genoveva; in der Sage ftirbt Agnes 
Bernauer ala das jchuldlofe Opfer ihrer ränkefüchtigen Feinde und eines tyrannifchen 
Fürſten, und wenn die Chronik e8 unternimmt, den Juſtizmord zu rechtfertigen, jagt 
fie nur: „das Weib war jo in Bosheit verhärtet, daß fie den Herzog Ernſt nicht ala 
ihren Richter und Herrn anerkennen wollte, da fie jelbjt eine bayerifche Herzogin fei: das 
erbofte den Herzog Ernjt wider fie, daß er das Weib faffen und erfäufen ließ.“ Aber 
mit jolchen einfachen Stoffen, deren Berwidelung und Löfung ſich ohne gewaltfame 
Mittel, aus der Natur der aufeinanderftoßenden Gegenfähe: einer Jüdin und eines 
Teindes ihres Gottes und ihres Bolfes; eines Wüſtlings und einer Heiligen; eines 
Bürgermädchens und eine® Herzogs, gleichjam don ſelbſt ergibt, vermochte Hebbel, 
feiner grüblerifchen Neigung nach, Nichts anzufangen. Der naid und unbewußt 
bandelnde Menjch ift ihm ein Räthſel. Nicht Agnes Bernauer — der eigentliche 
Held des „deutſchen Trauerſpiels“ ift der Herzog Ernjt. Er allein macht eine tragijche 
Wandlung duch. Mit großen Gedanken, ganz Bayern zu einem Staate zu vereinen, 
tritt er auf; was er nicht vollenden kann, wird fein einziger Sohn Albrecht zu 
Stande bringen; er jet feine ganze Hoffnung auf ihn. Da erfährt er die Bermählung 
Albrecht's mit der Baderstochter von Augsburg; er will e8 feinen Räthen nicht 
glauben. Auf dem Zurnier zu Regenäburg muß es ihm der Sohn ſelbſt jagen. 
Seht fteigert fich die Handlung fcheinbar zu einem tragischen Conflict zwifchen Vater 
und Sohn. Allein nicht der Sohn, nicht der Vater tragen den Conflict auß, die 
Bajallen müſſen ihn auskämpfen. Durch gelehrte Richter läßt der Herzog die Ge— 
mahlin des Sohnes zum Tode verurtheilen, Jahre lang hält er das Todesurtheil in 
eiferner Truhe verichloffen, erſt ala der einzige Sohn feines Bruders ftirbt und die 
Erbſchaft des Herzogthums num nothwendig an Albrecht fallen muß, zieht er e3 hervor 
und übergibt e8 feinem Kanzler zur VBollftrefung. In der unwürdigſten Weije wird 
e8 vollzogen; Agnes ftirbt nicht nur ala Opfer der Verhältniffe, fondern auch ala 
Dpfer der Thorheit. Ihr Gemahl reitet Iuftig zum Turnier nach Ingolftadt, und die 
Reifigen des Herzogs benutzen die günftige Gelegenheit, die arme verlaffene Frau zu 
überfallen und in die Donau zu werfen. Kein Zufchauer folgt Hebbel darum zur 
legten Scene, in der uns der Dichter mit dem theatralifchen Gepränge von kaiſerlichen 
Herolden und päpftlichen Zegaten die VBerföhnung zwifchen Vater und Sohn glaubhajt 
und fchmadhaft machen will. Später hat er jelbit das Ungenügende dieſes Ausgangs 
empfunden und den ganzen Auftritt zwifchen Vater und Sohn, mit der unerquidlichen 


Berliner Chronif. 315 


Entſchuldigung eines Juftizmordes durch die „Staatsraifon“, fortgelaffen: der Kanzler 
bringt dem Hereinjlürmenden Albrecht den Herzogaftab, Herzog Ernft hat fich in das 
Klofter Andechs zurüdgezogen. Dies Ende ift natürlicher und verletzt weniger das 
erregte Gefühl, aber einen tragiichen Eindrud übt es nicht aus. Damit er die Ermor- 
dung feines Weibes vergeffe und verzeihe, ſchenkt man Albrecht ein Herzogthum: es ift 
das Löfegeld, die Buße für den Erichlagenen nach altdeutichem Recht. Um diefen 
Stoff zu einer wahren Tragödie zu geitalten, müßte der Dichter dor Allem in die 
Brujt der fchönen Agnes das dunkle Schuldgefühl legen, daß ihre Verbindung mit 
Albrecht gegen ein Gejeh verftößt; diefe Empfindung müßte ihre Umgebung theilen, 
fie müßte als eine Wetterwolfe über ihnen ſchweben. Die „Staatsraifon” eines 
Heinen Fürften wiegt auf der Bühne nicht einmal die Schlechtigkeit eines gemeinen 
Theaterböjewichts auf; der Herzog, der perfönlich mit der Gattin feines Sohnes 
jufammengeräth, perfönlich von ihr beleidigt wird, fie in feinem Zorn ergreifen und 
in die Donau ftürgen läßt, ijt im Nahmen und in der Beleuchtung eines Bühnen- 
ſpiels viel Lebendiger und wahrer, al3 der weile Fürft auf dem Thron, der zu 
Gunften feiner jchemenhaften Staatdidee über einen Juſtizmord brütet und ihn 
Ichließlih ausführt. Wie al’ unferen Dramen aus dem Mittelalter haftet auch 
diefem das Zeriahrene, die epifche Breite an: im erſten Met haben wir einen drei= 
maligen Wechfel der Decoration; im dritten Act ſpielt die Scene nacheinander in 
München, auf der Vohburg, in Regensburg. Darüber Hilft nun die Schönheit ein- 
jelner Züge, namentlich in den Liebeögefprächen, nicht Hinweg. In der ganzen 
Anlage wie in der Ausführung der verfchiedenen Vorfälle tritt uns die dramatifirte 
Chronik entgegen; ein Dichter, wie Hebbel, kann durch eine glänzende Umbüllung 
dies Gebrechen wol zuweilen verbergen, aber nicht tilgen. Der Kampf der Liebe 
gegen Staatdrüdfichten gibt immer nur eine mittlere Tragödie; wir bemitleiden das 
Ichöne, unfchuldige Opfer und fürchten nicht, fondern verabfcheuen den Mörder, wenn 
er ein rechtichaffener Mörder ift, und flüchtet er fich num gar, wie Hebbel's Herzog 
Ernjt, mit jeiner That Hinter die Politik, ſo verflüchtigt fich jede tragiiche Empfindung. 
gm Sriedrih-Wilhelmftädtifhen Theater ift „Fatinitza“ endlich von 
dem „Seecadetten”, einer breiactigen Operette von %. Zell, Muſik von Richard 
Gense, abgelöft worden. Aus ruſſiſch-türkiſchen Wahlverwandtichaften werden wir 
in franzöfifch» portugiefifche verjeßt. Der ruffiiche Lientenantsrod der Soubrette hat 
fich in die portugiefifche Seecadettenuniform verwandelt, die nicht weniger kleidſam 
erſcheint. Im Uebrigen find die alten Spähe und die alten Melodien geblieben. 
Auf der Bühne des Wallner- Theaters fcheiterte eine neue deutiche Originalpoffe, 
was fein Unglüd ift, und jo treiben denn noch immer „Die Rofa-Domino’3“ 
von Delacour und Hennequin ihre Parifer Unweſen auf den Brettern, was fein 
Glück iſt. ſt a x Feuagcl 


Die muſikaliſche Saijon, -, —— ) 

Berlin, int Apuik 187° 

Als ich vor Länger ala dreißig Jahren, nach mehrjährigem Aufenthalte in 
Leipzig, voll neuer, großer Eindrüde, die ich in jener rajtlos vorwärts ſtrebenden 
Mufikjtadt empfangen, nach Berlin zurüdkehrte, fand ich unjere geliebte Metropole 
in Betreff der Muſik auf demfelben conjervativen Standpunkte, den fie von jeher fo 
gern und jo hartnädig behauptete. Das damalige muſikaliſche Berlin und mit ihm 
die gefammte Kritik gefiel fich, ftatt fördernd, belehrend und anbahnend aufzutreten, 
in einer gewiflen jelbjtzufriedenen Schwerfälligkeit, die allem Neuen ala unbequemer 
Bereicherung, twelche Anftrengung verurjacht, abhold war. Bejonders hemmend und 
ſchädlich wirkte die Tageskritit, die fich begnügte, von ihrem Richterftuhle aus die 


316 Deutſche Rundſchau. 


ewigen, aber doch ſehr billigen Wahrheiten immer wieder zu verkündigen, wie groß 
Beethoven, Mozart und Haydn ſeien. 

Die äußerlich prunkvolle Epoche Spontini's war beendet. Eine revidirende, 
jedoch wenig intereſſante und nur mäßig belebende war ihr gefolgt. Nur der Stern 
Mendelsſohn's, der in anderen Muſikſtädten ſchon längſt aufgegangen, fing all— 
mälig an, auch bier feine Leuchtkraft auszuüben. Schumann indeſſen, der bereits 
den bedeutendften Theil feiner Werke, die ſämmtlich ſchon durch den Stich zugänglich 
gemacht waren, hinter fich Hatte, war als Gomponift gänzlich unbekannt. Man 
fannte ihn nur aus feiner Hier und da gelejenen Zeitung ala einen verwegenen 
romantiichen Neuerer und wahnmwibigen Chopin- Schwärmer.. Grund genug, von 
feinen Anfichten auf feine eigene Muſik zu jchließen, die wol in den Muſikalien— 
bandlungen lag, aber auf feinem Notenpulte. 

So ftand es damald mit dem Verſtändniß Shumann’s, daß, ala ih im 
einem anerkannt funftverftändigen Kreife einer Dame das Lied: „Du meine Seele, 
Du mein Herz” vorlegte, ich mit ganz befremdenden, ſogar bebeutungsvollen Bliden 
angejehen wurde, alö ob ich in Leipzig, wenn auch nicht den Berjtand überhaupt, 
jo doch wenigjtend den mufifalifchen Verſtand eingebüßt hätte. Noch jchlimmere 
Erfahrung mußte ich mit dem Glavier-Quartett (Es-dur) machen. Alle meine 
bejtgemeinten Abfichten in der Propaganda fielen auf jterilen Boden. Wie konnte 
e8 auch anders fein in einer Stadt, wo Curſchmann mit geradezu unbegreiflichem 
Erfolge auf den Schild des Claſſicismus erhoben ward! 

Inzwiſchen wurde 1847 doch ein Wagniß, die kühnſte That der Berliner Sing- 
akademie jeit ihrem Beftehen, die Einjtudirung von Shumann’3 „Paradies 
und Peri“, unternommen, wirkte jedoch jo befremdend auf Ausführende und Zu— 
hörerſchaft, daß der Wunfch laut wurde, die Reinheit und Würde diefes berühmten 
Snftituts möchte, Angeſichts des jo mißglückten Verſuchs, nie wieder auf eine ähnliche 
Probe geftellt werden. 

Das Werk war damald auf Schumann's eigenen Antrieb dem gutmüthigen 
Director Rungenhagen, der, ſolchen Anblids nicht gewohnt, die Partitur eine 
Weile verkehrt angejehen haben joll, zur Ausführung unterbreitet worden und ver« 
ſchwand auf Jahre wieder, bis es durch daß jrifche Leben und Streben des jungen 
Stern’shen Vereins von Neuem erweckt wurde, Dem hellichauenden Blick und 
ſchnell empfänglichen Sinn dieſes nicht genug zu ſchätzenden Vereins gebührt vor 
Allem daB Hohe Verdienſt, den Berlinern Augen und Ohren für die Bedeutung 
Schumann’s geöffnet zu haben. Geine beftridende Driginalität fand nunmehr 
unter der jüngeren Bevölkerung bald entjchiedene und begeifterte Anhänger, während 
ber jchwerer zugängliche Theil ihn noch immer für einen confufen Appendir 
Mendelsſohn's erklärte, das Philifterium, im berüchtigten Berliner Schablonen- 
Contrapunkt aufgewachſen, ihm aber gar die Ehre eines Autodidakten zuerkannte, 
der den guten Gejchmad und die ewigen Saßungen der muſikaliſchen Quietiften 
untergrabe. 

Auf diefer jehr zweifelhaften Höhe einer bedenfenerregenden Anerkennung fiand 
Schumann in Berlin, al® er jchon fein großes Wert „Genoveva“ vollendet 
hatte und in Leipzig zur Aufführung bringen konnte. Dort, wo Schumann’ Ruf 
ein unbejtrittener war, wo feine jumphonijchen Werke, feine größeren und Eleineren 
Gejangs- Compofitionen, feine Quartette mit fteigender Bewunderung und erneutem 
Entzüden gehört wurden, fand die neue umfangreiche Schöpfung wol einen achtungs— 
reichen Erfolg, jedoch nicht von fo durchgreifender Intenfität, daß Bühnen anderer 
Städte fich bewogen fühlten, die Oper für fich zu beanfpruchen. Im Laufe folgender 
Jahre verjuchten es indeſſen Weimar und neuerdings jogar Wien, durch forgfältigfte 
Inſceneſetzungen das Werk wieder zu beleben; aber auch dieſe gutgemeinte Abficht 
blieb nur ein Verſuch, bis es endlich auf der Bühne von Wiesbaden einen 
feften Boden fand. Die durch eine ungetheilte Aufnahme befeftigte Pofition diejer 
Dper in der Zaunugftadt, die nicht mehr Hinweg zu leugnende, in der ganzen 


Berliner Chronil. 317 


gebildeten Mufitwelt vollgiltige Bedeutung Robert Schumann's beitimmten 
fchließlich die Berliner General» Intendanz, fih einer alten Ehrenfchuld zu entledigen 
und in wirdigiter Wiedergabe die Oper „Genoveva“ den Berlinern (Anfangs 
März d. 3.) vorzuführen. 

Ueber das Textbuch, dad — nach den Dichtungen Tied’3 und Hebbel's — 
mehrere DVerfafjer zählen fol (man nennt Reinid ud Schumann jelber), kann 
ich nicht ein jo unbedingt verdammendes Urtheil ausfprechen, al® die von vielen 
Seiten gejchehen ift. Einzelnes ift wirkſam; das Duett zwifchen Genoveva und Golo 
im zweiten Act enthält ein reiches inneres Leben, ebenſo wie das ganze Finale, 
das diejer Scene folgt, einen mufifalifch anregenden Vorwurf bietet. Nicht minder 
bühnengereht und an fich feffelnder möchte ich den Abzug Siegfried’3 mit einen 
Kriegern im Gingangstheile der Oper und Vieles im dritten Acte nennen, während 
freilich dem Schlußacte als Theaterdichtung alle dramatifchen Erforderniffe fehlen. 
Der herbſte Tadel aber, den man dem Libretto nicht eriparen kann, trifft die un— 
glüdliche Wahl der Genoveva Legende überhaupt, die fich jchwer einer Opern- 
umgejtaltung unterwirtt. Man kann allenfalls leſen, wie ein reines, engelhaftes 
Geſchöpf auf ausgejuchte und qualvolle Art gemartert wird; aber Nichts kann pein- 
licher fein, al3 dergleichen zu jehen — mit anfehen zu müffen, wie ein jchuldlofes 
Weſen von dem ihr beigegebenen Schirmer verrathen, von ihren Dienftinechten auf 
offener Scene gebunden, in den Thurm geſtoßen und fchließlich in die Wildniß ge 
führt wird, um don zwei gedungenen Schuiten ermordet zu werden! 

Aber es iſt ebenfo bezeichnend für Schumann’8 gänzlich dem Innern zugelehrte 
Individualität, wie übereinftimmend mit feinem Naturell, daß er unter jo vielen 
Stoffen, die ihm in ziemlich reicher Auswahl vorlagen, gerade die Genoveva » Legende 
wählte, deren dramatiicher Halt ein fo Außerft geringer ift. Ihn, den reinjten und 
berufenften Interpreten, den unübertroffenen Sänger und Ergründer der geheimniß- 
volljten Seiten weiblichen Empfinden®, verleitete die unmwandelbare Reinheit, das 
gequälte Herz der mißhandelten Dulderin. In Golo und Margaretha glaubte er die 
interefjanten dramatiſchen Triebfedern der Oper gefichert zu jehen. Und er, der fo 
einzig veranlagte Lyriker, irrte darin jo jehr! Doch ift e8 wunderbar, ja erjtaunlich, 
wie ſich in feinem nicht raftenden Schaffenzdrang und in feiner fünftlerifchen Un— 
erichöpflichkeit endlich auch eine Oper, ihm grundeigen, um einen undramatifchen 
Kern Eryitallifirt Hat. Die Schumann’sche Erfindungs- und Gejtaltungsfraft, die 
man leichtfertiger Weile jo gern ald „einfeitig” bezeichnet, ift, wenn ich dieſes Wort 
einjtweilen adoptire, in ihrer Einfeitigfeit doch fo reich ausgeſtattet, daß fie in dieſer 
einfarbigen Pracht Bewunderungswürdiges zu erjeugen vermag. 

Schumann fand die edelften, die ergreifenditen und zugleich unfchuldvolliten Töne 
für die Worte feiner Heldin; er traf den einjchneidenden Ausdrud der Zerknirſchung 
in Golo’3 ruchlofem Beginnen und jchildert die ſchwarze Unthat briütende Margarethe 
in dämonijchen Harmonien durch Entfeffelung des ganzen mächtigen Orcheſterſtroms. 
Zu diefen von einander grundverjchiedenen Typen der Oper tritt das mittelalterlich 
ritterliche Element Siegfried's, rein mufifalifch betrachtet, in treffender Charakteriſtik 
Hinzu. Wenn fchon durch diefe vier in fich abgefchloffenen, von einander mufikalifch 
ganz abweichenden Geftalten die Bezeichnung einer einfeitigen Erfaffung des vor— 
bandenen Stoffes hinfällig ift, jo wird fie ganz zu verwerien fein, wenn man die 
Chöre in ihren wirkungsvollen Gontraften vernimmt. Dean vergleiche den Abzug 
der Krieger in feiner foldatifch- marjchartigen Rhythmik mit den rohen, ja brutalen 
Ausbrüchen der Knechte, die im Schloßhofe, angefeuert don dem Hexenweib, ihr 
wüſtes nächtliche Zechgelage feiern; man unterfcheide die frommen Klänge des 
Eingangschors mit dem, leider gefürzten, Schlußgefange der Oper, der diefelbe fromme 
kirchliche Weife mit einem anmuthsreichen Gefange der erfreuten Schloßbewohner in 
höchſt funftvoller Arbeit zu einem Doppelchor verbindet. Hierher gehört auch die 
weit außgefponnene, zugleich wirkungsvollſte Scene des Werks, das lebendige Schluß— 
Enjemble des dritten Actes, das fich in der abenteuerlichen und unheimlich aus— 


318 Deutjche Rundſchau. 


gejtatteten Hütte Margarethen abfpielt, ein muſikaliſches Tongemälde, reich an 
myſteriöſen Gegenjäben durch Tieblichjten romantischen Ausdruck und unbeildrohende 
Kraft unter Anwendung glängender, gewaltiger Oxchejtermittel. 

Dies Alles gilt freilich nur vom rein-mufttalifchen, nicht vom dramatiſch-muſi— 
faliichen Standpunkte. Dramatiſch und bühnengerecht tritt die Muſik nur in ver- 
einzelten Stellen auf. Aber es bleibt der Bewunderung genug übrig, wenn man 
erwägt, wie Schumann, der den Brettern gänzlich fremd war, von diefem ihm un— 
befannten Zerrain herab durch den reinften Ausdrud feiner jympathifchen, tief 
empfundenen Muſik die Zuhörer bewegen konnte. Diele Feinheiten, hier vorzugs— 
weiſe dem Orchefter zuertheilt, da8 durchgängig von jymphonifcher Nobleffe zeugt, 
durchziehen die Partitur in mannigfachſter Weiſe. Es find dies aber zugleich jo 
feine feelifche Züge — und bier vächt fich der lyriſch-epiſche Stoff —, daß fie in 
dem Rahmen eines großen Opernhaufes als allzu jubtil gegliederte Filigranarbeit 
fih äußerft unfcheinbar ausnehmen. Selbjt die Ouvertüre, ein längft unangezweifeltes 
hohes Kunſtwerk des Meifters, fchien mir aus diefem Grunde, aus dem tiefen 
Drchefterraume des Opernhaufes heraufflingend, von dem vornehm geijtreichen Ein« 
drud, den fie auf mich im Goncertfaal ftets machte, einzubüßen, obgleich ich nicht 
umhin fann, die Ausführung derjelben ala vollendet zu bezeichnen. Nicht erklärlich, 
ja auffällig ift mir die Abficht Schumann’s (und eine Abficht muß man einem jo 
echt Fünjtlerifch eriwägenden Gomponiften ſtets unterlegen), warum er dem an und 
für fich ſchönen und weihevollen Eingangächor „Erhebet Herz und Hände 
voll Andacht Himmelan“, der unter allem Schaugepränge des Katholicismus, 
unter dem Flackern geweihter Kerzen, Angefichts eine fegnenden Biſchoſs und im 
Beilein von Prieftern, Mönchen und Miniftvanten gefungen wird, eine decidirt 
protejtantifche Färbung verliehen hat. Man glaubt, einen frommen Einfegnungs- 
Choral zu Hören. Daß Schumann diefen katholiſch-pſalmodiſchen Ton äußerft 
prägnant treffen Fonnte, hat er evident andertweitig bekundet. 

Sämmtliche Darjteller waren fihtbar von ihren keineswegs leichten Aufgaben 
erfüllt und legten ein ſchönes Zeugniß ab, wie hoch auch ihnen, die dem Componiſten 
aus mehr als einem Grunde ferner jtehen, die Bedeutung Schumann’3 gilt. Jch nenne 
beionders: Fr. Mallinger (Genoveva), Frl. Brandt (Margarethe), Hrn. Ernit 
(Solo) und Hrn. Bet (Siegfried). Auch die fleineren Partien waren durch erite 
Kräfte beſetzt. Das Orcheſter unter Eckert's Leitung leiftete durchweg Ruhmmwür- 
diges. Erfreulich war die lebhafte Theilnahme von Seiten des höchſt diftinguinten 
Tublicums, jo daß die Repertoirefähigfeit des Werkes als gefichert anzufehen ift. 


Nicht weniger ala für die Vorführung der „Genoveva” find wir der General- 
Intendanz zu Dank verpflichtet für die Infcenirung von Byron's „Manfred“, jener 
hoch bewunderten und vielfach angefochtenen Schöpfung, die auf Schumann’s tief 
finnende Natur jo mächtige Anziehungskraft ausübte, daß er in der bejten Zeit 
feines Schaffens feine Lünftlerifche Stärke daran erprobte. Er joll die Compofition 
unmittelbar nach der „Genoveva” in Angriff genommen und jchnell vollendet haben. 

In feinem Werke Schumann’s, jei e8 aus der früheren oder jpäteren Epoche, 
wirbeln verborgene Leidenjchaiten unheildrohender in fcharf gezeichneten Umriffen auf, 
als in diefer Muſik; Leidenfchaiten, die im Aufgebot gewaltiger Orxchejterftürme fich, 
finjteren Gewalten gleich, auf Leben und Tod bekämpfen, biß endlich der Tod, den 
heiß erjehnten fyrieden bringend, Sieger wird. Die Ouvertüre, das Spiegelbild von 
Manfred’S innerer Zerrifjenheit, gibt Hunde, daß diefer Tod nicht jo leicht erfämpit; 
ununterbrochene® Ringen nah unmöglichem Willen, nach Vergeſſen einer unaus— 
geiprochenen Schuld bezeichnet den troftlofen Pfad, der unter unjäglichen Geelen- 
Ihmerzen zum Ziele führt. Solche Motive durchziehen das große Einleitungswerk in 
der faßlichen Form einer Ouvertüre, die ein Wunderwerk harmonifcher Architektonit 
und unvergleichlicher Anftrumentation ift. Die Sprache der einzelnen Inſtrumente 
in diefen, durch den Wechjel Hejtigfter Empfindungen ungeftüm aufgewühlten Tone 


Berliner Chronif. 319 


maffen ift eine überrafchend neue, kühne und doch jo verftändliche, weil fie jo über- 
zeugend wirkt. Man höre die Bratjche mit ihrer unheimlich nagenden Figur, die 
Bäffe in ihren unfteten rhythmiſchen Rückungen, die ehernen Schidjaläfprüche in den 
lang ausgehaltenen Accorden der Blechinftrumente,; man vernehme das ganze auf- 
gewühlte Tonmeer in feiner untiderjtehlich anziehenden und das Herz mächtig erſchüt— 
ternden Sprache, um fich Elar zu werden, daß Schumann in diefer Ouvertüre eine 
Vollendung feiner Künftlerfchaft erreicht hat, wie in verwandten Gompofitionen nur 
Beethoven. 


Das Nuftreten der von Manfred citirten Geifter veranlaßte Schumann, die drei 
eriten Mufilnummern des erjten Actes, den „Gejang der Geifter”, „Erfcheinung eines 
Zauberbildes", ein Eurzes, überaus anmuthiges Stüd, und den Schauer erweckenden 
„Beifterbannfluch” zu componiren. Diefer Act, dem am wenigften Muſik zugeiallen, 
Ichließt nach allen wilden Ausbrüchen Manfred’ mit der fympathifchen Melodie der 
Hirtenfchalmei in wohlthuend beruhigender Weile. Aus dem zweiten Acte nenne ich 
die melodifch-graciöfe Zwilchenactsmufit, den mit aller orcheftralen Pracht ausgeftat- 
teten Geifterchor und die „Beſchwörung der Aftarte”, eine melodbramatifche Compofition, 
welche rührende, Holdfelige Töne anjchlägt und als eine der echteften Perlen Schu— 
mann’scher Muſe und deren meifterlicher Charakteriftif anzuführen ift. Befänftigend, 
wie mit Balfam für wunde Herzen, fchließt das Schaufpiel mit dem don Schumann 
der Dichtung Hinzugefügten „Requiem aeternam“, da8 in feiner ernft= und zugleich 
mildtönenden Melodif und feinem Eunftvollen Bau als Doppel-Canon einen verjöhnend 
Ihönen Ausgang bildet. Aeußerſt finnreich und compofitorifch genial nehmen die 
Schlußaccorde des Gefanges, endliche Heilung verfündend, noch einmal das tief er— 
greifende Motiv der Aſtarte auf, das bei ihrer Beichtwörung und dem Ausruf: „Man 
fred! Lebe wohl!“ fo unwiderſtehlich anzieht und das ala Hauptgedanke die 
Duvertüre durchpufft. 

Das Publicum, mit der Muſik aus einzelnen Concerten jchon einigermaßen ver- 
traut, zeigte fich für die dargebotene foftbare Gabe äußerſt dankbar und verfolgte 
jede einzelne Nummer mit fichtlicher Spannung und gejteigertem Intereſſe bis zum 
jpäten Schluffe. Große Anerkennung gebührt dem Gapellmeifter Radede, der das 
Schwierige Werk in durchweg Schumann’fchem Geifte Teitete. 

Die Königliche Oper hat fich num ihrer Schuld entledigt, indem fie die beiden 
für die Bühne berechneten Werke unferes großen deutjchen Meifters in der würdigſten 
Geftalt vorführte; nun fehlen ung noch zwei firchliche Compofitionen, die wir bean— 
Ipruchen können, die Mejje und da® Requiem. An Herrn Prof. Stockhauſen, 
als an den berufeniten Interpreten, ergeht die Mahnung, fich dieſer eigenartigen 
Gompofitionen zu bemächtigen! 

Unfer Bericht über die mufifalifchen Ereigniffe der Opernfaifon würde unvoll« 
ftändig fein, wollten wir des Sternes nicht Erwähnung thun, welcher fich über dem 
unſcheinbaren Mufentempel von Kroll erhob, um ſchließlich ganz Berlin mit feinem 
Glanze zu erfüllen. Wie einſt Lifzt und Jenny Lind ihren Weltruhm in Berlin be— 
gründeten, fo wird auch Frl. Etelka Gerjter, die meungehnjährige Ungarin, 
Schülerin der Frau Marchefi, von hier den Anfang ihrer Triumphe datiren müffen. 
Sie fam mit der italienischen Operngefellichaft im Februar ala eine gänzlich Unbe— 
fannte zu und, und fie verließ uns im April als eine gefeierte Sängerin erjten Ranges. 
Sie wird die Erinnerung an Berlin ſtets in danfbarem Herzen bewahren; aber auch 
wir müffen ihre für ungewöhnliche Kunftgenüffe dankbar fein. Was die jugendliche, 
durch Anmuth und Beicheidenheit gleich auögezeichnete Künftlerin bot, was fie mit 
vielleicht nie zuvor wahrgenommener Leichtigkeit uns entgegentrug, war geradezu be= 
wunderungswirdig. Spielend gelingen ihr die fchwierigiten Aufgaben ihrer Kunſt; 
gleichviel ob diatonifche oder chromatilche Scalen, ob fie auf», ob fie abwärts geben. 
Wol jelten Hat eine jo junge Sängerin bei ihrem erjten Auftreten dem Hörer jenes 
Gefühl der Sicherheit mitgetheilt, welches das Attribut des abfoluten Könnens ift. 


320 Deutjche Rundſchau. 


Wenn Etwas die Betrachtung einer jo tadellofen, überaus glänzenden Leiſtung zu 
ftören bermöchte, jo wäre es dad Bedauern, daß ein jo reiches Talent ſich ausſchließ— 
lich der italienifchen Oper, und zwar der muſikaliſch am Leichteften wiegenden Gat« 
tung derjelben zugewandt hat. — 

Halten wir nun auf dem Gebiete ber Goncerte Rundichau, jo Haben wir mit 
einer Aufführung des Bach-Vereins zu beginnen, welche unter Leitung feines 
gegenwärtigen Dirigenten, des Heren Prof. Bargiel, am 9. Januar in der Sing- 
akademie ſtattfand. 

Der Berein, vor mehr als zwanzig Jahren durh G. Vierling in's Leben 
gerufen, verfolgte den Zweck, denjenigen Werken Seb. Bach's, die damals noch 
weniger gefannt waren, in Berlin einen feiteren Boden zu gewinnen. Er ftudirte 
diefe und verwandte Werke forgfältig ein und legte in feinen Aufführungen ein rüb- 
mendes Zeugniß feines echten Streben? ab. Aber, merkwürdig genug, troß der 
foliden und reinjten Baſis proßperirte der Verein bis in die jüngjte Zeit hinein nur 
wenig. Die Theilnahme, die er fand, knüpfte fich mehr an den jeweiligen Dirigenten, 
als daß fie fich der Sache ſelbſt zuwendete. Da die Mitgliederzahl eine nicht be» 
deutende, und ihre Yeiftungsfähigfeit bisweilen wol in frage geftellt jein mag, jo 
hat der Dirigent, wenn eine Aufführung in Sicht genommen, nicht geringe Roth; 
und es wäre, unter ſolchen Umftänden, nicht zu verwundern, wenn, Angeſichts des 
fejteren Bejtandes der beiden großen Gefangvereine Berlin’3, dem Dirigenten bes 
Bach: Vereins endlich die Laune verginge. Die in Rede ftehende Aufführung jedoch 
zeigte Nichts davon; fie Hatte ihren Schwerpunkt in der Mitwirkung der Frau Glara 
Schumann, die nach längerer Abwejenheit von hier mit regenerirter Kraft inneren 
und äußeren Ausdruds das G-dur-Goncert Beethoven’8 bewunderungswürbdig 
jpielte. Die übrigen Nummern beftanden aus einer Gantate und Arie von Bach, 
ber eine Novität, der 13. Palm für Chor und Orchefter von Bargiel, vorausging. 

Wie alle Gompofitionen des feinfühligen Tondichterd den Stempel eines gediegenen 
Wiſſens an fich tragen, eines Wiſſens, dem die Berflechtungen eine complicirten 
Gontrapunfts nichts Fremdes find, To jchreitet auch diefer Pjalm auf dem Kothurn 
eined ftrengen Sabgefüges einher. Es iſt eine durchweg anerfennenswürdige, künſt— 
leriſch werthvolle Arbeit, im Ausdruck wahr und voll tröftlicher Hoffnung, die Har- 
monik ungefucht, die Melodik Klar, fließend und faßlich. Aber ob mit allen diejen 
Eigenschaften und Borzügen ein neuer Standpunkt gewonnen? Das Geleife diejer 
componirten Pjalmen ift nachgerade etwas auägetreten; der viel befahrene Weg geht 
faft nie über den üblichen Eingangschor, die etwas billige recitative Form, die fich 
allmälig aufthürmenden Fugen hinaus. So viele Schönheiten der Bargiel’iche Pfalm 
auch aufweift: einige geniale Mebertretungen des Hergebrachten würden doch Höchft 
annehmbar geweſen fein. Um nur Eins zu erwähnen, jo greife ich gleich den an 
und für fich jchön empfundenen Anfang des Pfalmes heraus. ine Chorjtimme be— 
ginnt etwa vier Tacte hindurch in langſamem Tempo mit den Worten „Herr, wie 
lange willft du meiner jo gar vergeſſen“. Kaum ijt das lebte Wort verflungen, jo 
erräth der auf Gontrapunft einigermaßen geübte Zuhörer bereit3 die Abficht des 
Gomponiften, daß jede der übrigen Stimmen nad) und nach in behaglicher und be= 
quemer Breite, jede in ihrer Tonlage, „Herr, wie lange willft du meiner jo gar ver— 
geſſen“ nachfingen werde. Dies fichere Borausbeftimmen eines Zuhörer zeugt eben 
nicht für die Neuheit des ihm Gebotenen. Ich follte meinen, daß auch Compofitionen 
mit biblifchem Stoffe von neuen und eigenartigen Geſichtspunkten ausgehen könnten. 
Borzuziehen wäre freilich, man ließe die viel zerfungenen Pjalmen überhaupt ruhen. 

In der richtigen Erkenntniß diefer mißlichen Lage hat Vierling den früher 
ebenfalls Häufig gewandelten Weg verlaffen, um und mit einem umfangreichen 
Kunftwerle „Der Raub der Sabinerinnen“, Dichtung von Arthur Fitger, 
zu erfreuen. Das Tertbuch bekundet eine geſchickt adminijtrirende Hand, die dem 
Gomponijten jelbjt in den jpröderen Theilen des Gedichtes entgegentommt. Wenn auch 
einige Längen mit unterlaufen und, wie in der zu weit außsgejponnenen Duett-Scene 


Berliner Chronit. 321 


zwiſchen Annius und Claudia und in der bald darauffolgenden beobachtenden Poſition 
der Claudia, den Fluß einigermaßen beeinträchtigen, jo entſchädigen doch in reichen 
Maße die ungemein lebendig und im inne des jugendlichen Römerthums treffend 
geichilderten oder erfundenen Scenen und Intriguen, die dem Raube unmittelbar 
vorangehen. Berwunderlich ift e&, wie dem gebildeten und verägewandten Verfaſſer 
zwei ftörende Reime „Aug'“ — „Hauch“ und „Helden“ — „zerichellten* entjchlüpfen 
fonnten. 

Vierling, der mit diefem, einen Goncertabend ausfüllenden Op. 50, fo viel 
mir befannt, fein an Ausdehnung größtes Werk gejchaffen Hat, zeigt hier auf's Neue, 
daß die Höchite Kunft des Satzes nicht nur durch biblische Texte hervorgerufen werden 
fann. Wie kunftvoll und fpannend geitaltet fich gleich die Oxchefter-Einleitung, die 
auf einem bier überaus zutreffenden Basso ostinato, die unwandelbare, ftarre Unbeug— 
famkeit der Römer zeigend, einher jchreitet und zugleich in origineller Weife glorificirt! 
Es dürfte die Entſcheidung keine leichte ſein, wenn die Frage aufgeworfen würde, 
ob dem „Wagenrennen“, einem dahinbrauſenden, übermuthsvollen, ſchneidigen 
Doppelchor, oder dem „Ringtampi“, ebenfalls einem Doppelchor von wuchtiger 
Kraft der Vorzug gebühre. Obgleich die Worte zu diejen beiden Chören im erzählen- 
den Tone auftreten, jo hat der Componift, dem die mufikalifche Wirkung allein maß» 
gebend war, hier die einzig zuläffige Ausdrucksweiſe, die rückſichtslos dramatijche an— 
gewendet. Dieje Chöre bilden die Hauptzierden de8 ganzen Werkes. Der Schluß— 
hor des erjten Theile, den Raub jchildernd, überbietet fie nicht, obgleih in 
demjelben die Abſchiedsworte der Tortgejchleppten Sabinerinnen „Leb’ wohl, 
o Baterland!* durch ihre innige Erfaſſung tief bewegen. Der zweite Theil leidet 
namentlich in den Gologejängen, die wol Anziehendes bergen, indeſſen nicht auf 
der glänzenden Höhe der Chöre ftehen, durch zu breites Ausfpinnen, und ber 
Schlußchor bleibt in feiner etwas formalen Haltung Hinter den anderen des Werkes 
zurüd. Der Gomponijt leitete feine Schöpfung jelbft und erntete Anerkennung in 
reichfter Fülle. Der Stern’jche Gejangverein, die erfte Berliner Vereinskraft, leiſtete 
in den fchwierigen und anftrengenden Chören, wie man es ftet3 erwarten darf, Außer 
ordentliches, während die Symphonie-Gapelle in der Begleitung der Sologefänge zu« 
weilen einen etwas zu robuften Ton anjchlug; wo fie indefjen mit ganzer Kraft 
arbeiten konnte, war fie vollftändig gerüftet am Platze. — 

9. Krigar. 


Volkswirthfchaftliche Rundſchau. 


— — LS 


Die Steuerverhältniſſe im preußiſchen Staate. 


— — 


Das Gefühl von Mißbehagen und Unzufriedenheit, welches, hervorgerufen durch 
Urſachen verſchiedener Art, ſeit geraumer Zeit in vielen Schichten der Bevölkerung 
herrſcht, ſcheint noch immer nicht einer beſſeren Stimmung, einer größeren Zuverſicht 
auf Hebung der wirthſchaftlichen Uebelſtände Raum machen zu wollen. Die Induſtrie, 
welche nad) dem franzöfiichen Kriege einen gewaltigen Aufſchwung genommen, erſtrebt 
nach jähem Sturz vergeblich wieder regelmäßigen, fruchtbringenden Betrieb, Gewerbe, 
die noch vor Kurzem zahllojen Arbeitern reichlichen Verdienit gewährten, müſſen von 
Tag zu Tag, den Umſatz ihres Gejchäftes einfchränfend, die Löhne jchrittweife herab— 
jegen. Die in der arbeitenden Glaffe wachjende focialiftiiche Richtung ift ein Merk— 
mal ungefunder, Heilungsbedürftiger Zuftände. Der Aderbau krankt fortdauernd in 
Folge der Kohnanjchwellung der legten Jahre ; die Arbeiter, welche den hohen Löhnen 
der Fabrikplätze nachgegangen, finden nicht fo leicht den Rückweg zu der ungewohnt 
gewordenen ländlichen Thätigfeit. 

Bemerkenswerth ift dabei, daß, wenn auch die gewerbliche und aderbautreibende 
Bevölkerung ſich an taufend Stellen über mangelnden Fortichritt ihres wirthichait- 
lichen Gedeihens bejchwert, gleichwol der Nationalwohljtand im Ganzen fi) une 
verfennbar auf einer Höhe befindet, auf welcher er jeit Jahrhunderten in Deutichland 
nicht mehr geftanden hat. Allenthalben find die Sparcafjen, jowie die Volksbanken 
gefüllt mit dem angejammelten Vermögen Kleiner Leute; die arbeitenden Glaffen 
erfreuen fich einer Lebenshaltung, die erheblich gegen die in früheren Jahrzehnten 
erreichbare abfticht. Unter den Induftriellen und Gapitaliften haben Manche ſchweren 
Verluſt erlitten, Manche find gänzlicg zu Grunde gegangen; im Allgemeinen aber 
iſt breitere Wohlhabenheit, größerer Reihthum vorhanden ala zu irgend einer früheren 
Zeit. Das lebhafte Intereſſe an dem Kunſthandwerk, dad Ausſchmücken unferer 
Wohnungen und anderer dem Bedürfniffe dienenden Dinge mit den Erzeugnifien 
fünftlerifcher Thätigkeit aller Art find Zeichen einer verfeinerten Cultur, die ein 
veichliches Maß äußerer Mittel zur erften Vorausfegung Hat. 

Die Duelle des Mikbehagens fann daher nicht in einem abjoluten Mangel an 
äußeren Gütern gefucht werden; vielmehr geht die Entjtehung deffelben auf eine 
Anzahl anderer Umftände zurüd, welche die verjchiedenen Claſſen der Bevölkerung 
in verjchiedenartiger Weile bedrüden und das durch die Menge der vorhandenen 
materiellen und intellectuellen Kräfte exbeichterte wirthichaftliche Emporblühen ein- 
ſchränken und behindern. 

Unter diefen Umftänden übt die gegenwärtige VBertheilung der von Reich, Staat, 
Gemeinde und Kirche erhobenen Abgaben nicht gerade den Heinften Einfluß aus. 
Wer die Parlamentsverhandlungen dieſes Jahres verfolgt hat, weiß e&, wie oft der 


Volkswirthſchaftliche Rundſchau. 323 


Ruf nach Steuerreform erklungen iſt; der jetzige Reichstag iſt durch die Steigerung 
der Matricularbeiträge erregt worden; nichts ift wahrjcheinlicher, ala daß in Eurzer 
Frijt die Steuerreform geradezu die brennende Frage unferes politifchen Lebens werden 
wird. Denn die Vertheilung der Steuern nimmt bei den ſtets wachlenden Ansprüchen 
de modernen Gulturftaates für den wirthichaftlichen Zuftand des Landes eine täglich 
gefteigerte Bedeutung an. Die blutig errungene Einheit des Vaterlandes zu bewahren, 
erfcheint fein Opfer zu groß; aber auch in der inneren Verwaltung treten fortdauernd 
vermehrte Anforderungen auf, denen offen zu widerjprechen ein Gebildeter kaum mehr 
wagt. Waflerleitung, Ganalifation, Beleuchtungs- und Babdeanjtalten werden in 
großen Städten als jelbjtverjtändliche Dinge begehrt und bewilligt; Schulgebäude, 
die allen Anforderungen der Gejundheitäpflege entfprechen, jollen im kleinſten Ge— 
birgadorfe geichaffen werden; Lehrer, Beamte und Geiftliche, die vor wenigen Jahren 
faum den fümmerlichjten Lebensunterhalt genofjen, follen, allen wirthichaftlichen 
Sorgen entrüdt, ein freie8 und würdiges Dafein führen. Je mehr alle diefe An- 
fprüche fteigen, deſto lebhafter wird der Wunſch, daß die fich mehrenden Laften in 
einer gerechten, der Leiftungsfähigfeit de3 Einzelnen entjprechenden Art und Weiſfe 
Vertheilung finden; daß Niemand zu einer Leiftung gezwungen werde, die dad Maß 
feiner Fähigkeit überjchreitet. 

Da die Mehrzahl der Staatsangehörigen nur den nothwendigſten Lebensunterhalt 
zu erringen im Stande ift und verhältnigmäßig wenig zu den öffentlichen Laſten 
beitragen kann, jo muß der Staat, um die für feine Zwede erforderlichen Mittel zu 
erlangen, die zu höherer Leiftung -Befähigten zu größeren Abgaben anhalten. Nur 
innerhalb des Staates vermag der Einzelne die höchſte feinen Anlagen ent= 
fprechende Entwidelung zu finden; für Alle ift daher das Vorhandenſein des Staates 
grumdjäglich von gleicher Bedeutung, aber auch von gleicher Nothwendigkeit; und es 
erfcheint nur gerecht, von jedem Staatsbürger jede Leijtung, zu der er befähigt und 
die im Intereſſe des Staates nothiwendig ift, zu verlangen. Auf glei Befähigte 
follen die Laften zu gleichen Theilen gelegt, unter ungleich Befähigte in gerechter 
Abjtufung im Berhältniß zu der größeren oder geringeren Leiſtungsfähigkeit vertheilt 
werden. Die unendliche Mannigfaltigkeit der perjönlichen Berhältniffe macht freilich 
die Vertheilung nach diefen Grundjäßen zu einer ungemein jchwierigen Aufgabe; 
denn die Leiftungsfähigkeit ift nicht nur zu bemefjen nach dem Geldbetrage des jähr- 
lichen Eintommens, jondern auch nach den Quellen, welchen diejes Einkommen ent- 
ſpringt und nach den individuellen Berhältniffen des Einkommensbeſitzers jelbit. 
Immerhin muß es der fefte Zielpunkt eines gerechten Steuerſyſtems fein und bleiben, 
bei Bertheilung der öffentlichen Laſten Lediglich den Maßſtab perfönlicher Leiftungs- 
fähigkeit anzulegen. 

Während der letten zehn Jahre haben fich politiiche und wirthichaftliche Um— 
wälzungen größter Art vollzogen, die Steuergefeggebung ift dagegen im Wefentlichen 
ftehen geblieben: fan es Wunder nehmen, daß fich bei Verfchiebung fo vieler für 
die Steuerverhältniffe wichtiger Verhältniffe mannigfaltige Ungleichheiten und Un— 
gerechtigkeiten ausgebildet haben, welche große Theile der Bevölkerung in drüdender 
Weiſe beläftigen und in ihrem wirthichaftlichen Fortichreiten hemmen ? 


I. 


In Preußen wird unter dem Namen der Glajjenfteuer und der claffi- 
ficirten Einlommenfteuer von dem jährlichen Einkommen einer jeden Haus— 
haltung eine Abgabe in der Art erhoben, daß ein höheres Einkommen einen ent— 
Iprechenden höheren Steuerbetrag zu zahlen Hat; nur bejchräntt kommt auch der 
Grundjaß zur Anwendung, daß ein höheres Einkommen zu einem größeren Steuer 
ſatze heranzuziehen ift, al3 dem zahlenmäßigen Mehrbetrag des Einkommens entiprechen 
würde. Während nämlich ein Einfommen von 420 Mark nur 0,55 Procent feines 
Geſammtbetrages als Steuer abzugeben hat, muß 3. B. ein folches von 1501 Marf 


324 Deutſche Rundſchau. 


2 Procent und ein Einkommen von 3000 Mark 2,4 Procent als Steuerſatz auf ſich 
nehmen; die höheren Einkommensbeträge ſind dagegen ſämmtlich dem gleichmäßigen 
Steuerſatz von 3 Procent unterworfen. Nun iſt es aber deutlich, daß gerade bei 
den kleineren Einkommensbeträgen die Leiſtungsfähigkeit von Stufe zu Stufe nicht 
in dem Maße wächſt, um die angegebene Progreſſion des Steuerſatzes zu recht— 
fertigen. Gin Einkommen von 2000 bis 3000 Mark gewährt einem Hausſtand 
immer nur die Mittel zu ganz eingeſchränkter Wirthichaftsführung ; größte Sparjam- 
feit ift unbedingtes Erforderniß; breiterer Lebensgenuß ift ganz unmöglich, ſelbſt für 
Unterricht und Erziehung fann nur das Nothdürftigite gewährt werden. Die Er- 
übrigung von baarem Gelde für Zwede, die außerhalb der nothwendigjten Lebens— 
bedürfniſſe liegen, ift unter ſolchen Ginfommensverhältniffen ſtets mit größerer oder 
geringerer Unbequemlichkeit verknüpft; in den Ginfommenäftufen von 420 bis 3000 
Mark kann die größere Leiſtungsſähigkeit der höheren Stufe durch individuelle Ver- 
hältniffe aufgehoben, ja in das Gegentheil verkehrt fein; ein unverheiratheter Arbeiter, 
der 500 Mark verdient, kann viel leichter 2 Procent feiner Einnahme auf Steuern 
verwenden als ein Arbeiter, der 1500 Marf verdient, hiervon aber eine Frau und 
ſechs Kinder ernähren muß. Es wird daher vielfach die Progreffion der Glafjenfteuerfäße 
als Härte empfunden, und in der That muß es als ein außerordentlich ſtarkes An- 
fteigen der Steuerjäße betrachtet iwerden, wenn das Durchichnittgeinfommen der erjten 
Stufe von 540 Mark 0,55 Procent, das der fiebenten Stufe von 1575 Mark un 
gefähr den vierfadhen Satz, nämlich 1,9 Procent, zu tragen hat. Die Anwendung 
geteigerter Steuerfäße ift eigentlich nur bei höheren Einkommensbeträgen zuläffig, 
die einem ganzen Hausftand ein breites und bequemes Auskommen gewähren, und 
auch für Lurusausgaben, fowie zur Erjparung von Theilen des Einkommens Raum 
bieten. Unter folchen Berhältniffen kann ohne Beichwerde eine größere Summe für 
Steuern verausgabt werden, ohne daß ein Glied des Hausſtandes hierunter zu 
leiden hätte. Die Möglichkeit wächſt in fortfchreitender Weile mit dem Steigen des 
Einkommens; immer mehr wird es zuläffig, die Leiftungsiähigkeit ausſchließlich nach 
dem Jahreseinkommen ohne Nüdficht auf individuelle WVerhältniffe zu bemefjen. Bei 
Einfommenäbeträgen von 5000, 10,000, 20,000 Mark und höheren Summen können 
allerhand erichwerende perjönliche VBerhältnifje vorhanden jein, ohne daß die Belaftung 
des höheren Einfommens mit einem gejteigerten Steuerfat fich zu einer empfindlichen 
Härte zu gejtalten braudt. 

Die Perſonalſteuer des preußifchen Staates fucht alfo die gefteigerte Steuer- 
fähigkeit bei folchen Individuen, welche im Verhältniß zu ihrer höheren Einnahme 
entweder gar feine oder doch nur eine ſehr unerheblich gefteigerte Leiſtungsfähigkeit 
befigen. Diejenigen dagegen, welche recht wohl einen progreſſiv gefteigerten Steuerjaß 
tragen fönnten, bleiben auf einem mäßigen Steuerfuße ftehen, jelbft wenn fich bie 
Ginfommenäbeträge zu einer ganz außerordentlichen Höhe erheben. 

Das Schlimmite aber ift, daß die höheren Einkommen fi viel mehr ala die 
niederen der Ginjchäßung zur gejeglichen Steuerftufe zu entziehen wiſſen und daher 
thatjächlich einen viel geringeren Gteuerfaß zu tragen haben, als fie nad) den vor 
gefchriebenen Steuerftufen auf fich zu nehmen hätten. 

Was ein Tagelöhner, ein Dienftbote verdient, läßt fi mit annähernder Sicher- 
beit feſtſtellen; was der Eleine Bauer auf dem der zieht, wie viel Vieh er im 
Stalle oder auf den Wiejen hat, das find Dinge, die fich nicht verbergen laſſen. 
Auch der Erlös eines kleineren Gewerbes und Gejchäftes findet bei den Nachbarn 
meift eine zutreffende Schäßung. Bei dem größeren Einfommen jchwindet dagegen 
die Möglichkeit richtiger Beurtheilung mit dem Anwachien der Einnahme in fort 
jchreitender Weife. Die heutige Entwidlung des Verkehrs gibt einem Jeden die 
Möglichkeit, über große Vermögensobjecte zu verfügen, diejelben umzuſetzen und nutz- 
bar zu verwerthen, ohne daß an dem MWohnorte des Steuerpflichtigen irgend Jemand 
den mindeften Einblid in die Vermögensverhältnifje des reichen Mannes nehmen und 
dag Einkommen defjelben richtig ſchäthzen könnte. 


Vollswirthſchaftliche Rundſchau. 995 


Auch der Aufwand, den der Einzelne treibt, kann bei höheren Einfommensbeträgen 
nur in beichränfter Weife einen Maßſtab für den Umfang des Vermögens abgeben; 
je größer ein Einkommen iſt, dejto berechtigter ijt die Annahme, daß es gar nicht 
volljtändig zum Aufwand gebraucht wird. Es ift möglich, koſtſpielige Luxusausgaben 
zu machen, die in der Deffentlichkeit wenig bemerkt werden; es ijt ebenfo möglich, 
bon einem großen Einkommen erhebliche Beträge zu jparen, ohne daß fich dies dei 
Auge eines Fremden zu zeigen braucht, Leicht läßt fich erkennen, ob der Verbrauch 
einer Haushaltung zwilchen 2000 und 3000 Mark ſchwankt; viel fchwieriger ift es 
zu beurtheilen,, ob fich die jährlichen Ausgaben auf 20,000 oder 30,000 Mark be- 
laufen. Insbeſondere find ed die Gapitalvermögen, welche jehr leicht verborgen 
werden können umd fich einer richtigen Einſchätzung zu entziehen pflegen. Oft kommt 
der Fall vor, daß Gapitalijten ausftehende Forderungen kündigen, wenn der Schuldner 
Miene macht, behufs Offenlegung der eigenen VBermögensverhältniffe die Zingquittungen 
des Gläubigerd der Steuerbehörde vorzuzeigen und jomit deſſen VBermögenäbejtand 
au verrathen. 

Nicht unerheblich zu der niedrigen Veranlagung der wohlhabenden Glafjen trägt 
endlich der Umftand bei, daß diefelben vorzugsweiſe die Mitglieder der Einſchätzungs— 
Commiſſionen jtellen, und jomit in der Lage find, jehr wirkſam einer höheren Ein- 
Ihägung der größeren Ginfommensbeträge entgegenzuarbeiten. Es ilt bei den 
höheren Einkommensſtufen äußerft zweifelhaft, in wie vielen Fällen der gejehliche 
Steueriuß wirklich bezahlt wird; je mehr das Einkommen wächſt, deſto mehr bleibt 
der Steuerbetrag Hinter dem gejelichen Steuerſatz zurüd; ftatt alſo bei gefteigerter 
Leiltungsfähigkeit einen progreſſiv gefteigerten Steuerfag zu nehmen, jtellt gerade 
umgelehrt unfere Einkommenſteuer thatjähli jene Anforderung bei abnehmender 
Leiſtungsfähigkeit. 

Die ärmeren Claſſen tragen aber nicht nur verhältnißmäßig ſehr viel mehr als 
die wohlhabenderen zu den Perſonalſteuern bei, ſondern ſie ſind beſonders in den 
beiden unterſten Stufen, welche die Einkommen von 420 bis 660 und von 660 bis 
900 Mark umfaſſen, mit einem ihre Leiſtungsfähigkeit weit überſteigenden Steuerſatz 
belaſtet und können denfelben nur theilweiſe wirklich aufbringen. Im Jahre 1875 
waren im Ganzen 4,450,906 Perfonen in den zwölf Stufen der Glaffeniteuer ver— 
anlagt, von denen 403,456 wegen Nichtzahlung der Steuer erecutorifch verfolgt 
werden mußten; bei 161,531 Steuerpflichtigen Hatte die Zwangsvolljtrefung gar 
feinen Erfolg. Von allen Erecutionen überhaupt entfielen nun 59,32 Procent auf 
die in der erjten Stufe und 83,42 Procent auf die in der erjten und zweiten Stufe 
veranlagten Perjonen; von den fruchtlofen Erecutionen entfielen auf die erſte Stufe 
jogar 76,8, auf die erfte und zweite Stufe zufammen 94 Procent, der Reſt vertheilte 
fih auf die übrigen zehn Stufen. Diefe Zahlen Iaffen Klar erkennen, daß Einkommen 
von weniger ala 900 Mark nur mit größter Anftrengung im Stande find, in 
baarem Gelde Abgaben zu Staatözweden zu machen, und daß felbjt der niebrige 
Steuerfag von 0,6. bis 0,75 Procent für ſolch geringe Einkommensbeträge eine 
drüdende Yaft bildet. 

Die mit den Perjonaliteuern des Staates verbundenen Härten machen fich aber 
aus dem Grunde in vervielfachter Weiſe geltend, weil alle Gommunalverbände zur 
Befriedigung der eigenen Bedürfniffe genöthigt find, fich mehr oder weniger eng an 
das jtaatliche Steuerjyftem anzufchließen. 

Die Provinzen haben ihre Umlagen auf die Land» und Stadtkreife nah Maß— 
gabe der in denjelben auflommenden directen Staatäjteuern zu vertheilen; in den 
einzelnen Kreiſen erfolgt die Aufbringung des auf fie entfallenden Antheilcs gleich 
den übrigen KHreid- und Gemeinde-Abgaben. Die Kreisumlagen dürfen nach feinem 
anderen Maßſtab ald nach dem Verhältniß der von den Kreisangehörigen zu ent» 
richtenden directen Staatzjteuern, ſowie der Schlacht: und Mahliteuer, und zwar nur 
durch Zufchläge zu denjelben vertheilt werden; die drei unterften Stufen der Claffen- 
fteuer können von den Zufchlägen ganz befreit bleiben oder doc zu einem niedrigeren 

Deutſche Rundſchau. III, 8. 22 


326 Deutiche Rundſchau. 


Procentfaß herangezogen werden. Die Ortögemeinden endlich find nicht nur befugt, 
zu den directen und indirecten Staatäfteuern Zufchläge zu erheben, jondern auch 
jelbftändige Gemeindefteuern einzuführen und Zufchläge zu den Staatäjteuern nad 
einem anderen Maßſtab, ala nach dem Berhältniß der Theilnahme an den Staats» 
jteuern, umzulegen. 

Die verjchiedenen Gemeindeverbände haben nun in den lebten Jahrzehnten von 
der ihnen gefeglich gewährten Befugniß den ausgiebigiten Gebrauch gemacht und in 
vielen Theilen der Monarchie die Zujchläge zu den directen Staatäjteuern, und zwar 
vor allen zu den Perjonalfteuern, auf eine ganz außerordentliche Höhe getrieben. 
Zuſchläge von 100 Procent bilden in den Städten und auf dem platten Lande das 
gewöhnliche Maß; Zufchläge von 200—300 Procent kommen fjehr häufig vor, und 
Zuſchläge von 400 bis 600 Procent find gar feine Seltenheit. In Gladbach 3. 2. 
betrug 1872 der Communalzujchlag zu einem Ginfommen von mehr ala 900 Mark 
261!,, Procent des Staatsſteuerſatzes; bei einem Einfommen von 3003 Mark ab- 
jorbirte die vom Staat und Gemeinde erhobene Berjonalfteuer jchon 10,83 Procent 
des gejfammten Einfommens. In Solingen mußten in demjelben Jahre bei einem 
Einfommen von mehr ala 900 Mark 493'/, Procent der Staatäfteuer al Zujchlag 
entrichtet werben; bei einem Einfommen von 900 bis 1050 Mark betrug der Steuer- 
ja 9,12 Procent des Einfommens, bei einem Einfommen von mehr ald 3000 Marf 
aber 13,56 Procent und unter Zurechnung der Kirchen-, Kreid- und Provinzial— 
bedürfnifje 16,31 Procent. In Dorp wurden in demjelben Jahre von einem Ein— 
fommen von mehr ala 1500 Mark 4331/, Procent zu den Staatsſteuern erhoben; 
bei einem Einfommen von mehr als 3000 Markt machte der Steuerbetrag jchon 
mehr ald 11,91 Procent des Geſammteinkommens aus. In Iſerlohn betrug der 
Communalzuſchlag 310 Procent der Staatäjteuer. 

Diefe wenigen Beifpiele mögen genügen, um eine Anjchauung von ben in 
unjeren Städten herrichenden Steuerverhältnifjen zu geben; auf dem platten Lande 
fieht es wenn möglich noch jchlimmer aus. In dem ojtrheiniichen Kreife Gummers— 
bach, welcher eine vorwiegend aderbautreibende Bevölkerung Hat und abjeits von 
den großen DVerkehräftraßen liegt, werben gegenwärtig durchichnittlich in allen Ge— 
meinden 265 Procent Zujchläge zu der Glaffen- und Einfommenjteuer des Staates 
erhoben. Ganz gleich find die Verhältniffe in den benachbarten Kreiſen. — Wenn 
ein großer Theil der zu den unterften Stufen veranlagten Perfonen jchon nicht im 
Stande ift, den vom Staate erhobenen Steuerjag zu tragen, jo fann er noch weniger 
den durch die Gemeinden vervielfachten Betrag dieſes Satzes aufbringen; beſonders 
in den Städten hat man die Erfahrung gemacht, daß mit dem Syſtem der Erhebung 
gleihmäßiger Zujchläge zu allen Steuerjtufen nicht auszulommen ift, und man bat 
angefangen, unter Erleichterung der ärmeren Glafjen die höheren Eintommensbeträge 
mit einem progrejfiv fteigenden Steuerfaß zu belegen. Dabei haben ſich, wie obige 
Beifpiele zeigen, vielfach freilich oft jchon für Keine Einkommensbeträge recht Hohe 
Steuerfäße ergeben. Der Staat wird indeß nicht umhin fönnen, den Gemeinden 
auf dem betretenen Wege zu folgen und auch die Glaffen- und Einfommenfteuer 
unter Entlaftung der unteren Stufen nach einem fteigenden Steuerſatz anzulegen. 
Unter der VBorausjegung, daß es möglich fein würde, dad Sollauflommen der directen 
Gemeindefteuern duch Zuwendung anderer Mittel überhaupt zu vermindern, ift viel« 
fach vorgejchlagen worden, die unterften Stufen der Glaffenfteuer ganz von Perfonal- 
abgaben frei zu laffen, die Einfommen von mäßigem Umfange mit einem gelinde 
anfteigenden Satze zu belaften und erſt bie größeren Einkommen einer jtärferen 
Progreifion des Steuerfage zu unterwerfen, einer Progreffion, die jelbitverjtändlich 
eine jefte Marimalgrenze haben muß und nicht zerrüttend in die bkonomiſche Selbit- 
ſtändigkeit und Fortentwicklung des Einzelnen eingreifen darf. Es findet freilich die 
Meinung noch immer Vertreter, daß kein Staatsbürger des ehrenvollen Vorrechtes 
beraubt werden dürfe, von feinem Einkommen mit einer Geldabgabe direct zu ben 
Staatölaften beizutragen ; daß auch der Staat das außgezeichnete Mittel nicht auf: 


Vollswirthſchaftliche Rundichau. 327 


geben bürfe, durch Erhebung directer Abgaben einem jeden Staatsangehörigen feine 
Verpflichtungen gegen die Gejammtheit recht greifbar vor Augen zu rüden. 

Auf jenes angenehme Vorrecht des Zahlens wird indefjen jeder Patriot gern 
verzichten, der zur Ausübung defjelben jeinen Rod vom Leibe zu verkaufen genöthigt 
it. Die Vertheilung ber öffentlichen Laften aber aus dem Grunde mit Bewußtfein 
nad ungerechten oder unbilligen Grundjäßen vorzunehmen, blos um den Gtaatä- 
angehörigen recht deutlich zu machen, daß fie der Geſammtheit gegenüber zu allen 
möglichen Dingen verpflichtet jeien — eine jolche Verquidung von politiicher Päda— 
gogit und finanzieller Ausbeutung muß als dilettantiihe Behandlung der Frage 
zurüdgetviefen werden. Der moderne Staat hat jo viele andere Mittel, um das 
politifche Pflichtbewußtiein zu weden, er macht von diefen Mitteln einen jo aus— 
giebigen Gebrauch, daß es wahrlich überflüffig erfcheint, in diefer Richtung noch 
durch ein verkehrte Steuerſyſtem wirken zu wollen. 

Eine Abweihung von den leitenden Principien unſeres Steuerſyſtems ift offen- 
bar gar nicht mit den als wünjchenswerth bezeichneten Aenderungen verbunden ; 
e& wird mit benjelben im Gegentheil nur eine entiprechendere Durchführung jener 
Prineipien bezwedt. Die progrejfive Steigerung der Steuerfäße, welche bisher aus— 
jchließlich bei dem unteren Eintommenftufen zur Anwendung kam, jollte jtatt deffen 
vorzugsweiſe bei den wohlhabenderen Glafjen Pla greifen, da gerade dieje Glafjen 
befähigt find, directe Abgaben in zunehmendem Maße zu tragen. Auch dem Grund- 
fat, daß die nur zum allernothdürftigften Unterhalt ausreichenden Einkommen fteuer« 
frei zu bleiben haben, wäre damit Rechnung getragen und zwar unter ausreichender 
Berüdfichtigung der ftarfen Entwerthung des Geldes. Die Unbeibringlichkeit jo 
großer Steuerfummen in den Einkommen unter 900 Mark gibt einen Fingerzeig 
zur Auffindung der Grenze, unterhalb welcher die Erhebung directer Abgaben unthun— 
fich ericheint. Man hätte mit der Veranlagung zur Perfonalfteuer vieleicht erſt bei 
einem Einkommen von 1000 Mark zu beginnen und zwar mit einem mäßigen Sabe 
von 1,5 Procent des Geſammteinkommens; in den folgenden Einkommensſtufen ift 
die Leiftungsfähigfeit nur wenig gejteigert; man fönnte bis zu einem Ginfommen 
von 5000 Mark mit einer mäßigen Progreifion fortjchreiten und erft bei den höheren 
Einlommensftufen den Principaljteuerjah von 3 Procent zu Grunde legen, der beim 
Wachſen des Einkommens eine bedeutendere Progreffion zu tragen im Stande wäre. 


1. 


Außer der Glafjen- und Einktommenfteuer erhebt der Staat noch andere directe 
Abgaben, welche neben und außer erfteren von dem Ertrage gewifler Eintommensarten 
gezahlt werden müſſen und daher eine doppelte Befteuerung derjelben bilden; es find 
die die Gewerbefteuern, jowie die Grund- und Gebäudefteuer. Am 
wenigjten gibt die Gewerbefteuer Anlaß zu Bejchwerden, da fie nicht jehr Hoch be= 
mefien ift und burchfchnittlich nach allgemeiner Schägung nur 2 Procent des wirk- 
lien Einfommens abjorbirt; ein Gewerbtreibender, der einfommenjteuerpflichtig ift, 
muß alfo im Ganzen 5 Procent feiner Einnahme für direrte Steuern abgeben, eine 
Laft, die um jo erträglicher ift, da zu der Gewerbefteuer von den Gemeindeverbänden 
nur wenig Zufchlagsprocente erhoben werben. 

Lebhaft find dagegen die Klagen, welche von den Gigenthümern von Liegen- 
ichaften wegen der übermäßigen Anfpannung der Grund» und Gebäubeftenern durch 
Staat und Gemeinde erhoben werden. Verſchiedene Umstände tragen dazu bei, daß 
die Belaftung der Immobiliarwerthe durch Steuern fich mit befonders drüdender Härte 
fühlbar macht. Zunächſt läßt fi der Ertrag auch von umfangreichen Gebäuden 
und Gütern mit größerer Sicherheit abjchägen, in Folge deſſen die aus demjelben 
hervorgehenden Einkommensbeträge verhältnigmäßig jehr viel richtiger und daher 
auch jehr viel höher ala die Erträge anderer Einkommensarten zu der Berfonalfteuer 
herangezogen zu werben pflegen. Der Betrag der Grundfteuer ift ferner durch Geſetz 

22* 


328 Deutihe Rundſchau. 


dauernd jejtgeftellt, der der Gebäudejteuer wenigſtens auf eine große Reihe von Jahren 
underänderlich normirt, und muß ohne Rüdficht auf Schwankungen im Ertrage, ja 
jogar ohne Rüdfiht auf Hypothefenzinjen, in jedem Jahre von dem Eigenthümer voll 
bezahlt werden. Abgefehen hiervon ift aber auch der Betrag diefer Steuergattungen 
an ſich ſehr Hoch, viel Höher 3. B. als der der Gewerbeiteuer. Mean nimmt an, 
daß gegenwärtig die Gebäudefteuer durchjchnittlich etwa 4 Procent des Ertrages eines 
Gebäudes beanjprucht, jo daß alſo ein Gebäudebefiter ungefähr 7 Procent feiner Ein— 
nahme mit Einjchluß der Einfommenjteuer an directen Abgaben dem Staate zu ent— 
richten bat. Die Grumdfteuer nahm dagegen nach einer durch den Director des 
ſtatiſtiſchen Büreaus im Jahre 1867 angeftellten Berechnung von dem wirklichen 
Ertrage eined Morgens Aderlandes durchjchnittlich in der ganzen Monarchie 4,606 
Procent, in der Rheinprovinz fogar 5,512 Procent in Anſpruch. Ein Grundbefiger 
in der Rheinprovinz hat alfo zuzüglich der Perfonalfteuer 8Y/, Procent feines ganzen 
Eintommend an directen Steuern zu zahlen. 

In den letzten zehn Jahren find indeß in der ganzen Monarchie und insbeſondere 
in der Rheinprovinz die Erträge der Landwirthichaft ganz bedeutend, vielfach um ein 
Fünftel, ja um ein Drittel, gefallen, und man geht daher mit der Annahme nicht 
fehl, daß in den meiften Bezirken dieſer Provinz die Grundfteuer allein durch— 
ſchnittlich 7 bis 8 Procent des wirklichen Ertrages von einem Morgen Aderland 
abjorbire. 

63 liegen mir die Nachweifungen über die Ertragd- und Steuerverhältnifie einer 
großen Anzahl Güter aus den Regierungsbezirken Göln und Düffeldorf vor, welche 
jene Annahme als durchaus richtig zu beftätigen geeignet find. Befibungen, welche 
vorzugsweiſe aus gutem Aderland beftehen, müfjen an den Staat in der Regel 7 bis 
10 Procent des wirklichen Ertrages an Grundjteuern entrichten; nur da, wo geringere 
Holzung dorwiegt, finft der Sa auf 4 bis 5 Procent des wirklichen Ertrages herab. 

Ein Gut, deffen Aecker 3000 Mark Ertrag abwerfen und deffen Wohnhaus einen 
Miethwerth von 300 Mark darftellt, Hat unter Annahme eines Grundſteuerſatzes von 
7 Procent an Grundfteuer 210 Mark, an Gebäudeſteuer 12 Mark und an Einfommen- 
fteuer 90 Mark, im Ganzen aljo 312 Mark oder 9,454 Procent des Gefammtertrages, 
an directen Steuern abzugeben, während 3. B. ein Gapitalift von gleihem Ein» 
fommen nur 90 Mark oder etwa 3 Procent zu entrichten hat. 

Man mag die Vorzüge des Grundbefites vor anderen Vermögenswerthen jo hoch 
ihäßen wie man will, man muß zugeben, daß eine folche Bejteuerung nicht nur der 
Belaftung anderer Einfommensarten gegenüber, fondern auch für fich betrachtet ganz 
außerordentlich hoch ift. Die Entnahme des zehnten Theile von einem jo geringen 
Ertrag wie 3300 Mark fchließt faſt mit Nothwendigkeit die Behinderung des wirth- 
ſchaftlichen Fortſchreitens in fich ein; wo aber der Fortſchritt aufhört, fängt in der 
Regel der wirthichaftliche Rüdgang an. Und dennoch macht — in der Rheinpropinz 
wenigjtend — die jtaatliche Steuer noch nicht den Haupttheil der auf Gebäuden und 
Grundjtüden ruhenden öffentlichen Laften aus; denn überall erheben die Gemeinden 
außer den Zufchlägen zu den Perfonalfteuern auch noch Zufchläge zu der ftaatlichen 
Grunde und Gebäudejteuer, und zwar zu einem Procentjage, der felten unter dem 
Betrage der Staatäfteuer bleibt, diejelbe vielmehr oft um das Doppelte und Drei- 
fache übertrifft. 

Erwähnt wurde fürzlich der Fall, daß ein Hausbeſitzer in einer rheiniſchen Stadt, 
der 7 Procent feines Häuferertrages an Staatsfteuern zu zahlen Hat, in folge eines 
Gommunaljteuerzufchlages von 500 Procent im Ganzen 42 Procent feines Jahres» 
einfommens an directen Steuern hergeben muß. Auf dem platten Lande ift gegen- 
wärtig in der Rheinprovinz die Erhebung communaler Zufchläge von 100 bis zu 
300 Procent zu der Grund und Gebäubdefteuer ebenfo wie zu der Perfonaliteuer eine 
ganz gewöhnliche Erſcheinung; Jo werden in dem obenerwähnten oftrheiniichen Sreife, 
außer 265 Procent Zujchlägen zu der Glaffen- und Einkommenſteuer, noch 229 Pro— 
cent Zujchläge zu der Grund» und ;Gebäudejteuer für Rechnung der Provinz, der 


Boltöwirthichaftliche Rundſchau. 329 


Civil» und Kirchengemeinden erhoben. Gleiche Verhältniffe walten in den umliegenden 
Kreifen ob. Die Gejammtbefteuerung eines Grundbefißer® mit einem Einkommen 
von 3300 Mark jtellt fich Hiernach folgender Maßen: zu der GStaatäfteuer von 
312 Mark werden an Zufchlägen zu der Einfommenjteuer 238,5 Mark, zu der Grund» 
jteuer 480,9 Mark, zur Gebäubefteuer 27,48 Mark, im Ganzen alfo 1058,88 Mark 
oder 32,087 Procent des gejammten Einkommens erhoben. Unter den obenerwähnten 
Gütern aus den NRegierungsbezirten Cöln und Düffeldorf find eine große Anzahl, 
welche einen derartigen Steuerfaß zu entrichten Haben; der Höchfte Hier vorfommende 
Gteuerjaß ift 37, der niedrigfte 11, der durchfchnittliche 18 Procent der Gefammt- 
einnahme. Die niedrigeren Stufen finden fich meift nur bei Gütern ganz jchlechter 
Qualität, deren Boden nicht Hoch claffificirt ift, vor Allem aber in ſolchen Gemein- 
den, welche eigene® Vermögen beiten und daher nur mäßige Steuern zu erheben 
brauchen. 

Gegenüber dem Berlangen der Grund: und Gebäudebefiter nach gänzlicher oder 
theilweifer Bejeitigung der bejonderen Ertragäfteuern wird wol behauptet, daß bie 
Grundfteuer eigentlich gar Feine öffentliche Steuer fei, ſondern den Charakter einer 
dem Staate zuftehenden Rente am Boden habe und daher feine Ungerechtigkeit gegen 
den Grundbefier einjchließe. 

Dieſe Anſchauung mag für andere Staaten zutreffend fein, für Preußen ift fie 
es gewiß nicht. Die preußifche Geſetzgebung kennt die Grundfteuer nur als Öffentliche 
Steuer, behält fich vor, diefelbe nach Bedürfniß zu erhöhen, und geftattet den Ge— 
meinden, die Grundjteuer in vervielfachtem Maßftabe zu erheben. Dies alles ift 
aber mit dem Charakter einer Rente völlig unvereinbar. Hätte die Grundfteuer ſchon 
jeit Jahrhunderten in derjelben Höhe im Staate beitanden, jo fünnte man zugeben, 
daß diejelbe für die Verhältniffe des Grundbeſitzes thatfächlich die Bedeutung einer 
Rente angenommen habe; dies ift aber durchaus nicht der Fall, da die Grundftener 
nach ihrer heutigen Gejtalt und ihrem gegenwärtigen Umfang ein Product der Gejeh- 
gebung der lebten Decennien iſt. Auf gänzliche Bejeitigung der Grund» und Gebäude- 
fteuer fann indeß feine Hoffnung gewährt werden; einmal werden die finanziellen 
Verhältniſſe eine ſolche Maßregel nicht ala ausführbar ericheinen Laffen, und zweitens 
haben die unbeweglichen Güter jo große Vorzüge vor allen anderen Vermögenswerthen, 
daß deren Inhaber wol als befähigt und verpflichtet gelten können, in verftärkter, 
freilich gerecht verjtärkter Weile zu den öffentlichen Laſten beizutragen. 

Immobilien find durch ihre Taft unzerftörbare Dauerhaftigkeit, ihren faft unver- 
lierbaren Nubungswerth die wünjchenswertheften Befigthümer; zu allen Zeiten haben 
fie als die Vermögensgegenftände gegolten, durch welche es allein möglich ift, die 
wirtbichaftliche Sicherheit einer Familie auf längere Dauer zu begründen. Grund— 
befi verleiht in den Augen des Volkes Anſehen der Perſon und ift auch noch heute viel- 
fah mit politifchen Rechten verbunden. Den vermehrten Nechten des Grunbbefites 
entipricht eine Steigerung der Pflichten; eine Forderung der Gerechtigkeit bleibt es 
aber, daß dieſe Steigerung in gewiffen Grenzen bleibt und nicht bis zu einer, das 
wirthichaftliche Fortlommen behindernden Höhe jchreitet. Mindeſtens fönnte verlangt 
werden, daß nicht die Communalverbände den Betrag der ftaatlihen Grundfteuer in 
willfürlicher Bervielfachung erheben. 

Die Reformen der directen Staatöfteuern können überhaupt nur dann zu einer 
gründlichen Heilung der vorhandenen Mißftände führen, wenn bei der Durchführung 
derjelben gleichzeitig darauf Bedacht genommen wird, die einfeitige und übermäßige 
Ausnutzung einzelner Steuergattungen durch die Gemeindeverbände vollftändig zu 
bejeitigen und die vorhandenen Steuerkräfte jo zwifchen Staat und Gemeinde zu 
vertheilen, daß jeder Verband die ihm obliegenden Aufgaben erfüllen kann, ohne 
einzelne Steuerpflichtige mit der ungerechteften Härte bedrüden zu müſſen. Es ift 
aljo die Aufgabe, die für öffentliche Zwede vorhandenen Einnahmequellen entiprechend 
der Zufchiebung der öffentlichen Laſten auf die engeren oder weiteren Verbände zu 
vertheilen. 


330 Deutſche Rundſchau. 


III. 


In einem großen Staate geht es aus hundert Gründen nicht an, alle Ausgaben 
Öffentlicher Natur durch ein einheitliches Budget laufen zu laſſen. Gegenſtände, 
welche blos für einen Eleineren Verband ein augfchließliches oder vorwiegendes Intereſſe 
haben, finden, ihrer Beitimmung entfprechend, ihre Erledigung auf dem Budget des 
Örtlichen Verbandes. Freilich bleibt es immer eine jchwierige Aufgabe, zu bejtimmen, 
ob diefe oder jene Angelegenheit für das Staatöganze oder nur für einen localen 
Verband von Bedeutung it. Bon ausfchließlichem Intereffe für einen engeren Bezirk 
find eigentlich nur die Gegenftände, welche einzig für gewiſſe wirthichaftliche Bedürfniffe 
eines bejchränften Gebietes zu dienen beftimmt find, wie Waflerleitungen, Beleuch— 
tungsanftalten u. j. w. Umgekehrt ift es nicht jchwierig, "diejenigen Gegenftände 
herauszufinden, welche, Loßgelöft von allem localen Intereffe, für das Gtaatöganze 
die allgemeinfte Bedeutung Haben; Niemand wird ein Bedenken dagegen finden, 
daß die Koften für Heer, Flotte und Diplomatie, die Ausgaben für die Eivillifte und 
die großen repräjentativen Körperfchaiten, die Mittel für die Organe der Rechtöpflege 
und der allgemeinen Verwaltung von dem Staate direct aufgebracht und verwandt 
werden. 

Zwiſchen diefen beiden Gruppen von Gegenftänden des allgemeinften und des 
beichränktejten Intereſſes gibt es aber eine Menge von Angelegenheiten — und fie 
bilden die überwiegende Mehrzahl der öffentlichen Intereſſen —, welche ſowol für 
einen localen Berband ala auch für den gefammten Staat von Bebeutung find, und 
bei denen bie Frage immer nicht ganz leicht zu beantworten ift, ob die entjtehenden 
Koften durch die größere oder durch die kleinere Gemeinde getragen werden follen ; ob 
e3 fich empfiehlt, eine Theilung der Laften vorzunehmen, und nach welchem Maßſtab 
diefe Theilung gemacht werden muß. Daß eine Gemeinde tüchtige Verwaltungs» 
beamte befigt, ift zumächit für fie jelbft im höchſten Maße wünfchenswerth, jedoch 
auch für den Staat von nicht geringerer Wichtigkeit. Denn ein fehr großer Theil 
der ftaatlichen Geſchäfte muß durch die Gemeindebeamten beforgt werden; jo beruht 
auf deren Mitwirkung die Erledigung des Erſatzgeſchäftes für das Heer, die Vor: 
bereitung der Wahlen zu den repräfentativen Körperfchaften, die Anfammlung von 
Material für die ftatiftiichen Erhebungen des Staates, die allgemeine Polizeiver- 
waltung und viele andere Dinge. Wenn gleichwol der Staat zur Bezahlung diefer 
Beamten nur ausnahmaweife wie bei Veranlagung der Staatzfteuern Beiträge gibt, 
jo Hat dies wol allein in äußeren Zwedmäßigfeitzrücfichten feinen Grund. Bei vielen 
anderen Gegenftänden gleich gemifchter Bedeutung leiftet der Staat enttweder erheb- 
liche Zuſchüſſe oder gibt auch ganz allein die erforderlichen Mittel her. Die Er- 
bauung von Schulen, Kirchen und fahrbaren Straßen kommt in erfter Linie den 
betreffenden Ortögemeinden zu Gute; ebenſo ift für diefe die Anftellung tüchtiger 
Lehrer und würdiger Geiftlicher zunächft von Vortheil. Dennoch gibt auch der Staat 
für alle diefe Zwecke beträchtliche Summen aus, denn auch für ihn haben alle dieje 
Dinge ein unmittelbare® Intereſſe. Zur Befoldung von Lehrern und Geiftlichen 
werden vom Staate jährlich große Zuſchüſſe geleiftet; der Bau von Schulen, Kirchen 
und Straßen wird durch Gewährung von ftaatlichen Beihilfen gefördert. Obwol 
aber die Gemeinden noch in vielen anderen Beziehungen fortdauernd durch jtaatliche 
Mittel unterftügt werden, jo mehren ſich troßdem, wie wir fahen, die Communal- 
jteuern allenthalben von Zag zu Tag umd drohen, befonderd in Folge der neueren 
Einrichtungen auf dem Gebiete der inneren Verwaltung, immer größeren Umfang 
anzunehmen. Zur Durchführung der Provinzial» und Sreisordnung, welche eine 
Anzahl Gegenjtände auf die GCommunalverbände übertragen haben, ift zwar eine 
Beihilfe in Form einer jtaatlichen Rente gewährt worden; diejelbe ift indeß zu klein 
und muß durch Gemeindefteuern ergänzt werden. In der Rheinprovinz find 3. B. 
in diefem Jahre 3 Millionen Mark für die laufenden Bedürfniffe der Provinzials 
verwaltung und 700,000 Mark zur Verzinfung und Tilgung des für Reorganifation 


Volkswirthſchaftliche Rundſchau. 331 


des Irrenweſens gemachten Anleihens von 10,500,000 Mark durch Steuern auf: 
gebracht worden. 

Eine Erhöhung der allgemeinen Verwaltungskoſten war unausbleiblich mit jenen 
neuen Einrichtungen verknüpft, weil die Provinzen zur Verwaltung des Straßennehes 
und der ihnen übertragenen Inſtitute fich genöthigt fahen, nicht num eine aus Berufs— 
beamten bejtehende Gentralbehörde einzurichten, jondern auch eine Anzahl Localbeamte 
anzuftellen, ohne daß die bisher mit diefen Verwaltungszweigen betraut gewelenen 
föniglichen Beamten in ihrer Zahl erheblich hätten vermindert werden können. Für 
die jtändifchen Beamten ift die Bewältigung der ihnen gejtellten Aufgabe aus dem 
Grunde jehr erichwert, daß ihre Gejchäfte fich auf ein ungemein erweitertes Terri— 
torium erftreden, und die provinziale Gentralbehörde außer den von ihr ernannten 
Bau- und Straßenbeamten keinerlei ihr unterftellte Verwaltungsorgane befitt, durch 
welche es ihr möglich wäre, mit den von ihr verwalteten Gebieten in näheren Zu- 
fammenhang zu treten; nur in Sandarmenjachen find Kreis- und Ortöbehörden ver: 
pflichtet, den Requifitionen der Provinzialbehörde Folge zu leiſten. Ob fich die 
Provinzen nicht beffer mit einer Erweiterung der Competenz des Landtages und der 
Errichtung eines aus Laien beftehenden Provinzialausfchuffes begnügt, die Erledigung 
der laufenden Verwaltungdarbeiten dagegen wie bisher den ftaatlichen Behörden über- 
laffen hätten, muß die Zufunft lehren. Mit der alljeitig gewünfchten Einführung 
der Selbftverwaltung in Provinz, Kreis und Gemeinde brauchte wenigſtens die Ein- 
rihtung eines aus Berufsbeamten beftehenden provinziellen Regierungskörpers nicht 
nothwendig verbunden zu fein. Unter Selbftverwaltung verfteht man bei uns die 
Verwaltung communaler Angelegenheiten durch Laien, welche dazu durch das perfön- 
liche Vertrauen der Bezirk3eingefeffenen berufen werden. Bei dem großen Umfange 
unjerer Provinzen aber und der dem entjprechenden Bedeutung der Verwaltungs— 
objecte muß die Verwaltung nothiwendig durch Berufsbeamte bejorgt werden, welche 
befanntlich nicht durch das Dertrauen der Bevölkerung berufen, jondern nad) Maß— 
gabe ihrer technischen Befähigung durch die höchſte Provinzialbehörde angeftellt 
werden. Die Einführung einer jo ausgebildeten Provinzialgemeindeverwaltung in 
den preußiichen Provinzen kann daher nicht zur Verftärkung des Princips der Selbt- 
verwaltung, fondern nur zur Belebung eines Provinzialparticulariamus führen, welcher 
in den älteren Provinzen des Staats glüdlicherweile bisher wenig Boden gehabt hat. 
Die Frage ift um jo wichtiger, da vorausfichtlich Körperfchaften von dem Umfange 
unferer Provinzen, einmal ausgejtattet mit weitgehenden Budgetrechten des Provinzial« 
landtages, geführt durch eine fejtorganifirte ftändifche Regierungsbehörde, oft Lebhaft 
zufammengehalten durch das Bewußtjein engerer Stammesverwwandtichaft, dahin jtreben 
werden und dahin ftreben müffen, das ihnen zugewiefene Gefchäftsgebiet zu erweitern, 
damit aber auch den Umfang der Provinzialabgaben zu vermehren. Der jüngfte von 
der Provinz Preußen ausgegangene Wunfch, e8 möge gejitattet werden, die Provinzial— 
dotation nicht nur für Straßenbau, fondern auch für Eifenbahnzwede zu verwenden, 
war ein Symptom de in jener Richtung gehenden Strebens. 

Trägt man aus politifchen Nüdfichten fein Bedenken gegen die zunehmende 
Bedeutung der großen Gemeinbeverbände, To bleibt es doch unter allen Umftänden 
ein Gebot der Nothwendigfeit, durch ſyſtematiſche Wertheilung aller Steuerfräfte auf 
Staat, Provinz, Kreis und Gemeinde Härten und Ungleichartigkeiten von der Ver— 
theilung der öffentlichen Laften nach Möglichkeit fernzuhalten. 

Für den Steuerzahler ala jolchen ift es ja völlig gleichgültig, ob der Staat oder 
die Gemeinde die Abgabe erhebt und verwendet; für ihn ift die Beſteuerung jtet eine 
Schmälerung des perfönlichen Vermögens für Öffentliche Zwede. Provinz, Kreis, 
Gemeinde find integrirende Beltandtheile de3 Staates; wollte man bdiejelben ala 
Privatgenoffenichaften losgelöft au dem Zufammenhang mit dem allgemeinen Staat3- 
intereffe betrachten, jo würde man weder die wahren Antereflen des Staates noch 
jene der Gemeinde zu tördern im Stande fein. Müſſen doch die Gemeinden viele 
ihrer Mittel direct für Staatäzwede verwenden, Nur wenn man alle öffentlichen 


332 Deutſche Rundſchau. 


Angelegenheiten aus dem Geſichtspunkte des allgemeinſten öffentlichen Intereſſes beur— 
theilt, wird man mit wirklichem Erfolg für das Wohl der kleineren wie der größeren 
Verbände arbeiten können. Die Steuerpolitik des Staates muß ſich daher in der 
Ausnützung der Steuerkräfte ſo einrichten, daß den Gemeindeverbänden Raum bleibt, 
daneben die für die eigenen Bedürfniſſe erforderlichen Mittel ohne übertriebene ẽr⸗ 
ſchöpfung einzelner Steuerquellen aufbringen zu können. 

Gegenwärtig ſind den Gemeinden nur ſolche Steuerarten zugewieſen, welche 
gleichzeitig auch vom Staate in Anſpruch genommen werden; daher kommt es, daß 
viele Perſonen jährlich den vierten, den dritten Theil, ja beinahe die Hälfte ihres Ein— 
kommens an directen Steuern hergeben müſſen; daß ſich die vom Staate für gewiſſe 
Einkommensarten angeordnete Doppelbeſteuerung, nämlich die Ertragsſteuer von 
Grundſtücken, Gebäuden und Gewerben, zu einer vier-, ſechs- und achtjachen Befteu- 
rung ein und befjelben Ginfommens gejtaltet. Der Staat erhebt an Grund- und 
Gebäudefteuern 56'/,, an Gewerbejteuern 18, an Glaflen- und Einkommensteuer 71'/,, 
an diverjen directen Steuern 4"/,, im Ganzen alfo 150%/, Millionen Mark an directen 
Steuern ; dagegen werden an Zöllen und indirecten Steuern für den Bedarf des 
Staates 30, für den des Reiches 180, im Ganzen alfo 210 Millionen Mark innerhalb 
der Grenzen der preußifchen Monarchie aujgebradt. Da nur noch wenige Stäbte 
indirecte Abgaben auflegen und die große Mafle der Gemeinden zur Befriedigung 
ihrer Bedürfniffe directe Steuern erhebt, welche fich eng an die jtaatlichen Steuern 
anjchließen und deren Betrag meiften® ganz bedeutend übertreffen, jo muß offenbar 
die große Mehrzahl der Steuerpflichtigen unverhältnigmäßig mehr zu den öffentlichen 
Laften auf directem als auf indirectem Wege beitragen und zwar in einem folchen 
Umfange, daß dadurch das wirthichaftliche Fortlommen vieler Berufs: und Erwerbs— 
zweige gehindert und gejtört wird. Eine Vermehrung der Einnahmen aus indirecten 
Abgaben ift daher ganz unabweisbares Bedürfniß. Allerdings fallen indirecte 
Steuern, wenn fie auf allgemein nothwendige Verbrauchagegenjtände gelegt werden, 
in erfter Linie ganz bejonders den ärmeren Glaflen zur Laſt; troßdem aber hat man 
nicht zu fürchten, daß diejelben bei der früher erörterten Erleichterung der directen 
durch eine angemefjene Vermehrung der indirecten Abgaben zu leiden haben würden. 
Bei den niederen Einkommensſtufen ift e8 nicht jo jehr die Höhe des Steuerjahes, 
als die Form der Erhebung befjelben, welche einer Abgabe einen mehr oder weniger 
bejchwerlichen Charakter gibt. Es ijt unter allen Umſtänden läftig von einem Kleinen 
Einfommen, das vielleicht nur zum geringeren Theile aus einer Geldeinnahme bejteht, 
an einem beftimmten Tage bejtimmte Geldbeträge für die Steuercaffe bereit zu halten; 
der Geldmangel am Yälligkeitätermine veranlaßt leicht den Verkauf der wenigen 
Vermögensſtücke zu niedrigem Preife und bewirkt jomit eine unverhältnigmäßige Ver- 
jchlechterung der Vermögenslage. Die indirecten Steuern dagegen, welche in Kleinen, 
faum berechenbaren Beträgen auf den Gonfumtionsartifeln des gemeinen Mannes 
liegen, machen fich in einer viel weniger läſtigen Weife fühlbar, da fie niemals die 
augenblidliche Aufwendung eines Geldbetrages erheiſchen, jondern fich täglich durch 
eine verichwindend Heine Conſumtionserſparniß deden laſſen. Man kann um fo 
unbedenklicher zu einer Vermehrung der indirecten Abgaben fchreiten, wenn gleich- 
zeitig eine größere Entlaftung der unterften Einkommenſtuſen von directen Abgaben 
ftattfindet. 

Für die Gemeindeverbände ift e8 unthunlich, in diefer Richtung vorzugehen, da 
die Erhebung indirecter Gemeindeabgaben auf dem platten Lande auf große Schwierig» 
feiten ftößt, die ausfchließliche Erhebung derjelben in den Städten aber zu einem 
ungleichartigen Steuerfyjten führen würde. Zmedmäßiger ericheint e8, die Gemeinden 
auf die Ausbeutung directer Steuern zu bejchränfen, den Einnahmezuwachs aber 
durch Vermehrung der indirecten Steuern dem Staate zu überweijen, 

Wenn das Reich auf die Erhebung von Matricularbeiträgen verzichtete und hier— 
für durch Vermehrung der indirecten Abgaben Dedung juchte, jo würde dad Budget 
des preußifchen Staates um etwa 50 Millionen Mark erleichtert, dagegen der inner 


VoltswirtHichaftliche Rundſchau. 333 


halb Preußens für das Deutiche Reich an indirecten Abgaben aufzubringende Betrag 
um die gleiche Summe erhöht werden; wenn ferner der preußifche Staat den bisher 
für den eigenen Bedarf erhobenen Betrag an indirecten Steuern um etwa 25 Mil- 
lionen fteigerte, jo würden im Ganzen innerhalb Preußens ftatt 210 Millionen in 
Zukunft 285 Millionen durch indirecte Abgaben aufgebracht werden müſſen; der 
Staat aber brauchte von den bisher für feinen Bedarf erhobenen directen Steuern 
im Gejammtbetrage von 150 Millionen nur noh 75 Millionen für fich vorzube— 
Halten und Fönnte den gleichen Betrag den Gommunalverbänden zur jelbjtändigen 
Ausnützung überlaſſen. Die Gemeinden wären aladann in der Lage, zu der dem 
Staate verbleibenden Quote directer Steuern noch 135 Millionen oder 180 Procent 
Zufchläge zu erheben, ohne Hierdurch den Gefammtbetrag der directen Abgaben über 
den der indirecten hinaufzutreiben. Es liegt nahe, dem Staate den Verzicht auf die 
Grund, Gebäude und Gewerbejteuer vorzufchlagen, weil aladann wenigitens die 
Dervielfachung diejer eine Doppelbeftenerung bildenden Steuergattungen durch Gemeinde: 
zufchläge in Wegfall fommen könnte. 

Grundjtüde, Gebäude und ftehende Gewerbe haben von vielen localen, durch die 
Gemeindeverbände zu beforgenden Einrichtungen einen ganz bejonderen Nuben, und 
e3 ift daher nicht mehr ala billig, daß fie zu deren Koften auch vorzugsweile Bei- 
träge leiften. So beitimmt die Kreisordnung vom Jahre 1872, daß zu Kreisabgaben 
für Verfehrsanlagen die Grund- und Gebäudeftener fowie die vom Gewerbebetrieb auf 
dem platten Lande aufflommende Gewerbefteuer ber Glaffe A. I. mit einem höheren 
Procentfaß als zu den übrigen Sreisabgaben herangezogen werden dürfe. Vielfach 
wird auch vorgeichlagen, jene Steuergattungen bei Ueberweiſung an die Gemeinden 
umzugejtalten und den Ertrag von anderen unbeweglichen Werthen, ähnlich wie den 
von Grundftüden und Gebäuden, zu bejteuern, mögen diefe Werthe von Natur vor— 
handen jein, wie Steinbrüche, Wafjergerälle, Bergwerfe und Wälder, oder in dauern- 
den Ginrichtungen zu gewerblichen Zweden beftehen, wie Mühlen und Fabriken. 
Gewerbe, welche nicht mit unbeweglichen Objecten in Verbindung ftehen, würden eine 
bejondere Gewerbeiteuer zu zahlen haben. 

Neben den Einkünften aus den Ertragsſteuern würde den Gemeinden die Er— 
hebung von Zujchlägen zu der ftaatlichen Einkommenſteuer geftattet bleiben, jedoch 
nur unter engſtem Anſchluß an das ftaatliche Steuerſyſtem ſelbſt. Es geht nicht an, 
daß innerhalb des Staatögebietes der eine Verband die Steuerfäße mit Progreffion, 
der andere ohne Progreffion veranlagt; daß bier Progreifion in ftarfem, dort in 
ſchwachem Maße zur Anwendung fommt; daß gewiffe Einfommenzftufen vom Staate 
als fteuerunfähig ganz freigelaffen, von den Gemeinden dagegen mit hohen Sätzen 
zur Steuer herangezogen werden. Die Aufftellung eines Steuerſyſtems, die Abgrenzung 
von Steuerjtufen und Steuerfäben kann unmöglich in jeder Beziehung auf rein ſach— 
lichen Erwägungen beruhen, jondern muß fich zum Theil auf willfürliche Abmefjungen 
gründen; ebenjo wie ein Einkommen von 419 könnte man auch ein jolches von 
420 Mark noch ganz jteuerfrei laſſen; die Zahl 419 als Grenze der Steuerfreiheit ift 
blos deshalb genommen, weil man eben eine Zahl auswählen mußte. Bei dem 
engen Zufammenhang, in welchem Staats und Gemeindejteuern ftehen, muß aber 
nicht nur diefe Willkür in einheitlichem Sinne für alle Steuerverbände nach gleichen 
Grundanichauungen ausgeübt werden, jondern e8 muß überhaupt das GCommunal» 
jteuerfyftem auf denſelben Principien ruhen, wie das Gteuerfyftem des Staates. 
Durch ftaatliches Geſetz ift zu beftimmen, Tür melche befonderen Zwecke einzelne 
Steuerquellen vorzugsweiſe ausgenützt werden dürfen, und in welchem Berhältniß 
Anfpannung der verfchiedenen GSteuergattungen untereinander zu bleiben Hat. 
Bei gleichzeitiger Ausbeutung derjelben Steuerkräfte durch Staat und Gemeinde ift 
darauf zu achten, daß die Zufchläge die Principalfteuer nicht allzuſehr überfteigen. 
Die Einihäkungscommiffionen haben große Neigung, in ſolchem Fall die Staat3- 
jteuer möglichit niedrig zu veranlagen, um die Kräfte der Steuerzahler für die Ge- 
meindezufchläge zu fparen. Im Intereſſe einer gerechten und gleichmäßigen Steuer: 


334 Deutſche Rundſchau. 


vertheilung liegt es aber alsdann, eher den Ertrag der Staatsſteuer durch Einfüh— 
rung eines höheren Steuerſatzes zu vermehren und die größere Einnahme zur Deckung 
von Gemeindebedürfniſſen, ſei es durch reichlichere Dotation der Provinzen und Kreiſe, 
ſei es durch ausgiebigere Unterſtützung armer Gemeinden zu verwenden. 

Will man mit Erfolg für die Erhaltung des vorgeſchriebenen Gleichgewichts 
zwiſchen den verſchiedenartigen Steuergattungen ſowie zwiſchen den Abgaben des 
Staates und der Gemeinde Sorge tragen, fo genügt es nicht, für die Communal⸗ 
jteuern gewiſſe Marimalgrenzen fejtzuftellen und deren Ueberfchreitung von der Erlaubniß 
der Gentralbehörden oder der gejeßgebenden Factoren abhängig zu machen; es ift vielmehr 
nöthig, in jedem Jahre bei Aufftellung des Staatshaushaltes eine Weberficht über den 
Gefammtbetrag der von Staat und Gemeinden erhobenen Steuern zu geben und je 
nach den Bebürfniffen der Gemeinden die Erträgniffe der verjchiedenen Staatäfteuer- 
gattungen Höher oder niedriger in Boranfchlag zu bringen. Nur auf dieje Weife 
wird es gelingen, die übermäßige Belaftung einzelner Einfommend- und Erwerbs- 
clafjen dauernd zu vermeiden, und einen Jeden, entiprechend feiner Leiftungsfähigkeit, 
zu den Öffentlichen Laſten heranzuziehen. 

F. von Sybel. 








RA, N 
iB- —* 


RNive ERSITY) 
zn 
— BY 










Literarifhe Rundſchau. 





David Friedrich Strauß’ gefammelte Schriften. 





Gejammelte Schriften von David Friedrih Strauß. Nach de3 Verfaſſers letzt— 
twilligen Beftimmungen zufammengeftellt. Gingeleitet und mit erflärenden Nachweifungen 
verjehen von Eduard Zeller. Bonn. Emil Strauß. Bd. 1 und 2. 1876.”) 


Wie tief Strauß in unfer aller geiftiges Leben eingefchnitten Hat, davon wird 
die Gefchichte diefer Tage noch lange zu erzählen wiffen. Zweimal, am Beginn und 
am Ende feines Wirkens, fuhr fein Geift wie ein Sturmwind über unfere Häupter 
daher. Das erfte „Leben Jeſu“ beſchloß die romantifch-Tpeculative Nera mit einem 
Angriffe, zu dem es deren eigene, befte Waffen entlehnte.e Der „Alte und der neue 
Glaube“ überfegte, fieben und dreißig Jahre fpäter, die Dogmen einer neuen, in 
der Stille herangewachjenen Weltauffaffung aus der Sprache der Schule in die ber 
Gebildeten. In beiden Fällen wurde die Mafle der Lejer mächtig erregt; in beiden 
erhoben Zunft und Partei fich wie ein Mann gegen den verwegenen Störer ihrer Kreiſe. 
Drthodore und Rationaliften, Reactionäre und Demokraten haben ihn wetteifernd 
beſchimpft. Lange galt ein Angriff auf Strauß in Deutjchland als ficherfte Empfeh- 
lung zu ſchneller Beförderung, und noch Heute fcheint diefe Meberlieferung nicht aus» 
gejtorben, wie Brochuren, Vorträge, Bücher in Menge vermuthen laffen.**) Und 


*) Die Ausgabe ift auf eilf Octavbände im Preife von 5 Mark ber Band berechnet. Die 
erften beiden bis jet vorliegenden Bände enthalten „Vermiſchte Schriften“ biographiichen, 
fiterar: und funfthiftorifchen und politiichen Inhalts, Der dritte und vierte Band wird „Das 
Reben Jeſu für das deutſche Wolf" enthalten, der fünfte Band die Schriften „Der 
Chriſtus des Glaubens und der Jeſus ber Geſchichte“, „Die Halben und bie 
Ganzen“ „H. ©. Reimarus” Im ſechſten Bande wird „Der alte und ber neue 
Glaube mit Nachwort ald Vorwort” die theologiichen Schriften bejchließen. Dann werden bie 
größeren Biographien fich anreihen, nämlih „Ulrih von Hutten mit der Vorrede zu 
ben Gejpräden" (Bb. 7), „Ehr. D. Fr. Schubart’3 Beben in jeinen Briefen“ 
(Bd. 8 und 9), „Chriftian Märklin“, „F. G. Klopftod“ (Bd. 10), endlih „Bol: 
taire“ (Bb. 11). Die ftreng theologiichwiffenichaftlichen Werte, das erſte Leben Jeſu, die 
durch baffelbe veranlaßten Streitichriften und die Dogmatik find, wie man fieht, vorläufig aus: 
geichloffen, ebenjo die Biographie Friſchlin's. Möge die von E. Zeller in der Vorrede eröffnete 
Ausfiht auf eine dvervollftändigende Fortſetzung fich bald verwirklichen. 

») Nicht gehört in dieje Literatur der fürzlich erichienene erfte Band von Hausrath's 
(in Heidelberg) „Strauß und die Theologie feiner Zeit“. Des Verfafferd Bemühungen um die 
Vermittlung zwifchen dem wifjenjchaftlich:proteftantijchen Bewuhtfein und der firchlidh:proteftan: 
tifchen Ueberlieferung werden freilich nicht allgemein befriedigen können, 3. B. wenn er über das 


336 Deutſche Rundſchau. 


zwiſchen dieſen Ausbrüchen (1835 und 1872) liegt ein volles Menſchenalter reich— 
haltiger, aber keineswegs immer erfolgreicher Thätigkeit. Der weltberühmte Kritiker 
wird 1839 von dem „freien Volke“ des Canton Zürich ſtürmiſch zurückgewieſen: 
von demjelben Volke, unter welchem feine Weltanjchauung freilich jet die meijten 
Anhänger zählt. Ein nochmaliger Verſuch mit öffentlichem, perfönlichem Wirken, 
(diesmal auf der politifchen Bühne) endigt nicht beſſer. Der Verfaſſer des „Leben 
Jeſu“ Tällt 1848 bei der Bewerbung um einen Si in der Paulficche durch, und 
in der württembergijchen Hammer kann er fich nicht halten. So zu jagen Arm in 
Arm mit Wolfgang Menzel, dem von ihm einft jo übel zugerichteten Gegner, läßt 
er die Schmähungen der „Volksmänner“ über fich ergehen, bis Ueberbruß und tiefe 
Derftimmung ihn zum Rücktritt beivegen. Inzwiſchen war befanntlich auch ber 
Mann, der Familienvater nicht glüdlich gewejen; die gewagte, im Jahre 1842 mit 
Agnefe Schebejt geichlofjene Künftlerehe hatte nach vier Jahren mit Trennung ge— 
endigt. Während diejer Zeit lag ihm „die Wiſſenſchaft jo fern, wie dem Schiff— 
brüchigen die Bewirthichaftung feiner Güter am Lande.” Mol, meint er, babe 
er Allotria getrieben, die Strafe verdienten. „Aber, weiß Gott, die Strafe war 
eine jolche, als wollte der Lehrer dem Allotria treibenden Schüler Arme und 
Beine zerſchlagen.“ Aber nicht nur die Sandbänke alltäglichen Familienelends 
und die Klippen der herrichenden, rejp. theologischen und demagogifchen Autori= 
täten umringten die Bahn diejes fühnen Entdederd. Auch der Fahrwind ber öffent- 
lichen Meinung unter Stimmungs- und Gefinnungsgenofjen blieb ihm nicht gleich- 
mäßig günftig. Und das war wol das Schwerfte. Wie mußten die Stimmungen, 
die Intereſſen fich verjchoben haben, wenn der Verfaſſer des Lebens Jeſu, der Dog: 
matif, jo vieler glänzender Streitjchriiten und einer Reihe biographifcher Kunftwerte, 
zum Theil erften Ranges (ſchon waren die reizenden Aufjäbe über Ludwig Bauer, 1847, 
über Schubart, A. W. Schlegel, Jmmermann, 1849, gejchrieben), wenn diejer Meijter 
. der Kritik, der Dialektil, des Styls, der biographiichen Kunſt im Jahre 1850 nur 
mit Mühe einen Verleger für feinen „Märklin” fand, und mit diefem jchönen Dent- 
mal der Freundestreue und der Heimathäliebe dem rohen Spotte einer pietätlofen 
Literatenkoterie (in München) verfiel! Die nächſten Jahre, freilich die der tiefjten 
Reactiond-Ebbe, bringen feine Beſſerung. Die kleinen äfthetifchen Arbeiten über 
Freiherrn von Uexküll, über die jchwäbifchen Maler Eberhard Wächter und Scid, 
finden wenig Beachtung; Friichlin dringt (1855) nur in die Kreife der Yachmänner; 
ſelbſt Hutten (1857) wird mehr gelobt, als gekauft und gelejen. Dieſes Meijter- 
ftüd biographiicher Kunſt Hat nicht einmal eine zweite Auflage erlebt, noch weniger 
natürlich die Heinen Schriften der nächſten Jahre, die Auffäße über Spittler und 
Reimarus (1860). Erſt mit der auffteigenden Nationalbewegung der „neuen Aera“, 
ihren Erfolgen und Kämpfen, fommt auch die von Strauß beherrfchte Gedanken— 
ftrömung wieder in Fluß. Das „Leben Jeſu für das deutiche Volk“ (1864) nahm 
mit den neuen, unterdeffen von der „Tübinger Schule” gejichmiedeten Waffen den 
Kampf wieder auf. Es fand enorme Theilnahme in Deutichland, Frankreih, Eng: 
land. Aber jchon die Ausfälle gegen Schenkel und den Protejtantenverein (1865) 
erlahmten an der veränderten Zeitjtimmung, die mehr auf Neubau und Umbau als 
auf Zerftörung ging. „Dan mollte mich nicht mehr leſen,“ klagt Strauß noch 
1867, „warum jollte ich jchreiben?” Da ergriff denn (im Frühling 1870) im 
„Voltaire“ jeine gereifte Kraft die glüdlichite Aufgabe. Aber dad Entzüden, mit 





Dogma dom hiſtoriſchen Gottmenjchen mit der fühnen Wendung hinwegichlüpft, „der Glaube 
an die Wirklichkeit des Ideals“ bilde einen weſentlichen Inhalt alles fittlichen Bewußt— 
ſeins. Aber bie Analyfe von Strauß’ Charakter, Entwidlung, Leiftungen ift ebenio gerecht, ala 
gründlich und gut gefchrieben ; und die Schilderungen des religiöjen und philofophiichen Lebens 
während ‚ber zwanziger und dreißiger Jahre find in hohem Make lehrreich und anziehen. 
Auch wer auf ben Proteftantenverein nicht Ichwört, wird das Buch mit Genuß und Nuben 
ftudiren. 


Literariiche Rundſchau. 337 


welchem die Leſewelt diefer Mujterbiographie entgegen fam, wurde durch die Aufs 
regung überboten, mit welcher gegen das zwei Jahre jpäter (1872) veröffentlichte 
moniftifche, antichriftliche Glaubensbelenntniß die publiciftifchen Vertreter faſt aller 
Parteien fich in Proteftationen ergingen, während das Publicum, die „Wir“ bes 
Verfaſſers, allerdings Auflage um Auflage verfchlang. Und ſeitdem geht dieje jeltfam 
gemifchte, vielgejtaltige Wirkung ihren Gang weiter. Strauß bleibt die SBielfcheibe 
der Ziongwächter aller Farben und Schattirungen; aber feine Bedeutung für die 
denkenden, geiftig mitlebenden Zeitgenofjen ift dabei in fichtlichem Wachſen. Nicht 
daß man überall zuftimmte, weder dem Philofophen noch dem Politifer; und auch 
dem Menſchen gegenüber will e8 zu einem reinen Cultus feine? Genius noch nicht 
fommen. Diefer jchärffte der Kritiker wird jeinerfeit3 die Kritik, zumal die des 
Gemüths, ſchwerlich entwaffnen. Strauß Hat eben Nichts vom Propheten, Nichts 
vom Schulen- und Sectenftifter. Sein „Neuer Glaube“ ift fein verführerijches Syſtem; 
deswegen könnten die Wächter des „alten“ nur ruhig ſchlafen. Schon der ariftofratifche 
Zug der Strauß’schen Denker und Künftler-Religion macht nach diefer Richtung hin 
das Aufgebot des gläubigen Landfturms überflüſſig. Defto unmiderftehlicher aber 
und tiefgreifender wird täglich der Einfluß des Schriftftellers auf den geiftigen 
Arbeitäproceß unſers Volle. Ich wüßte feit Leffing faum einen zweiten zu nennen, 
der in dem Grade zum Selbftdenfen zwänge, fich, vornehmlich allerdings nach der 
intellectuellen Seite hin, jo frafterwedend erwieſe, wie diefer philojophiiche Theolog, 
der, wie manche der zünftigen Fachgenoſſen meinen, fih „im Dilettantismus zer 
fplitterte”, oder doch, wie er jelbft Hagt, im Grunde nur ein Vogel war (nomen et 
omen!), „der wol laufen und die Schwingen regen, aber nicht fliegen konnte.“ 

Der Ausfpruch findet fich in den, jett zum erften Mal gedrudten „Literariſchen 
Dentwürdigleiten”, welche die vorliegende Ausgabe der gejammelten Werke 
eröffnen und die erften 80 Seiten des erjten Bandes füllen. Strauß begann mit 
diefen Aufzeichnungen im Februar 1866, in Darmitadt, als feine Tochter Georgine 
ihn mit dem erjten Enkelchen bejchenkt Hatte „Denn,“ meint er, „einem Großvater 
zieme es, fein Haus zu beftellen.” Zwijchen dem 9. und 22. Februar jenes Jahres 
wurden die Erinnerungen von den Vorftubien zum eriten „Leben Jeſu“ bis zum 
Erſcheinen der Schrift „Die Halben und die Ganzen” niebergeichrieben, alfo von 
1831 bis 1865. Dann berichtet eine erfte Yortfegung, aus München, vom 19. bis 
21. November 1867, nach einem ziemlich melancholiſchen Rückblick auf das bisher 
Grreichte, über die Vorarbeiten zum „Voltaire“. Wieder in Darmitadbt, vom 15. 
bis 17. Mai 1872 wird weiter die Entitehung und die Wirkung des „Voltaire“ 
und der an dies Werk anknüpfende Briefwechjel mit Ernſt Renan beiprochen; und 
am 27. November 1872 bildet ein lateinischer Brief an einen nicht genannten 
„Stadtpfarrer F.“ über Bedeutung und Zwed des „Alten und neuen Glaubens” den 
Schluß. Alles Weitere hat uns die lebte Krankheit des V. entzogen, die ihn im 
Sommer 1873 ergriff und am 8. Februar 1874 feinem Leben ein Ende machte. 
Aber auch fo laſſen die „Denkwürdigkeiten“ für Den, der zu lefen weiß, wenig Un- 
erflärtes in der Lebensarbeit und Lebenäführung des unvergeklichen Mannes. Die 
beiden unterfcheidenden Züge feiner jchriftitellerifchen Erfcheinung, die volle, rückhaltsloſe 
Aufrichtigkeit und die virtuoſe, dialektiſche Kunst fommen in vollftem Maße diefer 
Selbftihilderung zu Gute; und durch den fonftigen, von €. Zeller jehr tactvoll und 
umfichtig zufammengeftellten Inhalt der beiden erften Bände werden die von Strauß 
fauber und Teft gezogenen Grundlinien des Bildes auf's befte belebt. Um diefe 
Heinen Schriften, wie fie hier überfichtlich zufammen ftehen, meinte Strauß, „habe 
fih Niemand gefümmert.” Das trifft, jo weit die Kritik und die Fachgenofjen gemeint 
fein könnten, durchaus nicht zu. Aber das große Publicum hat bie einzeln aufs 
Iprühenden Funken des Strauß’schen Genius allerdings nicht jo beachtet, wie fie es 
nach Inhalt und Form verdienten. Um jo mehr mag hier ein Wort vergönnt fein 
über dad Bild des Mannes, wie e8 aus den Denkwürdigkeiten und der vorliegenden 
Sammlung Hervortritt. 


338 Deutſche Rundſchau. 


Strauß ſpricht in ſeiner ſchriftſtelleriſchen Generalbeichte von der Wärme und 
Stärke ſeines Gefühlslebens, an welcher ſeine Gegner bekanntlich vielfach gezweifelt 
haben. „In dieſem Stücke,“ meint er, „bin ich mir bewußt, daß tieferer Gemüths— 
eindrücke, innigerer Empfindung und Mitempfindung kaum ein Dichter fähig ſein 
tönnte.“ Und gewiß, es gehört ein volles Maß orthodoxer Herzenshärtigkeit dazu, 
um Angeſichts der hier geſammelten Zeugniſſe und Bekenntniſſe daran zu zweifeln. 
Sehen wir zunächſt von der äſthetiſchen Feinfühligkeit ab, die Rede und Dichtung, 
Malerei, Plaſtik, Muſik mit gleicher Wärme erfaßt — auch die rein ethiſche 
Seite der Empfindung, das liebevolle Eingehen in die fremde Perjönlichkeit, eine 
aus vollem Herzen jtrömende, nicht erziwungene Gerechtigkeit auch dem Fremdartigen, 
vielleicht jelbft Antipathifchen gegenüber, ift in vollem Maße vorhanden und wirkjam. 
Mit feinem Tacte hat Zeller in diefem Sinne die Erinnerungen „an meine gute 
Mutter”, die beiden Grabreden vom 11. April 1858 und vom 24. uni 1861, 
jowie die Auffäße über Juftinus Kerner an die Spite der Sammlung geftellt. Sie 
zeigen uns in dem berühmten, jchneidigen Schriftfteller vor Allem den Menſchen; 
und die Auffäße des zweiten Bandes über den frommen, idealiſtiſch-romantiſch an— 
gehauchten Maler Eberhard Wächter, über G. Schid, den lebend- und fieges- 
frohen, jo früh vom Schickſal getroffenen Künjtler, über den alten Schaufpieldirector 
Yacob Winter ergätizen diefen Zug in erfreulicher Weile. Bejonderen Werth 
wird man dabei auf die Anhänglichfeit an die Jugendfreunde, an die jchwäbijche 
Heimath, an dad Baterland zu legen Haben: Züge, die bei herzlojen Berjtandes- 
menfchen bekanntlich immer zuerſt fehlen. Mit welcher herzlichen Freude verweilt 
das Auge des „gottlojen” Kritiker auf feinem frommen Juſtinus Kerner, dem 
wunderlichen, aber grundguten Geifterbanner von Weinsberg! Wie innig wird 
Ludwig Bauer behandelt, der anmuthigenaive, aber für äußeres Glüd und äußere 
Griolge leider zu weich angelegte Märtyrer ſelbſtloſer Pflichttreue! Freilich, das 
muß gleich gejagt fein, von eigentlicher Empfindjamleit, von überihwänglich-zärtlichem 
Meberfließen ift dabei Nichts zu fpüren. Ob Strauß am Gonfirmationstage feiner 
Tochter das Bild der entichlajenen eigenen Mutter entwirft, ob er am Sarge des 
Bruder, des Freundes das Wort nimmt, ob er die dahin gegangenen Zeugen und 
Genofjen jeiner Jugend heraufbeſchwört: immer meidet er, was auch nur entjernt 
an Phrafe erinnern könnte. Ein Elares, ruhiges Licht, ohne vergrößernde und färbende 
Strahlenbrechung, ergießt fich über alle diefe Bilder. Diefer Inftinct des Maßes, 
weit entfernt ihn zur Proja zu verurtheilen, wäre denn nun vielmehr gerade dem 
Dichter zu Gute gelommen. Aber ein anderer Umftand, wie die „Denkwürdigkeiten“ 
volltommen unbefangen ausführen, erwies fich Hinderlih. Wir meinen nicht jene 
Beimiſchung klugen, bie und da an Härte ftreifenden Welt- und Gejchäftsfinnes 
(auch eine Stammeßeigenthümlichkeit), welche weder Schriften noch Leben des großen 
Kritilerd verleugnen. Strauß, es ift wahr, zeigt oft genug einen ſtark entwidelten 
Eigenthums- und Ordnungsfinn. Er erwirbt, er hält zufammen. Er nimmt die 
Penfion des Volkes von Zürich, das feine Wahl rüdgängig macht, feine Dienite 
nicht mag; und wie eifrig er bemüht geweſen war, die Stelle mit gutem Gehalt 
zu erlangen, das zeigt jeine von Hausrath mitgetheilte Correſpondenz mit Hibig zur 
Genüge. Er plädirt wiederholt für die Todesjtrafe und — für den underantwort- 
lichen König. Er Hat einen Abſcheu vor gewaltfamen Volksbewegungen. Alle dieje 
Thakejpeare’schen und goethe’jchen Züge hätten weder den Dichter, auch faum den 
Reformator gehindert. Aber eine andere Schranke ſtand ihm entgegen und erwies 
ſich als unüberfteigbar. Strauß, wie die „Denkwürdigkeiten“ mit gewohnter Klar- 
heit und Aufrichtigfeit ausführen, war mangelhaft organifirt für die ſinnlich— 
geiftigen, die eigentlich fünftlerifchen Wechjelbeziehungen mit der Außenwelt. Schon 
feine Kurzfichtigleit erjchwerte ihm alle Beobadhtung; und noch mehr Hinberte eine 
gewiſſe, freilich urdeutjche und ächt ſchwäbiſche, Scheu vor der Gefellichajt. Es geht 
in diefer Hinficht ein Zug von — ſoll das Wort gewagt fein? — nun, von klein» 
bürgerlidem Arijtofratismug durch feinen Charakter, wie eben das Bewußt- 


Literariſche Rundichau. 339 


fein eigenen, bedeutenden Werthes, verbunden mit dem Gefühl einer immerhin das 
MWejentliche nicht gerade jchädigenden, aber doch vorhandenen und läſtigen Schranfe 
ihn erzeugt. Man weiß fich viel zu gut für die aufdringliche Maſſe, aber man 
fühlt au, daß man die Kraft nicht haben würde, fie zu beherrichen. So zieht 
man ſich in feine Eigenart zurüd und meidet den vollen, freilich auch trüben, Strom 
des Lebens. Es geht diefer Zug deutlich umd Klar durch das Leben des „ſchwäbiſchen 
Leffing”, und wenn wir nicht irren, ift dies der ſchwache Punkt in der Vergleichung 
mit jeinem norddeutſchen Geiftesverwandten. Leſſing durchbricht als Student die 
enge, theologiſche Standesfitte, erwirbt auf dem Fechtboden, in der Neit- und Tanz- 
ſchule, und gar Hinter den Goulifjen einen Ruhm, der jeinem ehrenwerthen Bater 
und feiner jehr tugendhaften Schweiter manche unnütze Sorge macht. Tyriedrich 
David Strauß Hält fich jchon in Tübingen fern von allem lärmenden, zerjtreuenden 
Treiben. Im engjten Kreife, wo feine überlegene Eigenart unbedingt refpectirt wird, 
fucht er feine Erholung. Und aus diefer beicheidenen und doch wieder jehr jelbit- 
bewußten Zurüdgezogenheit ift er niemald hevausgetreten: wie er denn in ben 
„Denkwürdigkeiten“ ausbrüdlich Hagt, daß er, bei aller Sehnfucht, das Leben doch 
nie recht genofien und gefaßt und gerade deshalb die Helden feiner Biographien am 
liebften unter den warmblütigen Stürmern und Drängern gefucht habe. Ueberall, 
in Berlin, Tübingen, Stuttgart, Ludwigsburg, Heilbronn, München, Weimar, Köln, 
Heidelberg, Darmſtadt, wo nur immer er fein fiterarifches Nomadenzelt aufjchlägt, 
bewegt er fich in engiten, ausſchließlichen Kreiſen. Wie ander Leffing, der ſich 
von Berlin auf und davon macht, um mitten im Kriegsgewühl, unter Officieren, 
MWeltleuten, Gefchäften, Zerjtreuungen aller Art jeine fruchtbarſten Studien zu machen, 
von den Menſchen zu lernen, was in den Büchern nicht zu finden war. Und 
als Strauß einmal einen ähnlichen Verfuh macht: wie ift e8 ihm befommen! Wir 
erwähnten jchon oben den tragifomiichen Ausgang feines politifchen Anlauf. Es 
war vornehmlich das fchroffe Urtheil Über Robert Blum, „den ganz gewöhnlichen 
Wühler”, der dem Faß den Boden ausſchlug. In der That, Nichts natürlicher. 
Was hatte der ftille, gefammelte Denter, was hatte diefe reinliche, durch und durch 
intellectuelle, nüchternevornehme Natur mit dem warmblütigen, lärmenden Tribunen 
gemein! Aber auch ohne die war Strauß für politifche Erfolge nicht angelegt. 
„Meiner ganzen Natur, meiner Ueberzeugung nach,” jagt er in den Denktwürbdigfeiten, 
„mußte ich bier gegen den Strom jchwimmen, und zwar gegen einen jehr reißenben, 
„wilden Strom. Das wäre fchon gut gewejen, wenn ich nur Floſſen gehabt hätte, 
„mich gegen den Strom zu halten. Allein, was ich längit wußte, befam ich Hier 
„peinlich zu erfahren: daß ich fein Redner jei.“ — Strauß fein Redner? Er, 
von deſſen afademifchen Vorträgen feine ehemaligen Schüler mit Entzüden erzählen? 
Deſſen Grabreden Mufter der Gattung find? Er, defjen Predigten die beiten 
Hoffnungen wedten? Und doch! Die eigentliche Probe des Redners bleibt die Im— 
provifation,, die augenblidliche Herrſchaft über alles Material und alle Kraft zur 
Herborbringung einer fofortigen, bejtimmt gewollten Wirkung. Und dabei jet der 
Redner nicht nur feinen Geift ein, fondern vor Allem jeinen Willen, feinen Charakter, 
jeine ganze Perfon. Er thut feinen Zuhörern Gewalt an, benubt jeden Umftand, 
gießt feine Seele in die Verfammlung. Geiftesgegenwart, Feinfühligkeit für den 
inneren Rapport mit ben Hören find Hauptbedingungen dev Wirkung. Und da eben 
fehlt e8 Strauß. Er Hatte, wie ex erzählt, feine Predigten ftet? auswendig gelernt, 
feine afademifchen Borträge nach Landesſitte gelefen. So machte er es denn auch 
in der Kammer und mußte bald merken, wie er „gegen bie jeichteften Gefellen, denen 
aber die Gabe der Ymprovifation, der Replik zu Gebote ftand,“ den Kürzeren zog. 

Es ift anderen Schritjtellern und Poeten, 3. B. Guftav Freytag, bei parla- 
mentarischen Verſuchen bekanntlich nicht beffer gegangen. Ein Gattungsgeſetz ift die 
Sache deswegen nicht, wie Lamartine, Victor Hugo, Benjamin Gonftant, Bulwer, 
Macaulay ac. beweifen. Aber die Grenzen der bejtimmten Begabung, die Strauß 
zu Theil geworden war, hat er jehr gut gefühlt und bezeichnet. Gewiß, er war fein 


340 Deutſche Rundſchau. 


Dichter, ſo herzig ſeine, jetzt im Freundeskreiſe circulirenden Gedichte uns anmuthen 
mögen. Noch weniger war er zum Agitator, zum Volksredner, zum Parteiführer und 
Sectenjtiiter geboren. Dafür aber ift er ein belehrender, anregender, Leben und Kraft 
weckender Schriftjteller geweien, wie faum einer unter den Zeitgenoffen: ein rechter 
magister Germaniae im Sinne ded neunzehnten Jahrhunderts, eine „pädagogiiche“ 
Natur in des Wortes idealer Bedeutung. Wie beklagt er jelbjt in ficherer Selbſt— 
erfenntniß jenes neidiiche Schidjal, welches ihn in der Blüthe der Kraft, im erjten 
Anlauf von der akademiſchen Lehrthätigkeit ausfchloß! „Jede neue Erwägung und 
„Erfahrung,“ ſchreibt er noch 1867, „gibt mir von Neuem jchmerzlich zu erkennen, 
„welch” unerjeglichen Schaden mir meine Entfernung vom afabemifchen Lehrituhl im 
„Sabre 1835 und die vereitelte Zurüdführung auf denjelben im Jahre 1839 zugefügt 
„hat.“ Gr habe weder die jchöpferiich quellende Urkraft gehabt, die auch ohne Anlaß 
und perjönliche Wechjelwirtung immer jchafft, noch den gebuldigen Gelehrtengeift, 
der auch ohne Rüdficht auf das Schaffen immerfort arbeitet. So mußte denn ein 
Mittelweg gejucht, den Umftänden abgetrogt werden; und Strauß fand ihn mit dem 
Inſtinet des echten Talent? und ift auf ihm dann mit durchichlagendem Erfolge bis 
zum Ende gewandelt. Der belehrende, zum Denken anregende, dialektiich entwidelnde 
Bortrag in küntlerifcher, auch finnlich padender Form — das iſt jein Gebiet. Er 
betritt e8 mit jenem fühnen Anlauf, der die von Hegel geformte Methode gegen eine 
Hauptpofition der Hegel’schen Weltanſchauung in's Gefecht führt und damit die Epoche 
der romantifchen Wifjenfchaft endgültig ſchließt. Was die Geſchichts- und Literatur- 
ftudien der ganzen vomantifchen Generation geübt hatten, an Homer, an den 
Nibelungen, an den Mythologien aller Völker, das hatte Hegel in feiner Dialektik 
jyftematifch geftaltet, indem er die Erjcheinungswelt ala die Evolution des abjoluten 
Geijtes erklärte umd den Ginzelgeift, das Individium, in der Strömung des Volks— 
und MWeltgeiftes aufgehen ließ. Davon zog Strauß im „Leben Jeſu“ einfach die 
legte Gonjequenz gegen die einzige Weberlieferung, welche der Meijter aus guten 
Gründen verichont hatte. Neu war in dem Buche weder Princip noch Methode, 
wol aber die Kühnbeit, die verzweifelte Aufrichtigkeit, und die vollendete, durch— 
Ichlagende Form. Wehnlich ift „Der alte und der neue Glaube“ nur die jchneidige 
und rüdhaltslofe Aussprache einer Weltanfchauung, die in dem neuen Bündnik zwijchen 
den Naturwifjenfchaften und der fynthetifchen Speculation feit zwei Jahrzehnten heran 
gewachlen war: in Bezug auf dialektiiche Durchbildung, auf philofophifche und Fünit- 
lerifche Reife den beiden großen Werken, dem erften und zweiten „Leben Jeſu“ nicht 
ebenbürtig, aber um jo padender vielleicht für die Maffe der Leer. Und dazwiſchen 
liegt dann jene von Strauß felbft und von jeinen Gegnern wol als dilettantifch 
bezeichnete Thätigkeit, in der feine Natur am vreinjten zum Ausdruck kommt und 
deren Meifterwerke die theologifch-philofophifchen Schriften überleben dürften. Aus 
einer bunten Reihe von Efjays, Kritiken, Biographien fett fie fich zufammen: gewiß 
nicht ohne Mitwirkung äußerer, zufälliger Anregungen bei der Wahl der Gegenjtände. 
Aber ein doppelter Familienzug erhebt das jcheinbar Zufammenhangslofe dennoch zu 
der Würde eines echten Lebenswerkles. Zunächſt die von Gerechtigkeit und menjch- 
lihem Mitgefühl getragene Freude am Einzelleben, an der concreten Erjcheinung, in 
der der Poet dem Dialektiter das Gleichgewicht hält. Dann die unverbrüchliche Hin- 
gabe an den Gultus des befreienden Gedankens. Wie jchön und bejtimmt jprechen 
die „Denkwürdigfeiten“ über den erſten Punkt ſich aus: „Was mir zu Gebote ftand, 
„die Gabe der lebhaften Vergegenwärtigung, des warmen Mitgefühls, der plaftifchen, 
„Gemüth und Phantafte des Leſers anregenden Darftellung, das konnte hier noch 
„ganz anders, ala bei meinen theologischen Arbeiten zur Anwendung fommen. Und 
„was ich bei diefen geübt hatte, die Fertigkeit der kritiſchen Sichtung, der imma= 
„nenten, dialektifchen Entwidelung des Stoff3, davon war aud im biographiichen 
„Sache jehr wohl Gebrauch zu machen.” Gewiß! Der Hutten, und vor allen der 
Voltaire, vielleicht da3 Meifter- und Muſterſtück deuticher Biographie überhaupt, 
haben es gezeigt. — 


Literariſche Rundſchau. 341 


Die von Strauß ausgegangenen theologiſchen Einwirkungen werden ſicher einſt 
nur noch in der Geſchichte der Wiſſenſchaft zu ſuchen ſein. Das erſte „Leben Jeſu“ 
iſt ja bereits von der Tübinger Schule überholt worden, deren Ergebniſſe das „Leben 
Jeſu für das deutſche Volk“ ſich aneignet. Die „moniſtiſche“ Weltanſchauung des 
„Neuen Glaubens“ iſt viel zu flüchtig und oberflächlich ausgeführt, um bleibende 
Bedeutung zu gewinnen. Am 19. November 1867 ſpricht Strauß von dem Plane, 
wie von dem „Leben Jeſu“, jo auch von der Dogmatik eine möglichſt populäre Um— 
arbeitung, gleichjam ein letztwilliges Glaubensbelenntniß eines Denkenden unferer 
Tage, zu geben. Aber diefe Aufgabe fei jo jchwer, daß er an ihrer Löſung verzweifle, 
Nun, dies Belenntniß dürfte durch den „Neuen Glauben” kaum widerlegt fein. 
Wenn da die Natur, das belebte All ausdrüdlich als das Einzige, Ewige, Allumfafjende 
auf den Thron gejegt wird, und wenn dann doch die Gittenlehre in dem Gate 
gipjelt, „daß der Menſch kein bloßes Naturwefen ei, jondern über das blos Natür- 
liche hinauswachſen müfle,“ jo wird einiger Zweifel an der Einheit und Klarheit des 
Syſtems wol erlaubt fein. Was aber fortwirfen wird, wenn dieſe ganze Dogmatifche 
Naturphilojophie einft bei ihren VBorgängerinnen ruht, das ift die bildende, anregende, 
erquidende Kraft der Strauß’schen Darſtellungsweiſe. Diejes Liebevolle Verſenken in 
den Gegenftand, dieſes jefte Ergreifen der concreten Anknüpfungspunkte, dieſe Belebung 
des jtarren Materials, dieje feufche Anmuth der Sprache, vor Allem aber die rüd- 
haltsloſe, ehrliche Hingabe an die Macht des der Seele entquillenden Gedankens werben 
ſchöpferiſch wirken, jo lange man deutjch Lieft und deutjch jchreibt. Es ijt ein ge= 
waltiges Ding um einen ehrlichen Dann, dem es gegeben ift, zu jagen, wie er's 
meint. In diejem Sinne ift, Strauß gegenüber, der Vergleich mit Leſſing volltommen 
berechtigt. Es bleibt nur zu wünjchen, auch wol zu hoffen, daß diefem mächtigen, 
kritiſch⸗ dialektiſchen Anreger und Lehrer unjerer Ueberganggzeit eine ähnliche 
ichöpferijche !Thätigleit Folgen möge, wie fie vor Hundert Jahren unjere Bäter 
erlebten. 

Die vorliegende Sammlung aber, welche dem freilich ohnehin unvergeßlichen 
Manne das würdigſte Denkmal errichtet, jei Allen, welche ben Muth der Ueberzeugung 
verjtehen und Lieben, die Zucht des Gedankens nicht fürchten und für den Zauber 
der guten Form empfänglich find, von Herzen empfohlen. 

F. Kreyſſig. 


Wir ſchließen an dieſe Beſprechung folgendes Gedicht, welches jener oben bereits erwähnten, 
freilich nur auf den Krreis ſeiner perſönlichen Freunde beſchränkten Gabe der Erinnerung von 
und an David Friedrich Strauß gewidmet iſt: 


Geiſtergrüße. 





1872. 


Um Mitternacht im Holz ein Krach — 
Auf ſpring' ich, find Geipenfter los? 
Mein Arbeitspult eine Rippe brad), 
Aus beiler Haut und ohne Stoß! 
Wie kann das aber möglich fein? 
Vielleicht — gewiß! Seht Fällt mir's ein. 
Kurzum, ich las beim Lampenlicht 
Das Allernew’fte ganz erpicht, 
Deutihe Rundſchau. II, 8. 23 


342 


Deutſche Rundichau. 


Don alt und neuen Glauben? Werth, 
Was mir der Autor felbit verehrt. 

Da reißt e8 an der Schelle drauf. 

Mer fommt mir noch fo jpät in’3 Haug? 
Und wie ich öffne, tritt herein 

Er jelber, David Friedrih Strauß — 
Ein jelt’ner Fall! Was kann das fein? 
„Mit meinem Buch nur wieder her! 

63 kommen künftig andre mehr, 

Sie friegen’3 wieder, denn ſchon drudt 
Die Preſſe mir zum zweiten Mal 

Der Eremplare Taufendzahl, 

Die in drei Wochen ward verichludt. 
Do das ich Ihnen reichte dar, 

Es war mein lebte Eremplar, 

Und jo — ich braucdh’3 für Den und Den 
Aus alter Zeit — nun, Sie verfteh’n! 
Ihn zu vergeffen war ein Streih —! 

An Ihrem Pulte fchreib’ ich gleich, 

Und trag’ das Pädchen ſelbſt zur Poft, 
So Hat er’3 früh zur Morgenkoft.“ 


Er ſchrieb. Und waren's Zeilen nur, 
Vielleicht auch fie eine Flammenſpur, 
Gleichgültig, ob den alten Herd 

Der Menſchheit Lodernd fie verzehrt. 

Er jchrieb, war fertig, padt d’rauf ein, 
Und ſpricht: „Könnt ich zugegen fein, 
Wenn mein Herr Pfarr ſich morgen kreuzt 
Vor'm Kerzlein, das ich ihm geſchnäuzt! 
Was brauchen Sie fi d’ran zu worgen, 
Sie ala Poet? Grüß’ Gott, bis morgen!” 


Er ging. Ich aber ftand und fann, 
Und fah mir Tint' und Feder an, 
Dazu mein braun ladirtes Pult, 
Das heut’ erfahren ftarfe Huld. 
Mein gut Geftell! jo dacht’ ich, haft 
Ertragen wirklich du die Laft? 

Du, nur gewöhnt an leichten Kiel 
Und flüchtiges Phantafienfpiel? — 
Da kam der Krach um Mitternacht. 
Mein gut Geftell, ich hab's gedacht, 
Die Geifteswucht war dir zu fchwer, 
Dir wurde angjt noch hinterher! 

Da klafft der Riß! — Ei was, ala Leim 
Benutz' ich flidend Reim um Reim, 
So hältft du mir noch manches Jahr 
Für meiner Geifter flücht’ge Schaar! 


Literariſche Rundichau. 343 


1876. 


Und fiehe, nach dem vierten Jahr, 

Wie Hang noch einmal wunderbar 

Ein Geiftergruß mir in das Haus, 

Ein Gruß von David Friedrih Strauß! 
Er, deſſen Aug’ indeß fich ſchloß, 

Ließ und zurüd, was jein Gemüth 

Wie Unfereins in Verſe goß. 

Und was im Stillen ihm erblüht, 

Sagt ſein Gedenkbuch,“) d'rin bewegt 
Sein menſchlich Herz ſich liebend regt. 
Der Geiſtgewalt'ge, ſturmgewohnt, 

Dem vor dem Schrei der Welt nicht graute, 
Der, ſchonend nicht und nicht geſchont, 
Des eignen Funkens Blitz vertraute, 
Den einen Dämon fie gedacht, 

Des Haſſes Schlund, des Böſen Schacht: 
Der fingt in leicht gefügtem Reim, 

Im Innerften der Bruft daheim, 
Verachtend, wie die Welt ihn fieht, 

Für Kinder, Enfel, Gruß und Lied! 
Don Yugendglüd, von innrem Streit, 
Bon Leidenjchaft und bittrer Zeit, 

Bon friedlich ruhigem Genuß 

Erklingt's in ftrömendem Erguß! 


Im Aufruhr einer ganzen Welt, 
Die ihn umtobte grimmgejchwellt, 
Stand einfam er, und einjam blieb 
Er mit dem reinjten Lebenstrieb, 
Der, ftill gehütet, Liebevoll 
Und Liebe juchend ihm entquoll, 
Und wahr und offenherzig Ipricht 
Sein Weſen zu una im Gedicht. 
Was einfam ihm die Stunde gab, 
Mir hören’8 nur aus jeinem Grab, 
Ergreifender, wenn es uns jagt, 
Was des Gewalt’gen Bruſt zernagt, 
Und was, dem Kampfesſturm entrüdt, 
Ihn jtill erhoben und beglüdt. 

Dtto Roquette, 


) Poetiſſches Gedenfbuch von Davidbifyriedrih ‚Strauß. Gedichte aus jeinem Nach— 
lafje, für bie Freunde ausgewählt und al? Manufeript audgegeben von bem Sohne. 1876. 


23* 


344 Dentjche Rundſchau. 


Raätzel's Städte- und Eulturbilder aus Nordamerifa. 


— — — 


Städte- und Culturbilder aus Nordamerika. Don Friedrich Ratzel. 2 Theile. 
Leipzig, F. A. Brockhaus. 1876. 


Der Verfaſſer Hat bekanntlich im Auftrage der „Kölniſchen Zeitung“ 1873 und 
1874 die nordamerifanifche Union bereift und aus feinen Berichten für diejes Blatt 
das oben angezeigte jelbitändige Werk herausgegeben. Daffelbe empfiehlt fich durch 
unbefangene Beobachtung und meift fachliche Berichterftattung, ein Vorzug, welcher 
den wenigften Reifebeichreibungen über die Bereinigten Staaten nachgerühmt werden 
fann. Wohlthuend berührt zudem die Abwejenheit jeder tendenziöfen Färbung und 
das verhältnigmäßig geringe, nur gelegentlich fich einfchleichende Schwelgen in hohlen 
Zukunftsphantaſien, welche fich in den gewöhnlichen neueren amerikaniſchen Reiſewerken, 
wie 3. B. in der oberflächlichen fünfbändigen Leiftung der Herren Wagner und 
Scherzer, der fchlechteften sui generis, jo ftörend breit machen. Was Ratzel erzählt 
und dabei gut erzählt, ift wirklich und lebendig; was er befchreibt, hat er ſelbſt ge— 
ſehen oder erlebt und verdient vollen Glauben. Wielleicht würde e8 den Werth feines 
Buches noch erhöht haben, wenn er die oft loſe angehängten ftatiftifchen Angaben 
ganz außgelafien hätte; denn einmal können fie nicht erichöpfend fein, dann aber leſen 
fie fich meiftens jo troden, wie Auszüge aus dem amtlichen Cenſus oder einem 
ftatiftifchen Handbuche, und ermüden mehr, als fie anziehen. 

Dagegen find Ratzel's Naturfchilderungen einfach, anjchaulich und klar (4. B. die 
Einfahrt in die New-Norker Bay und die Landichait am Hudfon, die Lage von Rich- 
mond und San Francisco), das völkerverbindende Moment des Waflers ift im Geiite 
unjerer neueren philojophiich-geographiichen Schule überall richtig charakterifirt (Ber 
deutung, Staaten- und Fluß⸗Gebiet des Miffiffippi, Lage von New-Orleans und die 
Küfte des Stillen Oceans). Sodann ift der Inhalt und das Ziel der amerifanifchen 
GEntwidlung faft immer richtig angedeutet, die Bemerkungen über den Süden find 
gerecht umd einzelne ausführliche Erzählungen, wie die Unterredung mit dem deutſchen 
MWaffenhändler und Holzichneider in Richmond, äußerft wahr und zugleich charakte- 
riftiich Tür die Stimmung und Stellung einer großen Zahl von Deutjch-Amerifanern 
(Referent Hat ähnliche Unterhaltungen mit demjelben Manne gehabt). Endlich aber 
find die Beobachtungen des Verfaſſers über daß Streben der amerifanischen Frauen 
nach einer höhern Stellung im Leben und ihre Bildung reſp. Verbildung, jowie der 
dadurch bedingte fördernde und verberbliche Einfluß auf die Geſellſchaft pſychologiſch 
fein begründet und thatjächlih wahr. Kurz, das Buch bietet, jo ſtizzenhaft fein 
Charakter auch fein mag, eine ſolche Fülle von belehrenden Thatfachen, verjtändigen 
Ausfprüchen umd geiftreichen Winken, daß e8 überall zum Bergleichen und Denken 
anregt und jedem deutjchen Vergnügungsreifenden, welcher von Hamburg oder Bremen 
aus den Heutzutage faſhionablen Ausflug nach New-York, Niagara-Falls, Chicago, 
Salt Sale Eity und San Francisco unternimmt, mit dem bejten Gewiffen ala an- 
genehmer Begleiter empfohlen werden kann. 

Nachdem ich Hiermit den Vorzügen des Werkchens bie verdiente Gerechtigkeit 
babe widerfahren Yaflen, will ich mich ebenjo unbejangen über feine Lüden und 
Mängel ausfprechen. Ratzel faßt jeine Aufgabe zu jehr vom Touriſtenſtandpunkte 
auf, von welchem aus er nicht in den Kern der Dinge eindringt, jondern lieber Teicht 
und angenehm plaudert. Er fühlt das jelbft, indem er fich in der Vorrede ent- 
ſchuldigt, daß er die jocialen Zuftände, die Städteverwaltung, die Preffe, die Stellung 
ber Deutichen in den Städten nur geftreift habe; indefjen kann man diefe nachträg- 
liche Entſchuldigung doch nicht gelten laſſen. Wer eine Eulturentwidlung zeichnen 
will, darf einige der wejentlichften Grundzüge, welche die Untermalung der Charafte- 
riftit bilden, nicht bei Seite Liegen laſſen und ftatt deſſen nur gelegentliche Pinfel- 
ftriche anbringen, weil er jonft ein falſches Bild, namentlich nicht die rechte Perfpec- 


Literariſche Rundſchau. 345 


tive liefert. Ebenſo wichtig, wenn nicht wichtiger als Schulen, und ſonſtige Anſtalten, 
Geſundheitsämter, Märkte und Zeitungen, ſind die innere und äußere Verwaltung 
einer Stadt, die Elemente und der Charakter ihrer Bevölkerung, für den deutſchen Leſer 
ſpeciell aber die Stellung der Deutſchen in den Städten, ſowie ihre Bedeutung für 
die Entwicklung des Landes. Im Ganzen gelingt dem Verfaſſer die Beſchreibung der 
jungen Niederlaſſungen und Städte im Weſten beſſer als der im Oſten blühenden 
älteren Handels- und Hafenplätze. Der Grund ſcheint mir einfach darin zu liegen, 
daß hier die Verhältniſſe ſchon vertwidelter find und die Anfänge nicht jo klar zu 
Tage treten, während man im Weiten einer noch jo jungen Entwidlung gegenüber- 
ſteht, daß man fie entweder mit Händen greifen oder beim erjten beiten Einwohner 
leicht ermitteln fann. Aus diefem Grunde ift 3. B. Cincinnati befjer als New-York, 
Chicago befjer als Gincinnati, Denver Gity befjer ala Chicago geichildert, und aus 
demjelben Grunde find auch feine Gulturbilder beffer ala die Städtebilder, weil fie 
mehr in der lebendigen Gegenwart wurzeln und weniger eine gefchichtliche Vertiefung 
verlangen. Der Berfafler ift eben mit der politiichen und ökonomischen Entwidlung 
und der Gefchichte des Landes wenig oder nur jehr oberflächlich befannt; aus diejer 
Unfenntniß aber folgen jeine Trugjchlüffe, unbegründeten Vorausſetzungen und feine 
mit unterlaufenden Zufunftsphantafien. 

Sch will mich in dem Folgenden mit Herrn Nabel in zwei Punkten auseinander- 
jehen, um an ihnen meinen theilweifen Widerfpruch gegen feine Auffafjung zu be 
gründen und einzelne feiner Ausführungen zu widerlegen, näher zu motiviren oder 
auf ihr richtiges Maß zu beſchränken. Zunächſt alfo will ich hervorheben, daß der 
Verfaſſer einen falſchen Maßſtab an die Bedeutung der amerifanijchen Städte für die 
nationale Entwidlung und das geijtige Leben des Volkes legt. 

Sn Europa bringen allerdings die Städte dad Größte, Beſte und Eigenthüm— 
lichſte ihres Landes zur vollſten Geltung und find die Mittelpunfte jedes Gultur- 
fortſchrittes. In Amerika ift das bisher nicht der Fall gewejen. Mit einziger Aus— 
nahme von Boſton, welches in dieſer Beziehung ganz eigenartig dafteht und diefe 
feine Eigenart bis dor Kurzem unverſehrt bewahrt Hat, werfen die amerifanifchen 
Städte wenig oder gar fein geiftige® Gewicht für die Entwidlung des Landes in die 
Wagſchale. Es iſt deshalb nicht zu viel gejagt, daß deſſen Geichichte ziemlich die 
felbe geworben jein würde, wenn man fich die Städte zu gewöhnlichen Handels— 
factoreien herabgedrüdt denkt. In Europa ift die Stadt ein einheitlich geſchloſſenes 
Gemeinwefen, welches vermöge des nationalen Bewußtfeind der gleichen Abjtammung 
und Sprache, wenn nicht Religion, der überlieferten Anfchauungen und Sitten, kurz 
dermöge jeiner inneren Zufammengehörigfeit und derjelben allgemeinen Intereſſen, 
einen mehr oder minder lebendigen Gemeingeift aus fich heraus erzeugt und je nach 
feiner Größe, Gejhichte und Stellung zum Staat nach bejtimmt begrenzten Intereſſen 
verwaltet wird. Selbſt in ber größten deutjchen Stadt, in Berlin, hat der mafjen- 
hafte Zuzug der außerhalb feiner Mauern geborenen, ihrer großen Mehrzahl nach 
deutichen Bewohner den Charakter und die Verwaltung der Stadt nicht zu verwilchen 
vermocht. Trotz der einander vielfach widerjtreitenden mächtigen Intereſſen find 
genug einigende Punkte vorhanden, welche den Namen eines ftädtifchen Bürgerthums 
zur Wahrheit machen. 

Eine amerikanische Stadt dagegen iſt ihrem Urfprunge nach ein Ort, an welchem 
fich eine größere oder kleinere Anzahl von Handwerkern, Gewerbetreibenden und Kauf- 
leuten zur Betreibung ihrer Gejchäfte niedergelaffen und Häuſer, Waarenlager, Straßen 
und Docks erbaut Hat. Diefe aud allen Staaten der Union, Häufig aus allen 
Ländern der Welt durch ihr Intereſſe zufammengeführten Atome hält zunächit Nichts 
zufammen als ber Gelderwerb. — Die Anlage diefer Niederlaffungen ift meiſtens 
eine Privatipeculation, häufig ein Fehlſchlag und jelten ein Erfolg. Dean fordert 
zur Gründung einer Stadt auf wie zur Betheiligung an einer Lotterie. Die Chi- 
cagos find das große Loos, die meilten Städtchen fommen als Nieten heraus. Dean 
fährt die letzteren weg gleich einem Stüd Hausrath, wie Natel dad auch von Cheyenne 


346 Deutiche Rundſchau. 


berichtet. Als ich 1852 am mericanifchen Golfe ftatt der auf der Karte groß ge— 
druckten Stadt Velasco nur ein paar elende Hütten fand, belehrte man mich, daß 
man dor etiwa zwölf Jahren faft die ganze Stadt nach dem befjer gelegenen Gal- 
veiton gefahren habe. Als ich im Herbit 1858 zwilchen Winona und St. Paul an 
einem jumpfigen Arm des Miffilfippi an's Land ftieg, um eine neugegründete Stadt 
zu fuchen, deren Namen mir entfallen ift, fand ich unmittelbar am Lande ein einzeln- 
jtehendes Haus, welches an zwei jeiner Eden die Straßenbezeichnung Jadjon Avenue 
und Tenth ftreet trug. Die Straßen 1—9 ftanden freilich nur auf dem Papier, und 
ich bezweifle, ob jpäter fie oder noch neue Avenues Hinzugelommen find. Wenn 
von Hundert derartigen Verfuchen und Nejtern eines emporkommt, jo ift das ein 
hoher Procentſatz. Jeder Staat hat höchſtens einige Städte, bei welchen fich aus 
günftigen äußeren Berhältniffen ein gefunder Kern entwidelt und allmälig zum ftarken 
Baume heranwächſt. Die älteren Städte des Oſtens jtehen zwar ihren europäiſchen 
Schweitern an Golidität und Pracht ihrer Bauten und Öffentlichen Anlagen nicht 
nach, übertreffen fie jogar oft durch ihre Eleganz und ihren Comfort; indeflen haben 
fie feinen jo ausgeprägten nationalen Charakter, können ihn auch nicht haben, und 
unterscheiden ſich auch wieder fo jehr untereinander, daß der Fremde fie kaum als 
demfelben Volke angehörig erkennen wird. So kann New-York nur deshalb die 
größte amerifanifche Stadt genannt werden, weil e8 in den Vereinigten Staaten liegt. 
Volle fünfzig Procent feiner Einwohner find Fremdgeborene. Als iriſche Stadt ift 
ed größer als Dublin, als deutfche folgt es, wenn nur die Bevölkerungsziffer berüd- 
fihtigt wird, gleich auf Hamburg; alle Nationen der Welt, jogar Chinefen und 
Sapanejen, find hier vertreten; Griechen haben bier ihre Gapelle, Spanier und 
Portugiefen, Schweden, Polen und Böhmen ihre Zeitungen; Furz, New-York ijt eine 
große internationale KHarawanferei, ein Wallenftein’ches Lager, und das einzige 
gemeimjame Band, welches die umgleichartigen Elemente jeiner Bevölkerung umfchlingt, 
ift die Gucht nad Erwerb und Reichthum. Bon einer jolchen Bevölkerung wird 
man feine Früchte erwarten wollen, wie fie die großen Städte Europa's zeitigen. 
Der geiftige Fortichritt des Landes wird deshalb von New-York auch durchaus nicht 
im Berhältniß zu feiner Größe und feinem Reichthum gefördert. Es leben dort 
allerdings vortreffliche Gelehrte, hervorragende Männer auf allen Gebieten des Wifjens 
und Könnens, man findet dort auch edle Bürgertugend und hochherzige Gefinnung ; 
allein fie find ohnmächtig gegenüber den Maflen, deren verworfenjte Glieder jo viel 
zählen, wie die tüchtigften Männer. Wer nach New-York fommt, kann fich dort 
bilden und auf allen Gebieten des Lebens lernen; indeſſen „das Beite und Eigen- 
thümlichſte des amerikanischen Volkes“, wie Herr Nabel meint, bringt es durchaus nicht 
zur vollen Geltung. Hätte diefer der Verwaltung der Stadt, ihrer Entwidlung umd 
Gefchichte mehr Aufmerkſamkeit geichentt, ehe er nah Amerika kam, jo würde er 
ficherlich ein anderes Urtheil gefällt haben. Bei feiner Ankunft dagegen konnte er 
es nicht erfahren, denn einmal wifjen die wenigjten New-Yorker jelbjt Etwas davon, 
und diejenigen, welche vielleicht mit dem Unterlauf des dortigen öffentlichen Lebens 
befannt find, jagen jchon aus falſchem patriotiichem Stolze dem Ankömmling Nichts 
davon, weil fie diefem möglichft imponiven wollen. Was New-York an der öftlichen 
Küfte, das wird mit der Zeit San fyrancisco an der wejtlichen, das ift zum Theil 
Ihon Chicago im Innern, das ijt überhaupt der Typus der emporjtrebenden amerika— 
niſchen Stadt. 

Die folgenden Bemerkungen über New-York als die zweitgrößte Metropole 
des Weltverkehrs haben den Zweck, eine andere Lüde in den Beobachtungen und der 
Darftellung des Verfaſſers nachzumweifen. Alles, was in New-York mit dem Handel 
in Beziehung fteht, ift groß, weltumfaflend, fühn gedacht und ebenſo gut durchgeführt. 
In diefer Seite feines Weſens erſchöpft ſich aber auch feine Bedeutung für die Ver- 
einigten Staaten und die civilifirte Welt. Nach London ift New-York die größte 
Handelsftadt der Welt, für den Kaufmann aljo eine wahre Hochſchule. Wer aber 
nicht Kaufmann oder Geſchäftsmann ift und mittelbar oder unmittelbar vom Handel 


Literariſche Rundſchau. 347 


und Geſchäft leben will, der bleibe von New-York weg, der denke ſich, ehe er ſich in 
dieſen Maelſtrom ſtürzt, die an amerikaniſchen Fabriken gewöhnlich angebrachte 
Inſchrift auf einem Rieſenbanner zwiſchen Long Island und Staaten Island aus— 
geſpannt: „No admittance except on business!* Denn New-York gehört ausſchließlich 
dem Saufmann. Diefer bat Verbindungen mit der ganzen Welt, deren Handeld- 
emporien ihm mit dem unterfeeifchen Draht Tag und Nacht Bericht erftatten. Er ift 
einer der bedeutenditen Factoren der amerikaniſchen Eultur- und Völferentwidlung, 
bejtimmt die Politif des Landes und übt feinen Einfluß auf den ganzen Gontinent 
aus. So gründet er neue Städte oder vernichtet bereit3 beftehende und führt Krieg 
oder ſchließt von Wallitreet aus Frieden, wie 3. B. in Gentralamerifa, wo ihrer . 
Zeit die „Dampfſchiffkönige“ Banderbilt und Garrifon, um fich das Handelsmonopol 
nach Californien und dem ftillen Ocean zu fichern, amerifanifche Abenteurer unter 
Waller in’3 Land riefen, Regierungen ftürzten und neue einjehten. 

Aber wie ift num New-York das geworden, was es ift? Die Antwort auf diefe 
Trage, welche eine große geichichtliche Fernſicht eröffnet, bleibt uns das vorliegende 
Buch ganz ſchuldig. 

Die Vorausbeſtimmung New-York's zu einer hervorragenden Handels und Welt- 
ftadbt war bis zum Anfang dieſes Jahrhunderts durchaus nicht jo unbedingt erkannt, 
ja jelbjt von den bedeutendften Männern des Landes nicht jo geahnt, ala Herr Ratzel 
annimmt. DBerjchiedene Ereignifje, darunter große, in der Politik des Landes be— 
gangene Fehler und Irrthümer, mußten erjt zufammentreffen, ehe New-York die 
große Handelametropole des Gontinents werden konnte. Obſchon bereitd 1623 ge- 
gründet, blieb es doch bis zum Ende des vorigen Jahrhunderts eine unbedeutende 
Stadt mit faum 30,000 Einwohnern und mit verhältnigmäßig nur geringen mari- 
timen Beziehungen. Bis zur amerifanifchen Revolution war ſelbſt Charlefton ein 
viel bejuchterer Hafen ala New-⸗York. Der Grund für dieſe anfcheinende Anomalie 
lag einmal darin, daß damals die Ausfuhr Charlejton’3 viel bedeutender war, dann 
aber darin, daß man zu jener Zeit noch glaubte, man könne den Golfjtrom nur in 
üblichen Breitegraden durchſchneiden, ſo daß man erft von Savannah und Charlefton 
aus der Küſte entlang nach den nördlichen Häfen fuhr. Unter diefen war bis zum 
Jahre 1820 Philadelphia dem günftiger liegenden New-Nork bedeutend überlegen, 
weil e8 den natürlichen Markt für ein beffer angebautes und bevölfertes Hinterland 
bildete. Nun hat New-Nork zwar einen der vortrefflichiten Häfen des Landes, ja der 
Welt; aber e8 iſt noch lange nicht der tiefjte und geräumigfte der atlantifchen Küfte. 
Abgeſehen von Newport in Rhode Island, welchem die leichte und directe Verbindung 
mit dem Inland fehlt, ftreitet Norfolt in Virginien mit New-York um den erjten 
Rang, ja übertrifft es vermöge feiner natürlichen Vorzüge. Ziemlich nahe am at- 
lantiſchen Ocean gelegen, durch die Vorgebirge Charles und Henry geſchützt, nie zu— 
frierend , ift Norfolk nicht ein einzelner Hafen, fondern eine ganze Reihe von Häfen, 
wie Port3mouth, Gosport und die gegenüber Liegenden Rheden, mit dem Herrlichiten 
Ankergrunde für die tiefgehendften Schiffe, für alle Flotten der Welt, ja zugleich 
beherricht es die Chejapeafebay, jene herrliche, 200 englifche Meilen tief in’3 Land 
einjchneidende, 4—40 Meilen breite Bucht, in deren Bereich die fünf Staaten Penn- 
Iylvanien, Delaware, Maryland, Virginien und North Carolina Liegen, und in deren 
Gewäfler mehrere große, bis tief in's Land hinein jchiffbare Ströme, wie der Susque— 
bannah, Potomac und James River, münden. Beinahe gleich weit von Maine und 
von Florida entfernt, erjchließt die Cheſapeakebay zugleich den Fruchtbarjten und beiten 
Theil der Vereinigten Staaten, den eigentlichen Garten des Oſtens. Will man ſich 
ein ungefähre Bild von der Lage und Bedeutung diefer großartigen Wafferfläche 
machen, jo lege man die rechte Hand auf den Tiſch, mit dem Kleinen Finger nad) 
Oben, und den Daumen, möglichjt weit von einander gejtredt, nad) Unten. Während 
der Eleine Finger in feiner Richtung zum Ballen der Hand den Susquehannah, der 
Goldfinger den Potomac, der Mittelfinger den Rappahannod und der Zeigefinger 
den James River bedeuten, bezeichnet die Spihe des Daumens die Lage von Norfolk 


348 Deutiche Rundſchau. 


und der Rüden der Hand ſelbſt bis zum Anſatz an das Gelenk die Cheſapeakebay. 
Wenn nun Norfolk troß diefer umvergleichlichen Lage nicht die gebietende Handels— 
metropole des Gontinent? geworden ijt, jo können e& nur fünftliche, von den Menſchen 
geichaffene Hinderniffe an der Einnahme der ihm don der Natur gebotenen Stellung 
gehindert Haben. 

An der That ift dem fo, denn die Sklaverei hat Norfolk nicht auflommen laſſen. 
Der natürliche Schwerpunkt der Union lag, wie dies durch ihre geographiiche Lage 
und größere Fruchtbarkeit bedingt war, in den Mitteljtaaten Pennfylvanien, Mary- 
land und Pirginien mit ihren weftlichen Fortſetzungen bis nach Mifjouri. Zur 
Entwidlung ihrer bedeutenden Hilfsquellen gehörte in erjter Linie die Einwanderung. 
Diefe Hielt fih aber den genannten, mit Ausnahme von Pennjylvanien, auf die 
Sklaverei gejtüßten Staaten fern, da freie und unfreie Arbeit fich nicht nebeneinander 
vertragen. So wandte fi) denn nothgedrungen der Hauptjtrom der europäijchen 
Einwanderung in den entjernter gelegenen, viel vauheren und mühſamer zu bebauenden 
Norden und Nordweiten. Michigan, Wizconfin und Minnejota 3. B. würden heute 
no, wenn nicht Territorien, jo doch nur unbedeutende, faum in die Peripherie der 
Givilifation getvetene Staaten fein, wenn die Sklaverei die natürlichen Voraus— 
jegungen nicht auf den Kopf gejtellt und Birginien, Maryland, SKentudy zc. 
zu Sklaven züchtenden Staaten erniedrigt hätte. Unter ihrem Zurüdbleiben im 
wirthichaftlichen Wettlauf mußte natürlich auch Norfolk dahinfiechen und froh fein, 
daß e3 als Kriegshafen der Vereinigten Staaten fein fümmerliches Dafein friften konnte. 

Diejer große wirthichaftlihe Proceß vollzog ſich nicht in bejtimmt wahrnehm« 
baren Webergängen, er läßt fich deshalb auch nicht nach Jahr und Tag genau 
firiren; aber man fann jagen, daß er mit der Ausdehnung der Dampfichifffahrt und 
mit der Annahme des Mifjouri-Compromifjes zu Gunften des Nordens entjchieden 
war. In New York erkannten denkende Politiker, wie Clinton, und große Kauf— 
leute, wie namentlich der Deutſche Aſtor, die großen Vortheile der Lage ihrer 
Stadt und legten mit der Bejonnenheit gereijter Erfahrung, aber zugleich mit dem 
Ungeftüm jugendlicher Eroberer zu Anfang ber zwanziger Jahre diejes Jahrhunderts 
den Grund zu der, feitdem mit jedem Jahre mächtiger entwidelten Größe der „Em: 
pire City”. Die erſte Veranlaſſung und Haupturfache ihres großen Aufſchwunges 
lag allerdings, wie das Herr Ratzel auch in einem, freilich jehr kurzen Satze erwähnt, 
darin, daß Clinton durch die Erbauung des Erie-Canals (1817—1825) die erjte 
wohlfeile Verbindung zwifchen dem atlantifchen Ocean und den großen Seen her- 
ftellte und durch diejes bedeutende Werk New-Nork zum beiten Einjuhrhafen und Aug- 
fuhrhafen nad) und aus dem Innern de Landes erhob. Fortan konnte die Anfied- 
lung des Nordweſtens methodiich in Angriff genommen und durch billigere, regel= 
mäßigere und ſchnellere Beförderung der großen Stapelartifel des Landes der Handel 
mit dem Weiten nach New-York gezogen werden. Bon den füdlicher gelegenen Haupt— 
häfen des Landes hatte New-Orleans feine Baumtolle, Charlefton feinen Reis und 
Indigo, Richmond und Baltimore waren die Mittelpunfte für die Tabadsausfuhr, 
während Philadelphia den größten Theil des Küſtenhandels und der europäijchen 
Einfuhr monopolifirte. New-York ftand Hinter ihnen allen zurück und mußte erft 
im Kampje mit ihnen feinen Handel aufbauen. Grit zog e8 Del und Thran, dann 
den Tabak, jpäter den Getreideervort und die californifche Goldausfuhr in fein 
Bereich, ja faſt jedes Jahr brachte — Dank der Umſicht und Energie feiner Kauf: 
leute! — einen neuen Grportartifel, jo daß die europäifchen Rheder New-York immer 
mehr allen anderen atlantifchen Häfen vorzogen, weil fie hier immer ficher auf lohnende 
NRüdfrahten rechnen fonnten. Mit den Erporten ftiegen auch die Jmporte, und 
beide vermitteln ein ſtets wachjendes Geld» und Wechjelgefchäft, die Anhäufung in= 
ländifcher und fremder Gapitalien, welche durch ihre Vorfchüffe im Laufe der Zeit 
auch den größten jüdlichen Stapelartitel, die Baumwolle, nach New-York zogen. 
Heutzutage fann im Süden die Tabadd- und Baummwollenernte, im Weſten die 
Getreideernte gar nicht mehr mobil gemacht werden, wern New-York nicht das Geld 


Literariiche Rundſchau. 349 


dafür ſchickt. Alle Verfuche von New-Orleans, St. Louis oder Chicago, fich diejer 
Oberherrſchaft zu entziehen, mußten bisher und müſſen ftet3 an der Gapitalarmuth 
ber Aderbauftaaten jcheitern. In natürlicher Folge des täglich zunehmenden Hans 
dels, der Leichtigkeit umd Sicherheit im Schiffäverfehr und der befjeren Verbindungen 
mit dem Innern zog New-York denn auch bald mehr Einwanderer an, als jänmtliche 
übrigen Häfen der Union zujfammengenommen und bildete wieder den natürlichen 
Markt für die Bedürfniffe und Erzeugnifje der jet mehr als zehn Millionen zählenden 
ländlichen Bevölkerung des Nordweſtens. Zur Zeit jteht feine Bedeutung und 
Suprematie jo feft, daß die vereinigte Gapitalkraft Englands und Amerika's fie zu 
vernichten faum im Stande fein würde. 

Die Entwillung New-Yorks ift alfo, wie ich bewiejen zu haben hoffe, weder 
„unerflärlich noch wunderbar” (I. ©. 20), ſondern die Wirkung von ganz natürlichen 
Urſachen. 

Schließlich möchte ih mit dem Verfaſſer noch über einen Punkt rechten. 
An einem feiner aus Bofton, December 1873, datirten Reifebriefe, den er nur theil- 
weife in die vorliegende Sammlung aufgenommen bat, jagt er in einem Rückblick 
auf die Gefchichte der Grafſchaft Ejier in New-York und den 1859 don dem Gtaate 
Birginien gehängten John Brown: 

„Wenn ich dieſe Gefchichten las oder hörte, ober felbft an die Orte fam, fügte fich ihrem 
natürlichen Intereſſe immer noch das bejondere an, daß ich fie gleichjam Hinter die Lüdenhafte, 
manchmal jchwer zu verförpernde, faft fchattenhafte Urgeſchichte unferes eigenen Volkes zu bringen 
fuchte, damit fie vielleicht ducchichienen und da und bort ein Licht hinwürfen. Wie mit der 
Natur gelämpft wird, welche Charaktere fi) da ala die werthvollſten erweiſen, was dem Geift 
und Gemüth in folchem Leben angeeignet wird — dies und vieles Andere hat, ganz unabhängig 
von der Eulturftufe, auf der e8 erjcheint, für alle Zeiten Bedeutung, weil es das Rejultat ber 
Berührung zweier nur langlam umd im Wefen jehr wenig fich ändernden Dinge: ber äußeren 
Natur und der Natur des Menichen, darſtellt. Ich glaube, daß Männer wie Victor Scheffel 
(deſſen Rufnamen übrigens Joſeph ift) oder Buftav Freytag Hier ungeahnte Bereicherung der 
Quellen finden würben, aus denen fie una ſchon jo manchen Lieben Schatten ber Vorzeit geträntt 
haben, daß er vor unſeren Augen zum Erftaunen wandelte und ſprach. Mögen fie fommen und 
Ihauen — e8 ift ein tüchtiges Gefchlecht hier vorhanden, deſſen Thun nicht poeſielos; wenn fie 
auch feine Märchen erzählen oder Volkslieder fingen, nicht viel von Spuf und Träumen mehr 
halten, jo haben fie doch ftarfe Herzen und Seelen, mandymal jogar bedeutend große. Und bie 
Natur ſteht noch aufrecht.“ 


Ich meine, Scheffel und Freytag brauchten nicht zu einem, feit faft anderthalb 
taufend Jahren von uns getrennten Volke zu gehen, um Licht in unfere „Lüdenhafte, 
faft Ichattenhafte Urgefchichte” zu werfen. Unſere eigenen Landsleute, welche die der 
Grafſchaft Ejjer benachbarten Theile des Staates New-York, das Gebiet des Mohawk und 
Schoharie, zuerft befiedelt und gegen Indianer, Franzofen und Engländer mannhaft 
vertheidigt haben, ſcheinen Heren Nabel gar nicht bekannt zu fein. Er muß offenbar 
von Weiler, Herkheimer, Schell und unzähligen Anderen nie gehört Haben, denn ſonſt 
wirde er nicht auf die Nachlommen der Puritaner verweifen, um bei ihnen zu juchen, 
was die deutichen Anfiebler im Kampfe mit den Clementen Großes geleitet haben. 
Will der Verfaſſer alfo Iernen, wie die auf fich ſelbſt angewiefene und vertrauende 
Kraft des Germanen glüdliche Gemeinweſen geſchaffen und lebenskräftige Staaten 
mit gegründet hat, jo jchöpfe er Lieber aus erjter Quelle und Iefe die Gefchichten der 
namentlich im vorigen Jahrhundert unternommenen deutſchen Anfiedelungen in den 
Vereinigten Staaten. 

Friedrich Kapp. 


23** 


350 Deutfhe Rundſchau. 


v. Kohann Anton Leifewis. Ein Beitcag Todtenbette ſtandhält, eine Nonue, bie lebendig 
ur Gefchichte der deutschen Literatur im XVILL | eingemauert wird: dieſe und andere furchtbare 
rt enge Bon Gregor Kutſchera von | Borftellungen treten uns entgegen. Der Kirch— 
Aihbergen. Wien, Gerold’8 Sohn. 1876. | hof ift bevorzugter Schauplag. Auch die obligate 

Das Studium ber neneren beutfchen Literatur: | Zigenneriu * nicht. Aber hinter dem ordi— 
geſchichte hat ſich ſeit einiger Zeit vorzugsweife |nären Apparat der Romantik ſtehen tiefe Ge— 
der Genieperiode des vorigen Jahrhunderts, bem | danlen; die Darſtellung ift nirgends trivial; 
fogenannten Sturm und Drang zugewenbet. | Pocfie, Kunft, Staat, Philoſophie, die irdiſche 

Hettner's Mare und fhöne Darftellung mochte | und die Geifterwelt erfchöpfen das Interefic des 

Manchen zu näherer Ausführung reizen, und Autors nicht; das Ganze aber erzählt der Held, 

das Beifpiel eines jungen vielverſprechenden ein zum Nachtwächter gewordener Dichter, im 

Literarhiſtorilers —— Schmidt (feit kur⸗ | Tone von Hamlet's Pbilofophiren. Der Adoptiv— 

zem Brofefjor in Straßburg), welcher den Ber- vater dieſes Helden ift ein Schufter, der an 

faffer der „Kindesmörberin”, Heinrich Leopold | Hans Sadıs und Jacob Böhme, die großen 

Wagner, in einer Monographie neu am’ Yicht | poetifchen und philoſophiſchen Scufter, fih au— 

ftellte, bat mehrfache Nacfolge gefunden. Auch |fchnt. Gin anderer armer Poet erbängt fich, 

der frübßverftorbene Autor der vorliegenden |da er für ein Zrauerfpiel „die Welt” feinen 

Schrift fand unter biefer Anregung. Er bat | Verleger gefunden hat. Der Prolog bed Haus— 

feinen Gegenftand mit großer Grümdlichleit erledigt | wurſtes wird daraus mitgetheilt: er entſchuldigt 

und über den Verfafler bes „Julius von Tarent” | fein Auftreten damit, daß nah Doctor Danvın 

Alles zufammengebradıt, was ihm Archive und | (Erasmus D., Großvater von Charles D.) 

Bibliotheken bieten mochten. Eine feltfame Pers | einentlih der Affe der Vorredner und Prologift 

jönlichkeit wirb un vorgeftellt: der „Zulius von | des ganzen — ——— ſei; und er, der 

Tarent“ machte dem Dichter berühmt, der pro⸗ Narr, ſei doch immer noch beſſer als ein Affe. — 

tuctive Trieb war aber jo fdwah in ihm, daß | Ein Roman von 3. A. Fehler „Bonaventura’s 

dies feine einzige Schöpfung blieb. Kutfcera myſtiſche Nächte” (1807) hat mit der vorliegenden 
ftellt bezeichnende Aenferungen aus Tagebüchern | Schrift wenig oder nichts gemein. 

zufammen: Leifewit fammelt, beobachtet, fest/x. Neue Eſſays. (Letters and social aiıns) 

die Feder an, zweifelt, verwirft, fucht neue An! von R. W. Emerfon. Autorifirte Ueber» 

regung, nutzt fie nicht aus; es bleibt Alles Frag- | ſetzung mit einer Einleitung von Julian 
ment. Höchſt interefiant ift ein Befuh in Schmidt Stuttgart, Auguft Berthold Auer- 

Weimar: Goethe zeigt in feinem Betragen die bad. 1876. 
rößte Simplicität; preift das Glück feiner Ein- R. W. Emerfon gehört neben Wajhington, 

amkeit im Gartenhänschen ; —— bie deutſche Irving, Bancroft und Longfellow zu den Liebens- 

Nation ein wahres Wort: „Wenn man ihnen | würbigiten, für uns Deutihe namentlich jyın- 

eine Blume zeigt, fo fragen fie gleich: riecht fie? ——— Vertretern amerilaniſcher Bildung. 

kann man Thee davon trinten ? bürfen wir es Er iſt Idealiſt, freilich fpecifiih amerilauiſcher, 
nachmachen?“ oder ſagen wir augelſächſiſcher Idealiſt. Es füllt 

v. Bibliothek deutſcher Curioſa. IT. u. TIT. ihm nicht ein, bie Snnfiche und verftandesmäßige 
Band. „Nadıtwaden von Bonaventura“. | Grundlage zu verfennen, auf der alles praltifde 
Lindau und Yeipzig, Wild, Ludwig. 1877. | &ebeihen und Gelingen ruht. „Das Weltall 
‚ Der erfte Theil dieſes Unternehmens, dem | „treibt keinen Scherz mit und, ſondern tritt ung 

wir den beiten Kortgang wünſchen, bradte eine | „ernft und feſt gegenüber als der Wobnfig ber 

Iergfäitige und gefchidte Auswahl aus Meißner's „Gefundheit und des Lebens. Trog aller Begeifte- 

einft fo viel gelefenen „Skizzen“. Der vorliegende | Frung des Poeten und Verzüdung des Frommen 

Band erneuert in zierlihen Schwabacher Drud|„madt aud ber am meiften zur Einbildungs- 

eine 1805 erichienene, fat ganz vergeſſene Schrift, | „Eraft_ und Abftraction geneigte Menſch nie 

welde, wie R. Haym (die romantifhe Schule) „ungeftraft einen Fehler in diefem Puntt — 

5. 636) mit Recht bemerkt, zu dem geiftreichften | „er verfucht weder feinen Ofen mit Waſſer zu 

Productionen der Nomantit gehört. Ob der| „heizen, noch trägt er eine Fackel in eine Pulver: 

Berfaffer Schelling fei, will Haym nicht ent» | „mühle, mod faßt er fein wildes Schladhtroß 

ſcheiden. Der ungenannte Herausgeber des „beim Schwanz Man follte einen ſolchen Ber- 

gegenwärtigen Abdrudes verfichert es beftimmt, ie weder an Andern vergeben, noch bei 
ohne die Sade jedoch befinitio zu erlediaen. | „jelber dulden“. Aber indem ber praltifche 

In Schelling's Entwidelung läßt fih das Wert- | Yanlee- Prediger (Emerfon war früher Prediger 

den wol einorbnen. Wie in Schelling's be: |einer Unitarier-Gemeinde, etwa ber äußerſten 

fanntem Gedichte „bie legten Worte des Pfarrers | Linken bes Proteftantenvereins vergleichbar) den 
zu Drotiming“ werden bier biüftere Bilder des | Thatſachen und dem Berftande ihr Necht läßt, 

Todes entrollt; man erinnert fich leicht, daß ber |erfennt er fie nicht als das Höchſte und End- 

Naturphilofoph um diefe er ſich ber praktiſchen gültige an. Die Natur ift ihm überall Symbol 

PHilofophie zumandte, daß er das Böſe in der und Offenbarung des Geiſtes. Die moderne, 

Natux zu erforfchen fuchte, wozu er vor allem | kritifche Wiffenfchaft, wenn fie Schritt für Schritt 

den Tod rechnete, daß er die Geſchichte als eine | die Vielheit der Erfcheinungen auf die Einheit 

große Tragödie anfehen wollte, die auf ber des MWefens, des Grundgeſetzes zurüd führt, 

Trauerbihne diefer Welt aufgeführt werde. Das |wirb ihm zur Tebendigen Offenbarung des Urs 

Motiv de8 Todtentanzes wird im bem Buche | geiftes, des Göttlichen. Aber fein begeifterter 

ſelbſt mehrmals angerufen ; Selbftinord in ver- Monismus hat einen myſtiſchen Zug, ift von 

ſchiedenen Geftalten, Wahnfinn, Ehebruch, Bruders | der Ahnung des Göttlihen, Abfoluten befeelt 
mord, ein Freigeift, der einem Bfaffen auf dem und durchwärmt. So ift ihm denn aud das 


Literarifche 


Wort, die Sprade fein Merk des Zufalls oder 
bes combinirenben Berfiandes, fondern die noth— 
wenbige und unmittelbare Offenbarung des | 
hinter und über ber Crideinung waltenben 
Lebens, und barım auch bie ſinnliche Kraft, 
der Rede der Mafftab ihres dichterifchen | 

Werthes. Es gebt, kein Wunder bei dem Lands⸗ 

mann und begeifterten Verehrer Shalefpeare's, | 

ein wahrer Eultus der Metapher, des ſymboliſchen 

Ausdruds durch alle feine Ausführungen über 

literarifche Dinge. Und wie für ibn das Wort 

von den Dingen geſchaffen wird und von ihnen 
zeugt, fo gilt ie ber Menſch, auch der gewaltigfte, 
nur als Vertreter und Ergebniß der in ber 

Gattung, im Ganzen waltenden Gefeße und 

Kräfte. Im diefem Sinne behandelten feine 

„Representative Men“, (mol vie bei uns 

elanntefte feiner Schriften) Plato „den Philo- 
fopben”, Smwebenborg, „ben Myſtiker“, 

Montaigne, „ben Steptiter”, Shalefpeare, 

„den Dichter”, Napoleon „ben Weltmann“ 

und Göthe, „den Schriftfteller”: nicht als 

biftorifche, perlönliche Erfcheinungen, fondern als 

Typen ber menichlichen Grundnatur. In ber- 

felben Weife handeln die vorliegenden Eſſay's 

von Poeſie und Einbildungstraft, von 

Gefellihaftliden Zielen (jpeciell von 

dem Werthe guter Formen und Manieren), von 

der Beredtfamteit, von unſeren Hilfs— 
mittelm (d. h. von ber Entwidelungsfähigteit 
der menſchlichen Kraft), vom Komiſchen, von 

Citaten und Originalität (wir leben 

Alfe zum größten Theile von Erinnerungen und 

Citaten, bie Berfaffer der Bibel nicht ausge- 

nommen), von Eulturfortihritt, von der 

Verfifhen Poeſie, der Infpiration, ber 

Größe, der Unſterblichkeit. 

Die deutſche Ueberſetzung ift, wenn nicht | 
überall, fo doch faft immer glatt und verftänbfic. | 
Die Einleitung von Julian Schmidt iſt will- 
fommen, weil fie zu denlen gibt. 

ꝙ. Die Technik des Drama's von Guftav 
be Bi Dritte, verbefjerte Auflage. Leipzig, 
S. Hirzel. 1876. | 

Nur anzeigendb braucht dieſes bereit zum 
dritten Mal erfceinenden Buches gedacht zu 
werben. Abftrahirend von weitläufigen äfthe- | 
tiſchen Raifonnements hat der Dichter der „Zour= | 
naliften* in feiner Technik praftifche Regeln über | 
Handlung, Charaktere und Bau des Drama’s 
in anſchaulicher, mit Beifpielen faßlich erläutern- 
der Darftellung niedergelegt und bamit dem | 
jungen Dramatifer die Aneignung ber erlern- 
baren Form weſentlich erleichtert, mie gleich— 
zeitig erftrebenswerthe Ziele für die Ausbeutung 
ſeines Talente gezeigt. j 
o Lyrifches Taſchenbuch. Gedichte von 

Karl Schend zu Schweinsberg. Darın- 
ftabt, L. Brill. 1877. 

Der frifche Hauch ber Wälder gebt durch 
diefe Gedichte, welche ſich nicht durch Mannig- 
faltigleit, wol aber durch Tiefe der Stimmung | 
auszeihnen; es waltet in ihmen ein feines Natur= | 
empfinden, ohne jebe Sentimentalität. Wir 
tönnen nicht fagen, daß die Form „tadellos 
wäre: Reime wie „Freude“ und „Beute” ver- 
rathen den Süddeutſchen; aber die volle Reinheit 















Notizen. — 


N 11 


Morgenroth, das geheimm Weben und 
Flüftern in Dämmerung und Mondesglanz beſingt 
er in gar anmutbigen Weiſen; ; aber auch bie Luft 
bes Jägers weiß er zu künden, und er müßte nicht 
der beutiche Dann Kein, als welcher feine Berfün: 
lichteit auß feinen Gefängen beſtimmt hervortritt, 
wenn nicht die Liebe zum DBaterland ihn zu ben 
ſchwungvollſten Strophen begeiftern — Ein 
männlicher Ton charalteriſirt die Balladen, deren 
dichteriſche Eigenart einigemale ganz vorzüglich 
getroffen iſt. 
ir geben als Probe folgendes Naturbild: 

Wol auf die ſtille Haide 

Blitzt hell der Morgenſchein; 

Der Wald im grünen Kleide 

Schaut lachend rings herein. 


Die friſchen Morgenwinde 
Sie ſpielen in dem Rohr, 
Es redt die ſcheue Hinde 
Den ſchlaulen Hals empor. 


Und übern duſt'gen Weiber, 
Und über's grüne Thal 
Zieht einfam ftolz der Reiher 
Hinauf zum —— 
g. Die Erde und ihre Völker. Ein geo— 
grapbifches Hausbuch von Friebrid von 
Hellwald. Stuttgart, Berlag von W. Spe 
mann. 1.—12. Lieferung. 

Friebrih von Hellwald Hätte, feine großen 
geographifchen Kenntnifje, das reiche Material, 
das ihm ald Rebacteur des „Auslandes" zu— 
fließt, nicht befier und für die Bildung bes Volles 
beilfamer verwerthen können, als dies burd) 
Herausgabe des angezeigten Hausbuches“ ge= 
ſchieht. Die bis jen! erfchienenen Lieferungen 
enthalten eingehende Befhreibungen von „Nord- 
amerika“ und „Sentralamerila und Weftindien,* 
bie nad) einer Einleitung über das Bodeurelief, 
Geſchichte, Bevöllerung, —** Zuſtände, geiſtige 
und materielle Cultur, Staatsorgauiſation ꝛc. 
der — Territorien der genannten Länder⸗ 
theile behaudeln. Die Illuſtrationen, die das 
Merk, theils im Text, theils als Tondrucholl- 
bilder in bedeutender Anzahl enthält, find un« 

eachtet des meift Heinen Formats faft aus— 

—* wahre Meiſterwerle in Zeichnung und 

Technik des Schnitts; beſonders iſt dies bei den 

Bildern landſchaftlichen Genres ber Fall. 

+ Sammlung gemeinnüsiger populär- 
wiſſenſchaftlicher Borträge. 2. Heſt. 
Entdedungen im Gebiete ber geiftigen Ver— 
rihtungen des Centralnervenfyftems von Dr. 
Joſeph Raith. Wien, Belt, Leipzig, 
A. Hartleben's Verlag. 1876. 

Die populäre Darſtellung ſo ſchwieriger 
und ſchwanlender Verhältniſſe, wie ſie derzeit noch 
in unſerem Wiſſen über bie Functionen ber 
Nervencentren herrſchen, birgt bie auch vom 
Berfaffer nicht völlig gemiedene Gefahr, Hypo- 
thejen dem Leſer ald Thatſachen vorzuführen; 
principiell” müſſen beshalb derartige Arbeiten 
als verfrüht bezeichnet werben, felbft wenn fie 
mit Gefdhid, wie die vorliegende, zufammen- 
geftellt find. Einige Errata ift Referent gern 
eneigt, auf Rechnung von Drudfehlern zu 
Ühichen. Das Sclufcapitel (Verſtand und Geift) 


und Harmonie des inneren Lebens Hingt melo« iſt für päbagogijche Ktreife, in denen der Vortrag 
dich durch das Buch. Der Dichter ift vornehmlich | zuerft gehalten wurde, inftructiv und beherzigend«- 
im Walde zu Haus; das Raufchen ber Wipfel im | werth. 


An den Heransgeber der „Deutſchen Rundſchau‘. 


— — 


Verehrter Freund! 


Ich hatte mir vorgenommen, im Anſchluß an die allgemeinen Wahlen die 
politiſche Lage in der inneren Entwickelung des Reichs zu beſprechen. Zu dieſem 
Zwecke hatten Sie mir einen Platz in der „Deutſchen Rundſchau“ zur Verfügung 
geſtellt, und wie ich erfahre, haben Sie den Beitrag bereits angekündigt. Um ſo 
lebhafter bedauere ich, daß ich für jetzt mich verhindert ſehe, mein Vorhaben aus— 
zuführen. Während ich, dem Drang der Geſchäfte entſprechend, einige leitende Be— 
trachtungen kurz zuſammenzufaſſen gedachte, überzeugte ich mich bald nach dem 
Beginn der Arbeit, daß mannigfache Gefichtspunfte nicht ohne Nachtheil für die 
Darftellung fih aus dem Zufammenhang löſen laſſen, und dag Thema erweiterte 
fich über dag Maß hinaus, für twelches mir mein parlamentarischer Beruf während 
des Neichdtagge Muße gewährt, So fah ich mich gendthigt, die begonnene Arbeit 
in der Mitte abzubrechen und bis zu den Parlamentsferien zu vertagen. Nun bleibt 
mir nur noch übrig, Sie, den gewiffenhaften Redacteur, um freundliche Nachficht zu 
bitten und mir vorzubehalten, daß ich nach vollendeter Arbeit um einen Platz in 
der „Rundſchau“ anfrage, 


Mit freundlichen Grüßen Ihr ergebener 


19, Victoriaſtr. Eduard Lafer. 
Berlin, den 14, April 1877. 


Berlag von Gebrüder Paetel in Berlin. Druck der Pierer’fchen Hofbuchbruderei in Altenburg. 
Für bie Redaction verantwortlib: Dr. Hermann Paetel in Berlin. 
Unberechtigter Nachdruck aus dem Inhalt biefer Zeitfchrift unterfagt. Ueberſetzungsrecht vorbehalten. 


Gordon Baldwin. 


Novelle 
von 


Rudolph Lindan. 


— — 


VI. 


Die Verlobung zwiſchen Gordon Baldwin und Fräulein Johanna Leland 
bildete Tagelang den Hauptgegenſtand des Geſpräches in der amerikaniſchen 
Colonie. Die jungen Mädchen und Frauen ſprachen davon in der Weiſe, die 
Johanna vorhergeſehen hatte. Keine von ihnen war auf den Erfolg, den dieſe 
errungen, eiferſüchtig; ja die Bemerkungen, die ſie darüber machten, zeigten wol 
hie und da einen leichten Schatten von Ironie. — Den jungen Männern war 
die Sache ganz gleichgültig. Sie hatten keine Anſprüche auf Johanna's Hand 
geltend zu machen, und fie waren geneigt, den Unbekannten aus Yeſſo als einen 
jehr muthigen Mann zu betrachten. Sie ſprachen den Wunſch aus, daß es ihm 
nit an Kraft gebrechen möge, die herrifche Fyrau, die er erwählt Hatte, zu 
zähmen. Einige prophezeihten, daß er dem Beifpiele jeines Schwiegervater folgen 
werde, der da3 Mufter eines gehorjamen Ehemannes geweſen war; Andere meinten, 
er jehe nicht au3 wie ein Dann, der geneigt ei, ſich von irgend Jemand, und 
wäre es von einer geliebten rau, am Gängelbande führen zu laſſen. — Die alten 
Herren und Damen, die nicht daran gedacht oder die aufgegeben hatten, für ihre 
unvderheiratheten Töchter oder Söhne auf Baldwin oder Johanna zu jpeculiren, 
waren mit der Verlobung einverftanden und gratulixten aufrichtig dazu. 

Forbes allein, obwol er die wachſende Zuneigung feines ehemaligen Gaftes 
für Fräulein Leland bemerkt und beobachtet hatte, war von der Mittheilung 
der Verlobung zwiſchen Baldwin und Johanna betroffen. Er hatte niemals 
den Entihluß gefaßt, fih um die Hand des jungen Mädchens zu bewerben. 
Er liebte fie nicht; aber er jah wol, daß fie an Schönheit und Klugheit alle 
anderen unverheiratheten Amerifanerinnen, mit denen er in Berührung kam, über- 
tagte. Es war ihm auch) keineswegs entgangen, daß er Johanna, obgleich fie 
ihn ftet3 mit der größten Zurüdhaltung behandelt hatte, nicht gleichgültig jet. 
Männer find in diefer Beziehung ebenſo ſcharfſichtig wie Frauen und haben eine 

Deutfche Rundſchau. III, 9. 24 


354 Deutſche Rundſchau. 


große Vorliebe für Diejenigen, denen fie gefallen. Mehr als, einmal hatte Forbes 
fih gejagt, daß, wenn ihm die Luft zum Heirathen noch kommen follte, ex 
Johanna Leland zur Frau nehmen würde. Er dachte dabei an fie, wie er an 
irgend ein foftbares Kunftwerf für feinen Hausftand hätte denken können, das 
nur mit großen Opfern erworben werben konnte, dafür aber auch entjpredjende 
Annehmlichkeiten mit fich bringen würde. „Sie würde gut repräjentiren,“ jagte 
er ſich; „fie würde fich bei einem großen Diner im Hötel Yorbes als Dame des 
Haufe, oder auf einem Balle, oder neben mir in der Kalejche vorzüglich aus— 
nehmen.“ Daß er diefen „mwerthvollen Gegenftand“ möglicherweiſe nicht be- 
fommen könnte, wenn ex ihn eriwerben wollte, war ihm ebenjo wenig eingefallen, 
wie ihm der Gedanke kam, daß es ihm unmöglich fein würde, ein jchönes Bild, 
da3 ihm gefiel, zu faufen. Es handelte fih nur darum, den vollen Preis dafür 
zahlen zu wollen. Bi3 jet war ihm Johanna Leland gewiſſermaßen zu theuer 
gewejen. Sie war ihm nicht werth, die zahlreichen Annehmlichkeiten eines un— 
gebundenen Junggeſellenlebens für fie aufzuopfern; aber er. hatte ihr nie ganz 
entjagt. Sie war in ſeinem Geifte wie in einem Sauffatalog al3 wünſchens— 
werthes Stüd „notirt“, und er wartete nur auf eine Gelegenheit, auf eine 
günftige Gemüthsftimmung, um den Handel abzuſchließen und den entſcheidenden 
Schritt zu thun. Er Hatte niemals in Betracht gezogen, daß Johanna ihm ent— 
gehen könne; er hatte feinen der zahlreichen Bewerber um ihre Hand gefitcchtet ; 
Baldwin weniger, als ziwei oder drei andere, denen das anjpruchsvolle, ſchöne 
Mädchen einen Korb gegeben hatte. Der „Wilde“ war ein guter Menſch; aber 
das konnte die praktiſche Landsmännin unmöglich für ihn beſtechen; ex beſaß 
ein hübſches Vermögen; aber er war nad) Forbes'ſchen Begriffen nicht einmal 
reich zu nennen. Weshalb Hätte Johanna ihn anders behandeln follen, als fie 
ihre früheren Liebhaber behandelt hatte? — Und nun hatte fie es doch gethan. 
Gordon Baldwin war ihr verlobter Bräutigam; fie war für ihn, Georg Yorbes, 
verloren. 

Die Sache ſchmerzte ihn im erften Augenblick nicht gerade; er empfand nur 
eine eigenthümliche, unangenehme Unruhe. Er fühlte, daß ihm von nun an 
Etwas, dag zu feinen Leben gehört hatte, fehlen würde. So Manches, worüber 
er feit langer Zeit nicht nachgedacht hatte, fiel ihm plößlich ein und trat mit 
unerfreulicher Lebhaftigkeit vor jeine Seele. Er bemerkte auf einmal, daß er 
nicht mehr ganz jung jei, daß man bereit3 anfange, ihn wie einen alten Jung— 
gejellen zu behandeln. Wenn er in Gejellichaft ging, jo forderte ihn die Dame 
des Hauſes nicht mehr wie früher auf, zu tanzen, jondern der Wirth flüfterte 
ihm mit einem vertraulichen Lächeln zu, er würde im Heinen Salon einen Whift- 
tiſch bereit finden. Er machte fich zum erften Dale Har, daß all’ fein Reichthum 
ihm noch feinen Freund gekauft Hatte, und daß die Einfamteit, die ihn früher nie 
gedrürft, am Ende doch recht unerjprießlich jei. Der Gedanke an Thomas Graham, 
der ihn ſeit langer Zeit nicht mehr behelligte, tauchte in ihm auf. Wenn er Thomas 
in feiner Nähe gehabt hätte, jo wäre er nicht allein geweſen. Aber zwiſchen 
ihm und Jenem lag eine Welt. Sie konnten ſich einander nie wieder nähern — 
Er mufterte im Geifte die jungen, heirathafähigen Mädchen, die er kannte, und 
fand unter ihnen nicht Eine, die Johanna Leland hätte erſetzen können. Er 


Gordon Baldwin. 355 


zürnte diefer. Es kam ihm vor, ala ob fie ihn rüdfichtslos, ungerecht be— 
handelt habe. Es eriftirte jeit Jahren ein eigenthümliches, intimes Verhältniß 
zwijchen ihnen; fie hätte dafjelbe „kündigen“ jollen, wenn fie es abzubredhen 
wünſchte. Er hätte Befjeres von ihr erwartet, als daß te ji einem fremden 
Menſchen „an den Kopf werfe“. Aber es war num geſchehen. Ex wollte nicht 
barüber Flagen; er wollte gute Miene zum böfen Spiele maden. Er ging zu 
Baldwin, den er zu Haufe fand, und gratulirte diefem in anjcheinend herzlicher 
Weiſe; von dort fuhr er nad) der Avenue Friedland, wo er eine Karte ließ, auf 
die er mit Bleiftift gejchrieben Hatte: „Beſte Glückwünſche“. Dann begab er 
fi wieder nach jeiner Wohnung und bemühte fich, fich einzureden, es ſei nichts 
Außerordentliches in jeinem Leben vorgefallen. Er gähnte noch mehr als ge= 
wöhnlich, fand das Diner, dad man ihm in feinem Café vorjeßte, ungenieß- 
bar, und erklärte, er werde nicht wiederfommen, wenn man ihn nicht befler 
bediene; erklärte da3 Stüd, das von ben beiten Komifern im Palais Royal 
gegeben wurde, für entjelich langweilig und albern; und hielt ſich nur kurze Zeit 
am Spieltiih auf. Vom Club ging er, gegen feine Gewohnheit, zu Fuß nad 
Haufe, um auf den öden Quais frijche Luft zu ſchöpfen und fi müde zu 
gehen. 

Die breite, ſchöne Promenade längs der Seine, vom Pont Royal bis zum 
Pont d’Iena, ift des Abends beinahe vollftändig verödet, Yorbes konnte jeinen 
Gedanken ungeftörten Lauf laffen und ging dort eine gute Stunde lang auf und 
ab. Der ftille Ort gefiel ihm, und er fehrte jeitdem Häufig dorthin zurüd. Eine 
nicht unbedeutende Veränderung mußte in ihm vorgegangen fein, damit er, der 
bi3 dahin niemal3 Träumereien nachzuhängen pflegte, an diefen einfamen Spazier- 
gängen Vergnügen fand. Aber er träumte nun, gerade wie andere, weniger Talte 
Leute. Er dachte daran, daß fein Leben hätte beffer werden können, als es nun 
zu werden verjpradh, und daß man uneigennüßige Liebe, oder was derjelben 
ähnlich fieht, nicht ungeftraft verachtet. Für Thomas Graham, Gordon Baldwin 
und Johanna Leland war, er nicht nur der „reiche“ Forbes geweſen; aber er 
hatte auch bei ihnen Selbftjucht beargwohnt. Und nun war e8 zu ſpät, feinen 
Irrthum wieder gut zu machen. „Zu ſpät!“ Er wiederholte das bittere Wort 
immer und immer wieder. Er fühlte wol, daß Baldivin ihm die alte ver— 
trauende Zuneigung nicht wieder gejchentt Hatte, und daß Johanna niemals 
wieder für ihn fein konnte, was fie getvefen war. „ch befite doch eigentlid) 
herzlich wenig auf der Welt,” ſagte er ſich, „troßdem ich ein reicher Mann bin.” 

63 war Sommer geworden. Die meiften Belannten des Brautpaares 
waren bereit aus Paris verſchwunden oder bereiteten fi) darauf vor, nad) einem 
Babeort zu gehen. Auch Forbes’ Sommerpläne waren gemadt, und unter ge- 
wöhnlichen WVerhältniffen würde er bereit3 auf Reifen geweſen fein. Er hatte e8 
aber nicht gewagt, Baldwin’ Einladung zur Hochzeit abzulehnen. &3 wurde 
ihm im Allgemeinen nicht ſchwer, eine abjchlägige Antwort zu geben; wenn er 
in diefem Falle „Ya“ jagte, jo geichah dies weniger, um Baldwin gefällig zu 
fein, als um den Schein zu vermeiden, ex ſei durch die bevorftehende Verhei— 
rathung unangenehm berührt. 

Forbes und Fräulein Leland jpielten vor den Augen der Welt eine Komödie, 

24* 


356 Deutſche Rundſchau. 


die Jedermann, nur fie ſelbſt nicht, vollkommen täuſchte. Forbes heuchelte 
freundſchaftliche, uneigennützige Theilnahme und erbot ſich zur mancherlei kleinen 
Dienſtleiftungen, die das Wohlbehagen des zukünftigen jungen Ehepaares zum 
Zwecke hatten. Johanna zeigte nie größere Zufriedenheit mit ihrem Schickſale, 
al3 wenn Forbes fich in ihrer und ihres Bräutigams Gefellichaft befand. Aber 
wenn fich die Blicke von Forbes und Johanna begegneten, jo twaren dies Blicke 
bitteren Vorwurf. Die junge Braut dachte des Abends darüber nach und jagte 
fi mit einem Gefühl jchmerzlichen Triumphes, daß Forbes nun zu ſpät bereue, 
was er gethan oder vielmehr unterlafjen habe; und Forbes, wenn er, bie Hände 
in den Taſchen, den Kopf nachdenklich gebeugt, auf dem einfanten Quai auf» und 
abging, wiederholte fi mit einem Stolge, der nichts Freudiges, nur Bitterkeit 
an fi) hatte, daß e3 jahrelang in feiner Macht geftanden habe, den Pla an 
Johanna's Seite einzunehmen, zu dem Baldwin fi nun emporgeſchwungen hatte. 

Baldwin und ber alte Herr Leland waren die beften Freunde und ganz 
glücklich. Auch nicht dev Schatten eines Verdachtes trübte ihre fichere Ruhe. 
Johanna hatte Baldwin’3 Antrag angenommen. Died war ben beiden einfachen 
Männern der befte Beweis, daß fie Baldwin liebe. Sie verftanden ſich ſchlecht 
darauf, pſychologiſche Räthfel zu erraten, und vermutheten nirgends ein Ge- 
heimniß. Johanna zeigte in ihrem Umgang mit Baldwin zwar nicht die ver- 
trauliche Hingebung, die diejer, in der Theorie, von feiner Braut erivartet hatte; 
aber er jehte die Zurüdhaltung, die fie ihm gegenüber beobachtete, auf Rechnung 
eine ängftlichen Gefühle weiblicher Wirrde, und liebte fie ihrer Kälte wegen 
nur noch mehr. — Der alte Leland war nicht jehr Icharffinnig, und feine Frau 
hatte ihn nicht durch Zärtlichkeit verwöhnt. Johanna's Haltung, threm Bräuti- 
gam gegenüber, erfihien ihm in jeder Beziehung natürlich und correct. 

Die zwei Monate bis zur Hochzeit flogen feanell dahin; und jo kam ber 
große Tag und ging vorüber wie alle ähnlichen Tage. Die Trauung fand mit 
angemefjenem Prunke ftatt. Viele von Johanna's Freundinnen waren don ihrem 
Landaufenthalte nach Paris zurückgekehrt, um die „Ichöne Miß Leland“ an ihrem 
Hochzeitstage zu. ſehen. Sie war in der That jehr ſchön bei diefer Gelegenheit: 
Man bemerkte, daß fie blaß ausſah und dab ihr Blick mit einer ſolchen Beharr- 
lichkeit zu Boden geſenkt war, daß nicht ein einziger der Hochzeitägäfte während 
der ganzen. Ceremonie ihre Augen jeher konnte. 

Zudem Frühftüd, das nad) der Trauung ftattfand, war nur eine Kleine 
Anzahl ber intimften Bekannten geladen: darunter Georg Forbes. Sein Auge 
juchte immer und immer wieder das der Braut; aber es gelang ihm nicht, 
Johanna's Blid auch nur ein einziges Mal zu begegnen. Sie ſchien Nichts * 
zu wollen und ſah Nichts von dem, was um ſie vorging. 

Das junge Pant verſchwand bald nad) dem Frühſtück in der geheimniß— 
vollen Weije, welche die Mode jeit einiger Zeit eingeführt hat, und war dan 
mehrere Monate lang von (feinem Bekannten mehr geſehen. — Forbes reifte 
gegen Ende des Monats nad Amerika, wohin ihn, wie ex behauptete, wichtige 
Geſchäfte riefen. — Der alte Leland ging nach Trouville, wo er zahlreiche Be— 
kannte antraf, denen er in regelmäßigen Zwiſchenräumen von acht bis zehn 
Tagen erzählte; ex habe die erfreulichſten Nachrichten vor dein jungen Ehepaar, 


Gordon Baldwin. 35 


das eine Hochzeitsreiſe in Norwegen und Schweden mache und dort fo glücklich 
jei, wie man. &8 won zwei Liebenden erwarten dürfe. - 


VII. 


» Herr und Frau Gordon Baldwin waren zu Anfang des Winters von ihrer 
Hochzeitsreife nach Paris zurückgekehrt und hatten fich in ihrer neuen Wohnung, 
die in der Avenue de l'Impératrice, einige Hundert Schritte vom Hötel Forbes 
gelegen war, niedergelafien. Sie führten dort ein zurückgezogenes Leben und 
jahen, außer Georg Forbes, nur wenige von ihren früheren Belannten. Nies 
mand konnte jedoch darüber jeine Verwunderung außfprechen. Die jungen Ehe- 
lente waren nämlich in tiefer Trauer Wenige Tage vor ihrer Rückkehr nach 
Paris Hatten fie die Nachricht von der plötzlichen Erkrankung umd, beinahe un- 
mittelbar darauf, von dem Tode des Heren Leland erhalten. Er war ein 
ſchwacher, herzensguter Dann gewejen, der von Allen, die ihn gekannt Hatten, 
betranert wurde. 

Frau Gordon Baldivin, des Berftorbenen einziges Kind, war die Haupterbin 
jeine3 ‚bedeutenden Vermögens; außer ihr. waren verſchiedene entfernte Verwandte, 
fowie auch Freunde und Bekannte mit mehr oder weniger reichen VBermächtniffen 
bedacht. Der alte, jeit Jahren von allen Geſchäften zurückgezogene Banquier 
batte, nach der Art von Leuten in jeiner Lage, die Verwaltung umd zukünftige 
Berwendung de3 von ihm erworbenen Vermögens bis zuleßt im Auge behalten 
und darüber in Elarer und ausführliher Weije verfügt. Sein Schwiegerjohn, 
Herr Gordon Baldwin, umd „der Sohn jeines verftorbenen Freundes Richard 
Forbes, der Herr Georg Forbes aus New-York, wohnhaft in Paris“ waren zu 
feinen Teftamentspollftredern ernatınt worden. 

Ein Paſſus in dem Leland’schen Teſtamente Hatte die bejondere Aufmert- 
ſamkeit Baldwin’3 erregt und war von Georg Forbes mit ſchwer zu verbergen- 
der Berlegenheit vernommen worden. Derjelbe lautete folgendermaßen: 

„. . erner eine Summe von 10,000 Dollars, in Worten: Zehntaufend 
Dollars, dem Heren Thomas Lansdale, dem Halbbruder. de3 Herrn Georg 
Forbes, meine Teftamentsvollitredders, Sohn des verftorbenen Major Thomas 
Lansdale aus Baltimore und feiner verftorbenen Ehefrau Maria Lansdale, geb. 
Kellog, ebenfalls aus Baltimore, in zweiter Ehe Frau des Herrn Richard Forbes 
aus San Francisco und New-York. — Diefe Summe von’ 10,000. Dollars ift 
Herrn Thomas Lansdale mit dem Bemerken zu übermitteln, daß ich nber allen 
Umftänden fein treuer Freund geblieben bin.“ 

Baldwin warf einen fragenden Blid auf Forbes, ala dieſe Alauſel verleſen 
wurde; aber dieſer hielt die Augen auf den Boden geheftet. 

„Ic wußte nicht, daß Sie einen Bruder haben,“ ſagte Baldwin, als er 
eine halbe Stunde jpäter mit Forbes von dem Amerikaniſchen Gonfulate, wo 
das Tejtament eröffnet tvorden war, nad Haufe fuhr. 

„Wir wollen davon ein andered Mal ſprechen,“ antwortete Forbes. „Die 
Geichichte meine Bruders ift eine lange und. nicht jonderlich Heitere Gejchichte. 
Ich bin heute nicht dazu aufgelegt, fie zu erzählen.” 


358 Deutſche Rundſchau. 


Im Allgemeinen erſchien Georg Forbes ſeit ſeiner Rückkehr von Amerika 
wenig zum Sprechen aufgelegt. Er war von jeher ein zurückhaltender Mann 
geweſen; ſeit Johanna's Verheirathung mit Baldwin war er geradezu wortkarg 
geworden. Die Reiſe nach Amerika, die er unmittelbar nach der Vermählung 
ſeiner Freunde unternommen, hatte nicht zu ſeiner Zerſtreuung beigetragen. Seine 
Landsleute waren ihm roh und unliebenswürdig vorgekommen. Die Männer 
erſchienen ihm eingebildet, voll ſchlecht gerechtfertigten Hochmuths; bei den 
Frauen und Mädchen mißfiel ihm der ungezwungene, laute Ton in dem Umgang 
mit Männern. Früher war es ihm ein angenehmer Zeitvertreib geweſen, mit 
feinen hübſchen Landsmänninnen lachen und ſcherzen zu können. Jetzt fand er 
ihr Weſen vordringlich, unbeſcheiden. — Er blieb nur einen Monat in den 
Vereinigten Staaten und kehrte ſodann nach Europa zurück. 

Die zehntägige Ueberfahrt von New-York nach Liverpool wollte kein Ende 
nehmen. Er wünſchte einen Sturm herbei, um nur etwas Abwechſelung zu 
haben; aber der Himmel blieb während des Tages blau und rein, während der 
Nacht wunderbar ſternklar, und das Meer lag, in großartiger, erdrückender Ein— 
fürmigfeit, wie ein ungeheurer Spiegel vor ihm. — Er liebte e3, Hinten auf 
dem Verdeck, fern von den anderen Paflagieren, allein zu fen und in die weiße, 
tanzende Schaumfurche zu bliden, die fich unabjehbar lang Hinter dem davon- 
eilenden Schiffe dahinzog. Er hing nicht etwa einem beftimmten, traurigen Ge— 
danken nad; er dachte nicht ettwa fortwährend daran, daß die Freunde, die er 
auf der Welt gehabt hatte, für ihn verloren ſeien. Nur undeutlih, vorüber- 
gehend, erjchienen vor feinem Geifte die Geftalten von Johanna, Gordon und 
Thomas; aber eine eigenthümliche, dumpfe Unruhe, wie das Worgefühl eines 
nahenden, ſchweren Unglüds, jchnürte ihm die Bruft zu. — „Was fehlt mir 
denn?“ fragte er ſich zornig. „Belite ich nicht Alles, um glücklich zu fein? 
Ich bin reich, ich bin noch jung. Iſt es mir nicht wie nur Wenigen erlaubt, 
das Leben zu genießen? Was fehlt mir?" — Er wußte fi feine Antwort zu 
geben; aber die Bruft blieb ihm beengt, und die unklaren, Schwarzen Gedanken 
ließen ſich nicht veriheuchen: eine unfruchtbare Vergangenheit, eine leere Zukunft, 
ein freudenloje® Dajein — und ein Hoffnungslofes. 

Der Sommer war noch nicht vorüber, als Forbes in England Tanbete. 
London und Paris, wo er fich einige Tage aufhielt, erſchienen ihm verödet, tödt- 
lich langweilig. In Paris blieb er achtundvierzig Stumden länger, al3 er ur- 
ſprünglich beabfihtigt hatte, um ein großes Bild, das er zufälligermweile bei 
einem Kunfthändler gefunden, zu betrachten, aufmerkſam zu prüfen und jchließ- 
lich zu kaufen. Gr befahl, es ſofort nad) feiner Wohnung zu jchaffen, wo er 
es an Stelle des jchönen, üppigen Rubens, der fein Schlafzimmer jahrelang 
geſchmückt Hatte, aufhängen ließ. 

E3 war ein häßliches Bild, an dem fich fein Auge nun des Morgens und 
des Abend3 meiden konnte. Es ftellte Seneca dar, wie er bluttriefend au8 dem 
Bade fteigt und fterbenden Munde Worte der Weisheit jpricht, die ein weinen 
der Schüler niederjchreibt. Unter dem graufigen Gemälde ftanden die Worte: 
„Taedet tamdiu eadem fecisse.* Forbes ließ ſich diejelben überfegen, und als 
er fie verftand, leuchteten feine Augen auf und er ſagte befriedigt und zuſtimmend: 


Gordon Baldwin. 359 


„DaB ift ein gutes Bild, und das ift ein guter Spruch“ — und ohne zu feil- 
ſchen zahlte er den hohen Preis, den der Kunfthändler für das Machwerk ver- 
langte. 

Don Paris reifte Forbes nach verfchiedenen Badeorten. Er fand überall 
diejelben eleganten Herren, diejfelben gepußten Damen, diejelben Miethswagen 
und Boote und diejelben Lohnbedienten, Kellner, Kutſcher und Schiffer. Es 
ſchien ihm, al3 ob Alles, was er an einem Orte zu verlafjen glaubte, mit ihm 
zeifte, wohin er auch ging. An der Eiſenbahn kamen ihm überall die wohl: 
befannten Portier? mit den befannten Rufen entgegen; im Gafthofe begrüßte 
ihn der ftereotype Oberfellner mit der ftereotypen Verbeugung und führte ihn, 
nachdem er an Koffer und Dienerfchaft den reichen Gaſt erkannt hatte, in das 
banale Gaftzimmer mit den prätentiöjen Mahagony- Möbeln, Sammtftühlen 
und Vorhängen. Im Leſezimmer lag der zerriffene „Figaro“ und die mit Kaffee 
oder Thee befledte „Times“, die er auf der lebten Badeſtation ebenfalls gejehen 
hatte. — „Es wird ermüdend, immer dafjelbe zu thun, zu jehen, zu hören,“ 
lagte er id). 

Er Eehrte bereit3 zu Anfang des Monat3 October nad) Paris zurüd; aber 
er ging weniger aus, als dies früher feine Gewohnheit geweſen war; er ver— 
nachläſſigte den Club ganz und gar, und allabendlid, von zehn bis zwölf Uhr, 
fonnte man ihn auf dem einjamen Quai längs ber Seine finden, wo er lang- 
ſam, da3 Haupt gejenkt, die Hände auf dem Rüden, auf» und abging. 

Eines Abends, bald nachdem das Leland'ſche Teſtament eröffnet worden 
war, wurde Forbes auf jeinem gewöhnlichen Spaziergange von Baldwin über- 
raſcht. 

„Was machen Sie hier, zu dieſer Stunde?“ redete Baldwin ihn an. 

Forbes antwortete, daß ihm die Promenade am Waſſer, vor dem Schlafen— 
gehen, gewijjermaßen ein Bedürfniß geworden jei. 

„In ganz Paris gibt e3 feinen ruhigeren Pla als dieſen,“ jagte er; „von 
elf Uhr an ift man bier jo ungeftört, als wäre man hundert Meilen weit von 
ber großen Stadt. Und doch hat man nur wenige Schritte zu machen, um 
wieder im lichten, vollen Leben zu fein. Diefer Contraft gefällt mir. Er be- 
reitet mich einigermaßen auf die Einjamfeit vor, die ich, wenn ich nach Haufe 


fomme, in meiner Junggejellenwohnung finde. — Aber für einen jungen Ehe— 
mann ift dies bier fein Weg. — Was führt Sie bei diefem rauhen Wetter 
hierher?” 


Baldwin ertheilte eine außsweichende Antwort, und mehr um der Unterhal— 
tung eine. andere Wendung zu geben, al3 um feine Neugierde, die nicht groß 
war, zu befriedigen, entgegnete er: 

„Sie find mir no Antwort auf meine Frage über Ihren Bruder ſchuldig 
geblieben. Sind Sie aufgelegt, Heute über ihn zu ſprechen? Ich will nicht 
indiscret fein, aber ich werde Sie in jedem alle um jeine Adrefje bitten müſſen, 
da ich ihm mitzutheilen habe, daß mein verftorbener Schtwiegervater ihm 10,000 
Dollars Hinterlafjen hat.” 

„Sie kennen bie Adrejfe von Thomas Lanzdale ebenjogut wie ich,“ ant— 
wortete Forbes. 


360 Deutſche Rundſchau. 


„ie das?“ Ä Ä I 

„Thomas Lansdale und. Thomas Graham find eine und biejelbe Perjon,“ 

Baldwin war jehr erftaunt; aber ex ſchwieg. Er ahnte wol, daß etwas 
höchſt Peinliches vorgefallen ſein mäfle, um feinen Affocis in: Hakodate. zu ver- 
anlafjen, einen faljchen Namen anzugeben und ihm, Baldwin, zu. verheimlichen, 
in welchen Beziehungen er zu Forbes ftehe. Aber Baldwin wollte ſich nicht in. 
fremde Geheimniſſe drängen. Was auch in der Vergangenheit zwilchen den 
beiden Brüdern vorgefallen fein mochte, Baldwin fühlte mit vollftändiger Sicher- 
heit, daß Graham, den ex jeit acht Jahren kannte, des Vertrauens, das er ihm 
geſchenkt hatte, würdig jei. 

„Es ift eine traurige Geſchichte,“ Fuhr Forbes nad einer Baufe fort. Er 
ftocte von Neuem und dann jagte ex in anſcheinend gleichgültigem Tone: „Mein 
Bruder und mein Vater konnten ſich niemald gut vertragen. Mein Vater var 
jehr ftreng; Thomas, wie ich ihn perjönlich gefannt habe, ausgelafjen und Leicht- 
finnig. &3 kam häufig zu heftigen Scenen zwijchen den Beiden. Zu Lebzeiten 
meiner Mutter trat dieſe al3 VBermittlerin auf; aber bald nad ihrem Tode 
mußte Thomas unfer Haus verlajien. Er machte Schulden rechts und links; 
nicht jo jehr, um ſich ſelbſt zu Helfen, als um allerhand fchlechten Subjecten, 
die ihn umringten, gefällig zu fein. Das war jedoch nicht das Schlimmfte, 
Er verheirathete fi, ohne das Willen meines Vater, mit einer Perſon, die ihn 
belogen und betrogen hatte und die der leichtgläubige Narr für eine Heilige hielt. 
Sie. hat viel Unheil angerichtet. Sie ift vor langen Jahren in Noth und Elend 
geftorben. Je weniger von ihr gejagt, defto befier! Als mein Vater Nachricht 
von Thomas’ Verheirathung erhielt, war ex jehr aufgebradht. Er war ein leiden⸗ 
ſchaftlicher Dann, der fich nicht beherrichen Fonnte, wenn er zornig war, Er 
reifte nach Chicago, wo mein Bruder fich niedergelaffen hatte, um diefen zu 
zwingen, das Verhältniß mit feiner Frau wieder aufzulöjen. Thomas vergötterte 
da3 unwürdige Geſchöpf. Die Vorftellungen, die mein Vater ihm machte, 
brachten ihn außer ih .... Es ift eine furchtbare Geſchichte ....“ 

Forbes hielt inne, um fi zu ſammeln. Er hatte die Ruhe, mit der er 
anfänglich. geſprochen, verloren. Seine unfichere Stimme zeugte von tiefer, 
innerer Aufregung. 

„Sie. dürfen nicht: vergeſſen, daß ein wirklich verwandtſchaftliches Verhält- 
niß zwiſchen Thomas und feinem Stiefvater nicht eriftixte .... Mein Vater 
war ein Hlarfer Mann... . Er hatte aus alten Galifornien-Zeiten die Gewohn- 
heit bewahrt, beivaffnet: zu fein .... In Chicago gab es damals faum einen 
Menjchen, dev nicht einen Revolver bei der Hand gehabt hätte. .... Mein Vater 
war von Thomas auf das! Empfindlichite gereizt worden ..... mein Bruder 
hatte ihm. die: Thür; gewiefen, hatte Hand an ihn gelegt ..... Er wurde ber- 
wundet — nicht ſchwer, Gott ſei Dank! — aber er wurde verwundet. — Mar 
unterdritdte. die ganze traurige Geſchichte; nur einige genaue Bekannte, Leland 
unter, anderen, exhielten davon Kenntniß. — Thomas Lansdale genas von feiner 
Wunde; mit feinen Berhältnifien ging e3 schlechter und ſchlechter; feine Frau 
zog ihn: hinab; doch. wollte er nicht thun, was wir Alle mit Recht: von ihm 
verlangten, wollte ſich nicht von dem Weibe trennen: Mein Vater ftarb, ohne‘ 


Gordon Baldwin. 361 


ihn wiedergefehen, ohne ihm verziehen zu haben. Thomas "wandte ſich darauf 
an mich. Was Konnte ich thun? Ich durfte meinem verftorbenen Vater nicht 
Unrecht geben. . Er hatte nicht Umvecht gehabt .... Und dann hörte ic) während 
langer Zeit Nichts mehr von Thomas Lanzdale, bis Sie mir vor fünf Jahren 
zum erften Male wieder Nachricht von ihm brachten. — Das ift die Geſchichte 
meine3 Bruders!“ 

Baldwin hatte die Erzählung mit feinem Worte unterbrochen und ſchwieg 
auch jeht, nachdem Forbes zu ſprechen aufgehört hatte. 

„Sie geben mir Unrecht,” jagte der argwöhniſche Mann. „Sie finden, daß 
ich hart gewejen bin!“ 

„Ich alaube nicht, daß ich einem Bruder To lange zürnen könnte, wie Sie 
e8 gethan haben,“ antwortete Baldwin ſehr ernft; „Thomas Graham ift ein 
guter Mann; Jedermann, der ihn kennt, hat ihn lieb.“ . 

„Er war nicht immer jo fill und gut. Er war wild und unorbentlic. 
Zehnmal hat mein Vater feine Schulden bezahlt ....“ 

„Er ift Ihr Bruder!“ 

Die Beiden waren an einem Punkte angelangt, wo fich ihre Wege trennten. 
Baldwin wünſchte feinem Begleiter gute Naht und entfernte ſich Tchnellen 
Schritte. 

Forbes ging langjam nach Haufe. Unbeihreiblid tramig und bde kam 
ihm feine prachtvolle Wohnung vor. Er begab fich in fein Arbeitszimmer und 
juchte in einer Kifte, unter einem Wuſt von alten Papieren, die er in derſelben 
aufbewahrte, bis er ein Gouvert fand mit ber Aufichrift von jeiner Hand: 
„Rad meinem Tode ungelefen zu verbrennen. Briefe von Th. L.“ Er las 
diefe Briefe aufmerkſam durch. Die firengen Züge feines Talten Gefichtes wur— 
ben immer weicher und traurige. Wie hatte er den rührenden Klagen und 
Bitten, die ihn jet jo jchmerzlich berührten, widerſtehen können? Ex legte die 
Papiere mit einem tiefen Seufzer nieder und blieb Tange unbeweglich fiten. 

„Er war mein Bruder,” jagte er endlich Halblaut, Baldwin's letzte, vor— 
wurfspolle Worte tviederholend. „Er war mein Bruder — und frembe Leute 
haben ihn vom Untergange gerettet.“ — Die Vergamgenheit tauchte vor feinem 
Geifte auf. Er erinnerte ſich, als ſei es geftern gejchehen, de3 Abends, wo Tho- 
mas, in feinem Schlafzimmer von ihm Abſchied genommen hatte, um nad}. dem 
Tode feiner Mutter das elterliche Haus zu verlaſſen. Ex jah ihn vor ſich ftehen 
mit jenem weißen Gefichte, feinen langen, blonden Haaren und feinen großen, 
blauen, furchtſamen Augen, den Augen feiner verftorbenen Mutter. „Georg,“ 
flüfterte Thomas, „Du darfft Deinem Bater nicht jagen, daß ich zu Div ge— 
fommen bin. : Er hat e8 mir verboten. Aber ich Habe Dir doch‘ wie meinen 
Bruder Lebewohl jagen wollen, und er hätte es mir. nicht erlaubt. Adieu, Georg. 
Behalte mich lieb!“ Und. dann küßte ex ihn, und Forbes fühlte ſeine heißen 
Thränen; und dann ſchlich er lautlos fort, — „Er war mein Bruder; er war 
mein Bruder!“ wiederholte Forbes. — Dann erblidte ev’ Thomas, viele Jahre 
Ipäter, in einer Straße von New-York. Ex jah elend und abgeriſſen aus. Es 
war faltes, naſſes, unfreunbliches Wetter, Er trug’ einen ſchäbigen, dünnen 
Anzug, in dem er zu: frieren ſchien. „Seit drei Tagen warte ich jeden Abend‘ 


362 Deutſche Rundſchau. 


auf Dich,“ ſagte er. „Ob Georg! Höre mich, rette mich, ich bin verloren!” 
Und er, Forbes, hatte den Muth gehabt, ihm eine abjchlägige Antwort zu geben: 
„Halt Du Di von Deiner Frau getrennt?" — „Sie ift frank, Georg, Hilf 
mir!" — „Verjprihft Du mir, Dich von Deiner rau zu trennen?” — „Georg, 
hilf mir! Huf mie!” — Die Worte jchnitten ihm jeßt, nad langen Jahren, 
in das Herz. Er hatte nicht geholfen. — „Und er war mein Bruder!“ Wie ein 
ſchwerer Alp lag es ihm auf der Bruft. Hoffnungsloje Traurigkeit umhüllte 
ihn wie mit einem dunfeln, eifigen Dante. Er hätte einen Bruder, einen 
Freund, eine Geliebte befiben fünnen: Thomas, Baldwin, Johanna. Er hatte 
Alles verloren; für immer verloren.‘ Und was blieb ihm? — Ein großes Ver— 
mögen. — Und iwa3 konnte er damit tun? — Immer dafjelbe: ſich langweilen. 
„Taedet tamdiu eadem feecisse.“ 


VII. 


Baldwin hatte dem Geſpräche mit Forbes eine andere Wendung gegeben, 
als diejer eine Anjpielung auf das eheliche Verhältnig des Neuvermählten ge= 
macht Hatte. Baldwin liebte nicht, davon zu ſprechen. Seine Ehe war nicht 
geradezu eine unglüdliche; aber das geträumte Glück hatte er in derjelben nicht 
gefunden. Johanna war als Frau jo ruhig und falt, wie fie ala Mädchen 
erichienen war. Sie zeigte ſich nicht etwa mürriſch oder eigenfinnig, jo daß fie 
ihm Grund zu klagen gegeben hätte; aber ex hörte fie auch nicht lachen, und fie 
ging ftill einher, als ob ein geheimes Leid fie drüde. Baldwin grämte fi 
darüber. Er hatte durch volljtändige Offenheit, durch aufmerkſame Zärtlichkeit, 
durch rührende Hingebung ihr Vertrauen gewinnen wollen. Seine Bemühungen 
waren vergeblich geblieben. Mit der Zeit fträubte ſich fein Stolz dagegen, 
Liebe dort darzubringen, wo ihm Nichts als förmliche Höflichkeit dafür zurüd- 
gegeben wurde. Manchmal fühlte er jein Blut in Zorn aufwallen, wenn er 
das eifige Geſchöpf an jein Herz ſchließen wollte und deutlich erfannte, daß ihm 
in ihrer Bruft Nichts entgegenfchlug; aber er kämpfte die leidenſchaftliche Er- 
regung nieder und feufzte nur, und gab die Heine trodene Hand wieder frei, die 
fie ihm willenlos überlaffen Hatte und die fie twillenlos an ihrer Seite wieder 
niederfallen ließ. 

Weshalb war Johanna nicht glüdlih? Baldwin that Alles, was er er- 
finnen fonnte, um ihr Freude zu machen. Sie jehien es nicht zu bemerfen oder 
nicht zu achten. Ihre Züge belebten fi nie mit einem Ausdrud von Dank— 
barkeit; kein herzliches Wort fam über die ftrengen Lippen; und die klugen Augen 
blicten theilnahmlos auf Alles, was fie umgab. Baldwin war niedergejchlagen, 
unruhig, traurig. 

„Was fehlt Dir, meine liebe Johanna?” fragte er fie eines Abends, als 
er allein mit ihr vor dem Kamine ſaß. „Bit Du Frank?“ 

„Mir fehlt Nichts,“ antwortete fie müde. 

„Du verbirgſt mir Etwas. Was ift es? Ich Habe ja nur einen großen 
Wunſch, den, Dich glücklich zu jehen.“ 

„Mir fehlt Nichts," wiederholte fie. Sie blidte jtarr, mit weitgeöffneten 


Gorbon Baldwin, 363 


Augen in das Feuer, und Baldwin jah, daß zwei große Thränen in denjelben 
perlten und langjam auf die blaffen Wangen niederfielen. 

Er fette fich zu ihr und nahm fie in jeine Arme und jagte mit der Zärt- 
lichkeit einer Mutter, die ein leidendes Kind beruhigen will: „So ſprich doch, 
meine einzig Geliebte!” aber fie wehrte ihn ab und antwortete nur: 

„Ich bin etwas angegriffen. — Ich weiß ſelbſt nicht, was mir fehlt. — 
Lab mid.“ 

Er jah fie forfchend an. „Ich werde einen Doctor rufen,“ fagte er; „Du 
bift krank.“ 

Sie ſchüttelte ſtumm das Haupt. Die Thränen famen fchneller; aber Kein 
Laut entrang fi ihrer Bruft. 

„Willſt Du mir nicht antworten?” fragte er noch einmal leiſe und zärtlid). 

„Was ſoll ih antworten?“ rief fie leidenfchaftlid. „Haft Du mir einen 
Vorwurf zu machen? Füge ih mich nicht gehorfam jedem Deiner Wünfche? 
Klage ich je? Was verlangft Du noch mehr von mir? So quäle mich doc 
nicht!“ 

Er jah fie erftaunt an. Dann ftand er auf und fagte janft: „Ich bin jehr 
unglüdlih.” Darauf verließ er da3 Gemach und begab fich in jein Zimmer, 
da3 an einem anderen Ende der Wohnung gelegen war. Aber er fühlte fich 
dort beflommen. Er nahm feinen Hut und verließ das Haus, um friſche Luft 
zu ſchöpfen und feine aufgeregten Nerven zu beruhigen. 

Baldwin war ein vernünftiger, praftijcher Mann, der in jeinem Leben gegen 
mancherlei Schwierigkeiten gelämpft und der gelernt hatte, daß man diefelben 
nicht überwindet, indem man die Hände ruhig in den Schoß legt und die Dinge, 
wie fie eben kommen, über fich ergehen läßt. Ein großes Nebel, eine drohende 
Gefahr vermehrten gewiljermaßen jeine geiftigen Kräfte Er jah und wägte 
dann in einem kurzen Augenblide jeden möglichen Ausweg aus der Noth; aber 
gegen den Kummer, der jetzt jein Herz füllte, war er nicht gewaffnet. Er ging 
lange Zeit rathlos in der ſpärlich exrleuchteten Avenue auf und ab, ſich immer 
und immer wieder fragend, wie er dem unbefriedigenden Berhältniffe, das ſich 
zwiſchen ihm und feiner Frau gebildet hatte, abhelfen könne. 

Johanna war inzwijchen unbeweglich auf demſelben Plate geblieben. Sie 
hatte die Thränen von ihren Wangen getrodnet und blickte underwandt in dag 
luftig fladernde Kaminfeuer. — Sie hatte eine kurze Zeit lang, unmittelbar nach 
ihrer Verheirathung, den Verſuch gemacht, Baldwin lieb zu getoinnen, Dies war 
ihr nicht ſofort gelungen, und fie hatte den Vorſatz dann jchnell wieder auf: 
gegeben. Seht mißfiel Baldwin ihr. Sie fand ihn tölpiſch, ungefchliffen. Sein 
Ihmwerer Schritt im Zimmer machte fie exrbeben; feine Stimme Hang ihr zu 
laut; feine Zärtlichkeit, die fie nicht zurüczumeijen wagte, aber nicht erwidern 
fonnte, war ihr peinlih. „Weshalb läßt ex mich nicht in Ruhe?“ fragte fie 
fih mit verbiffenem Ingrimm. „Weshalb quält er mich mit feiner Liebe?” Sie 
hatte in ihrem Leben nie an etwas Anderes ala an ihr eigene® Glüd gedacht; 
auch ala fie den Schwachen Verſuch gemacht, Baldwin lieb zu gewinnen, hatte 
fie nur ihre eigenen Intereſſen berüdjichtigt. Ste hatte ſich geiagt, daß es ihr 
angenehmer jein würde, mit einem Manne zuſammen zu leben, ben fie lieben 


364 Deutſche Rundſchau. 


könne, als mit einem ſolchen, der ihr gleichgültig ſei. Das Wohlergehen fremder 
Menſchen kümmerte ſie nicht. Baldwin war ihr ein fremder Menſch. — Er 
war ihr: Gatte. — Unglücklicherweiſe, — Sie verwünſchte die Stunde, wo fie 
ihm in einem Moment des Verdruſſes, der: Niedergeſchlagenheit, der Schwäche 
erlaubt. hatte, fie, in jeine Arme zu nehmen. Er war, furzfichtig genug geivefen, 
als fie weinend an jeiner Schulter ruhte, an ihre Liebe zu glauben. Ihre Lieberti 
Er hatte Feine Ahnung davon, wie fie Lieben konnte! — Baldwin wurde ihr 
mit. jedem, Tage unangenehmer. Sie mußte die Lippen gewaltiam zujammen- 
preflen, um ihrem Untoillen nicht lauten Ausdruck zu geben, werner ungeftünt 
die Thür aufriß und fein Schritt im Zimmer hörbar wurde. ' Sie zuckte zu— 
ſammen, wenn ex ſich in einem Seſſel warf. Sie fühlte ſich ſchwach, müde, 
elend. Er war gejund und ſtark. Sie ärgerte fi) jogar darüber. „Forbes 
hatte ihn richtig. benannt,” jagte fie ſich; „er ift eim Wilder; ex hätte eine 
Wilde heirathen jollen.“ — Welch Himmelweiter Unterjchied zwiichen ihm und 
Yorbes! Aber diejen wollte fie haſſen. Er war an allem Unglüd ſchuld. — 
Eine tröftete fie: fie jah deutlich, daß Forbes auch unglücklich jei. Sie hätte 
ihm einen Zaubertrank eingeben mögen; ſie wünjchte ihm daſſelbe ftumme, ſchwere 
Elend, das ihr das Herz zerdrücdte, Und doch erkannte fie feinen leichten, kaum 
hörbaren Schritt, jobald er ſich ihr. näherte; und feine gebämpfte, ruhige Stimme 
war Muſik in ihren Ohren. — Sie madte fich bittere Vorwürfe: nicht etwa 
tweil fie in ihrem Herzen treulos war, jondern darüber, daß ihr Stolz fie nicht 
von ihrer Liebe heilen konnte. „Ich wünjchte, ex wäre todt, und ich auch, und 
Alles wäre vorbei,” jagte fie vor fich Hin. 

Sie Hörte plötzlich, daß man an der Thür Elingelte, und wurde dadurch 
aus ihren düfteren Träumen gewedt. Es war bereit3 neun Uhr. Wer Konnte 
zu diefer Stunde fommen? Sie hatte Baldwin fortgehen hören, aber fie wußte, 
daß ex einen Schlüffel der Wohnung mit fich zu nehmen pflegte... „Georg 
Forbes,“ flüfterte fie. Ex war ber einzige Bekannte, der fie jeit dem Tode ihres 
Vaters des Abends beſuchte; fie war jedoch nie mit ihm allein geweſen; fie 
twollte nicht mit ihm allein fein. Sie erhob fidh, um zu fliehen. — In dem— 
jelben Augenblie öffnete der Diener die Thür und meldete Heren Forbes an. 

Auf einem Tiſche in der Mitte des großen: Zimmers brannte eine Lampe, 
deren Licht durch einen Schirm gedämpft war und den Raum in der Nähe des 
Tiſches hell beleuchtete. Außerhalb diefes engen Lichtkveijes herrſchte im Salon 
ftilles, heimiſches Halbdunkel. 

Forbes näherte ſich Johanna mit äußerer Unbefangenheit und ließ ſich auf 
einem Seſſel neben ihr nieder. Er fragte nach Baldwin. Sie antwortete, er 
ſei ausgegangen. Und dann ſtockte das Geſpräch. Die Pauſe wurde ſofort pein- 
lich. Johanna ſuchte vergeblich nach einem Worte, um dieſelbe zu umterbrechen. 
Endlich räuſperte ſich Forbes. Seine Stimme klang heiſer, als er zu ſprechen 
anfing. 

„Es iſt mir lieb, gnädige Frau,“ ſagte er, „daß ich Sie einmal, wie in 
alten Zeiten, ungeſtört allein ſprechen kann. Ich habe Sie um eine Aufklärung 
zu bitten.“ 

Sie antwortete nicht und blickte unverwandt vor ſich hin. 


Gordon Baldwin. 365 


„Snädige Frau,” fuhr Forbes leiſe und bedädhtig fort, „wollen Sie mir 
jagen, durch ‚welchen Fehler ic mir Ihre Ungnade zugezogen habe?“ 

Sie erhob den Kopf nicht, aber fie blickte ihn don unten feitwärts an. Et 
konnte ihr Gefiht, das im Schatten war, nicht erkennen. Er wartete einige 
Secunden; da jie nicht ſprach, nahm er von Neuem da3 Wort: 

„Wir find jahrelang gute Freunde geweſen — wenigſtens habe ich mir das 
ſtets eingebildet. Wodurd habe ich Ihr Wohlwollen verſcherzt? Sie behandeln 
mich jeit Ihrer Verheirathung wie einen Fremden ; ja ſchlimmert als einen Fremden. 
Ich Habe mich bemüht, Ihre Gunft zu bewahren oder wieder zu gewinnen; 
aber ich weiß wol, daß mir dies nicht gelungen ift, und ich verfichere Sie, daß 
mich dies tief ſchmerzt. . . Ich gelte unter meinen Bekannten für einen Falten, 
berzlojen Menſchen. Daraus mache ic) mir wenig. Ich verdanfe diejen Ruf 
einfadh dem Umftande, daß ich mich nicht von Jedermann habe ausbeuten lafjen. 
Ich geitehe, daß es ſchwer hält, fich mit mir auf vertraulichen Fuß zu ftellen. 
Es ift nicht meine Art, mein Herz fremden Leuten zu offenbaren. Dies ift das 
erfte Mal in meinem Leben, daß ich über mich ſelbſt ſpreche: Ach wünſche, daß 
Sie, gnädige Frau, mic kennen mögen, wie ich toirflich bin. Im Allgemeinen 
bin ich durchaus Fein Freund von vertraulichen Mittheilungen; ich mißtrane 
Denjenigen, die mich in ihre Geheimniffe einweihen wollen. Ich habe bemerkt, 
daß Leute, die mid) zu ihrem Vertrauten gemacht Hatten, regelmäßig gleich 
nachher Geld von mir borgen wollten. Man weiß, daß ich in diefer Beziehung 
etwas argwöhnifch geworden bin, und man nähert fi mir nur noch jelten. 
Aber gerade weil ich wenige, ja jehr wenige Freunde befite, lege ich unbejchreib- 
ih großen Werth auf die Freundichaft Derer, die mich eines aufrichtigen Wohl- 
wollens würdigen. Ich habe Sie früher zu diefen gezählt. Habe ich mich geirrt, 
gnädige Frau? — Das wäre ein größeres Unglück für mid, als Sie glauben, 
ala ich zu jagen wage.” 

Seine Stimme war gedämpft, zärtlich, Janft, wie Johanna fie nie gehört. 
Das Blut floß ihr wie Feuer duch die Adern. Ahr Herz Hopfte zum Zer— 
ipringen. Wie konnte der Mann twagen, jo mit ihr zu ſprechen? Er hatte fie 
verihmäht, als fie frei war, ala fie fi ihm dankbar hingegeben haben würde, 
wenn er damal3 um fie geworben Hätte. Er war die Urſache ihres Unglücks; 
er hatte fie zur Verzweiflung getrieben. Und was beabfichtigte er nun? Spottete 
er ihrer, verhöhnte er fie, oder wollte er ihr namenloſes Elend ausbeuten und 
fie zum Gegenftand feiner, ihrer eigenen Beratung machen? 

Sie blieb ftumm. Sie konnte einen Schein von Faſſuug nur — 
wenn fie ſchwieg. 

„Wollen Sie mir nicht antworten, Frau Baldwin. : gnäbige an: | 
Johanna ...“ Er beugte ſich zu ihr; fie fühlte jeinen ithen auf ihter Marge: 
er wollte ihre Hand ergreifen. 

Sie jprang in die Höhe, todtenbleich; fie hob die Hand; und Dat Arm tweit 
ausgeſtreckt, mit wahrhaft großer Geberde, zeigte fie ihm ftumm die Thür. 

Er erhob. fi vollftändig verwirrt.‘ „Gnädige Frau...” ſtammelte er. 
Ihr flammender Blick ruhte mit einem ſolchen Ausdruck leidenſchaftlichen Zornes, 
zermalmender Verachtung auf ihm, daß ex nicht weiter ſprechen konnte. Mnbes 





366 Deulſche Rundſchau. 


ſchreiblich gedemüthigt ſchlich er lautlos der Thür zu. Sie verharrte, einem 
Marmorbilde gleich, in derſelben herrlichen, drohenden Haltung; und erſt als 
die Thür ſich hinter Forbes geſchloſſen, als er verſchwunden war, ſank ſie ohn— 
mächtig in den Seſſel zurück. — Forbes aber eilte mit den Zähnen knirſchend 
die Avenue hinunter. Er kreuzte fi unter einer Laterne, nicht weit von Bald— 
win’ Wohnung, mit einem großen Manne, der fi nad ihm umdrehte, ihm 
vertvundert nachſah und dann feinen Weg langjam fortjekte. 


EIS II IL II LIDL NINEN 


„Iſt Forbes hier geweſen?“ fragte Baldwin ala er wenige Minuten jpäter 
in den Salon trat. 

Johanna, die vor dem Kamine fißend ihm den Rüden zufehrte, antwortete 
nit. Er näherte fi ihr. Sie ſaß mit halbgeöffneten Augen und weißen 
Lippen, einer Leiche ähnlich, da. Er nahm fie in feine Arme und trug fie, als 
ob fie ein Kind gewejen wäre, in ein anderes kühles Zimmer, wo er fie auf ein 
Bett niederlegte. Er hatte in feinem Leben viel Kranke und Sterbende gefehen, 
und verlor jetzt die Faſſung nit. Er erkannte jofort, daß Johanna ohnmächtig 
jei, und wandte einige einfache Mittel an, um fie wieder zu fich zu bringen. 
Nah wenigen Secunden ſchlug fie die Augen langjam auf und jah ihn befremdet 
an. „Der Elende!” murmelte fie. 

„Was ift vorgefallen?“ fragte Baldwin beunruhigt. 

Sie erfannte den Sprecher, ſchloß die Augen wieder und wandte den Kopf 
von ihm ab, ala ob fie jchlafen wolle. 

Baldwin blieb eine Zeit lang, ohne zu ſprechen, an ihrer Seite; dann fragte 
er noch einmal, was vorgefallen ſei. Sie antwortete faum hörbar: „Ich bin 
mide — ich kann nicht Sprechen — laß mich ruhen.“ Er fühlte fich diefer wirk— 
lichen oder geheucdhelten Schwäche gegenüber machtlos. Er rief die Kammer- 
jungfer, die im Nebenzimmer ſaß, ertheilte diejer einige Anweiſungen und begab 
fi jodann auf jein Zimmer. Aber er verweilte dort nur wenige Minuten. 
Zorn, Argwohn, Eiferfucht nagten an ihm. Er hatte Forbes auf der Straße 
mit verftörtem Gefichte vorbeiftürzen jehen, und gleich darauf hatte er feine Frau 
ohnmädhtig zu Haufe gefunden. Was war zwifchen den Beiden vorgefallen? Er 
mußte e8 erfahren; und zwar jofort! Seine Frau konnte oder wollte ihm in 
dem Augenblicl feinen Aufichluß geben. Forbes follte ihm Rede und Antwort 
ftehen. 

E3 war ein lauer Märzabend. Die Hausthür ftand offen. Der Portier 
hatte fih einige Schritte davon entfernt und unterhielt fi) auf dem Trottoir 
mit einem Nachbar. Baldwin trat, ohne bemerkt zu werden, auf die Straße. 
Er ging ſchnellen Schritte bis zum „Hotel Forbes“ und beobachtete aufmerffam 
die Tenfter des Zimmers, in dem der Befiter ſich des Abends, wenn er zu Haufe 
war, aufzuhalten pflegte. Als Baldwin jah, daß Alles dunfel war, fette er 
jeinen Weg fort. — Wenige Minuten jpäter befand er fich auf dem Quai. Dort 
herrſchte eine fast unheimliche Dede. Nirgend3 war ein Fußgänger zu erbliden. 
Zur Rechten Baldwin’3 ſchoſſen die durch die Frühjahrsregen geſchwollenen 
dunfeln Wafler der Seine ſchnell dahin. Zahllofe Lichter vom gegenübergelegenen 


Gordon Baldwin. 367 


Ufer und von ben Brücden fpiegelten ſich darin in bewegtem Zickzack. Links er- 
hoben ſich, tiefen Schatten verbreitend, die alten Bäume des Cours la Reine. 
Aus der Ferne ertönte, dumpf und ununterbroden, das Rollen dahineilender 
Magen. 

Nachdem Baldwin einige hundert Schritte gemacht und ungefähr die Mitte 
des Weges zwilchen dem Pont de l'Alma und dem Pont des Anvalides erreicht 
hatte, bemerkte er in geringer Entfernumg eine männliche Figur, die ihm durch 
die Dunkelheit bis dahin verborgen geblieben war. Sie lehnte fich über die 
niedrige fteinerne Mauer, welche den Quai nad) der Seine Hin begrenzt, und 
fchien in den Fluß hinab zu ſchauen. Baldwin erkannte in der unbeweglichen 
Geftalt den Mann, den er juchte. Forbes, der den eiligen, ſchweren Schritt des 
Nahenden hörte, richtete fich in die Höhe, und glei darauf ftanden fich die 
Beiden gegenüber. Eine Laterne, die nicht weit von der Stelle brannte, ſpendete 
Licht genug, um ihre Züge in unmittelbarer Nähe deutlich erkennbar zu machen. 
Forbes war bleich; Baldwin, von der jchrrellen Bewegung und dem Sturme, der 
in ihm tobte, erregt, ftand ihm mit glühenden Wangen und blikenden Augen 
gegenüber. 

„Was haben Sie in meinem Haufe gethan?“ fragte Baldwin. Er ſprach 
leife, mit einem unheimlichen Beben in der Stimme. 

Forbes blickte ihn ſprachlos an. 

„Was haben Sie in meinem Haufe gethan?“ wiederholte Baldtwin lauter. — 
Eine Pauje von wenigen Secunden. — „Wollen Sie mir antworten? Forbes! 
Hören Sie mid? Wollen Sie mir antworten ?“ 

„Sie find zu aufgeregt, um mich zu hören,“ entgegnete der Andere mit 
mühjam errungener Faſſung; „kommen Sie in meine Wohnung. Beruhigen Sie 
fih. Ih kann Alles aufklären.“ 

„Ih will die Schwelle Ihres Haufes nicht wieder übertreten. Sie jollen 
mir hier Red’ und Antwort ftehen! Sofort!“ 

Forbes wich unmwillfürlich einen Schritt zurüd, Baldwin padte ihn an 
beiden Schultern. „Sie entlommen mir nit! Antwort! Antwort!” 

Baldwin war ein ftarker Mann. Die Leidenihaft gab ihm riefige Kraft. 
Er jchüttelte Forbes wie einen leichten, Ieblojen Körper. „Antwort!“ rief er 
noch einmal in höchſter Wuth. 

Er ſah, den zehnten Theil einer Secunde, ein todtenblaſſes, ſchnell zurück— 
weichendes Geſicht, aus dem ihn ein Paar große, ſchwarze, bis zum Wahnſinn 
erſchreckte Augen anblickten; dann, daß Forbes, den er gewaltſam von ſich ge— 
ſtoßen hatte, hintenübertaumelte. Er ſah ihn rückwärts gegen die niedrige, 
ſcharfkantige Mauer ſtürzen und mit einem furchtbaren Aechzen niedergleiten; 
er hörte, wie der Kopf des Fallenden mit einem dumpfen, ſchweren Schlag gegen 
die Mauer prallte — und dann war Alles ſtill. Forbes lag auf dem Pflaſter 
neben der Mauer, und Baldwin beugte fich über ihn und blickte forſchend in 
das zuckende Angeſicht. 

„Forbes!“ 

Keine Antwort. 

Die Augen des Sterbenden öffneten ſich im Todeskampfe. — Ein unheim— 


368 Deutſche Rundſchau. 


liches Gurgeln in der Kehle — ein kurzes, krampfhaftes Recken und Stoßen der 
Glieder — und dann auf einmal vollſtändige, unbewegliche Ruhe — Ruhe 
des Todes. 

Baldwin blickte wild um fi. Zwei, drei Secunden ftand er unſchlüſſig; 
dann erwadhte in ihm der bejonnene Geift, der ihm in großer Gefahr zur Seite 
ftand. Er erkannte jeine Lage mit vollftändiger Klarheit. Er vernahm das Rollen 
eines ſchweren Wagens und jah zu jeiner Rechten, Hundert Schritte von der Stelle, 
to er ftand, die rothe Laterne eines Omnibus. In wenigen Säben war er auf 
der entgegengejeßten Seite de3 Quai, im Schatten der Bäume des Cours la Reine. 

Der Wagen fuhr vorbei, ohne anzuhalten, aber von der Invaliden-Brücke 
her näherten fich jebt zwei Fußgänger. Es war fo till, daß Baldiwin fie 
ſprechen hören konnte. 

„Was iſt das?“ fragte der Eine, als ſie dicht bei der Leiche angekommen 
waren. 

„Ein Betrunkener.“ 

Sie beugten ſich nieder. 

„Schaffe einen Sergent de ville herbei; ich warte hier; der Mann iſt todt!“ 

Einer der Fußgänger lief in der Richtung der Place de la Concorde davon. 
Baldwin ſchlug den entgegengejeßten Weg ein, und feinen Schritt jo jehr wie 
möglich beſchleunigend, jorgjam jedoch, die Aufmerkjamkeit Derer, die ex überholte, 
nicht zu erwecken, erreichte er in kurzer Zeit jeine Wohnung. E3 war kaum 
eine halbe Stunde verfloffen, jeitdem er diejelbe verlaffen Hatte Der Portier 
ging, eine kurze Pfeife rauchend, vor der offenen Thür auf und ab. Baldivin, 
der ihn bereit3 aus einiger Entfernung erblickte, machte es möglich, in da3 Haus 
zu treten, ohne von dem Manne bemerkt zu werden. Er ftieg geräujchlos bie 
Treppe hinauf, öffnete vorfichtig die Thür des Vorzimmerd und gelangte von 
dort, ohne Jemand angetroffen zu haben, in feine Stube. Dort entledigte er 
ſich jchnell feines Ueberrockes, ergriff eine Zeitung, die auf dem Tiſche lag, ent- 
faltete diefe und warf fih dann neben dem Kamine in einen Seffe. — Und 
num erjt, nachdem er Alles gethan, um die Spuren der friichen That hinter fich 
zu verwiſchen, um die drohendfte Gefahr au bejeitigen, geftattete ex ſich über das, 
was joeben gejchehen war, nachzudenken. 

Zaujend Gedanken beftürmten ihn, aber nicht in wüfter Verwirrung. Die 
Ereignifje ftellten fich jeinem Geifte in logijcher Ordnung dar, jo daß er diefelben 
mit ruhiger Bejonnenheit abwägen konnte: Forbes hatte feine rau beleidigt; 
diefe hatte ihn, mund feinen Anderen, al3 einen „Elenden“ bezeichnet. Er, Bald- 
win, war in feinem vollen Rechte geweſen, ſich über den Auftritt Auskunft 
verichaffen zu wollen. Bon Johanna Hatte er fie nicht erlangen können; er 
konnte fie nur bei Forbes fuchen. Diejer hatte verweigert, ihm Rede und Antwort 
zu ftehen. Er hatte ihn zwingen wollen zu ſprechen; er war zornig geweſen; 
aber jelbft in feiner Wuth hatte er nie die Abficht gehegt, Forbes zu tödten. 
Unwillfürlich ‚hatte ex ihn von fich geftogen. — Aber Forbes hatte nun auf- 
gehört zu leben; wer Tonnte für feine, Baldwin’3, Unſchuld zeugen? Wenn er 
ſich al3 den unmittelbaren Urheber diefer unfreitwilligen Tödtung entlarvte, fo 
mußte ex fi) dem Urtheile fremder, argwöhniſcher Richter unterwerfen, die feine 


Gordon Baldwin, 369 


wahrheitägetreue Darjtellung des Vorfalles für Lug und Trug halten und ihn, 
einen Unjchuldigen, wie einen gemeinen Verbrecher behandeln und bejtrafen 
würden. Nichts verpflichtete ihn, fich diefer Gefahr auszujeßen. Sein Gewiſſen 
machte ihm feinen Vorwurf; er Hatte nichts Böſes gewollt. — Sollte ex. fi) 
nennen? Sollte er auftreten und jagen; „Meine Hand hat jenen Mann er— 
ihlagen!“ Sollte er jeinen Namen bösartigen Commentaren und Verdächtigungen 
preisgeben ? Nein! Das wollte ev nit. - Er wollte im Gegentheil Alles thun, 
was in jeinen Kräften ftand, um ein ſolches unverdientes Unglüd von ſich ab- 
zuwenden. 

Er beſann ſich jetzt auf alle Einzelheiten, die der That unmittelbar voran— 
gegangen und gefolgt waren. Niemand hatte ſein Fortgehen und ſein Wieder— 
kommen bemerkt; er war nur kurze Zeit abweſend geweſen. Es war undenkbar, 
daß der Verdacht der Tödtung auf ihn fallen werde. „Niemand weiß, was ich 
gethan habe,“ ſagte er ſich, nachdem er lange, immer und immer an Daſſelbe 
denkend, dageſeſſen Hatte, „und Niemand ſoll es erfahren.“ 

In demſelben Augenblicke hörte er heftiges Klingeln an der Thür, und 
gleich darauf lautes Sprechen im Vorzimmer. Sein lauſchendes Ohr vernahm 
deutlich, daß der Name „Forbes“ mehrere Male ausgeſprochen wurde, Er ſetzte 
die durch einen Schirm bedeckte Lampe ſchnell auf einen niedrigen Tiſch, ſo daß 
ſein Geſicht im Schatten war, und dann wartete er einige Secunden mit ge— 
ſpannter Aufmerkfamfeit. Gleich darauf wurde, die Thür zu feinem Zimmer 
ihnell aufgemadt, und Forbes’ alter Kammerdiener trat herein. Baldwin’s 
Bedienter, der ihm auf dem Fuße folgte, blieb neugierig auf der Schwelle ſtehen. 

„Nun, was gibt es?“ fragte Baldwin ruhig. | 

„Dan hat meinen Heren todt nach Haufe gebradt.. Er ift ermordet 
worden.” 

Baldwin jprang mit leicht geipielter Beſtürzung in die Höhe, ung, dem 
Unglüdsboten zu folgen. Er richtete verjchiedene Fragen an ihn, wie er e& ge- 
than haben würde, wenn er von dem Vorfalle Keine Kenntniß gehabt hätte, 
und langte nad) wenigen Minuten eiligen Laufens athemlo3 vor dem Hötel 
Forbes an. Die Thür des Haufes war weit offen, aber von zwei Poliziften 
bewacht. Die beiden Angekommenen legitimirten ſich und gelangten, ohne weiter 
aufgehalten zu werden, in das Schlafzimmer des Verjtorbenen. Doxt, auf dem 
Bette, lag die halbentkleidete Leiche. Daneben ftanden drei Perjonen, die id) 
Baldwin in wenigen Worten als ein Doctor, ein Polizeicommiffarius und deſſen 
Affistent zu erkennen gaben. Der Beamte, auf deſſen Geſuch Baldwin als ein 
Freund des DVerftorbenen herbeigerufen war, erzählte jenem, was ihm big jeßt 
von dem Vorfall bekannt geworden war: Zwei Herren waren vor ungefähr 
dreiviertel Stunden, von einem Sergent de ville begleitet, zu ihm gekommen, 
um zu melden, daß fie auf dem Quai, zwiſchen dem Pont de l'Alma und dem der 
Invaliden, eine Leiche gefunden hätten. Die Identität derjelben jei jofort con= 
ftatirt worden, da der Verunglücdte eine Brieftajche bei ſich getragen, die außer 
einer nicht unbedeutenden Summe Geldes jeinen Namen und feine Adrejje ent- 


halten habe, Der Polizei» Commijjarius wünſche nun zu wifjen, ob Herr 
Deutſche Runbſchau. M, v. 25 


370 Deutſche Rundichau. 


Baldwin, den der Diener al3 einen intimen Freund des Verftorbenen bezeichnet 
habe, irgend welche Aufichlüffe über den tragiſchen Vorfall geben könne. 

Nein, Baldwin wußte Nichts. 

„Bann haben Sie Herrn Forbes zum letzten Male geſehen?“ fragte der 
Commiſſarius. 

„Vor wenigen Stunden,“ antwortete Baldwin. „Als ich gegen neun Uhr 
nach Haufe fam, begegnete id ihm in der Re meiner Wohnung, wo er mich 
aufgefucht hatte.“ 

„Was fagte er Ihnen?“ 

„Er redete mich nit an. Er erkannte mich in der Dunkelheit nicht und 
ging ſchnell an mir vorüber. Ich Hatte ihn im Laufe des Tages geſprochen; 
ich Hatte ihm nichts Beſonderes zu jagen und hielt ihn nicht an.“ 

„Hat er Ihrem Diener eine Beſtellung für Sie gegeben?“ 

„Nein; denn fonft würde man mir das jedenfalls gefagt haben.“ 

„Mit wenn hat er in Ihrem Haufe geiprochen ?“ 

„Mit meiner Frau.“ 

„Ba3 hat er diejer gejagt?“ 

„Das weiß ich nit. Meine Frau war etwas leidend, ala ich nad) Haufe 
fam, und ich vergaß darüber, mid; nach Forbes zu erkundigen. Er war ein 
häufiger Gaft bei und. Sein Bejucd hatte nichts Auffallendes.“ 

Die Unterhaltung nahm die Form eines Verhörs an. Baldwin bemerkte 
die3 und war auf feiner Hut. Er nahm ſich vor, jede Frage der Wahrheit 
gemäß zu beantworten und nur Das zu verjchtweigen, was außer ihm Niemand 
wußte und Niemand wifjen ſollte. Er widerſprach ſich in feiner feiner Aus» 
jagen; der Commifjär war weit entfernt, ihn zu beargwöhnen, und ſchloß endlich 
das Geſpräch, indem er jagte, Herr und Frau Baldwin, ſowie der Diener, der 
Herrn Forbes die Thür geöffnet, würden wahrjheinlic im Laufe des morgenden 
Tages don einem Unterfuchungsrichter vernommen werden. Darauf verbeugte 
fih Baldwin nur und wandte fi) jodann an den Arzt, um fich von diefem 
erklären zu laſſen, welche Verlegung den Tod des Herrn Forbes herbeigeführt 
habe. Er hörte der gelehrten Demonftration ded Doctor? mit großer Ruhe zu; 
ja, e3 Eoftete ihm feine Ueberwindung, die Leiche genau zu betrachten. Seine 
ganze geiftige Thätigkeit war darauf concentrirt, Nichts zu thun, zu jagen, zu 
blicken, was ihn verrathen könne. Alles Andere war augenblidlich Nebenjade. 
Wenn er allein war, dann wollte er wieder über das Gejchehene nachdenten. 
Jetzt Hatte er Feine Zeit dazu; er mußte vor allen Dingen wieder unbeargwohnt 
au der Gegenwart der Faltblütigen, aufmerkjamen Polizeibeamten jein. Er 
fühlte undentlih, daß ihm die Tragweite feiner That augenblicklich noch ent- 
gehe, daß ihm noch Unheil als natürliche Folge derjelben bevorftehe, daß Blut 
geſühnt fein will, — Alle dieje umd ähnliche Gedanken waren noch unklar, 
formlos, Keimgebilde gewiflermaßen. Sie beſtürmten ihn; aber er wies fie 
zurüd. Für den Augenblid handelte es ſich nur darum, feinen Rüdzug zu 
jihern. Währenddem er darüber nachdachte, wie er die8 am beften erreichen 


fönne, hörte er den Commiſſarius zu feinem Affiftenten jagen, daß zwei Poliziften — 


im Haufe bleiben jollten, bis man die nöthigen Verjiegelungen vorgenommen 


Gordon Baldwin. 371 


habe. Darauf wandte der Beamte fi) wieder an Baldwin, um diejen zu 
fragen, ob er wiſſe, two der Berftorbene feine Baarſchaften aufzubetwahren pflegte. 
Baldwin zeigte darauf eine Schublade, in der Forbes in früheren Zeiten Geld 
und Papiere von bejonderem MWerthe unter Verihluß hielt. Der Commiffarius 
öffnete diefen Kaften mit einem Schlüfjel, den er nebft verjchiedenen anderen Kleinen 
Gegenftänden in den Taſchen des Verftorbenen gefunden hatte, und gewahrte eine 
nicht unbedeutende Summe Geldes in Bankbilleten und Gold. Währenddem er 
fih damit bejchäftigte, diefelbe in Gegenwart der anweſenden Zeugen zu zählen, 
bemerkte Baldwin ein fünffach verfiegelte® Couvert, das mit der Adreſſe nad) 
unten in dem Geldfaften lag. Er nahm den Brief und las folgende Aufichrift: 
„Herrn Gordon Baldwin aus Hakodate, 3. 3. in Paris.“ 
„Rad meinem Tode zu Öffnen.“ 

„Died dürften teftamentarijche Beftimmungen fein,“ ſagte er, fi an ben 
Commiſſarius wendend; glauben Sie nicht, daß e3 zweckmäßig wäre, davon 
fofort Kenntniß zu nehmen?“ 

Der Beamte gab dazu feine Bewilligung, fügte jedoch Hinzu, daß ber Brief 
jpäter dem Unterfuchhungsrichter vorgelegt werden müſſe. Baldwin fand darauf 
Nichts zu erwidern, und während ihn die Anmwejenden neugierig umftanden, 
erbrach er da3 Couvert und las folgenden Brief: 

„Paris, 26. Februar 186 —. 
„Dein lieber Baldwin! 

„Ich habe mir vorgenommen, meinem Leben ein Ende zu machen, und wenn 
Sie diefen Brief erhalten, werde ich meinen Vorſatz ausgeführt haben.“ 

Baldwin ftieß einen Ausruf der Vertvunderung aus und las dem Gom- 
mifjarius dieje erften Zeilen laut vor. 

„Da3 iſt ſonderbar,“ meinte der Beamte. „Nach den Aeußerungen des 
Doctors hielt ich den Tod ihres Freundes durch Selbjtmord für unmöglid.” 

Baldwin las weiter: 

„sch theile Ihnen dies mit, um irrigen Hypotheſen und Nachforſchungen 
über die Urſache meines Todes ein Ende zu maden, und um Sie zu bitten, 
allen unnüßen Lärm darüber zu unterdrüden. Ich Habe ftet3 vermieden, Auf: 
jehen zu erregen, und mein leßter Wunſch ift, daß mir geftattet jein möge, 
ruhig und ftill, jo unbemerkt twie möglich, aus dem Leben zu entlommen. Ich 
babe alle Maßregeln getroffen, um die Erfüllung diefes Wunſches zu erleichtern. 
Mein Teftament ift auf dem amerifanifchen Gonfulate deponirt und von einem 
erfahrenen Juriſten jo aufgejeßt worden, daß feine Streitigkeiten über meine 
Hinterlaffenihaft entftehen können. 

„Der Grund, weshalb ich mich tödte, ift einfadh: ich langweile mid. Dies 
ift, Ihrer Meinung nad), kaum ein Unglüd zu nennen. Sie können fich eben 
feinen Begriff davon machen, wie unerträglich Langeweile mit der Zeit werden 
fann. — Taedet tamdiu eadem feeisse. Es ift der einzige lateiniſche Spruch, 
den ich kenne; diejen verjtehe ich troß aller Gelehrten: Es wird ermüdend, Yo 
lange Dafjelbe gethan zu haben; zu wiſſen, daß man, jo lange man lebt, Dafjelbe 
thun wird, und daß diefes Selbe jchaal und unerſprießlich iſt. 

„Ich habe oftmals bedauert, Ihnen dor Jahren den Dienft, um den Sie 

25 * 


372 Deutſche Rundſchau. 


mich damals erſuchten, nicht erwieſen zu haben. Verzeihen Sie mir. — Er— 
wirken Sie auch, daß Thomas mir verzeiht. — Ihrer Frau habe ich wiſſentlich 
nie Unrecht zugefügt. Ih Hoffe, daß fie meiner manchmal und in Freundſchaft 
gedenken wird. 

„Nachdem ich von Ahnen, von Frau Baldwin und von meinem Bruder 
Abſchied genommen habe, bin ich mit der Liſte Derer, die allein mir im Leben 
nahe ftanden und von denen ich Abjchied nehmen will, fertig Wie arm bin 
ich reicher Mann gewejen! Sie, Baldwin, waren mein befter Freund, — und 
wie wenig waren Sie mir Freund! — Thomas war mein einziger Bruder, — 
und feit Jahren war er todt für mich und ich für ihn. — Yohanna Leland ift 
Ihre Frau. — Eine Frau, die einen Anderen geheirathet hat, ein Bruder, der 
verichollen ift, und ein Freund, dem ich gleichgültig bin — das ift Alles, was 
mein Leben füllen jolltee Es war zu wenig! 

„sh bin in diefem Augenblide weder aufgeregt noch traurig. Eine tiefe 
Ruhe, twie ich fie jeit langer Zeit nicht mehr gefannt habe, erfüllt meine Bruft. 
Der Gedanke, daß ich, jobald es mir gefällt, die Laft des Lebens niederlegen 
kann, gibt mic neuen Muth. Vor einer Viertelftunde noch, als ich mich nie= 
derjeßte, um Ahnen zu jchreiben, war es meine Abſicht, mich heute Abend zu 
tödten. Seht, da ich beftimmt weiß, daß ich mich tödten werde, daß ich alle 
Vorrichtungen zum lebten Acte meines Lebens beendet, daß ich dieje lete That 
vollziehen kann, jobald es mir gefällt, jet fühle ich die Kraft, noch einige Tage 
weiter zu exrperimentiren. Wielleiht paflirt mir noch etwas Neues. Ich kann 
e3 ruhig abwarten. ch Habe Nichts mehr zu verlieren und Nichts mehr zu 
fürdten. Gefättigt bis zum Ueberdruß und hoffnungslos ftehe ich an der 
Grenze meines Lebend. Und nun babe ich diejelbe überſchritten. 

„Georg Forbes.“ 

Der Commiſſarius war inzwilchen damit beichäftigt geweſen, das gezählte 
Geld zu verfiegeln. Er legte den Brief dazu; dann zog er fich bedächtig die 
Handſchuhe an, bemerkte, daß e3 jpät getworden fei, gab feinem Affiftenten noch 
einige nftructionen und verließ das Haus gleichzeitig mit Baldwin. Don 
diejem nahm er vor der Thür Abſchied, nachdem ex ihm gejagt hatte, ex werde 
morgen in aller Frühe im Hötel Forbes fein und bäte Baldwin, fich dort 
ebenfall3 einzufinden. Darauf jchlug er den Rockkragen in die Höhe, ftedte die 
Hände in die Taſchen und machte fich in kurzem Trab auf den Weg nad) feiner 
Wohnung Baldwin ging unterdeffen die Avenue de l'Impératrice hinunter. 
Bor jeinem Haufe blieb er einige Minuten nachdenklich ftehen, dann Elingelte 
er und trat hinein. 


IX. 


Der letzte Wunſch, den Forbes in feinem Briefe an Baldwin ausgeſprochen 
hatte, war erfüllt worden. Man hatte jeine Leiche in aller Stille beftattet. 
Die Parijer Blätter hatten des Vorfalles nur in discreter Weiſe Erwähnung 
gethan. Die Nachforſchungen der Polizei über die Urſache de3 Todes waren 
erfolglos geblieben. Die Ausfagen der Aerzte conftatirten, daß die Jdee, Forbes 
habe fich da3 Leben genommen, ausgeſchloſſen bleiben müſſe. Auf der anderen 


Gordon Baldwin. 373 


Seite war es ſchwer, an ein Verbrechen zu glauben, da man in den Kleidern 
de3 Verftorbenen eine nicht unbedeutende Summe Geldes vorgefunden hatte, und 
da Niemand auch nur andenten konnte, daß Forbes unter feinen Bekannten 
einen exbitterten Feind gehabt habe. 

Baldwin’3 Diener hatte ausgejagt, daß Forbes an jenem verhängnißvollen 
Abend der Frau Baldwin gegen neun Uhr einen kurzen Bejuch abgeftattet habe; 
der DBediente Hatte nicht? Auffallendes in feinem Wejen bemerkt. — Frau 
Baldwin erklärte, daß fich Herr Forbes, al3 fie ihm mitgeteilt, Baldwin fei nicht 
zu Haufe, bald wieder entfernt habe. Auch ihr war in jeinem Wejen Nichts 
aufgefallen, woraus fie ſchließen könnte, daß ihm damals eine Gefahr drohte. — 
Aus den Ausfagen der beiden Herren, die den Leichnam gefunden hatten, konnte 
man fejtjtellen, daß Forbes zwiſchen zehn und ein Viertel nad) zehn Uhr ge- 
ftorben war. Wo er die letzte Stunde feines Lebens verbracht hatte, blieb ein 
Geheimniß. — Ein Polizeifergent endlich bezeugte, daß, als ex gegen zehn Uhr 
den Pont de l'Alma paſſirt habe, ein offener Wagen in jchnellem Galopp auf dem 
Quai vorübergefahren ſei. Ob dies eine Privatkutſche oder eine Drojchke ge— 
wejen, fonnte nicht ermittelt werden. Die Doctoren, der Polizeicommiſſarius 
und der Unterfuhungsrichter einigten fi darauf in ihrer Meinung dahin, daß 
Forbes ſich in diefem Wagen befunden babe, daß ex herausgeiprungen ſei, weil 
er gefürchtet, daß die Pferde durchgingen, und daß er bei diejer Gelegenheit 
den Tod gefunden habe. — Dieje Erklärung befriedigte alle Welt; die Nach— 
forſchungen jchliefen ein, und da3 Ereigniß war bald darauf jo gut wie ver- 
geſſen. Zwiſchen Baldwin und jeiner fyrau allein erhob ſich dafjelbe wie ein 
unheimlicher Schatten. 

Baldwin fühlte, fobald er mit Johanna allein war, daß ihr Blick, furchtſam 
und mißtrauiſch, wie der einer Gemißhandelten, ihn auf Schritt und Tritt 
verfolgte. Seldft der leichte Schein von Vertraulichkeit, der früher noch zwischen 
ihm und ihr exiftirt hatte, war nun verſchwunden. Sie gingen ſchweigſam, 
gedrückt neben einander her, ein Jeder mit einem Geheimniß und einem Arg— 
wohne im Herzen. Er hatte noch nicht getvagt, fie zu fragen, was in ihrer 
legten Zufammentunft mit Forbes vorgefallen war. Das Wort fiodte ihm in 
der Kehle, jobald er den Namen de3 Mannes, der von feiner Hand gefallen 
war, in ihrer Gegenwart ausſprechen wollte. Seine alte Unbefangenheit war 
dahin, und er fühlte, daß ex fie nie twieder gewinnen fönne, daß er fortan, 
unter einer drüdenden Laft gebeugt, den Weg durch ein beängftigtes Leben bis 
zum Grabe wandern müſſe. Gin Gefühl, daß er bis dahin nie gekannt Hatte, 
Furt beihlich ihn. — Wenn jein Geheimniß doc) noch herausfäme? Wenn die 
Sonne die dunkle That an den Tag brächte? Er jchauderte bei dem Gedanken. 
— Er wollte von Paris fort; er wollte Beihäftigung ſuchen; Harte Arbeit 
jollte ihn zerſtreuen, ermüden, jollte ihm Schlaf geben, der ihn ſeit jenem un« 
heilvollen Tage floh. Er jehnte ſich nach Yeſſo zurüd, unter die harmloſen 
Inſulaner, die ihm vertrauten, die von Dem, was in Paris vorgefallen war, 
Nichts wuhten, niemald Etwas erfahren würden. Er wollte den forjchenden, 
feindlichen Blicken feiner Frau entgehen, die ihn verfolgten, peinigten. Er hatte 


374 Deulſche Rundſchau. 


nie in feinem Leben die Augen vor Jemand niedergeſchlagen, und nun tagte er fie 
in Gegenwart feiner eigenen rau nicht mehr zu erheben. Es war unerträglich. 

Baldiwin hatte gleich nad) dem Tode von Forbes an Thomas gefchrieben, 
um ihm das plößliche Ableben feines Bruders zu melden und ihn aufzufordern, 
den Beſitz des großen Vermögens, das ihm derſelbe hinterlaffen hatte, anzu- 
treten. Nun Fam ihm der Gedanke, er wolle nad) Hafodate gehen, währenddem 
Graham von dort abweſend fer, um die Leitung des gemeinſchaftlichen Geſchäftes 
zu übernehmen. Er fürchtete fi) vor Thomas ebenfo wie vor Johanna. Ex 
malte ſich bereits das Wiederſehen mit feinem alten Freunde aus. Wie konnte 
er ihn anbliden, wenn er ihm die Fabel vom Tode ſeines Bruders erzählte ? 
Er jah im Geifte die Augen Graham’3, die vertrauend, Liebevoll die jeinigen 
ſuchten. Und er follte vor diefen ehrlichen Augen lügen und heucheln? Der 
Angſtſchweiß ftand ihm auf der Stirn, wenn er daran dachte. Nein! Lieber 
noch wollte er Johanna's Argwohn als Thomas’ Vertrauen ertragen. — Er 
faßte den Entichluß, jofort nad Hakodate abzureifen. In diefem Falle war er 
beinahe ficher, feinen Freund zu vermeiden, da diefer, nad) Empfang der Nachricht 
vom Zode feines Bruders, die Reife nad Europa wahrſcheinlich ſofort ange- 
treten hatte. 

Er wartete, nachdem er fich dies Alles überlegt hatte, bis es dunkel ge- 
worden war. Er jchämte fich vor fich jelbft, derartige Vorfihtsmaßregeln zu 
treffen; aber Das, was gejchehen, zwang ihn dazu. Als die Lampe auf dem 
Tiſche ftand, juchte er fich einen Sit aus, auf dem er dem Lichte den Rücken 
zufehrte, und dann fagte er zu Johanna, die ihm bleih und ſtumm, hell- 
beleuchtet und ohne Verlegenheit gegenüber jaß: 

„Thomas Lansdale wird nad) Empfang meines Briefe Hafodate verlaffen 
haben. Einer von uns Beiden, er oder ih, muß aber dort fein, um umjere 
gemeinſchaftlichen Interefjen zu überwachen. Ich werde deshalb in Kurzer Zeit 
nad) Japan zurückkehren. Willſt Du mich dorthin begleiten, oder ziehft Du 
vor, hier zu bleiben?“ 

Sie antwortete darauf nicht, jondern richtete jelbft eine Frage an ihn: 
„Sie wollen Paris verlaffen ?“ 

„Ich muß es.“ 

„Ich dachte es mir wol.“ 

Er gab ſich Mühe, überraſcht zu erſcheinen, und fragte: „Wie kommſt Du 
auf den Gedanken?“ 

Sie zuckte verächtlich die Achſeln. 

„Wie kommſt Du auf den Gedanken?“ wiederholte er. Er machte eine große 
Anſtrengung und hatte den Muth, fie anzublicken. 

„Frage mich nit. Du weißt e3.” 

Ihre Stimme hatte einen eigenthümlichen, drohenden Klang. Ex fühlte fi 
unbejchreiblich gedemüthigt, aber er wagte nicht, Aufklärung von ihr zu ver- 
langen. Er fragte noch einmal: „Wilft Du mit mir nad Japan kommen?“ 

„Nein!“ antwortete fie; und nad) einer kurzen Paufe jehte fie nachläſſig 
hinzu: „Ich erwarte in wenigen Tagen einen Brief von meiner Tante Alice. 
Ich Habe mich entichloffen, in Zukunft mit ihr zu leben.“ 


Gordon Baldwir. 375 


Alſo dahin war es gelommen! Sie wußte, daß er feine Macht mehr über 
fie habe, daß er e3 nicht wagen würde, jeine Rechte über fie geltend zu machen. 
„Ich verftehe Dich nicht,“ jagte er leiſe; „aber ich will Dich nicht hindern, 
Das zu thun, was Dir am beften gefällt. Ach Habe, ſeitdem ich Dich Tenne, 
nie etwas Anderes, als Dein Glüd gewollt.“ 

Er ſprach dieje legten Worte mit unendlicher Traurigkeit aus, und er fühlte, 
daß ihm die Augen feucht wurden. Womit hatte er das furcdhtbare Elend, unter 
dem er litt, verdient? Wenn Jemand e3 verjchuldet hatte, jo war es Johanna, 
deren Lieblofigfeit jein Mißtrauen erweckt und deren halbbewußtlojer Ausruf 
über Forbes jeinen Zorn erregt hatte. Der Gedanke an eine Schmach, bie 
jeiner Frau zugefügt twar, hatte ihn beftürmt, als er Hand an Forbes gelegt. 
Sie vor allen menſchlichen Kreaturen hätte ihm verzeihen, ihn tröften jollen; 
aber gerade jie war es, die ihn am meiften peinigte. Er bedeckte fi) das Ge- 
fiht mit der Hand und weint. Er war jeit Forbes’ Tod ein anderer Menſch. 
Seine alte Energie hatte ihn verlaffen. Er war ſchwach und reizbar geworden. 
Johanna jah jeine Thränen und Leiden, aber war dadurd nicht gerührt. Sie 
jaß ihm kalt und regungslos, wie verjteinert, gegenüber, die mißtrauijchen 
Augen unverwandt auf ihn gerichtet. Endlich erhob er fi) und ſagte leiſe: 

„Du bift jehr Hart und ungerecht, aber ich will darüber nicht Klagen. 
Vielleiht fommt der Tag, wo Du bereuen wirft, meine Liebe verfannt und mic) 
von Dir geftoßen zu haben. Dann rufe mich, und ich werde zu Dir eilen. Jetzt 
will ich gehen.” 

Er verließ langlam das Zimmer. Sie jah ihm nad, ohne ein Wort zu 
ſprechen; aber ihre ftummen Lippen betvegten fih und nannten ihn lautlos: 
„Mörder!“ 

Baldwin war fiher, daß er fich feiner Frau gegenüber nicht verrathen 
hatte. Sie konnte Nichts von der blutigen That willen; aber fie ahnte die: 
jelbe. Er fühlte, daß feine Ruhe dahin war, jelbft wenn Johanna ihn nicht 
beargwohnt hätte. Ihr unverdientes Bertrauen wäre nicht weniger unerträglid) 
geweſen, ala ihr Mißtrauen. Eine nur hätte ihn mit jeinem Schidjal aus— 
jöhnen können: wenn er fich feiner Frau offenbart, wenn dieje jeine Schuld- 
loſigkeit erkannt, fein Unglüd bemitleidet und daffelbe mit ihm getragen hätte, 
— ja, dann hätte er in ihrer Gegenwart Troft und Frieden gefunden. Aber 
Johanna's Blicke wiejen jein Vertrauen ſtreng zurüd. Er mußte jein Ge— 
heimniß allein tragen, fo unerträglidy ſchwer es auch war. 

Baldwin benubte den nächftfolgenden Tag, um feine Angelegenheiten in 
Paris in geihäftsmäßiger Weije zu ordnen. Dann bereitete ex fich zur Abreije 
vor, ohne von Johanna duch ein Wort oder einen Blick unterbrochen zu 
werden. Sie jah ihn kommen und gehen, als wäre fie taub und ftumm. 
Zivei Tage nad) der letzten Unterredung trat er am Abend im Reijeanzuge in 
ihr Zimmer, um von ihr Abjchied zu nehmen. Seit mehreren Stunden bereits 
fürchtete ex diefen Augenblid; er ging jehnell vorüber. Sein Herz war jo ge: 
peinigt, daß ihn die Kälte Johanna’3 nun kaum noch ſchmerzte. Sie reichte 
ihm nicht die Hand, und als er ſich vorbeugte, um fie zu umarınen, wid jie 
lautlos einen Schritt zurück. 


376 Deutsche Rundſchau. 


„Lebetwohl, Johanna!“ ſagte er, und in flehendem Zone fette er Hinz: 
„Auf MWiederjehen!” 

Sie nickte ftumm. Er zauderte noch eine Secunde, und dann, al3 er jah, 
daß die eifigen Züge ſich nicht erwärmten, wandte er fi ab. Es wäre beſſer 
für ihn gewejen, vor dem ftrengjten Richter geftanden zu haben, als vor diefer 
Frau, die ihn nie geliebt hatte, die in ihm die Urſache al’ ihrer Leiden er- 
blickte, und der er num verhaßt und furchtbar war. Sie hatte ihn an jenem 
Abend, als fie, die Nerven krankhaft gereizt, fill auf ihrem Bette lag, fort: 
gehen und wiederkommen hören. Sie wuhte, daß er zur Stunde von Forbes' 
Tode auf der Straße geweien war. Der Umftand, daß er dies verheimlichte, 
hatte zuerſt ihren Argwohn erregt; jein Trübſinn, feine augenſcheinliche Be— 
fangenheit hatten dies Gefühl in ihr beftärkt. Seit ihrer letzten Unterredung 
mit Baldwin, ſeitdem er, der ftarfe Mann, in ihrer Gegenwart geweint hatte, 
war fie ihrer Sache ficher. „Er ift ein Mörder,“ ſagte fie fih. Doch wollte 
jie nicht ala Klägerin gegen ihn auftreten. Auch fie hatte ein Geheimniß zu 
wahren; es war am ficherften geborgen, wenn fie ſchwieg. 

Menige Tage nad) Baldwin's Abreiſe kam Johanna's Tante, Fräulein 
Alice von Mtontemars, in Paris an. Dieje ältlihe Dame, die Schweiter von 
Johanna's Mutter, war ein Fluges, armes Fräulein. Tante Alice erkannte 
ichnell, daß fie fich einen ruhigen Lebensabend fichern könne, wenn fie ihre veiche 
Nichte an fich zu feſſeln verftände Sie ließ fi feine Mühe verdrießen, um 
ih angenehm, nüßlich, unentbehrlid) zu machen, und es gelang ihr, einige 
Wochen, nachdem Baldiwin gegangen’ war, Johanna zu überreden, mit ihr nad) 
Südfrankreich, ihrer Heimath, zu ziehen, und ſich dort in einem freundlichen 
Badeorte, am Mittelmeere, niederzulaffen. 

X. 

Baldwin hatte den größten Theil der Reife von Paris nad) Hafodate zu— 
rückgelegt und befand ſich num jeit einigen Tagen in San Francisco, wo er die 
Abfahrt des großen „Pacific-Mail-Steamer” abwartete, welcher den Dienft 
zwilchen Californien und China verjieht. Er wollte mit diefem Dampfboote 
nah Yokohama fahren; dort durfte er hoffen, über kurz oder lang eine gute 
Gelegenheit nach Hafodate zu finden. 

Baldwin hatte fi) in New-York und Chicago und zulegt in San Francisco 


nad Thomas Lansdale und Ihomas Graham erkundigt; — er wußte nicht, 
unter welchem Namen jein Freumd reifen wilde; — aber er Hatte nirgends 


Auskunſt über ihn erlangen können. Thomas jchien feinen der genannten Orte 
pajfirt zu haben. „Er wird die Reife über China, Indien und Egypten gemacht 
haben,“ ſagte fi) Baldwin. „Defto beifer! Nun bin ic ganz ficher, ihm 
nirgend3 zu begegnen.” Das Herz war ihm ſchwer, wenn ex daran dachte, daß 
er fortan Diejenigen, die er am meisten auf der Welt liebte, Johanna und 
Thomas, meiden müßte; aber er machte fi) mit dem Gedanken vertraut und 
konnte ihn ertragen. — Er fühlte fi) ruhiger und muthiger, jeitdem er Johanna 
verlaffen hatte. Er wußte fie twohlgeborgen und jorgte nicht um fie. Wenn 
fie ihn geliebt hätte, würde fie ihm gefolgt fein; aber fie liebte ihn nicht, Hatte 


Gordon Baldwin. 877 


ihn nie geliebt. Sie war falſch geweien, al3 fie ihm ihre Hand gereidht und 
feierlich verfprochen hatte, fie wolle ihm bis zum Grabe treu zur Seite ftehen, 
im Glüd und Unglücd „for better and for worse*. — Sein Unglück jelbjt hätte 
fie nicht von ihm entfernen follen. Er hatte Grund, ihr zu zürnen; fie dagegen 
hatte ihm Nichts vorzuwerfen; gegen fie hatte ex fich nicht vergangen. Es that 
ihm wohl, Johanna in feinem Herzen anflagen zu können und fich jelbft, ihr 
gegenüber wenigftens, unjchuldig zu wiſſen. Seine Rechnung mit ihr war zu 
feinen Gunften abgejchloffen. Er mar ihr Gläubiger. Er vergab ihr ihre 
Schuld. — Aber anders ftand es mit Thomas. An diefem hatte ex fich ſchwer 
verfündigt. Er konnte ihm nicht unter die Augen treten, wenigſtens nicht jeßt; 
— nad) langen Jahren vielleiht. Es war gut, daß Thomas die Reife nach 
Europa über Indien angetreten hatte, dab eine Begegnung mit ihm nicht zu 
befürchten war. 

Baldwin verließ San Francisco am 1. Juli und langte zweiundzwanzig 
Tage jpäter in Yokohama an. Die drei Wochen ftillen Leben auf dem großen 
ftillen Dcean hatten wie eine wunderbare Arznei auf fein krankes Herz gewirkt. 
Er war noch immer unfähig, einen freudigen Gedanken zu fallen; aber die 
peinigende Angft, die in Paris an ihm genagt hatte, war verſchwunden. 

In Yokohama bewillkommneten ihn einige alte Bekannte. Sie fragten, 
ſobald fie jeiner anfichtig wurden, was ihm fehle, was fein Haar grau gemacht 
habe. Er antwortete, ex jei Frank geweſen, und gab der Unterhaltung ſchnell 
eine andere Wendung. Ex erkundigte fi nah Graham. Man war in Yoko— 
hama jeit zwei Monaten ohne directe Nachrichten von Hakodate. Niemand 
fonnte ihm jagen, ob Graham nah Schanghai oder Hongkong gereift ſei. Das 
Dampfboot „Oſakka“, jo berichtete man ihm, wiirde in wenigen Tagen nad) 
Hakodate abfahren und dann Briefe aus dem Norden mit zurücdbringen. 

Der Gapitän der „Oſakka“ war gern bereit, Baldwin als Paſſagier mit- 
zunehmen. Diejer konnte demnach feine Reife nach kurzem Aufenthalte in Yoko— 
hama fortjegen und langte bereit3 am 3. Auguft an feinem Beitimmungs- 
orte an. 

Während das Schiff vor der Stadt im Hafen mandvrirte, um eine ge= 
eignete Stelle zum Ankern zu finden, näherten ſich zahlreiche Boote, in denen 
hinefiihe und europäiſche Kaufleute ſaßen, die am Bord der „Oſakka“ 
Briefe oder Nahrichten in Empfang nehmen wollten. Baldwin erkannte unter 
den Nahenden jein eigenes Hausboot und darin einen jungen Engländer, Namens 
Howell, der jeit längerer Zeit als Buchhalter in feinem Gejchäfte thätig war. 
Wenige Minuten jpäter trat Baldwin ihm an der Landungstreppe entgegen. 
Howell wich erjtaunt einen Schritt zurück, als er feinen Chef gänzlich unerwartet 
vor ſich ftehen jah. Dann jchüttelte er ihm die Hand, und gleich darauf fragte 
er bejorgt, ob Herr Baldwin frank gewejen jei, oder fich noch untwohl fühle. Bald» 
twin ertwiderte daſſelbe, was er feinen Freunden in Yokohama gejagt hatte; dann 
fragte er, wann Graham abgereift Sei. 

„Herr Graham ift in Hakodate,“ anttwortete Howell, „und Sie werden ihn 
in einer Viertelftunde ſehen. Er empfing vor einigen Wochen einen Brief von 
Ihnen und fahte damals in der That den Entihluß, nad) Europa zu gehen; 


378 Deutſche Rundſchau. 


aber vor der Abfahrt des Schiffes beſann er ſich eines Andern. Er hat Ihnen 
ſeitdem zweimal geſchrieben; Sie haben ſich mit ſeinen Briefen gekreuzt; die— 
ſelben können erſt vor einem Monat in London angekommen ſein.“ 

Howell beſchäftigte ſich darauf damit, das Gepäck ſeines Principals in das 
Hausboot tragen zu laſſen. Dieſer hatte einige Minuten Zeit, um ſeine Ge— 
danken zu ſammeln. Das Zuſammentreffen mit Graham war nun unvermeidlich 
geworden; Baldwin mußte ſich darein fügen. Er konnte vorläufig Nichts thun, 
als abwarten, welchen Lauf die Ereigniſſe nehmen würden. Er ſtieg, anſcheinend 
ruhig, in ſein Boot; Howell ſetzte ſich zu ihm, und die Beiden erreichten bald 
darauf den Quai, wo ſie an's Land ſtiegen. Viele Japaneſen begrüßten Bald— 
win, der ſo lange Jahre in ihrer Mitte gelebt hatte. Diejenigen, die ihn genau 
genug kannten, um ihn anzureden, richteten alle dieſelbe Frage an ihn: „Sind 
Sie krank geweſen, Herr Baldwin?“ — 

Graham ſaß leſend in ſeinem Zimmer. Er ſprang mit einem Ausruf 
freudiger Ueberraſchung in die Höhe, als ſich die Thür öffnete und Baldwin's 
wohlbekannte Stimme ihm „Guten Tag, Thomas!“ zurief. Aber gleich darauf 
wich er erſchreckt zurück und ſagte: „Es iſt ein Unglück paſſirt, Baldwin! Um 
Gotteswillen, was fehlt Ihnen?“ 

Baldwin fühlte Etwas in der Bruſt und in der Kehle, was ihn einige Se— 
cunden lang ſprachlos machte. Dann antwortete er: „Es iſt mir nicht gut 
gegangen, Graham; aber davon wollen wir ſpäter ſprechen. Wie kommt es, 
daß Sie nicht abgereiſt find? Ich wähnte Sie auf dem Wege nach Europa, 
und bin hierher gekommen, um Ihren Platz auszufüllen.“ 

Thomas konnte die Augen nicht von Baldwin abwenden. Er muſterte 
ihn mit der forſchenden Zärtlichkeit einer Mutter, der ein Kind krank nach Hauſe 
gebracht wird. 

„Gordon, was fehlt Ihnen?“ ſagte er ſanft und bittend. „Ich kann nicht 
ruhig ſein, bis ich es weiß.“ 

Er nahm Baldwin's rechte Hand zwiſchen ſeine beiden Hände und blickte 
ihn lange an. — Das war der vertrauende Blick, vor dem Baldwin ſich ge— 
fürchtet hatte! 

„Ich habe mich von meiner Frau trennen müſſen,“ antwortete dieſer, die 
Augen zu Boden ſchlagend. 

„Mein armer Freund!“ 

Eine lange Pauſe trat ein. Baldwin bedeckte das Geſicht mit beiden 
Händen. 

„Armer Freund!“ wiederholte Graham. 

Baldwin fühlte auf Einmal, daß er, um ſich frei zu machen, den Namen 
ſeiner Frau einem Verdachte preisgegeben hatte. Nein, das durfte nicht ſein! 
Die unglückliche That hatte ihm ſein ganzes Glück gekoſtet. Er klagte nicht 
darüber. Blut muß geſühnt werden! Aber ſeine Ehre, ſeine Selbſtachtung 
jollte ihr nicht geopfert werden! Ex durfte feine Feigheit begehen, den Verdacht 
de3 jelbjtverjchuldeten Unglücks nicht von fi) auf Johanna wälzen. Er ließ die 
Hände auf die Kniee ſinken und jagte leije, fragend: 

„Sraham, Sie jind mein Freund ?“ 


Gordon Balbwin. 379 


„Ja, da8 bin id. Ich habe Niemand auf der Welt, ald Sie. Sie fünnen 
mir Alles anvertrauen, was Ihnen das Herz ſchwer macht, und ich will thun, 
was ich kann, um Ihnen zu helfen.“ Er zaubderte einen Augenblid, und dann 
ießte er feierlich Hinzu: „So wahr mir Gott helfe!” 

Bor dem Fenfter de3 Zimmers, in dem fich die beiden Freunde befanden, 
breitete jich der weite Hafen von Hakodate aus. Schwere Junken, mit braunen, 
vieredligen Segeln, und zahlloſe Fiſcherboote wiegten fich auf der jhwarzblauen, 
weißgefämmten Fluth. Baldiwin richtete die Augen auf dies große Bild, und 
ohne jeinen Freund anzubliden, erzählte er, mit tonlojer Stimme, die Geichichte 
feines Unglüds. Er Elagte Forbes nicht an, er wußte ja nidht einmal, daß 
diejer fi) an ihm vergangen hatte, ex verſuchte auch nicht, ſich jelbft zu ent- 
ſchuldigen. Er jagte, ex ſei aufgeregt, zornig gewejen; er habe, ohne zu willen, 
was er thue, Forbes von ſich geftoßen und dieſer jei gefallen. — „Ad 
beugte mich über ihn und jah ihn fterben. Ich jehe ihn in diefem Augenblicde 
vor mir, fterbend, von meiner Hand!” 

Er hielt inne, und zum erften Dale, jeitden er zu ſprechen angefangen, 
blickte er furchtſam in das Geficht feines Freundes. Diefer, leichenblaß, hielt 
die Augen zu Boden gejchlagen. 

„Niemand außer Ihnen weiß, was gejchehen ift,“ fuhr Baldwin fort; „ich 
war mein Bekenntniß Niemandem jchuldig, außer Ihnen. Ihnen Habe ich mein 
Geheimniß, habe ich mich jelbft ausgeliefert, und Sie können mit mir thun, 
wa3 Sie wollen: ich bin in Ihrer Hand. Bin ich Tehuldig, jo will ich jede 
Strafe, die über mich verhängt wird, ruhig dbahinnehmen. Bin ich unjchuldig, 
jo ſprechen Sie mid) frei und erlöjen fie mich von der Qual, die ich nicht länger 
ertragen kann . . . Sieh’, wie elend ich geworden, Thomas! Habe Mitleid mit 
mir! Ich babe Unjägliches gelitten.” 

Eine ſchwere Pauſe. 

„Ich habe Niemanden auf der Welt, als Sie!“ ſagte Thomas endlich. 

In ſeinen Augen leuchtete das alte, volle Vertrauen, die alte Liebe; und 
Baldwin konnte dieſen Blick nun ruhig ertragen. Wie mit Johanna, ſeiner 
Schuldnerin, ſo hatte er nun auch mit Thomas, ſeinem Gläubiger, abgerechnet, 
und dieſer hatte ihm ſeine Schuld vergeben. Er athmete tief auf. Er war 
wieder frei. 

Johanna lebt abwechſelnd in Südfrankreich und in Paris, eine junge, 
reiche, gefeierte Wittwe. Sie iſt ſehr fromm geworden, von jener eiſigen 
Frömmigkeit, welche Leute im ganzen Lande berühmt, im engen Bekanntenkreiſe 
gefürchtet macht. Ihr Haus iſt mufterhaft gehalten; die Dienerſchaft zittert 
vor ihr, obgleich fie niemals ſchilt; kein Armer wagt e8, fi) ihr zu nahen; 
aber der Name von rau Gordon Baldwin prangt mit großen Beträgen auf 
allen Subjcriptionsliften für barmherzige Zwecke. Ihre Wohlthätigkeit ift jedoch 
ebenjo frei von Eitelkeit, wie von Mitleiden. Sie beſchenkt Schulen, Hojpitäler, 
Armenhäufer, nicht etwa um genannt und gerühmt zu werden, jondern weil fie 
e3 fir ihre Pflicht hält, wohlthätig zu fein, und dieje Pflicht nur erfüllen dann, 
indem fie berufsmäßigen Philanthropen größere Summen zur Vertheilung unter 


380 Deutjche Rundichau. 


Hilfsbedürftige zur Verfügung ftellt. Es iſt ihr unmöglich, fi für die Leiden 
de3 Einzelnen zu interejfiren. Sie kann nur an ihre eigenen Leiden denken, und 
um dieſe zu lindern, gibt fie der leidenden Menjchheit. Sie ift nicht ſchlecht; 
fie hat in ihrem Leben nie etwas pofitiv Strafbares verübt, — und fie hat 
auch nie uneigennüßig etwas Gutes gethan. Um fremde Menſchen Hat fie fich nie 
befümmern können. Die Natur hat ihr die Möglichkeit, dies zu thun, verjagt. 
Sie ift ficherlich nicht zu bewundern, aber fie ift faum zu tadeln. Herzensgute 
Menjchen, wie e3 deren ja auf der Welt gibt, werden fie vielleicht bedauern. 

Thomas Lansdale hat fih in New-York niedergelaffen. Hunderte von 
Armen jegnen ihn. Jeder Hilfsbedürftige, der ihn gejehen, verläßt ihn getröftet. 
Das legte Unglück, Baldwin’3 Tod, hat den weichherzigen Mann noch mit- 
leidiger gemacht. Er jchenkt oft Unwürdigen; aber ex fährt fort, nach beftem 
Ermeſſen wohlzuthun. Argwohn fennt fein vertrauendes Herz nit. — 63 ift 
befjer, von Vielen getäufcht zu werden und Vielen zu helfen, als Allen zu miß— 
trauen und allein zu jtehen. 

Gordon Baldwin ift bald nad feiner Rückkehr nad) Hakodate wie ein Held 
geftorben. Er hat den Tod gefunden, al3 er, um die Mannjchaft eines 
ftrandenden Schiffes vor ficherem Untergange zu retten, ſchwimmend eine Leine 
an das Ufer trug und dabei gegen einen Felſen geſchleudert und zerichlagen 
wurde. Er hat danach noch ſechs Stunden gelebt, lange genug, um zu erfahren, 
daß die Mannſchaft gerettet, daß er fein Leben nicht unnütz preisgegeben; lange 
genug, um getroft zu jein, daß er Forbes' Tod gebüßt und gejühnt habe. Die 
Mitglieder der fremden Gemeinde von Hakodate haben während feiner Agonie 
das Sterbehaus umftanden. Die Frommen haben inbrünftig für ihn gebetet, 
und die Ungläubigen um ihn geweint. — Thomas Lansdale hat ihm die Augen 
zugedrücdt. Sein liebevoller, vertrauender Blick, den Baldwin einft gefürchtet, 
ift der letzte Troſt des Sterbenden geweſen. 

Und ſo ſind ſie Alle wohlgeborgen: Forbes und Baldwin ſind todt und 
haben Ruhe. Zwei Menſchen, Johanna und Thomas, denken noch an ſie und 
willen, daß mit ihnen Etwas begraben ift, was zu ihrem Leben und Glüde ge- 
hörte, und nicht wieder erjeßt werden kann. Sonft ift es, als ob fie nie 
gewejen wären. — Thomas hat den Schmerz um den verlorenen Freund nicht 
überwunden; aber er ift nicht unglüdlid. Er wird von Ginigen betrogen, 
ausgebeutet, jogar verjpottet, von Vielen verehrt und geliebt. Er thut Gutes 
und wird Gutes thun, bis an fein Ende. — Johanna lebt zurücgezogen, tie 
auf einer einfamen, Falten Höhe, und it auf dem Wege, ſich den Auf einer 
Heiligen zu eriverben. 


Düſſeldorfer Sehriahre. 


Don 
Iohann Wilhelm Schirmer. 


——— — 


Vorwort. 


Im Sommer 1863, dem letzten ſeines Lebens, begann J. W. Schirmer, 

der berühmte Landſchaftsmaler der Düſſeldorfer Schule, während eines einſamen 
Badeaufenthaltes in Langenſalza, Erinnerungen aus ſeinem Leben, und zwar zu— 
nächſt aus ſeiner Lehrzeit in Düſſeldorf und aus den erſten Jahren ſeiner künſt— 
leriichen Selbjtändigkeit aufzuzeichnen. Dieſes Manufeript iſt bereits mehr- 
fach bei biographiichen Skizzen, welche kurz nach feinem Tode erichienen, benutzt 
worden, jo von E. Frommel im chriftlihen Kunftblatt 1864 und von An— 
derjen in feinem Werke „Maler-Stecher der Neuzeit“. Als mir jelbft die Auf- 
zeichnungen kürzlich von der Familie mitgetheilt wurden, al3 Material für eine 
furze Darftellung von Schirmer’3 Leben, die in einem biographiichen Lexikon er— 
icheinen ſoll, machte mir diefer ſchmuckloſe, aufrichtige und anziehende Bericht 
des Künftlers einen jo nachhaltigen Eindrud, daß ich eine Veröffentlichung für 
wünſchenswerth hielt. Die Erlaubniß, eine jolche zu veranlaffen, wurde mir in 
freundlicher Bereitwilligfeit ertheilt. 

Dem, was der Kiünftler jelbft jagt, war nichts weiter hinzuzuſetzen, auch 
Anmerkungen waren faum nöthig, denn die Verhältniffe und die Perjünlichkeiten, 
von welchen die Rede ift, find hinreichend bekannt. Einige Flüchtigkeiten des 
ſprachlichen Ausdruds, die dem Verfaſſer bei erneuerter Durchſicht gewiß jelbit 
aufgefallen wären, glaubte ich ändern zu dürfen. Wenige Stellen find um be- 
jtimmter Rüdfichten willen ausgelaſſen worden. 

Die Lebendigkeit, Anſchaulichkeit und Friſche, mit denen Schirmer erzählt, 
verjeßen uns mitten hinein in dieſe Jahre, welche für das deutjche Kunftleben der 
neueften Zeit bedeutungsvoll geworden find. Wir jehen, wie froh und tüchtig ex jelber 
jtrebt, bis ihın die Theilnahme eines edlen Meifters und väterlichen Leiters den rechten 
Weg erichließt, wie fich dem jungen Maler im Zufammenhang mit den künftlerischen 
Fortſchritten auch eine neue Welt derBildung erſchließt, wie mit dem Talent ſich auch der 


382 Deutiche Rundſchau. 


Charakter entiwidelt, bis er endlich den Muth Hat, einem damals in Düffeldorf 
noch faum angebauten Kunftgebiete, der Landjchaftsmalerei, fich zugumenden, und 
hier, ohne eigentliche Leitung, ſich wieder ganz auf ich jelbft verlaffen muß. 
Aber die Aufzeichnungen haben nicht nur durch die Aufichlüffe Werth, die fie 
über Schirmer’3 eigene Entwidlung geben, jondern fie enthalten wichtiges Material 
für die Geſchichte der Düffeldorfer Schule überhaupt, über die Zuftände, welche 
bei dem Weggange von Cornelius bejtanden, über den durchichlagenden Erfolg, 
den Schadow's folide Methode erzielte, und über das begeifterte Schaffen und 
Streben der jungen Kräfte, von denen mehrere bald zu den beliebteften Künſt— 
lern des Vaterlandes gehörten. 

Wenige Wochen vor jeinem unerwarteten Tode hatte Schirmer begonnen, 
feine Selbftbiographie zu vervollftändigen, indem er eigenhändig feine Erinne- 
tungen aus den Sinderjahren niederſchrieb. Dieſen Theil zu veröffentlichen, hiel- 
ten wir nicht für angemeſſen. Er ift, feiner ganzen Faſſung nad), mehr für die 
eigenen Angehörigen de3 Künſtlers al3 für weitere Kreiſe beftimmt. Nur die 
weſentlichen, thatjächlichen Angaben, welche diejes zweite Manuſcript enthält, und 
welche der Darftellung feiner Lehrjahre als Einleitung dienen können, ſchicken 
wir vorauf. 

Johann Wilhelm Schirmer war am 5. September 1806 zu Jülich 
geboren. Sein Vater, Johann Gottlob Schirmer, ftammte aus Grünberg 
in Schleſien, war ein Buchbinder jeines Handwerks, Hatte viele Jahre in Wan 
derungen zugebradt, in Stuttgart ih) mit Wilhelminevon Breitihwerdt, 
der Tochter eines Hofadvofaten, verheirathet und ſich bald darauf, 1798, in 
Jülich niedergelaffen. Den Vater ſchildert Schirmer als einen rechtlichen, bis 
zur Aengftlichkeit gewiljenhaften Dann, treu in jeinem Beruf, heiter im gejelli- 
gen Kreiſe, vor Allem aber als ein tief religiöjes Gemüth. Arbeitjamfeit un— 
ter vielfachen Entbehrungen war in der Familie zu Haufe. Unter franzöfiicher 
Herrichaft lebend, hielt der Vater doch die glühende Liebe zu jeinem Geburts: 
lande Preußen feit. „Den ſüßeſten Theil feiner Erinnerungen“ nennt Schirmer 
feine Mutter, welche Pflichttreue und Milde, Klaren Verſtand und tiefes Gemüth 
verband. Wie der Knabe innig an ihr hing, jo war fie auch die Erjte, die jein 
Talent wahrnahm und Vertrauen in dafjelbe Hatte. Sie pflegte von ihm zu 
jagen: „Laßt mir nur das MWilhelmle, e3 iſt mein Profeffor in der Maler: 
kunſt.“ 

Seit dem Jahre 1813 erhielt Schirmer in der reformirten Volksſchule 
Unterricht. Damals erlebte er die Schrecken des Krieges und die Belagerung 
Jülich's durch das Heer der Verbündeten, endlich den Anfall des Landes an Preußen. 
Sein künſtleriſcher Trieb war früh hervorgetreten, in erſter Kindheit war ein Tuſch— 
faften feine ganze Freude gewejen, eine Zeitlang Hatte er auch etwas Zeichen: 
unterricht bei einem Ingenieur gehabt. Aber davon, daß ein Künftlerftand 
erijtire, daß man einem jolchen Lebenzberuf ſich unter günftigen Umſtänden wid- 
men könne, hatte er feine Ahnung. Nach feiner Confirmation trat ex bei jeinem 
Vater als Buchbinder fürmlih in die Lehre, Kehrte aber in allen Freiftunden 
zum Zeichnen zurüd, copirte Kupferftiche und machte auch einige Verſuche in der 
Kunjt des Radireng. 


Düffeldorfer Lehrjahre. 383 


Ein dunkles Gerücht, daß es in Diffeldorf eine Malerafademie gebe, war 
endlich doch zu ihm gedrungen. Eines Tages, nachdem die eigentliche Lehrzeit 
um war, fam ein Geichäftsfreund feines Vater, ein Buchbinder Severin 
aus Düffeldorf, in die MWerkftätte, jah die Zeichnungen des Knaben und erzählte 
bei der Gelegenheit, daß jeine Tochter bei Profeffor Kolbe auf der Akademie 
male. Dieſes Wort fiel wie ein Funke in die Seele des jungen Menſchen, er 
jebte bei dem Vater durch, daß diefer ihn zu Heren Severin nad) Düſſeldorf 
gebe, auch diejer willigte ein, und jo gelangte er auf den Plab, an welchen jeine 
fernere Entwidlung ſich entſcheiden jollte. 

Hier beginnt dann Schirmer’3 eigene Erzählung, fie bricht plötzlich ab, 
nachdem von den erften durchſchlagenden Erfolgen in Düffeldorf die Rede war. 
Etwa jeit 1828 jtand er al3 ein anerkannter Künftler, al3 der eigentliche Land— 
Ihaftsmaler der Düffeldorfer Schule da. Durd feine charaktervolle und poe— 
tiſche Auffaſſung deutſcher Waldlandichaften hatte er zuerft Eindruck gemacht. 
Reifen zu künſtleriſchen Studien erweiterten feine Anſchauung, neben der heimi— 
ſchen Landichaft wandte er ſich dann der jüdlichen zu. Im Yahre 1854 wurde 
er als Director der neugegründeten Kunſtſchule nah) Garläruhe berufen, two er 
den Neft feines Lebens zubrachte und wo dann auch) die idealen Landſchaften mit 
bibliſcher Staffage entftanden, in denen er wieder einen neuen künſtleriſchen Weg 
betrat. Hier ftarb Schirmer am 11. September 1863. 

Alfred Woltinann. 


I. 
1825— 1828, 


E3 war Anfang März des Jahres 1825, als ich, begleitet von einem mei- 
ner früheren Jugendgenofjen um 6 Uhr Morgens die Baterftadt Jülich verließ, um in 
Düfjeldorf, dem endlichen Ziel aller meiner Wiünfche, die dortige Kunſtakademie 
zu bejuchen. 

Mit etwa dreißig Thalern in der Taſche, die nothwendige Wäſche und 
Kleidungsftüce in einem geräumigen Tornifter auf dem Rüden, den Wanderftab 
in der Hand, gingen wir fröhlich in den friichen Morgen hinein. 

Die heißen mütterlihen Abichiedsthränen und der ernfte väterliche Segen, 
ließen mich ahnen, daß nun andere Zeiten, als die bisher durdjlebten, eintreten 
würden. — In Fürth, einem Dorfe halbwegs Düſſeldorf, wurde eingefehrt, um 
bei einem Glaſe Bier die verichiedenen Eßwaaren zu probiren, mit denen die 
herzliebe Mutter meine Tajchen jo gut verforgt hatte, daß ich meinem Reiſe— 
gefährten noch reichlich mittheilen konnte. Derjelbe Hatte das Sattlerhand- 
werk erlernt und wollte, eine mehrjährige Wanderſchaft antretend, in Düffeldorf 
bei einem Vertvandten fein erſtes Nachtquartier ſuchen. 

Nachdem wir und hinreichend geſtärkt und geraftet Hatten, ſetzten wir unfern 
Meg auf der breiten Heerftraße fort und gelangten endlich Nachmittags 4 Uhr 
bei Neuß an den Rhein. 

Die mich noch immer umſchwebenden Heimathsgefühle, die Geftalten meiner 
lieben Eltern und die Erinnerungen an alles Wohl und Wehe der Vergangen— 
heit zerfielen nun mit Ginemmale und al3 twir die fliegende Brücke betraten, die 


384 Deutiche Rundſchau. 


uns auf das rechte Rheinufer nach Bilk überfegte, traten die gewöhnlichen Be— 
ichäftigungen der Phantafie ein, die Meberlegungen, die ſich auf das Zunächſt— 
Viegende, Nothiwendige beziehen: Wo konnte Herr Severin wohnen? Wie 
jollte ich wohl empfangen werden? Mein entzündetes Auge, mein graues Röd- 
chen, der ſchwere Tornifter genirten mich einigermaßen, und die eintretende 
Dunkelheit der Naht war mir in mander Hinſicht ſchon recht, obgleich ich die 
Statue de3 Kurfürſten Johann Wilhelm, welche den Marktplag Düſſeldorf's 
ziert, gern deutlicher gejehen hätte. Doch hier trennten fich die beiden jungen 
Landsleute, und nun war ich mutterjeelenallein in der fremden großen Stadt 
ohne irgend eine Kunde von dem Orte meiner nächſten Beftimmung. Das auf 
den Markte liegende Rathhaus lud mid ein, Straße und Hausnummer der erſt 
fürzlih von Düren nad) Düffeldorf übergefiedelten Familie Severin zu erkunden, 
nachdem ic exit einige Vorübergehende, natürlich vergeblih, darum befragt hatte. 
Hier erfuhr ich dann die Adreffe und ein gefälliger Mann, den ich untertvegs 
anſprach, führte mich an Ort und Stelle. 

Die elf Stunden Wegs hatten mic ſtark ermüdet, und erichöpft trat id) 
in den Familienkreis, deifen Haupt, Here Severin jelbft, mir mur von ein— 
maligem Sehen in Jülich bekannt war. Die kränkelnde Mutter und die freund- 
lichen Kinder, zwei Töchter und zwei Söhne, nahmen mid auf’3 Herzlichite an 
die Hand, nachdem ich eintretend gejagt hatte: „Ich bin der Schirmer,“ und 
al® bald darauf Herr Severin von der Werkftätte herabeilte, um mich zu be= 
willkommnen, wurde mein beflommenes Herz nad) und nad) leichter; denn die Leute 
waren gar freundlich und herzlich mit mir. Nachdem ich meine beicheidenen Habjelig- 
feiten in der Nähe des mir angewiejenen Bettes placirt (ich theilte nämlich das 
Schlafzimmer mit den Söhnen des Haufes, die no das Gymnafium bejuchten), 
und mein Abendeffen verzehrt Hatte, begab ich mich todtmüde vor körper— 
fihen Strapazen und von Bellommenheit zur Ruhe, und verſank bald in 
feften, erquidlichen Schlaf. — 

Am andern Morgen bejah ich mir die einzurichtende Buchbinderwerkſtätte, 
das vorhandene Werkzeug, die bereits eingefandten Betellungen, ordnete Einiges, 
und notirte das Fehlende. Nach dem Frühſtück wurde endlich mein fünftleriicher 
Heißhunger vorläufig dadurch geftillt, daß ich durch die ältejte Tochter des 
Haufes, Schülerin des Profeffor Kolbe, über die allgemeinen Verhältniffe, die zu 
mir in Beziehung ftehen würden, inſtruirt wurde. ch beivunderte ihre Arbei- 
ten, welche außer einigen Copien, aus Familienporträts beftanden und mir ganz 
außerordentlich wohlgefielen. Alle anderen Intereſſen vergeifend, hatte ich nur 
einen Gedanken, ein Verlangen: jobald wie möglich al3 Eleve in die königliche 
Kunftafademie aufgenommen zu werden; fir das Uebrige wollte ich dann jchon 
einftehen. Die gute Severin eröffnete mir dann, daß fie mid jofort mit auf 
die Akademie nehmen wolle, um mi — man denfe ſich meinen freudigen 
Schreck — ihrem Lehrer, dem Profeffor Kolbe, al3 meinem zukünftigen Meifter 
vorzuftellen. In meinem Sonntagsrod ging ic) ftolz neben meiner Wohlthäte- 
rin beim Markt mit der Hurfürftentatue vorüber und betrat mit heiliger Scheu 
die Akademie und bald darauf das Atelier des Profeffor Kolbe. Diejer, ein 
Heiner, vertvachjener, plumper Mann, frug mich nad) vorhergegangener Präjen- 


Düfjeldorfer Lehrjahre. 385 


tirung raſch und freundlich, ob ich Maler werden wolle. Dieje Frage jofort be— 
antworten zu jollen, beftiirzte mich derart, daß ich ihm mit offenem Munde den 
Beſcheid ſchuldig blieb, es wäre ja Vermeſſenheit gewejen, mit einem Ja zu 
antworten. ch ftotterte nur jo etwas von: „Wenn es möglid) ift, jo etwas 
einmal wirklich zu werden —“ und ftarrte dabei auf eine fiir mid) damals 
wunderbar jchöne Kopie der Titianifhen Venus der Dresdener Galerie, die 
Kolbe, unlängjt vollendet, in jeinem Atelier aufgeftellt hatte. „Nun,“ jagte ex 
mich anftoßend, „dann gehen Sie zum Inſpector Wintergerft und löſen Sie 
Ihre Karte;“ hierbei 309 ex jeine gereinigten Borftpinjel aus der Tajche, meine 
Begleiterin begab fich ebenfalls zu ihrer Staffelei, und jo verließ ich, beraujcht 
von taujenderlei Eindrüden, da3 Zimmer, um jofort den Inſpector Wintergerft 
aufzufucchen. — In diefem Kolbe’fchen Atelier befanden ſich damals außer einigen 
Porträts ein Studienkfopf nach) Goethe und ein angefangenes lebensgroßes Bild, 
die ganze Figur de3 Dichters darjtellend, im landſchaftlichen Hintergrund der 
Veſuv mit dem Golf von Neapel; Goethe fteht im Mantel mit abgetvorfenem 
Hut jchreibend am Meeresufer. Wie wunderbar und wirkungsvoll im Ganzen 
e3 mir auch erſchien, jo wollten mir doch die unter dev Manteldraperie hervor- 
guckenden Pantalonz nicht recht gefallen. Doc das lag natürlih an mir und 
nicht an dem unfehlbaren Meiſterwerke. 

Bei der jpäter erfolgten Ausftelung diejes Bildes auf dem Düffeldorfer 
Galeriefaale Hatte ich dafjelbe widrige Gefühl des Unpaffenden. — 

Inſpector Wintergerft ging freundlich ein auf meinen Wunſch, die Ele- 
mentarclaffe vorläufig nur Nachmittags von zwei Ahr an bejuchen zu dürfen; 
denn ich mußte ja zur Erfüllung de3 mit Heren Severin eingegangenen Gon- 
tractes einen halben Tag Bücher binden, wofür ich dann freie Koft und Quar- 
tier erhielt. Es trat jedoch bald Mangel an Aufträgen ein, und ich erledigte 
die Kleineren Beftellungen Morgens von 5 bis 8 Uhr, erhielt dafür Logis und 
Frühftüd und mußte dann Mittag und Abendbrod aus eigenen Mitteln bejtrei- 
ten. Der erfte Thaler meines Vermögens war für die Löjung der Eintrittskarte 
ausgegeben, und glüclich wie noch) nie in meinem fiebzehnjährigen Daſein ftolperte 
ich jofort in einen Zeichenmaterialladen, um mir Papier, Brett, Kohle :c. 
einzufaufen. Doc) jet mußte ich nach Haufe, um endlich das Falzbein zu er- 
greifen und den Schlaghammer zur Hand zu nehmen; er war zwar an ma= 
teriellem Gewicht leicht, weit leichter al3 der im Vaterhaufe, aber wie ſchwer 
wurde es mir, ihn nad) diejen Eindrüden zu handhaben! — 

AL zum Mittageffen gerufen wurde, verjuchte ich verjtohlen die neu gekaufte 
und noch eingewidelte Kohle, und jchrieb damit, weil mir's gerade jo einfiel, 
memento mori an die Thür. — 

Mit unbeichreiblichen Gefühlen, endlich der Vorhalle meines Paradieles na— 
hen zu dürfen, betrat ich den andern Tag die Elementarclaffe, woſelbſt Inſpec— 
tor Wintergerft täglich) Morgens von S—9 Uhr und Nachmittags von 2—3 
Uhr Unterricht ertheilte. Es befanden ſich hier, als Originale zum Gopiren, 
contourirte Köpfe aus Raphael's Disputa und ausgeführte Blätter aus Ra— 
phael’3 Spajimo u. a. m. — Ih begann natürlich mit den einfachiten 
Anfängen. 

Deutiche Rundſchau. IIT, 9. 26 


386 Deutſche Rundichau. 


Unter diejer kunftftrebenden Elementarjugend tvaren einige Weftphalen, die, 
freundlich und behilflich gegen mich, mein nächfter Umgang wurden: Sprid, 
Heitheder und Kemper aus Bielefeld. Sie waren bereit3 mit Probearbeiten 
für die Gypsclaſſe beihäftigt, und ich erftaunte über ihre vollendete Behand— 
lungsweiſe, vorzüglich iiber Sprid, welcher den Freuztragenden Chriftus aus dem 
Spafimo copirt hatte Ich nahm mir diefen jüngeren Freund zum Vorbild, 
da er, noch nicht jechzehn Jahre alt, mir jchon jo weit überlegen war; bald 
nachher trat er dann auch in die Gypsclaſſe und den Modelljaal ein. 

Während ich jo abwechjelnd mit Bücherbinden und Zeichnen den Tag zu— 
brachte, begegnete ich zuweilen dem Director der Alademie, Peter Cornelius, 
welcher, eben mit dem Garton der Zerftörung Troja's für die Glyptothef im 
Münden beſchäftigt, mit dem größten Theile jeiner Schüler noch einige Monate 
nad meiner Ankunft in Düffeldorf zubrachte, jedoch bereits, zu unjerm großen 
Schmerze, anfing, jeine Ueberſiedlung nah München anzuordnen. Unter diejen 
Schülern waren &8 die Maler Herrmann und Gößenberger (mit Cartons 
für die Aula zu Bonn beauftragt), Stürmer und Stilfe (für Koblenz und 
Schloß Heldorf, Beſitzung de3 Grafen Spee, arbeitend), Kaulbad (an einem 
bei ihm bejtellten Altarbild, Madonna mit muficirenden Engeln, bejhäftigt), Ru= 
ben (Garton einer Kreuzigung), E. Förfter, Abt, Gaffen, Eberle und 
Andere, die vorzugsweile als jeine Schiller bezeichnet wurden, während einige 
MWenige, unter denen beſonders Schorn genannt werden kann, von der techni= 
ſchen Praxis der Malerei des Profeſſor Kolbe angezogen, eine anticornelianijche 
Richtung einſchlugen. — Das rege poetiiche Leben diefer Künftler, die, einer 
Zeit angehörend, wo die Jugend noch erfüllt vom Schen kendorf'ſchen Geijte war, 
in Nibelungen- und Fauſt-Poeſien, in Gefang und Muſik ſchwelgten, die deutjche 
Tracht mit langem Haar und Baret zur Schau tragend, machte einen gar ge= 
waltigen Eindrud auf mich, und von nun an ftand es feſt, daß ich dermaleinft 
ein Genofje diefer herrlichen Jünglinge werden mußte, koſte es auch, was es wolle. 

Natürlich ging es jeßt mit dem Bücherbinden immer jchlechter, e3 fiel mir 
unbejchreiblic) ſchwer, auszuhalten, und endlid, im Juni, faßte ich ein Herz 
und — löfte mich in Frieden von der Familie Severin, um mid) num, wenn aud) 
mit leichtem Geldbeutel, mit deſto Freudigerem Muthe der Kunft ganz hinzugeben. 

Eines Morgens — ich hatte bexeit3 meine Probearbeit: den Marienkopf aus 
dem Spafimo, abgeliefert, — trat Inſpector Wintergerft nad) feiner Gorrectur 
in die Glafje, und lud fie im Namen des Herrn Directors ein, feinen nunmehr 
vollendeten obenerwähnten Garton anzujehen. Mit heiliger Scheu traten wir 
in den Saal, wo Cornelius mit einem Stüd Kohle in der Hand die Treppe 
bei Seite ſchob, damit wir den Eindrud des Ganzen haben follten. Er nidte 
und freundlid zu und erklärte una die bedeutungsvollen Figuren der Gruppe. 
Mit der ſchließlichen Aufmunterung: raſtlos zu ftxeben, reichte er ung zum Ab» 
Ihied die Hand, und wir gingen, trunfen von unbejchreiblicden Eindrücken, in 
die Elementarclafje zurüd. Hierſelbſt zu Worte gelangend, ſchien e8 uns zu 
näherem Berftändniß des Cornelius nothiwendig, den Homer zu leſen, und raſch 
in die naheliegende ſtädtiſche Bibliothek eilend, verlangten wir die Ilias, nach— 
dem wir die dort aufgelegten Werke des Cornelius, Nibelungen und Faust, noch— 


Düffeldorfer Lehrjahre. 3837 


mals raſch durchflogen hatten. Heitheder twurde nun einftweilen zum Vorleſer 
ernannt. 

Mittlerweile waren die Ofterferien herangekommen, und jchon jeit längerer 
Zeit waren zuweilen trübe Stunden über mich gerathen, in denen ich immer 
an meine lieben Eltern denken mußte, an Jülich mit feinen einfamen Wiejen 
und Wäldern, an den Fluß (die Roer) mit feinen Fiſchen und an alle die tau- 
fend Gedanken, die mich dort auf den einfamen Spaziergängen begleitet hatten. 
So gut und jo herzlich, twie die Mutter mich mit ihrem treuen Auge anſehn 
fonnte, jo war doch Niemand mehr in der Welt, und die Mutter und den Va— 
ter mußte ich deshalb, wenn auch nur auf einen oder zwei Tage zu Oftern 
ſehen. Doch — mas jollte ich ihnen denn num Exfreuliches zeigen? ich hatte 
ja noch nichts; ich wußte nicht einmal, ob ish überhaupt den Weg fortjegen 
fönne, den ich eben exft betreten hatte. So unterdrücte ich denn mein Heim= 
weh und — Oſtern ging vorüber, ohne daß ich die Heimath wiedergejehen. 

Während der Fyerienzeit übte ich das Miniaturmalen auf Elfenbein, ver— 
fuchte Porträt3 in Schwarzkreide zu zeichnen, unter andern auch mein eignes 
aus dem Spiegel, wa3 ich dann im Triumph ftatt meiner den geliebten Eltern 
zufandte. An freien Abenden und Sonntagen erfreuten wir ung wohl an Spa— 
ziergängen in die Umgegend Düffeldorf'3. Der Bilkerbuſch, ein herrlicher Wald, 
grenzte damals faft unmittelbar an Oberbilk und die Kölner-Straße; Düffel- 
thal war gleichfalls mit Wald umgeben; jehr anziehend aber war vor Allem 
die ſchwer zu findende Neanderhöhle bei Erkrath, die jedoch al3 eine großartige 
phantaftiiche Unternehmung für die Zukunft aufgeipart wurde. 

Unter die in gleihem Verhältniß wie ich ftehende Jugend gehörten die da= 
maligen Lithographen Hojemann und Sonderland, Hupferfteher Pflug: 
felder und Andere, welche jet entweder ſpurlos verſchwunden, gejtorben oder 
verdorben find. Dann gefellten fich zwei Oldenburger zu uns, welche ala Ge- 
hilfen bei dem damaligen ftädtifchen Decorationsmaler Poſe in Düffeldorf ar— 
beiteten;; ferner die Gebrüder Willers, von denen der Aelteſte jpäter ein aus— 
gezeichneter Landichaftsmaler wurde, der andere, ein Schüler Kolbe'3, ala Por— 
trätmaler und Zeichenlehrer wieder nad) Oldenburg zurüdkehrte. Pflugfelder 
arbeitete damal3 an einer großen Platte nad) einem Transparent von Corne— 
liu3, welches der Meifter zur VBermählungsfeier des Kronprinzen Friedrich Wil- 
helm fir das Rathhaus erfunden, und das feine Schüler ausgeführt hatten.*) — 
Pflugfelder hatte nun zu Pferde in altdeutichem Coſtüm, die Mappe mit der 
betreffenden Zeichnung Hinter ſich, das Land durchzogen, um Subjeribenten zu 
fammeln. &3 gelang ihm, binnen eines halben Jahres gegen dreitaufend Unter» 
Ihriften zufammenzubringen, worauf er die Zeichnung in vier Monaten auf 
die Platte kratzte. ine greuliche Arbeit in jeder Beziehung, die nur dazu 
diente, da8 Mißverſtändniß und die Abneigung gegen die durch Cornelius ein» 
geführte monumentale Kunft allgemeiner zu verbreiten. — Doc einftweilen 
erfreute ſich Pflugfelder des Leicht erworbenen Berdienftes und trug in feinem 


”) Ueber dieſe Arbeit, „ohne Zweifel das rohefte Blatt, welches in unferem Jahrhundert 
entftanden ift“, vgl. Springer, Im Neuen Reich, 1875, I, ©. 447. A. W. 
26* 


388 Deutiche Rundichau. 


Leichtfinn Manches bei, den Ton meiner damaligen Umgebung gerade nicht zu 
einem empfehlenswerthen zu machen. — Wir durchzogen mit Gejang und 
tlingenden Guitarren Tag und Nacht die Stadt und das Land, und der Chorus 
der Freiheits-, Burſchen- und Trinklieder wurde jo laut, daß die Polizei, endlic) 
darauf fahndend, zur Arretirung der ärgften Schreier jchreiten mußte, um Ruhe 
für den friedliebenden Bürger zu ſchaffen. — Zum Glüd war der Mangel an 
Mitteln ein permanentes Hinderniß, welches unjern cyniſchen Sympathien ge— 
bieterifch entgegentrat. Keiner hatte etwas, wern auch bei Einigen, wie bei 
Pflugfelder nad) Vollendung feiner Platte, dafür momentan gejorgt war. So 
fonnte man es nur monatlih einmal wagen, einen Biercommers abzuhalten, 
wobei jelbftverftändlich jeder Theilnehmer betrunken werden mußte. — Später 
wurde auf ben Spaziergängen der Genuß der jauern Mil in Flingern ein 
harmlojes Labjal für die jingluftigen Kehlen. 

Wilhelm Preyer und Jakob Lehnen, unfere beiden Kleinen Freunde, 
darf ich nicht vergefjen Hier zu nennen. Der erjtere wollte damals Hiftorien- 
maler werden und verjuchte einen Garton aus dem Buch Tobias zu zeichnen. 
Lehnen zeichnete nad) Gyps und wußte noch nicht, was er werden wollte. Doc 
daran dachten wir ja damals Alle nit. Man hatte die Schüler von Corne— 
lius als Vorbilder vor Augen, und vorerft ftrebten wir darnad), einen guten 
Act und Draperie zeichnen zu lernen, dann galt e3 eine Compoſition zu ent- 
werfen, nad) welcher ein Garton gezeichnet werden fonnte, und dann war man, 
wenn überhaupt Talent vorhanden, unferer Meinung nach fähig, die größten 
Aufträge anzunehmen und auszuführen, wie wir joldhe Arbeiten in Koblenz, 
Bonn und Helldorf vor Augen hatten. Zuweilen tauchten wohl Beforgnifie in 
mir auf, daß, wenn ih num nicht jo glücklich ſein jollte, Beftellungen al fresco 
zu erhalten, das Delmalen nicht jo leicht zu erlernen jein möchte. Der bei 
den Gornelianern in Mißcredit ftehende Profeffor Kolbe hatte unter Gerard 
feine Schule gemadht, und feine Malerei übte auf uns junge Leute einen un— 
gleich bejjeren Eindrud als die gequälten Verſuche des Einen und des Andern 
aus der Gornelianiihen Schule. Doc trauten wir unjerem eigenen Urtheil 
darin nit, jondern hielten und an die Ausfprüche unferer Autoritäten, ob— 
wohl e3 uns oft Ueberwindung genug koftete. Wir zweifelten jelbft nicht daran, 
daß die auf der Düſſeldorfer Galerie noch befindlichen Rubens'ſchen Bilder fo 
abſcheulich manierirt jeien, daß fie höchftens als Warnungstafeln einer ganz 
verjehlten Richtung vergangener Zeiten der Mühe des Beſehens werth wären. 

Als Gornelius mit dem größeren Theil feiner Schüler im Sommer Düffel- 
dorf verlaffen Hatte, ftieg bei uns die Autorität des Profejjor Kolbe, und die 
zuerft empfundene Luft an Farbenpradt und Malerei verdrängte die ung mehr 
oder weniger oetroyirte monumentale Kunft, welche meiftens durch Allegorien oder 
hiſtoriſche Repräfentationen und Schlachten das Haus Witteldbach verherrlichte, 
indeß auch ferner al3 Garton oder Zeichnung noch höchſt impofant auf uns ein= 
wirkte. Aber eine ganz andere Seite der Kunſt bemädhtigte ſich unfer immer 
mehr und mehr: nämlich diejenige der Malerei, bei welcher das Auge, trunken 
von der Schönheit der Farben ımd Formen, gar nicht danad) fragt, was das Bild 
eigentlich vorftelle, jondern immer nur an dem ſchönen Wie bezaubert haften bleibt. 


Düfjeldorfer Lehrjahre. 389 


Ich erinnere mic aus diefer Zeit eines neuen merkwürdigen Eindrud3, den 
einige ausgeftellte Genrebilder von E. Schulze aus Berlin auf una Alle mach— 
fen. Derartiges, frifch aus dem unmittelbaren LebenGenommenes, war für una noch nie 
dageweſen, nie dargeftellt worden. Koſaken im Schneegeftöber oder herbftliches 
Nebelwetter mit Hühnerjagd, bei welcher der gammaſchirte Jäger in den Sumpf 
hineinpatſcht; jo etwas gemalt zu jehen, war uns twunderbar, merkwürdig; 
denn das jo nahe Liegende, was Jedem täglich jelbft begegnen, und Jeder jelbft 
erfahren konnte, als Motiv zu einem Bilde zu wählen, das lag uns noch zu 
fern. Wir Hatten einftiveilen volle Arbeit, in der Gypsclaffe Act zu zeichnen, 
und waren der Meinung, daß alles Uebrige ſich zur Zeit jchon finden würde. 

Zu den Hauptvergnügungen des Sommers gehörte auch da3 Baden im Rhein. 
Wir badeten gewöhnlich gegenüber der Akademie, an welchem Plate ſich aber 
eine höchſt gefährliche Stelle für Nichtſchwimmer befand. Als einziger Schwim- 
mer warnte ich zwar immer meine weftphäliichen Freunde und machte fie auf 
die plößliche Tiefe hinter der Sandbank aufmerkſam; dennoch blieb diejelbe im- 
mer unfer Tummelplat, wo dann von Allen mein liebfter Freund Kemper der 
Ausgelafjenfte war. Es fteht mir noch lebendig vor Augen, wie ich ihn einmal 
vom Strom gefaßt, dem Ende der Sandbank zutreiben jah; mein Hilferuf kam 
zu ſpät, meine Kraft reichte nicht aus, ihm entgegen zu arbeiten: „Hilf mix!“ 
hörte ich ihn noch rufen, worauf er dicht vor mir in die Tiefe ging und troß 
alles Suchens nicht wieder zum Vorſchein fam. „Kemper ift ertrunfen!” hieß 
es. „Es kann nicht fein, er muß wiederkommen!“ Ach, feine Kleider lagen da, 
aber er kam nicht wieder. Wir entichloffen una endlich, ſchweren Herzens nad) 
Haufe aufzubrechen. — Die Leiche meines Freundes wurde zwei Tage nachher 
bei Uerdingen aufgefiſcht und begraben. 

63 war der erſte Todesfall, den ich erlebte, ex blieb mir unvergeßlich. 

Die königliche Kunſtakademie zu Düffeldorf wurde damals durch ein Leh- 
rer-Collegium von ſechs Perjonen mit Einfluß des Directors geleitet. Diefe 
waren: der nun abgereifte Director Peter Cornelius, Kolbe, Profeffor 
und Lehrer der Gyps- und Malclaffe, Thelott, Profeffor und Lehrer der 
Kupferftechelafie, Schäfer, Profeffor und Lehrer der Architekturclaffe, der Sonn- 
tags⸗ (Handiwerfer-) Schule und der malerijchen Perjpective für die Akademie, 
Mosler, Profeffor für den Vortrag der Kunſtgeſchichte mit praktiſchem Com- 
mentar des Kupferſtich- und Handzeihnungscabinetes, zugleich Lehrer in der 
Elementarclaffe und Secretär der Akademie, und endlich Wint ergerft, Inſpee— 
tor und Lehrer in der Elementarclaffe. Alle, außer Profeffor Schäfer, wechſel— 
ten wöcentlih ab im Stellen und Corrigiren des Acts, welcher im Winter- 
jemefter bei Licht von fünf bis fieben Uhr Abends und im Sommer während 
der Nahmittagsftunden von vier bis jechs Uhr ftattfand. — Die diefem Colle— 
gium vorgejeßte Mittelbehörde, da3 Curatorium, war zujammengejeßt: aus dem 
Regierungspräfidenten von Peftel, dem Eonfiftorialtatd Dr. Kortüm, Direc- 
tor de3 Gymnaſiums, dem Geheimrath Jakobi und einem Regierungsjecretär. 
Die höchfte und entjcheidende Behörde war das königliche Minifterium für Eul- 
tus⸗ und Unterrichtö-Angelegenheiten in Berlin, dev Minifter war damald von 
Altenftein in Berlin. Die Dotation der Akademie war ein Geheimniß für 


390 Deutiche Rundſchau. 


die Direction; diejelbe hatte ihre Anträge an da3 Curatorium zu ftellen und 
jeiten® des Inſpectorats die Liquidationen der laufenden kleinen Ausgaben ein= 
zufenden. Dieſe bezogen fih auf: a. Modellgelder für den allgemeinen Act, 
b. fir Reparaturen und Utenfilien, e. für Heizung. Der Inſpector und Secre— 
tär, ſowie jelbitverftändlich der Afademiediener, hatten ihre Dienftwohnungen 
im Gebäude ſelbſt, welches damals bei der äußerſt geringen Elevenzahl von etwa 
zwanzig bi3 dreißig Scitlern hinlängli Raum bot für die Claſſen ſowohl 
als für die Privat-Wtelierd der Profefforen. Das Honorar betrug vierteljährig 
einen Thaler mittel Löſung einer Karte; für den Inſpector ein permanen= 
ter Verger, indem gerade diefer Thaler bei einem großen Theil der Eleven 
gewöhnlich bis Ende des Schuljahres hängen blieb, wo dann wohl gar mit Re— 
legation gedroht werden mußte, um deffelben endlich hHabhaft zu werden. 

Der Stipendienfonds für Inländer beftand aus etwa 600—800 Thalern 
und wurde nad) Beurtheilung der nad Eröffnung des Schuljahres abgehaltenen 
Lehrerconferenz dom Director beftimmt und beim Guratorium in Motivirung 
beantragt. Diefe Stipendien konnten bei befriedigenden Vorlagen in jähr- 
lien Summen von 50—100 Thalern drei Jahre hintereinander ertheilt wer- 
den. — Der Unterriht war in drei Glafjen eingetheilt: a) Elementar- oder 
dritte Claſſe. D) Gyps- und Mal- oder zweite Clafje. ec) erſte Claſſe für die 
jelbjtändigeren Eleven, welche, frei vom Honorar, von dem Director geleitet 
ward. Um in leßtere zu gelangen, gemügte es, die Gypsclaſſe mit bejcheidenen 
Leiftungen abjolvirt und eine Compofition, natürlich in ftilifirten Linien, über 
irgend einen hiſtoriſchen oder religiöfen oder poetilch-allegorifchen Moment in 
Figuren dargeftellt zu haben. Auch im Actmodell wurde jchon ftrenge darauf 
gehalten, die Natur zu ftilifiren. Die Folge davon war denn auch), daß ein 
ähnliche® Porträt, jowohl in Zeichnung, noch viel mehr aber in Malerei, zu 
den größten Seltenheiten gehörte. Ja, wenn die Zeichnung nad) dem modell- 
jtehenden Unterofficiev mit feinem Schildwachenkopf zufällig an die Natur er- 
innerte, jo wurde dies als ein Mangel an Talent angefehen. Die Jugend war 
dergeftalt auf den jogenannten cornelianiichen Stil eingefchult, daß man mitlei- 
dig den bedauerte, der, in die Hände des Profefjor Kolbe gerathen, von Wir- 
fung oder Farbe ſprach. Die Schablone der Chrimhild für die weiblichen und 
die de3 Sigfried für die jugendlich männlichen Köpfe, des Hagen für die In— 
triganten und de3 Attila für trauernde Könige u. j. w. war maßgebend und 
entjchied über das Talent. — Natürlich lag diejes Rejultat nicht in dev Abſicht 
der Lehrer. 

Gorneliu3, den ich exft ſpäter, in reiferen Jahren kennen lernte, hatte 
zu wenig Intereſſe und Zeit, ſich um die Hunftpädagogik in der Vorbereitungs- 
clafje feiner Akademie zu befümmern, und Wintergerft, ein lieber gemüth- 
liher Schwabe, der nur zuweilen feine Inſpectionsaugen machte, wenn wir zu 
jehr gelärmt oder einem Gypsabguß ein Leid zugefügt hatten, war exft jeit 
kurzer Zeit angeftellt worden. Heiliger Reſpect übrigens beherrichte mich, als 
ih in feierlicher Stimmung die Gypsclaſſe betrat, und noch ſcheuer und ftiller 
wurde es mir um’3 Herz, al3 ich die Anfänge im Actjaal machen durfte. 

Der augenfällige Unterichied im Wejen der Künftlerjugend von heute und 


Düfjeldorfer Lehrjahre. 391 


damals Tann unmöglich allein in der freieren Pädagogik unferer Zeit 
feinen Grund haben; oft genug ft mir in jetziger Zeit da3 geringe Intereſſe 
der jungen Leute beim Betrachten beſſerer Leitungen, als jie jelbjt zu liefern 
im Stande find, aufgefallen; hört man aber erſt die Bemerkungen über jolche 
beſſeren Leiſtungen, jo beziehen ſich diejelben in der Regel nur auf Nebendinge, 
die Hauptjacdhe bleibt gewöhnlich unberührt. Umgekehrt war e3 damals. Inner— 
halb der durch die beftehenden Verhältniſſe geichaffenen Vorurtheile imponirte 
uns vor allem erſt dasjenige, was uns jelbft fehlte. War diejes pojitiv Beſſere 
anderer Leitungen, jei e8 in Gompofition oder auch nur in der jchönen Behand- 
lung derjelben, durchgreifender Art, jo legte man feinen Werth darauf, irgend 
einen Makel aufzujuchen; man entſchuldigte eher, und begeijtert vom Eindrud 
de3 Ganzen gab man fich dem erhebenden Gefühl hin, auc etwas Derartiges 
Ihaffen zu wollen; man eilte dann nad Haufe und griff dort beim trüben 
Lampenſchein zum Stifte, um mit unbejchreiblicher Luft feine Ideen auf's Papier 
zu bringen. DBereinigungen zum Zwede des Componirens gab e3 mehrere und 
wie glüdlid) war man, wenn unjer lieber Wintergerjt beim Vorzeigen unjerer 
Geiftesproducte uns durch jeine Beachtung aufmunterte. 

Nachdem ih nun einige Köpfe in der Gypsclaſſe gezeichnet und nad) der 
in der Elementarclafje geübten Schraffirmethode auf oberflädhliche Wirkung aus- 
geführt hatte, durfte ich ganze Figuren erſt im Contour, dann aber in der näm- 
lihen Manier zeichnen und bald wurde mir die jchwierige Aufgabe, die Gruppe 
de3 Laokoon in kleinem Maßſtabe auf weißem Papier mit jehwarzer Kreide 
ſauber auszujchraffiren. 

Profefjor Kolbe bejaß nunmehr, nachdem Cornelius nad) München über- 
gejiedelt war, in der Claſſe unbegrenzte Autorität, und jeine an ſich höchſt 
oberflähliche und mangelhafte Gorrectur wurde, two fie nicht gar zu abgeſchmackt 
erihien, mit aller Pietät acceptirt. Unter andere Eigenthümlichkeiten, welche 
ihn als Lehrer für die Gypsclaffe geradezu unmöglich machte, gehörte jeine Kleine, 
vertvachjene Geftalt. Sein Horizont war mindeftens einen Fuß tiefer als der 
de3 Schülers, und jo traf e3 ſich natürlih, daß die VBerkürzungen und lleber- 
ſchneidungen de3 plaftijchen Originals fich ihm ganz anders darftellten al3 uns. 
Wir griffen daher zu einem verziveifelten Mittel, ihn zu täufchen, indem wir 
eine ſchwache Andeutung jeiner Striche, welche regelmäßig unter unjer Höhen- 
maß gelegt wurden, in dafjelbe hineintrugen und über der geltenden Linie einen 
halbgelöſchten Contour zogen, um ihn glauben zu machen, e3 jei diejes der von 
ihm geftern corrigirte zu hohe Umriß gewejen. Gewöhnlich) gelang es zum 
Scandal der Jugend. Das Weſen dev Ausführung behandelte er mit derjelben 
Rohheit. Daß hierbei von einem tieferen Eingehen in Behandlung der Flächen 
ebenjo wenig Notiz genommen wurde, wie vorher von der Teinheit der Ueber— 
Ichneidungen im äußeren Umriſſe jowie der Verhältnijfe des wunderbaren Baues 
der Vorbilder, verfteht ſich von jelbft; gejchweige denn, daß von Auffaſſung des 
Geiſtes der Antike iiberhaupt die Rede war. So wurde denn die ganze Sache 
mehr al3 eine Pflichtabjolvirung von Lehrer und Schüler aufgefaßt und abgemadht, 
um jo jchnell wie möglich den Borftenpinjel mit dem Kreideſtifte zu vertaujchen. 

Schon nad zwei Monaten durfte ich mir Delfarben nebjt Pinſel und 


392 Deutiche Rundſchau. 


Palette kaufen, um grau in grau die herrliche Antike zu jchänden. Yet wurde 
nur auf Pinfelführung geſehen, und wenn diefe roheften aller Anfänge in einigen 
Büften abgebüßt waren, dann endlich kam man zum erjehnten Copiren mit 
Farben. Zugleich durfte man während der Sommerzeit nad) dem Act malen und 
hoffte dann bald ein Porträt unternehmen zu können. Die Palettenichablone 
wurde ung vom Profeffor gezeigt; fie beftand aus zweimal fünf gemijchten 
Farben mit Weiß und gebranntem Oder, Weiß und Blauſchwarz nebft Zuſatz 
von Neapelgelb für die Schatten, die übrigen Farben Zinnober (Lad jehr jelten), 
Dunkel- und Goldoder, grüne Erde, nad) VBermalung der Moſaik-Anlage hinein- 
gejeßt, und dann war der Kopf fertig. E3 läßt fich nicht verfennen, daß die 
rein materielle Anwendung einer an ſich ganz gefunden Malweije gute Früchte 
getragen haben würde, wenn wir auch nur entfernt geleitet und zwedmäßig 
dazu angehalten tworden wären, es aus allen Kräften fo gut wie mögli zu 
machen; doch wir gingen ja jchon mit dem Zeichnen irre, und da wir Alle in 
ziemlich gleichem Schulalter ftanden, lernten wir auch von einander nichts; wir 
juchten es einer dem andern nur an-Schnelligfeit zuborzuthun, und die früheren 
Ideale von cornelianiicher Stilifirung, Compofition, Cartonzeichnerei, lagen ala 
ein nunmehr glücklich erkannter Irrthum weit hinter und. — Inſpector Winter- 
gerft und Profeffor Mosler mit ihren claffiihen Kunſtanſchauungen waren 
hintenangejeßt, zum Theil dadurch, daß Lebterer in feinem Schaffen uns ganz 
und gar unbekannt blieb und der Erftere „altdeutſch“ malte. Effect mußte 
ein Bild machen und das verftanden die Franzoſen bejjer. Profeſſor Mosler, 
welchem nunmehr als Vicedirector und Secretär die Akademieverwaltung provi- 
foriich übertragen war, hielt am Sonnabend Nahmittag von 2 bi3 4 Uhr einen 
Vortrag über Kunſtgeſchichte; doch diefer erging ſich bei feiner Gediegenheit 
derart in trodnem Detail, daß wir nur kamen, weil wir mußten, und ung 
dann mit dem Theil der Stunde entihädigten, in welchem die betreffenden 
Kupferftihe und Handzeihhnungen vorgelegt wurden. Guter, lieber Mosler! 
wie wenig waren wir damals im Stande, Deine vortrefflihen Studien zu 
erkennen und zu würdigen! Doc auch Deine Zeit follte noch kommen und, 
wenn aud) nur von Wenigen, jollte doc die gerechte Anerkennung Deiner viel- 
fachen Verdienſte nicht ausbleiben. 

Inſpector Wintergerft, deſſen Hochzeitsfeft die ganze akademiſche Jugend 
in einem Ausflug nad Gerresheim mitgefeiert, kannte meine an Eriftenzmitteln 
jo jehr beichränkte Lage; er wollte mir wohl und wandte mir die Wiederholung 
einiger Copien nach einem jchlecht gemalten Porträt zu, womit ich mir im 
Ganzen ſechs Thaler erwerben ſollte. Freudig ging ich darauf ein und durfte 
meine Staffelei auf den Saal ftellen, in welchem Kaulbach eben fein Altarbild 
vollendet hatte. Yet malte ex fein eigenes Porträt aus dem Spiegel. Hier 
ſah ih nun eine Behandlung, welche in jeder Weile fi von der Kolbe’ichen 
unterſchied. Es war eine Art Miniaturmalerei mit kleinem Haarpinjel und 
jehr flüſſig, glatt und dünn aufgetragener Oelfarbe, flach modellirt, mit ſcharfem 
Contour umzogen. Raphael’ Bildnig mochte ihm vorgeſchwebt haben, ich mußte 
wenigftens immer an den befannten Kupferftich denken. Ebenſo erging es mir 
mit der Anordnung jeines Altarbildes, welches mi an Peruginiiche Nach— 


Düffeldorfer Lehrjahre, 398 


bildungen erinnerte. — Tür letteres jollte er dreißig Thaler erhalten, obſchon 
er e3 zwei Jahre lang auf der Staffelei gehabt Hatte. Es hieß, er habe der 
Prinzeß Friedrich von Preußen und einigen andern vornehmen Leuten Stunden 
zu geben, womit er jeine und jeine® Bruders Exiſtenz beftritt; dann aber habe 
er auch einen unglüclichen Vater zu unterftühen, wodurch er genöthigt ſei, jehr 
ſparſam zu leben. Da mir num im diefer Hinficht ein gleiches Zoos zu Theil 
ward, jo ahmte ich ihn nad), indem ich mit zwei Silbergrojchen mein Mittageflen 
und mit zwei Gilbergrojchen Frühſtück und Abendbrod beftritt, von fünf Uhr 
Morgens bis jteben Uhr Abends an der Staffelei jaß, und mich dabei als ein 
junges Genie glüdlih wie im PBaradiefe wähnte, wenn mich nur nicht immer 
jo jehr gehungert hätte! Kam id) an einem Bäderladen vorüber, jo jah ich das 
ſchwarze Brod an mit dem innigften Wunjche, mich einmal jo recht jatt daran 
effen zu können; dann aber waren ja die Farben und das Papier no, auf 
Abichlag wenigſtens, zu bezahlen, ich ließ aljo meine Begierden unterivegs und 
war meiner Pflichten eingedent. Meinen hungrigen Magen tröftete ic) damit, 
daß es ftarf auf die Tyerien, damals den 15. September beginnend, zuging, und 
dann jollte mich die mütterlihe Küche mit all ihren Leibjpeijen entjchädigen ; 
doch vorher mußte ich ja noch eine große Copie nad) dem ſchönen Bilde aus Rubens’ 
Schule, Venus und Adonis, wenn auch nur die beiden Hauptköpfe, vollenden. 

Endlih (September 1825) war e3 jo weit, daß ich meinen Koffer paden 
und auf die Poft geben konnte; ich nahm meinen Ziegenhainer zur Hand und 
nun ging es nad Haufel Mit welchem Selbftgefühl, mit welchen Hoffnungen! 
Nicht mit einem König würde ich getaufcht haben, als ich im deutjchen Rod mit 
langem Haar und Iproffendem Bart in weiten leinenen Pumphoſen in das Thor 
meine3 lieben Jülich) einzog. Nach wenigen Minuten flog ich in die geöffneten 
Arme meiner lieben Eltern, die, mich im erften Augenblid nicht recht erkennend, 
fih an mein Ausfehen gar nicht gewöhnen mochten. Die Mutter meinte immer, 
der arme Junge ſei ſchrecklich mager geivorden, umd der Water wollte gleich den 
Barbier fommen lafjen; doch ich war jelig, und triumphirend breitete ich meine 
Arbeiten vor dem neugierigen Kreis meiner Angehörigen und Freunde aus. Bald 
ward ich ala ein Wunderfnabe mit meinen Zeichnungen aufgeſucht, und es exöff- 
neten ſich auch einige Ausfichten auf bezahlbare Beftellungen. 

Die Ruhe nad) den erften Lorbeeren wurde dadurch verfüßt, daß ich meine 
einfamen MWaldplägchen auffuchte, im Roerflüßchen badete und die benachbarten 
Dörfer durchſtreifte. Zu Haufe mußte ich dem Vater erzählen über die Akademie 
und wie ic) mir meine Zukunft ausgedacht habe. Meine Mutter, mit inniger 
Liebe mir ihr Vertrauen ausdrückend, wiederholte nur das, womit fie mich jchon 
in frühefter Jugend getröftet hatte, ich würde einmal ein Profeffor der Dtaler- 
funft werden. | 

Jedoch das zweckloſe Umbhertreiben behagte mir nicht auf die Dauer; ich 
begann daher bald Porträts zu zeichnen, in Miniatur auf Elfenbein zu malen 
und ſogar mich in Delfarben zu verjuchen. 

Obgleih nun diefe erften Proben meiner Gejchieflichkeit ſchwach und mir 
jelber unleidlich vorkamen, jo machten diejelben doch zweien meiner Jugend- und 
Heimathsgefährten Luft, fich ebenfalls der Kunft zu widmen. Raveaur, der 


394 Deutſche Rundichau. 


jpäter in den Jahren 1848 bis 1849 als Deputirter in Frankfurt und Stutt- 
gart agitirte und einige Jahre danach ftarb, begab fi) unter meine Aegide; der 
zweite, 2. Rauſch, folgte etwas fpäter nad). 

Mit etwa fiebzig Thalern in der Taſche begaben wir una im October nad) 
Düfjeldorf, wojelbft wir una ein Zimmer für vier Thaler mietheten und das 
Uebrige jo einrichteten, daß wir mit acht Thalern monatlid ausfamen. Ich 
jeßte das Copiren nad) Originalen der der Alademie angehörigen Kleinen Samm- 
lung fort; Raveaur begann in der Glementarclaffe zu zeichnen, da jedoch fein 
Erfolg jihtbar und wegen Mangel an Talent auch fein Intereſſe vorhanden 
war, jo verließ er Düffeldorf gegen Weihnachten und begab ſich nah Cöln zu 
jeinen Verwandten. 

Das für mich allein zu theuere Zimmer kündigte ich nun auf und miethete 
ein Kleines Gemad ohne Ofen fir drei Thaler. Da bald darauf eine jehr 
empfindliche Kälte eintrat und ich zu Haufe, während der Weihnachtsferien, 
mein Porträt aus dem Spiegel & la Kaulbach angefangen hatte, fo bemerkte 
ih bald, daß mit den erjtarrten Fingern auch die Farben meines Kopfes fich 
veränderten und mir abtwechjelnd violett, gelb und blau erſchienen; e3 entjtand 
dadurch unter fortwährenden Tieberichauern ein gar jonderbars Bild. Das 
einzige Mittel, um mich wieder zu erwärmen, beftand darin, daß ich mich ftunden= , 
weile in’3 Bett verkroch, denn einen Mantel hatte ich noch nie beſeſſen, doch auch 
das half nicht viel. Bereits hatte die magere Koft meine Taille twieder ſchlank 
gemacht, obgleich lieb Mütterchen fie rund herausgefüttert hatte. Da wurde 
ih zum Glüd mit einem Graveur befannt, der mit jeiner Kleinen Familie, 
rau und Töchterchen, nebenan wohnte. Diejer, Namens Prein, malte unter 
anderm auch Miniatur- Wappen für die Poftwagen u. dral., und da er meine 
Dürftigkeit bald kennen lernte, gab er mix zuweilen einige Wagen ab, die id) 
dann mit Eifer unter jeinem Namen anfertigte. . 

Das preußiiche Wappen mit den wilden Männern, die es unter dem Hermelin 
halten, der herrliche Adler mit dem Namenszug des Königs prangten bald von 
meiner Hand, ſchön gefirnißt, auf den gelbladirten Diligenzen, die das Land 
durchflogen. 

Auf der Akademie wurde am Tage fleißig copirt, und ich hatte die Unver- 
ihämtheit, ein dort befindliches Bild von Rottenhammer, „das Urteil des 
Paris”, anzufangen. Das Bild, nad) der befannten Raphael'ſchen Compofition 
durch Rottenhammer etwas ftark verniederländert, war nicht übel in der Farbe, 
und ich verſprach mir viel dabei zu lernen. 

Abends wurde wie gewöhnlid von fünf bis fieben Uhr im Actjaal nad) 
dem nadten männlichen Modell gezeichnet. Obgleich nun durch die Abreife des 
Director Cornelius und der meiften feiner Schüler der Saal nicht jehr zahl: 
reich beſucht war, jo entitand doch gewöhnlich an dem Tage (Montag), an 
welchem da3 Modell geftellt wurde, ein tumultuarifches Reißen um die Plätze. 
Hierbei entipann fi ein Streit zwiſchen Kaulbach und dem Zwerg I. Lehnen, 
in Folge deſſen Kaulbach mit feinem Bruder im Frühjahre 1826 Düffeldorf 
verlaffen mußte, um nah München überzufiedeln. 

Der Frühling (1826) war geflommen und die Sonne goß wieder ihre 


Düffeldorfer Lehrjahre. 395 


wärmenden Strahlen auf ums herab. Der ſchöne Hofgarten, der Grafenberg, 
der dom Eiſe befreite Rhein, Alles war heiter, und wer jollte da Sorgen haben! 
Zu dem Allem kam noch, daß in diefem Jahre das große niederrheinifche 
Muſikfeſt (da3 achte, wern ich nicht irre) in Düffeldorf abgehalten werden jollte. 
Schon jeit Jahren hatte ic von diefem wunderbaren Feſte vernommen und 
harrte nun in höchfter Spannung der Dinge, die ich hier unmittelbar würde 
erleben können. Dreimal war id ſchon im Theater geweſen, und zwar waren 
es die Opern: Freiſchütz, Zauberflöte und Figaro's Hochzeit, die mich zu der 
jedesmaligen Auslage von fünf Silbergrojchen für einen Galerieplat verleitet 
hatten. Doch welden Erja erhielt ich dafür! Zum erftenmal in meinem 
Leben hatte ich ein Oxchefter gehört. Die himmlische Mufik des Freiſchütz hatte 
in mir die Schauer des in frühefter Jugend gelefenen Gejpenfterbucjhes von 
Apel und Lauer mit allem Liebes: Wohl und Wehe wieder wachgerufen. — Der 
wunderbare Papageno mit jeinem Vogelkorb, jo real in jeinen Begierden und 
doc jo märchenhaft ideal in feinem ganzen Dajein; der tugendhafte Prinz mit 
feinen Prüfungen, endlich die Majeftät de3 Saraftro und die Königin der Nacht! 
Die ganze Oper war ja wie ein Wundermärchen, deren Melodien ich von Kindes— 
beinen an gekannt und mun endlich wirklich erlebt hatte. Und dann der Figaro, 
in welchem der Page jtatt de3 Herzens der Gräfin das meinige eroberte, was 
jedenfall harmloſer war, da es bei der poetifchen Erregung meiner Phantafie 
blieb; ich Hatte ja noch nie die Sprache der Liebe jo verklärt, jo himmliſch 
ſchön fingen gehört, al3 fie diejer liebliche Junge ausdrüdte. 

Der Mufikdirector Eſchborn Hatte einigen Ruf, wie denn überhaupt die 
Düfjeldorfer darauf hielten, immer einige Berühmtheiten auf ihrer Bühne zu 
haben. Nah ihm fam Marſchner dorthin und man wandte fi) behufs einer 
ducchgreifenden Baureparatur des Theaters an den zu jeiner Zeit berühmteften 
Arbeit zu beginnen. 

Aber das Mufikfeft jollte noch etwas ganz Außergewöhnliches bringen. Gegen 
ſechshundert Menfchen jollten Hierbei mitwirken, und zwei Oratorien und eine 
Symphonie jollten aufgeführt werden. Das zu erleben, war gewiß ein Glüd! 
Uber wie e3 erreihen? Bier Thaler für die Eintrittskarte zu bezahlen, konnte 
mir nit im Traume einfallen, e3 mußte daher abgewwartet werden, was die 
Gelegenheit darbot. 

Meine Verhältniſſe hatten ſich mittleriveile etwas gebeifert, und ich konnte 
e3 wagen, mit meinem neuen Freunde M. Radermader, dem Sohn eines 
Kutichers aus Bonn, in ein paljables Quartier zu ziehen, wo wir mit neum 
Thalern Koft und Logis bezahlten, die Bedienung, Kleiderreinigen und Stiefel- 
pußen ſelbſt bejorgten und in einem Bette jchliefen. Zugleih wohnten in 
diejem Haufe noch einige junge Leute aus Bonn und eine Schaujpielerin, Möme. 
Barnim, welche ich in Miniatur zu malen hatte. An der Woche vor Pfingften 
wurde ein bejonderes Zimmer hergerichtet für einen zu ertwartenden berühmten 
Biolinjpieler aus dem Confervatorium im Haag, der vom Gomite dort ein- 
quartiert war; alſo bis zu una in's Haus ging die Tragweite dieſes Wunder— 
feſtes. Die Thüren des Theaters? waren beftändig geöffnet, und eine Menge 


396 Deutſche Rundichan. 


Balken und Bretter wurden hineingefehafft zur Errichtung eines Orcheſters, wozu 
der ganze Bühnenraum dienen ſollte. An allen Eden hörte man Elopfen und 
hämmern, und ich fonnte mir's nicht verjagen, einmal hineinzufchauen in diejen 
Kunfttempel. Da tauchte plöglic ein Gedanken in mir auf; wie wäre ed, ivenn 
ih an den Tagen, wo die Hauptproben begannen, Morgens in aller Frühe mit 
den Handwerkern durd) die geöffneten Thüren hineinjchlüpfte und mich bis zum 
Beginn der Probe in irgend einem verborgenen Winkel verftedte, um dann mit 
dem bezahlenden PBublicum zuſammen gleiche muſikaliſche Genüffe zu theilen. 
Der Eintritt zu den Generalproben mußte nämlich durch Vorzeigung des Concert— 
billet3 oder mit zehn Silbergrojchen Eintrittägeld erfauft werden. 

Donnerftag vor Pfingiten begann alfo mein erftes niederrheiniſches Muſik— 
feit, indem ich mi um jechs Uhr Morgens, einige Brödchen in der Tajche, 
mit den Arbeitsleuten hineinſchlich, um dann den ganzen Tag hier zu verweilen. 

Gegen 8 Uhr erſchienen die Concertgeber, die Pulte füllten ich nad) und 
nad, und mit Verwunderung ſah ic), daß Herr Severin mit jeinen Söhnen, 
welche ich für ausgezeichnete Dilettanten auf der Geige gehalten hatte, an den 
legten Pulten in dem kaum zu iüberblidlenden Orcheſter ihre Plätze nahmen, 
welche geichiekten Leute mußten fich alfo hier einfinden, um die berühmteften Ton» 
ftücle der Welt auszuführen! Als fertig geftimmt war, erjchien zuerſt Tyerd. 
Ries, ein Schüler Beethoven’3 und berühmter Clavierjpieler, an dem Dirigenten 
pulte; eine Symphonie von ihm jollte zuerſt gejpielt werden. — Dod anfangs 
war ich jehr erftaunt, daß der Ton diejes großen Orcheſters lange nicht jo ſtark 
Hang, al3 ich mir’ vorgeftellt hatte, und erſt nach und nach befam ich einigen 
Begriff von der Intenfivität vorzügli der Streich - Inftrumente. Achtzehn 
Gontrebäffe mit dem entiprechenden VBerhältniß der Cello's, Bratſchen und 
Geigen rührten ſich hierbei. 

Melodien und Harmonien rauſchten an mir vorüber; doc) außer dem Gefühl 
eines unendlichen Wohlbehagens verftand ich nichts von dem erften Sabe diefer 
Symphonie; wie denn überhaupt nur der darin enthaltene Marſch mir länger 
in der Erinnerung blieb. Doch muß ich erwähnen, daß mir im Charakter 
dieſer Muſik eine gewiſſe Analogie mit dem Neußeren ihres Autors auffiel. 
Ferd. Nies aus Bonn ſprach in vaterländiicher, etwas platter niederdeutſcher 
Zunge, fein Kopf mit ſtarken Augenbrauen und perüdenhaften, didem Haar 
hatte nichts Geiftreiches, und jeine Commando's, feine Art zu dirigiren, fchienen 
mir mehr einen fameradichaftlichen ala einen vornehm imponirenden Charakter 
zu haben; das Alles fam mir in feiner Muſik aud) fo vor; manchmal mußte 
ih an das befannte „Hopp Marjännchen, hopp Marjännchen, laß die Püppchen 
tanzen“, denken. Wie ander, ald Louis Spohr, diefe gewaltige Geftalt, 
nah dem Schluß des letzten Sabes den Tactirftab ergriff. Sein Oratorium, 
„Die legten Dinge“, begann, und wie gewaltig griff e3 ein! Zum erftenmal 
in meinem Leben erfuhr ich hier die Wirkung eines Chor3 von 360 Stimmen, 
welche, von einem Riefenorchefter getragen, einen jo gewaltigen Eindrud bei 
mir hervorbrachten, daß ich die Thränen nicht zurückzuhalten vermochte. Die 
abwechjelnden Soli, die Nuancirungen der Einzelftimmen, kurz Alles zufammen 
wirkte jo überwältigend, daß ich nach dem Schluß der Probe, gar nicht wiljend, 


Düffeldorfer Lehrjahre. 397 


welcher Stoff hier dargeftellt worden war, den Kopf jo voller Baßgeigen 
hatte, daß ich in’3 Freie lief und die halbe Naht im Hofgarten zubrachte. Den 
andern Morgen Früh wieder am Plate, ging es mir noch immer bunt durch— 
einander, bi3 endlich nad) und nad) etwas Nüchternheit eintrat; ich fing nun 
an zu jondern, und das nun von Ries dirigirte Werk, Händel’3 Meſſias, trat 
mir in Klaren Umriffen vor die Seele. 

Zudem Hatte der gute Heitheder ein Textbuch angejhafft und ich machte 
mir denn ein Bild von der Sache, die ich immer ſchlechtweg Oratorium nennen 
hörte. Die herrlichen Alt-Soli von Frau von Bederath aus Krefeld, 
Sopran von Frau Mufikdirector Kufferath aus Utrecht, Tenor von Aſſeſſor 
von Worringen, der Baß von Pillwitz gejungen, blieben num ſchon 
haften, und ich konnte fie mir zu Haufe jogar vorfingen, ebenjo die mäch— 
tigen Chöre. 

Schon ſeit Jahren hatte ich feine Empfänglichkeit mehr für die Predigt 
in der Kirche, ſei e8 aus Unwiſſenheit dejjen, was die Kirche überhaupt bezweckt, 
jei e8 aber auch, daß die damals in Düffeldorf fungirenden Prediger zu wenig 
dazu beitrugen, mein Intereſſe zu erwecken. Aber Hier griff da3 von der wunder: 
vollen Mufik getragene Bibelwort jo kräftig bei mir ein, daß ich mir gelobte, 
ein bejjerer Menſch zu werden, und mit den allerbeiten Vorſätzen eines enthuſias— 
mirten Herzens nahm idy mit Schmerzen am Samftagabend neun Uhr Abichied 
von meinem erjten Pfingft- und Muſikfeſt. Die Feſttage vergingen; die fremden 
Säfte durchwogten die Stadt und den Hofgarten; doch mir waren alle dieſe 
Herrlichkeiten verfagt. Nur durch Berichte erfuhr ich, daß am Dienftag ein drittes 
Concert zum Beften der Griechen aufgeführt worden war, in welchem fich mehrere 
Sänger und Birtuofen einzeln hatten hören laſſen; am meiften beflagte id} e3, 
Spohr nicht gehört zu haben, der an diefem Abend jo wundervoll geipielt Haben 
jollte, wie man es noch nie gehört hatte. — Mittwoch reiften die Fremden ab, 
und Düffeldorf und die Akademie zogen wieder ihre Alltagskleider an. 

Als ih) Morgens auf meinen Saal fam, die vertrocdnete Palette zu putzen, 
verbreitete fich die Nachricht, der neu ernannte Director W. Schadom jei 
plöglicd; angefommen und wolle die Akademie befichtigen; ein Donnerjchlag für 
und; wir liefen zufammen und erwarteten mit großer Spannung, welchen 
Eindrud die Perfönlichkeit des neuen Director3 auf uns machen würde. 

Gegen Mittag endlich durchichritt er, uns flüchtig grüßend, in Begleitung 
Mosler's den Saal, um in die Galerie zu gehen. Wir jahen uns verdußt 
an und wußten nicht? Anderes zu jagen als: „Ein fchöner, feiner Dann, der 
neue Director.“ „Er malt aber altdeutjch!” vief Einer, „und ich habe gehört, 
er wäre zu Rom ein paar Jahr in einem Kloſter geweſen und hat Kapuziner 
werden tollen!” jagte ein Anderer; ein Dritter meinte, der geftele ihm gar 
nit, da jei der Cornelius doc ein ganz anderer Kerl, der wäre nicht jo 
vornehm geweſen, daß er uns nicht einmal ordentlich angejehen hätte, wie der 
Shadow; „er ift ein Berliner“, fagten zulegt Mehrere, und samt War e3 Mittag 
getvorden, und wir gingen Alle zum Efjen. Ä 

(Fortſetzung folgt.) + 


Die literarifhe Dewegung zur Zeit Karl's des Großen. 





Don 
Adolf Ebert. 





Nirgends zeigt ſich die innige Wechjelbeziehung zwiſchen der Literatur und 
dem politiichen Leben klarer und bedeutender, al3 in dein Zeitalter Karl's des 
Großen. Hand in Hand mit der MWiederherftellung des Weltreih3 geht die der 
Weltliteratur: denn auch diefe war, wie jenes, untergegangen. Sa, die literarijche 
Cultur überhaupt ſchien um die Mitte des fiebenten Jahrhunderts im ganzen 
Abendlande erlojchen. 

Da ift es denn ein germanijches Volk, welches das erlöjchende Licht 
wieder entzündet und von Neuem zu einer Träftigen Flamme nährt, die bald 
da3 ganze Abendland exleuchten jollte. Fern im äußerſten Norden des einftigen 
Weltreichs ergreifen die noch nicht lange zum Chriſtenthum befehrten Angel- 
ſachſen die römijch- Hriftliche Bildung, die aus dem Süden und Often ihnen 
gefandt wird, mit dem Wiſſens- und MWahrheitseifer der Germanen und der 
ganzen Friſche einer begabten jugendlichen Nation. Mönde aus Tharjus und 
Afrika jandte ihnen Rom al3 ihre Lehrmeifter in den Wiſſenſchaften. Vor— 
trefflihe Schulen werden gegründet, an deren Spite bald Angelſachſen felbit 
ftehen. Trotz der weiten Entfernung unternahmen ihre gelehrten Kleriker fort- 
während Fahrten nad) Stalien und Rom, um ihre Bibliotheken wie ihre Kennt— 
niffe zu ergänzen. Italien war noch rei an Büchern wie an Wiljenjchaft, 
namentlich an der aus dem Altertum überlieferten profanen, aber fie war dort 
eine umproductive. Der Angelſachſen Studien dagegen trugen reiche Früchte. 
Mit ihnen traten die Germanen zuerft in den Kreis der Weltliteratur wahrhaft 
ein, um von da an file längere Zeit ſogar die Führung zu übernehmen. Die 
literarifche Productivität der Angeljachjen war feine geringe, was nicht blos ein 
jo fruchtbarer und bedeutender Autor als Beda zeigt: denn wie Viele von ihnen 
in Verſen und Profa fid) verjuchten, laſſen und namentlich die erhaltenen Briefe 
erkennen. Eigenthümlich und beachtenswerth aber ift, daß bei diefen Germanen 
von Beginn auch die Frauen den regften Antheil an den gelehrten Studien 


Die literarifche Bewegung zur Zeit Karl's bes Großen. 399 


nehmen, die Nonnenklöfter darin hinter den Mönchsklöſtern nicht zurückſtehen; 
und ebenfo merkwürdig ift, daß da3 nationale Element auch in dem lateiniſchen 
Schrifttum der Angelſachſen, und fogleih im Anfang, nicht felten einen auf- 
fallenden Ausdruck findet, wie in der eigenthümlichen Rhetorik, der Antvendung 
der Alliteration und der von der Langzeile ausgehenden metriſchen Theorie. 
Es ift dies nicht blos ein Einfluß des nationalen Genius, ſondern einer bereit3 
vorhandenen Nationalliteratur, deren Alter ſich auch hierdurch beurkundet. 

Unter den angelſächſiſchen Schriftftellern in lateiniſcher Sprache erſcheint 
auch der Apoftel der Deutſchen, der heilige Bonifatius. Durch ihn und feine 
angelſächſiſchen Schüler und Schülerinnen wurde die römiſch-chriſtliche literariſche 
Cultur zugleicd mit dem Chriſtenthum jelbft zuerft in das Innere von Deutſch— 
land verpflanzt. Noc wichtiger aber war der indirecte, vorbereitende Einfluß 
dieſes Angeljachien auf die Reftauration der Weltliteratur. Denn die Chriſtiani— 
firung Deutſchlands war die erjte Borausfegung der Herftellung eines germanischen 
Weltreichs; eine zweite die innige Beziehung des arnulfingifchen Haufes zu dem 
Papftthum: und auch diefe wurde ja duch Bonifatius vermittelt. 

Was alſo fi) unter Pipin nur vorbereitete, wurde durch feinen großen Sohn 
Karl zur Vollendung gebradt. Sogleih in den Beginn feiner Alleinherrichaft 
fällt da3 in feinen Folgen bedeutendjte Unternehmen Karl’3, die Eroberung de3 
Sangobardenreichs 1774). Dieje Eroberung legt den Grund zu dem germanijc)- 
römijhen Imperium, und fie gibt zugleich” zu den literariſchen Beltrebungen 
Karl’3 die erfte Anregung. Als König der Langobarden wurde Karl mit der 
Zeit der Herricher von Italien. Erſt als er jenen Titel führt, nennt er ſich 
auch Patricius der Römer. Seht erſt erhält diefe Würde, die er jchon lange 
bejaß, für ihn eine gewichtige Bedeutung. Sie bedeutete in der That nunmehr 
nit blos Schußhere der römischen Kirche, Jondern Herrſcher de3 römischen 
Gemeinweſens. — Andererſeits läßt fi mit Recht behaupten, daß das hohe 
Bildungaftreben, welches die ächt germanifche, univerjell angelegte Natur Karl's 
erfüllte und in feinem ganzen fpäteren Leben nie erloſch, jeine erfte mächtige 
Anregung in Italien empfangen hat. Karl’3 wiſſenſchaftliche Ausbildung war in 
leiner Jugend eine jehr geringe gewejen, ganz entjprechend dem Darniederliegen 
der literariihen Eultur im Frankenreiche: denn welche Lüden in feinen Kennt- 
nifjen hatte ex jpäter auszufüllen! Wie mußte er fie nun empfinden, ala er 
den langobardiſchen Hof Tennen lernte, die feine Civilifation der langobardiſchen 
Großen, wovon ein hervorragendes Beilpiel in diefer Zeit die Gönner des 
Paulus Diaconus, des Defiderius Tochter Adalperga und ihr Gemahl Arichis, 
find. Bei den Langobarden blühte noch die germaniiche Hofichule: um To leichter 
allerdings, als in diefer Heimath der antiken Gultur die Ueberlieferungen des 
grammatiichen Unterricht3 und die Laienſchule nie aufgehört hatten; auch die 
mannigfachen Verbindungen mit Byzanz hatten dort förderlich gewirkt. Karl's 
innere3 Bildungsbedürfniß wurde für ihn jchon ala König der Langobarden zur 
äußeren Nothwendigfeit, doppelt aber bei den vielfachen Beziehungen, die er 
als jolcher zu Rom hatte. Aber es ift auch Feine Trage, daß die Denkmäler 
der Kunst des Alterthums, namentlik feiner Architektur, in Italien einen tiefen 
Eindrud auf ihn machten. Davon zeugen die Bauten, die ex in der Heimath 


400 Deutiche Rundſchau. 


nad den Vorbildern und Vorſchriften der Alten aufführen ließ und ſelbſt mit 
Merken antiker Kunft ſchmückte, Säulen und Mofaiten, die er von Rom und 
Ravenna nad Deutſchland ſchaffte. 

In Italien war e8, wo Karl 781 die Gelehrten gewann, welche feine Hof- 
ſchule wieder herſtellen und die literariiche Bildung der Angelſachſen und 
Italiener in jein fränkifches Reich verpflanzen follten, in das politische Centrum 
des neuen Weltreichs, jo daß von eben der Stelle, von imo die Initiative der 
politiichen Bewegung im Abendlande ausging, auch die ber Literarifchen erfolgte, 
die erft dadurch zu einer univerjellen Wirkung gelangte. Er jelbft aber war 
auf dem einen wie auf dem anderen Gebiete die lette treibende Kraft. Ihm 
jollte denn auch vor Allen dieſe Bildung, die ex verbreiten wollte, zu gute 
fommen. Ex berief damals den italieniſchen Grammatiker Petrus von Piſa und 
den gelehrten Magifter der Schule von York, den berühmteften der Angelſachſen, 
AUlcuin, dem er in Parma begegnete; dazu gewann er den Diacon Paulus, 
MWarnefried’3 Sohn, aus altem, edlem langobardiichem Geſchlechte. Die beiden 
Erſtgenannten wurden Karl's eigene Lehrer, Alcuin aber zugleich das Haupt der 
Hofſchule und der Rathgeber Karl's in den Angelegenheiten de3 Unterrichts wie 
der Kicche, im Dogma und Cultus. 

Diefem Manne hat die abendländiſche Cultur ungemein viel zu verdanken; 
ein beſſeres Werkzeug für die Ausführung feiner Abfichten hätte Karl nicht 
finden können. Alcuin war zwar fein Genie, nicht reich an neuen, fruchtbaren 
Ideen, wol aber ein bedeutendes Talent von großer univerjeller Bildung und 
vieljeitigen Intereſſen. Zunächſt war er ein vortrefflicher Schulmeifter, der tie 
fein Anderer berufen war, die Unterrichtsmethode der Angelſachſen nad dem 
Gontinent zu verbreiten. Und was hier nicht ohne Bedeutung war, die Angel- 
ſachſen verftanden ji) auch auf den Laienunterricht und in den höchften Kreifen, 
denn jeit der Einführung des Chriftenthums hatten gerade die Vornehmiten bei 
ihnen den größten wiljenichaftlichen Eifer gezeigt. Der erſte berühmte Autor 
und Lehrer der Angelſachſen, Aldhelm, war jelbft aus königlichem Geſchlechte 
und hat eine Abhandlung über antike Metrik für einen König von Northumber- 
land gejchrieben. — Es find uns noch mehrere Compendien Alcuin's erhalten, 
die er für die Hofjchule oder auch für Karl jelbft verfaßt hat. Sie find in 
dialogiſcher Form, katechismusartig, aber jo, daß der Lernende frägt, der Lehrende 
antwortet. Dieje Form ift offenbar eine alt überlieferte angelſächſiſche, wie das 
vorhin erwähnte Werk Aldhelms zeigt, welches in eben derſelben verfaßt ift. 
Aldhelm hat unter den Angelſachſen diefe Form zuerft dort angewandt, er motivirt 
fie damit, daß fie die Klarheit der Auseinanderjegung fürdere, während Alcuin 
in einem jeiner Compendien al® Grund ihrer Anwendung Erleichterung de3 
Gedächtnijfes angibt; beide Motive waren ficher zugleich maßgebend. Alcuin 
weiß nun dieje Form jehr gejchiekt dem Unterricht am Hofe anzupafjen. Seine 
Grammatik war für jüngere Schüler beftimmt; mit ihr begann ja der wifjen- 
Ihaftliche Unterriht. Sie ift in der Form des Gejpräches zweier Schüler mit 
einander und mit dem Magijter verfaßt. Die Schüler find ein fünfzehnjähriger 
Sachſe und ein vierzehnjähriger Franke. Unter dem Sachſen iſt jelbftverftändlich 
(obgleich nicht Jeder dies erkannt hat) ein Angelfachje zu verftehen, wie jid) ja 


Die literariiche Betvegung zur Zeit Karl's des Großen. 401 


die Lebteren jelbft jo nannten. Der jüngere, der weniger gebildete, der Franke, 
frägt, der ältere, der Sadhle, antwortet. Der Magifter hilft — abgeſehen von 
der Einleitung — nur nad), in jhwierigen Fällen, namentlich wo die Grammatif 
in das Gebiet der Dialektit hinüberftreift, wie bei Begriffsbeftimmungen. Diejer 
wiſſenſchaftlichen Converfation ift aber eine gewiſſe dramatijche Lebendigkeit 
verliehen, die jicherlich nach dem Leben copirt ift und die freiere Bewegung der 
Hofihule abſpiegelt. Scherze der Schüler werden eingeflochten, durch welche 
jelbft die Interrichtsmethode ironifirt wird. „Nun Haft du wol genug vom 
Nomen,“ ruft einmal der Sachſe, und der Franke erwidert: „ch hätte es wol, 
wenn nicht die Schnaden, die in dem Haufe des Magiſters ſchwirren, mir die 
Ohren mit Fragen angefüllt hätten.” — Die Dialektit und Rhetorik Alcuin’3 
find aber zunächſt für Karl den Großen jelbft gejchrieben, denn der Dialog wird 
hier zwiichen ihm und dem „Magiſter“ (Alcuin) geführt. Wie mir aus dem 
Eingang der Rhetorik hervorzugehen jcheint, find fie zum Zweck der Repetition 
des mündlichen Unterricht3, auf welchen in ihnen auch direct und indirect hin— 
gewiefen wird, und zugleid wol zu einer weiteren ſyſtematiſchen Ausführung 
dejfelben verfaßt. Hier frägt Karl und Alcuin antivortet, wobei er diejelben 
höfiichen Formen zu beobachten weiß, al3 in feinen Briefen an den König. 

Noch ein merfwürdiges kleines Lehrbuch Alcuin’s ift zu erwähnen, das 
zunächit für Pipin, den Sohn Karl's, gejchrieben iſt. E3 ift ein Handbüchlein 
für „Denkübung“ möchte man jagen, zur Schulung des Scharffinnes und Wites 
verfaßt, indem von verjchiedenen dem Menfchen jehr nahe liegenden Objecten 
und Begriffen, wie von dem Körper und feinen Gliedmaßen, dem Leben und 
Tod, den Elementen, den Geftirnen, den Jahreszeiten u. }. iv. eine witzige oder 
icherzhafte Definition in einem Bild oder einer Metapher gegeben wird, 3. B.: 
„Was ift die Zunge?” Cine Geißel der Luft. „Was ift der Nebel?" Die Nacht 
am Tage, die Mühe der Augen. Aber auch: „Was ift der Tag?" Die An- 
regung zur Arbeit. An jolche Fragen des Schüler mit Antworten des Lehrers, 
welde die Natur von Räthjeln haben, jchlieen ſich Fragen des letzteren jelbft, 
die wirkliche Räthiel find umd aus einer lateinifhen Sammlung de3 jpäten 
Alterthums jtammen. Auch für den erften Theil des Werkchens hat eine antike 
Schrift dem Alcuin den Weg gewieſen und zum Theil da3 Material geliefert. 

Diefe Art von Denkübung war angeljähfiich national: das Räthſel war 
bei den Angelfachfen ungemein beliebt und wurde von Anfang an in ihrer 
Literatur, auch der lateinischen, mit Vorliebe gepflegt; jo hat ſchon Aldhelm 
eine Räthjelfammlung verfaßt, jo Bonifatiu3 und noch ein paar Andere vor 
diefem; auch in angelſächſiſcher Sprache haben ſich manche erhalten. Alcuin 
theilte in vollem Maß diefe nationale Liebhaberei, an der Karl der Große felbft 
viel Vergnügen fand, welcher jo gefickt, wie Keiner feines Hofes, die Räthſel 
jeines Magiſters zu löſen wußte. 

In jenem für einen Prinzen geſchriebenen Lehrbüchlein Aleuin's erſcheint 
alſo die Wiſſenſchaft bereits im Dienſte der Geſellſchaft. Alcuin, der nichts 
weniger als ein Pedant war, der die Freuden der Tafel und des Bechers nicht 
verſchmähte, wußte die literariſche Bildung aus der Schule in die Geſellſchaft 


des Hofes zu übertragen. Was man von einer an Karl’3 Hofe ie 
Deutſche Rundſchau. III, 9. 


402 Deutſche Rundſchau. 


Akademie geſagt hat, iſt in der That nichts Anderes geweſen. Die in der Schule 
Alcuin's gebildeten Franken, die Angelſachſen, die ihm als Gehilfen aus der 
Heimath gefolgt waren, einzelne andere gelehrte und poetiſch begabte Männer, 
wie einen Theodulf, vereinte zugleich mit Karl und ſeiner Familie an ſeinem 
Hofe daſſelbe lebhafte Streben weiterer geiſtiger Ausbildung; ſie traten damit 
in einen vertraulicheren Verkehr, der ſie über die Schranken des Standes und 
des Lebensberufs hinwegſehen ließ, indem ſie ſich gegenſeitig beſondere Namen 
beilegten als Merkmal und Zeugniß eines ſolchen gemeinſamen Strebens, das 
ein Band von freundſchaftlichem Charakter werden mußte. So hieß in dieſem 
Kreiſe Karl ſelbſt David, in Erinnerung an den frommen königlichen Sänger 
und Krieger, ſo Alcuin Flaccus nach Horaz, Angilbert, Karl's Schwiegerſohn, 
Homerus, der in techniſchen Künſten wohl erfahrene Einhard Beſeleel nach dem 
kunſtreichen Ausſchmücker der Stiftshütte, Theodulf Pindar u. ſ. w. Aber auch 
aus den Dichtungen Virgil's, vornehmlich ſeinen Eclogen, finden ſich Namen 
entlehnt; andere wieder ſind bei dieſen älteſten Humaniſten, ebenſo wie bei den 
ſpäteren des 16. Jahrhunderts, nur lateiniſche Uebertragungen: ſo wurde Arno, 
der innigſte Freund Alcuin's, einſt auch ſein Schüler (er war Abt von St. Elno, 
dann Erzbiichof von Salzburg) Aquila, jo der angelfächftiche Begleiter Alcuin's 
MWizo Candidus genannt. Auch Frauen diejes Kreijes führen joldhe, wenn man 
will, akademiſche Namen, wie Karl's Schwefter Gijela, die Freundin der Bücher, 
Lucia, Karl’3 gelehrte Baje Gundrad Eulalia, Karl's Tochter Rotrude Columba 
hieß. Und daß auch Frauen ſolche Namen erhielten, zeigt recht den ganz gejell- 
ſchaftlichen Charakter diefer Sitte, weldde auh, was man bisher tool überiah, 
eine Ueberlieferung der Angelfahfen war, wie ſchon Aldhelm in dem oben 
erwähnten Werke den König Alfred von Northumberland Acireius nennt. Als 
den erſten Grund ſolcher Namensänderung bezeichnet Alcuin (Ep. 199 ed. Jafte) 
die „Familiarität“, und verweift auf Chriftus jelbft, der Simon Petrus nannte. 

Die Literatur, die ſich nun in diefem Kreife entiwidelte, unterjcheidet ſich 
do zum Theil ganz weſentlich von der älteren chriſtlich-lateiniſchen. Während 
diefe von der Kirche ausgeht, geht fie, nad) dem Vorgang der Angeljachien, viel- 
mehr von der Schule aus, wie bei den jpäteren Humaniften. In der Beziehung 
ſchließt fie fi im Frankenreiche jelbft zunächft an die Dichtung des Venantius 
Fortunatus, des merovingiſchen Hofdichterd, an, des lehten Poeten von Be— 
deutung dort vor dem karolingiſchen Zeitalter; er war als gelehrter Laie, in 
den grammatilchen Schulen feiner Heimath Italien gebildet, nad) Frankreich 
eingewandert. Diejer Ausgangspunkt der karolingiſchen Literatur ift aber von 
der größten Wichtigkeit: jo hat in ihr die Dichtung von vorn herein ein befonderes 
formales Intereffe, zum Theil auch dafjelbe allein, jo daß nicht jelten die Vor— 
würfe rein projaifche find, Styl und Vers allein das poetiſche Moment bilden. 
Und diefer Herkunft aus der Schule entiprechend, nimmt fich diefe Dichtung 
weit mehr, als dies die ältere chriftliche im Allgemeinen und jelbjt Yortunat 
that, die claſſiſchen Werke des Alterthums, namentlich die des Virgil und Ovid, 
vor Allem die Aeneis und die Eclogen, jowie die Trijtien zu Vorbildern, von 
denen jelbft manche Einzelheiten geradezu copirt werden. Dem Inhalt aber 
nad hat diefe Dichtung großentheils ſchon einen weltlichen Charakter, wie ſich 


Die literariiche Bewegung zur Zeit Karl's des Großen. 403 


auch jelbft Laien unter den Autoren finden; ja ebenjo wie die Wifjenjchaft aus der 
Schule in die Gejelihaft fich einführte, begegnen wir in diefer Dichtung bereit3 
den erften Anfängen einer Hofpoefie und einer nationalen Epif mit politifchen 
Tendenzen. 

Auch auf dem Felde der literarifchen Production ging Alcuin jehr einfluß- 
reich voran und in vieljeitigfter Thätigkeit. Seine Bibelcommentare, jo wenig 
originell fie find, wurden durch die Art ihrer Compilation aus den verjchie- 
denften Kirchenvätern das Mufter für die Folgezeit, zunächft für die umfang- 
reihen Werke jeineg Schülers Raban. Aus beiden haben ja auch der Verfafjer 
des Heliand und Otfried geihöpft. — In feiner Schrift über die Tugenden und 
Lafter, die Mlcuin auf den Wunſch des Markgrafen der Bretagne Wido ver- 
faßte, gibt er ein Laienbrevier mit bejonderer Rüdfiht auf das Amt des Grafen. 
Diefe praktiihe Tendenz verleiht dem Buche jeine Originalität. Die Kleine 
Schrift über das Wejen der Seele zeigt, jo wenig eigenthümlich ihr Inhalt ift, 
ein großes Geſchick, auch Frauen für philofophiiche Betrachtung zu intereffiren. 
Dad moraliſche Moment bildet nämlich durchaus den Schwerpunft, und e3 
wird aud der Beiltand der Dichtung vom Verfaſſer nicht verihmäht, indem 
die Gedanken der Abhandlung am Scluffe in einem Gedichte zum Lob der 
Seele recapitulirt werden. Dies Schriftchen war auf den Wunſch der Gundrad 
verfaßt und erwachſen aus Geſprächen, die Mlcuin mit ihr geführt hatte; auch 
wieder ein Beweis, wie die Willenichaft das gejellichaftliche Leben jenes Hofes 
durchdrang. 

Obgleich Alcuin kein dichteriſches Genie beſaß, hat er doch auf dem Felde 
der Poeſie noch anregender gewirkt. Er gab zu einer rein weltlichen Dichtung, 
theils einer geſellſchaftlich höfiſchen, theils einer epiſch nationalen, die Anregung. 
Sein beſtes poetiſches Werk, das er noch in York, alſo in jüngeren Jahren, ge— 
ſchrieben (es iſt in 1657 Hexametern verfaßt), führte den Titel: „Von den Vätern, 
Königen und Heiligen der Stadt York.” *) Dies ift feinem Inhalt wie feiner 
Compoſition nad) der erfte Vorläufer der dem Epo3 nahe verwandten mittel- 
alterlihen Reimchronit. Wenn auch Alcuin darin die Geſchichte des Erzbisthums 
York gibt, jo beſchränkt er ſich doc keineswegs auf dieſelbe. Zunächſt Hat 
nicht ein kirchliches, ſondern ein nationales Intereſſe ihn zu dem Werke ge- 
trieben; wie er ſelbſt im Eingang ſagt, will er den Ruhm des Vaterlands und 
der Vaterſtadt verherrlichen. Nun kann ihm freilich dieſer Ruhm nur ein 
chriſtlicher ſein. Und ſo beginnt er denn ſeine Geſchichte mit der Chriſtiani— 
firung Northumbriens unter König Edwin, dem erſten Bretwalda (Oberherrſcher) 
der Angelſachſen, 627, und führt fie dann an der Hand feiner Nachfolger bis 
auf Aldfrid fort, mit deſſen Tod, 705, wie Lappenberg jagt, die Geſchichte North- 
umbriens zu verblühen beginnt; erſt dann liefert die Reihe der Erzbiſchöfe den 
leitenden Faden der Erzählung, welche erſt von Hier ab von weltlichen Dingen 
abjieht. In dem vorausgehenden Theile dagegen werden zwar vorzugsweiſe die 


*) Der herfömmliche Titel ift ungenau. Daß der Titel der Dichtung: „De patribus, regibus 
et sanctis Euboricae urbis“ lautete, zeigt ihr Schluß jelbft, ebenjo wie ihr Inhalt. Der Titel 
ift aber Hier beſonders nicht ohne Bedeutung. 


2° 


404 Deutiche Rundſchau. 


für die Hriftliche Kirche wichtigen Ereigniſſe erzählt, aber der Dichter beſchränkt 
fi) doch nicht darauf, jo wenig wie Beda in feiner Kirchengeihichte, die ihm 
bier durchaus den Stoff liefert; und jelbft unter jenen Greigniffen treten die 
Kriege mit den heidnifchen Königen des Landes ganz in den Vordergrund, und 
fie gerade bieten Alcuin die Gelegenheit zu lebendigen poetiſchen Schilderungen, 
welche den begeifterten Kenner VBirgil’3 in den mannigfachen Reminiscenzen aus 
der Aeneis, aber nicht minder die Natur des Angelſachſen in der Freude an 
Kampfbildern zeigen, wie fie ja ihre Nationaldichtung, ſelbſt die geiftliche, mit 
bejonderer Vorliebe und großer Wirkung ausmalt. 

Hierin liegt die, jo viel ich weiß, bisher verfannte literargefhichtliche Be— 
deutung diefer Dichtung. ine ſolche fehlt ganz der Elegie Alcuin’3 auf die 
Zerftörung des Kloſters Lindisfarne An die Mönche des Kloſters gerichtet, 
gehört fie dem Kreiſe der poetijchen Epiftel an, die als Gelegenheitspoefie Alcuin 
jo Häufig cultivirt bat. Der briefliche Verkehr überhaupt war damals unter 
den literariich Gebildeten ein recht lebhafter, wie uns namentlich die Corre— 
ipondenz Alcuin's zeigt, und es wurde Mode, auch die projaiichen Briefe mit 
ein paar Diftichen zu jchließen, zumeilen fügte Alcuin aber auch ganze poetiſche 
Gpifteln den projaiichen hinzu. So werden manche von jenen in der Sammlung 
feiner Gedichte urjprünglich als Anner zu proſaiſchen Schreiben verfaßt, oder 
doch abgejandt worden fein. Einige diefer poetifchen Epifteln Alcuin's find nun 
auch an „den ſüßen geliebten David, die Liebe des Flaccus“ gerichtet, namentlid) 
al3 Alcuin den Hof verlaffen, um in Tours eine Mufterflofterichule zu gründen, 
eine Pflanzſchule der Gelehriamkeit für das Abendland. Eines diefer Gedichte 
Ichildert una das wiſſenſchaftliche Leben in der Pfalz, indem fi Alcuin nad 
dem Stand der Hofſchule bei Karl erkundigt und feine Rücderinnerungen mit 
manden Scherzen und heiteren perfönlichen Anjpielungen würzt; noch bedeutender 
it ein anderes diefer Gedichte, an Karl bei feinem Römerzuge im Yahre 300 
gerichtet: es läßt den Schatten des fommenden großen Creignifjes der Kaiſer— 
krönung ſchon erkennen. Wird auch Karl hier noch König betitelt, jo iſt doch 
von feiner Herrichaft bereits al3 wie von einer Weltherrihaft die Rede. Wenn 
diefes Gedicht Hohe öffentliche ntereffen zum Gegenftand und von der Epiftel 
nur die einkleidende Yorm hat, jo haben dagegen die meiften anderen den pri= 
daten Charakter freundjchaftlihen und gejelligen Verkehrs. In diejer Epiftel- 
poefie — und dies macht ihre allgemeine Literargefchichtliche Bedeutung in jener 
Zeit aus — erjcheint die Dichtung al3 eine rein weltliche, im Dienfte der Ge— 
ſellſchaft: fie gerade hatte Schon Fortunat mit befonderem Eifer cultivirt. 

Auf diefem Felde erwächſt denn auch ſchon in Karl’3 Umgebung, ja durch 
ihn ſelbſt injpirirt, eine Art von höfiſcher Lyrik. Sie erjcheint in der Literatur 
dieſes Kreiſes (die uns offenbar nur in jpärlichen Neften überliefert ift)*) durch 
zwei andere hervorragende Männer defjelben vertreten, welche beide Jtalien ihr 


*) Wie wenig ift un? von Alcuin's Lyrik erbalten, der er doch ben Namen Flaccus ver: 
dankte! (Bgl. Theodulf's Carm. 1. II, 1 v. 131 f. und 3 v. 315.) Und was von Einhard's 
Gedichten? Und von wie manchen Tichtern find uns nicht einmal die Namen überliefert (ij. 
Theodulf's Carm. 1. III, 3). 


Die literarifche Bewegung zur Zeit Karl's des Großen. 405 


Vaterland nannten, beide Repräjentanten der ihm eigenthümlichen grammatiſchen 
Bildung. Der berühmtere von ihnen ift aber feiner Herkunft nad) wieder ein 
Germane. 63 ift der oben genannte Langobarde Paulus, gewöhnlich zugleich 
mit dem zum Beinamen gewordenen Titel Diaconus genannt, der troß jeiner 
lateinijchen Bildung und feines klerikalen Standes das Bewußtjein feiner ger= 
manijchen Nationalität ſich bewahrte und ihm in dem lebensfriichen Gemälde, 
da3 er von der fagenreichen Vorzeit feines Volkes in feiner Langobardengeſchichte 
entwirft, einen unvergänglichen Ausdrud gab. 

Die Dichtkunſt ſelbſt cheint die erfte Annäherung zwiſchen dem fein ge= 
bildeten, vornehmen Langobarden und dem Trankenkönige bewirkt zu haben: 
eine poetilche Supplif, worin Paulus mit rührenden Worten Karl um Begna- 
digung feines Bruders bittet, der in Folge der Theilnahme an einem Aufftande 
der Yangobarden der Freiheit beraubt war. Al3 Paulus dann Karl folgend 
an dem fränkiihen Hofe längere Zeit verweilte, liebte e8 Karl, durch das Organ 
ſeines Grammatifer3 Petrus von Pia mit Paulus poetiich zu correipondiren. 
Karl gab offenbar den Inhalt an, den jein Lehrer in der Grammatik nur in 
Derje umſetzte, denn Petrus Spricht nicht blos im Namen Karl’3, jondern in 
der Perjon defjelben in diefen an Paulus gerichteten Gedichten, und ebenjo find 
die Antworten des lehteren dann an den König jelbft adrejfirt. Eine diejer poe- 
tiſchen Gorreipondenzen ift durch ihre Form befonders merkwürdig und wichtig. 
Die beiden correjpondirenden Gedichte find nämlich in der populären trochäifchen 
Hymnenftrophe und zwar in rhythmiſchen, d. 5. durch den Accent beherrichten, 
Verſen verfaßt. So jehen wir hier dies Versmaß aus der Kirche auf den Boden 
der weltlichen Dichtung verpflanzt; allerdings finden ſich davon ſchon früher 
einzelne Beijpiele, hier aber gejchieht e8 von zwei der antiken Metrit wohl kun— 
digen Gelehrten und offenbar in jcherzhafter parodijcher Abjicht;*) der Einfluß 
der Geſellſchaft des Hofes läßt ſich darin nicht verkennen. — Ein liebenswür— 
diger Humor, dem der große Kaiſer nicht abhold war, durchzieht dieje poetiſche 
Gorrejpondenz, da Paulus in den von dem Kaiſer angeſchlagenen Ton ohne 
Scheu einftimmt. Auch poetiiche Wettkämpfe fanden, wie ung ein Gedicht des 
Paulus belehrt, zwiſchen den beiden Gelehrten Italiens, und wol auf Karl's 
Anregung, jtatt, wie fie auch Räthſel ſich in ihren Verſen aufgeben und Löfen, 
eine Unterhaltung die ja der Kaiſer jo ſehr liebte. Dergleichen Gedichte erinnern 
Ion, wenn aud) entfernt, an das auf dem Boden der ritterlichen Geſellſchaft 
erwachſene Streitgedicht oder Getheilte-Spiel der Provenzalen. 

Als eine echt höfiidhe Dichtung wurde auch die Ecloge Virgil's eingebürgert, 
die, wie bereits bemerkt, in dieſem Kreiſe beſonders beliebt war. Wir befiten 
ein jolches längeres Gedicht, das auch inhaltlich von bedeutendem Intereſſe ift, 
bon einem jungen, armen Poeten, der duch bdafjelbe der Gunft Karl's fich 
empfahl. Er war aller Wahrſcheinlichkeit nad ein Schüler Alcuin’®, der auch 
einmal in jeinen Gedichten des Nafo, unter welchem Autornamen die Ecloge 


*) In bderjelben Abficht hat folche rhythmiſche Gedichte auch Alcuin verfaßt, die er dann an 
Karl's Tafel zum Beſten gab, vielleicht auch improvifirte, wie Theodulf bezeugt, Carm. 1. III, 
c. 1, v. 136, wo es von Alcuin heibt: Et solvat numeri vincla favente ioco. 


406 Deutiche Rundſchau. 


uns überliefert ift, gedenkt. Sie ift in zwei Büchlein getheilt. Zwei Hirtenjänger 
treten auf, ein junger Anfänger, welcher den Dichter jelbft vorftellt, und ein 
alter, ein ruhmgefrönter „Veteran“ der Dichtung, ber nad) einem Hirten Virgil’3 
Micon fi nennt. Jener fordert diefen zum Gejang mit ihm auf, indem er 
hofft, auch die Gunft des Kaiſers zu getwinnen, der ſchon manche Gabe von ihm 
gnädig aufgenommen. Diejer jehe von der hohen Burg der neuen Roma (Achen) 
alle Reiche feinem Scepter unterworfen; die Welt jei in die alte Zeit zurückver— 
jet, e3 würde das goldene Rom erneuert, dem Erdkreis twiedergeboren. (So 
wird hier dieje erfte Renaiffance mit diefem Ausdruck jelber bezeichnet.) — Der 
Dichter nennt aber hier den Kaijer Balemon, nach einem Hirten ber dritten Ecloge 
Virgil's, der von zwei anderen dort zum Schiedsrichter in einem Gejangswett- 
ftreit erforen wird: Karl ſoll aljo jet ihr „Palemon’ fein. Der Alte tHeilt 
nicht die Hoffnungen des Jünglings, er meint im Gegentheil, Karl verachte die 
Gedichte deifelben; der Jüngling werde feinen Lohn bei ihm ernten, vielmehr 
folle er des Schickſals feines antiken Pathen (des Ovid) gedenken. Dagegen 
weift der junge Sänger auf die Belohnungen hin, die einem Virgil, einem Lucan, 
einem Ennius im Altertfume geworden: und fände nicht dafjelbe in ihrer Zeit 
ftatt? Homer (Angilbert), Flaccus (Alcuin), Theodulf und Einhard bezeugen 
reich bejchentt, daß Karl die Dichtung liebe. Der Alte muß nachgeben, und jo 
beginnt im zweiten Büchlein der idylliiche Wechjelgefang. Der Alte jchildert 
mit lebendigen ?yarben die mittäglihe Sonnengluth, in der die Bienen fröhlich 
jummen, das Vieh aber des Waldes Schatten auffucht. Er fordert den Genofjen 
auf, in den nahen fühlen Hain mit ihm einzutreten. Jener antwortet und preift 
den Alten glücklich, deifen Liedern die Thiere laufchend folgten, jelbft die mwil- 
den in Frieden, gezähmt durch feine Kunft. So feheint fich ſchon zu erfüllen, 
was er mit göttlichem Meſſer auf der Rinde einer Buche eingejchnitten lieſt: 
Friede den Ländern, der Krieg fei ferne. — Die Inſchrift jagt die Wahrheit, 
erwidert der Alte, eine goldene Sonne leuchtet glänzend in der Mitte des 
Erdkreiſes, nah) allen Richtungen ihre Strahlen ausbreitend; durch Feine 
Molke verbunfelt, vericheucht fie die Stürme. Ihrer erfreuen fi Saone, 
Rhone, Loire, Maas und Rhein. Diejes goldene Licht, vom Himmel der Welt 
gefandt, unterwirft fi) die wilden Völker und zügelt unzählige Stämme durch 
Geſetze, ihm beugt ſich der ganze Erdkreis. Der ruchloje Aufruhr flieht, die 
Waffen ruhen, Bellona knirſcht gefeffelt in ohnmächtiger Wuth. Eine goldene 
Regierungszeit erfteht den Lateinern, da3 hohe Rom fieht feine Triumphe zurüd- 
fehren. — Karl ift jene Sonne, die der Welt das goldene Zeitalter zurüdführt. 

Dies Gedicht, deſſen Gang und Inhalt wir kurz, möglichſt mit jeinen 
eigenen Worten, jkizzixten, feiert alſo die Wiederherjtellung des Jmperium, des 
Weltreichs, durch Karl, und zeigt, welche Hoffnungen man davon hegte, nachdem 
alſo „geendigt war die kaiſerloſe, die fchredliche Zeit“; und diefe Hoffnungen 
mußten duch die geſetzgeberiſche Thätigkeit, die der neue Kaiſer alsbald im 
Sinne der Herſtellung einer Civitas dei — des Gottesſtaats des Auguſtin — 
entwickelte, ſehr weſentlich gefördert werden. 

Doch iſt das Gedicht ſicher erſt nach dem Jahre 804 verfaßt, wol aber als— 
bald danach, ſpäteſtens 805, nicht blos aus den von dem verdienſtvollen Heraus— 


Die literariighe Bewegung zur Zeit Karl's des Großen. 407 


geber Dümmler bemerften Gründen, jondern weil erft in diefem Jahre 804 die 
Sachſenkriege ihr Ende nahmen, auf deren Abſchluß der Dichter vielleicht mit 
der Flucht des ruchlofen Aufruhr Hingedeutet Hat. Seht erft konnte der Friede 
des Meltreich3 gefichert erjcheinen. 

Auch dies Gedicht zeigt manche Reminiscenzen aus Virgil, ja es ift in feinem 
zweiten Buche (wie Bährens unlängft nachwies) einer Ecloge eines Nachfolgers 
Virgil's, des Galpurnius, durchaus nadhgebildet, dem auch mehrere Einzelheiten 
entlehnt find. Aber auch die Dichtung eines Zeitgenofjen ift darin benußt, 
eben jenes „Veteranen der Dichtkunſt“, den der Dichter al3 feinen Geſangs— 
tivalen unter dem Namen Micon in der Ecloge auftreten läßt. Derjelbe ver- 
weiſt dort jelbft auf jene feine Dichtung, in welcher er bereit? Karl als die die 
Welt erleuchtende Sonne gefeiert Habe. Es ift dies aber ein dem Angilbert bisher 
gewöhnlich beigelegtes epifches Gedicht, deſſen Held Karl der Große ifl. Ein 
Gejang davon Hat ſich erhalten, worin gerade jene Stelle, auf welche Micon 
Bezug nimmt, ſich Findet. *) 

Dieje epiſche Dichtung ift ſchon allein dadurd) von dem größten literargeſchicht- 
lichen Intereſſe, daß hier an der Stelle eines Heiligen ein weltlicher Held be— 
jungen wird, und zwar nach dem Vorbild des Aeneas: wie diejer der exfte 
Gründer des römifchen Reiches, jo Karl der de3 neuen Jmperium, Karl, der 
„die zweite Roma’ Achen ausbaut. Diefe Wendung in der Poefie tritt Hier 
aber um jo auffallender hervor, ala der Dichter außer der Neneis die panegyrijch- 
epiiche Dichtung das Fortunat über das Leben des heiligen Martin vor Augen 
gehabt Hat. Wie Fortunat jeinen Helden als „den galliſchen Pharus‘ feiert, jo 
unfer Poet Karl als „den Leuchtthurm Europa's“. Was den Inhalt des ung 
erhaltenen Gejangs betrifft, jo jchildert der Dichter zuerft, nad) einem im Style 
Fortunat's verfaßten Panegyricus auf jeinen Helden, die Gründung „der 
zweiten Roma” im Hinblid auf den von Virgil gejchilderten Bau von Kar— 
thago, dann in hübjcher idylliicher Weije den Wald und Park bei Achen, wo 
Karl mit der Jagd fi vergnügt. Eine foldde wird dann vom Aufbrud am 
frühen Morgen an mit den lebendigften Farben bejchrieben, und bei diejer 
Gelegenheit die Familie Karl’3 vorgeführt, denn Gemahlin, Söhne und Töchter 
nehmen an dem Sagdvergnügen Theil. Ein Eber wird aufgejpürt und vom 
Kaiſer erlegt. Ein heiteres Mahl in Zelten bejchließt den Tag. In der folgenden 
Nacht aber hat Karl ein Traumgefiht: der Papft Leo erſcheint ihm verwundet 
und zerftümmelt. Karl jendet alsbald Boten nad) Rom, die Wahrheit zu er- 
funden. Die Boten vernehmen denn auch dort das Attentat und geleiten darauf 
den flüchtig gewordenen Papft auf jeine Bitte zu Karl. Die Zuſammenkunft 
des „Königs von Europa” und bes „höchften Hirten der Welt“ in Paderborn 
wird dann noch erzählt, und nach ihr hat man auch gewöhnlich dies epijche 
Fragment betitelt. 


*) Es ift hiernach bie Autorjchaft Angilbert’3 noch zweifelhafter geworben, ala fie ohnehin 
war; abjolut ausgeſchloſſen wird fie aber hierdurch meines Erachtens noch nicht, troßdem Nafo, 
wie oben gezeigt, den Angilbert jelbft dem Mico als Beiſpiel der Gunft, die Karl den Poeten 
ichente, citirt; die eigenthümliche Art, wie dies geichieht, kommt dabei jehr in Betracht. 


408 Teutihe Rundſchau. 


Auch diefe Dichtung enthält eine Menge Reminiscenzen aus den Werfen 
Virgil's (nicht blos der Aeneis), wie aus der genannten Dichtung Fortunat's; 
troßdem verdient fie ganz und gar nicht das wegwerfende Urtheil, das nad) jo 
vielen ihr früher von Andern gezollten Lobjprüchen, zulekt Simſon in einem 
ſonſt recht Lehrreichen Aufſatz über fie gefällt Hat. Wie wir jchon bei Alcuin 
und Najo jahen, war ein ſolches Verfahren der Dichter, auch Einzelheiten von 
ihren Vorbildern abzucopiren, damals herkömmlich und allezeit bei einer aus der 
Schule erwachſenen Kunft. Der Verfaſſer jenes epiichen Gejanges beſaß wahres 
poetiſches Talent, einen reihen Sinn für das Malerifche der Schilderung ſowie 
für die Muſik des Verſes. Die finnlide Kraft und die ganz weltliche 
Richtung, welche diefes Poem, ebenfo wie die Ecloge des Naſo, auszeichnen, 
fünden ſchon eine neue Literatur der Zukunft in dem neuen Imperium an, die 
allerdings erſt viel jpäter zu einer wahren und vollen Entwidelung reifen jollte. 
Dies geihah volllommen erſt in den Volksſprachen, freilich Jahrhunderte jpäter, 
und dann werden auch die Thaten Karl’3 jelbft und die von Sagen umwobene 
gewaltige Perjönlichkeit des großen Kaiſers eine Hauptquelle der epiſchen Poefie. 
Höchſt merkwürdig ift es deshalb, daß bereits zu Lebzeiten Karl's feine Thaten 
die ſchon jo lange entichlummerte Epif wiedererweden, und diefe Dihtung un— 
mittelbar den Ereigniſſen folgt. Iſt doch die eben betrachtete, wie das Citat 
aus ihr in der Ecloge Najo’3 beiveift, jpäteftens vor 805 verfaßt, während jene 
Zuſammenkunft Karl’3 mit Leo 799 ftattfand. 

Aber wir haben nicht blos dies eine Beijpiel. Viel früher jchon, als Karl 
noch nicht den Gipfel der Macht erreicht, noch nicht im Glanze des Imperium 
ftrahlte, find jeine Thaten von zeitgenöffiichen Dichtern bejungen worden. So 
hat der „Srifche Fremdling“ (Hibernieus exul), unter weldem Namen und eine 
Anzahl Gedichte überliefert find, die diefer Autor al3 Jahresgeſchenk Karl dar- 
gebracht hat, die 787 durch Karl erziwungene Unterwerfung des abgefallenen 
Taſſilo von Bayern bejungen, und zwar jehr bald nad) dem Ereigniß, denn die 
Unterwerfung erfolgte im Herbft jenes Jahres, und da3 Gedicht iſt jedenfalls 
vor dem Sommer de3 folgenden, two Taſſilo ganz geftürzt wurde, verfaßt; jucht 
doch der Dichter den Bayernherzog zu entjchuldigen, was er nimmer nad) Taffilo’3 
Sturze in einem Karl jelbjt gewidmeten Gedichte hätte wagen fünnen. Leider 
befißen wir von dem Gedicht nur zwei Fragmente, die erjten 93 Herameter und 
ein paar Verje des Schluſſes. Ein Geipräd mit der Muſe eröffnet das Gedicht; 
fie beruhigt den Dichter über den Werth ihrer Gaben, „durch welche Die be- 
rühmten Thaten der alten Könige glänzen und die der gegenwärtigen den zu— 
fünftigen Geſchlechtern erzählt werden, ja durch welche der Schöpfer der Welt 
gepriefen wird.” Der Dichter geht dann zu feinem Gegenjtand mit der Trage 
über: „welche Pet den in Allem getreuen Diener befallen, daß er den finfteren 
Bli feines Heren verdiente?” Das iſt das Gift Satans jelbjt gewejen, der 
überall Streit ſäet. Diejer trägt an dem Friedensbruch die Schuld: er hat dag 
Gerücht von dem Abfall Taſſilo's verbreitet. Karl wollte e8 nicht glauben. 
Aber das Gerücht ſchwoll immer mehr an; der König mußte der öffentlichen 
Stimme Gehör geben. Er verfammelt ein Heer, mit dem er über den Rhein 
jeßt; ex redet feine Großen an, er erinnert fie an ihre Herkunft von Troja — — 


Die literarifche Bewegung zur Zeit Karl's des Großen. 409 


Mitten in diefer Anrede bricht das Hauptfragment leider ab. Der Schluß be- 
richtet die Ausföhnung und das neue Gelöbniß der Treue, welches der Herzog 
dem Könige darbringt. 

Noch eines Dichters jener Zeit haben wir zu gedenken, der au) oft an 
Karl’3 Hofe verweilte und zu jeiner poetiſch-gelehrten Genoſſenſchaft gehörte, 
Es war der Bilchof Theodulf von Orleans; durch ihn ift wieder ein neuer ger- 
manifcher Stamm in dieſem Kreife vertreten: er war ein Gothe, wie er jelbft 
fih in einem Gedichte bezeichnet. In einem anderen macht er una mit jeiner 
Lieblingslectüre bekannt; da nennt er neben den großen Kirchenvätern und hrift- 
lien Enchclopädiften die „ausgezeichnetften heidniſchen Philojophen“, neben den 
bedeutendften chriftlichen Dichtern, einem Prudenz und Fortunat, den Virgil und 
Dpid. Die Mythologie der Alten bietet ihm feinen Anftoß, da er fie für Alle: 
gorie erklärt. Die bejondere Befähigung des gothiichen Stammes, das romanijche 
Bildungselement ſich anzueigen, zeigt fi recht an Theodulf. In ihm Haben 
dieje claſſiſchen Studien eine wahrhaft äfthetiihe Bildung gereift. Nicht blos 
befunden dies in Sprache [und Vers feine Dichtungen, jondern auch fein Sinn 
für bildende Kunft. So ließ er eine prachtvolle Kirche nad) dem Mufter der 
Achener Baſilika bauen, koftbare, mit Bildern gef hmücte Handjchriften und 
kunſtvolle Sculpturwerfe anfertigen, wie er denn eins feiner Gedichte der jorg- 
fältigen Beichreibung eines jolchen, das als Tafelaufja und Fruchtkorb diente, 
gewidmet hat; mit einem Tellurium verjehen, jollte es, wie ex da jagt, den 
Geift zugleih nähren, während dem Leibe Nahrung geipendet ward. Seinen 
Sinn für die Kunft des Alterthums aber zeigt die Beichreibung einer antiken 
Baje, mit welcher man ihn einmal zu beftechen dachte. Theodulf, der auch als 
Biſchof, und ganz im Sinne Karls, eine bedeutende Wirkſamkeit entjaltete, 
den Klerus ſittlich und geiftig zu heben, die Klofterzucht herzuftellen, und Schulen 
zu gründen, Theodulf trat dem Kaiſer bejonderd nad) dem Tode Alcuin’s jehr 
nahe, indem er dejjen Stelle als theologijher Beirath zu erſetzen hatte. Er 
überlebte noch fieben Jahre den Kaifer, um, in die erjten Wirren der Regierung 
jeines Nachfolgers verwidelt, ein trauriges Ende in Haft und Verbannung zu 
finden. 

Die Dihtung des Theodulf jchließt ſich auch zum Theil, wie die des Alcuin, 
in ihrer Vorliebe für die Epiftel und das Epigramm an die Dichtung des For— 
tunat an, zum anderen Theil aber in größeren didaltiſchen Werken an die des Pru— 
dentius, jo wenig auch der Gothe den Schwung der Phantafie und den redne— 
riihen Pomp des ſpaniſchen Romanen zeigt. Auch in Theodulf’3 Dichtung 
Ipiegelt fich die Zeit des großen Kaiſers wieder, an deſſen politiichen, kirchlichen 
und literariſchen Reformbeftrebungen der Dichter auch durch die That betheiligt 
war. So wurde er zum Missus dominicus ernannt, um die Gerichte eines 
Theil von Südgallien zu revidiren und ala höchſte Inſtanz an der Stelle des 
Kaijers ſelbſt Recht zu ſprechen. Als eine Frucht diejer wichtigen Sendung 
erjcheint ein faft 1000 Herameter zählendes Gediht, eine „Ermahnung an die 
Richter“, worin die Reife jelbft und ihre Rejultate geichildert und die dabei 
gewonnenen Erfahrungen verwerthet werden. Ein Gediht von großem cultur- 
geſchichtlichem Intereſſe. Ein anderes, das an Karl jelbft gerichtet ift, führt uns 


410 Deutſche Rundſchau. 


mitten in die Geſellſchaft des Hofes ein, zur Zeit als eben die durch den Herzog 
von Friaul eroberten Schätze der beſiegten Avaren dort eingetroffen, ihm einen 
bejonderen Glanz verliehen. Der damals abwejende Dichter jchildert da das 
Leben in ber Pfalz, wie er e3 ſich im Geifte nach feinen früheren Erfahrungen 
ausmalt. Mit einem Triumphgefang auf Karl, deſſen Lob unermeßlich fei, hebt 
das Gediht an. Wie er die Hunnen befiegt, jo ſoll er auch die Araber treffen, 
tie jene, jo diefe zum Chriftenthum befehren. Auch Cordoba foll feine jeit 
langer Zeit aufgehäuften Schäße dem Frankenkönige zu Füßen legen. So wird 
auf die ein paar Jahre darauf folgenden Feldzüge hingewieſen, welche die Er- 
oberung von Barcelona krönte. Der Dichter erzählt dann, wie nad) Beendigung 
de3 Rathes und des Gottesdienftes zu dem fetlichen Mahle gejchritten wird, 
tie dem Könige die Söhne den Mantel, die Handſchuhe, das Schwert abnehmen, 
twie die Töchter unter Küffen ihm Blumenfträuße darreihen. Nachdem dann 
der Ankunft der Großen, der Gejchäftigkeit des Hofmarſchalls, des Tiſchgebets 
de3 Erzkaplans gedacht ift, werden uns die bedeutendften Perjönlichkeiten der 
Tafelrunde vorgeführt, vor allen die Gelehrten, von welchen wieder Alcuin und 
ein „Schotte“ ganz bejonderd bedacht find, jener mit aller Hochachtung, aber 
nicht ohne Humor, diefer mit beißendem Spotte geſchildert. Nach aufgehobener 
Tafel, bei welcher Wein und Bier nicht geipart wird, werben Gedichte des 
Theodulf jelbft vorgelejen: dieje Lectüre verwünſcht ſammt dem Dichter ein dicker, 
ſtarkknochiger Kriegsmann, der, weil er zu tief in das Glas gejehen, wenn ihn 
der König Huldvoll zu fich ruft, gleich dem Vulcane dahin ſchwankt, aber mit 
Aupiter’3 Stimme donnert; der boshafte Schotte aber, bald an den Vorleſer, 
bald an die Zuhörer ſich wendend, twird nicht müde, zu vecenfiren. 

Indeß finden fi auch die höchſten politiichen Fragen in Theodulf's Ge- 
dichten berührt oder behandelt, jo die Stellung Karl’3 zur Kirche, oder vielmehr 
über derjelben,; jo mahnt der Dichter von einer Theilung des Reiches ab, wie 
ex denn auch nach Karl’3 Tode, in zwei merkwürdigen Naturerjcheinungen, die 
er in feinen Gedichten beichreibt, die Bürgerkriege und ihr Verderben voraus— 
fieht. So erkennen wir auch hier, wie die Dichtung und die Fiterariiche Cultur 
überhaupt, durch Karl in die höchften Kreije verpflanzt, den Einflüffen des öffent- 
lichen Lebens fich erichließt. Am bedeutendften wirkte natürlic, twie wir früher 
ſahen, das mwelthiftorijche Ereigniß der Erneuerung des Kaiſerthums auf fie ein; 
aber es läßt ſich mit Recht behaupten, daß auch andererſeits nicht minder die 
humaniftiichen Studien auf das öffentliche Leben influirten, und insbeſondere der 
Gedanke der Wiederherftelung des römiſchen Imperium unter ihrem Einfluß 
ſich entwickelte. In diefer Richtung wirkte das KHriftlich-römifche Altertum mit 
dem heidniſch-römiſchen einträchtig zufammen. Wie Karl's Lieblingsbud), die 
„Civitas dei“, die erſte Hriftliche Philofophie der Gejchichte, die Nothwendigkeit 
des römiſchen Imperium als des durd) Gott verordneten letzten Weltreichs bis 
zur MWiederfunft Chrifti motivirte, jo jah der gelehrt-poetiſche Hofkreis, defjen 
formelle Bildung vor Allem auf Virgil bafirte, in Karl ſchon Yange feinen 
Auguftus; vergleicht doc einmal Alcuin, und zwar im Jahre 798, in einem 
Briefe an Karl fich jelbft mit Virgil und Karl mit Auguftus. 


In den Fis- und Scmeeregionen der Hochalpen. 


Don 
Dr. Panl Güßfeldt. 


— —— 


Die Eis- und Schneeregionen der europäiſchen Alpen ſind uns erſt in den letzten 
Decennien allgemein erſchloſſen worden. Wegen der mancherlei Schwierigkeiten, 
mit denen das Betreten dieſer eigenartigen Welt verknüpft iſt, hat nur ein ſehr 
kleiner Theil der Alpenbeſucher ſich frei und ungehindert in ihr bewegen können. 
Aber das Intereſſe für das Hochgebirge und für Hochgebirgswanderungen iſt 
nicht auf jene Kleine Zahl beſchränkt geblieben, ſondern erſtreckt fich bereits weit— 
hin. Daher erſcheint der Verſuch verlodend, die eigenen vieljährigen Erfahrungen, 
Erlebnifje und Anſchauungen auf diefem Gebiete zufammenzufaffen und mit 
einem größeren Kreife zu theilen. 


I. 


Die Vorftellung des Schredens, die wir feit den älteften Zeiten mit den 
Hodalpen verbinden, ift völlig gerechtfertigt. Wer je allein, ohne Führer, ohne 
Gefährten, diefer ernften, Ieblojen Schöpfung gegenüber geftanden hat, wird ſich 
eher bedrücdt al3 erhoben fühlen. In dieſes Gebiet muß ich den Lefer führen, 
fort aus den lieblichen Thälern, über grüne Matten bin, hinauf zu den ftarren 
Regionen des Eifes, des Firnſchnees und der in graufer Majeftät aufragenden 
Felſenmaſſen; — wo da3 organifche Leben faft ganz erftirbt und Nichts übrig 
bleibt, al3 da3 unheimlich ftetige Wirken mechaniſcher Kräfte. Der eigenthüm- 
liche Charakter der höchſten Zonen unferer Alpen ift vornehmlich dadurch be- 
dingt, daß fie weit hineinragen in die jogenannte Region des „ewigen Schnees“. 
Da die Luft ſich mit der Höhe verdünnt, jo kann fie fi) dort weniger erwär— 
men, al3 die unter gleicher Strahlung der Sonne und gleiher Wärmerüdftrah- 
lung des Erdbodens befindliche dichtere Luft der Thäler. Die mittlere Jahres- 
wärme finkt deshalb mit der Höhe, während die Feuchtigkeit der Luft ich mehr 
und mehr ala Schnee, ftatt al3 Regen, niederichlägt; und man gelangt beim 
Auffteigen an eine Linie, die fogenannte Schneegrenze, oberhalb deren mehr Schnee 
fällt, als weggethaut wird. Diejen Schnee bezeichnet ein uralter, Schöner Sprad)- 
gebrauch als „ewigen Schnee”. 


412 Deutiche Rundſchau. 


Bedenkt man, dab fich die Schneegrenze für den Nordrand der Alpen bei 
etwa 8000° Hinzieht, daß aber die Kämme der Gentralfetten ji bis 12,000’, 
ihre Spiten bis über 14,000° erheben, fo erhält man ohne Weiteres eine Vor— 
ftellung der colofjalen Schneemaffen, die dem Hochgebirge aufgelagert find. — 
Aber die jchroffen Bildungen der Felsunterlage laſſen es nicht zu, daß der Schnee 
ſich wie eine gleihmäßige, glänzende Dede darüber ausbreite. Es gibt fteile 
Hänge, an denen fein Schnee haftet, oder two er jo loſe haftet, daß die geringfte 
Urſache ihn in donnernden Lawinen in die Tiefen ſchleudert; dann bleibt meift 
Nichts ala eine dünne Dede, die fi unter der Einwirkung der Sonne und 
jpäteren Gefrierens in Eis verwandelt, und es entftehen jene fteilen und glatten 
Pafjagen, die auch den Muthigften befangen maden. Daher die Mannigfaltig- 
feit des Anblids, two aus den weiten Firnmulden das Felsgebirge auffteigt, 
feine dunklen rate, feine fteilen Abftürze den Schnee durchbrechen, und himmel- 
ftürmend Nichts über fich dulden, als ſchwarzblauen Aether. — 

Doch dieje Verhältniſſe Laffen ſich nur deutlich erkennen, wenn man in das 
Herz der Hochgebirgswelt vorgedrungen if. Weitaus der größere Theil der 
Flächen ift jchneebededt und, aus der Ferne gejehen, ſchimmert die Alpenkette 
im reinften Weil. Die Schneemaffen müßten ſich nun in immer mwachjender 
Menge oberhalb der Schneegrenze anfammeln, wenn nicht aus ihnen die Gletſcher 
ſich erzeugten: jene mächtigen Eisftröme, welche den umgewandelten Hochgebirg3- 
jchnee aus den oberften Thalftufen weit unter die Schneegrenze hinabführen ; 
fie enden da, wo fie im Kampfe mit der zunehmenden Wärme unterliegen, oft 
inmitten der fräftigften Vegetation. Wie die Verwandlung des Schnee? in Ei3 
vor fich geht, von welchen phyſikaliſchen Gejegen es abhängt, daß die ſpröde 
Maſſe des Gletichers fi in langiamem Fluſſe bewegt, das tritt aus dem Rahmen 
unjerer Schilderung heraus. Es mag gemügen, auf die claffiiche Darftellung 
hinzuweiſen, die Helmholt in feinen „populären wiſſenſchaftlichen Vorträgen“ 
hiervon gegeben hat. 

Die Geſchwindigkeit des Eisftromes ift eine zu geringe, al3 dab ſich das 
Auge unmittelbar davon Rechenſchaft geben könnte. Aber da das Eid nicht 
dehnbar ift, jo bilden ſich überall, wo einzelne Theile jchneller abwärts gleiten, 
al3 andere, Spalten und Klüfte. Hieraus erklärt fi) die große Verſchiedenheit, 
welche ein Gletjcher in jeinem Laufe darbietet. Derjelbe Gletjcher, der in feinen 
höher gelegenen Theilen zuweilen jo ebene Flächen zeigt, daß er ein Tummel- 
plaß für Kinder jein könnte, zerklüftet fich unterhalb und nimmt phantaftijchere 
Geftaltungen an, als fie jelbft das vom Sturme gepeitichte und plößlich ſtarr 
gewordene Meer bieten würde. 

Bewegt man ſich von der Mittellinie eines Gletſchers aus auf das Thal- 
ufer zu, jo pflegen die Rifje zuzunehmen. Der Uebergang zu der Thalwand 
jelbft wird oft durch einen tiefen Schrund, der auf der einen Seite durch die 
Eiswand des Gletjchers gebildet wird, auf der anderen durch die Felswand des 
Thales, höchft gefahrvoll, wenn nit unmöglich gemacht, und nicht jelten befteht 
eine der Hauptſchwierigkeiten eines Hochalpenmarjches in der Bewerkftelligung 
eines jolchen Ueberganges. — Aber ehe man an den Rand des Gletichers über- 


In den Eid: und Schneeregionen der Hochalpen. 413 


haupt gelangt, hat man jene mächtigen Schuttiwälle zu überjchreiten, die unter 
dem Namen der „Moränen“ bekannt find. Sie laufen den Ufern de3 Gletſchers 
parallel und jind aufgebaut aus: den Trümmerſtücken, welche von den teilen 
Thalwänden auf den Firn und das Eis herabftürzen. Was über diefe Seiten- 
moränen fort bi3 in die Mitte des Gletjcher3 gelangt, wird an feinem Ende 
abgejeßt und bildet die Stirnmoräne. Die jogenannten Mittelmoränen laufen 
den Seitenmoränen parallel und find aus biefen durch den Zufammenfluß zweier 
Gletſcher entftanden. 

Im Hochjommer, namentlich nad langer, anhaltender Trockenheit, offenbart 
ſich der Gletjcher in feiner ganzen Schönheit, aber auch mit allen jeinen Schreden. 
Dann verdedt feine trügeriſche Schneehülle die tiefen Spalten, und man kann 
den Blick hinabſenken zwijchen bläulich ſchimmernde Eiswände, die mit wachjen- 
der Tiefe ein immer tiefere Blau entgegenftrahlen. Wer nächtlicher Weile, wie 
ich das unzählige Male gethan, über den Gletſcher zieht, findet jeine Oberfläche 
hart gefroren, oft jpiegelblant und dadurch für den Wanderer ungemein beſchwer— 
li; in weiten Umkreiſe herrſcht Todtenftille, alle Bewegung jcheint gebannt. 
Eine eijige Luft weht, wenn die Sonne fich erhebt und ihr gelbes Licht auf die 
bis dahin grauen Flächen wirft. Aber ganz ander3 geftaltet ſich das Bild, 
wenn man e3 in den erften Nachmittagaftunden betrachtet. Dann hat die Sonne 
ihre Wirkung ausgeübt, die Oberfläche des Gletſchers wird körnig, und e3 bilden 
ih Eisrinnen, in denen da3 Thauwaſſer ‚hinfließt; fie breiten ſich wie ein Net 
weithin aus, vereinigen fi) zu größeren Bächen, die dann in den Spalten ver- 
ihwinden, oder in trichterfürmigen Löchern, die man „moulins“ oder Mühlen 
nennt. Ueberall quillt und ftrömt es; man hört das Raufchen der Bädhlein 
und das Toben der in die „Mühlen“ geftürzten Waller, oft auch unterixdiiches 
Murmeln, das geheimnißvoll an unjer Ohr jchlägt. Die alte Beleuchtung des 
frühen Morgens hat aufgehört, die Landichaft hat volle, gefättigte Farben an- 
genommen; die Tyelfenblöde, die auf dem Gletjcher zerftreut liegen, fühlen ſich 
nicht mehr eifig an und laden zum Ausruhen ein. Nur zu gern überlaffen wir 
una dort unjeren Träumereien, jchauen hinauf zu den Bergen und folgen in Ge- 
danken dem behenden Lauf de3 Stromes, der dem Gletſcher entquillt und jein 
belebendes Naß und den aufgewwirbelten fruchtbaren Schlamm der zermalmten 
Gejteine den Thälern und Ziefländern zuführt. Wie brennend die Sonne aud) 
auf diefen ruhen mag, in gleihem Maße läht fie die unverfiegbare Quelle des 
Gletſchers fließen; — wahrlich eine Anordmung, jo unmittelbar befriedigend für 
den menſchlichen Geift, wie faum eine andere in dem Haushalt der Natur. 

Aber nit immer zeigt ſich der Gletſcher in dem Glanze feiner Schönheit. 
Wenn Schneeftürme über ihn hinwüthen, die blauen Spalten überbrüden, die 
Berge verhüllen und auch den erfahrenften Führer irre leiten — dann denkt der 
Wanderer an Nichts, al3 an feine Rettung aus den fihtbaren und unſichtbaren 
Gefahren, die ihn umgeben. Auch da3 geübtefte Auge vermag fchlieglich nicht 
mehr zu untericheiden, ob der Schnee auf feſtem Eiſe aufliegt, oder nur einen 
Schlund überbrüdt. Manche diefer Schneebrüden ertragen da3 Gewicht eines 
Menſchen und jelbjt viel größere Laſten; aber andere find jo loder gefügt, daß 
der Unglüdliche, der fich ihnen anvertraut, hindurchbricht und — wenn er allein 


414 Deutihe Rundſchau. 


und nicht durch ſtarke Seile mit den Gefährten verbunden ift — hinabfinkt, 
dem elenden Tode des Erfrierend und Verhungerns preiögegeben. 

Wie groß und mannigfach nun auch die Schwierigkeiten fein mögen, welche 
die Gleticher auf ihrem Langen Laufe dem aufwärt3- und vorwärtsftrebenden 
Wanderer entgegenftellen, jo muß man doch in ihnen die natürlichen Wege jehen, 
die zu den Firnregionen und auf die Kämme des Gebirges hinaufführen. Denn 
eine Umgehung des Gletſchers mit Hilfe der ihn einjchliegenden Felsrücken ver- 
bietet ih — wenigftend im Oberlaufe des Gletſchers — meift durch deren 
ichroffe Geftalt; und wo die zu große Zerklüftung des Eijes ein unüberwind— 
liches Hinderniß, der Uebergang zur Thalwand aljo eine Nothwendigkeit wird, 
pflegt der Reijende jeinen Zweck nur durch die halsbrechendſte Kletterei zu erreichen. 

Haben wir den Gletjcher glüdlich überwunden und ftatt des Eiſes körnigen 
Firnſchnee unter den Füßen, jo werfen wir prüfend und erwartungsvoll einen 
Blick auf dad vor uns liegende Gebiet. Wir befinden uns in einer höheren 
Stufe de3 Thals und ftehen den längft aus weiter Ferne bewunderten Berg- 
riefen gegenüber. Sie richten fi ernft und abmwehrend aus weiten Schnee- 
mulden vor uns auf, unnahbare Dtajeftät umgibt fie. — Eine ermüdende und 
monotone Wanderung über die janft geneigte Schneefläde bringt uns an ihren 
Fuß, und nun beginnt die entjcheidende Arbeit. Die Schneehänge, die zur 
Firnmulde abfallen, find jo fteil, daß der Ilneingeweihte es für ein phan— 
taftijches Beginnen hält, an ihnen hinaufklettern zu wollen. Man prüft die 
Beihaffenheit de3 Schnees; drückt fich der Fuß leicht in ihn ein, ohne zu tief 
einzufinten, jo hat man mäßige Arbeit; e8 bedarf dann nur eines ficheren Trittes, 
eines unerjchrodenen Gemüthes; ift aber die Oberfläche vereift, oder noch 
ihlimmer — liegt eine leichte Dede friſch gefallenen Schnee auf der jpiegel- 
glatten Unterlage, dann kann man fi) nur mit Hilfe der Art, dur Einhauen 
von Stufen, den Weg bahnen. Die körperliche Anftrengung, das Bewußtfein 
der Gefahr, das Ausgejchiedenjein aus der Welt der Menjchen und alles Leben— 
den erhöhen die Empfänglichleit der Seele für die Eindrüde der umgebenden, 
erhabenen Wildniß. — Schon fann der Blid hinwegichweifen über Rüden, zu 
denen er bi3 dahin auffehen mußte, und ſtückweiſe entwidelt fi) da3 Pano— 
orama. Aber noch bleibt viel zu thun übrig. Aus den fteil aufgerichteten 
Schneefeldern, die glücklich nach mehrjtündiger Anftrengung überftiegen find, 
erheben fich die Felſenabſtürze, mit denen die Hauptmafje der zu erflimmenden 
Spitze gegen die Firnregion abfällt. Seht beginnt wieder eine ganz andere 
Art von Thätigkeit. Der Fuß allein reiht nicht mehr hin, um einen Halt an 
ber faft ſenkrechten Wand zu gewähren; es bedarf auch der Hand, die nad) den 
kleinen Vorjprüngen und Höckern greift, um da3 Gewicht des Körpers zu 
mindern. Hier ift viel weniger auf die Steilheit, al3 auf die Oberflächen- 
beichaffenheit des Felſens Rückſicht zu nehmen. ft er zerklüftet und verwittert, 
weicht er dem Fuß und der Hand, jo ift die größte Vorficht geboten, und ſorg— 
jam muß man an jedem einzelnen Stein rütteln, um zu wiffen, ob er aud) 
halten wird. An jolden Wänden, namentlich wenn fie in früher Morgenftunde 
pajfirt werden, pflegt es eifig kalt zu fein, und die an dem Felſen herumtaften- 
den Hände leiden alsdann durch heftigen Schmerz. Es ift befannt, bis zu 


In ben Eid: und Schneeregionen ber Hochalpen. 415 


welchem Grade die Kälte jede kräftige Willensäußerung lähmt. Man ftelle ſich 
die Lage des Wanderers vor, der vor Froſt zitternd, mit der Hand den Falten 
Fels faflend, auf ſchmalem Vorſprung ftehend, der faum für einen Fuß Platz 
läßt, tief umter fi den Abgrund fieht, und auf den plögli die Schreden 
feiner Lage einftürmen! Es wird Nacht vor jeinen Sinnen, er weiß feinen 
Ausweg mehr, und wenn er dennoch gerettet wird, jo verdankt er e3 der Auf- 
opferung jeiner Gefährten. Solche Fälle find vorgelommen; aber auch joldhe, 
two der Ausgang ein unglüdlicher war, und wo menjchliche Aufopferung und 
menfchliche Verzagtheit ein gemeinfames Grab in der Tiefe fanden. 

Endlich befindet man fi) an dem Felsrand, greift in den darauf gelagerten 
Schnee und ſchwingt fi auf den Grat. — Wie aus einem Kerker befreit, blickt 
man frei und weit um fi. Auf einer Schneide ftehend, zur einen Seite die 
überwundene Felswand, zur anderen abjchüffige Schneefelder, ſieht man tief 
unten neue Gletjcher Liegen, rings um fi) Schnee» und Felskuppen — der 
ſcharfe, ſchmale Grat erhebt ſich in ſchön geſchwungener Linie, auf der man den 
Meg zur höchſten Spite vorgezeichnet hat. — Mit größter Vorſicht ſchlägt 
man Stufen in's Eis, oder ftampft jolhe mit dem Fuße in den Schnee; denn 
man geht ganz frei wie auf einem Seil, und hat weder Feld noch Schnee, die 
Hand einzujchlagen, wenn man fühlt, daß man zu gleiten beginnt. Noch ein- 
mal treten Felſen aus dem Grat hervor — e3 find die Felſen der höchften Spite, 
auf die wir jet den Fuß ſetzen. Gin mwunderfames und exrhebendes Gefühl 
der Befriedigung belohnt Hier den Wanderer. Nein, wie die Lüfte, die er 
athmet, geftaltet fich fein Empfindungsleben. Jedes unlautere Gefühl der Ver— 
mefjenheit jcheint zu jchrwinden. Eine ungefannte Energie bemächtigt ſich feiner, 
und aus dem Mtenjchengewirre, das er tief unter fich gelafjen, fteigen feine 
Mikklänge mehr zu ihm herauf. 

Nichts hemmt den Blick; aber unbegrenzt, wie die Rundſicht ift, empfängt fie 
doc ihren Stempel von der nächſten Umgebung. Dieje tritt nicht, wie beijpiels- 
weiſe beim Rigi oder beim Faulhorn, gegen die ferner gelegenen hohen Ketten zu- 
rüd, jondern drängt mit der ganzen Gewalt ihrer ſchroff geformten Maſſen gegen 
und an. Dazu fommt noch das Ungewohnte, daß wir dieje wilden Hochthäler, dieje 
in die Tiefe ftürzenden Felsmauern, diefe fteilen Schneefelder, dieſe weithin ge= 
wundenen Gletjcher von oben nad) unten betrachten, ftatt, wie jonft, von unten 
nad oben. Wir könnten uns bedrüct fühlen durch die große Nähe all’ der 
vielgeftaltigen Maſſen; aber der beruhigende Blick in die weite, unabjehbare 
Ferne jet und wieder in’3 Gleichgewicht. Schimmernde Ketten erheben ſich im 
Hintergrunde; injelförmig fteigen fie auf aus einem Luftmeer, das von dunkleren 
Berglinien getragen wird; fie haben nichts Schredhaftes mehr für uns, und 
indem twir den Blick auf ihnen ruhen lafjen, erholen wir uns ſelbſt. Das ver- 
worren jcheinende Bild geftaltet fi zu immer größerer Klarheit; wir unter 
ſcheiden einzelne Ketten, einzelne Kuppen, einzelne Felszähne; wir vergleichen 
die große Verfchiedenheit der Gebirgsformen, wir beivundern die Schönheit der 
Linien in der einen Kette, die fühnen Umriffe in der anderen, kaum glauben 
wir an ihre große Erhebung, an die Weite ihrer Erftredtung, jo harmoniſch 
gegen einander abgeftimmt find die Verhältnifie. 


416 Deutſche Rundſchau. 


Die höher ſteigende Sonne und der weite Marſch mahnen den Wanderer 
zur Rückkehr. Der Schnee iſt weich und locker geworden, er ſtrahlt das Licht 
jo weiß und blendend zurüd, wie er e3 empfangen hat. Man muß das Auge 
durch Blendgläſer ſchützen, die austrodnende Haut dur Einveibung gefehmeidig 
erhalten, Hinterhaupt und Naden mit einem weißen Tuche bededen, wenn man 
ben jchmerzhaften Einwirkungen diefer Rüdjtrahlung entgehen will. Iſt das 
Abwärtäjteigen mit einem geringeren Aufwand phyfiicher Kraft verbunden, jo 
erfordert e3 dafür in höherem Grade einen ficheren und muthigen Tritt. 
Manchen, der furchtlos eine Schneetvand erflommen, befällt ein Gefühl der 
Bangigkeit, wenn er ben Abftieg vor fich fieht; aber ein ängjtliches Abwägen 
jedes Schrittes ift num nicht mehr am Platz. Iſt die fteile Schneide über- 
twunden, jo lafjen jich die Felſen, die in der Frühe eine jo gefährliche Pafjage 
bildeten, zuweilen duch einen längeren Weg über den Schnee umgehen. Dann 
fann man, wenn da3 Glück günftig ift, oft mehr al3 taufend Fuß in une 
glaublich kurzer Zeit zurüdlegen. Indem man niederfikt, die Beine nad) vorn 
wegſtreckt, den kurzen Stock de3 Gletjcherbeil3 als Hemmſchuh benuht, fängt 
man an zu rutſchen, anfänglid langfam, dann jchneller und jchneller. Ein 
Theil des Schnee fett ſich gleichfalls in Bewegung, und bald glaubt man, 
in einem pfeilichnell dahinſchießenden Schneeftrom zu ſchwimmen. Das Ber- 
gnügen, da3 man bei diejer Art der Fortbewegung empfindet, ift unbejchreiblich 
— vorausgeſetzt, daß man jeiner Sade fiher if. E3 kann aber geichehen, 
daß, indem man fi duch Anjchlagen mit einem Fuß einen ſeitlichen Stoß 
verjeßt, der Körper gedreht wird und, ftatt zu gleiten, zu vollen beginnt. So- 
fort ift man in eine Wolke aufgetvirbelten Schnee eingehüllt, und ohne Macht 
über die Bewegung wird man twillenlos fortgeführt und ſteuert in erjchreden- 
der Geſchwindigkeit der Tiefe zu. — So erging e3 mir im Jahre 1860 an den 
Abhängen des Großglodner. 

Tiefer und tiefer abwärts fteigend, betreten wir endlich den Gleticher von 
Neuem, und der Eirkel unjerer Betrachtung ſchließt fi) da, wo das erſte Grin 
der Matten uns lieblich entgegenfchimmert, wo der Senne feine Heerde treibt, 
two die lebendige Schöpfung uns wieder in fi aufnimmt. 


II. 


Meine Alpenteijen hatten im Yahre 1859 begonnen und waren im Laufe 
von jech3 Jahren fünfmal wiederholt worden, da3 Glüd hatte mir unwandel— 
bar zur Seite geftanden und meiner Jugend den ſchönen Wahn erhalten, daß 
alte Schwierigkeiten zu überwinden ſeien. 

Als daher im Juli 1865 die Kunde ericholl, daß da3 Matterhorn zum 
erften Mal von vier Engländern und drei Führern erftiegen jei, und daß von 
diejen fieben Männern vier zerichmettert am Fuße des Felsrieſen lagen, zweifelte 
ich feinen Augenblick daran, daß es mix gelingen würde, glücklich durchzuführen, 
wa3 Andere mit einer Kataftrophe bezahlt Hatten. Noch in demjelben Yahre 
eilte ih an Ort und Stelle, nachdem ich mich zuvor in einem anderen Theile 
der Schweiz auf das Nückfichtslofefte zu meinem Vorhaben trainirt hatte. 

Das Matterhorn gehört befanntli zu den Wallijer Alpen, von denen 


In den Eis- und Schneeregionen der Hocdalpen. 417 


man jagen darf, daß fie mächtiger enttwidelt find, al3 irgend ein anderer Theil 
ber Schweizer Alpen. Tauſende pilgern jährlih vom Nhonethal aus ſüdlich 
nach dem kleinen Alpendorfe Zermatt und begeben fi) von da aus auf den Riffel- 
berg und den Gorner-Grat. Dort halten fie Umſchau auf einen Kranz fchnee- 
gefrönter Häupter, die jie von allen Seiten umjchließen. Dem Monte Roja fteht 
man gerade gegenüber, — aber wie prachtvoll ex auch ericheinen mag, und wie 
ſchön fich alle übrigen Berge neben ihm ausnehmen: ftet3 twendet fich der Blid 
wieder dem Matterhorn zu, da3 wie ein großes, fteinernes Räthſel aus weiten 
Gletſcherbecken iſolirt zum Himmel aufragt. So fühn, wie diejer, fajt 14000’ 
hohe Fellenzahn, erhebt fich fein zweiter in der ganzen Alpenwelt, und drohend 
und abſchreckend erſcheint er Dem, der vorhat, ihn zu erfteigen. Den Engländern, 
vor Allem dem fühnen und erfolgreihen Mr. Whymper*), gebührt der Ruhm, 
fieben Jahre lang an diejer Aufgabe ſich verſucht und fie endlich gelöft zu 
haben; aber freilich, mit welchen Opfern! Faſt gleichzeitig mit den Engländern 
gelang e3 italienischen Führern von der Südſeite aus, die Spitze zu erreichen; die 
Staliener waren Ion auf ihrer mehrtägigen Befteigung begriffen, als fie die 
Flagge der Engländer unverhofft über fich wehen jahen, und während auf der 
einen Seite des Berges vier Männer mühſam fletternd ſich erhoben, ftürzten 
eben jo viele auf der anderen in jähem Fall dem Tod in die Arme, 

In Zermatt angelangt, Tieß ich jofort den alten Führer Peter Taug- 
walder fommen, der mit feinem älteften Sohne und Edward MWhymper aus 
der Matterhorn» Kataftrophe lebend hervorgegangen war. Diejer Mann hatte 
auf der Spite geftanden, er mußte den einzigen möglichen Weg durch die fich 
aufthürmenden Feljenlabyrinthe fennen, ein hoher Gewinn ftand ihm in Aus- 
fiht, und dennoch — als ih ihm mein Vorhaben mittheilte, erſchrak er 
heftig, Juchte mir abzurathen, und bat endlich flehentlich, ich möchte unterlaffen, 
was nicht qut enden könne. 

Die großen Schweizerführer, d. h. die Führer, die nur im Hochgebirge 
gehen, find höchſt achtbare Männer. Sie verbinden mit einer bewunderungs- 
wirdigen Bergfenntniß große körperliche Gewandtheit und Zähigkeit im Er— 
tragen oft übermenſchlicher Anftrengungen. Es ift herrlich zu jehen, mit 
welchem Muth fie ih an die gefährlichiten Pafjagen machen, mit welcher 
Opferwilligkeit fie ihr Leben einjegen, wenn das Leben Anderer bedroht ift. 

Der alte Taugwalder war ein viel exrprobter Führer, und wenn er abrieth, 
jo Hatte er guten Grund. ch war aber nicht zu dem Zwecke gefommen, mir 
abrathen zu laſſen, und gebrauchte die ftet3 bewährte Drohung, daß ich mir 
Führer aus Bern oder Chamonir holen würde, um mein Vorhaben durchzufegen. 
So verabredeten wir denn in größter Heimlichkeit, von der italienischen Seite 
aus den Verſuch der Erfteigung zu machen, weil der friiche Schnee auf der 
Nordjeite Feine Chancen bot. Wir zogen über den Gletſcher-Paß de3 Theodul; 
der jüngere Sohn des alten Taugwalder, der al3 zweiter Führer dienen follte, 
ftieß erjt auf dem Wege zu uns, damit alles Aufjehen vermieden werde. Im 





*) ©. barüber Ed. Whymper, Berg: und Gleticherfahrten, autor. deutiche Bearbeitung. 
Braunichweig, Weſtermann. .1872. 
Deutjce Rundſchau. IIT, 9. 28 


418 Dentiche Rundichau. 


Bal Tournande wurden die nöthigen Provifionen beſchafft und en Mann 
gemiethet, der die Deden bis zum erften Nachtlager tragen ſollte. Denn wir 
hofiten in ?/; Höhe der Pyramide in den Felſen zu nächtigen. 

Am 18. September 1865 um 1 Uhr Nachts rüdten wir aus; um 8 Uhr 
Morgens überfhritten wir die Schneide ziweier Firnfelder, die ein in bodenloje 
Tiefen abfallendes Kirchdach vorftellten, und betraten damit die eigentliche 
Pyramide de3 Matterhorns. Die Hletterei wurde wild und gefährlid, fein 
Schnee, fein Eis, nur Fels; bereits um 9 Uhr waren die Kräfte des italienijchen 
Träger? vor Furcht dermaßen erlahmt, daß wir ihn zurüclaffen mußten auf 
einer Tyelienplatte, wo er weder vorwärts noch rückwärts konnte Wir theilten 
nun die Laften unter und und fletterten weiter. So ging e3 bis gegen 3 Uhr 
Nachmittags, wo wir etwa 1500 unter der Spiße fein mochten; aber die glatten 
Wände, die ſich nun vor und aufrichteten, jpotteten jedes weiteren Vordringens. 
Ale Verfuche ſcheiterten; wir mußten umkehren und erreichten unjeren Aus— 
gangspunkt um 11 Uhr Abends nad) 22 Stunden ununterbrochener Anftrengung. 
Ach hatte nur den einen Troſt, daß kurz nad) dem Verlafjen der Stelle, an der 
wir umkehrten, eine donnernde Steinlawine, die fi) von der Spite des Mtatter- 
horns losgelöft, über diefelbe hingebrauft war, und daß mein Mißgeſchick mich 
vor einem ficheren Tode bewahrt hatte. Aus diefem Grunde wollten auch die 
italieniihen Führer, mit denen ic) die Befteigung Togleicdy wieder aufzunehmen 
wünjchte, in der vorgerücdten Jahreszeit Nicht3 mehr unternehmen und ver- 
tröfteten mich auf’ nächſte Jahr. Aber der Krieg des Jahres 66 und jpätere 
Reifen brachten mic) exrft im Jahre 1868 wieder an den Fuß des Matterhornd. 

Nun verjuchte ich es auf der Nordjeite und ftand am frühen Morgen des 
10. Auguft auf der Spite. Wer dort oben fteht, glaubt fi) von der Exde 
losgelöſt; der Boden jcheint feinen Füßen entzogen; jäh fällt es ab um ihn 
her, und erft viele taufend Fuß tiefer wird der Blick dur jchimmernde 
Gletjcherbeden aufgehalten. Von unten her grüßt das jtille Dorf Zermatt, und 
wendet man den Blid, jo fieht man hier die italienischen Berge und dort ben 
Montblanc in vollfter Majeftät, und wiederum dort die in ihrer Schönheit 
unerreichte Kette der Berner Alpen. Ueber dem Monte Roja lagert eine 
Molke, und im glänzendften Weiß erjcheint die Cima di Jazzi, erjcheinen die 
Firnfelder, aus denen fie hervortritt. 

Von Zermatt aus hatten wir die nad) Often jehende Felswand der Matterhorn- 
Pyramide erklommen und dajelbft in einer Höhe von etwa 11,000° die Nacht 
verbracht; wir ſuchten aladann den Grat zu erreichen, wo die Oftwand und die 
Nordwand fich begegnen, und betraten letztere an der Stelle, wo die Felſen 
einen Ueberhang haben. Hier nun begann die eigentlich große Gefahr. Die 
Felswände find glatt, mit einer dünnen Eiskruſte überzogen; an Kleinen Bor- 
fprüngen für Hand und Fuß fehlt e8, kaum flettert man anders als mit auf- 
gelegten Snieen oder mit dem ganzen Körper gegen den Fels gelehnt; dabei ift 
es erſchrecklich kalt. Wer hier anfängt zu gleiten, iſt gnadenlos verloren, und 
Alle mit ihm, die dur ein Seil aneinander gebunden find; und darin eben 
liegt eine nicht immer zu beſchwörende Gefahr. Iſt diefe Paſſage überwunden, 
jo kommt man an zwei fteil aufgerichtete Schneefelder, die bis zur Spike führen. 


In den Eid: und Schneeregionen der Hochalpen. 419 


Auf diefen Schneefeldern that der unglüdliche Mr. Hadow im Jahre 1865 einen 
Fehltritt, ftürzte, fing an zu gleiten und zog feine ſechs an demjelben Seil 
befindlichen Gefährten mit ſich fort; das Seil zerriß vor dem alten Taugmwalder, 
und dadurch wurde drei Menjchen das Leben gerettet. Das Abwärtsklettern ging 
für und ohne Unfall von Statten, forderte aber das Zulammennehmen aller 
Kräfte. Bereits um 4 Uhr Nachmittags erreichten wir Zermatt. 

Unter der angenehmen Nachwirkung diejer Expedition beſchloß ih noch 
einige andere Unternehmungen und fand den alten Taugwalder bereit, unter 
Ausschluß irgend anderer Begleitung mein Führer zu jein. Dieſe Bereitwilligkeit 
de3 Mannes, der jeit der Matterhorn-ataftrophe hart angefochten blieb, ſpricht 
jehr zu feinen Gunften; denn e3 handelte ſich Hier nicht um eine gewöhnliche 
Hodalpentour, wie etiva der Monte Roja bietet, jondern um einen der ver— 
rufenſten Gletſcherpäſſe der ganzen Alpenkette, nämlich um das Alte Weißthor. 
Taugwalder ſetzte ſich für den Fall eines Mißlingens oder Unglücks weit härteren 
Vorwürfen aus, ala wenn noch andere Führer uns begleitet hätten; und an 
Leib und Leben wagte er weit mehr, da ſein Geſchick nur ausſchließlich an mein 
Verhalten geknüpft war. — Für den erfahrenen Bergfteiger liegt aber ein ganz 
eigener Reiz darin, nur einen Führer zu haben. Man ftellt fi dann ganz 
auf die gleihe Stufe mit ihm, betradhtet ihn al3 Gefährten, dem man ebenjo- 
viel Hilfe jchuldig ift, al3 man von ihm erwartet; man greift jelbft energiich 
in den Verlauf des Unternehmens ein, beräth und prüft mit dem erfahrenen 
Freunde, der in Fällen des Zweifel und der Gefahr die Stimme des erprobten 
Fremdlings gern hört. 


II. 


Der Grumd, daß die Wallijer Alpen fi von dem Gorner Grat bei Zermatt 
aus wie ein Kranz darftellen, liegt darin, daß die Hauptlette, die von Weſt 
nad Oft läuft, zwei ebenjo mächtige Ketten nach Norden zu ausfendet, zwijchen 
denen Zermatt eingebettet liegt. Aus dem Hauptjtod erheben ſich die Dent 
d’Herens, das Matterhorn, das Breithorn, die Zwillinge, der Lyslamm und 
der Monte Roja mit jeinen 7 bis 9 Spiten; die eine Seitenfette, welche ſich 
von der Dent d'Hérens abzweigt, trägt die Dent Blanche, das NRothhorn und 
das Weißhorn, die andere, vom Monte Roja ausgehende Kette, die Cima di 
Jazzi, das Rimfiichhorn, den Allalin und die Mijchabelhörner. — Die genannten 
dreizehn Spihen, aufeinander gethürmt, würden die Höhe von faft 56,000 Metern 
erreichen, ihre Durchſchnittserhebung ift aljo 4300 Meter oder 13240 Par. Fuß. 
Diefe Zahlen werden wol am beften für die Großartigfeit der Verhältniffe 
Iprechen. Die Umbiegung, welche die Hauptfette am Monte Rofa erleidet, bewirkt, 
daß diefer Berg nach Often und Süden wie ein gewaltiger Edpfeiler erjcheint 
und das berühmte Gircusthal von Macugnaga bildet. Zu diefem führt von 
Zermatt auß, hart an der Kuppe der Cima di Jazzi ber, der genannte Pa 
bes Alten Weißthor, den jelbjt nur wenige der großen Führer fennen. Das 
Thor liegt 3576 Meter oder 11,007 Par. Fuß hoch, und Nichts ift leichter und 
langweiliger, al3 e8 vom Riffelhauje aus über den Gorner Gletjcher zu erreichen. 
Erft beim Abftieg nach Italien zu erkennt man, um was e3 ſich handelt. Das 


28* 


SS 


Gebirge ſtürzt in ſchneeloſen Hängen nach unten, wie eine einzige Felſenmauer 
erhebt fi) der Monte Roja aus der Tiefe. 

Unfiheres Wetter hatte den frühen Aufbrud vom Riffelhaufe oberhalb 
Zermatt verhindert, und erft um 12 Uhr Mittags ftanden wir nad) einer 
unbequemen Wanderung durch den ermweichten Schnee auf der Paßhöhe. Dennoch 
hofften wir noch in derjelben Naht Macugnaga zu erreichen und hatten deshalb 
unſere Provifionen nur auf einen Tag bemeſſen. Das Hinabklettern begann, 
während leichte Nebel gegen und heraufzogen und dem freien Ausblick Hinderten. 
Wir hatten das Gepäd gleihmäßig vertheilt und theilten uns auch jonft ehrlich 
in die Arbeit, die das Klettern und das Ausprobiren paffirbarer Pfade erforderte. 
Dft mußten wir un am Seil hinunterlaffen, das doppelt um den Fels gelegt 
und nad dem Gebraud mit einem gejchieften Ruck von unten her wieder los— 
gejhnellt wurde. Das trübe Wetter erjchiwerte die Orientirung. Wir befanden 
und an der linfen Wand de3 Teljenthals, und unjere Aufgabe war, den tief 
unter una eingebetteten Gletjcher zu erreichen. Wir probirten hier, wir probirten 
dort — immer vergeblidh; wir Hatten bereit3 fieben Stunden in den Felſen 
geflettert; e& fing an zu dunkeln. Unfere Lage wurde mißlich. Aus der glatten 
Wand trat eine jchmale Felsleiſte hervor, längs deren ein Uebergang zum 
Gletſcher möglich ſchien. Ein Eleiner Waflerfall ſchlug gerade auf fie auf. Ich 
ging voran und mußte langjam, auf allen Vieren Friechend, den Waflerfall über 
mich ergehen laſſen. Der alte Taugwalder folgte. Am Ende angelangt, wollte 
ih uns durch einen Fühnen Sprung aus der Ungewißheit unjerer Lage befreien, 
aber der erfahrenere Führer ließ es nicht zu. Wir fehrten um, und zum zweiten 
Mal ergo der Wafjerfall jeine Fluthen über unjere Kleider und Leiber. Soeben 
noch erhitzt durch Aufregung und Anftrengung, jet bis auf die Haut durchnäßt, 
fühlte ich mid) bald von einer Art Schüttelfroft gepadt. Unſere Vorräthe 
waren verzehrt, die Nacht Hereingebrochen, wir jelbft hoffnungslos verirrt, ohne 
Nahrung, ohne Lager, ohne ein ſchützendes Dad) und ein wärmendes Feuer. 
Wir verbrachten die Naht auf einer Felsplatte und jahen den Gletjcher gerade 
unter und. Unjer Schickſal war in der That beflagenswerth. Als der Morgen 
graute, waren wir dem Erftarren nahe; aber nun führte uns die Verzweiflung. 
Wir Hetterten den Abgrund zum Gleticher hinab, und nad einem Marjche von 
fieben Stunden erreichten wir Macugnaga mit dem Glodenjchlage 12 des 
15. Auguft. — VBierundzwanzig Stunden waren gerade verfloffen, jeit wir dıe 
Höhe des Alten Weißthor verlafien hatten. 

Es ift wunderbar genug, daß dieje furchtbare Naht ohne alle Folgen an 
mir vorübergegangen ift. — Denn jchon am nächſten Tage begab ich mid) über 
den Monte Moro in das Saa3- Thal und kehrte von dort über Zermatt und 
den Col d'Hérens in’3 Rhonethal zurüd. 





420 Deutſche Rundihan. 


IV, 


Meine Wanderungen in den Berner Alpen übergehe ich, weil fie nichts 
Beionderes bieten; höchſtens könnte die Erfteigung des Schreckhorns von Anter- 
efje jein. Vielmehr führe ich den Lejer von Neuem an die Grenze der Schweiz 


— 


In den Eis- und Schneeregionen der Hochalpen. 421 


und Italiens, in die Centralkette der Bernina-Alpen und ihre wenig ge 
fannte jüdmweftliche Verlängerung. 

Bon dem Gebirgsknoten der Maloja aus jenken ſich nad entgegengejeßter 
Richtung zwei Thäler ab; das eine ift das Oberengadin mit dem Innſtrom, 
das andere das Bergellthal, defien Waſſer dem Comerſee zufließen. 

Aus diefen Ihälern fteigen im Süden die ebenerwähnten Berge auf; fie 
werden durch den Morettopaß in zwei Gruppen zerlegt, in bie eigentliche 
Bernina-Gruppe, und in die des Monte della-Disgrazia;, und in allgemei- 
ner Faffung darf man jagen, daß fie fich von der Nordipige des Comerjees bis 
nad) Bormio, zu dem Urjprung der Adda, erjtreden. 

Das Engadin hat feine vielbeftrittenen Reize Der kalte, jungfräulicdhe 
Hauch, der über diefem Thal und feinen Bergen lagert, zieht an und ſtößt 
ab. Ich Habe mich oft aus der Ferne in jenes ftille Thal zurüd gejehnt, mit 
jeinen fanftgrünen Matten, jeinen Zirbeltiefern, jeinen Seen, feinen weißen Stein- 
häufern, feinen liebenswürdigen Bewohnern. — Die höchften Gipfel der Bernina- 
Gruppe find der Piz Bernina, der Zupd, der Rofeg, der Palii und bie 
Grefta giizza. Ich habe fie ſämmtlich erftiegen; ihre Durchſchnittshöhe liegt 
etwas über12,000%. Die Hauptgleticher der Schweizer Seite find die des Morteratſch 
und Roſeg, auf der italieniſchen Seite die von Scerſcen und Fellaria*). Am 
impoſanteſten iſt der obere Theil des Roſeggletſchers, der Tſchirvafirn, der bis 
an den Centralſtock zwiſchen Piz Bernina und Roſeg reicht und von mächtigen 
Seitenketten begrenzt wird. 

Bei allen meinen Unternehmungen war der in Pontrefina wohnende 
Führer Hans Graf mein treuer und muthiger Begleiter. Ich Hatte ihn, er hatte 
mich erprobt bei Gelegenheit der Befteigung des Monte della Disgrazia, 
wohin wir don Pontrefina aus eine mehrtägige Entdeckungsreiſe unternommen 
hatten**). Die Folge davon war, dat wir beichlofien, die höchfte Spike des 
Piz Rofeg zu verjuchen. Es war bis dahin nur ein einzige Mal einem Berner 
Führer und zwei bewährten Alpen-Clubiften gelingen, den Gipfel zu exklimmen. 
Von meiner Befteigung ***) till ich hier nur das lebte Stüd mittheilen. 

Der Piz Rofeg befigt zwei Spitzen (3927 m. — 12,088 P. F. md 
3948 m. — 12,187 P. F) die mit einander durch einen eingeſenkten, völlig 
verichneiten oder vereiften Grat verbunden find. Wir hatten die niedere 
oder Schneefuppe am 27. Auguft 1869 des Morgen? um 8 Uhr erreicht; 
fie Hatte ung die ſüdöſtlich davon gelegene höchſte Spike bisher verdeckt, 
deren glänzende Eispyramide num plötzlich vor uns aufragte. — Der Anblick 
war abſchreckend. Statt des erwarteten Schnees ſahen wir nur Eis. Ein 
heftiger Wind, der durch alle Kleider drang, machte uns vor Froſt klappern, 
und Hans Graß rief: „Wenn ich von da geſund herunter komme, gehe ich gewiß 
nicht wieder hinauf“. Der Weg lag haarſcharf vor ums. Wir mußten uns 
einige Fuß unterhalb der Schneide Halten und ftiegen hinab bis zu dem 


*) ©. die Ziegler'ſche topogr. Karte des Oberengabin, 4 BI. 1:50,000. 
**) S, Jahrbuch des Schweizer Alpen-Club3 Band VIIL 
“++, ©, Jahrbuch des S. A.“C. Band VI. 


422 Teutſche Rundichau. 


Punkt, two diejelbe umſetzt, und al3 Kante der Pyramide fteil auffteigt. Zur 
Linken jahen wir in bodenloje Tiefen bis auf die Fläche des Tſchirvafirns, zur 
Rechten auf die Gletſcher des Sella-Pafjes. Ein 50° langes Seil verband den 
Führer und mid. Da ein einziger Fehltritt ung rettungslos in’3 Verderben 
gejtürzt hätte, jo marſchirten wir niemals gleichzeitig. Während Hans Graf 
Stufen ſchlug und fi langſam von mir entfernte, ftand ich, das Gleticherbeil 
in den Schnee gebohrt, das ftet3 gefpannte Seil um dafjelbe geſchlungen, auf 
jeden Schritt meines Führers achtend. War das Seil zu Ende, jo folgte ich 
vorfichtig nad. Nachdem in diefer Weile das erfte Drittel der fteilen Kante 
zurückgelegt war, trafen wir auf brödeligen Fels, dem eine dünne Eisſchicht 
aufgelagert war. Dies war die Ichlimmfte Stelle; — fie erforderte zwanzig 
Minuten. Wir waren nun mitten in der Action. Der Gefahr, die hinter 
uns lag, ftellte fic eine glei große vor uns entgegen; zur Linken ftet3 der— 
jelbe furchtbare Eisabgrund, zur Rechten, über die Kante fort, ein noch größerer. 
Auf blankem Eiſe ftehend, unaufhörlih dem jchneidenden Winde ausgelegt, 
fürchtete ih, duch Erftarrung die Herrſchaft über mich zu verlieren; denn 
während Hans Graf die Stufen ſchlug, mußte ich oft minutenlang fejtgervurzelt 
an derjelben Stelle bleiben. Doch eine angeſpannte Willenskraft vermag viel 
und ſiegte auch über diefe drohende, entjetliche Gefahr. Aber jo eigenartig 
wirkte diefer Kampf mit der Gefahr auf mich ein, To jehr entfelfelte er — 
noch während ich mitten in ihm ftand — die Schwingen meiner aufftrebenden 
Empfindungen, jo wunderbar verflärt erjchienen mir meine Umgebungen, daß 
ich wirklich” glaubte, die Natur Habe ihre großartigften Offenbarungen dem 
Unerſchrockenen allein vorbehalten. — Nah 1 Stunde und 39 Minuten tvar 
die Arbeit gethan, der Ichwindelnde Grat überwunden; wir ftanden da, wo 
wir hatten ftehen wollen. Der Aufenthalt auf der Höhe währte 1%, Stunden. 
Am mächtigſten wirkte der Anblid de3 Piz Bernina, auf der anderen Seite 
des Abgrunds auffteigend, zu dem der Piz Rojeg abfällt. 

Hans Graf und ich pflegten nie eine höhere Spike zu verlaffen, ohne feſt— 
zufegen, was demnächſt unternommen werden ſolle. Wir beftimmten den Piz 
Bernina (4052 m. — 12,474 P. F) als das nächte Ziel einer größeren Unter- 
nehmung. In der That ftanden wir nach neun Tagen auf jeinem Gipfel, nad)» 
dem mir ohne Unfall vom Rofeg heruntergefommen waren. Nicht jo jollte es 
uns jet ergehen. 

Der größere Theil der Befteigung war bereit3 äußerſt glücklich verlaufen. 
Mir Hatten Pontrefina am Nachmittag des 4. September 1869 verlaffen und 
waren den Morteratichgleticher Hinaufgejtiegen bi3 zur Berghütte von Boval, 
wo wir nädtigten. Am folgenden Morgen waren wir gegen 3 Uhr weiter 
gezogen und Hatten die Spite des Bernina auf einem ganz neuen Wege um 
10 Uhr erreicht. Nach zweiftündigem Aufenthalt ftiegen twir wieder hinunter 
und befanden ums gegen 3 Uhr Nachmittags auf dem oberen Theil bes 
Morteratichgletichers, an der Stelle, wo der fogenannte „Gletſcherfall“ jeinen 
Anfang nimmt. Hier erleidet die bis dahin fanfte Neigung de3 Eisſtromes 
eine plößliche Unterbredjung. Der Gletſcher ſenkt fich fehr fteil und bildet jo 
einen mächtigen Terraffenabjab. Er ift bis tief in's Innere von Spalten durch— 
jet, durch Schründe zerriffen; auf feiner Oberfläche thürmen fi Eismaſſen in 


In den Eid: und Schneeregionen der Hochalpen. 423 


den phantaftiichften Geftalten auf, unregelmäßige Säulen, Mauern und Pyra- 
miden. Die Wärme eines Sommers bewirkt nun zuweilen, daß dieje Eis- 
bildungen an ihrem Fuß ftark abjehmelzen, ihre eigene Laft nicht mehr ertragen 
fönnen und umftürzen ; fie fallen auf andere, die gleichfalls ſchwach fundamentirt find, 
und die ganze Maffe jet fi in Bewegung, Alles mit fich fortreigend, was 
ihr in den Weg kommt. Man fieht, daß die kleinſte Erihütterung unter Um— 
ftänden binxeihen fann, um eine ſolche Eislawine zu erzeugen. Wir waren 
bereit3 bis in die Mitte des Gleticherfall3 eingedrungen und ftanden an einer 
Eismauer, die aus einem tiefen Schrunde aufftieg. E3 war, als ob uns nun 
plöglid eine bange Ahnung durchzuckte, und Hans Graf flüfterte mir zu: „Jetzt 
maden wir nur, daß wir ganz leije hindurchkommen.“ Er hatte faum dieje 
Worte gejprochen, al3 von oben ber ein Geräuſch vernehmbar wurde, da3 in 
wenigen Gecunden zu einem grauenvollen Donner anfhwoll; wir jahen uns 
entjeßt an, aber feiner ſprach — denn jeßt wußten wir unjer Schidjal. Da 
plögli) beginnt die Eiswand neben mir zu ſchwanken, Gisftüde fliegen 
darüber hinweg, vor meinen Augen verſchwindet der Führer, und fat in dem— 
felben Moment werde auch ich in die Tiefe geriffen. — Ewig lang jchien der 
Sturz; ich fühle mich Hin und her geichleudert und plötzlich aufgehalten. Noch 
lebe ih, kann auf meine Füße Ipringen und greife inftinctiv nach den beiden 
Gletjcherbeilen, die mir zur Seite liegen. Ueberall von Eis umgeben, jehe ich 
mic in einer Gletjcheripalte begraben. Da höre ich unter mir eine Stimme; 
ich ſchaufle mit den Händen die Eiskörner fort und ſehe meinen Führer feft 
in die Spalte eingeflemmt, die Knie gegen die Bruft gedrüct, der Kopf nad) 
unten. Wir waren nicht auf dem Grunde der Spalte; ein Eisvorjprung an 
der einen Wand hatte unjeren Fall aufgehalten. 

Mit Aufbietung der letzten Kraft — denn ich war vor Schreden ganz ge— 
lähmt, und hatte eine Rippe gebrochen — befreie ich den Yührer aus feiner ent- 
jeglichen Lage; und wir ftehen nun beide auf der ſchmalen Eiskante. — Hans 
Graß jammert laut um Weib und Kind; da ſchwindet mir dad Bewußtlein 
und ich finke in eine Ohnmacht, in der die Lieblichjten Träume mid) umgaufeln. 
Erwachend jehe ich in das todtenblaffe Antlig meines Führers, der, über mic 
gebeugt, mich) dor einem Weiteren Yal in die Tiefe ſchützte. Ich fühle eine 
eifige Kälte; ein ſcharfes Eisſtück Hatte den einen Aermel von Rod und Hemd 
durchichnitten,; der Arm war völlig entblößt und blutete. Die Verzweiflung 
padt und, und wir nehmen den Kampf mit unferm eigenen Grabe auf. Die 
untere Wand der Spalte war dur die Lawine zertrümmert worden und hing 
mit der oberen durch eine Jäulenartige Eisbildung zufammen; zu diefer Tonnten 
wir auf unjerm Borjprung gelangen. Auf meinem Rüden ftehend, ſchlug Hans 
Graf mit dem geretteten Gletjcherbeil eine Stufe, und es gelang ihm, die Eis— 
läule zu erklettern — fo ward da3 Unmögliche möglid. Ich folgte unter 
großen Schmerzen; denn der Führer zog mit heftiger Gewalt an dem Seil, da3 
über die zerbrochene Rippe fortging. Wir waren gerettet, und nun erſt Tonnte 
ih mir klar machen, wie viele Umſtände dazu Hatten beitragen müfjen. Der 
Sturz in die Gletjcheripalte fonnte uns allein vor der Lawine retten, die über 
und fortging, ftatt ung zu zerjchmettern; daß aber ein Eisvorſprung in 


424 Deutjche Runbdichau, 


der Spalte uns auffing, daß wir nicht beide feftgeflemmt wurden, daß feiner 
von uns ein hilfloſer Krüppel geworden, daß die Gleticherbeile, ohne welche 
ein Entrinnen unmöglid war, neben mir lagen, daß eine Wand ber Spalte 
jelöft wieder durch die Lawine zerträmmert war: das ift ein Zufammentreffen 
von Umſtänden, welches auch der ruhigen Ueberlegung höchſt jeltiam erfcheinen 
muß. 

Die ernten Zeiten, welche für ung auf das Jahr 1869 folgten, riefen mid 
auf ein ganz anderes Feld der Gefahr, und erjt im Jahre 1872 betrat ich das 
Schweizer Hochgebirge von Neuem. 

Nach einem kurzen Aufenthalte in den Berner Alpen, den ich zur Befteigung 
der Wetterhörner und des Schredhorns bemußte, wende ich mich von 
Neuem nad Pontrefina. — Ich befteige mit Hans Graf die pradhtvollen drei 
Paliijpigen, und dort fingt mir der getreue Mann jein altes Lied von der 
Unerfteigbarfeit der Roſegfurkla vor und erzählt mir von den lebten geſchei— 
terten Verſuchen. — Wir beichließen, eine Expedition dorthin zu unternehmen, 
eilen nad) Pontrefina zurüd und treffen alle Vorkehrungen. 

Der wildeite und unzugänglichfte Theil de3 Hauptlammes der Bernina= 
Alpen liegt zwijchen dem Piz Rojeg und dem Piz Bernina; hier findet fi 
eine Einjattlung — früher ſchlechtweg die „Furkla“ genannt —, die nad) N.=-W. 
mit einer 1000° hohen Eiswand zum Tſchirvafirn abftürzt. — E3 handelte fi 
um die Erflimmung diefer Wand und das Hinabjteigen auf der anderen Seite. — 
Alle Verſuche der beiten Führer und unternehmendften Alpenfteiger waren bis- 
her gejcheitert, die Unmöglichkeit der Erſteigung jchien erwieſen; und dennoch 
fonnte ich dem Reize nicht widerftehen, mid) perjönlich mit diefer Unmöglichkeit 
abzufinden *). 

Geht man von Pontrefina aus den Roſeg- und Tſchirvagletſcher auf- 
wärts, jo fteht man nad) fünf- bis jehsjtündiger Wanderung am Eingang eines 
Firnthals, das fi in 1'%sftündigem Verlauf zu dem Hauptlamm Hinaufzieht. 
Die Großartigfeit dieſer Scenerie wird faum in irgend einem Theil der Alpen 
wieder erreiht. Zur Rechten hat man die furdhtbaren Hänge der beiden 
Rojegberge, zur Linken die Abftürze der Pig Morteratih und Piz Bernina; 
das Auge ſchweift über ein Chaos von Felswänden und eingefeilten hängenden 
Gletihern, die hoch oben, wie abgerifjen, enden. Ernſt und jchweigfam 
erhebt ſich aus der faft ebenen Firnſohle die ſchimmernde Eiswand, welche das 
Thal jo plöglih zum Abſchluß bringt; ganz unvermittelt fteigt fie auf in einer 
Durdichnittäneigung von 60°, einer Höhe von eirca 1000° umd einer Breite von 
300%, aber in janft geſchwungener Linie jet fie fi oben gegen den tiefblauen 
Himmel ab. Vergeben: jpäht das forjchende Auge nad) einem Wege; in einigen 
Theilen erſcheint der Eishang faſt ſenkrecht, aber der einjchließende Fels ift 
noch unzugänglicher ala das eingejchlojjene Eis. Nicht genug damit. Etwa 
100° über der Baſis zieht ſich ein klaffender Schrund quer durch die ganze 
Breite der Wand; der obere Rand fteht jo hoch über dem unteren, daß an eine 
Ueberjchreitung nur zu denken ift, wo durch Schneeanhäufung eine natürliche 


*, ©, Jahrbuch des Schweizer Alpen-Clubs. Band VIIL 


In den Eid: und Schneeregionen der Hochalpen. 425 


Brücke gebildet wird. Eine ſolche Brücke eriftirte auch, — aber im welcher 
Form! Der Schnee ftieg in Geftalt einer 40° Hohen Mauer aus dem Schrunde 
auf, und ehe dieſe nicht erflommen war, blieb jede Ausficht auf Erfolg aus— 
geichlofien. | 

Daß ein Führer die Arbeit de3 Stufenhauens nicht leiften konnte, war 
Har. Ich kehrte deshalb noch einmal nach Pontrefina zurück und holte dort den 
Führer Beter Jenny, der als alter Rivale von Hans Graß die Expedition 
freiwillig mitzumachen gewillt war; beide Führer waren bei dem lebten ge- 
icheiterten Verfuch engagirt geweien. As Träger wurde ein dritter Mann 
mitgenommen, befien Muth ich bereit3 erprobt hatte. So fanden twir denn 
am 12. September mit aufgehender Sonne von Neuem vor der Eiswand. Es 
var. verabredet worden, daß die Führer verſuchen jollten, vorzudringen, und 
daß ich ihnen erft jpäter allein folgte. Denn da3 Schlagen von Stufen in Eis 
geht äußerſt langſam von Statten; ich hätte, viele Stunden lang, faft unthätig 
an einer eifigen abjchüffigen Fläche ftehen müffen, und — abgeſehen von aller 
Gefahr — ift ftundenlanges Stehen auf zwei Stufen in ungleicher Höhe für 
den Körper eine qualvolle Bein. 

Die Führer begannen ihre Arbeit. Indem fie fi wie Maulwürfe in den 
Schnee eingruben, überwanden fie die überhängende Schneemauer und den 
Schrumd; dann ftiegen fie gerade auf. Vier Stumden fchon hatten fie unauf- 
hörlih die Art geihwungen, und doch lag- nur das erfte Drittel der Wand 
hinter ihnen. Sie ftanden am Fuße eines Kleinen Felskopfes, der injelartig die 
Fläche der Wand durchbricht, führten ein Iebhaftes Geſpräch und kamen nicht 
mehr von der Stelle. Nun machte ich mich felbft auf den Weg und hieß den 
Träger folgen. Eine fieberhafte Eile trieb mich in die Höhe, und ich Hatte 
weder Zeit noch Stimmung, der Schreden zu achten, die mich umgaben, und 
mit jedem Schritte wuchlen. 

Neberrafchend ſchnell erreichten twir die Führer und ftanden um 11 Uhr 20 Mi— 
nuten dicht unter ihnen. Hans Graf befand fich hart am Felſen; Jenny hatte 
verjucht, den Felſen auf der Uferfeite zu umgehen, aber das nur dünn aufs 
liegende Eis Hatte ihn zurüdgetrieben. Dennoch jtemmte er ſich mit wilden 
Troß, durch die Gefahr und die ſchwere Arbeit aufgeregt, gegen den Vorſchlag 
von Hans Graf, auf die Mitte der Wand loszugehen und dann wieder auf- 
wärt3 zu Elimmen. In einem Anfall von Wuth erklärte er, keinen Schlag mehr 
thun zu wollen; und während wir an der Eiswand lebten, eine einzige unvor— 
fihtige Bewegung und in’3 Verderben geftürzt hätte, entſpann fich eine erregte und 
erfolglofe Discuffton. Der Schlüffel des ganzen Unternehmens lag an diejer 
Stelle, und dennoh mußten wir umkehren. Angewidert von der eben durch— 
lebten Scene, enttäufht und erzürnt Kletterte ich mit allen meinen Leuten bie 
fteile Wand Hinab und kam umverjehrt mit ihmen unten an. Kein Wort 
wurde mehr geiprochen; jchtveigend gingen wir über den Firn und bei den erften 
Felſen ließen wir und nieder. Die ermatteten Führer fielen in Schlaf, und al3 fie 
gejtärkt erwacht waren, erklärte ich mit allem Nachdruck, daß ich nicht nad) 
Pontrefina zurückkehren würde; fie jollten die Hoffnung nicht verlieren und noch 
einmal verfuchen. — Der gute Wille war bei den Männern zurückgekehrt, und 


426 Deutſche Rundſchau. 


gleich am nächſten Tage verſprachen ſie, von neuem zu beginnen. Wir ver— 
brachten die Nacht in der nächſt erreichbaren Sennhütte und ſtanden am Morgen 
des 13. September zum dritten Mal vor der Wand. 

Der Bann ſchien nun gelöft., Der Fels in der Eiswand wurde umgangen, 
und bereit3 um 11 Uhr befanden ſich die Führer in %, der Höhe, und um 
11 Uhr 24 Minuten rief mir Hans Graß von oben deutlich) vernehmbar 
zu: „jet, meine ich, mögen Sie fommen.” — Nun begann für mich die Axbeit, 
und zum ziveiten. Mal griff ich die Eiswand an. — Das blanke Eis trat exit 
oberhalb des Schrundes auf; wegen der unerbittlihen Gonjequenz aud nur 
eines Fehltritt3 mußten die Stufen jo groß geichlagen werden, daß fie loch— 
artigen, mit Eisförnern erfüllten Vertiefungen glichen. Bis zu der verhängniß- 
vollen Felsinſel ging Alles gut; ich Kletterte ruhig, ohne Haft, im Tempo eines 
gewiſſen Sicherheitsgefühls. Nun aber fam eine furdhtbare Stelle, da wo die 
Stufen horizontal unter dem Felſen her auf die Mitte der Wand zuführten; 
hier wurde man mit jedem Schritt gewaltjam von dem Eije abgedrängt, und 
jeder Schritt konnte ein Schritt in’3 Verderben werden. Die Schwierigkeit war 
jo groß, daß — als ſich der Weg wieder umjeßte und gerade aufwärts ging — 
das Klettern mir wie eine Spielerei erſchien. Bei der 240. Stufe hielt ich 
inne. Der Mittelpuntt dev Wand war erreicht; noch arbeiteten die Führer 
über mir, und pfeifend flogen die Eisftüde an mir vorbei, welche die nimmer 
ruhende Art ausſchlug. — Mir war, ala jchwebte ih; eine Art olympiicher 
Ruhe hatte ſich meiner bemächtigt, und jo ließ ich den Blid nad) allen Rich— 
tungen ſchweifen; die glatte Eisfläche fchien unter meinen Füßen zu ſchwinden, 
— To jäh ftürgte fie hinab in den tief unten gähnenden Schrund; aber von 
oben her Yeuchtete der Hoffnungaftrahl des Gelingens. Auf der 300. Stufe 
ftehend, ſah ich den exften Führer Hinter der Jochlinie verſchwinden, gleich dar- 
auf den zweiten, bei der 400. Stufe padte ich da3 Seil, da3 meine Männer 
mir von oben her hinabwarfen, zu beiden Seiten richtete ſich das Eis ſenkrecht, 
aber da3 Spiel war gewonnen — ein einziger Schritt noch — und ich ftand, 
wo ich nimmer zu Stehen hoffen durfte. Das Joch war überwunden. 

Wer es hätte mit anfehen fünnen, wie die vier beherzten Männer, die doch 
joeben noch dem Tode ruhig in’3 Auge geihaut, num plößlich wie Kinder herum- 
hüpften, fi) auf die Schulter Elopften, fi) umarmten, laut jubelten und zu 
einander jprachen, ohne fi) anzuhören, der würde gelächelt haben; vielleicht aber 
hätte unjere reine Freude der Dankbarkeit ihn mit fortgeriffen. 

Die Jochſchneide liegt etwa 11000 Fuß hoch; eine weite Rundſicht verbietet 
fih von jelbft, two man von zwei Bergriejen flanfirt wird; aber weil das mil- 
dernde Moment der Fernſicht fehlt, wirkt die wilde Scenerie um jo eindrucks— 
voller. Der Abftieg nad) der italienifchen Seite ift faum minder fteil als der 
Aufftieg; man Hat aber ausschließlich mit Feld zu thun. Die Faminartige 
Schlucht, welche zum Scerſcen-Gletſcher abfällt, paffirten wir in einer Stunde; 
bier drohte nur die eine Gefahr der Steinichläge oder Steinlawinen, der wir 
aber glüdlich entgingen. In behender Eile fliegen wir über die Gletjcher zum 
Sella-Paß auf und erreichten noch an demfelben Abend Pontrefina. Ich habe 
die „Furkla“, da fie Keinen Namen hatte, in dem darauf bezüglichen Bericht 


In den Eid: und Schneeregionen der Hochalpen. 497 


der Jahrbücher des ©. W.-€. „Roſegfurkla“ genannt; die Schweizer aber 
haben mir die Ehre angethan, fie als Pforte nach meinem Namen zu bezeichnen. 
Y, 

Bald nad) diefer Unternehmung vertaufchte ich den Schnee und das Eis der 
Hochalpen mit den jumpfigen Niederungen, den dichten Urwäldern und der bren- 
nenden Sonne des tropiichen Weftafrifa; aber als ich nach jahrelanger Abweſen— 
heit Europa twieder erreicht hatte, war mein erſter Weg zum Hochgebirge, und 
mit der Erfteigung des Felszahnes der Creſta giizza nahm ich die abgerifjene 
Kette meiner Unternehmungen wieder auf. 

Doc ich breche hier die Schilderungen meiner Erlebniffe und Wahrnehmun- 
gen ab, jo ſtizzenhaft das aufgerollte Bild auch fein mag. Es fam mir nur 
darauf an, die Eindrücke zu ſchildern, welche die unbefangene Naturbetrachtung 
aus der erhabenen Welt des Schnees und Eijes mit fich fortnimmt, und darauf 
hinzuweiſen, um welchen Einſatz dies allein gejchehen kann. Ob der Einſatz eines 
Menſchenlebens hierfür etwas zu Koftbares fei, ift eine häufig aufgewworfene 
Trage. Eine allgemeine Antwort aber läßt ſich darauf nicht geben. — 

Den Lohn für große, gefährliche Hochgebirgsunternehmungen darf ein Jeder 
nur don fich ſelbſt erwarten. Wer ihn nicht in ſich trägt, der wird ſich ge- 
täufcht fühlen, er betrete den rauhen Pfad nit. Wen aber die Begeifterung 
für die großartige Schöpfung der Hochgebirgäwelt, wen die Freude an der Be— 
thätigung körperlicher Kraft, geiftiger Fähigkeit, furchtloſer Umerjchrodenheit 
bhinauftreibt zu jenen umerftiegenen Höhen, den mag man unangefochten feines 
Weges ziehen laſſen. Denn was er einjeßt, ift fein eigenes Leben, und was er 
gewinnt, empfängt er aus ber eigenen Hand. 


Berlin vor, unter und nah dem Miniſtexium Hfuel. 
(Juli bis Detober 1848.) 


—r—— 


Aus den bisher unveröffentlichten Denkwürdigkeiten des Generals der Infanterie z. D. 
Dr. Heinrich von Brandt. 


— — — 


111. *) 


Einen jehr merkwürdigen Beitrag zur Charakterifirung des Minifteriums 
bildet die Art und Weile der Behandlung de3 Angriff auf die Palais der 
Minifter des Innern und der Juftiz am 21. Auguft. Ich Hatte an diefem Tage 
eine Kleine Excurſion über Land gemacht und war erſt Nachmittags heim— 
gekehrt. Noch in meinem Reijecoftüim und im Begriff, mich zur Soirde beim 
Miniſterpräſidenten anzufleiden, erfuhr ic) den Scandal vor dem Minifter- 
hotel und eilte auch fofort dahin. Die Konftabler waren eben im Kampfe mit 
den Meuterern auf der Rampe begriffen, al3 ich dort eintraf. Eigentlich war 
die verfammelte Maſſe nicht groß, und ich gelangte vom Wilhelmsplatz her ohne 
jonderliche Umftände bi3 an die Rampe. Die Conftabler, von denen mehrere 
mid) erkannten, gejtatteten mir ohne Weiteres den Durchgang durch die 
Chaine, die fie unmittelbar nachdem die Maſſe überwältigt war gebildet hatten, 
und ich kroch durch eins der eingefchlagenen Thürgquadrate in das Haus, wo id 
Alles im bunteften Durcheinander fand. Damen, Herren, Bediente, Alles 
flüchtete nad) dem Garten, um von bort aus das Weite zu gewinnen. Die 
Gefahr war bereits vorüber, das Volk hatte ſich nach den Linden zu zerftreut. 
Die Soirée hätte ruhig ihren Fortgang haben können; aber Alles war voller 
Furcht und Angft. Eine Nichte des Mtinifterpräfidenten, die die Honneurs des 
Haujes machte, eine liebenswürdige Dame, die zulett allein im Salon blieb, 
hatte ziemlich ihre Ruhe beibehalten. Der Minifterpräfident war lebhaft afficirt. 
In feiner ganzen Haltung aber zeigte fi) der alte Soldat. Er war feft ent— 
ſchloſſen, jedem Greigniß die Stirn zu bieten und eventuell den Kampf in jeinem 
Hotel aufzunehmen. Nachdem alle Welt fidh verlaufen, ließ er die Herren Miniſter 
zu einer Gonferenz zu ſich einladen. Sie fanden ſich auch al3bald ziemlich zahl- 
reich ein, doc) glaube ich, dab Herr Hanfemann nicht zugegen war. Der Minifter- 


*) Man vergl. Heft 7, ©. 134 ff. 


Berlin vor, unter und nad dem Minifterium Pfuel. 429 


präfident begann mit einer kurzen Darftellung der Sache, wie fie ſich im Ber- 
laufe der Zeit geftaltet, und deſſen, was fich endlich vor jeinem Hotel zugetragen 
babe. Jeder der Herren Minifter wußte einige Detail3 hinzuzufegen. Minifter 
Milde theilte ziemlih Humoriftiih mit, was ſich Morgens jchon mit den 
Meuterern vor jeinem Hotel begeben habe. Herr Merfer erging fi etwas 
breit über die bei ihm verübten Exceffe. Herr Kühlwetter jchilderte mit In— 
dignation das Auftreten der rohen Maffen unter den Linden und vor feinem Hotel, 
Der Minifterpräfident endlich reſümirte all’ diefe Scenen, fügte Einzelnes über 
da3 Hinzu, was man fich ‚vor jeinem Hotel ‚erlaubt, und knüpfte daran die 
Mahnung, Mafregeln zu berathen, um ſolchem Treiben ein Ziel zit jegen. „Wir 
blamiren und vor Europa und der Welt,“ jagte ex unter Anderem; „die Berichte 
der Diplomaten werden nicht unterlafien, das, was fie jelbft erlebt, grell wieder- 
zugeben; die Zeitungen werden über unjere Zuftände überall herfallen, und wir 
werden die Achtung Deutjchlands ziemlich einbüßen, wenn wir. allem dem nicht 
ein Ende maden.“ Man jah, man hörte e8 dem Minifterpräfidenten an, daß 


‘er tief ergriffen, daß er ernftlich gefonnen war, mit Energie einzujchreiten. 


Ale Miniſter waren derjelben Anficht, alle ſprachen ſich mit derjelben Ent— 
rüftung aus, Nur Herr von Schredenftein verhielt ſich ruhig; fein Hotel allein 
war in dem Sturme verichont geblieben. Einige Proletarier, die fi) vor dem— 
jelben zu verfammeln begannen, waren von Oberfl von Griesheim durch Hinweis 
auf.die Compagnie, die im Innern deffelben zur Vertheidigung aufgeftellt war, 
entfernt worden. Als es jpäter zur Berathung über die zu. ergteifenden Maß— 
regeln fam, wobei jonft gewöhnlich. eine Differenz der Meinungen ftattfand, 
zeigte ſich heute feine Meinungsverjchiedenheit. Alle pflichteten dem Mtinifter- 
präfidenten bei, daß ein Tumultgefe von Nöthen jet und daß man ein ſolches 
fofort einbringen müſſe. Minifter Milde erinnerte, daß dies allein ohne ein 
Geſetz gegen die Clubs wirkungslos bleiben werde, und empfahl ein jolches gegen 
dieje eigentlichen Herde der Umtriebe, wobei er das Treiben derſelben ergreifend 
Ihilderte. Wenngleich nicht aufgefordert, meine Stimme abzugeben, bemerkte ich 
doch, dat ebenfalls auch ein Gejeh gegen die Placate, die Organe der Clubs und 
aller Unzufriedenen, unerläßlich bleibe, und daß man fich nicht jcheuen dürfe, 
fie eben jo gut zu verbieten, wie. man in Frankreich feiner Zeit ein Geſetz gegen 
die Affichen erlaffen habe. Der Minifterpräfident wandte ſich darauf gegen den 


Juſtizminiſter und fragte ihn, was er dazu meine? Diefer erging ſich lang und 


breit über diejen Gegenftand, ohne jedoch eine beftimmte Meinung zu äußern. 
Er fam nicht einmal auf den Gedanken, vorzujchlagen, die Placate unterzeichnen 
zu laſſen, twodurd allein ſchon großen Inconvenienzen vorgebeugt geweſen fein 
würde. Nachdem man bis über Mitternacht hinaus verfammelt geweſen war, 
lief der Beſchluß darauf hinaus, der Yuftizminifter jolle die Vorſchläge für die 
drei erwähnten Punkte formuliven laſſen, damit man fie des anderen Tages 
durchzuſprechen und unmittelbar darauf der Nationalderfammlung vorzulegen 
vermöge, Herz Merker fügte noch Hinzu, daß er einen eigenen Nath für der- 
gleichen im Miniſterium habe und daß es dexjelbe jei, der bis jet alle Geſetzes— 
vorſchläge redigirt hätte. Man trennte fich nah 1 Uhr. Die Strahen, durch 
welche ich mit dem Heren Kriegsminiſter ging, die Wilhelmsſtraße, der Wilhelms- 


430 Deutiche Rundſchau. 


plaß und die Leipzigerftraße, waren durchaus ruhig, unbelebt wie ſonſt, und die 
Nachtwächter Ihlummerten gemächlich ihren herkömmlichen Schlaf. Nichts deutete 
auf die Aufregung hin, die noch vor wenig Stunden geherrfcht hatte. Der 
Minifter war wie immer jehr einfilbig und äußerte nur, daß es ohne Einrücken 
des Militärs nicht abgehen würde; doch jei der Moment dazu noch nicht 
gekommen. Ich ertwiderte hierauf nur, daß ich Seiner Ercellenz Anſicht theile, 
daß es mir jedoch angemefjen Tcheine, die Luft zum Aufruhr fich nicht weiter 
freffen zu laſſen, weil derjelbe dadurch nur Fühner und jchranfenlofer werben 
dürfte, worin der Minifter mir Recht gab. Des anderen Morgens waren alle 
Fraktionen ſchon früh verfammelt, um über das, was am Abend vorher vor- 
gefallen war, zu berathen. Viele Mitglieder erhielten erft an Ort und Stelle 
ſelbſt Nachricht von den Exceſſen; andere, welche davon ſchon unterrichtet waren, 
erwarteten, in der Situng von den Miniftern Näheres zu erfahren. Die ver- 
Tchiedenen Fractionen hatten durchaus feinen Beſchluß über irgend eine Maßnahme 
gefaßt, jie wollten Alles von der Erklärung der Minifter abhängig machen. 
Ach hinterbrachte dem Kriegsminiſter diefe Abjiht, worauf wir vereint 
nad) dem Minifterhotel gingen. Wir waren die Erften, die eintrafen; wer am 
längften auf fi) warten ließ, war der Minifter der Justiz. Aber man denfe 
fi) das GErftaunen Aller, al3 diejer mittheilte, dev Rath, welcher mit der 
Redaction der Gejekborlagen beauftragt ei, ein in diefen Dingen jehr erfahrener 
Mann, hätte erklärt, daß er in der gegebenen Zeit nicht fähig ſei, die Vorſchläge 
zu formuliren, und er, der Juftizminifter, müfje ihm hierin volllommen bei- 
ftimmen. Die Sade jei zu wichtig, al3 daß man fie übereilen dürfe. Nach 
diefer Erklärung ließ e8 ſich an den fünf Fingern abzählen, daß aus der ganzen 
Sache nichts werden würde Die Creigniffe drängten, jo daß eins die Spur 
des anderen verwiſchte. Lie man den frifchen Eindrud hingehen, jo war auf 
nichts weiter zu vechnen. Und jo geihah es in der That. Als die Minifter 
bes anderen Tages in die VBerfammlung traten, waren Aller Augen auf fie gerichtet. 
Alle Welt erwartete einen entjcheidenden Schritt, eine energifche Forderung der 
unerläßliden Maßregeln. Aber was geihah? Der Minifter des Innern, ftatt 
ein glühendes, lebendiges Bild der Vorgänge zu geben, ftatt die Proclamation, 
die Tags vorher an den Straßeneden angefchlagen gewejen, zu verlefen und mit 
einem Gommentar zu begleiten, die Gefahr zu jchildern, die dem Staate drohte, 
und die Verfammlung darauf aufmerkſam zu machen, daß fie durch dergleichen 
Umtriebe und Exceſſe jelbft gefährdet jei, begnügte fi) damit, in einer fühlen 
Rede feine Meberzeugung auszufprechen, daß, wie der geftrige Tag bewiejen habe, 
in Berlin dem Bürger nicht der genügende Schuß feiner Perſon und feines 
Eigenthums gewährleiftet jei. Der Minifterpräfident trug die ganze Entrüftung 
feines Innern auf feiner Phyfiognomie. Er als alter Preuße, als Sohn eines 
ruhmreichen Geſchlechts, fühlte die Erniedrigung feines DBaterlandes mehr und 
befier ala der Neupreuße, der die Zuftände defjelben mehr mit franzöſiſchen Augen 
betrachten mochte. Aber Herrn von Auerswald ging die Erhabenheit der Sprache, 
ihm ging das Pathos ab, um die Zuftände ergreifend darzulegen, daran 
Betrachtungen ernftliher Natur zu knüpfen und daraus die Nothwendigkeit 
energiiher Maßregeln herzuleiten. Er blieb bei der nüchternen Art und Weije, 


Berlin dor, unter und nad) dein Minijterium Piel. 481 


die Dinge zu nehmen, ftehen und trug die ganze Sache etiva jo vor, wie in einem 
Negierungscollegio. Die beflagenswerthe Umentjchiedenheit des Yuftizminifters 
hatte ihn vollends der Möglichkeit beraubt, mit einer beftimmten Forderung 
herbortreten zu können, und jo mußte er ſich auf die einfache Erklärung beichränten, 
daß das Miniſterium einen Gejeßentwurf zum Schuße der öffentlihen Ordnung 
und Sicherheit unverzüglich vorlegen werde, mit welchem ſich, wie er wünſche, 
die Verſammlung jo jehleunig als möglich beichäftigen wolle. 

Die ganze Vorlage wurde Falt aufgenommen, exhielt bei der Abſtimmung 
über ihre Dringlichkeit aber doc eine entſchiedene Majorität. Hätte Herr Kühl- 
wetter verjtanden, den inneren Zujammenhang der Sade jo recht hervorzuheben, 
einige ihrer intellectuellen Urheber näher bezeichnet und auf die Gefahren Hin- 
gewiejen, wenn dem Pöbel die Möglichkeit geftattet werde, fic) gegen das Princip 
der neu eingerichteten Regierung aufzulehnen; hätte er dargethan, daß dies den 
Kampf der Anarchie gegen die bürgerliche Gejellihaft gut heiße, daß dergleichen 
den Geijt der Ordnungslofigkeit und des Umſturzes heraufbeſchwören müfje, der 
zulegt alle ordnungsmäßige Gewalt verichlingen und zerjtören werde, was unjere 
Religion, unjere Geſetzbücher ꝛc. Ehrwürdiges und SHeiliges hätten, — das 
Miniſterium hätte gewiß Alles erlangen können. 

Bei den verjchiedenen Commilftonsfigungen hatte ich Gelegenheit, einige 
Parteihäupter kennen zu lernen. Bei einem eigenthümlichen Anlaß jah ich 
Bucher zum erjten Mal und konnte ihn näher in’3 Auge faſſen. Durch ein 
Mißverſtändniß war ftatt feiner ein Mitglied der äußerften Rechten in die 
Commiſſion über die jogenannte Habeas-Corpus-Acte, Herrn Waldeck's Lieb» 
Iingstind, gelommen. Da erichien eines Tages Herr Bucher, mit den nöthigen 
Beweiſen für fich verjehen, und reclamirte feinen Pla. Wenngleich die Mehr: 
zahl dem Beliter offenbar Sympathien beivies, jo hatte Waldek doch genug 
Tact, jeden der Herren feine Sache plaidiren zu laſſen und fie hinterher zur 
Abſtimmung zu bringen. Ich habe nie Jemand mit mehr Talent und Mäßigung 
iprechen hören, ala Bucher bei dieſer Gelegenheit. Sein blondes Haar, jeine 
leidenichaftslofe Haltung erinnerten mich lebhaft an Bilder, die ih von 
St. Juſt gejehn. Bucher war ein rücjichtölojer Nivellirer alles Beitehenden, aller 
Stände und aller Vermögen, eines der conjequenteften Mitglieder der National: 
verfammlung und zu jedem Schritt entjchlofjen, welcher feinem Ziele: „Tugend 
in den Principien und Bruderliebe in den Einrichtungen“, entgegenzuführen 
Ihien. Ohne Kenntniß der Gejelichaft, fterilen, juridiichen Abftractionen hin— 
gegeben, tvar er der vollfommenften Meberzeugung, daß das Heil der Welt nur 
aus einer plößlichen, energiichen und kraftvollen Zertrümmerung des Beftehenden 
hervorgehen könne. Er half den öffentlichen Widerftand organifiren und ver- 
breitete vorzug3weije den Gedanken dafür — e3 war beſonders fein Gedanke —, 
die ehrgeizige umd turbulente Fraction in der Nationalverfammlung zur Er- 
greifung einer Dictatur zu ſtacheln. Die ironiſche Geringihägung, mit der er 
die bejtehende Gewalt behandelte, mit der ex offen feinen Haß gegen die alte 
Staatöverfaffung darthat, und fein Dogma von der Souverainetät des Volkes, 
durch deſſen radicale Chimären er diejes jelbft beraufchte und zugleich feine 
Fähigkeit für die Rolle eines Demagogen entwidelte, würden ihn bei einer 


432 Teutiche Rundſchau. 


längeren Dauer alle jeine Anhänger in feinen ſtreng logiſchen Beftrebungen 
haben überflügeln lafjen. Merkwürdig übrigens bleibt e8, daß ein Mann von 
jo glänzenden Fähigkeiten nicht begriff, daß ein bewußtes Temporifiren bis zum 
Moment, wo die Nationalverfammlung alle Gejege geben und die Execution 
an fich geriffen Haben werde, ihm von ſelbſt die Mittel bieten müſſe, jeine 
Seen in’3 Leben zu rufen, und daß er mit jeltener Hartnädigfeit dabei ftehen 
blieb, einen Weg au verfolgen, den weit weniger Befähigte längſt als nicht 
zum Biele führend erkannt hatten. 

Auh Walded konnte ich mehrfach beobachten. Als Mann von bedeuten- 
der Bildung und unleugbaren juriftiichen Kenntniffen mußte er al3 Juriſt vor- 
zugsweiſe einjehen, daß e3 nur möglich ſei, das vorgeſteckte Ziel zu erreichen, 
wenn man vor allen Dingen in die Grenzen des Geſetzes zurückkehre. Aber 
Alle fanden Gehör bei ihm, welche die brennenden Fragen der Gegenwart 
Ihürten oder Unzufriedenheit anfachten. Seine Anſichten wurden bald Orakel— 
ſprüche für die regierungsfeindlichen Parteien, und während er ſich feiner Anficht 
nad in feinen leidenichaftlichen Beftrebungen mit einer gewifjen Loyalität bewegte, 
riß er die Menge täglich tiefer in’3 Verderben und war der Mittelpunft ochlo— 
fratifcher Tendenzen. Es war eine Zeit, wo nur von ihm die Rede war, er 
war der gefürcdhtetfte Volkstribun ; e8 hätte vielleicht nur von ihm abgehangen, 
jeine eigene Tyrannei im Namen des Volkes über Berlin zu verfügen. Berlin 
war von dem Rufe diejes Mannes bis zum Schreden ergriffen. Und in der 
That, wenn man jah, wie ehrfurchtsvoll ihn die Menge bei feinem öffentlichen 
Erſcheinen empfing, wie fie ihn mit Aufmerkſamkeiten umgab, wie ihn Diele 
halb bewundernd, halb mit einer Art heimlichen Grauend auf den Straßen 
grüßten, wenn man ferner gewahrte, twie gewifje unheimliche Geftalten, die man 
al3 die Sturmpögel der öffentlichen Scandale und Straßenkrawalle bezeichnete, 
ihn nad) allen Seiten umgaben, ihn gleichſam hiteten oder feine Befehle zu 
erwarten jchienen, jo durfte man es der Negierungspartei nicht verdenfen, wenn 
fie fi einigen Bejorgnifjen über die Abfichten dieſes Mannes hingab. 

So tiefe Wurzel num auch die Popularität Waldel’3 bei der Maſſe ge= 
ſchlagen hatte, jo ftieg doch jein Anjehen in der Verfammlung nur jehr allmälig, 
wie dies die verjchiedenen Abftimmungen bei der Präfidentenwahl beiviejen. 
Viele feiner Anhänger im Schoße der Verfammlung jelbft fürdhteten jeine 
Heftigkeit; Andere mochten jehr richtig urtheilen, wenn fie annahmen, daß er, 
wenn er einmal zur Gewalt gelange, auch mit der entichiedenften Rüdjichts- 
lofigfeit zu Werke gehen werde. Daher mochte es denn auch wol fommen, daß 
viele jeiner Freunde und Anhänger feine energiihen Kundgebungen gegen die 
Regierung, die er entweder beherrichen oder gar ftürzen wollte, fürchteten und 
ihn beargwöhnten und überwachten, und es nicht ungern jahen, wenn jein Ein— 
fluß in der Verfammlung geringer blieb, als der, den er auf die Maſſen übte. 
Uebrigens habe ich Walde in den verjchiedenen Commiſſionsſitzungen ftet3 mit 
großer Ruhe präfidiren jehen; er zeigte jtet3 viel Achtung für die Meinungen 
Anderer und ertrug Angriffe auf die eigene, man mochte fie beftreiten oder be= 
Ipötteln, immer gelaffen; er ſchien höchft gewiljenhaft in feinen Handlungen und 
gab ſich manchmal al3 religiös ergriffen von den großen Beftrebungen für die 


Berlin vor, unter und nad dem Minifterium Pfuel. 433 


Verbeſſerung der gejelichaftlichen Ordnung Mir ift er immer wie Einer der 
Puritaner aus den Zeiten Karl’3 des Erften vorgefommen, mit jenem Glauben, 
der Wunder wirkt, und jenem Ruf unerjhütterliher ntegrität, aber ohne die 
den Herborragenderen unter ihnen eigene Tiefe, mehr ungeftüm ala fühn, voller 
Unruhe und Thätigkeit, auf der Tribüne voll der größten Entſchlüſſe, aber ohne 
nachhaltige Energie, zu ungelenkig, vielleicht zu ehrlich, eine parlamentarijche 
Majorität für fich zu gewinnen, und deswegen wol mehr Werkzeug als Werk— 
meifter. 

Mer vorurtheilsfrei die Lage der Dinge betrachtete, dent fonnte nicht ent- 
gehen, daß Walde mit der republifanifchen, ultrasrevolutionären und terro— 
riſtiſchen Partei der Nationalverfammlung Hand in Hand ging und daß ihm 
der fanatifche Theil der bewaffneten Bürgerwehr vollftändig ergeben war; ebenfo- 
wenig aber, daß die Meinung der ruhigen Elemente de3 Volks ihm nicht minder 
abgeneigt war, als ein Theil der Nationalverfammlung ſelbſt. Hiezu Fam die 
entjchiedenfte Abneigung, ja der Haß der jogenannten Junkerpartei gegen ihn, die 
bereit tiefe Wurzel gejchlagen hatte und die ihn auf das heftigſte verfolgte. 
Walde und feine Partei durften alfo mit Gewißheit vorausjeßen, bei Yort- 
jegung ihrer Diatriben umd ettwaiger Realifirung derjelben auf den härteften 
MWiderftand zu ftoßen umd die ganze Gehäffigkeit dieſes Beginnens auf fich zu 
nehmen. Aber e3 jcheint, als wenn alle diefe Betrachtungen ihm und jeinem 
Anhange entgangen wären; al3 wenn fie geglaubt hätten, vor wie nach durch 
ihre Clubs und Vollsverfammlungen die Maffen beherrichen und terrorifiren zu 
fönnen. Sie hatten hiebei aber überjehen, daß ihr moralifher Einfluß nicht 
über Berlin und einige große Städte hinausreichte, und nicht bedacht, daß die 
Regierung endlich fi) von ihrer Schwäche erholen und von ihrer Kraft Gebraud) 
machen könne. Dieſe Auffafjung der Dinge war ziemlich allgemein verbreitet 
und gewann täglich mehr Anhänger. 


IV. 


Inzwiſchen war da3 Ende de3 Monats herangekommen. Die Miniſter 
hatten während diejer Zeit mehrere vertrauliche Konferenzen gehabt. Ich mußte 
ner im Allgemeinen, daß darin Berathichlagungen über den Stein'ſchen Antrag 
gepflogen worden. Erft in der Nationalverfammlung jelbft erfuhr ich den 
Inhalt der Erklärung, welche das Minifterium in diefer Angelegenheit gab. 
Leider ließ diefelbe nirgends die Entfchiedenheit und Energie durchblicken, deren 
e3 vor allen Dingen bedurfte, um, wie Herr von Unruh in feinen Skizzen mit 
Recht verfichert, dem Minifterium alle Chancen in diefer Frage zu gewinnen. 
Die Gutgefinnten mußten einen Halt an der Entjchiedenheit der Minifter finden ; 
diefe mußten der VBerfammlung jagen, daß man freventlih in die Privilegien 
der Krone eingegriffen habe; fie mußten die Ihrigen ermuthigen, die Gegner 
Ichreden; fie mußten durchſchimmern laſſen, daß ihnen noch Macht genug bliebe, 
Gewalt mit Gewalt zu vertreiben, daß das Minifterium den Fortichritt in der 
Entwicklung conftitutioneller Freiheiten repräjentive, während die Beftrebungen 
eine3 Theil der VBerfammlung nur Revolution und Anarchie hervorrufen; daß 
der conftitutionelle Kriegsminiſter verantwortlich für alle reactionären und 

Deutſche Rundſchau. III, 9. 29 


434 Deutiche Rundſchau. 


republifaniichen Beitrebungen der Armee bleibe; — man mußte ferner damit 
drohen, eine Proclamation an das Volk zu erlaffen, um e8 über die Beftrebungen 
ber verjchiedenen Parteien zu orientiren. Das würde gefruchtet, die Einen auf 
den rechten Weg zurüdgeführt, die Anderen zur Befinnung gebradht haben. Der 
Erlaß aber war nur eine Art weichen Proteftes, der ohne jeden Eindrud blieb. 

Uebrigen3 gingen ſchon den Septembertagen Andeutungen voraus, daß man 
des Minifteriums überdräffig jei. Ach entfinne mich, daß ich in jener Zeit 
einmal beim Minifterpräfidenten zu thun Hatte und im Vorzimmer warten 
mußte. Ich hörte im Zimmer de3 Minifterd Stimmen ziemlich laut durch— 
einander reden. Nach einiger Zeit öffnete fich die Thür und es traten mehrere 
Abgeordnete Heraus, auf deren Namen ich mich nicht mehr befinne. „Was 
benten Sie wol,“ fragte der Minifter, „wa3 die Herren gewollt haben? Sie 
fommen, mir zu erzählen, daß ich das Vertrauen der Nationalverfammlung 
verloren habe und daß ich daher freiwillig mein Amt niederlegen möchte, um 
Aerger und Lärm zu vermeiden.“ „Und was haben Ercellenz ihnen geantwortet ?“ 
fragte ih. „Nun,“ entgegnete er, „ich habe ihnen gejagt, daß es wahrlid) feine 
Treude ei, als Minifterpräfident zu fungiren, daß ich nach Pflicht und Ueber— 
zeugung meiner Schuldigkeit nachkäme, daß ich gehen würde, jobald die Ver— 
fammlung jelbft mir ihren Mangel an Vertrauen ausſpräche, daß ich es aber 
gegen meine Ehre halten müſſe, mich zurüdzuziehen, weil es eine Partei oder 
einzelne Herren gäbe, die Miniftergelüfte hätten. Die Herren,“ fügte er halb 
ſcherzhaft, aber etwas Yeidenfchaftlich Hinzu, „denken, fie find allmädtig; das 
würde eine ſchöne Garnitur von Miniftern geben, da könnten wir nur lieber 
unjer Buch glei) ganz zumachen.” 

Unter diefen Verhältniffen näherte fi) der 7. September. Die Nachrichten 
aus Holftein, Frankfurt, aus Schleiien, den ſächſiſchen Fürftenthümern, Braun- 
ſchweig u. j. mw. gaben der Bewegungspartei Muth; die Mittheilungen aus 
Stalien und Wien aber belebten da3 Zutrauen ihrer Gegner, welde anfingen, 
ihre Hoffnungen auf die Armee zu jeßen und laut auszuſprechen, daß ein 
militäriiches Einjchreiten allein die Ruhe wieder herftellen könne. Am 6. Sep- 
tember Abends hatten ſich die Minifter wie gewöhnlich im Minijterhotel ver- 
Jammelt. Sie waren alle guter Laune, auf Niemandes Geficht zeigte fi) Be— 
forgniß. Here Milde beſonders war an diefem Tage piquanter als je: „Das 
wird morgen eine ſchöne Geſchichte werden,” äußerte er; „paſſen Sie nur auf, 
wie fie über uns herfallen werden, wie Jeder fein Gift gegen uns ausjprigen 
wird; bei einer Portefeuillejägerei, wie fie nım Platz greift, kann fein Minifterium 
fi halten.” Herr Hanjemann war ebenfall3 ruhig, interefjirte fich jedoch in 
diejer Sitzung bejonder3 für ein Journal, welches er ftiften wollte, und welches 
die Regierungsintereſſen lebhafter und entjchiedener vertheidigen jollte, als die 
jogenannten minifteriellen Blätter. Ex wollte dazu das Geld aus dem Unter: 
richtsfonds haben, in welchem ſich augenblidlic ein genügender Ueberſchuß be- 

finden ſollte. Die Minifter wollten jedody darauf nicht recht eingehen und 
wußten die Sache hinzuhalten, bi3 die vorgerüdte Zeit der weiteren Discuffion 
ein Ziel ſetzte. Hanſemann kam jpäter noch, als das Minifterium bereits 
zurückgetreten war, auf diefen Gegenftand zurüd, der ihm jehr am Herzen zu 


Berlin vor, unter und nad dem Minifterium Pfuel. 435 


liegen ſchien. Hätte Herr Hanfemann, als er das Minifterium bildete, auf die 
Preffe Rücdficht genominen, jo wäre fein Plan zweckmäßig geweſen; jebt, als der 
Boden unter ihm wankte, damit anzufangen, ließ, gelinde geiprocdhen, das be— 
fannte „de la moutarde aprös le diher“ darauf anwenden. Als in diejer 
Sitzung der Kriegsminifter ein paar gleiehgültige Worte hinwarf, äußerte der 
Minifterpräfident zu ihm: „Wollen Excellenz morgen nicht da3 Wort nehmen? 
Sie ſprechen fi Hier ftet3 jo Klar, jo beftimmt aus, und ich bin der Anficht, 
e3 würde einen guten Eindrud machen, wenn Sie fi) nur einmal in ähnlicher 
Art in der Berfammlung ausließen.“ „Das ift ja doch umſonſt,“ entgegnete 
der Krieggminifter; „da würde man nur Gelegenheit nehmen, und noch mehr 
zu infultiren.” Niemand erwiderte hierauf ein Wort! 

Am anderen Tage jehr früh gingen mir die Nachrichten über die Verhand- 
lungen in den verfchiedenen Fractionen zu. Es war daraus fein ficheres Rejultat 
zu entnehmen. Die Einen verficherten, das Minifterium werde bei der Ab- 
ftimmung über den Stein’ihen Antrag eine bedeutende Majorität haben, die 
Anderen behaupteten das Gegentheil. In der Nationalverfammlung jelbft 
herrſchte, wie ich mich ſpäter überzeugte, dieſelbe Meinungsverjchiedenheit, je 
nachdem die Einzelnen für oder gegen das Minifterium eingenommen waren. 
Ich unterrichtete den Minifter von dem, was mir mitgetheilt worden war. 
Man jah e3 ihm an, daß er lieber eine Breſche vertheidigt, ala in diejer Sache 
dem Minifterium feine Stimme geliehen hätte. 

Wir waren bis dahin bei gutem Wetter ſtets zu Fuß nach der National» 
verjammlung gegangen. Heute, obwol e3 ein Schöner Tag war, ließ der Minifter 
eine Droſchke holen. Als wir in der Mohrenftraße angelangt waren, hieß ein 
Mann den Kutiher anhalten und übergab dem Minifter einen Kleinen Brief. 
Der Minifter las ihn, jagte mir aber fein Wort über den Inhalt; ich bemerkte 
auch nicht, daß fich in feiner Art und Weiſe zu fein Etwas änderte Vor der 
Nationalverfammlung*) Hatte Alles noch eine ruhige Haltung; um die Bildjäulen 
herum ftanden zwar einige Gruppen, und man gewahrte einzelne Leute von 
finfterem, ſchmutzigem Anjehen, die unter den Bäumen vor dem Haufe auf» und 
abgingen. Doch ſchien dies noch zu feinen Bejorgniffen Anlaß zu geben. 
Hinter dem Gebäude aber ſollen fich bereit? größere Anjammlungen von 
Menſchen befunden haben. Die VBerfammlung jelbft hot denjelben Anblick, den 
fie wol jonft vor wichtigen Discuffionen hatte. Die Rechte war bereits zahlreich 
verjammelt, ebenfo die Gentren; die Bänke der Linken twaren dagegen noch faſt 
ganz leer, füllten fi dann aber auf ein Mal. Die Mitglieder derjelben trugen 
in ihrer Haltung eine Art Kedheit zur Schau, die fie jonft wol zu cadiren 
pflegten; fie jchienen ihres Siege gewiß zu fein. Die ftenographiichen Berichte 
geben ein klares Bild der Verhandlungen felbft. Ich will mich daher darauf 
beichränfen, einige Specialitäten anzuführen, die bis j’tt wenig oder gar nicht 
befannt find. Als die Discujfion über den Antrag Unruh: 

„daß das Minifterium das Vertrauen des Landes nicht befiht, wenn es ferner Anftand 


nimmt, einen genau dem Sinne des Beichluffes vom 9. Auguft entiprechenden Erlaß an 
dad Heer ergehen zu lafien,“ 


) Sie tagte damals noch in der Sing-Akademie. Die Redaction. 
29 * 


436 Deutiche Rundſchau. 


geichloffen war, trat ich zum Minifter Schredenftein und fragte ihn, ob er jegt 
nit ein paar Worte jagen wolle; er lehnte es aber mit den Worten ab: „Es 
ift ja doch Alles umſonſt.“ Unmittelbar darauf gab mir ein Huilfier des 
Haufes einen Wink. ch trat unbemerkt in das DVeftibül und erfuhr hier, daß 
draußen fi) eine große Menge Volks verfammle, welches jehr bedrohliche Reden 
führe. Ich theilte dies dem General Schredenftein mit, der aber nur erwiderte: 
„es wird noch beſſer kommen,” und feine unerjchütterlihe Ruhe beibehielt. 
Unmittelbar darauf las der Präfident der Verfammlung einen Brief des Com- 
mandeur3 der Berliner Bürgerwehr, des ehemaligen Garde-Artillerie-Gapitainz 
Rimpler, folgenden Inhalts vor: 
„Sie Majorität der Berliner Bürgerwehr hat durch die anliegenden Beichlüffe ihrer Com— 
pagnien mich ermächtigt, zu erflären, dat bie Bürgerwehr Berlin’s in dem burd bie 
Majorität ausgefprochenen Willen der Nationalverfammlung den Willen bes preußijchen 
Volkes fieht und demgemäß Belchlüffe der Nationalverfammlung mit allen ihr zu Gebote 
ftehenden Mitteln aufrecht zu erhalten willen wird. Das unterzeichnete Commando gibt 
bie beftimmte Erklärung, daß es in diefem Sinne mit allen feinen Kräften handeln und 
die hohe Nationalverfammlung ſchützen wird.“ 
Diefe Erklärung glich einem Uebergang aus dem Lager des Königs in das der 
Dppofition. Ich möchte fie in ihrer Wirkung der Dejertion der gardes frangaises 
aus Verjailles vergleichen. Die Revolution hatte mit einem Male eine bewaffnete 
Macht zu ihrer Verfügung. Da die Zahl der Furchtſamen immer größer ift, 
al3 die der Entſchloſſenen, jo ließ fi die Abftimmung über die verjchiedenen 
Anträge, welche die Parteien noch in petto hatten, vorausjehen. Das Manöver 
der Linken war vortrefflich erfonnen. Der Brief Rimpler’3 im Verein mit den 
Mafjen, die fi vor und Hinter der Singafademie gruppirten, ließen feinen 
Zweifel über das, was fie im Schilde führten. E3 war dies eine Art Pronunciamento, 
das klarer wie die Zeughausfataftrophe und die Krawalle vor den Minifterhoteld 
anbdeutete, worauf e3 abgejehen jei. Wie Ludwig der Sechzehnte einft, nad 
Genehmigung des Lager unter den Mauern von Paris, jo hätte man nad 
diejer Abftimmung von Berlin jagen können: „Das ift ein Heer von Meuterern 
von 30,000 Dann, das Berlin regieren wird.“ 
Bei der Abftimmung ftellte fi für das Amendement Tamnau: 
„Die Nationalverjammlung wolle erklären, fie habe bei ihrem Beichlufje vom 9. Auguſt die 
Abficht gehabt, einen ähnlichen Erlaß an die, Befehlshaber der Armee herbeizuführen, wie 
ihn die Minifter der Finanzen und des Innern unter dem 15. Juli an die Regierungs- 
Präfidenten erlaffen hätten; fie beabfichtige nicht, bie Dfficiere der Armee zur Darlegung 
ihrer politischen Gefinnung zu nöthigen oder dem Kriegsminifter den Wortlaut des Erlafjes 
vorzuſchreiben; fie erachte aber einen derartigen Erlaß, in welchem bie Officiere der Armee 
vor reactionären und republifanijchen Beftrebungen gewarnt würden, im Intereſſe bes 
ftaatöbürgerlichen FFriedena und zur Förderung des neuen conflitutionellen Staatsſyſtems 
für nothwendig,“ 
nicht die Majorität heraus, wenn auch eine ftarke Zahl (156) dafür ftimmte. 
Das Minifterium Hatte fi) mit dieſer Faſſung einverftanden erklärt und der 
Kriegaminifter dazu feine Zuftimmung gegeben, aber jo leife, daß fie faum ge- 
hört ward. Im Haufe herrjcehte nämlich bereit3 eine große Unruhe. Die vielen 
Reden hatten einen Theil der Verfammlung erjchlafft, ein anderer trug feine 
Freude offen und laut zur Schau, während die Anhänger des Minifterii ebenjo 


Berlin vor, unter unb nach bem Minifterium Pfuel. 437 


unverhohlen ihre Indignation an den Tag legten. Hätte der Kriegsminifter vor 
der Abjtimmung feine Meinung nochmals energiſch in dem Sinne, wie id) bereit3 
erwähnt, ausgeſprochen, e3 wäre möglich gewejen, die no Schwanfenden auf 
die rechte Bahn zurückzuführen. Aber e8 war Niemand da, der den Leuten 
zugerufen hätte: „hr reißt die Monarchie Stein für Stein nieder; Ihr glaubt 
der Fahne der Eonftitution .zu folgen, aber diefe Habt hr längft zerrijjen“ 
u. ſ. w. Eine große Anzahl der Unentſchloſſenen hatte ſich den Unzufriedenen 
zugejellt, weil man ihnen gejagt, der Hof kämpfe gegen fie, der König wolle 
nun einmal von der Verfaſſung Nichts willen, und die „Samarilla“ in Potsdam 
verhindere jede Vereinbarung, fie bahne im Gegentheil die entjchiedenfte Reaction 
an; es jei in letter Inſtanz befjer, mit den Demokraten, die doch aufrichtig 
wären, al3 mit den Ariftofraten zu gehen, die zwiſchen Lügenhaftigfeit und 
Unentjchloffenheit hin und her ſchwankten, und was des Unſinns mehr. Ich 
habe jolche Aeußerungen im Augenblide der Abftimmung wiederholt laut werden 
hören: „Wie kann man ander3?", jagten Einige, gleihlam um ihr Votum zu 
entjchuldigen; „treiben uns die Junker nicht zu diefen extremen Schritten? Hat 
uns das Minifterium durch feine Unentſchloſſenheit in diefer Sache nicht jelbft 
den Weg angedeutet, den wir einzujchlagen haben?“ Und in der That, e3 war, 
al3 wenn jene Partei nad Unpopularität haſche und diefe Vorausſetzung in 
fünftlicher Beratung zur Schau trüge. Das Gewichtigfte, was an dieſem 
Tage gejagt ward, war die Rede von Bucher, welche einen tiefen Eindrud 
hinterließ; die Redner der Rechten waren bis zur Unausftehlichkeit langweilig. 
Die Abftimmung über das Amendement de3 Herrn Tamnau — 156 für 
und 210 gegen bafjelbe, wobei 36 Mitglieder fehlten —, verglichen mit der über 
das des Herren von Unruh — 38 für und 320 gegen dajjelbe, wobei 43 Stimmen 
fehlten —, beweift ziemlich Kar, daß man vielleicht im Stande gewejen wäre, 
die Zügel noch einmal zu ergreifen. Nach der Abftimmung über das Tamnau'ſche 
Amendement fing es im Saale an, umruhiger zu werden; das Laufen ber 
einzelnen Mitglieder nahm fein Ende; man jah, daß fich irgend Etwas vor— 
bereitete. Ab und zu, wenn die Thüren ſich öffneten, hörte man jogar ein 
dumpfes Getöſe und vereinzelte® Schreien. Die Redner wurden nicht mehr 
gehört. Yünfundzwanzig nad) einander waren aufgetreten, al3 die Debatte ge- 
ſchloſſen wurde und e8 über den Stein'ſchen Antrag zur Abftimmung fam. Er 
war folgendermaßen gefaßt: 
„Beichlieht die Nationalverfammlung, daß e3 bie dringendfte Pflicht des Staatdminifterii 
fei, denjenigen Erlaß, welchen die Berfammlung am 9, Auguft in der 37. Sitzung bes 
Ichlojien hat, ohne Weiteres zur Beruhigung des Landes und Erhaltung des Vertrauens, 
fowie zur Vermeidung eines Bruches mit der Verſammlung ergehen zu laſſen?“ 
219 Mitglieder bejahten den Antrag, 143 verneinten ihn, — 40 hatten gefehlt. 
Nach der Abftimmung ſelbſt trat momentan eine beängftigende Stille ein, wie 
fie großen Kataftrophen vorherzugehen pflegt. Die Linke ſchien über ihren 
Triumph jelbft in Verlegenheit; es fam mir vor, al3 wiſſe fie nicht recht, was 
fie damit zu machen babe. Nach und nad jedoch gewann die Verfammlung 
die alte unruhige Haltung twieder. Als die Majorität entichieden war, gab 
mir der Krieggminifter einen Wink, „ch werde nah Haufe gehen,“ fagte er 


438 Deutiche Rundſchau. 


zu mir; „warten Sie da3 Ende der Sikung ab und bringen Sie mir den Bericht 
darüber.” Unmittelbar darauf brach er in Gejelihaft von Hanjemann auf. 

Ich folgte ihnen und ſchloß mich in der Vorhalle an fie an. Diefe war 
ſchon von einigen Menjchen zweideutigen Anſehens eingenommen, und bejonders 
fiel mir ein Kerl in einem grünen Rode und einem rothen Bart auf. Er 
Ihien alle Herausfommenden forgfältig zu muftern. Auf dem Plafe vor der 
Singakademie befanden ſich viele Menſchen, namentlid Jungen von der fliegenden 
Buhhändlerihaft mit Placaten, doc) war e3 noch Fein eigentliches Gedränge. 
Kurz nad) dem Heruntertreten von den Stufen der Akademie umſchwärmten die 
Jungen aud die beiden Minifter: „Ach, koofen Sie mir doc ein Bild ab, 
jehen Sie hier bie fieben aufgehängten Minifter,” und babei reichten fie den 
beiden Herren ihre Bilder hin. Anfangs nahmen Beide eine Notiz davon; 
aber da die Jungen immer ftärfer drängten, jo fagte General von Schredenftein: 
„Junge, ich habe fein Geld”; Hanjemann aber faufte zwei Bilder, worauf die 
Jungen fich entfernten. Doc bald kamen andere und boten Gigarren und 
„Barrifadenfeuer” zum Anzünden derjelben an. Herr Hanjemann rauchte bereits 
feine Cigarre und bejeitigte hierdurch die Dränger, General von Schredenftein 
aber ignorirte diefelben. So war man bis zur Ede des Finanzminiſterii ge— 
fommen, wo ich mich den beiden Herren empfahl und in die Sigung zurüd- 
begab. Die Abftimmung war hier noch in vollem Gange. Als bemerfenswerth 
muß es hervorgehoben werden, daß einzelne Mitglieder der Linken, obwol 
frank, erjchienen waren, um ihre Stimmen abzugeben, eine Disciplin, die id 
bei den Anhängern der guten Sache nie bemerkt habe. 

Es modte etwa 3 Uhr fein, al3 mich wiederum einer der Huiſſiers 
abrief.. Ich Fand im Vorſaale den Lieutenant von Kameke,“) Adjutant der 
2. Ingenieur-njpection, in Givilkleidern, der mir jagte, daß ſich Hinter der Sing- 
akademie eine große Menge Gefindel gefammelt babe, welches ganz offen davon 
ſpräche, den Kriegsminifter bei feinem Heraustreten zu ergreifen und in's Waſſer 
zu werfen. Bald darauf fam ein anderer Offtcier und theilte mir dajjelbe mit. 
Ich Tonnte Beide jedoch damit beruhigen, daß der Kriegaminifter bereits in 
Sicherheit jei. Die Situng ward gegen 6 Uhr geichloffen. So wie der Schluß 
derjelben und der Beginn für die neue angefündigt worden war, eilte ich der 
Thür zu; aber da3 Gedränge an derjelben war fo ftarf, daß es unmöglich war, 
ander3 ala langſam vorgejchoben zu derjelben zu gelangen. Man war wie in 
einer Preſſe. Mir war dies um jo empfindlicher, ala ich jeit acht Tagen das 
Tieber und gerade in dieſer Sigung einen ftarken Anfall deſſelben auszuhalten 
hatte. Ih war bis zum Umfinken erſchöpft. Im Gedränge war ich Hinter 
einen ſtarken Mann gerathen, an dem ich wie angeleimt ja. Als wir jo in 
die Borhalle gelangt waren, gewahrte ich den Kerl in dem grünen Rode wieder. 
Er ftand auf einer Erhöhung, wenn ich nicht irre, auf einer Tonne, und mufterte 
forgfältig die Heraustretenden. Plötzlich fing er wie ein Beſeſſener an zu 
ſchreien: „Es lebe der Graf Reichenbah! Es lebe unfer Befreier!“, ein Ausruf, 
der taufendfahen Widerhall fand. Ich gewahrte Anfangs den Grafen nit. 


*) Der jebige Krieggminifter. 


Berlin vor, unter und nad bem Minifterium Pfuel. 439 


Aber beim Heraustreten bemerkte ih, daß er unmittelbar vor mir jei. Das 
Gedränge war jo groß, daß wir im eigentlihen Sinne des Wortes getragen 
wurden. Die Reihen hatten ſich recht3 und links jo geſchloſſen, daß fie undurd)= 
dringlich waren. So ging e8 den Canal entlang unter den Bäumen fort bis 
in die Nähe der Bildfäule von Bülow. Hier erſt fam man zu Athem, doch 
ward e3 mir erft etwa auf der Mitte der Straße möglich, mid) aus der Maſſe 
herauszuwinden, und zwar in dem Augenblide, als man die Heroen de3 Tages 
in eine Droſchke padte, um fie durch) die Straßen zu promeniren. Merkwürdig 
war es, daß das Gebrüll bis zur Bildjäule faft nur Reichenbach galt, von dort 
ab aber eine entjchiedene Wendung für Herrn Stein nahm. 

Ich meinerjeit3 war vom Fieber, von der Aufregung und der Kite jo 
ergriffen, daß ich Faum gehen konnte. Ich jchleppte mic) bis zu einem der Prell- 
fteine am Opernhaufe, erholte mich ein wenig und begab mid) aladann in das 
Yinanzminifterium. Aber als ich mich nad) dem Sriegsminifter erkundigte, 
erfuhr ich, daß er mit Herrn Hanjemann gejpeift habe und dann tweggegangen 
fei. Mir blieb aljo nur übrig, meinen Weg nad) dem Kriegsminifterium anzu— 
treten, eine ſchwere Aufgabe für Jemanden in meinem Zuftande. Erſt Hinter 
der Bibliothek in der Behrenftraße fand ich eine Drojchfe, die mich in meine 
Wohnung brachte, wo ich ruhen mußte, um Kräfte für meine fernere Aufgabe 
zu jammeln. Ich konnte mich aljo erſt gegen 8 Uhr zum Sriegaminifter be- 
geben. Doch war diejer nach kurzem Verweilen ſofort wieder ausgegangen; 
wohin, konnte Niemand jagen, man vermuthete zu dem Minijterpräfidenten. 
Auf meine Nachfrage dort erfuhr ih, daß die Minifter dafelbjt eine Conferenz 
hätten und daß der Minifterpräfident befohlen habe, Niemanden anzunehmen. 
Dies war gewöhnlich der Fall, wenn ein Beſchluß gefaßt werden jollte, welcher 
directe Verhandlungen zwiſchen des Königs Majeftät und dem Staat3minifterium 
betraf. ch begab mich darauf in das Kriegaminifterium, jah die Sachen nad), 
die für mich eingegangen waren, und, da der Herr Minifter bis gegen 9 Uhr 
noch nicht zurückgekehrt war, ging ich in mein Quartier. Des anderen Morgens 
früh ging ich wieder zum Minifter und mit ihm in das Staatsminifterium, 
wo ſich ſämmtliche Minifter verfammelten. Hier jegten die Herren die Berathung, 
die fie wahrſcheinlich am Abend vorher abgebrochen hatten, fort und erflärten 
einjtimmig, ihre Portefeuilles niederlegen zu müſſen. Als Herr Milde zu Herrn 
Gierke äußerte, daß er bei der jchivebenden Frage durchaus nicht betheiligt jei 
und feine Stellung behalten möge, extlärte Herr Gierke, daß er die Solidarität 
des Minifteriums ſchon im Princip für eine zu wichtige Sade halte, um nad 
dem Rücktritt feiner Collegen auch nur eine Stunde länger im Amte bleiben zu 
fönnen; er betrachte e3 zugleich für eine Ehrenjache, fi der gemeinjamen Er— 
Härung anzufchließen. Uebrigens zeigte feiner der Herren aud) nur die geringfte 
Betrübniß, aus einem Amte zu jcheiden, das ihnen der Verdrießlichkeiten jo viele 
bereitete. Der Minifter des Innern ſchöpfte fürmlich freieren Athem und ſchien 
fihtbar erleichtert. Herr Milde war, wie immer, heiter und munterer Laune 
und meinte, daß er ſich gern zu jedem Dienfte für das Vaterland hergeben 
wolle, wenn nur Ausfiht vorhanden wäre, irgend eine Einheit und Förderung 
herbeizuführen, aber unter den gegebenen Berhältniffen bleibe dies unmöglich. 





440 Deutſche Rundſchau. 


Herr Hanſemann rauchte ſeine Cigarre und blies große Wolken von ſich; es iſt 
möglich, daß ich mich täuſchte, aber ihn ſchien die Wendung am unangenehmſten 
zu berühren. Der Kriegsminiſter war ſchweigſam, wie immer. Der Miniſter— 
präfident zeigte eine edle Zurüdhaltung; aber dent Beobachter konnte es nicht 
entgehen, daß e3 in jeinem Innern kochte. Da ich bemerkte, daß meine Gegen- 
wart überflüffig fei, fo bat ich, um die Erlaubniß, mich entfernen zu dürfen, 
und begab mid; in die Nationalverfammlung., Mir war bejonder3 darum zu 
thun, den Eindrud wahrzunehmen, den das Nichterfcheinen der Minifter hervor: 
bringen werde. 

Als der Präfident der Verfammlung das Schreiben des Minifterpräfi- 
denten vorlas, in welchem derjelbe erklärte, die Miniſter würden nicht erſcheinen, 
weil fie die Rejultate der am 7, erfolgten Abjtimmung Seiner Majeftät mitzu- 
theilen hätten, erfolgte allerdings eine Kleine Paufe; aber man bemerkte jehr 
deutlich, daß einem Theile der Verfammlung dies ganz erwünjcht fomme. Diejer 
ſchien nicht daran zu zweifeln, daß feine Beichlüffe fortan ftet3 Gehorfam finden 
würden. Er hatte feine Verbindungen überall, viele Magiftrate und Obrigkeiten 
waren in fteter Gemeinfchaft mit ihm, und Alles ſchien darnach angethan, als 
wenn man e3 fortan nur mit einer bewaffneten Revolution zu thun habe. Das 
Wogen der Menge am 7., die Erklärung der Bürgerwehr, das Gejchrei bei der 
Stein'ſchen Ovation, Alles zufammen genommen hatte den Leuten die Köpfe 
verdreht. Sie nahmen Ungeftüm für Muth, und Seiner jchien begriffen zu 
haben, dat die Macht an fi) nur eine momentan wirkende Kraft des Staates 
ift, ſofern fie nicht durch Einficht geleitet und durch verdienftliche Leiftungen und 
glänzende Erfolge in der öffentlichen Meinung gefichert wird. Es gehörte ihre 
politiſche Kurzfichtigfeit dazu, von der Mafje, die ftet3 den Mächtigen des Tages 
ſchmeichelt und jo leicht aufzuregen bleibt, Ausdauer und Beharrlichkeit zu er- 
warten. Es war aber allen Parteien ganz angenehm, als auf eines Abgeord- 
neten der Rechten Antrag die Sitzung aufgehoben und die nächjte für den 
11. September anberaumt ward. Was fi) während diefer Zeit im Minifter- 
rath jelbft zugetragen, ift mir ganz unbefannt geblieben. Ich befam den General 
von Schredenftein faft gar nicht zu jehen. Bon Sitzungen im GConferenzjaal 
war feine Rede, und es ward Alles, was die Herren zu verhandeln hatten, 
brieflich oder in Specialzufammenfünften abgemadt. 

In der Sitzung am 11. erſchienen die Minifter ſämmtlich und der Minifter- 
präfident erllärte, daß das Minifterium in DVerfolg der Verhandlung vom 
7.d. Mt3. keinen Augenblick gezögert habe, motivirt feine Entlaffung nachzu= 
ſuchen, und daß de3 Königs Majeftät ihnen dieſelbe ertheilt habe, mit der Be— 
ftimmung jedoch, daß da3 Minifterium die Geſchäfte bis zur Ernennung bes 
neuen Minifterii fortführen jolle und daß Herr von Bederath dieferwegen zu 
Seiner Majeftät berufen jei. Nachdem der Minifterpräfident noch anheimgeftellt, 
die Sitzungen audzufegen, zog fi das Minifterium zurüd. 

(Fortjegung folgt.) 


Die äſthetiſche Seile der Aechtspflege. 


— — — 


Von 
Franz von Holkendorff. 


a 5 


J. 


Die ſchwierige Frage: was den Begriff und das Weſen des Rechts aus— 
mache? beantwortete der römiſche Juriſt Celſus dahin: „Das Recht iſt 
die Kunſtübung des ſittlich Guten.“ Uns iſt der Gedanke an eine 
künſtleriſche, äſthetiſche Seite des Rechts nahezu gänzlich abhanden gekommen. 
Wir erblicken im Rechte eine Reihe nützlicher Geſchäftsregeln, philoſophiſcher 
Grundſätze, wiſſenſchaftlicher Lehren, geſetzgeberiſcher Maßregeln. In den Augen 
des claſſiſchen Alterthums konnte dagegen die äußere Offenbarung des Rechts 
weſentlich von der Seite des Künſtleriſchen angeſchaut werden. 

Ehe e3 eine Rechtswiſſenſchaft gab, gab e3 eine Rechtskunſt, deren Grund- 
lage in der antiken Rhetorik überliefert ward. Durch den höchſten Kunftftil der 
gerichtlichen Beredtſamkeit trat die Rechtöpflege in eine natürliche Verbindung 
mit dem gefammten Kunftleben der alten Welt. Aus dem gerichtlichen Vortrag, 
der einen alltäglihen Wettkampf der leitenden Geifter vor den Augen des Volkes 
darftellte, erklärt fich die frühzeitige Vollendung der griechiſchen Proſa in der 
älteften Geſchichtsſchreibung. Und nicht unwahrſcheinlich ift e8, daß aus der 
rhetoriſchen Vollendung in Rede und Gegenrede der Sachwalter der dramatijche 
Dialog der griechiſchen Dichter frühzeitig Vorbilder und Anregungen entnahm. 
Was das Weſen der dramatiſchen Dichtkunſt ausmacht, ſchien nad) der Denk— 
weiſe der Römer auch das entſcheidende Merkmal des gerichtlichen Verfahrens 
zu ſein: Action. 

Nach der erhabenſten Auffaſſung, der Plato Ausdruck gab, ſoll der echte 
Redner immer ein rechtskundiger Mann ſein; nur von gerechten Männern ſollte 
die Redekunſt geübt werden. 

Auf ihrer höchſten Stufe ſtehend, fand die gerichtliche Beredtſamkeit der 
Griechen und Römer keine Lehrbücher des Rechtes vor. Als eherne Worte, 
monumental, in ſtolzer Lapidarſchrift, ſtanden die Gebote des Geſetzgebers vor 


442 Deutſche Rundſchau. 


den Augen des Volkes. In Rednern und Urtheilern ſelbſt erzeugte ſich aus 
perſönlicher Einſicht und Kraft das Recht des einzelnen Falles. Die Lehrer der 
Redekunſt waren die älteſten Profeſſoren des Rechts. Ariſtoteles und ſeine 
Nachfolger behandeln in ihren Schriften über Rhetorik auch die Grundſätze der 
Beweiswürdigung, Beweisführung und Gejeßesauslegung. 

Aus der ehemals im großen Stil auf den antiken Volksgeiſt wirkenden 
Rhetorit erwuchs nad) und nad die Sophiftit der Gejebesdeutelei, aus den 
Heiligthümern unerjhütterter Volksüberzeugung die Eleinliche, Alles zernagende 
Streitfrage, aus den großen Strömungen eines gewaltigen Staatslebens der 
niedrige Sinn für Spibfindigfeiten. Die Thatſache einer ungefunden, entarteten, 
in Sophismen verflachten Rhetorik, der e3 zum Bedürfniß wurde, in den Kreiſen 
der umftehenden Volksmenge auf den Märkten jchnell auffladernde Erregung 
hervorzurufen, und die dadurch bewirkte Zerjegung des alten Volfsgeiftes führten 
die Nothtwendigkeit einer tieferen wiſſenſchaftlichen Betrachtung des Rechts bei 
Griechen und Römern herbei. Der Feftungsbau der römijchen Yurisprudenz 
mit feinen Thürmen und Baftionen, feinen Ringmauern fefter Rechtsregeln, 
hatte in feinem erften Urjprung die große politiiche Aufgabe einer wirkſamen 
BVertheidigungslinie gegen den Anſturm jener leidenſchaftlichen Gefühlzerregungen, 
durch welche die jpätere Rhetorik die richtende Volksgemeinde verdarb. 

Das Sinken ber alten Beredtjamfeit bezeichnet bei den Römern das Auf— 
fommen der Rechtswifjenihaft. In der römijchen Kaijerzeit wird das lebendige 
Wort durch den gejchriebenen Kommentar zurüdgedrängt. An die Stelle der 
jelbftändigen, Ueberzeugung wirkenden Kraft des Advocaten tritt das Gutachten 
der Autoritäten, die Vorführung Ausschlag gebender Namen und Gitate. Die 
Früchte einer reicheren Vergangenheit werden in juriftii hen Bücherſammlungen 
aufgejpeichert; in ihnen wird das Recht zumeift gefucht und gefunden. 

Noch lange fieht man in den Schriften der großen römiſchen Juriften aus 
dem dritten Jahrhundert nach Chriftus, in den Werfen eines Papinian und 
Ulpian gelegentlich das letzte Wetterleuchten jener redneriſchen Donnerwolken, 
die Jahrhunderte zuvor über den Markt von Athen und da8 republifanijche 
Forum zu Rom gezogen waren, oder die fernen Lichtjtreifen philoſophiſcher 
Weisheit. Im Ganzen aber ift die altkünſtleriſche Seite der Rechtspflege durch 
Iogiiche Schärfe und rein praftifche Erwägung verdrängt. Conſequenz und 
Zwedmäßigleitsregel ziehen ihre mathematijc berechneten, geraden Linien 
wie Feldmeſſer des menjchlichen Berftandes. 

Die Behandlung eine Rechtsftreites im dritten Jahrhundert nad) Chriſtus, 
in Vergleich geſetzt zur alten republikaniſchen Periode, verhält ſich ungefähr wie 
die mit der Vorficht des Mechanikers aus Stahlidienen conftruirte Curve zu 
den naturjchönen Biegungen eines Gebirgsftromes, denen eine Eifenbahnlinie 
zu folgen genöthigt ift. 

Das Zeitalter, in dem Juftinian das römiſche Recht zujammenftellen 
ließ und in die Form brachte, die es bis auf die Gegenwart behielt, war nicht 
befähigt, aus großen Marmorblöden das olympiſche Antlig der Themis in 
colofjalen Umrifjen zu meißeln. Aber e3 bejaß die Tyertigkeit, au den Trümmer— 
ftüdfen eine3 vorangegangenen Jahrtaufends einen bunten, farbenreichen Mojail- 


Die äfthetiiche Seite ber Rechtäpflege. 443 


boden Herzuftellen, auf dem die juriſtiſche Betrachtungsweiſe des Lebens ficheren 
Schrittes einherwandeln konnte. 

Mer aus der Vollendung des clafftiih antiken Volkslebens, aus den Reden 
de3 Demofthenes, Sokrates, Aeſchines oder Eicero’3 ſich plögli in da3 Corpus 
juris verſetzt, empfängt wahrſcheinlich den Eindrud einer Sculpturengalerie, 
wo auch der verwitterte Torſo einer großen Kımftperiode in ein jorgfältig 
ausgewähltes, der Beſchauung dienliches Sonnenlicht gejeßt wird. Wie der 
abgejchlagene Arm einer zertrümmerten Götterftatue nimmt ſich in dieſem 
juriftiichen Mufeum der alten römijchen Yurisprudenz jener Sat aus: da3 
Recht ift die Kunftübung des jittlih Guten. 

Auch den alten Germanen war die Rechtäpflege ein lebendig wirkendes 
Organ des Volksgeiſtes, innig verwachſen mit dichtender Einbildungskraft, in 
ihren Formen ausgeftattet mit finnigen Bildern, feierlich in Rede und Gegen- 
rede. Was die ehernen Sätze auf Gejeßestafeln vor den Tempeln der Griechen 
und Römer dem Staatöbürger in gewaltiger Auffchrift verkündet, das jagte 
unferen Voreltern mit zauberiſcher Wunderfraft das Rechtsſprüchwort, als 
uraltes Erzeugniß unjerer in epigrammatijcher Kürze dichtenden und Lehrenden 
Volksſeele. Die vorzüglichſten Beweismittel des altgermanijchen Procefjes waren 
Gottesurtheil und gerichtlicher Zweilampf der Parteien. Dur) da3 Gotte3- 
urtheil im Beweisverfahren reiht die altgermaniiche Rechtspflege in das 
Dämmerlicht der Götterfage, des religiöjen Volksglaubens hinein. Im gericht- 
lihen Zweitampf, durch den Rechtäftreitigfeiten bis in das jpätere Mittelalter 
hinein auszufechten twaren, verbanden fich die Tugenden der Kraft, der Ritter 
lichkeit, die für den Schwachen eintrat, mit dem Rechtsfinn des Volkes, der da 
dichtete, daß Recht doch Recht bleiben müſſe und auch in dem Schwachen zum 
Siege gelange. Dieſe Ritterlichkeit, die für die verleumdete Unſchuld eines 
angeflagten Weibes auf dem Kampfplaße erjcheint, das Schwert zieht und für 
den guten Glauben an da3 Recht das eigene Leben einjeßt, wirkt in ihrem tief 
fittlichen Kern als die großartigjte Offenbarung der Advocatur im Rechtsleben 
eine Volkes, zwar nicht in Hinficht reifer Einfiht, wol aber nad) Seiten de3 
Charakters, ebenbürtig dem beiten Beijpiele xhetoriihen Muthes. 

Wer vermöchte unempfindlich zu bleiben gegen den Haud) tief poetijchen 
Volkslebens, Angeſichts jener uralten Bilder germaniſchen Rechtslebens: der 
freie Mann verfammelt an geheiligter Dingftätte unter den Inorrigen Aeſten 
der weithin jchattenden Eiche, entkleidet jeiner theuerften Kleinodien, des Waffen- 
ſchmuckes, um alle jeine Vorftellungen über Recht auszuprägen in dem einfachen 
Wort und Bilde des Friedens! des Friedens, den Derjenige verwirkt, der 
fih nad) begangener Miſſethat ungehorfam und feige dem Richter und ber 
Sühne entziehen wird. An der Stätte des Gerichts, da3 Rächeramt heraus— 
fordernd, die Leiche des Erſchlagenen, deſſen Wunden nah kindlichem Volks— 
glauben unjerer Boreltern in der Gegenwart des ungefühnt Schuldigen von 
Neuem zu bluten beginnen. Unerſchöpflich ſprudelt in umjerem alten Gerichts- 
verfahren der Dichtkunſt und Malerei befruchtende Born der Schönheit. 

Dieje äfthetiiche Fülle des altgermanijchen Gerichtsverfahrens ſchwand in 
der Berührung mit der hriftlichen Kirche und fpäterhin unter dem Einfluß bes 


444 Deutſche Rundſchau. 


Römiſchen Rechts, das ſeit ſeiner Wiederbelebung im zwölften Jahrhundert aus 
Italien vordrang und im fünfzehnten Jahrhundert zum endgültigen Siege 
gelangte. 

Zwar fehlt es der alten chriſtlichen Kirche nicht an den großartigſten, 
tiefſten Ideen über Sünde, Schuld, Strafe und Sühne. Wie urſprünglich 
jedem Volksrecht ein Zuſatz des Heiligen und Göttlichen eingeboren iſt, der erſt 
im Verlaufe der Jahrhunderte ſich verweltlicht, geradeſo trägt jedes Religions— 
ſyſtem die Grundvorſtellungen eines endlichen Gerichts über die Handlungen der 
Menſchen in Unterwelt, Himmel oder im eigenſten Gewiſſen der Menſchen mit 
ſich durch ſeinen geſchichtlichen Entwickelungsgang, wobei jedoch Recht und Re— 
ligion, als große planetariſche Himmelskörper im Kosmos der Menſchheit, 
gleichſam entgegengeſetzte Bahnen zu durchlaufen ſcheinen. 

Das Recht entkleidet fich in ſpäterer Zeit feiner angeborenen, im Kindes— 
alter ſtrahlenden Formenſchönheit, um mehr und mehr in das überſinnliche 
Gebiet der körperloſen Abſtractionen und Begriffe hineinzuwachſen; wohingegen 
die Anfangs reineren Religionen, deren Stifter in der heiligen Sprache der 
Bilder und des Wunders redeten, ihrerſeits ſich irdiſche Machtzwecke aneignen 
und die göttliche Gerechtigkeit in die trockenen juriſtiſchen Formeln theologiſch— 
ſcholaſtiſcher Gajuiftif bannen. Das Recht verflüchtigt fi im Laufe jeines Da— 
feind, die Religion incarnirt fich fortichreitend in kirchlichen Intereſſen und 
juriftifchen Formen, 

63 ift natürlich und leicht begreiflih, daß die mittelalterliche Kirche Recht 
und Gerichtäverfahren durchaus ihren äußerlichen Machtziveden und den religiöjen 
Seen unterordnet. 

Der Gegenjat der Kriftlichen Kirche zum germaniichen Heidenthum be= 
dingt Zweierlei: 

Erſtens bekämpft die Kirche die aus der alten heidnijchen Bolfsreligion 
ftammenden, oder doch mit ihr verwachſenen Rechtsvorftellungen. Daher die 
allmälige Verdrängung der Gottesurtheile und des gerichtlichen Zweikampfes. 
Die alte Kirche ging dabei urjprünglich ſehr vorfichtig zu Werke. Sie wagte 
gegenüber dem heidnijchen Aberglauben nicht, was eine andere Richtung der 
Kirche gegenüber den willenichaftlichen Lehrjägen der Natur- und Staatskenntniß 
gewagt hat: Alles einfach zu verfluchen, was ſich in Widerſpruch zu ihr jehte. 
In früheren Jahrhunderten der orientaliihen Kirchenentwicelung nahmen Geift- 
liche feinen Anftand, die Parteien, ehe fie auf dem Kampfplatze des gerichtlichen 
Beweiſes beivaffnet erjchienen, einzufegnen. 

Zweitens geftaltet die Kirche die alte, farbenreihe Gerichtsſymbolik zu 
einem Syſtem klarer, verftändiger Procekregeln. Der Ausgangspunkt dieſer 
Entwidelung lag von Haufe aus in der Beihtprari3, die dad Geheimniß 
bedingte, und ſodann in dem Beftreben, alle mwichtigeren Rechtsſachen der Kirche 
zur legten Entiheidung nad) Rom zu ziehen. 

Wechſelſeitig ſich ſtützend, entftanden jo die beiden Grundregeln de3 kirch— 
lihen Procefjes: Heimlichkeit und Schriftlichkeit, diefe bedingt durch 
die Verfendung ſchriftlicher Aufzeihnungen an die höheren Inſtanzen und nad 


Die aſthetiſche Seite der Rechtspflege. _ As 


Rom; Heimlichkeit, zuerſt entſchieden durchgeführt in der — 
übrigens aber aud) eine undermeidliche Folge des ſchriftlichen Verfahrens.‘ 

Denn welde Theilnahme kann das in feiner Mafje ehemals Tefe 
ſchreibensunkundige Volt an jchriftlichen Aufzeichnungen oder an Protofollen 
nehmen, wenn die Entiheidung in Abtvejenheit der Parteien an entlegenen 
Gerichtsſtätten einzuholen ift? 

Eine der Grundfäulen volfsthümlicher Rechtspflege jant mit der Advo— 
catur, al3 der Trägerin gerichtlicher Beredtſamkeit. Die Zwijchenperjonen 
zwiſchen Gericht und Parteien verſchwanden im canonifchen Recht, zumal im 
Griminalproceh, wo der geiftliche Richter dem Angejhuldigten unmittelbar 
gegenübertrat und Alles von Amtswegen unterfuchte und erforjchte. 

Die Beredtjamkeit des Mittelalter3 hatte nad) den Anſchauungen der 
Kirche nur einen legitimen Pla: auf der Kanzel. Wie alle anderen Künfte, 
zumal Mufil, Drama, Architektur, jo erſchien auch die Rhetorik im kirchlichen 
Gewande. 

Zweifellos iſt, daß der Mangel einer kunſtgemäß geübten, gerichtlichen 
Beredtſamkeit im Mittelalter den Machtzwecken der Kirche lange Zeit hindurch 
förderlich war. Das Anſehen geiſtlicher Gerichte iſt mit dem Glanze einer 
energiſch in der Oeffentlichkeit wirkenden Advocatur unvereinbar. 

In der Entwickelung des kirchlich-canoniſchen Proceſſes tritt eine eigenthüm— 
liche Antithefis hervor. Während die Kirche ihren Cultus mit allem Glanze 
liturgiſcher Pracht und den Reigen eines die Einbildungskraft hebenden Myſte— 
riums ausftattet, jet fie an Stelle der überlieferten Heiligthümer der alter 
germanifchen Volksrechtspflege ein durchaus rationales, verftändiges, 
praftiiches Syftem von Regeln, einen die Nationalitäten langſam abkühlenden 
Proceh. Diejelbe Kirche, die ſonſt Himmliſches und Irdiſches, Geiftliches und 
MWeltliches grundſätzlich miſcht, jcheidet auf das jchärffte den religiöjen Cultus 
und feine Formen von der Pflege des Rechts, jo dat fich dieje mehr und mehr 
von dem Empfindungsleben der Völker abtrennen. 

Als das kirchliche Recht dann zu Anfang des 13. Jahrhunderts den Gipfelpuntt 
jeiner Vollendung erreichte, fand e3 am Römiſchen Recht einen Gegner, joweit 
die Machtftelung der Fürften in Betradt fam, einen Bundesgenojjen, 
joweit die Unterjochung des volfsthümlichen Rechts gewollt oder erjtrebt wurde. 

Mehr und mehr ward nun Recht und Rechtspflege eine Angelegenheit des 
Gelehrten, unverftändlic und unbegreifbar dem Volke. Die alten Beziehungen 
der Nechtöpflege zum Gmpfindungsleben des Volkes löſten ſich. Wie hätte e3 
ander jein können? 

Am Schluſſe des Mittelalters gab es im Sinne des clafftichen Alterthums 
und der neueren Zeit feine Rechtſprechung mehr, fondern gleichjam eine 
Rehtsverihreibung oder eine Rehtsverlejung in lateinifcher Sprache: 
lateinijches Römijches Recht, lateiniſches Firchliches Necht. Was al3 gejunde Koft 
des Volkes urſprünglich an dem Herde jenes freien Mannes zubereitet wurde, durch— 
lief num die gläjernen Retorten des Laboratoriums, in denen die doctores juris 
utriusque arbeiteten. Dieje gelehrte Jurisprudenz erſchien der damaligen Zeit 
im Verhältniß zu dem geiftigen und Eünftleriichen Leben des Volkes nicht anderz, 






446 Deutiche Rundichan. 


al für uns der Verſuch erjcheinen würde, die tägliche Nahrung des Volkes im 
Intereſſe einer verbefjerten Gejundheitspflege in den Apotheken oder in den 
Laboratorien von geprüften Chemifern täglich zufammen zu kochen. 

Die Betheiligung de3 Volkes am öffentlichen Nechtsleben ſank im 17. Jahr— 
hundert zu den hochnothpeinlichen Schauftellungen des Halsgerichtes herab, zur 
Tragödie des Räderns, Zangenreißens, Köpfens und Viertheilend. Den Jtalienern 
und Franzoſen war das Römiſche Recht, nachdem fich die germanifchen Einwanderer 
der dort einheimiſchen Bevölkerung ajjimilirt hatten, fein jo fremdartiges 
Element, al3 und. Die romanischen Tochterſprachen de3 Lateiniſchen vermochten 
die lateiniſchen Rechtsbegriffe leichter aus ihren eigenen Mitteln wieder zu 
erzeugen. 

Ihre Dichtkunſt und Literatur Hatte daher feit Dante und den Tagen 
provengalifcher Liederdichter eine gleichſam organiſch verlaufende Entwidelung. 
Für und in Deutjchland ift es nicht leicht zu jagen, welche ſprachliche Verderb— 
niß und PVerfümmerung durch die Einjchleppung des Römischen Rechts bewirkt 
wurde. 

Der Faden unferer mittelalterlihen Dichtkunſt riß beinahe plößlih ab. 
Eine Flut von Fremdwörtern überſchwemmte, von den Gerichtshöfen aus— 
firömend, die ehemals blühenden Gefilde unſeres Sprachgebietes. 

Helljehende Männer, wie Ulrich von Hutten, begriffen die bereit3 zu 
Anfang des 16. Jahrhunderts. Wenn es kaum zu bezweifeln ift, daß aus dem 
antiken Rechtsleben dem Drama und der claffiihen Proſa die fruchtbarfte 
Yörderung und Anregung ward, jo ift e8 auch nicht zu leugnen, daß die Ent- 
nationalifirung unſerer Rechtspflege im Mittelalter es verjchuldete, daß mir 
um jo viele Jahrhunderte fpäter ala Franzoſen, Jtaliener und Engländer zu 
einer künſtleriſchen Geftaltung unſeres Dichtens, Schreibens und Redens 
gelangten, 

Während der Auguftinermönd in Wittenberg durch feine Bibelüberjeung 
das ſprachliche Unrecht jühnte, das das Kirchenlatein in's Volt gebracht hatte, 
fühnte der rechtögelehrte Jurift Goethe ſchon in Straßburg und Wehlar das 
ſprachliche Unrecht, das uns das juriftiiche Latein gebracht hatte, 

Don den „epistolae virorum obscurorum“ ift oft genug die Rede, um bie 
mönchiſche Verderbniß der lateiniihen Spradhe zur veranfchaulichen. Es wäre 
aber noch heute der Mühe werth, Stilmufter aus den Acten des ehemal3 
höchſten Reichsgerichts, des Reichsfammergeriht3, zu fammeln, um e3 ung Kar 
zum Bewußtſein zu bringen, was jenes jogenannte Actendeutſch früherer 
Sahrhunderte bedeutet, das fih im Wege ununterbrochener Dejcendenz der 
Papierbogen auf die Gegenwart fortpflanzte. 

Was die Kirche und die Einfchleppung des Römifchen Rechts an dem Geifte 
unferer Nation gejündigt hatte, das verftärkte endlich noch feit dem Weſt— 
phäliichen Frieden der politifhe Sondergeift mit feinem gejeßgeberijchen 
Eigenjinn, der jedes deutſche Staatögebiet mit Geſetzen, Defreten, Refcripten 
und Berordnungen überfluthete.e Es war unvermeidlih, daß in der Gegen- 
überftellung dieſer verjchiedenen Geſetze innerhalb eines und defjelben Volkes 


Die äſthetiſche Seite der Rechtäpflege. 447 


das Recht für unbefangene Beobachter das Anjehen der bloßen Willkür oder 
fürftliher Laune gewinnen mußte. 

Gewiß ift e3 ein Zeichen unferer volksthümlichen Lebenskraft, tröftend in 
Epochen trüber Betrachtungen, daß das deutjche Volk diefen an fein innerftes 
Mark gehenden Zerftörungsprocefjen jeines Rechtslebens troßen konnte. 


II. 


Eine befjere Zeit für das Rechtäleben unjerer Nation ift inzwiſchen ge— 
fommen, lange gehofjt und erjehnt, gründlich vorbereitet, Hoffentlich Fruchtbar 
im Öuten. 

An Stelle alter Zeriplitterung und fremdländiicher Rechtsmacht tritt eben 
jett, einheitlih in allen ihren Grundzügen, eine gemeinfame Proceßgeſetzgebung 
des Reichs. Wiederum nehmen Männer de3 Volkes Antheil an der Entjcheidung 
der ſchwerſten Miffethaten, ein mündliches und öffentliches Verfahren, biöher 
ein glückliches Vorrecht einzelner Länder, wird in allen deutſchen Staaten 
durchgeführt werden. Befreit wird die Rechtswiſſenſchaft von ihrem Yäftigen 
Nebengeihäft, aus Eleinen und Eleinften Territorien Deutſchlands über ein und 
denjelben Gegenftand Dutzende von Gejegen herbeizufchleppen und aufzujammeln. 
Und neu entjteht die Frage: ob die gerihtlihe Beredtjamfeit die große 
äſthetiſche Aufgabe löſen wird, mit ihren eigenthümlichen Mitteln das 
wahre und echte Recht in feiner Schönheit vor den Augen de3 Volles über- 
zeugend und bildend darzuftellen? 

Die wiſſenſchaftliche Erkenntniß des Rechts, als die Frucht jahr— 
taufendlanger Arbeit in der Geichichte der modernen Culturvölfer, kann al3 die 
grumdlegende Thatiahe unjerer Rechtsſprechung und unſeres Gerichtsverfahrens 
nicht mehr rüdgängig gemacht werden. Außerhalb unferer Wünſche Liegt es, 
die Rechtäpflege wieder zurückzuführen auf die Vorftufe richtender Volksgemeinden, 
wie in Athen und Rom, oder auf den Standpunkt mittelalterlich germanijcher 
Volksgewohnheiten. Unter dem jchüßenden Dache der Rechtswiſſenſchaft 
fuhen wir Sicherheit gegen die politifchen Leidenſchaften des Tages, gegen Die 
Erregungen der Menge, gegen die Verirrungen des Gefühls. 

Eben deswegen ift e8 nicht möglich, daß in unjerem neuen Gericht3ver- 
fahren eine Redekunſt entjtehe, die fich der antiken Rhetorik an Wirkſamkeit 
vergleichen liche. Die Gewalt der antiken Rede beruhte gerade darauf, daß der 
Redner mit allem Zauber des Wohlklanges, deffen feine Sprache fähig mar, 
mit der höchſten Begeifterung der dichtenden Einbildungskraft, mit der feinften 
Berechnung des Menſchenkenners und Staatsmanned die geſammte Einſicht, 
den Willen und die Leidenſchaften der richtenden Menge unter den Endzweck 
ſeiner eigenen Ueberzeugung zu bringen trachtete. 

Wo er keine Freiſprechung nach den Vorſchriften des Geſetzes zu erreichen 
hoffen durfte, wendete er ſich an das Mitleid des Richtenden, als die Quelle der 
Gnade, die eine oberherrliche Volksgemeinde im Alterthum frei ſpenden konnte. 

Wie nach der alten Götterſage Aeolus Winde und Stürme im ſeinen 
Schläuchen hielt, bis er fie nad) feiner höchſten Beftimmung über Länder und 
Meere entfefjelte, jo hielt der antike Rhetor alle guten Kräfte und zerftörenden 





448 Deutfche Rundſchau. 


Leidenschaften der Vollsmenge im Bann feiner Rede, um fie dahinbraufen zu 
lafien in der Richtung, die er ihnen anzumeijen gedachte, um fie auszurüſten 
mit der Stärke, die er ihnen zu geben gejonnen war, erfriſchend und befruchtend, 
oder zerftörend und vernichtend. 

Es ift ein Glüd, daß wir gegen die Uebermacht einer die ruhige 1leber- 
legung und Prüfung überhöhenden Rede gefichert find. 

Die moderne Advocatur weiß es, daß fie ihren fittlichen Ruf gefährdet, 
wenn fie von unjeren Geſchworenen an Stelle eines richtenden Wahrſpruchs 
den Falſchſpruch unberedhtigter Gnade zu erlangen jucht. 

Diejenige Art der Beredtjamkeit, welche mit allen Mitteln des Pathos 
und der Declamation den Angeflagten einem rechtlich verdienten Schickſal der 
Strafe zu entreißen jucht, verdiente fich bereit3 in England den Namen der 
Old-Bayley-Gefängnißberedtſamkeit. 

Mit dieſer wohlverdienten Geringſchätzung jener, übrigens auch im Alter— 
thum bereits verworfenen Sophiſtik, die durch glänzende Form oder planmäßige 
Irreleitung des Gefühls den Richter zu blenden ſucht, iſt jedoch in keiner 
Weiſe geſagt, daß die gerichtliche Beredtſamkeit für die Gegenwart 
ihre ethiſche, politiſche und äſthetiſche Bedeutung eingebüßt hätte. Im Gegen— 
theil! Eine freie, ihrer höchſten Aufgabe bewußte, unabhängige, muthige, der 
Wahrheit vor Gericht dienende Redekunſt gehört zu den höchſten Gütern der 
Nation, und eine mannhafte Advocatur, die ſie übt, iſt in dem Endreſultate 
ihres Wirkens dem richterlichen Amte durchaus ebenbürtig. Sie kann dieſem 
ſogar ſittlich überlegen ſein, wo ſie mannigfacheren Verſuchungen der Be— 
ſtechung und Gewinnſucht, den Anlockungen des Ruhmes und der Ehre öfter 
zu widerſtehen hat, als ein Richter, dem alle Garantien der Unabhängigkeit und 
Unbeſtechbarkeit durch das Geſetz geboten waren! Gerade darin beſteht jenes 
unvergleichlich hohe Anſehen des richterlichen Amtes in England, daß der Richter 
aus der ſittlichen und geiſtigen Bewährung einer untadelhaft gebliebenen Ad⸗ 
vocaturpraxis hervorgeht, und ſomit jene größte aller Prüfungen beſtand, ver— 
möge deren ein Charakter ſich thatkräftig im Leben bewährte. 

Die freie Advocatur jollte darum zu den Grundprincipien und Ber: 
faffungsartifeln eines gejunden Volkslebens gerechnet werden. Wenn unjere 
Wiſſenſchaft auch bei der Forderung beharren muß, daß bei der Verwickelung ber 
modernen Verfehröbeziehungen der Unterfchied zwiſchen Recht und Unrecht nicht 
mehr durch angeborenen Naturfinn, durch gefunden Menjchenverftand und fein 
entwickeltes Gefühl richtig erkannt, noch auch aus dem Rechtsgefühl bes 
Volkes unmittelbar abgeleitet wird, jo bleibt doch auf der anderen Seite 
für die Redefunft der Advocaten eine höchſt ideale Aufgabe gefett. 

Ihr ift es beftimmt, Dasjenige, was die gereifte Wiſſenſchaft des Rechtes 
als höchfte Wahrheiten und Nothwendigkeiten der geſellſchaftlichen Ordnung er- 
kannt hat, mit den Mitteln künftlerifcher Darftellung in das Volksbewußt— 
fein hinüberzuführen, ein neues Rechtsgefühl im Wolfe heranzubilden und zur 
Bethätigung im politifchen Leben zu erziehen. 

Auch die Wiſſenſchaft kann ſich feiner Unfehlbarkeit rühmen. Unter ihrem 
Namen find alle Mißbräuche des Staats und der Rechtspflege, Torturen und 


Die äſthetiſche Seite der Rechtspflege. 449 


Herenprocejje vertheidigt worden. Einer der größten Juriften aller Zeiten, 
Gujacius, hat es jelbft zu jeiner Ehre befannt, daß es feinen Unfug und 
feinen Mißbrauch gebe, der nicht von irgend einem gelehrten DManne vertheidigt 
worden twäre, 

Angefichts der Jrrungen, die auch die Rechtswiſſenſchaft mit aller Bejcheiden- 
heit in ihrem geſchichtlichen Verlaufe zu befennen hat, ift es von höchſter Be— 
deutung, daß dem gelehrten Richter durch eine tüchtige Advocatur beftändig der 
Spiegel vorgehalten wird, in dem ſich die unmittelbare Bezeugung eine ge= 
ſunden und Fräftigen Vollsgefühls wiedergibt, und als ein Zeichen der Ent» 
artung ift es anzufehen, wenn man glaubt, daß der moderne Staat in feinen 
Grundfeften durch die bloßen Mittel der phyfiichen Gewalt oder durch die den 
Mafjen unzugänglichen Lehren der Wiflenichaft aufrecht erhalten werden könnte 
gegen die zerftörenden Mächte der alle Schichten durchwühlenden Parteileiden- 
ichaften. 

No wichtiger, als die wiſſenſchaftlich richtige Entjcheidung der jeweiligen 
einzelnen Rechtsjtreitigkeiten ift für des Staates Beftand, daß bie nad den 
Grundjäßen der Gleihberehtigung wählende und handelnde Volksmenge 
die großen, Recht und Unrecht theilenden Sceidelinien in der Bethätigung und 
Uebung lebendigen Rechtsgefühls erfafle, erkenne, und dann zum Range 
eines unveräußerlichen, fittlichen Gebotes in ihrem Gewiſſen erhebe. 

Die Rechtswiſſenſchaft verhält fi zu der ethiichen und äfthetiichen 
Pflege des Vollsrehtsbewußtjeins ungefähr jo, wie die Arzneiwiſſenſchaft zur 
öffentlichen Gejundheitspflege. Wie fi Niemand in gefährlichen Krank— 
heitsfällen einem Laien anvertrauen darf, deffen Krankheit nach den ärztlichen 
Kunftregeln überhaupt geheilt werden kann, jo wäre e3 gefährlih, die Ent- 
ſcheidung wichtiger Rechtsftreitigkeiten dem Laien anheimzugeben, der ohne feſte 
Grundjäße nad) den momentanen Eingebungen des Billigkeitsgefühls urtheilen 
würde. Wie aber andererjeit3 die Maſſe der Krankheiten im Wolfe nur da— 
durch ſich verringern läßt, daß die tweientlichen Bedingungen der Gejundheit in 
Licht, Wärme, Ernährung, Wohnung und Lufterneuerung allgemeiner im Volke 
erfannt und beobachtet werden, jo ift eine Verringerung der Maſſen des Un— 
rechts, das zu Procepftreitigkeiten führt, nur dann zu erwarten, wenn Die 
Grundbegriffe des Rechts mehr und mehr zu einem Gemeingut des Volkes ge- 
macht und durch ein gejundes Rechtsgefühl gekräftigt werden. 

Nachdem die aus der alten Sitte urjprünglich erzeugte Symbolik der 
Rehtshandlungen untwiederbringlich verloren gegangen ift, kommt es darauf 
an, die Procekform jelbft dem Volksverſtändniß möglichft nahe zu bringen. 
Je einfacher, durchſichtiger und klarer fie find, deſto beſſer. 

Ueberall aber bleibt außerdem zu erwägen, wie die Bethätigung des Rechts 
in den gerichtlichen Proceduren neben den Geboten der Zweckmäßigkeit und 
Nützlichkeit auch mit äußerer Würde und Feierlichkeit der Verhandlungen aus— 
geſtattet werden kann. 

Es iſt keineswegs gleichgültig, ob der Richter im perſönlichen Verkehr mit 
den Rechtnehmenden wie jeder andere Geſchäftstreibende ſich äußerlich darſtellt. 


Im alten geheimen Inquiſitionsproceß, wo die Betheiligten dem aa allein 
Deutſche Rundſchau. III, 9. 


450 Deutiche Rundſchau. 


gegenüberftanden, mochte darauf wenig anfommen. Wo aber da3 Volk an ber 
öffentlichen Rechtspflege einen lebendigen Antheil nehmen ſoll, ift es durchaus 
nicht bedeutungslos, wie der Richter nad) Außen erjcheint. 

Die Frage, ob eine richterlihe Amtstracht in öffentlichen Gerichtsſitzungen 
angemeffen ift, oder nicht, läßt fich ficherlich nicht blos nach dem Gefichtspunfte 
der Bequemlichkeit oder ftaat3bürgerlicher Gleichheit beurtheilen. Sie beanſprucht 
eine ernfthaftere Erwägung, ala ihr durch Soldhe zu Theil wird, die mit unver: 
hohlener Geringſchätzung auf die gejellichaftlichen Verkehrs- und Umgangsformen 
herabbliden. Man kann ſolche Dinge leicht übertreiben, aber fie verdienen es 
nicht, völlig außer Acht gelaffen zu werden. Bei aller Achtung vor der Ge- 
wiſſenhaftigkeit deutſcher Richter dürfte fich ſchwerlich leugnen laſſen, daß in 
dem Zuſchauer Gerichtsfigungen in Franfreih, und vornehmlih in England, 
einen weitaus würdigeren Eindrud hinterlafjen, als bei uns. 


Die Perrücke des engliichen Richters ift oft genug von continentalen Schrift- 
ftellern und Reiſenden verjpottet worden. So wenig man auch Grund hat, ihre 
Einführung in Deutichland anzurathen, jo irrig ift doc die Meinung Dexer, 
die in diejer alten Perrücke nur den Zopfitil oder eine komiſche Maskerade jehen. 
Die Perrüde des engliſchen Richterd mahnt von Tag zu Tag das Publicum 
daran, daß da? Recht in England eine ehrwürdige Ueberlieferung früherer Jahr— 
hunderte ift, eine hiſtoriſche Weihe in fich trägt und nicht als ein Erzeugniß 
des geräuſchvollen Alltagslebens angejehen werden joll. Ueber die Umgebung 
der Unbetheiligten wird die richterliche Perſon emporgehoben und gleichſam mit 
der höheren Weisheit de3 Greijenalter3 angethan. 

Nach ihrer äfthetiichen Seite entipriht die Perrücke dem Weſen der eng- 
liſchen Nechtspflege aus zwei Gründen. Sie paßt zu dem Grundzuge des ge— 
meinen englijchen Rechts, das noch heute in alter Gewohnheit und Herkommen 
wurzelt, und ebenjo zur der Sitte, wonach vergleichungsweiſe nur ältere, reifere 
Männer aus der Reihe der Advocaten auf die Gerichtsbank berufen erben, 
um die Würde langjähriger Lebenserfahrung zu repräfentiren. 

Gerade aus den entgegengejeßten Gründen twürden die wie in Geldrollen 
übereinander geichichteten Locken dieſer Perrüde zu unjeren deutſchen Verhältniffen 
durchaus nicht paffen. Sie eignet fich weder für unfer durchaus modernes Ge- 
ſetzgebungsrecht, da3 in den meiften Stüden mit ben geſchichtlichen Ueberlieferun- 
gen brechen mußte, und noch viel weniger zur Umrahmung jugendlicher Gefichter, 
die ih darin oft komiſch ausnehmen würden, um jo fomijcher vielleicht, je mehr 
fie verfuchen würden, ihr Mienenſpiel harmoniſch zu ftimmen. 

Zu bedauern jcheint e8 mir immerhin, daß neben unferen neueren, verjtän- 
digen und zwedmäßigen Proceßformen fein der äfthetiichen Seite der Rechtspflege 
dienliches, würdevolles Geremoniell fich behaupten konnte. Zwiſchen der 
Situng eines Verwaltungsrathes großer Actiengejelichaften, die Bankgeſchäfte 
treiben, und der Sitzung eines Gerichtshofes ift, was das Ausjehen der bethei- 
ligten Perjonen anbelangt, fein Unterſchied. Wer einige Erfahrungen einſam— 
melte, trifft in Deutſchland nicht jo jelten, wie e3 zu wünſchen wäre, in öffent- 
lien Gerichtsſitzungen auf richterliche Perionen, die in ihrer Haltung die äußerfte 


Die äfthetiiche Seite ber Rechtäpflege. 451 


Gleihgültigkeit gegen joldhe Verhandlungen, wenigftens jcheinbar, darlegen, bei 
welchen fie nicht unmittelbar als Vorſitzende betheiligt find. 

Die trigonometriihen Figuren, die durch den Ellbogen und das Haupt ge= 
bildet werden, in allen Varianten des ftumpfen und ſpitzen Winkels darftellend, 
in Actenſtücken eifrig leſend oder decretirend, zuweilen auch Tagesblätter ent- 
faltend, bei herannahender Mittagftunde die Taſchenuhr mit Vorliebe betrachtend, 
den Vorträgen der Advocaten abgewenbdet, ihre innere Gleichgültigkeit gegen die 
vor ihnen verhandelte Sache jeheinbar befundend — To habe ich jelbft gelegent- 
ih tüchtige und ehrenhafte Männer zu Gericht fiten jehen in Angelegenheiten, 
twelche die im Zuhörerraum anweſenden Perjonen in höchſte Spannung verſetzten. 
Die Drei- oder Fünfzahl der in einem Collegium urtheilenden Richter ift der 
Sitte und dem äußeren Anftand in joldden Stüden auf dem Continent weitaus 
weniger zuträglich geweſen, al3 die Einzahl eine allein in England urtheilenden 
Richters, der in jeiner Perion ein höheres Mat an Berantwortlichkeit zu tragen 
bat und außerdem gegen die pajfive Rolle de3 jchweigenden Zuhörens geſchützt 
wird, die fich bei langdauernden Gerichtsſitzungen vom Beifitenden ſchwer er= 
tragen läßt. 

Die demokratiſche Sitte, die Alles nivellirt, hat die Mterfmale der Beruf3- 
kleidung jogar zwiſchen dem Richter und dem Henker bejeitigt. Bei 
einer Hinrichtung, der ich in Norddeutjichland einmal in früher Morgenftunde 
anwohnte, erſchien der Scharfrichter im Ballcoftüm, angethan mit einem ſchwarzen 
Leibrod und weißer Halabinde, mit ſich ein Futteral tragend, das der Unkundige 
feiner Geftalt nach für die Umhüllung einer Violine halten Fonnte, während es 
das tödtliche Beil in ſich barg. Als er fich anſchickte, jeinen Todtſchlags-Apparat 
in Stand zu ſetzen, zündeten fich einige der anweſenden Zeugen, die ſich zu ben 
gebildeten Ständen rechnen durften, ihre Gigarren an und jchienen jehr über- 
raſcht, als fie auf das Unjchiekliche ihres Betragens von einem in der Nähe 
jtehenden Polizijten aufmerfjam gemacht wurden. 

Nicht ohne Grund ift von tiefer blickenden Männern verlangt worden, dat 
alle todeswürdigen Verbrechen, bei denen e3 ſich um das Leben eines Mitmenſchen 
handelt, in bejonder3 feierlicher Weile abgeurtheilt werden jollten, und daß in 
einer jo geftalteten Einwirkung auf da3 Gemüth des Volkes die Scheu dor ber 
Vernichtung des menjchlichen Lebens nachhaltiger und dauernder gepflegt werden 
könnte, als durch die glücklichertveije immer jeltener gewordene Vollziehung eines 
Bluturtheils. Mit tiefer Bewegung laufcht die Zuhörerichaft in englijchen Ge- 
richtsſälen der bejonder3 feierlichen Verkündung des Todesipruches, dem der 
Richter die unjuriftiiche Schlußformel hinzuzufügen pflegt: „ Möge Gott Eurer 
Seele gnädig ſein.“ 


III. 


Auch die wohnliche Umgebung de3 Richters ift im gegenwärtigen Zeitalter 
den volksthümlichen Anjehen der Rechtspflege nicht günſtig. Wie hätte ſich der 
alte geheime Proceß um diefe Dinge fonderlich kümmern können? Ihm genügte 
e3, einen Tiſch mit einer grünen wollenen Dede zu überfleiden, welche die darauf 
vergofjene Tinte möglichſt ſchnell aufjog, aſchgraues Papier zu beſchaffen, über 

30* 


452 Deutiche Rundſchau. 


bejlen rauhe Faſern der Gänſekiel unmuſikaliſch rafjelte, und die Wände mit 
Gerüften zu bededen, in deren Fächern ſich Actenftücke zu jener babylonijchen 
Höhe aufthürmten, wo fie nur auf Leitern zu erreichen waren. 

Nachdem der Sinn für funftinduftrielle Ausſchmückung unjerer 
Wohnräume wiederum erwacht ift und in erfreulicher Weife fich auszubreiten 
beginnt, ift die Frage wol berechtigt, ob es ſich für den Staat nicht gezieme, 
die Stätten der Rechtspflege in einfacher, aber geſchmackvoller Weiſe auszuftatten ? 
Sollten wir nicht den Ehrgeiz befiten, es den mittelalterlihen Rathsſtuben 
mäßiggroßer Städte gleichzuthun? In den Defen, Tiſchen, Wandbefleidungen, 
Sejleln, Schreibgeräthen der Gerichtsjäle muß der Staat mit finnigem Geſchmack 
das Kunftgefühl des Volkes pflegen. 

Der jebt herrſchende Typus in diefen Dingen ift derjenige der nadten Ber- 
ödung. Von manden Gefäßen, die bei der Ausloofung der Geſchwornen als 
Urne benußt werden, kann man jagen, daß ſie Blumentöpfen gleichen und 
hinter den Urnen, die aus prähiftoriichen Grabhügeln zu Tage gefördert werben, 
in Hinfiht des Geſchmacks und Formenfinns weit zurüditehen. 

Freilich ift die herfömmliche Gleichgültigkeit, mit der ſolche Dinge betrachtet 
werden, im Zulammenhange aller anderen Berhältniffe leicht zu erklären. Aber 
fie bleibt ein Zeichen jenes allgemeinen Verfalles, in den der Kunftfinn des 
Volkes jeit dem 16. Jahrhundert gerieth. Wie die Gerichtsfäle äußerlich ein- 
gerichtet find, das erjcheint durchaus nicht bedeutungslos. Hinter den fihtbaren 
Formen verbirgt fih nicht felten die unfichtbare Geftalt der Gerechtigkeit. 

Eine natürliche und vollkommen berechtigte, durch die Nefthetif geforderte 
Einrichtung ift es beifpielöweije, daß der Richter dem Publicum und den Par- 
teien gegenüber einen erhabenen Pla einnehme und dadurch die Oberherrſchaft 
des Rechtes augenſcheinlich darftelle. Ebenſo berechtigt aber ift die Forderung, 
daß die Parteien in gleicher Höhe einander gegenüberftehen. Gegen diejen Grund- 
ja verjtößt das franzöfiihe Gerichtswelen, indem e8 dem öffentlichen An- 
tläger einen Platz im gleichen Niveau mit demjenigen des Richters anweiſt 
und den Vertheidiger des Angeklagten ihm gegenüber erniedrigt: eine jelbft- 
verftändliche Conſequenz jener Anſchauung, die den Advocaten mit mißtrauifchen 
Augen betrachtet und die Höhere NRangftellung der Anklage verfinnlichen will. 
Für Engländer wäre diefe ſymboliſche Ungleichheit nichts Anderes, als eine Ver- 
legung ber oberften Proceßregeln. 

Sn toskaniſchen Gerichtshöfen ift gelegentlich die Verlegung aller äfthetifchen 
Geſichtspunkte auf die Spite getrieben worden, indem man den Vertheidiger 
der Schwer Angeklagten auf einen Plab verwies, wo er den Gerichtshof fich 
gegenüber, die Geſchwornen aber zu jeiner Seite findet. Der Advocat ift jomit 
gezwungen, den Geſchwornen, zu denen er ſprechen will, die Seite zuzumenden. 
Als der größte der gegenwärtig lehrenden Griminaliften Italiens, Carrara in 
Piſa, als Verteidiger eines Angeklagten vor dem Schwurgericht auftrat und 
in jeinem Plaidoyer vor den Geſchwornen ſich mit feinem Antlitz dieſen zu— 
wendete, jein Profil dem Richter zeigend, ward er troß feiner Gegenvorftellungen 
zur Oxdnung verwieſen. Der Richter erachtete es ala eine Geringichäßung feiner 
Würde, daß der Nertheidiger fih ihm von ber Seite her präjentirte. Und doch 


Die äfthetiiche Seite der Rechtäpflege. 453 


kann e3 füglich kaum anders al3 lächerlich erjcheinen, wenn ein Jtaliener, mit 
dem jeiner Nation eigenthümlichen Pathos der Ahetorit und der Lebendigkeit 
feiner Gejten, abgefehrt von Denen, auf die er redneriſch einwirken till, jeinen 
Vortrag gleihjam in die Luft zu halten gezwungen ift. 


IV, 


Die paſſende Einrihtung und Ausftattung der Gerichtszimmer weiſet uns 
aber weiter auf die erhabeneren Gefichtspunfte dev Architektur. Die äjthetijche 
Seite der antiken Rechtspflege hängt an der Gefammtheit der äußeren Umgebung, 
in deren Mitte die richtenden Perjonen, jei e3 als Volksgemeinde, jei e8 ala 
Geronten, Senatoren, Confuln, Prätoren oder Gerichtäherren erſcheinen. Don 
der Erhabenheit und Würde römiſcher Gericht3bauten machen wir uns nad) den 
un3 verbliebeneh Ueberreften alter Kunft ſchwerlich eine richtige Vorftellung. Die 
Bafıliken, die nach der Unterjochung Griechenlands ſeit dem zweiten Jahrhundert 
dv. Chr. in Rom entftanden, jene Bauten, die ihren höchften Glanz in dem Zeitalter 
des Cäſar, Auguftus, Trajan entfalteten, wetteiferten in ihrer zweckmäßigen 
Schönheit mit den Tempeln der Götter, in denen früherhin der römiſche Senat 
zu Gericht gejeffen Hatte. Auf das römiſche Forum und in diefe Baſiliken 
voll klaſſiſcher Majeftät haben wir ung zu verjeßen, wenn uns daran gelegen 
ift, die unvergleichliche Formvollendung des Römiſchen Rechts, fein Anjehen vor 
dem Wolfe, feine das Staat3leben durchdringende Wirkung voll und ganz zur be— 
greifen. Weil das Chriſtenthum in jeinem natürlichen Gegenjate zum Heiden- 
thum bei jeinen erſten Bauten auf die alten heidniſchen Gottestempel nicht 
zurückgehen konnte, knüpfte e3 feine architektoniſchen Anfänge an die Baſilika 
der römilchen Gerichte an. Der chriſtliche Kirchenbau trat ſomit in 
die Meberlieferung des antiken Gerichtsbaues ein. 

Wie die Kanzelvede dann im jpäteren Mittelalter die gerichtliche Beredtjam- 
feit gleihjam ihres Kunftgervandes entkleidete, um aus ihren koftbaren Geweben 
ein Meßgewand herzuftellen, jo vergaß die Kirchliche Baukunft in ihrer jpäteren 
Entwidelung die Erinnerung an ihren eigenen Urſprung. Das Recht verlor 
jeinen ardhiteftonijchen Stil jelbft auf den Gebieten feiner ſüdlichen Geburts— 
ftätten; denn die Kirche hatte fein inneres Herzensintereffe, in ihren eigenen 
Gerihtshöfen die Herrlichkeit der Rechtspflege in einer eigenen Architektur aus- 
auprägen. 

Unter dem Einfluffe eines neuen, im Mittelalter vollendeten Kirhenbau- 
ſtils entitanden aber im germanijchen Norden, in Deutichland, in Nordfranf- 
reich, in England, und ganz vornehmlich in den Niederlanden, jene wunderbaren 
Rathhausbauten, in deren Kreuzgewölben, Erkern, Niſchen, Spitzbogen ſich noch— 
mals der innere Zuſammenhang zwiſchen Recht und Religion, Sitte und Volks— 
gemüth, Rechtsform und Rechtsidee kundgab. Die Mannigfaltigkeit germaniſcher 
Rechtsbildung contraſtirt in den Rathsſälen des flandriſchen Bürgerthums gegen— 
über der impoſanten, durchſichtigen Klarheit und Einfachheit einer römiſchen 
Baſilika, mit ihren überſichtlich verlaufenden geraden oder rund kreiſenden Linien. 

Als die Periode der Renaijjance aus den bloßgelegten Trümmern der 
antifen Völker eine neue Kunftwelt in fürftlichen Paläften emporzauberte, 


454 Deutiche Rundſchau. 


war ber hiftoriijhe Baugrund für eine gerichtliche Architektur in Europa ver- 
ſchwunden. Wir hatten das Römijche Recht empfangen, aber jeine fünftlerijche 
Seite war untviederbringlic) verloren gegangen. Zange Zeit hindurch wehrte 
ihm das freie Schöffenthum den Einzug in die Säle feiner Rathshäuſer. Als 
das Corpus Juris feinen Siegeszug vollendet hatte, war auch die mittelalterliche 
ftädtijche Treiheit bereit3 von der Fürſtenmacht entweder geſchwächt oder völlig 
gebrochen. 

Fremdartig erſchien nunmehr gegenüber dem Volke nit nur das Recht 
der Gelehrten, jondern auch verdächtig die Stätte, an der es geipendet werden 
jollte. Unter dem Einfluffe der kirchlichen Inquifition und des römiſch-lateini— 
ichen Rechts entjtand jene eigenthümliche Scheu, an der Gerichtäftätte zu er- 
jcheinen, die jo häufig in Deutſchland beobachtet wird. Mancher meinte, daß 
er aus ihm unbefannten Gründen, troß feines guten Gewifjens, an der Gerichts— 
ftelle wider Willen feftgehalten werden könnte. Der Bauer erinnerte ſich, daß 
ihm nad) jedem Beſuch an der Gerichtäftelle eine Rechnung überreicht zu werden 
pflegte, jo daß, zu jeiner Beruhigung, in vielen Fällen die WVorladungen den 
Zuſatz erhalten, daß „often unter feinen Umpftänden verurfadht werden 
jollten“. 

Gebildete Frauen zittern häufig noch heute, wenn fie als Zeuginnen ge= 
laden werden, der Wahrheit die Ehre zu geben, und empfinden eine in England 
völlig unbegreiflide Abneigung, bei intereffanten und wichtigen Rechtsverhand- 
lungen im Zuhörerraum zu erjcheinen. 

Die äußere Geftalt unjerer neueften Gerichtslocale erklärt diefe Abneigung 
vollfommen. Im jechzehnten und fiebzehnten Jahrhundert nahmen die Ge- 
richtsgebäude den Typus der Klöſter, der Gefängniffe und Zuchthäufer, i 
günftigften Falle den der Kaſernen an. Das rechtſuchende Publicum findet bei 
manchen größeren Stadtgerichten aus jenen zahlreichen Berfteden, Kammern 
oder Löchern kaum die Stelle heraus, two an der Seite oder am Ende dunkler 
Gorridore eher geheimnißvolle Hallthüren oder lauernde Diebe zu vermuthen 
find, ala Richter, die im Namen des Königs Recht ſprechen ſollen. 

Erſt in neuerer Zeit hat man begonnen, im Zuſammenhange mit den Auf⸗ 
gaben der Gefängnißreform paſſende Strafanſtalten und Zuchthäuſer zu bauen. 
Aber ſchon jetzt kann man ſagen, daß die neuſten Gefängnißbauten in Moabit, 
Bruchſal, Nürnberg weitaus würdiger ſich darſtellen, als manches Gerichts— 
gebäude in den Großſtädten. Jene neuen Gefängniſſe tragen einen deutlich durch 
ihren Zweck vorgezeichneten architeltoniſchen Stil an ſich. 

Den Gerichten fehlt jeder Stil, der ihren Zweck andeutete. Unter den 
Bauten der neueren Zeit gibt es ſogenannte Muſtergefängniſſe; vergebens aber 
erfragt man einen nachahmungswürdigen Muſterbau für die Gerichte. Es iſt 
nicht zuviel geſagt, wenn man behauptet, daß zuweilen der Richter ſich gleich— 
ſam im Dunkelarreſt befindet und in ſchlecht ventilirten Höhlen zu hauſen hat, 
während dem von ihm verurtheilten Verbrecher die Wohlthat einer lichten, luft— 
reinen Zelle zu Theil wurde. 

Man kann vom deutjchen Reich und den deutichen Staaten mit gerechtem 
Stolz alles möglihe Gute rühmen. Aber man fann nidht jagen, daß unjer 





Die äfthetiiche Seite ber Rechtäpflege. 455 


Staatsweſen in breiten Schichten des Volkes mit jo nachhaltigem National» 
gefühl geliebt wird, wie mancher andere Staat Europa’. Der Staat, im 
Unterfhiede von der Kirche, manifeftirt fich aber dem Volke vornehmlich durch 
jeinen Rechtscharakter und jeine Rechtspflege. 

Der moderne Rechtsftant bedarf deswegen eines Klaren, äfthetijc) = ardjitel- 
toniſchen Ausdruckes nad) demfelben Grundjaße, nad) dem ber mittelalterliche 
Kirchenſtaat feinen eigenen baulichen Leib ſich ſchuf. Will der moderne Rechts- 
itaat feinen Kampf mit dem hierarchiſchen Kirchenſtaat erfolgreich bis zu einem 
für beide Theile ehrenvollen Frieden durchlämpfen, jo muß er ſich aud) in eine 
nähere Beziehung zu dem Empfindungs- und Gemüthsleben des Volkes ſetzen. 

Wie ftehen nun aber gegenwärtig die Vergleihungspuntte? Findet ein 
Menſch, der den Eindrüden dev Schönheit zugänglich ift, nicht in den legten 
Dorfkirchen der Alpen einige gemüthliche Anregung durch beſcheidenen Schmud 
der Wände und Altäre? Im Vergleich zu dieſen Dorftirchen hinterlaſſen die 
Gerichtszimmer der größeren Städte einen höchſt abſchreckenden Eindruck bureau— 
kratiſcher Kahlheit, froſtiger Monotonie, ärmlicher Magerkeit. 

Man braucht dem Prunke keineswegs das Wort zu reden, um dafür zu 
wirken, daß nunmehr mit der Herſtellung einer großen, umfaſſenden, einheit- 
lichen Proceßgeſetzgebung für das deutſche Reich auch die Rechtspflege mit den 
ihres Zweckes würdigen Gebäuden nach und nach ausgeſtattet werde. Zwar 
wird lange Zeit vergehen, ehe dieſer Forderung vollkommen entſprochen werden 
kann. Aber damit ift zu beginnen, daß in den deutſchen Hauptjtädten, die für 
Theaterbauten oft große Opfer gebracht haben, auch das Rechtsleben der 
Nation den äfthetiichen Ausdruck architektoniſch gewinne, deſſen es bedarf. 

Keinerlei Grund gebietet uns, hinter den Gerichtsbauten zurückzubleiben, 
die Paris und Brüſſel, neuerdings London, namentlich aber belgiſche Städte 
aufzuweiſen haben. Das Zeitalter der Folterkammern und Marterwerkzeuge, 
des geheimen und ſchriftlichen Verfahrens muß auch einen architektoniſchen Ab⸗ 
ſchluß gewinnen. An den Stätten der ſchmalſeitigen, dumpfen und trüben Ge⸗ 
richtslocalitäten erhebe ſich der Bau lichter, klarer, künſtleriſch verſchönter Hallen, 
um den Grundzug unſeres neuen Rechts zu verſinnlichen. 

Durch ihre architektoniſche Verjüngung vermag dann auch die Rechtspflege 
wiederum eine das Volksleben erfriſchende Berührung mit den beiden anderen 
bildenden Künſten zu gewinnen, mit Sculptur und Malerei. 

Selbft in der Zeit der Alles exrdrüdenden Hierarchie bildete die „Idee des 
Rechts einen der erhabenften Vorwürfe der Kriftlichen Malerei. Eines ihrer 
höchften Ziele war die Darftellung der alles Irdiſche beherrſchenden Macht der gött⸗ 
lichen Gerechtigkeit im jüngften Gerichte im Zeitalter der Kunftblüthe geweſen; 
ein Ziel, das dem malenden Genius ftets als erhabenfte Aufgabe der Geftaltungs- 
kraft einer in's Uebermenſchliche emporſtrebenden Phantaſie würdig erſchien. 

Wenn nach den Worten des Dichters die Weltgeſchichte das Weltgericht iſt, 
ſo gehören mit vollem Recht die großen hiſtoriſchen Gemälde, die an die Wende» 
punkte unſeres nationalen Lebens die Alles leitende Vorjehung im Siege des 
Rechts über das Unrecht veranfchaulichen, an die großen MWandflächen jener 
Gerichtshallen, deren Schöpfung wir der Zukunft übertragen müſſen. In ihren 


ed by GOOgIE 


456 Deutſche Rundſchau. 


Treppenhäuſern, — in ihren Gängen fände ſich der natürliche Platz, um durch 
Bildſäulen, Bruſtbilder oder Gedenktafeln das Andenken der hervorragenden 
Männer zu ehren, die im geſtrengen Dienfte des Rechts und der Rechtsverwal— 
tung die höchften Güter der Nation vertheidigten gegen die Leidenſchaften und Irr— 
thümer Derer, die Alles der Nüblichkeit des jeweiligen Tages oder der Begehr- 
lichkeit eines rückſichtsloſen Machtgenuffes aufzuopfern bereit find. 

Auch die Kunſt ift zur Priefterichaft des Rechts berufen. In ihren Werken 
jei der Spruch des römischen Dichters bewahrheitet: 

Laßt Euch warnen: und übet das Recht, 
Vergeßt nicht der Götter. 

Den Abſchluß der deutjchen Rechtseinheit, die oberſteè Spite unjerer Rechts— 
pflege wird jenes höchſte Reichsgericht darftellen, deſſen Gründung bevor- 
fteht. Wo immer es jeine Stelle finde: mögen die deutſchen Gejeßgeber nicht 
überjehen, daß fie zu der ungelöften Schuld eines unjerer Nation würdigen 
Parlamentsgebäudes mit der Beſchließung des Reichsgericht3 auch die Verpflich- 
tung übernehmen, die oberfte Gerichtsftelle des deutſchen Volkes in künſtleriſcher 
Schönheit und Vollendung wie eine monumentale Stiftungsurfunde des Rechts— 
ftaates herzuftellen. Es wäre eine beflagenswerthe Sparjamfeit, wenn man dies 
oberfte und höchſte Gericht in die entleerten Regiftraturlammern alter Gebäude 
einihachteln wollte. Neben den Waffentammern des Zeughaufes, die der größefte 
unter den deutichen Staaten in eine Ruhmeshalle für die Armee umzuwandeln 
gedenft, möge die Architektur in ihren Quaderbauten doch auch die dee aus— 
prägen, daß wir nicht blos al3 ein Volk in Waffen, jondern auch als ein Volt 
de3 friedlichen, milden Rechts unſere weltgefchichtliche Bahn zu durchſchreiten 
geſonnen jind. 

Die Weihe einer von der Kunft verſchönten und veredelten Umgebung kann 
in einer zu höherer Gefittung emporftrebenden Nation nicht ohne nachhaltigen 
Einfluß bleiben auf die Denkweife Derer, die Recht ſuchen und Recht jpenden. 
Architektoniſch verkörpert, wird die Vernunft weiſer Gejeße lebensvoll empfunden 
und aus der Sphäre wiſſenſchaftlicher Forſchung oder ſachverſtändiger Anwendung 
hinaufgetragen werden zu jenen lichten Höhen, wo in heiliger Scheu vor dem 
Unrecht das Volksgewiſſen jelber jeines uralten Amtes waltet und von wo jene 
innerfte Befriedigung, die aus dem Bewußtſein der Gerechtigkeit entftammt, in 
das Volksgemüth zurückſtrahlt. 


Der Orient unter den Ghalifen. 


Don 
W. Spitta. 


Culturgeſchichte des Orients unter den Chalifen von Alfred von Kremer. 2 Bände. 

Wien, Braumüller. 1875 und 1877. 

Verſchieden ſind die Urſachen, die ſeit geraumer Zeit die Blicke Europa's 
auf den Orient gelenkt und unſere Kenntniß deſſelben in erſtaunlicher Weiſe 
erweitert und vervollſtändigt haben. Einmal hat der Aufſchwung, den die 
philologiſchen Studien ſeit Anfang dieſes Jahrhunderts nahmen, in dem Be— 
ſtreben einer gründlicheren und tieferen Exegeſe des Alten Teſtamentes eine 
Anzahl von Fragen aufgeworfen, die eine genauere Durchforſchung des vor— 
deren Orients erforderten; während andererſeits die vergleichende Sprachwiſſen— 
ſchaft von Indien aus eine ebenſo kühne als erfolgreiche Entdeckungsreiſe 
in bisher faſt unbekannte Gegenden unternahm. Einzelne große Erfolge, wie 
die Entzifferung der ägyptiichen Hieroglyphen und ber Keilſchrift Aſſyriens und 
Babylonienz, eröffneten dem einmal angefpornten und nun aud) vaftlos arbeiten- 
den Geifte ungeahnte Fernfichten, welche nicht jelten durch die Deutlichkeit ihrer 
Bilder den Wanderer dergeftalt fefjelten und ihm jo nahe erjchienen, daß er 
den zwiſchen ihnen liegenden Weg überjah und oft in recht fühlbar unange- 
nehmer Weiſe an die noch zu überwindenden Schwierigkeiten erinnert werden 
mußte. 

Ahnen, den begeijtert und unermüdlich daheim im Studirzimmer arbeitenden 
Dienern der Wiſſenſchaft, ftanden die Männer zur Seite, welche da draußen unter der 
glühenden Sonne Aſiens, allen Gefahren troßend und unermüdlich jede Be— 
ihwerlichkeit ertragend, die Länder durchiwanderten, die Reifenden, welche oft 
unter dauernder Lebensgefahr inmitten einer mißtrauifchen Bevölkerung beobach— 
teten, forjchten, notirten und uns jo Beichreibungen der von ihnen durchreiſten 
Länder Hinterließen, von denen manche in ihrer Art gültige Mufter bleiben 
werden. 

Diejen ſchließlich reichte ala dritte, unjere Kenntniß des Orients fördernde 
Urſache die getvaltige Ausbreitung des Weltverfehrs und die dadurch veranlaßte 


458 Deutſche Runbichau. 


ftraffere Anziehung der politiichen Bande zwiſchen Orient und Occident kräftigft 
die Hand. Die jranzöfiiche Expedition nad) Aegypten, mit welcher da3 vorige Jahr- 
hundert endete, diefe jo genial concipixte dee Bonaparte's, erſchloß uns 
das Wunderland am Nil. Die immer inniger werdende Verbindung Oftindiens 
mit der engliichen Krone läßt jährlich einen Menſchenſtrom zwiſchen beiden 
Ländern hin= und hergeben, und das raſche Vordringen Rußlands in Gentral- 
afien au) von den entlegenften Ländern unmittelbare Nachrichten zu uns ge- 
langen. Der Telegraph fängt auch dort an, eine Rolle zu jpielen, und binnen 
Kurzem werden an mehr als einer Stelle die Schienenwege das Land durch— 
kreuzen. Während man in Europa noch vielfah der Meinung it, daß Afien 
im Ganzen und Großen theilnahmslos dem Treiben des Dccident3 zujähe, Tann 
ganz im Gegentheil verfichert werden, daß fic fein größeres und bedeutenderes 
Ereigniß im Weſten vollzieht, ohne daß feine Wirkungen bis in den fernften 
Oſten fi fühlbar maden; daß, wenn Bismard eine Rede hält, nach kurzer Zeit 
die Worte auf Türkiſch, Arabiſch, Perſiſch, Hinduſtaniſch, Chineſiſch nach- 
klingen und mit ſtaunender Andacht vernommen werden. Die gebildeten Orien— 
talen ſind ſich ganz klar über den bedeutenden Culturvorſprung, den ihnen die 
Europäer abgewonnen haben, und wer mit ihnen einmal in vertrautere freund— 
ſchaftliche Beziehungen getreten ift, wird fie diejes oft genug äußern hören 
fünnen. Daß diejes Gefühl in Folge der jehr wenig reipectvollen Behandlung 
der Türkei durch die europäilchen Mächte in lebterer Zeit einen Beigeſchmack 
von Schärfe und Bitterkeit befommen hat, ift nicht zu vertwundern. Haben fie 
denn jo unrecht, wenn fie ſich beklagen, daß die Europäer ihre Cultur gar nicht 
fennen oder, falls ſie mit ihr bekannt find, fie nicht verftehen? Sind in 
dem größeren Kreiſe der Gebildeten die Anfchauungen von Muhammed und dem 
Islam jchon jehr weit über die beſchränkten und parteiiihen Anfichten der vo— 
rigen Jahrhunderte Hinausgefommen? Und trägt man nit unbewußt noch 
immer die Schilderungen aus den Zeiten der Kreuzzüge und aus Tauſend und 
Eine Nacht als maßgebend für die ganze Givilifation Vorderafiens mit fi umher ? 
Wir wollen nit ungerecht fein: wenn die bahnbrechenden Arbeiten eines Sprenger, 
Nöldefe, v. Kremer, Weil, um nur deutfche Namen anzuführen, auf diefem 
Gebiete nur langfam fich im deutſchen Publicum verbreiten, jo hat das feine 
gute Entſchuldigung. Es fehlt die Zeit und Ruhe, ſich mit diefen ferner liegen— 
den Gegenftänden zu beihäftigen; der Arbeiten am Bau des eigenen Haujes find 
zu viele, und e8 bedarf ſchon immer eines befonderen Anlafjes, um aud in 
weiterem Umfange das Bedürfniß wachzurufen, einmal ein die Culturgeſchichte 
de3 Drient3 zufammenfafjendes Buch) zu lejen. 

Dieſes Bedürfniß, das bis jet unter den Fachgenoſſen ſchon lange vor— 
handen, aber noch nicht befriedigt war, iſt durch die in den Vordergrund getretene 
orientaliſche Frage allgemein geworden, und zur ſelben Zeit entſprach ihm A. 
v. Kremer durch die Vollendung des zweiten Bandes ſeiner „Culturgeſchichte 
des Orients unter den Chalifen.“ 

Der Verfaſſer erwähnt ſelbſt in der Vorrede des erſten Bandes, wie ihm 
jein langjähriger Aufenthalt im Orient von Nuten für das allgemeine Ber- 
ſtändniß der arabiichen Cultur geweſen ift. Und gewiß hat er darin recht. 


Der Orient unter den Ehalifen. 459 


Denn foviele Jahre und auch von den abbafidiichen Chalifen trennen, jo hat ſich 
doch jeit ihrer Zeit fein nennenswerther neuer Eultureinfluß geltend gemacht; 
man hat nur an dem aufgefammelten Capital gezehrt bi3 auf den heutigen 
Tag. 63 fehlte durchaus an großen, das ganze Volk interejfirenden Aufgaben; 
da3 aber, was zu allen Zeiten die Cultur geichaffen hat, ift die gemeinjame 
Arbeit. Ueberrafhend wird für Jeden, der daheim den Orient nad) den jchrift- 
lichen Quellen ftudirt hat und dann den Boden Vorderaſiens betritt, die Sta— 
bilität jein, mit der man an den wichtigſten und bezeichnendften Civiliſations— 
formen feftgehalten hat — allerdings bei Weitem nicht an allen; denn die politijche 
Geftaltung und mit ihr die adminiftrativen Organe haben fich jeit jener Zeit 
weſentlich geändert. Letzterer Umſtand erfordert ſchon allein für den Cultur— 
hiftorifer ein gründliche Studium der oft nur ſchwer zugänglichen und für viele 
Punkte noch gar nicht präparirten Quellen. Aber auch dieje Qualification bejigt 
Herr v. Kremer in hervoriagendem Maße: die beiden uns vorliegenden Bände 
legen ein beredtes Zeugniß für feine ftaunenerregende DBelejenheit in den arabi- 
ſchen Autoren ab, eine Frucht langjährigen Studiums; und jeine früheren 
Arbeiten *) laſſen gerade diejes Werk als einen Abſchluß feiner bisherigen cultur- 
geſchichtlichen Thätigkeit erjcheinen. 

Es kann nicht unjere Abfiht fein, Hier von der Tyülle der interefjanten 
Einzelheiten eine Ausleje zu geben: dazu wäre eine Reproduction aller einzelnen 
Gapitel nothiwendig; auch wollen wir dem Lejer nicht das Vergnügen vorweg— 
nehmen, dem beredt und ſachkundig erklärenden Führer zu folgen. Beſchränken 
wir und auf die genaue Feſtſtellung der allgemeinen culturgefhihtlihen Reſul— 
tate, zu denen der Verfaſſer in feinen Forſchungen gelangt ift; wir werden jo am 
beften ein Bild von dem reichen Inhalt des Buches geben. 


J. 


Eine „Culturgeſchichte des Orients unter den Chalifen“ will, nach ihrem 
Titel, eine Schilderung nur der Cultur geben, deren unmittelbarer Träger das 
rechtmäßige Chalifat iſt; ſie bewegt ſich daher vorzugsweiſe in den Hauptſtädten 
des Reiches und ſiedelt mit dem Wechſel der Reſidenz von Medina nach Da— 
mascus und von da nad) Bagdad über. Alles, was die zahlreichen, mit einer 
weitgehenden Selbjtregierung ausgejtatteten Provinzen des ungeheuren, von Indien 
bi3 Spanien ſich erftredenden Reiches an originellen Gulturgebilden aufteifen, 
wird damit in den Hintergrund gedrängt; und injofern die Cultur des Chalifen- 
hofe3 in der That das Facit ſämmtlicher mächtiger Strömungen der verjchiede- 
nen Landestheile war, bildet fie auch das vollkommenſte Gefammtbild. Je mehr 
aber die Statthalter zu jelbftändigen Dynaften wurden, defto mehr Eulturunter- 
ſchiede ftellten jich ein, etwa in ähnlicher Weiſe, wie ſich jet Aegypten von der 
Türkei unterjcheidet, und wie ji durch die jchließliche politifche Lostrennung 
Perſiens und die damit verbundene Reaction gegen alles Arabiſche zwijchen ihm 


*) „Beichichte der herrſchenden Ideen des Islams.“ — „Gulturgeichichtliche Streifzüge auf 
bem Gebiete bes Islams.“ 


460 Deutihe Rundſchau. 


und dem übrig bleibenden Stüde die jet beftehende Kluft gebildet hat. Denn 
hängt auch die Kultur jedes Volkes durchaus an feinen materiellen Eriftenz- 
beftrebungen und wird in Folge deifen weſentlich durch das Klima, die Er- 
gibigkeit des Bodens, die größere oder geringere Leichtigkeit des Verkehrs mit 
anderen Völkern beftimmt: jo hat eine genau gehandhabte Regierung dieje cultur- 
Ichaffenden Elemente doch jo jehr in der Hand, daß ſie, wenn auch nicht Neues 
hervorrufen, jo doch das Vorhandene weientlih regeln kann und auf Diele 
Weiſe immer im erjten Grade beftimmend wirken muß. Die abjolutiftiiche Art, 
zu regieren, die im Oriente immer geherricht Hat, erhöhte diefen Einfluß noch 
in nicht zu unterfhäßendem Grade. Ein mit ausgedehnten Madhtvolllommen- 
beiten begabter Höfling regierte al3 Gouverneur die Provinzen, aus der Haupt- 
ftadt eine Anzahl von Beamten mit fi) führend; ein vortrefflich ausgebildetes 
Steueriyftem umfaßte alle Theile des Reiches, überall beruhte das Recht — 
wenigften3 für die herrichende Glafle der Muhammedaner — auf denjelben 
Grundlagen; und die gleihmäßig verbreiteten Riten des Islam, vorzüglid das 
Gebet, jorgten hinreichend für gute Disciplin. Man muß einmal eine gefüllte 
Moichee beim Gebete gejehen haben, um den ftraffen, militärifchen Charakter 
diefer Einrichtung ganz zu begreifen; in dicht gefchloffenen, genau ausgefüllten 
und lücenlojen Reihen aufgeftellt, den Vorbeter als Officier vor der Front, gleich- 
mäßig ſich beugend, fich niederiverfend und aufftehend, hat die VBerfammlung genau 
das Anfehen einer vor den Augen des Höchfteommandirenden erercirenden Truppe ; 
das Trreitagsgebet, bei dem das Erſcheinen für Jedermann obligatoriſch iſt, ift 
nur eine wöchentliche Parade der Heerichaaren der Gläubigen, und, um das 
militäriiche Bild voll zu machen, auch die Löhnung fehlte nicht. Aus der Zeit 
der Raubzüge Muhammed’3 hatte ſich die Sitte eingebürgert, die Kriegsbeute 
unter die gläubige Gemeinde zu vertheilen. Während der erfte Chalife, Abu 
Ber, diefe Vertheilung noch ganz ohne beftimmte Grundjäße vorgenommen 
hatte, jah jein Nachfolger, Omar, ſich durch die wahrhaft erdrüdtende Maſſe des 
einfommenden Geldes genöthigt, hier genaue Regeln aufzuftellen und vor allen 
Dingen Dotationsrollen anfertigen zu laffen. In diefe wurde jeder Muslim mit 
einer beftimmten Summe eingetragen, von dem der Bruft entwöhnten Finde 
an, welches 100 Dirham (etwa 100 Francs) erhielt, bis zu den Wittiven des 
Propheten, die ein jährliches Einkommen von 10. —12,000 Dirham bezogen. Herr 
v. Kremer macht mit Recht darauf aufmerkſam (II. 66), welche Anziehungs- 
kraft diejes Verfahren auf Anderögläubige ausüben mußte, und wie e8 das 
ganze junge Staatsweſen zufammenhielt. Man ftelle ji vor, daß in unjeren 
Tagen eine neue Religion aufträte, deren Träger untviderftehlich Alles vor jich 
mit dem Schwerte niederwürfen, allen activen Widerftand vergeblih machten 
und dagegen jedem ihrer Anhänger durchichnittlich eine jährliche Summe von 
1000 Francd auszahlten, und man wird zugeben müflen, daß jelbft die beft- 
gegründete Gemeinde diefem Anfturme gegenüber zu brödeln anfangen würde. 
So tar es damald. „Sie gründeten ihr Weltreih auf der feiteften und 
unwandelbarften Grundlage der menſchlichen Dinge, auf dem ftet3 gleich regen 
materiellen Intereſſe.“ (I. 71.) 

Diejes materielle Intereſſe umſchloß aber verſchiedene nationale Elemente, 


Der Drient unter den Chalifen. 461 


die ſich lange Zeit äußerſt jpröde gegen einander verhielten, ſich an anderen 
Orten jogar niemal3 ganz verjöhnt haben, und mit denen es wol jchwer 
gelungen jein würde, eine einheitliche Cultur herzuftellen, wenn das Volk der 
Sieger nicht alle die Eigenſchaften bejeffen hätte, welche dafjelbe in jo hohem Maße 
auszeichneten. Man muß fich, um die damaligen Vorgänge zu verftehen, ein deutliches 
Bild von der Veranlagung diejer Alles überfluthenden Araber machen. Sie waren 
noch dur und durch ein Naturvolf, zum größten Theile Beduinenſtämme, 
welche ganz oder zum Theile im Heere des Chalifen fochten, Alles mit ich 
führend, was fie bis auf den heutigen Tag noch auszeichnet. Gejund an Körper 
und Geift, zäh, ausdauernd, von jcharfen Sinnen, jchneller Auffaſſung und feiner 
Unterfcheidungsgabe, durchlodert von den Leidenjchaften der Liebe und des Hafles, 
unerbittlich in ihrer Rache, an ftrengen Gehorjam gegen das Stammesoberhaupt — 
aber auch nur gegen dieſes — gewöhnt, habgierig wie alle Semiten, heißhungrig 
lechzend nad) den lodenden Gütern der reichen, fie umgebenden Gulturländer, und 
dabei in jener Unbekanntſchaft mit den Freuden des Lebens aufgetvachien, welche 
zu allen Zeiten den dealiften groß gezogen hat, nun begeiftert für die große 
nationale dee des Islams — wer konnte ſolchen Soldaten widerftehen? Als 
der Eroberer Aegyptens, Amr ibn el-Afi, im Jahre 640 die koptiſche Feſtung 
Babylon, welche an der Stelle des jetzigen Altkairo lag, belagerte, verfuchte der 
feindliche Anführer Unterhandlungen mit ihm anzufnüpfen, und jchickte zu diefem 
Zwede Gejandte in das muhammedanijche Lager. Zurüdgefehrt und nad) dem 
Eindrude gefragt, den fie von den Gegnern erhalten hätten, antworteten fie: 
„Wir jahen ein Bolt, das den Tod mehr liebt al3 das Leben, die Unterwerfung 
mehr al3 die Erhebung, welches Tein Begehr noch Berlangen nach irdiſchen 
Gütern hat; fie fien im Staube und eſſen auf ihren Knien; ihr Fürſt ißt wie 
jeder Andere von ihnen, der Hohe unterjcheidet fich nicht von dem Niederen 
noch der Herr von dem Sclaven; und wenn die Stunde de3 Gebetes naht, jo 
fehlt Keiner von ihnen: fie waſchen ihre Glieder mit Waſſer und demüthigen 
fih in ihrem Gebete.“ Wir haben diefer, wenn auch. einjeitigen Schilderung, 
doch kaum Etwas hinzuzufügen: fie gibt genau den Eindruck wieder, den die 
einfache Lebensweije, die Alles an Alles jegende Energie, die täglichen Gebet3- 
erereitien der Araber auf die fremden Völker machen mußten. Die hier nicht 
erwähnte, weil damals den Feinden gegenüber zunächſt nicht jo hervortretende 
Eigenſchaft der unerjättlichen Habgier, dieſer Hunger nad) den Freuden einer 
höheren Gultur, war aber gerade Das, was fie zu Trägern und Yortbildnern 
der Givilifation machte, welche ſie in den von ihnen eroberten Ländern vorfanden. 

Man Hat den Arabern oft vorgeworfen, fie hätten nie eigene Culturgebilde 
neu gejchaffen, jondern ftet3 nur Das angenommen, was ihnen andere Völker 
geboten. Die Bemerkung ift im Allgemeinen richtig, aber fie ift fein Vorwurf. 
Wie kann ein Naturvolt, das feine Wohnfite verläßt und erobernd die civilifirten 
Nahbarländer an ſich reißt, ſich eine originelle Cultur ſchaffen? Iſt es nicht 
gezwungen, hierin den Beftegten zu folgen, und erfüllt e8 nicht vielmehr feine 
civilifatoriiche Aufgabe, wenn es alles Ueberfommene in ein volljtändiges und 
neues Syſtem faßt, und einen neuen und eigenthümlichen Gedanken an bie 
Spite ftelt? In der Ausführung dieſes Planes aber haben auch die Araber 


462 Deutiche Rundſchau. 


ihre ganz charakteriſtiſche Cultur gejchaffen und für einige Zeit zur vollen Blüthe 
gebracht. Hr. dv. Kremer, der jelbft zu wiederholten Malen und an ben ver- 
ſchiedenſten Stellen auf wichtige Culturentlehnungen aufmerkſam gemacht Hat, 
jteht nicht an, von einer „arabiſchen“ Civilifation zu reden. Er jchlägt aller- 
dings (II. Bd. ©. 485) vor, fie „ſaraceniſch“ zu nennen; allein da diefe Be- 
zeichnung auch nicht deutlich ift, fo kann man den alten Namen beſſer beibehalten, 
der, mit der nöthigen Einſchränkung gebraucht, immer noch amt bezeichnendften ift. 

Was ift aber nun der Grundgedanke, da3 Princip diefer Cultur geweſen, 
die Stüße, an der fie fi) emporrankten und blühend ausbreiten fonnte? Es ift 
die dee eined auf communiſtiſcher Grundlage beruhenden reli— 
gidfen Staates, mit dem Islam als Gejet. Dan hat jet allgemein 
den Fortſchritt anerkannt, der hierin den damals herrjchenden religiöjen und 
politiichen Syftemen gegenüber gemacht wurde; allein mit der ungeheuren Aus— 
breitung des Reiches konnte fich diefer Gedanke nicht rein bewahren, und be- 
ſonders da3 Communiſtiſche darin mußte verſchwinden, Falls nicht die ganze 
Maſſe ſich in einzelne Theile auflöjen jollte. Für den Beſtand war enticheidend, 
daß gleih im Anfang ein genialer Herrfcher wie Omar I. die Regierung in 
den Händen hatte. Er jchuf alle die Organe, die in ihrer jpäteren Ausbildung 
dem Chalifenreiche Halt gaben, und wir machen den Leſer bejonder3 auf das 
dritte Gapitel des erjten Bandes, „die Staat3einrichtungen der patriarchalifchen 
Zeit” aufmerkſam. Wichtig war aud die Thätigkeit des Chalifen Muatvija, 
der ein genauer und gewandter Rechner und DBerechner war; eine Eigenjchaft, 
die bei dem perennirenden Geldüberfluß recht am Plate fein mußte. 

Diejes führt uns auf die Finanzverhältniſſe des Chalifenreiches, welche Herr 
dv. Kremer mit großer Ausführlichkeit beiprochen hat. Es geht daraus hervor, 
daß der muhammedaniiche Staat von vorne herein auf ungelunder finanzieller 
Grundlage ruhte und troß der Schöpfungen Omar’3 I. ſowie der jpäteren wahr- 
haft großartigen Ausbildung des Steuerjyftem3 den Keim de3 Todes in fi) trug. 

Es ift niemal3 gut, wenn ein Staat überflüjfig viele Geldeinnahmen hat — 
diejen Sat wird nach den neueften Erfahrungen wol Niemand mehr beftreiten — ; 
ein im Entftehen begriffenes Staatsweſen aber kann dadurch volllommen wieder 
aufgelöft werden. Hier find beſchränkte Mittel das Naturgemäße und Wünjchen3- 
werthe, da nur fie Sparſamkeit und richtigen Gebrauch lehren. In den Anfang3- 
zeiten des Chalifates war gerade das Gegentheil der Tall: Geld regnete von 
allen Seiten gleihjam vom Himmel herunter, und die an einfache Verhältniffe 
gewöhnten Herrſcher wußten nicht, wohin damit. Man hatte noch nicht weiter ala 
Tauſend zählen gelernt und jollte mit Millionen rechnen. Wie half man fi? 
Omar ſchuf, genau dem herrichenden communiftiichen Principe gemäß, jene bereit3 
oben erwähnten Dotationsgejeße, denen gemäß jeder Muslim al3 jolcher einen 
jeiner Stellung entiprechenden Jahresgehalt von 100 bis 12,000 Francs empfing, 
wobei gleihmäßig Vollblutaraber und Halbaraber, Erwachſene und Kinder, Freie 
und Sclaven bedadht wurden. Muawija, der erſte Chalife aus dem Haufe der 
Dmaijaden, der wie gejagt ein guter Rechner war, jah ſich ſchon gezwungen, 
diefe Dotationen um 2'/, Procent zu vermindern. Je geringer nun die Kriegs— 
einkünfte wurden, je höher andererſeits der Luxus am Hofe ftieg, defto weniger 


Der Orient unter den Chalifen. 463 


wurden Dotationen ausgezahlt; unter den letzten Omaijaden jcheinen fie ganz 
aufgehört zu haben, wenigftens war unter der nachfolgenden Dynaftie der Ab— 
bafiden feine Rede mehr davon. 

Mit diefem Vorrechte der Muslimen hängt ein anderes Gejeß zujammen, 
da3 Verbot des Länderbefites für die herrſchende Claſſe, welches Omar I. erließ, 
Der Einblid in die Entjtehungsgefchichte diefer Beitimmung, welchen uns der 
Verf. (I, 74) gewährt, läßt fie zwar als eine politiich kluge Maßregel exricheinen ; 
dennoch aber jtehen wir nicht an, fie vom volkswirthſchaftlichen und finanziellen 
Standpunkte aus für höchſt verderblich zu erklären. Man hielt da3 Land da= 
durch in einem fortwährenden Belagerungszuftande, drückte durch die ungleiche 
Steuer- und Arbeitävertheilung unmäßig den nihtmuhammedaniichen Theil der 
Bevölkerung und zwang den anderen, in Luxus und Müßiggang ein mühelos 
exrtvorbenes Vermögen zu verjchleudern. Das Geld verlor reißend an Werth; 
der Chalife Muamwija kaufte ein Haus um 60,000 Frances, von dem der Befiker 
jeloft äußerte, daß er e3 vor dem Islam um einen Schlau Wein erivorben 
habe (IT, 191). Als nun auch jpäter das Verbot de3 Länderbefites nicht mehr 
eingehalten wurde — der eben genannte Herrſcher machte den Anfang damit —, war 
der Luxus und der Leichtfinn in der VBerausgabung des Vermögens fo eingeriffen, 
daß die liegenden Gründe unabläjjig aus einer Hand in die andere gingen; e3 
war — Wie Kremer geiftreich bemerkt — wie in einem Treibhauje: Alles ſchoß 
raſch in Blatt und Blüthe, um ebenjo raſch zu vermwelfen. Der Beherricher der 
Gläubigen ging hierin natürlich mit gutem Beijpiele voran. Harun al-Raſchid 
hatte eine Civilliſte von 300—400 Millionen Dirham, eine Summe, die ſchlechter— 
dings nicht auf vernünftigem Wege ausgegeben werden konnte, und feine un— 
finnige Verſchwendung, die ihn mit Unrecht bei der Nachwelt jo berühmt ge= 
macht hat, ift allerdings durch diefen Umftand zu entihuldigen. Andererſeits 
brachte der raſch erfolgende maſſenhafte Mebertritt der Chriften, Juden und 
Parien zum Islam eine große Verwirrung in das Steuerwejen: die Kopf- und 
Grundfteuer drückte oft jehr hart, und wenn man ji) auch nicht immer empörte, 
wie die Kopten in Wegypten, jo ſuchte man ihr doch durch Mebertritt zur 
herrjchenden Religion zu entgehen und verminderte das Staat3einfommen jogleich 
auf beträchtliche Weile. Schon zu Muawija’s Zeiten war der Steuerertrag vom 
Irak von 100-120 Millionen Francs auf 40 Millionen herabgejunfen, und e3 
waren energiihe Maßregeln nöthig, um ihn wieder in die Höhe zu bringen. 
Dieſe ungleiche Vertheilung der Abgaben mußte natürlich die Steuerkraft des Landes 
ſchwächen: über zwei Drittel des gefammten Einfommens wurde von den Anders- 
gläubigen getragen, und trat ein folcher über zum Islam, jo verlor der Staat 
mindejten3 ein Drittel der von jenem früher entrichteten Summe, Als fi unter 
den Abbafiden diefe Verhältnifje mehr auszugleichen begannen, hob ſich auch das 
Steuereinfommen, allein nur auf kurze Zeit; denn die bald ausbrechenden inneren 
Kriege Liegen e3 niemals vollftändig eingehen und jchädigten andererjeit3 den 
Mohlftand des Landes, zerftörten die Ernten, drüdten durch Contributionen und 
machten es an einigen Orten unmöglich, den feſtgeſetzten Betrag aufzubringen. 
Hierbei denken wir noch gar nicht an die Zeiten, wo die Steuerpädhter zu ihrem 
eigenen Vortheile das Land ausjogen, oder two einzelne Provinzialgouverneure jo 





464 Deutſche Rundſchau. 


mächtig geworden waren, daß ſie es für überflüffig hielten, die Caſſenüberſchüſſe 
nach der Hauptſtadt abzuführen. 

Aus allen dieſen Gründen iſt es erklärlich, daß die Finanzen des Reiches 
abwärts gingen. Im Jahre 775 n. Chr. betrug die Geſammteinnahme des 
Chalifen 411 Millionen Dirham, im Jahre 819 nur 3712, Millionen, im 
Jahre 845 gar nur noch 293 Millionen (I, 271). Der fteigende Verfall, der ſich 
in dem größeren Abftande der zweiten Ziffer von der dritten ala der erften von der 
zweiten bemerkbar macht, zeigt, daß man auf böſem Wege war, Auch jcheint 
eine wirklide Erihöpfung der Steuerkraft jehr bald eingetreten zu fein: denn 
ſchon der zweite Abbafide, Manſur, jah fich gezwungen, eine Erleichterung an- 
ordnen zu lafjen, weldher im Laufe der Jahre unter jeinen Nachfolgern eine ganze 
Reihe anderer Reformen folgte. Wie hoch aber mandje Steuern angejegt waren, 
erfahren wir aus einer Verbeſſerung Mamun's, der 204 der Hedſchra (319—20 
n. Chr.) die Ertragsfteuer von 50%, auf 40%, herabjeßte; ein Procentjaß, der 
una immer noch jehr hoch ericheinen muß. 

Alle die aufgezählten Mängel, welche wir gerade ihrer allgemeinen Bedeu: 
tung wegen erwähnt haben, können uns aber nicht hindern, im Einzelnen ben 
arabiihen Finanzmännern unjere vollfte Bewunderung zu zollen. Es geht aus 
der vom Berfaffer gegebenen ftatiftiichen Neberficht der 27 Provinzen des Riejen- 
reiches deutlich hervor, mit welcher Sachkenntniß man überall die Steuerjchraube 
anzufegen wußte, und wenn in Wirklichkeit ſich Vieles anders und fchlimmer 
zutrug, als es follte, jo hatte da3 jeinen Grund in der mangelnden Gontrole, 
die damals allerdings für joldde Entfernungen faft unmöglich war, und in Folge 
deren die politifche innere Auflöfung in der That ihren Anfang nahın. 


II. 


Der Organismus des Staates erſcheint auf der Höhe feiner Entwidelung 
und durch den Fortſchritt der arabiichen Cultur in einer Geftalt, die kaum noch 
an die Anfangszeiten erinnert. Der einfach und jchlicht lebende Nachfolger des 
Propheten, für den der geniale Omar das ewig claſſiſche Beiſpiel bleiben wird, 
ift zum majeftätijch thronenden Herricher getvorden, vor dem fich Alles demüthig 
in den Staub beugt. Die Theilnahme der gläubigen Gemeinde an der Regie: 
rung hat ganz aufgehört: jelbft die Wahl des Chalifen vollzieht ſich nicht mehr 
nad dem Ausſpruche des Volkes, jondern nad) dem in der herrſchenden Familie 
beftehenden Erbfolgegeſetze. Die Leitung des öffentlichen Gebetes, ehemals eines 
der wichtigften Vorrechte, ift zur leeren Fyormalität herabgejunfen, der Niemand 
mehr Bedeutung beimißt. Launen herrichen anftatt ernfthafter Ueberlegung; 
Sclaven und Meiber lenken das Staatsſchiff; ungezügelte Leidenjchaften und 
friechende Speichellederei Laffen den wirklichen Maßftab der Dinge volllommen 
verlieren. Gine ungeheure, ſchrankenloſe Macht ift in die Hand eines Einzelnen 
gelegt; und welcher Regent hat dabei nicht oft über feiner Perjon fein Volk ver- 
geſſen! Selbft Mamun, deſſen Zeit wir als den Höhepunkt der arabijchen Cultur 
bezeichnen, der größte Abbafide, welcher die humanſten und richtigſten Principien 
von allen hatte, kann nicht von vielen Graufamfeiten und willkürlichen Hand- 


Der Orient unter den Chalifen. 465 


(ungen frei gejprochen werden, wenn ihn auch unjerer Meinung nad G. Weil 
in feiner „Geſchichte der Chalifen“ etwas zu hart beurtheilt. Diefem Halbgott 
ftand der Vezier zur Seite, mit beſchränkter oder unumſchränkter Vollmacht aus— 
geftattet, fein Günftling und erfter Beamter, von jeinen Launen ebenjo gefährdet, 
al3 von jeiner Zuneigung mit Reichthümern aller Art überhäuft; er hatte als 
Regierungsorgane die großen Kanzleien in feiner Nähe: das Kriegaminifterium, 
den Diwan der Ausgaben und des Staatseinkommens, das Correſpondenzbureau, 
die Cabinetskanzlei, den Diwan des Staatäfiegel3, die Kanzlei für Eröffnung 
anlangender Depejchen, die Münze und dad Amt für die Normale, den oberften 
Appellhof, die Polizei und das Gentralpoftbureau. Mit ihnen jollte das ganze 
ungeheure Reich in Ordnung gehalten und einheitlich verwaltet werden: auch erwieſen 
jich diefe Organe ala volllommen geeignet dazu, und es herrſchte in den guten 
Zeiten des Chalifates eine ftraffe Centraliſation. Die Statthalter der einzelnen 
Provinzen wurden genau controlirt und durften fi, ohne in der Hauptftadt 
anzufragen, keinerlei wichtige Regierungshandlung geftatten. Der ald Staat3- 
mann wie al3 Feldherr gleich bedeutende Eroberer Negyptens, Amr ibn el-Afi, 
fragte gehorjamft bei jeder einigermaßen weiterreichenden Entſcheidung in Medina 
an. Doch reichte diefe Gentralijation nicht in die tieferen Schichten der Ver— 
waltung hinab; im Gegentheil wußte man fie jehr gut von der durch die Um— 
ftände geforderten Selbftverwaltung der einzelnen Kreiſe zu jcheiden. Die Steuern 
der Provinz wurden vor Allem für ihre eigene Verwaltung benützt, und erſt, 
wenn Ueberſchüſſe vorhanden waren, gingen Summen an da3 Finanzminifterium 
ab. Der Provinzialgouverneur allein war direct vom Hofe abhängig; er hatte, 
fall3 ex unbeichräntter Statthalter war, die oberfte Leitung des Kriegs- und 
Gerihtswejens und die Vorfteherihaft beim Gebete: die einzelnen Städte und 
fleineren Kreije aber wurden durch aus der Provinz vom Statthalter gewählte 
Mali regiert, die in wichtigen Angelegenheiten nicht ohne Zuziehung des Rathes 
der Zunftälteften, des Kadi und der Geiftlichfeit handelten. So machte fidh 
glüclicherweile die am Hofe herrichende Verderbniß nicht jo raſch in weiteren 
Kreifen fühlbar, und der politifche Verfall hatte jchon begonnen, al3 man volfs- 
wirthichaftlich noch immer der gleichen Profperität genoß. 

Eins aber ift aus diefen Staatseinrichtungen Klar: der von einer jo weiten 
Peripherie nad) dem Centrum gehende Strom culturbildender Kräfte mußte die 
Givilifation der Hauptftädte Fünftlich zu einer ungewöhnlichen Blüthe bringen. 
Unverhältnigmäßig entwidelte und verfeinerte fich das Leben in der Nähe des 
allmächtigen Herrſchers. Eines der am meiften in die Augen jpringenden Merk— 
male diejer raffinirten Genußdafeins ift 3. B. der ungeheure und vielfältige 
Gebraud) von Wohlgerüchen. Doc dürfen wir Hier Eines nicht außer Augen 
laffen: die großen Städte find die Wiege der Cultur, aber fie find nicht ber 
Gradmeſſer derjelben; wie weit ein Volk fortgefchritten ift, zeigt fich ftets nur 
an der Stellung der mittleren Clafjen der Provinzialftädte. So können wir 
die Liebesabenteuer eines Omar ibn Kabia, die Zechgelage eines Walid und den 
verſchwenderiſchen Luxus eines Harım al-Rajhid nicht auf ein ganzes Volk über- 
tragen, und deshalb auch faum anwenden, wenn wir die allgemeine Gultur des— 
jelben beftimmen wollen. Die richtige Schätzung diefer jet die Bekanntſchaft 

Deutſche Rundſchau. III, 9. 31 


466 Deutſche Rundſchau. 


mit dem Volkscharakter, den Volksclaſſen und ihrem Leben, mit Handel und Ge— 
werbe, mit dem damaligen Stande von Poeſie, Wiſſenſchaft und Literatur 
voraus (I, Cap. 5—9); und nad) Maßgabe dieſer Factoren wird man finden, 
daß ein friiches, fröhliches Leben dieſe Epoche ausgezeichnet Hat: Rührigkeit nad) 
allen Seiten hin, ein Gefühl der Geſundheit und Kraft, eine Luft zum Lernen, 
zum Reifen, zum Gntdeden, eine Freudigkeit beim Schaffen, eine Ausdauer bei 
der Arbeit, beivunderungswerth für alle Zeiten. Die arabiſchen Schiffe zeigten 
jih in jedem Hafen des mittelländiichen Meeres, des arabiichen und perfifchen 
Golfes, des indilchen, ja ſelbſt des ftillen Dceans. Die reihen Producte China’s, 
Japan's und Indien's fanden auf ihnen ihren Weg in’3 Ausland. Golonien 
ſchoſſen an der Oſtküſte Afrika’ und dem MWeftrande von Indien raſch in die 
Höhe. Karawanen durchzogen ganz Ajien, drangen bis in das Herz Afrika's 
und vermittelten einen Waarenumja, der großartig genannt werden muß. 
Daneben begann die einheimilche Induſtrie ſich zu heben und die Föftlichen von 
außen importixten Stoffe zu verarbeiten, andererjeit3 aber vaterländifche Pro— 
ducte nad Oft und Süd und in's Abendland auszuführen. Chineſiſche Berichte 
geben uns die Artikel an, die man damal3 aus den Guphratländern bezog. 
Am entwideltften war die Anduftrie dev Schmiedearbeiten, der Gewebe und der 
Papierfabrifation, die an verfchiedenen Orten, jo in Samarkand, Nordarabien 
und Aegypten, ftark betrieben wurde. Das fefte, röthlich-braune, glatte und por» 
trefflich planirte Papier für große Koranhandichriften läßt, wenn es gut erhalten 
ift, gewiß nicht vermuthen, daß e8 vor 7—8 Jahrhunderten angefertigt worden 
ift. Die billigeren Sorten waren allerdings zu Anfang, da fie reines Wollen» 
papier waren, weniger haltbar; jpäter aber fing man an, ihnen Leim beizu- 
miſchen und ihnen dadurch mehr Tyeitigkeit zu geben. Neben diejen Zweigen 
nimmt die Luxusinduſtrie den bedeutendften Plab ein: die Verarbeitung aus— 
ländijcher und einheimifcher Wohlgerüche zu duftenden Effenzen, Oelen, par: 
fümirten Seifen u. dergl. beichäftigte eine große Anzahl Arbeiter, nicht minder 
das mannigfaltige Färben der Gewebe, die Mofailarbeit, die Decorationd- und 
Miniaturmalerei, das Schniten in Holz und Elfenbein, das Vergolden und 
Berfilbern, die ganze weitausgedehnte Anfertigung von Schmuckſachen und die 
Blumen- und Gartenpflege, in der Bedeutendes geleiftet wurde, und die ihrer- 
ſeits wieder mit einem ausgebildeten und jorgfältig geregelten Aderbau in Ber- 
bindung ftand. Bon den beiden Künften übergeht Kremer ausdrücklich (II. 
319) die Architektur, während er die Muſik an einzelnen Stellen, aber nur 
in ganz allgemeiner Weije, erwähnt. In der That ift unjere Kenntniß der 
legteren noch viel mangelhafter, eine Vervollftändigung derjelben noch viel 
ſchwieriger und ausfichtälojer, al bei der erfteren. Es geht und damit, wie 
mit der griechiſchen Muſik: theoretiſche Schriften find vorhanden, aber es fehlen 
die Compofitionen. Man faßte nicht allein dieje Kunft nach dem Vorgange 
der Griechen vom philojophiichen Standpunkte auf und behandelte fie demgemäß 
in großen noch erhaltenen Werfen, jondern der Sammler des großen „Buches 
der Geſänge“ gibt ung auch eine weitläuftige Ueberſicht über die ehemals ge- 
bräuchlichen Weijen; allein es ift nicht recht klar, ob ex jelbft in diefen Dingen 
feſt war: waährſcheinlich ift feine Darftelumg nicht viel mehr ala eine mechaniſche 


Der Drient unter ben Chalifen. 467 


Gompilation — wir jedenfalls find dadurch in unjerer Kenntniß des arabiſchen 
Geſanges nicht gefördert worden, und harrt die Trage noch einer eingehenden 
Unterſuchung. 

Dieſelbe Lebendigkeit, derſelbe jugendliche Eifer zeigt ſich auf dem Gebiete 
der Wiſſenſchaft und Poeſie. Zwar iſt die Blüthezeit der arabiſchen Dichtkunſt 
nicht von langer Dauer; auch iſt die Höhe des Drama's von den Arabern ſo 
wenig wie von einem anderen ſemitiſchen Stamme jemals erreicht worden. 
Ihr Gebiet iſt die Lyrik, und ihr — der Araber — ganz beſonderes Eigenthum 
die Kaſide“, welcher wir einen hohen Grad von Urſprünglichkeit zuſprechen müſſen, 
al3 einer wirklich über das einfache Lied hinaus gehenden Kunftform; in ihren ein— 
zelnen Theilen durchläuft fie die ganze Scala der altarabijhen Gefühle, wobei fie 
regelmäßig — um einen modernen Vergleich zu gebrauchen — mit einem Adagio be= 
ginnt und mit einem Prefto endet. Stellen wir und vor, daß die alten Sänger 
diefer Dichtungen zum lange der zweijeitigen Violine, Rebabe genannt, recitirten 
und dabei, je nad) dem Inhalte, Rhythmus, Tempo und Tonfall wechſelten, 
ganz wie es heutzutage noch gebräuchlich ift, jo fönnen wir uns einen Begriff 
von der Fünftleriichen Befriedigung machen, welde man am Schlufje eines 
Stückes empfand, in welchem Alles in treffenden, glühenden Worten gemalt 
war, was beim Ritt über verlafjene Lagerpläße, in der ſchweigſamen Wüſte, 
der dumfeln, fternblintenden Nacht, beim donnernd niederpraffelnden Gewitter: 
regen, in den Armen der Geliebten oder im Anfturme gegen die Feinde und 
beim krachenden Zeriplittern der Lanzen die Bruft des Araber durchwogt 
haben mag. Wir hätten gewünſcht, daß unſer Verfaffer diefe Kunftform in den 
Kreis jeiner Beiprecjungen gezogen Hätte. Im Uebrigen zeichnet er und von 
den ganz in Naturgefühlen aufgehenden vorislamiſchen Dichtern bis zu dem in 
die düfteren Empfindungen einer pejfimiftiichen Reflexion verjenkten Abu'l-Ala 
Maarıy, immer intereffant und lebendig, den Weg der arabiſchen Poefie und 
ihren rajhen Verfall. Die großen Dichter wurden bald durch die Gunft der 
Fürften zu Schmeichleen herabgewürdigt und durch das luxuriöſe Leben den 
wahren Empfindungen entfremdet. 

Ein längeres Dajein hatte die arabijche Wiffenjchaft, der die Verfeinerung 
der Sitten, der Ueberfluß an Mitteln eher nützlich als ſchädlich war. Von ihrer 
welthiftoriichen Bedeutung, welcher Hr. von Kremer das geiftvolle neunte Gapitel 
jeine3 zweiten Bandes widmet, zu fprechen ift hier nicht der Ort. Nur eine Be- 
merfung wolle man uns geftatten. Diejenigen Neußerungen des geiftigen Lebens, 
welche fi am menigjten auf den engen Kreis der Gelehrten beſchränkten, vielmehr 
am meilten in’3 Volk drangen und daher, rein culturgefhichtlich betrachtet, als die 
wichtigften angefehen werden müffen, find theologifch-philofophiicher und juriftifcher 
Natur. Ihre Wirkungen auf die Maffe pflegt man jedoch zu überſchätzen. Während 
die bedeutendften Männer jener Zeit gegen die ftarre Unbetweglichkeit bed orthodoren 
Islam ankämpften, verhartte das eigentliche Volt in dem hergebrachten Glauben, 
der ihm durch feine Riten ſchon längft zur Lebensgewohnheit geworben war. Ein- 
zelne Pöbelhetzen kamen wol vor; aber bi3 zu einer vom Wolke getragenen oder gar 
veranlaßten Reformation und Revolution ift die Cultur des Chalifenreiches nicht 
gedrungen. Hier ift die Schranke, die fie, troß der umleugbaren Ueberlegenheit 

31* 





468 Deuiſche Rundichau. 


über die Cultur der europäiſchen Völker des Mittelalters, weder damals nod 
ipäter überfchritten Hat. Und daraus ergibt fich der Unterſchied zwiſchen den 
heutigen europäiſchen und orientaliichen Zuftänden: wir fönnen von einer neuen 
Geſchichte ſprechen, der Afiate kann das nit; er ift um eine ganze Epoche — 
und welch' eine Epoche! — hinter uns zurüdgeblieben. 

Bliden wir jhließlih in die engften culturbildenden Kreije des arabijchen 
Volkes, in die Familie, jo fteht auch hier der richtigen Auffaffung der Dinge 
ein ſchwer zu bejeitigendes Borurtheil entgegen, daß jeinen Grund allerdings 
in einem berechtigter Abjchen vor der Vielweiberei hat. Dan ftellt fich den 
Harem des Drientalen gemeiniglid) als eine Stätte roheſter Sinnenluft vor, 
aber Nicht3 kann irriger jein. Paßt diefe Schilderung auf einzelne Fälle, jo 
wolle man bedenken, daß aud in Europa mander Günftling des Glüds in 
Verhältniſſen lebt, die zwar des Schubes und der Ordnung bejtehender Geſetze 
entbehren , ſonſt aber der Polygamie jehr ähnlich ſehen. Die Regel aber, vor- 
mal und jet, für den Mittelftand des Orients ift eine Frau; nur jehr 
wohlhabende Leute erlauben ſich ſpäter noch eine zweite. Bis zu der geſetzlich 
geftatteten Zahl von vieren wird in den jeltenften Fällen gegangen. Der 
wundeſte Punkt in den diesbezüglichen Beftimmungen ift jedenfalls das Gejet 
über die Eheſcheidungen, das den mit jo viel Förmlichkeiten eingegangenen 
Bund durch ein einziges Wort wieder auflöftl. Der gelunde Familienfinn aber, 
der von jeher den Semiten audgezeichnet hat, benußt jelten die gebotenen Frei— 
beiten in irgendwie erorbitanter Weife; im Gegentheil müfjen wir den Drien- 
talen Hierin ein jehr günftiges Zeugniß auöftellen: nirgends ift Ehrfurcht vor 
Vater und Mutter, Liebe zu den Kindern, Opferwilligfeit auf beiden Seiten, 
Gefühl von unzertrennlicher Zufammengehörigfeit größer, al3 bei ihnen. Freilich 
kann nicht geleiignet werden, daß das Berhältnig von Mann und Frau nicht das 
natürliche iſt; wenn auch im arabiſchen Alterthum, dev Heroenzeit diejes Volkes, 
mande rau eine bedeutende Rolle gejpielt hat und ihr Einfluß im Allgemeinen 
größer war, jo entjchied ſich doch die jpätere Praxis dagegen und drüdte durch 
das widertvärtige, von den Byzantinern entlehnte Inftitut der Eunuchen ihre 
Stellumg no mehr herunter. Durch die geringe Aufmerkſamkeit, die man der 
Bildung des weiblichen Geſchlechtes zuwandte, beſchränkte man den erziehenden 
Einfluß der Mutter auf die allererften Anfangsgründe; und daß der gebildete, 
das Leben Tennende Sohn troßdem immer noch in Ehrfurcht feiner unwiſſenden 
und unerfahrenen Mutter naht, ift ein Zeichen mehr für den tiefen, gefunden 
Hamilienfinn dieſes Volkes. 

Ganz ähnlich ſteht es mit der: orientaliſchen Sclaverei, bei der man nicht 
an die von Europäern geihaffenen ehemaligen barbariihen Zuftände von 
Amerika denken darf, Die Stellung des Sclaven war geſetzlich geregelt, er 
wurde meiftens wie jeder. andere Hausgenofje behandelt, konnte auf mancherlei 
Weiſe jeine Freiheit erlangen, blieb allerdings dann noch bis zu einem gewijjen 
Grade abhängig von feinem ehemaligen Herrn, doch war das Verhältniß nicht 
unvortheildaft für ihn und wurde vom Staate ftreng überwacht. Seine po= 
litiſchen Rechte waren äußerſt beſchränkt, perſönlich aber haben nicht wenige 
von ihnen großen Einfluß erlangt. 


Der Drient- unter den Chalifen. 469 


Da3 in beiden Inftitutionen verlegte Gejeh der Menſchenwürde follte ſich 
jedoch im Verlaufe der arabiihen Eultur bitter rächen: die Polygamie und die 
Sclaverei find in ihrer Ausartung eine Urſache des Verfalls für dieje getvorden. 
Die Eiferfucht der verfchiedenen Haremsdamen eine? Fürſten unter einander 
übertrug fi) naturgemäß ala Feindſchaft auf ihre Söhne, die num unter fi 
mit offenen oder verſteckten Waffen um die Herrichaft kämpften. Faſt niemals 
ift die Thronbefteigung eines von ihnen ohne Blutvergießen vor ſich gegangen; 
einmal aber feit auf dem Throne fitend, ſuchte der Nachfolger Alles zu zerftören, 
wa3 jein Vorgänger geichaffen hatte, um jeine eigenen Schöpfungen an ihre 
Stelle zu jegen und das Gedächtniß jenes bei dem Volke auszulöſchen. Das 
arabiiche Erbfolgegeſetz, das immer den Aelteiten der ganzen Familie ala 
Nachfolger nennt, erweiterte natürlich den ohnehin ſchon großen Kreis von Be- 
twerbern. Die Macht der Sclaven als Günftlinge des Herricherd war nicht 
minder verderblich für das Land; fie waren meiſtens als Knaben au3 den an= 
grenzenden türkiichen Bändern an den Hof verfauft worden, Hatten durch ihre 
Schönheit Gnade vor den Augen des Fürften gefunden, fi durch Intriguen 
emporgeſchwungen und regierten nun mit noch größerer Willkür ala der, welcher 
ihnen diefe Macht verliehen. Man kennt aus Aegypten, wo da8 Syſtem der 
Mamlufen (Sclaven) befonder3 Überhand nahm, die beflagenswerthen Tyolgen 
deffelben. 

In dem Maße, wie die centralifirende Kraft des Fürften dev Gläubigen abnahm, 
wuchs die Macht der Statthalter und Großen und äußerte ſich in Widerjeklich- 
feiten und Auflehnungen, bi3 die hereinbrechende Fluth der Mongolen dem Wohl- 
ftande und der Givilifation des Landes den ſchwerſten Schlag verjete, von dem 
e3 ſich niemals ganz wieder erholt hat. Peſt und Theuerung Hatten ſchon 
früher allzu Häufig geherrſcht; jeßt kamen dauernde Fehden, Unficherheit auf 
allen Wegen und Bedrüdung durch fremde barbariihe Völker Hinzu. Es ift 
natürlich, daß die Cultur dabei ftill ftand, und daß man langjam zurückzu— 
gehen begann, innerlich” nur noch gehalten durch die Stärke der Familienver— 
hältniffe des Volkes, die bis heute den Orient vor dem gänzlichen Untergange 
gerettet haben. Es war die politiiche Auflöfung, welche mit dem Verfall der 
nationalen und vollswirthichaftlihen Mraft auch den der Cultur Vorderaſiens 
herbeigeführt, dem Drientalen die Luft zum WBorwärtsftreben, zum Arbeiten 
genommen hat, und ihn ohnmächtig im Gefühle jener Schwäche bahinleben 
läßt. „Wenn es wahr ijt, mein Bruder,“ fagte mir eines Tage ein nad)- 
denklicher arabijcher Freund, „daß wir alle der Exde entwachien find, wie Deine 
Landsleute jagen, jo find die Söhne der Mutter jehr unähnlich; fie ift dieſelbe 
geblieben jeit alten Tagen: unjer Himmel leuchtet ihr wie früher, die Luft, 
welche fie anmweht, ift mild, das Waller, das fie tränkt, ift füß, fie bringt uns 
Früchte und viele Güter wie zuvor — aber die Menjchen auf ihr find anders 
getvorden: ihr Herz ift Ihwah und ihr Auge ift müde, fie wollen nicht 
arbeiten und begehren nicht nad; Erkenntniß; denn Erkenntniß ſchafft Sorgen, 
und fie haben deren genug.“ 


ri 





Ueber die linguiſtiſche Stellung des modernen 
Griechiſch. 


Von 
Prof. Dr. Guſtav Meyer. 


— — — 


Wenn man gegenwärtig von der Sprache des Griechenvolkes redet, ſo be— 
trachtet man ſie vorwiegend in dem Lichte einer todten, oder höchſtens einer 
ſolchen Sprache, welche nur noch für Schulzwecke angewendet wird. Aber man 
vergißt bei einer ſolchen Betrachtungsweiſe, daß dieſe Sprache noch heute auf 
dem Boden des alten Hellas von einer ganz beträchtlichen Anzahl Menſchen 
geſprochen wird, mannigfach verändert freilich und ſelbſt entſtellt durch die lange 
Reihe der Jahrhunderte; aber immer noch ſo ähnlich der Sprache, die uns in 
den Tragödien des Sophokles entzückt, daß wir ihr mindeſtens dieſelbe Pietät 
ſchulden, mit der wir die Züge einer Matrone betrachten, in deren friſche Augen 
wir in unferer Jugend oft und gern geblidt. 

In der That, wir find umgerecht gegen die Sprache ber heutigen Griechen, 
jo wie gegen ihre Literatur oder beijer ihre Beftrebungen, eine Literatur vor— 
zubereiten und zu ſchaffen. Die Begeifterung, welche der Freiheitskampf der 
Griechen gegen die Türken allenthalben gewedt, welche Lord Byron auf die 
Mauern von Miffolunghi trieb und unferem Wilhelm Müller jeine jchönen 
Griechenlieder eingab, war bald verflogen; und fie mußte verfliegen, denn fie war 
da3 ungejunde Product einer Zeit, die für griechiſche und polniſche Freiheit 
ihöne Worte fand, um am eigenen Herde in fühem Nichtsthun und unklaren 
Iräumereien defto behaglicher weiter zu ſchlafen. Dann fam ein anderes Ertrem. 
Tallmerayer jchrieb fein bekanntes Buch, und nun wurde 8 Dogma, daß 
in den Adern der heutigen Hellenen fein Tropfen unverfälichten Griechenblutes 
mehr fließe, daß die Bewohner des claffifchen griechifchen Bodens nichts Anderes 
feien, als Abkömmlinge wilder Slavenhorden, die im Mittelalter dad Land er- 
obert hätten, und daß ihre Sprache ein wüſtes Gemifch jei von Slaviſch, Türkiſch 
und Albanefifh. Dazu famen dann die zahlreichen und wenig erbaulichen Miß— 
griffe in Regierung und Verwaltung des Bandes, wie fie ein Volk nothiwendig 


Ueber die linguiftiiche Stellung des modernen Griechiſch. 471 


begehen mußte, das nach jahrhundertelanger Knechtſchaft plöglich und unvermittelt 
der vollen Freiheit wiedergegeben war — furz, man zudte die Achieln und 
drehte dem Griechenvolfe und der Griechenipradhe den Rüden. 

Diele Schuld an diefer Vernachläſſigung der neugriehiihen Sprache hat 
die claſſiſche Philologie. Wie fie ſich gegenüber dem Studium des Sanskrit 
und der modernen Sprachwiſſenſchaft allzu lange vornehm in ihren antiken 
Faltenwurf gehüllt hat, jo hat fie bis auf den Heutigen Tag ihre Abneigung 
gegen da3 vertwahrlofte Kind der edlen Mutter, wie man das moderne Griedhilch 
wol zu bezeichnen pflegte, nicht überwinden können. Man pries wol den fein- 
jinnigen Renner des helleniſchen Alterthums, Otfried Müller, glüdlid, daß 
ihm beſchieden war, am Ufer des Iliſſos jeine Nuheftätte zu finden; aber man 
fonnte fi mit dem Gedanken nicht vertraut machen, daß die Laute, die fein 
Grab umtönen, einer ernfthaft wiſſenſchaftlichen Beachtung werth feien. Aller- 
dings hängt da3 ja zufammen mit den Grundprincipien der claſſiſchen Philologie. 
Sie hat die Aufgabe, die gefammten Lebensäußerungen eines Volkes in Religion 
und Sitte, Kunft und Wiſſenſchaft, Staat und Familie zu verftehen und dar- 
zuftellen; jie verlangt vor Allem Literaturdenfmäler von culturhiſtoriſchem Werthe; 
wie fonnte ihr demnad ein Volk imponiren, das politiſch jo haltlos ſich dar- 
ftellte, wie eine Sprache, die eben mühjame Verſuche machte, fi) zur Literatur- 
ſprache zu erheben? Die moderne Sprachwiſſenſchaft war berufen, auch hier 
neue Impulſe zu geben. Sobald jie das Princip aufgeftellt hatte, daß nicht 
blos die Phaje im Leben einer Sprache, wo fie Ausdrud für eine reich entwidelte 
Literatur geworden ift, Gegenftand der wiljenjchaftlichen Betrachtung jein dürfe, 
londern daß für fie der geſammte Hiftoriiche Entwicelungsgang einer Sprache 
und die Erkenntniß der Gejeße dejjelben das Ziel der Forſchung jeien, jo war 
damit auch für die Berücfichtigung der neugriehiichen Sprache der Boden ge— 
Ihaffen,; und wenn man anerkannte, daß für den Sprachforſcher die Sprache 
des armen litauifhen Bauern oder gar der jchnalzende Dialekt eines Hotten- 
totten im Grunde dafjelbe Intereſſe habe wie die Sprache Homer’ oder Kali- 
daja’3, Jo Hatte mindejtens denjelben Anjprud auf Beachtung eine Sprade, in 
der Fühne Räuberromanzen und zarte Xiebeslieder noch heute allerorten in 
Griechenland gelungen werden. Perjönliche Berührungen von einigen in Leipzig 
ftudirenden Griechen mit der philologiihen Schule von Georg Curtius 
trugen dazu bei, das Intereſſe für das Neugriechiſche in Deutjchland zu weden 
und in Griechenland jelbjt den Bejtrebungen für die eigene Sprache eine geordnetere 
Richtung zu geben: genug, e3 find bereits mehrfach wohlthuende Aeußerungen 
der Theilnahme hervorgetreten, und dieje Zeilen möchten gern dazu beitragen, 
auch in weiteren Kreijen jolche zu wecken. 

Es ift umichtig, wenn man die Beurtheilung dev neugriehijchen Sprache 
abhängig macht von der Frage nach der größeren oder geringeren Miſchung des 
Volkes mit fremden Elementen. Man hat lange Zeit dieje Frage allzu jehr in 
den Bordergrund gejtelt — jte ift für die Sprachwiſſenſchaft von geringem 
Belang. In der That ift ja in den Blättern der Gejchichte kaum nod ein 
Land verzeichnet, das jo beflagenswerthe Schickſale zu erdulden hatte, wie der 
Boden von Hellas. Gothiſche und ſlaviſche Horden überflutheten zu wiederholten 


472 Deutſche Rundſchau. 


Malen das unglückliche Land, brannten die Städte nieder, zerſchlugen die alten 
Götterbilder und richteten ſich ſchließlich wohnlich ein auf den alten Trümmer— 
ſtätten — zahlreiche ſlaviſche Ortsnamen, beſonders im Peloponnes, geben davon 
Zeugniß; diefer jelbft trägt jeit jener Zeit den flaviichen Namen Morea (von 
morje, Meer). Dann kam die lange Herrſchaft der Franzöfiichen Barone in 
Morea und aufden Inſeln — das venetianifche Königreih auf Cypern — Beſitz- 
ergreifung ausgedehnter Streden durch die Albanefen — ſchließlich die Eroberung 
de3 ganzen Landes durch die Türken. Wir müſſen ftaunen über die Lebens- 
fähigkeit und Widerſtandskraft der griehiichen Sprache, die unter jo überaus 
ungünftigen Verhältniffen doch noch forteriftirt hat. 

Eins nur iſt es, wa3 den wejentlichen Charakter einer Sprache ausmacht, 
mit deſſen Verſchwinden fie auch jelber zu Grunde geht; das ift der gramma- 
tiſche Bau der Flexion von Verbum und Nomen. Die normanniſche Invaſion 
in England hat dem angelſächſiſchen Wortſchatz wol eben jo viele romaniſche 
Beitandtheile beigemengt, als einheimiſche vorhanden waren: troßdem ift das 
Engliſche noch heute durch und durch eine germaniihe Sprache, denn Declination 
und Gonjugation beruhen auf dem nämlichen Typus, wie bei den germaniichen 
Schweiteriprachen auf dem Kontinent. Im türkifchen Lexikon haben arabiiche 
und perſiſche Elemente die türkiſchen bei weiten überwuchert: aber der flerivijche 
Bau legt unwiderleglid; Zeugniß davon ab, daß die Sprache weder jemitifch 
noch indogermaniſch ift, jondern mit dem Ungariſchen, Finnifchen und den übrigen 
uralaltaifhen Sprachen fi zu einer Gruppe zuſammenſchließt. Wer ein neu— 
griechiſches Wörterbuch zur Hand nimmt oder die griedhiichen Volkslieder zu 
verftehen jucht, wird freilid erftaımen über die große Menge von Wörtern, von 
denen Perikles und Aspaſia Nicht? gewußt haben; denn dev Wortſchatz feiner 
Sprache kann ſich auf die Dauer den Einflüſſen eine erobernden oder aud) blos 
in engem geiftigem und commerciellem Austauſch ftehenden Volkes entziehen. 

Am frühelten hat fi im Griechiſchen der Einfluß des Lateinijchen geltend 
gemacht; die Schriften der byzantinijchen Hiftoriographen, die Sammlungen von 
Geſetzes- und NRitualvorihriften find überfüllt mit lateiniſchen Ausdrücken, die 
oft ohne weitere Aneignung einfach mit griechiſchen Schriftzeichen umjchrieben 
jind. Dieſes Element iſt nie volksthümlich geworden, jo wenig wie die fran- 
zöfiihen Verbrämungen der deutſchen Schriftipradhe des jiebzehnten und acht— 
zehnten Jahrhunderts. Etwas tiefer ift das romanifche Element eingedrungen, 
da3 durch die Herrichaft der franzöfiichen Barone und die Handelöverbindungen 
mit den DVenetianern importirt wurde. Die umfangreiche, von Buchon heraus: 
gegebene Reimchronif, welche die Eroberung Morea's durch die Franzoſen be- 
handelt, ift ungemein reich an franzöfiihen Wörtern; die intereffanten, erft vor 
kurzem befannt gewordenen Chroniken von der Inſel Cypern, die, im einheimiichen 
Dialekt geſchrieben, uns ein werthvolles Bild von der auf diefer Injel im fünf: 
zehnten Jahrhundert gejprochenen Sprache geben, find ftarf mit italienischer, 
jpeciell venetinnischer Ausdrucksweiſe verjeßt; auch in den griechiſchen Nach— 
bildungen abendländiicher Ritterromane, die ebenfalls zum größten Theil auf 
den Inſeln entjtanden zu jein jcheinen, ift der romaniſche Vocabelſchatz nicht 
unbedeutend. 63 war das bei der großen Verbreitung der italienischen Sprade 


Ueber die linguiftifche Stellung des mobernen Griechiich. 473 


in allen diefen Gegenden, wo Benetianer und Genuejen den Handel mit dem 
Drient vermittelten, ſehr erklärlich; zahlreiche griechiiche Jünglinge jtudirten in 
Padua, in Rom wurde 1513 fogar ein griehiiches Seminar errichtet. Trotzdem 
ift in der heutigen Volksſprache das romaniſche Element nicht eben bedeutend. 
Dr. Deffner glaubt nad einer ungefähren Berehnung dem neugriechiichen 

Lexikon ettva 600 italienische Wörter zumeifen zu fünnen; von diefen find aber 
weitaus die meiften technijche Ausdrücke des Seeweſens und des Handelsverkehrs 
oder Bezeichnungen für Lurusartifel, Zoilettengegenftände und dgl., bei denen 
mit der Sache aud) der Name entlehnt wurde, und dieſe dürfen ebenſowenig als 
volfsthümlich gelten, wie etwa bei uns die Artikelchen eine Damenboudoirs, 
von denen und nur mit Hilfe eines franzöftichen Dictionnaires eine ungefähre 
Vorftellung aufdämmert. Das italieniihe Element ift aljo mit dem Schwinden 
des italieniichen Einfluffes immer mehr zuriick getreten und hat die äußere 
Geftalt der griechiſchen Volksſprache wenig verändert. Natürlich fallen Hierbei 
die griehiichen Dialekte, die im Süden der Halbinjel Italien jelbft, auf der 
Terra d’Otranto und bei Neggio, geiprochen werden — ich werde ihnen unten 
noch einige Worte widmen — aus der Betrachtung heraus; fie haben, rings 
umgeben von italienijcher Redeweiſe und in forttwährender Berührung mit der- 
jelben, ein mafjenhaftes Eindringen italieniſcher Vocabeln nicht abwehren können, 
wie ein flüchtiger Blie in die von Morofi publicirten Volkslieder diefer Gegen- 
den zeigt, und werden wol überhaupt nicht mehr allzu lange dem Scidjale 
gänzlicher Abjorption widerftehen können. 

Und nun die ſchrecklichen Slaven, die ung Fallmerayer als die eigentlichen 
Bewohner des heutigen Hellas vorgeftellt hat. In den „Acta Sanctorum‘ wird 
aus dem Jahre 723 berichtet, daß Seefahrer aus Sicilien über das adriatifche 
Meer fuhren umd nad) der Stadt Manafafta (d. i. Monemvafia oder Napoli di 
Malvaſia) famen „in slaviniea terra“, im flaviſchen Lande; und damit ftimmt 
das befannte, zum Ueberdruß citirte Zeugniß des Conftantinus Porphyrogenneta, 
daß der ‘Peloponnes jlavifirt umd ganz barbarifch geworben fei. Noch im erjten 
Viertel des fünfzehnten Jahrhundert? werden Slaven ıumter den, den Peloponnes 
bemohnenden Völkern angeführt. Aber nicht die Griechen find von den Slaven 
alfimilirt worden, ſondern vielmehr die Slaven find in der höheren Bildung 
der Griechen volljtändig aufgegangen, wie die gallifchen Kelten in der römifchen. 
Beweis ift die Sprade. Der bedeutendfte jet lebende Kenner der ſlaviſchen 
Spraden, Franz Mikloſich, hat die flavifchen Elemente im Neugriechiſchen 
einer bejonderen Unterſuchung unterzogen (Wien 1870), Das dort gegebene 
Verzeichniß enthält etwa hundert Worte, die mit Sicherheit al3 jlaviiche Lehn- 
wörter anzuerkennen find; dabei ift aber zu beridkfichtigen, daß eine Anzahl der- 
ſelben nur aus mittelalterlichen Gefchichtsquellen genommen ift, was für ihre _ 
lebendige Exiſtenz in der Volksſprache Nichts beweiſt; und daß andere wieder 
durchaus nicht allgemein verbreitet find, fondern nur in Gegenden gebraucht 
werden, wo auch heute noch Berührimgen zwischen griechischer und ſlaviſcher 
Bevölkerung jtattfinden; bei anderen endlich tft die Möglichkeit nicht ausge— 
ſchloſſen, daß fie durch das Medium des Türfifchen oder Albanefifchen in’3 Grie- 
Hilde eingedrungen find. Man fieht, die mit jo viel Zuverficht vorgetragene 


474 Deutiche Rundſchau. 


und mit jo viel Zuftimmung begrüßte Hypotheſe Fallmerayer’3 braucht die 
Sprache der heutigen Griechen nicht zu discreditiren. Wie viel oder wie wenig 
Havijches Blut dem griechifchen beigemijcht jei, wir wiſſen es nicht, und es 
fommt für die Beurtheilung der Spradhe nicht in Betracht, die eben jo wenig 
ſlaviſch iſt, wie das Deutſch in Schleften oder Pommern. 

In der eben erwähnten Abhandlung hat Mikloſich noch ein zweites Argu— 
ment Fallmerayer's zurück gewieſen. Der heutige Grieche hat keinen Infinitiv. 
Er kann nicht mehr ſagen: ich kann arbeiten, ich will geben, ſondern er bedient 
fich der Umſchreibung: ic kann, daß ich arbeite, ich will, daß ich gebe. Auch 
diefen eigenthümlichen Verluft Hat Fallmerayer den Slaven zur Laft gelegt, denn 
die Bulgaren theilen dieſe Eigenthümlichkeit. Mit Recht folgert aber Mikloſich 
aus dem Umftande, daß die Bulgaren der einzige jlaviihe Stamm find, dem 
ein Infinitiv abgeht, daß dieſe ſowol als die Neugriechen dieje Eigenthümlich- 
feit einer dritten Nation entlehnt haben. Und dieſe ift feine andere als die der 
Albanejen. Diejes Volk, deifen ethnologiiche und ſprachgeſchichtliche Stellung 
noch immer nicht aufgeklärt ift, fteht in der Reihe derer, denen dad Neugriechiiche 
Beeinflufjung verdanft, obenan. In einem großen Theile des Landes ift die 
albanefiihe Sprache die herrichende. Albaneſen bilden die übertwiegende Mehrzahl 
der Bevölkerung in Attika, Megaris, Boeotien und Argolis; die Injeln Hydra, 
Spezzia, Paros und Salamiz find ausſchließlich von ihnen bewohnt; fie haben 
faft da3 ganze jüdlihe Euboea und den nördlichen Theil der Inſel Andro inne. 
Bon Hahn (Albanefiihe Studien I, ©. 14) glaubt ihre Gejammtzahl auf 
etwa 200,000, alfo etwa ein Fünftel der Geſammtbevölkerung Griechenlands, 
ichäten zu dürfen. Die Zeit ihrer Einwanderung fällt an's Ende des vierzehnten 
Jahrhunderts. Beide Sprachen haben einen ausgedehnten und teitgreifenden 
Einfluß auf einander ausgeübt, es möchte indeß unſchwer zu beweiſen jein, daß 
das Albanefiiche dem Griechiſchen mehr verdankt, als umgekehrt. Wenigſtens 
verfichert ein Dann, der der Erforſchung albanefiicher Volks- und Spradeigen- 
thümlichkeit einen großen Theil jeines Lebens gewidmet hat, der ebenerwähnte 
öſterreichiſche Conſul von Hahn, daf der Albanier, beſonders der Toske, genau 
jo denkt und jpricht, wie der Neugrieche, jo dat ſich Redensarten und Sätze bis 
auf die MWortftellung genau aus dem Griechiſchen in's Albanefiihe übertragen 
laſſen; das deutet darauf hin, daß die Einwirkungen fich weiter erftreden, als 
auf den bloßen Woriſchatz. 

Ich enthalte mich eines näheren Eingehens auf die türkiſchen Vocabeln, von 
denen die griechiiche Sprache naturgemäß nicht verſchont geblieben ift. Auch fie 
haben wohl die Phyfiognomie derjelben etwas fremdartig gemacht, ohne jedoch ihr 
innerftes Wefen im geringſten zu verändern. Diejes ift vielmehr durch und durch 
griechiſch geblieben, natürlich mit den Modificationen, die eine mehr als taujend- 
jährige Entwickelung bedingte. Ich kann mid, um dieje Entwidelung ver- 
ftänblich zu machen, am beften auf die Analogie der romanischen Sprachen in 
ihrem Berhältni zum Lateinifchen berufen. Die drei Hauptmomente, welche 
diefelbe hier wie überhaupt bei den meiften modernen Sprachen bedingt haben, 
find lautlicher Verfall, theilweiſe Auflöjung der Flexionsformen in analytijche 
Ausdrudsweile und Modificationen im Wortſchatz. Alle drei find aud) bei der 


Ueber bie linguiftifche Stellung des modernen Griechiich. 475 


Entftehung des modernen Griechiſch thätig geweſen. Dabei ift noch ein Punkt 
vor allen Dingen zu berüdfichtigen. Es fteht außer allem Zweifel, daß die 
romaniichen Sprachen nicht anknüpfen an die Geſellſchaftsſprache der Salons 
der römiſchen Republit oder an die Ausdrucksweiſe der Faijerlichen Kanzleien, 
iondern daß fie hervorgewachſen find aus dem Boden der römiſchen Volksſprache, 
die den einzelnen römischen Provinzen hauptſächlich durch das Militär vermittelt 
wurde, im Großen und Ganzen natürlih von vorn herein eine und diejelbe, 
aber im Laufe der Zeit durch mannigfahe Einflüffe local gefärbt. In diejer 
Volksſprache waren die meiften Anſätze zu den Erfcheinungen, die den romaniſchen 
Spraden ein vom Latein jo abweichendes Gepräge geben, bereit? vorhanden; 
Hugo Shuhardt hat uns eine reichhaltige Darftelung der Lautverhältnifje 
dieſes „Vulgärlateins“ gegeben. Für das Griechiſche find wir noch nicht in der 
glücklichen Lage, die Anknüpfungspunkte an die altgriechiiche Volksſprache oder, 
wie hier richtiger zu jagen ift, Volksſprachen, mit ſolcher Genauigkeit nachweiſen 
zu können. Nachdem die Waffen Alerander’3 des Großen und die Monarchien, 
in die nad) feinem Tode jein Reich zerfiel, die Herrichaft des griechijchen Geiftes 
im ganzen Often bi3 an die Grenzen des Reiches der Mitte zur Anerkennung 
gebracht Hatten, war in diefem gejammten Ländercompler eine einzige Schrift- 
ſprache zur Geltung gekommen, das jogenannte Gemeingriechiſch, im Weſentlichen 
beruhend auf den Normen des Dialekte von Attila. Die anderen Dialekte, die 
früher eine jelbftändige, zum Theil reiche und jchöne Literatur entwidelt hatten, 
traten zurüd und verſchwanden immer mehr und mehr, auch aus den öffentlichen 
Urkunden der einzelnen Diftriete. Daß fie troßdem aber als Volksſprachen 
weiter gejprochen wurden, darüber kann fein Zweifel jein, und das ift auch 
überdies durch ausdrüdliche Zeugniffe bis in die byzantiniſche Zeit hinein ver- 
bürgt; aber freilich wo und bi3 zu welchem Grade dies der Tall war, darüber 
fehlt noch jede eingehende Unterſuchung. Die byzantiniichen Hofhiſtoriker, unfere 
umfangreichften literarifchen Quellen für die legten Jahrhunderte der griechiſchen 
Selbjtändigkeit, gefielen fi in einer troftlojen Nahahmung oder Conſervirung 
des Altgriehiichen, die natürlich voll ift von den gröbften Sünden gegen den 
altgriehiichen Sprachgeift und ſich dem Einflujfe des Bulgärgriehiichen nicht 
ganz hat entziehen können, aber doch feine dee von der damals geſprochenen 
Sprade gibt. Erſt in der neueften Zeit hat man angefangen, in umfafjenderer 
Meile die Producte des mittelalterlichen griechiſchen Volksgeiſtes aus dem Staube 
der Bibliothefen an's Licht zu ziehen. Schon der verftorbene Göttinger Ellifjen 
hatte damit den Anfang gemacht; aber dieje Ausgaben, die ala Zeugniß der 
philhelleniſchen Gefinnung ihres Autors aller Achtung werth find, waren wenig 
geeignet, einem wiljfenichaftligen Studium diefer Spradhe zur Grundlage zu 
dienen. Erſt jeitdem ein trefflich geihulter Philologe, Wilhelm Wagner in 
Hamburg, ſich der Aufgabe unterzogen hat, dieje Sachen dem gelehrten Publicum 
zugänglich zu machen, darf man hoffen, daß eine wiljenjchaftlie Ausbeutung 
möglich jein und damit die große Kluft zwiſchen dem Alt» und Neugriehiichen 
überbrückt werden wird. 

Sie find wenig erguidlich, die vulgärgriechiſchen Gedichte, die diefen Namen 
zum allergrößten Theil nur ihrer gebundenen Form zu verdanken haben. Sie 


476 Deutiche Rundſchau. 


tragen. alle den Stempel derjelben jämmerlichen Mittelmäßigkeit, welche die ganze 
byzantiniſche Gefhichte vom großen Gonftantin bis zum Falle der Hagia Softa 
harakterifirt. Bezeichnend ift für fie befonders das Metrum: ein Vers, der an 
ermüdender Eintönigkeit den Alexandriner womöglich noch übertrifft, ber 
jogenannte politiſche (d. h. volksthümliche) Vers, eine fünfzehnfilbige jambifche 
Zeile mit einem regelmäßigen Einfchnitt in der Mitte; der alte Herameter war 
unmöglich geworden mit dem Aufgeben der alten Silbenquantität. Die Stoffe 
find im Wejentlichen diejelben, wie in allen übrigen mittelalterlichen Literaturen. 
Weitſchweifige moraliiche Betrachtungen werden von gefrönten Häuptern mit 
demjelben Mangel an Wit und Ueberfluß an Behagen angeftellt, wie von 
fchreibluftigen Mönchen; an Invectiven gegen geiftliches und weltliches Regiment 
fehlt e8 auf beiden Seiten nicht, doch ift im Allgemeinen hier mehr Reſpect vor 
der Kirche zu merken, al3 im Abendlande. Ein Kleines Gedicht jchildert in leb— 
haften Farben die Bedrängniffe eines jungen Mädchens, das aus Vermögens— 
rücfichten einen- alten Herrn hat heirathen müſſen; in einem anderen wird in nicht 
uninterefjanter Weiſe die Unficherheit nächtlicher Eriftenz in den Straßen 
Gonftantinopel’3 gezeichnet. Auch hier müffen ſich ferner antife Stoffe die Ein— 
Heidung in das Gewand mittelalterliher Romantik gefallen laffen: eine unendlich 
langathmige Behandlung des trojanifchen Krieges ſucht die längft vergefjenen 
Dichtungen Homer's in ihrer Weife zu erſetzen. Ein weiteres Contingent liefert 
die Hiftoriiche Legende; neben mehrfachen Darftellungen der Sage von dem mit 
Undank belohnten und geblendeten Belifar findet fich auch hier die durch alle 
mittelalterlihen Literaturen verbreitete Legende don Alexander dem Großen. 
Einige Stücke gehören der Thierfabel zu; es wird intereffant fein, zu conjtatiren, 
ob fie öftlichem oder weftlihem Einfluß zu verdanken find. Bei weiten am 
ausgedehnteften aber find die Nachbildungen abendländifcher Ritterromane und 
Erzählungen; Flor und Blancheflor, Peter von der Provence und die jchöne 
Magellone, ſowie Apollonius von Tyrus mit feiner ſchwer geprüften Tochter 
treffen wir hier al3 alte Bekannte wieder. Wie großer Verbreitung ſich dieſe 
Volksbücher auch in der griechiichen Welt erfreuten, davon legt der Umſtand 
beredte3 Zeugniß ab, daß fie zum Theil noch bis Heute in ber griechiſchen 
Druderei „Phönir” in Venedig neu aufgelegt werden. 

Ich bin weit davon entfernt zu glauben, daß wir in diefer, im Vorigen 
kurz fkizzirten, Literatur die reine und unverfälſchte Volksſprache des griechiſchen 
Mittelalters Haben; vielmehr liegt uns auch hier eine mannigfach modiftcirte 
und künſtlich zurecht gemachte Schriftſprache vor. Aber diefe Zuthaten find 
glücklicher Weiſe meift jo plump und jo leicht erkennbar, daß fie den Werth 
diefer Schriftdenftmäler als weſentlichſter Quelle für die Erkenntniß der geſchicht— 
lichen Entwidelung des modernen Griechiich nicht beeinträchtigen Können. Es 
wird eine Aufgabe der nächſten Zukunft fein, da3 hier niedergelegte Material 
linguiſtiſch zu verwerthen, die einzelnen Gedichte ihren dialektiſchen Eigen- 
thümlichkeiten nach zu gruppiren und diefe mit den heutigen griehiichen Mund— 
arten in Contact zu bringen. Auch die Beurtheilung diefer jelbft ift gegen- 
wärtig noch großen Schtwierigfeiten untertworfen. Volkslieder, dieſer treuefte 
Spiegel de3 Volksgeiſtes und der Volksſprache, find ſchon ſeit längerer Zeit aus 


Ueber die linguiftiiche Stellung des modernen Griechiſch. 477 


allen Gegenden Griechenlands gejammelt worden, aber eben auch von jedem 
Standpunkte aus eher, al3 vom linguiſtiſchen. Schon daß fie von allen Samm- 
fern im altgriechiſchen Alphabet, deſſen fich ja allerdings die heutigen Griechen 
auch noch bedienen, aufgezeichnet worden ſind, macht ihre Benutzung zum Theil 
recht problematiſch. Denn das Neugriechiſche hat durch die im Leben jeder 
Sprache mehr oder weniger eintretende Lautverwitterung und Lautentſtellung 
eine Anzahl neuer Laute und Lautnuancen bekommen, die ſich mit den wenigen 
Zeichen des alten Alphabets gar nicht oder nur höchſt unvollkommen ausdrücken 
laſſen. Deutſche und italieniſche Gelehrte der jüngſten Zeit haben daher bei 
Behandlung neugriechiſcher Mundarten ſich bereits eines allgemeinen, linguiſtiſchen 
Alphabets bedient, ſo Deffner und Moroſi in ihren Arbeiten; die griechiſchen 
Gelehrten dagegen können ſich noch nicht von dem gewiß recht erklärlichen und 
entſchuldbaren Vorurtheil los machen, daß der Gebrauch der alten Schriftzeichen 
für Aufzeichnungen in ihrer Sprache etwas Weſentliches ſei. Da nun aber 
gerade die Lautverhältniſſe eines der allerwichtigſten Kriterien für die Beſtimmung 
der Verwandtſchaftsverhältniſſe von Dialekten find, fo iſt unſere Kenntniß der— 
ſelben noch ſehr im Rückſtand, abgeſehen davon, daß das Material noch nicht 
aus allen Theilen Griechenlands gleichmäßig vollſtändig vorliegt. Soviel indeß 
läßt ſich ſchon jet mit einiger Sicherheit behaupten, daß das auf dem griechiſchen 
Feſtlande geſprochene Griechiſch — mit einer wichtigen Ausnahme — im Wejent- 
lichen ein und dafjelbe ift. Dieje Thatſache läßt ſich auch mit den ums befannten 
hiftorifchen Verhältniffen jehr wohl vereinbaren; das von den Slaven verwüſtete 
und zum Theil bejegte Land wurde von Byzanz aus wieder mit griechiichen 
Goloniften bevölfert, deren einheitliche Sprache die Grundlage der heute in Hellas 
und im Peloponnes geiprochenen bildet. Jene eine wichtige Ausnahme find die 
Tſakonen. Sie waren aud) in den Zeiten, als Fallmerayer's Angriffe das Kleine 
Häuflein gläubiger Hellenenfreunde bange erzittern machten, das feſte Bollmwerf, 
das ſelbſt jener gefürchtete Gegner nicht anzugreifen wagte; es hatte ſich eine 
Zeit lang ein förmlicher Mythus gebildet von dieſen alten Spartanern, die in 
den wohl verwahrten VBergthälern des Eurotas die wilden Stürme von Jahr- 
hunderten hatten ruhig über ihren Häuptern wegbraujen laſſen. In der That 
find die Tjakonen ein merkwürdiger Beweis dafür, wie unter günftigen localen 
Berhältniffen ſich mitten unter wildefter Bewegung eine Sprachinſel rein und 
unvermiſcht erhalten kann. Sie gehen unmittelbar zurück auf die Bewohner 
des alten Tjafonien, deren Name doch auch wol in dem ihrigen ſteckt; unberührt 
von allen fremden Beeinfluffungen ihres Wortſchatzes haben fie in der Geftaltung 
ihrer Laute und ihres Formenbaues eine vollftändig eigenthümliche Entmwidelung 
durchgemacht und dabei eine Anzahl hervorſtechender Beſonderheiten des alten 
doriichen Dialektes jo treu bewahrt, daß über ihre ethnographiſche Stellung fein 
Zweifel jein kann, Ihr Gebiet wird im Norden vom Fluſſe von St. Andrea, 
im Dften vom Meer, im Süden vom Gießbache von Lenidhi, im Welten vom 
Malevo begrenzt. Dr. Deffner, ein junger Deutſcher, dev ſich der wenig 
ausſichtsvollen Stellung als Privatdocent an der Univerfität in Athen gewidmet 
hat, um dort fi der Erforſchung der neugriechiſchen Sprade hingeben zu 
können, bat im Sommer 1874, mit Unterftügung dev Berliner Akademie der 





478 Deutſche Rundichau. 


Wiſſenſchaften, das Gebiet von Lakonien durchforſcht und wir dürfen hoffen, 
nun auch von dieſer merkwürdigen Sprache eine zuverläffige, mit den Mitteln 
der modernen Spradforihung unternommene Darftellung zu erhalten. 

Außer dem Tſakoniſchen werden die Anjeldialette Anſpruch auf befondere 
Beachtung machen dürfen. Bejonders Eypern und Kreta, die beiden Eilande, 
die am weiteſten entfernt liegen von dem Schauplate der Umwälzungen, die das 
griechiſche Feſtland durchzumachen hatte, und darum in der continuirlihen Ent- 
wickelung ihrer Sprache nicht geftört worden find, müſſen linguiftiich noch genau 
erforicht werben; denn die Darftellung des cypriſchen Dialeftes von dem Griechen 
Satellarios ift ungenügend. Eine dritte Gruppe endlich bilden die griehiichen 
Dialekte in Unteritalien, An den beiden äußerften Endpuntten, die die Halb- 
injel in’3 Meer Hinausftredkt, wohnen zwei Häuflein griechijch redender Bevölkerung, 
wol den MWenigften befannt von Denen, die das Ichöne Land fonjt nad) allen 
Richtungen Hin dumchftreift haben. Es find in der Terra d’Otranto die Ort— 
ihaften Martano, Galimera, Gaftrignano, Melpignano, Gorigliano, Soleto, 
Sternatia, Martignano und Zollino; und in Calabrien, in der Provinz Reggio, 
die Dörfer Bova, Condofuri, Roccaforte und Rofudi. Sie find nicht die einzigen 
Griehen in Italien; bekannt ift die griechiſche Kolonie in Venedig; weniger 
befannt vielleicht die Niederlaflung in Corſica, die im Jahre 1676 von einer 
Anzahl vor den Türken flüchtiger Mainoten gegründet worden ift. Aber von 
diejen beiden ift der Hiftoriiche Urfprung und ihr Zuſammenhang mit dem 
Mutterlande vollftändig außer Zweifel, während die Eolonien in Unteritalien 
lange Zeit der Gegenftand der abenteuerlichften Vermuthungen waren. E3 hat 
logar nit an Solchen gefehlt, welche dieje Griechen, deren Gebiet übrigens im 
Laufe der letzten Jahrhunderte immer mehr eingejchräntt worden ift, für 
unmittelbare Abkömmlinge der alten griechiſchen Pflanzftädte in Unteritalien 
hielten, die ja bekanntlich der Romanifirung jehr lange erfolgreichen Widerftand 
leifteten. Daran ift nicht zu denken; ihre Sprache theilt jo viele Eigenthümlich— 
feiten mit dem übrigen Vulgärgriechiſchen, daß ihr Urſprung nur eine Fyolge 
von Einwanderung im Laufe des Mittelalters fein kann. Schwieriger ift bie 
Trage zu beantworten, wann dieſe Einwanderung ftattgefunden hat, und wir 
find bi3 jetzt zu einer völlig ficheren Entjcheidung bei dem Mangel verläßlicher 
biftoriiher Anhaltspunkte noch nicht gelangt. Der italienifche Gelehrte, dem 
wir eine vortreffliche Darftellung beider Sprachgruppen verdanken, Giufeppe 
Moroji, jet die Einwanderung der apuliſchen Griechen an's Ende des 
neunten Jahrhunderts, während er für die calabrijchen geneigt ift, mehrmalige 
Zuzüge im Laufe des elften und zwölften Jahrhunderts anzunehmen; und in 
der That laffen ſprachliche Merkmale vermuthen, daß wenigſtens eine doppelte 
Bevölferungsichicht Hier über einander gelagert ift, von denen eine mit ben 
Bewohnern der griechiſchen Inſeln im Zufammenhang zu ftehen jcheint. 

Man erlebt es häufig, daß Jemand, der aus niederem Stande fi) in einen 
Pla innerhalb der höheren Geſellſchaftsclaſſen hinauf gearbeitet hat, mit ängft« 
licher Sorgfalt bemüht ift, jede Erinnerung an die Vergangenheit von ſich ab- 
zuthun: Genofjen der Jugend werden ferngehalten, Kleidung und Auftreten mit mehr 
oder weniger Geichie den neuen Berhältniffen angepaßt. So geht es den Griechen 


Ueber bie linguiftiiche Stellung des modernen Griechiſch. 479 


mit ihrer Sprade. Die armen Volksdialekte find bei den gebildeten Griechen in 
Ungnade gefallen, jeit man wieder anfing, ſich als felbftändige Nation zu fühlen ; 
man will die Entwidelung eines Jahrtauſends wegleugnen und heute jo jchreiben 
und ſprechen, wie in der Blüthezeit des alten Hellas. ch rede von den Be— 
ftrebungen der Neugriechen, eine Literaturſprache zu ſchaffen. Es ift da3 gewiß 
eine interne Angelegenheit der Nation, und Fremde haben faum eine Berechtigung, 
hineinzureden; aber wer ſich wirklich für die Zukunft des viel geprüften Volkes 
interejfixt, der wird nicht ohne Bedauern jehen, wie man fi hier wirklich zum 
Theil in bedenklichen Illuſionen befindet. Nimmt man eine griechiſche Zeitung 
oder gar ein wifjenjchaftliches Buch zur Hand, jo erftaunt man über die Leichtigkeit, 
mit der man mit bloßer Kenntniß des Altgriechijchen leſen und verftehen kann ; denn 
fie find in einer Sprache gefchrieben, die zwar dem Platon oder Demofthene3 wenig 
ſympathiſch jein dürfte, aber doch von den Normen jpätgriechiicher Redeweiſe 
nicht jehr abweicht. Man hat die meiften der Eigenthümlichkeiten, die eben den 
Charakter des Neugriehiichen wie der modernen Sprachen überhaupt bedingen, 
einfach für nicht exriftenzberechtigt erklärt und dafür ohne Weiteres die altgrie- 
Hilden Formen und Ausdrucksweiſen wieder eingejeßt, jo daß das Ganze 
eine wenig anmuthende Verquidung wirklichen Lebens mit todten Stoffen dar- 
bietet. Aber durch gelehrte Geſellſchaften und akademiſche Decrete läßt fich eine 
hiſtoriſche Entwidelung nicht rüdgängig machen; es ift, als wenn man bei uns 
den Verſuch machen wollte, plötzlich mittelhochdeutich zu jchreiben und zu 
ſprechen. Eine Schriftipradhe entfteht auf andere Weile. Als Dante feinen 
florentiniichen Heimathsdialeft zum Ausdrude genialer Geiftesproducte verwen— 
dete, hatte er damit den Stalienern ihre Schriftipradhe geſchaffen; die geiftige 
That der Luther’ichen Bibelüberfegung gab uns Deutichen dafjelbe Geſchenk. 
Auch für das Griehijche wird eine Literaturſprache nur möglich fein auf der 
Baſis eines oder mehrerer der heutigen Volksdialekte. Ach bin eine Furze 
Schilderung derjelben noch ſchuldig. 

Lautlicher Verfall ift Das, was die meiſten Veränderungen im Leben einer 
Sprade bedingt; er geht Hand in Hand mit der fortjchreitenden Eultur eines 
Bolkes, mit dem Ueberwiegen des geiftigen Elementes in der Rede über da3 finn- 
lihe der Laute. Auch das Griechifche hat ſolche Veränderungen in reichen 
Maße erfahren. Ganz beſonders ift Schon frühzeitig eine weitgehende Neigung 
bervorgetreten, eine Anzahl früher gejchiedener Diphthonge und WVocale in den 
Laut „i” aufgehen zu laſſen; es hat die vornehmlich zu beim weit ver- 
breiteten Vorurtheile verleitet, das Neugriechiſche ſei eine höchſt übelflingende 
Sprache. Nichts iſt verkehrter, als das. Zwar iſt der Streit, ob eine Sprache 
wohlklingend ſei oder nicht, ein ziemlich müßiger; individuelle Sympathien und 
Antipathien entſcheiden hier bei den meiſten. Thatſache iſt aber, daß das Grie— 
chiſche gar nicht jo viele „i” hat, als man ihm aufbürdet; eine einfache Be— 
rechnung in dem exften beften Volksliede kann Jeden davon überzeugen, daß die 
verſchiedenen Vocale Hier in derjelben Harmonie vertreten find, wie im jeder 
anderen Sprache. Die zahlreihen Veränderungen in der Flexion und im 
Wortſchatze haben das Gleichgetvicht wieder hergeftellt; denn wenn man Alt- 
griechijches nach der heute üblichen Aussprache lieſt, ſo ift allerdings der Eindrud 


480 Deutiche Rundſchau. 


ein wenig mwohlthuender. Hier ift ein zweiter Punkt, wo ih fürchten muß, 
meine griechiſchen Freunde zu verlegen. Man ift in Griechenland ziemlich all- 
gemein der Meberzeugung, daß die claffiichen Hellenen ziemlich gerade jo ge- 
ſprochen haben, wie die heutigen Griechen die betreffenden Laute ausſprechen: 
aı wie ä, et, n, ou, v wie i, 9 wie das englifche th und fo weiter. Man 
überfieht dabei, daß der Unterſchied zwijchen der neugriehijchen und der bei una 
adoptirten Ausſprache (der jogenannten erasmijchen) nicht eine Trage der 
bloßen Ausſprache, jondern der Lautgejchichte ift; daß man mit dem Zurüd- 
datiren der heutigen Ausſprache in die Zeiten des Perikles Das für's Griechiſche 
leugnet, was man für alle anderen modernen Sprachen zugeben muß. Auch 
unjere Aussprache des Griechiſchen ift in einigen Punkten nachweisbar falſch; 
der Lautwerth der Schriftzeichen einer längſt vergangenen Sprache wird ſich 
immer nur mit annähernder Richtigkeit beftimmen laſſen; aber das ift unums 
ſtößlich ficher, daß die heutigen griechiſchen Laute fich zu verjchiedenen Zeiten, 
in einer Landſchaft früher als in der anderen, au3 den urjprünglichen entwictelt 
haben — unjere Sprachwiſſenſchaft hat den Beweis dafür längft angetreten. 
Das Zweite, was die neueren Sprachen im Verhältniß zu ihren älteren 
Vorftufen harakterifirt, ift der Mebergang von ſynthetiſcher zu analytijcher 
Ausdrucksweiſe. Wo dem Römer donavi genügte, jagt der Franzoſe j’ai donne, 
d. i. eigentli: ego habeo donatum; die Stelle des lateiniſchen Genitiv patris 
vertritt im Stalienifchen del padre, entftanden aus: de illo patre. Es liegt 
auf der Hand, daß diefe Umfchreibungen, zum Theil auch durch Lautzerſtörung 
und dadurch eintretendes Zujammenfallen urſprünglich verſchiedener Formen, 
die nun wieder differenzirt werden mußten, hervorgerufen, den Charakter der 
romanischen Sprachen wmwejentlid bedingen. Im Neugriehiichen ift es nicht 
anders. Die Declination enthält ſich zwar der präpofitionalen Umjchreibungen, 
hat aber dafür den Dativ und den ganzen Dual verloren und die alten Decli- 
nationgarten auf zwei reducirt; tiefer eingreifend find die Veränderungen im 
Bau des Verbums, wo nit nur Futurum, Plusquamperfectum und Con— 
ditionali3 durch dem Romaniſchen ganz analoge Umfchreibungen ausgedrückt werden, 
jondern auch, tie ich jchon oben bemerkte, der ganze Infinitiv bis auf einige 
erftarrte und al3 Infinitive nicht mehr gefühlte Formen verloren gegangen ift. 
Da das Gefüge der Syntax wejentli) auf dem Verbum beruht, jo war damit 
auch für diefe eine Quelle wichtiger Veränderungen gegeben. Das Dritte endlich ift 
die theilweile Umgeftaltung des Wortſchatzes. Einfilbige Wörter, die überdies durch 
die eingetretenen Lautwechſel noch unbedeutender geworden waren, find aufgegeben ; 
der auch in den romaniſchen und flavijchen Sprachen ftarf Hervortretende Zug 
zur Diminutivbildung hat bedeutender noch im Griechiſchen gewirkt; jo find 
viele Bocabeln, die in der Volksſprache längſt ſchon neben den Ausdrücken ge 
bildeter Rede im Gebrauh waren, wirklich zur alleinigen Herrfchaft gelangt. 
Wie die romanijchen Wörter für Pferd, Feuer, Tag nicht auf equus, ignis, dies 
zurücgehen, jondern auf die vulgären Bezeichnungen caballus (cheval), focus (feu), 
diurnum (jour), jo jagt der moderne Grieche nicht mehr Frrsrog, fondern @Aoyor 
(eigentlid) da8 Thier überhaupt), nicht Udwe, jondern veoov (das Feuchte), nicht 
olvog, jondern #gaol (das Gemiſchte). Hier ift der Punkt, wo auch die claffiiche 


Neber bie linguiftiiche Stellung des mobernen Griechiſch. 481 


Philologie Grumd hat, fich für die neugriechiichen Studien zu intereffiren; denn 
manche? gute alte Wort, von dem wir jonft feine Hunde hätten, hat der Volks— 
mund aus den Tagen des antiken Hella treu beivahtrt. 

Ich kann Hier nicht näher darauf eingehen, wie auch in Bolfsglauben und 
Volkafitte der Neugriehen manch gutes Stüd alter Neberlieferung aufbewahrt 
ift; ich veriveife darüber auf da3 vortreffliche Buch von Bernhard Schmidt 
„Das Volksleben der Neugriechen” (1. Theil 1871), deſſen Yortjegung wir mit 
lebhafter Erwartung entgegenjehen. Nur noch einige wenige Worte über die 
Literatur der Neugrieden. Sie ift nicht bedeutend, und es wäre un— 
billig, da3 zu erwarten. Freilich, die philhelleniſchen Schwärmer von früher, die 
in jedem griechifchen Freiheitslämpfer einen neuen Leonidas oder Miltiades er- 
blickten, waren überzeugt, e8 müßte ſich in kürzeſter Zeit auch ein Homer finden, 
ihre Thaten zu befingen, ein Thukydides, ihre Geſchichte zu ſchreiben; und fie 
waren enttäufcht, al fie jahen, daß das doch jo rajch nicht ging. Das ſchließt 
nicht aus, daß manches wohl Gelungene fich findet. Ich will nicht reden von 
dem im fiebzehnten Jahrhundert entftandenen Erotofritos de3 Kreters Vincentius 
Kornaros, einem nicht uninterefjanten Producte moderner Kunftepif, noch von 
den zahlreichen Arbeiten des gelehrten Korais, der am Anfang diejes Jahr: 
hundert3 in Paris lebte; ich erinnere nur an bie reizenden, im Geifte Anakreon's 
gehaltenen, lyriſchen Poefien von Athanaſios Ehriftopulo3, an die ja- 
tiriſchen Luftipiele von Rhiſo Nerulos, dem geiftreichen Verfechter der Be- 
rehtigung der Volksſprache gegen die Reinigungsverfudhe von Korais und An- 
deren, an bie tief empfundene politifche Lyrik der beiden Sutjo3, an die 
ausgezeichneten Dramen und Novellen von Alerander Rhiſo Rangabe,*) 
dem gediegenen Kenner des claffiichen Alterthums. Fremden Literaturen, 
auch der deutjchen, gegenüber find die Griechen jehr aneignungseiftig, und über- 
haupt ift das Intereſſe für Lectüre und geiftige Bildung in Griechenland 
ein jehr reges; jedes befjer fituirte Haus ſucht feine Ehre darin, eine anftändige 
Bibliothek zu beiten. Eine Anzahl von Zeitungen und wiſſenſchaftlichen Zeit- 
ihriften fucht dem Wolfe die Literarifchen Beftrebungen der Hauptftadt zu 
vermitteln; der Erforfhung von Volksſitte und Volksſprache Hat fi) ganz 
beſonders die jeit einigen Jahren in Athen beftehende philologiſche Geſellſchaft 
„PBarnafjos“ gewidmet, an der unfer Landsmann Deffner hervorragenden An— 
theil nimmt. 

Eines Eingehend auf politiiche An- und Ausfichten enthalte ich mich Hier 
durchaus. Die Berhältniffe im Südoſten Europa's find gegenwärtig in eine 
neue Phafe getreten; Griechenland jelbft hat wieder eine jener Kriſen durchzu- 


*) Herr Rangabe, geb. 1810 in Konftantinopel, gegenwärtig "griech. Gejandter in Berlin, 
war don 1844—1856 Profeffor der Archäologie an der Univerfität von Athen und wurde bann 
Minifter des Auswärtigen. Eine Gefammtaudgabe feiner Werte in 15 Bänben ift forben in 
Athen erfchienen. Außerdem hat er eine Sammlung griechiicher Infchriften mit Commentar 
herausgegeben und eine „Geſchichte der alten Kunſt“ geichrieben. — Eine von Rangabe’3 drama- 
tiichen Arbeiten, das politifche Luftjpiel: „Die Hochzeit des Kutrulis“, ift von Dani Sanders 
in's Deutſche überjegt worden (Berlin, Dümmler, 1844). 

Anm. ber Rebaction. 
Deutiche Runbſchau. III, 9. 32 


482 Deutiche Runbichaır. 


machen, welche die Großmächte jchon einige Male mit wenig Sympathie erfüllt 
haben. Daneben Haben die Gründung des archäologiſchen Zweiginftitutes in 
Athen, die Ausgrabungen der deutſchen Regierung in Olympia neue Beziehungen 
zwiſchen Deutichland und Griechenland geknüpft. Die Univerfität in Athen 
zählt eine Reihe tüchtiger und achtungswerther Männer, die mit vedlichem 
Willen auf die geiftige Hebung ihres Volkes bedacht find; die öffentliche Sicher- 
beit, ein Schredniß früher für Alle, die das Land bereifen mußten, ift wejentlich 
befjer geworden und im Peloponnes nach übereinftimmenden Berichten mufter- 
haft; Handel und Verkehr nehmen einen erfreulihen Aufihmwung. Hoffen wir 
aljo, daß die Wunden, welche eine Jahrhunderte lang fortgeführte Mißregierung 
dem Lande geichlagen hat, geheilt werden und dab die Sonne Homer’s einft 
einem wahrhaft freien, einigen und glüdlichen Volke jcheinen möge. 


Sharles Kingslen. 
Don 
Fr. Mar Müller. 





Charles Kingsley, his Letters and Memories of his Life. Edited by his Wife. London, 

H. S. King & Co. Zwei Bände. Fünfte Auflage. 1877. 

„Bon den Todten Nicht3 als Gutes,“ ift ein jchöner alter Sprud, von - 
tieferer Wahrheit, al3 man wol glaubt. Mag er auch oft nicht mehr bedeuten, | 
als daß es unritterlich jei, von Denen Böſes zu jagen, die fich nicht mehr ver- 
theidigen können: der Grund des Ausſpruchs liegt weit tiefer. Wir jehen von den: 
meiften Menjchen nur Das, was una äußerlich berührt, oder was Andere, die uns 
näher ftehen, angenehm oder unangenehm berührt hat. Nur jelten erblicken wir 
mehr al3 die Oberfläche, die Erſcheinung, und wie wenig ift das im Vergleich mit 
Dem, was in ber Tiefe der Menſchenſeele verborgen Liegt, was nicht zur Erſcheinung 
fommt, ja was in unjerer Geſellſchaft, jo wie fie jet ift, nie zur Erſcheinung kom— 
men fann. Und wie eigen, daß die meisten Menjchen böjem Leumund jo viel leichter 
glauben, als gutem. a, jelbft wenn wir Nichts als Gutes von einem Mtenfchen 
hören, zaudern wir doc) oft in unjerem Urtheil. Wir können e3 kaum glauben, daß 
ein Menſch jo gut fein könne, jo viel befjer al3 wir jelbft. Wir wollen vor— 
fihtig jein, abwarten, ihn prüfen, jo wie wir una ja jelbft nicht trauen, und, 
nur immer hoffen, daß wir wirklich jo qut find, ala wir fein möchten. So 
geht das Leben hin. Unjer vollfommenes Zutrauen, unfere ganze Liebe ſchenken 
wir vielleicht fünf oder ſechs Menjchen. Bon ihnen glauben wir nie etwas 
Böſes; die böje Welt möge jagen, was fie wolle. Und glücklich Der, welcher 
aus diejer Kleinen Zahl der Seinigen im Leben Keinen verloren hat, glüdlich Der, 
welcher jein unbegrenztes Vertrauen nie bereuen mußte! Aber wie oft find auch 
ſolche Täuſchungen und Verluſte unjere eigene Schuld! So leicht wir unjere 
eigenen Fehler verftehen, erklären und damit entichuldigen Lernen, jo ſchwer wird 
es ung, dieſe Kunft in der Beurtheilung der Fehler Anderer zu üben. Sehen 
wir bei ihnen einen Flecken auf der Oberfläche, jo meinen wir jchnell, die ganze 
Frucht jei vom Kern aus verdorben; — und doch, twie oft find dieje Flecken 
nur wie die Spuren der Hitze des Tages auf der jammetwweichen Haut der 


32° 


484 Deutiche Rundihan. 


Pfirfihe, während das Fleiſch gefund, der Saft friih, der Duft der ganzen 
Frucht entzüdend if. 

Das fühlt man reht, wenn man am Grabe eines Freundes fteht, oder wenn 
man die Lebensbejchreibung eines Mannes lieft, den man gekannt, mit dem man 
viel verkehrt hat. Man kann e8 oft faum glauben, daß man jo blind gewefen, 
und man lernt zu ſpät erkennen, daß es auf Erden auch Engel ohne Flügel 
gibt. Viele meinen wol beim Betrachten eines jchönen Lebensbildes, daß die 
Lichtjeiten zu ftark hervorgehoben, die Schwächen zu jehr verſchwiegen ſind. Und 
doch ift es weit häufiger, daß wir exrft am Grabe die Kunft lernen, dad Gute 
im Menjchen zu entdeden, und jeine Schwächen zu begreifen. Am Grabe bricht 
die alte Dienjchenliebe durch. Wie Schuppen fällt es von unſeren Augen, und 
wir wollen nicht fragen, was für Schuppen das find, die uns jo oft gegen das 
Gute und Schöne im Menjchen blind machen. Sicher ift, daß, wie unjer Leben 
jet ift, wir die meiften Menſchen erſt wahrhaft kennen lernen, wenn fie zu „den 
guten Todten“ gegangen find. 

Dieje Gedanken traten mir wieder von Neuem entgegen beim Lejen der 
kürzlich erichienenen Lebensbeichreibung meines alten Freundes, Charles Kingsley. 
In England jeheint dieſes Werk in diefem Frühling denjelben großen und tiefen 
Eindrud gemacht zu haben, wie vor Jahren die Lebensbejchreibungen des Prinzen 
Albert und Bunjen’s. In wenigen Monaten find fünf ftarke Auflagen dieſer 
Biographie nöthig geworden. Alle Zeitungen, alle Zeitſchriften find voll davon, 
und troßdem daß die „Deitliche Trage“ alle anderen Fragen und Intereſſen 
während der Sailon, während der Situng des Parlaments, in den Hintergrund 
gedrängt hat, hat die Biographie von Charles Kingsley durchgeſchlagen, ift fie, 
wie man in England jagt, „the book of the season“ geworden. 

Wie hatte man dieje drei Männer, Prinz Albert, Bunjen, Kingsley, hart 
beurtheilt, jo lange fie lebten! Sie waren verwandte Naturen, auch alle drei 
perjönlich befreundet. Es wäre wol der Mühe werth, eine Auswahl aus den 
Angriffen, die auf fie in Zeitungen und Journalen gemacht worden find, zu ver— 
anjtalten und diejelben al3 Anhang zu ihren Lebensbeichreibungen für die Nad)- 
welt aufzubewahren. Es könnte jpäteren Geſchlechtern nützlich fein. Ich jage 
gar nicht, daß alle dieje Angriffe von böswilligen Berleumdern ausgingen. Nein, 
mande kamen von Männern, die jo gut waren als die Männer, welche fie 
angriffen. Aber gerade zu jehen, wie gute Männer gute Männer mißverftehen, 
haſſen und verfolgen können, das wäre vielleicht eine gute Lehre für die Nachwelt. 
Niemand wird ja behaupten wollen, daß die drei Männer, die ich Hier zufammen 
genannt, frei von Schwächen und Fehlern waren. Das Eigene ift nur, daß man, 
jo lange die Menjchen leben, faft immer nur von diefen Schwächen und Fehlern 
ipriht und al’ das unendlich viele Gute und Schöne und Edle in ihnen ala 
jelbftverftändlich Hinnimmt. Nur erſt wenn der Tod den Schleier von unjeren 
Augen wegnimmt, da fliegen alle jene Erdenſtäubchen ſchnell hinweg, und nun 
erſt tritt das reine, jchöne, edle Menſchenbild vor unjere Seele, da3 lang ver- 
kannte Meifterwerk einer göttlichen Kunft. — 

In Deutichland ift Charles Kingsley nur in engeren Kreiſen befannt ge 
worden, hauptjächlich wol durch ſeine „Hypatia“, ein Roman, der den tragiichen 


Charles Kingsley. 485 


Kampf der alten griehiichen Welt mit den neuen Mächten des Chriftenthums 
in wahrhaft dramatijcher Lebendigkeit an ung vorüberführt. Wie Bunfen von 
diefem Werke dachte, geht aus folgender Stelle hervor, die fich in feiner Vorrede 
zu der deutjchen Ueberſetzung der „Hypatia“ findet: — „ch ſtehe nicht an, gerade 
in jenen beiden Werfen („Hypatia“ und „Saint’3 Tragedy“) die bei weitem 
bedeutendften und vollendetiten Werke des genialen Mannes zu erkennen. In 
ihnen liegt ganz bejonder3 die Rechtfertigung einer Erwartung, welche ich mir 
erlauben möchte hier auszufprechen, nämlich, daß er Shafejpeare’3 Hiftorien 
fortjeße. Ich habe jeit mehreren Jahren fein Hehl daraus gemacht, daß Kingsley 
mir der Geniud de3 Jahrhunderts zu jein fcheine, berufen, jenem erhabenen 
dramatiichen Epos der Neuzeit, von Johann ohne Land bi3 Heinrich VIIL, eine 
ebenbürtige Reihe, von Eduard VI. bis zur Landung Wilhelm’3 von Oranien, 
an die Seite zu ſetzen: die einzige geichichtliche Entwidelung Europa’, die alle 
Lebenselemente in fich vereinigt, und deren Entwidelung man ohne übermwälti- 
genden Schmerz vor fich vorbeigeführt jehen und betrachten könnte. Das tragiſche 
Drama von der Heiligen Elifabeth zeigt, dat Kingsley nicht allein dem Roman, 
fondern auch der ftrengeren Form des Dramas gewachjen ift. „Hypatia“ aber 
beweift im größten Maßſtab, daß er in den Erſcheinungen einer weltgeſchichtlichen 
Vergangenheit das Menjchheitliche, Tiefere, Bleibende erkennt und zur Darftellung 
zu bringen verfteht. Wie er bei diejer Fähigkeit zugleich den friſchen Ton des 
Volkslebens zu treffen und humoriſtiſche Charakter» Bertvidelungen mit ſhake— 
ſpeariſcher Energie nicht allein zu zeichnen, ſondern auch mit dramatifcher Wir- 
fung auszubilden und auszumalen weiß, davon zeugen alle feine Werke. Ind 
warum jollte er es nicht tun? Es gibt eine" Zeit, wo der wahre Dichter, der 
Seher der Gegenwart, die nur ihrer Nähe wegen beachtenswerthen, eigentlich 
aber unbedeutenden und unpoetijchen Erſcheinungen des Tages fahren laſſen und 
fih jagen muß: Laßt die Todten ihre Todten begraben! Bei diefem Scheideiweg 
aber jcheint mir Kingsley angekommen zu fein.“ 

In England war Kingsley jeit Jahren als Schriftfteller und Dichter hoch 
verehrt, aber er war weit mehr ala dad. Er gehörtetzum Leben des englischen 
Volkes, man könnte jagen, er bildete einen Theil des englifchen Gewiſſens. Er 
war einer von den Männern, an die man unwillkürlich dachte, wenn eine jociale, 
eine religiöje, eine große politiiche Trage da Volk bewegte. Wenn es in Eng— 
land die „Upper Ten Thousand“ gibt, die Zehntaufend, welche in der ſogenann— 
ten Gejellihaft den Ton angeben, jo gibt e8 auch die „Upper Hundred“, die 
Hundert, um deren Meinung über die großen Tragen de3 Tages das Volk ſich 
wirklich kümmert. Zu ihnen gehören Männer, nicht weil fie Minifter, Mitglieder 
des Parlaments, Bilchöfe, Gelehrte oder Millionäre find: — nein, weil das 
Bolt fie für wahr und ehrlich, für unabhängig, für über ihre Partei und ihre 
eigenen Intereſſen erhaben hält. Sie find da3 wahre Salz des Engliſchen Volkes. 

Einer von dieſen Centumviri war Kingsley; ja, engliſche Blätter gingen 
jo weit, ihn einen von den zwölf Männern zu nennen, welche das Denken und 
Fühlen des engliſchen Volkes während der lebten Generation am meiften beein- 
flußt haben. Nicht, daß man feinem Urtheil in allen Dingen traute, noch 
weniger, daß man ftet3 feinem Rathe folgte. Nein, man hielt ihn oft für 


486 Deutſche Rundichau. 


unpraktiſch: aber willen wollte man doch, was er über Dinge, die in das Be— 
reich jeiner Intereſſen fielen, fühlte, dachte, jagte; denn man mußte ſtets, dat 
er da3, was er jagte, auch wirklich dachte und fühlte. Man fieht jet aus 
feiner Gorrefpondenz, wie viel Telegraphendrähte, nicht nur von England, jondern 
von den engliſchen Golonien, von Amerika aus, in der Kleinen Predigerwohnung 
von Eversley mündeten: man fieht, wie viel taujend elektrijche Pulsjchläge von 
dem großen Herzen ausftrahlten, welches dort in der Bruft eine3 einfachen, aber 
durch und durch ehrlichen Landgeiftlichen jchlug. Das englifche Volk ift in diejer 
Weile durch einen geiftigen Organismus zufammengehalten und belebt, von dem 
man anderäwo faum eine Ahnung hat. Wenn die Zeitungen die Muskeln des 
gejelichaftlichen Körpers darftellen, jo find die perjönlichen Beziehungen zwilchen 
Männern von Bedeutung und den Taufenden, die in England auf fie Hinbliden, 
wie da3 Nerveniyften, das den Muskeln erſt ihre wahre Kraft verleiht. 

Es ift diefer enge geiftige Organismus in England durch viele Dinge 
begünftigt. Die Anzahl der öffentlichen Schulen ift eine bejchränfte. Univerfi= 
täten gibt es, oder gab e3 bis vor Kurzem eigentlich nur zwei. Die meiften 
Leute von Bedeutung find von der Schule, von der Univerfität her bekannt, 
und wer dort fih das Vertrauen feiner Freunde erworben hat, der behält e3 
meift für’3 Leben. Dann hat England, troß jeiner großartigen Anlage, doch 
viel Kleinſtädtiſches. Faſt Jedermann kennt edermann, und die großen 
Tamilien und Clans halten jo eng zujammen, daß, wenn fich zwei Eng— 
länder im Ausland treffen, es micht lange dauert, bis fie, herausfinden, daß fie 
verwandt find oder daß fie wenigftens viele gemeinjame Freunde haben. Dazu 
fommen nun noch die zahllojen Vereine, Gejellihaften, Clubs, die wohlthätigen 
Sammlungen, die politiichen Agitationen, endlich der Gentralherd in London, 
da3 Parlament, wo Jeder von Zeit zu Zeit einmal erjcheint, um fich zu wärmen 
und mit alten Freunden und Bekannten „die Hände zu jchütteln“; kurz, Eng» 
land hängt enger zufammen und fennt jich beifer, als irgend ein anderes Land. 
Das ſchafft nun aber auch eine jehr jcharfe Controle. Auf wen das engliidhe 
Volk einmal geachtet hat, den läßt es jo leicht nicht wieder aus den Augen. 
Der Einzelne fühlt das, und das erzeugt ein Gefühl von Zufammengehörigkeit 
und DVerantwortlichkeit, welches die feitefte Grundlage eines politiichen Organis— 
mus bildet. Kingsley war ja allerdingd nur ein Schriftfteller und Zandgeiftlicher; 
aber von feinem früheften Auftreten an fieht man in ihm das Gefühl, daß er 
feinem Bolfe angehört, daß er fich nicht verfteden kann, daß ex mit feiner Ueber— 
zeugung heraus muß, jo jehr jie bei der geſellſchaftlichen Claſſe, zu der er gehörte, 
Anftoß erregen, jo jehr fie den Intereſſen feines Standes, des geiſtlichen, ent= 
gegen zu laufen jchien. 

Kingsley war aus guter, alter Familie und bewegte ſich in der beiten Ge— 
jelliehaft; aber al3 im Jahre 1849 die focialen Bewegungen unter den Arbeitern 
nit nur die nicht denfenden, jondern auch die denfenden Staatsmänner Eng- 
lands in Schreden jagten, ſchrieb er feinen Roman „Alton ode, ein Schneider”, 
und erklärte jich offen ala — im beften Sinne des Wortes — einen Chartiften. 
Unter dem Namen „Parjon Lot” war er damal3 in Aller Mund, verſchmäht, 
geläftert, ja oft bedroht; aber feinen Augenbli in feiner Neberzeugung beirrt 


Charles Kingsley. 487 


daß der Chartismus eine große Berechtigung habe, daß e3 die Pflicht des wahren 
Staat3mannes und Patrioten jei, die guten Elemente der jocialen Bewegung 
in ihrer Berechtigung anzuerkennen, und mit ihrer Hilfe die ſchlechten nieder- 
zuſchlagen. Ber alle dem Aergerniß, das er gab, fühlten Alle, ſelbſt Die, welche 
Kingsley am meiften befämpften, daß er vollkommen uneigennüßig war, daß er 
Nichts fir fich wollte, daß er ſich im Gegentheil durch die Vertheidigung der 
überjpannten Abfichten der arbeitenden Claſſen jede Ausficht auf eine Carriere 
in der Kirche verdarb. Sowol feine Zeit, als fein Geld (und er hatte nicht viel) 
gab er hin, um nicht nur wortkräftig, jondern thatkräftig eine Verbeſſerung der 
arbeitenden Claſſen herbeizuführen. Und wie würde er in Deutichland den 
Reichen wie den Armen in die Ohren gedonnert haben, daß, wer nicht mindeſtens 
ein Zehntel feiner Zeit und feines Einkommens gemeinnüßigen und wohlthätigen 
Zwecken opfere, zu den gefährlichften Beförderern der Socialdemofratie gehöre! 

Sp ging er vorwärts, gerade aus, fein ganzes Leben lang. Mit Herz und 
Seele der engliichen Kirche ergeben, vertheidigte er Frederik Maurice, jobald 
man ihn, weil er die Ewigkeit der Höllenftrafen geleugnet, jeiner Profeſſur be- 
raubt Hatte. 

Als die Biſchöfe bei lang anhaltendem Regen ein allgemeine Kirchen— 
gebet um Sonnenſchein anordneten, weigerte er fich, es vorzulejen, erjtens, weil 
jelbft feine beſchränkte Kenntniß der Naturgejege ihm ſage, daß Regen noth- 
wendig jei, zweitens, weil ex jeine beſchränkte Kenntniß der Naturgejege nicht 
der Höchften Weisheit entgegen ftellen könne. 

Am Ende einer Predigt, die er in London hielt, erhob ſich der Prediger, 
dem die Kirche gehörte, und warnte die Gemeinde gegen die Irrlehre, die fie eben 
gehört. Dies war etwas Unerhörtes, und die Aufregung war drohend. Kingsley 
verneigte ſich ſchweigend, beruhigte die Maſſen, die ſich an der Kirche verfammelt 
hatten, veröffentlichte jeine Predigt und brachte den Biſchof dahin, anzuerkennen, 
dat jie Nichts enthielte, was dem wahren Geifte des alten, echten Chriftenthums 
entgegen jet. 

Als faſt die ganze beffere Gejellichaft in England Partei für die Rebellion 
der Südftaaten nahm, blieb Kingsley dem Norden treu, nicht, weil er den 
Heroismus der Rebellen verfannte, nicht weil ex die Politiker von Walhington 
jehr hoch achtete, jondern weil für ihn ein Princip feftftand, daß Sklaverei 
unmenjchlich jei, und daß der Sieg des Südens der Sieg der Sklaverei geweſen 
fein würde. 


Im Jahre 1866, als nur Wenige die tiefere Bedeutung des Krieges von 
Preußen gegen Defterreic) erkannten, jchrieb er an mich (Letters, vol. IL, p. 238): 


„Mein lieber Dar! Was für große Dinge für Deutichland haben ſich zugetragen, und wie 
groß Haben Eure Preußen fich gezeigt! So wild ich auf fie war in Bezug auf Schleswig-Hol— 
ftein, in diefer legten Campagne fann ich nur einen großen, nothwendigen Zug für die Sicher: 
heit eines jeden norddeutſchen Herdes, für die Ehre eines jeden norddeutſchen Weibes erkennen. 
Die Möglichkeit einer Wiederkehr der Dinge von 1807—1812 ftehen zu laffen, wenn fie durch 
irgend welchen Kampf entfernt werben konnte, wäre Schmach und Sünde geweſen. Wäre ich 
— Preuße, ich wäre mit nach Sadowa marſchirt, als eine heilige Pflicht für Weib, Kind und 

aterland.“ 


488 Deutiche Rundſchau. 


Ebenjo, als am Ende des deutſch-franzöſiſchen Krieges die Sympathie faft 
aller bedeutenden Männer in England, namentlid) der Liberalen Partei, von 
Deutjhland zu Frankreich überging, blieb er treu bis zum Ende, wie folgende 
Zeilen beweiſen, die er an mich richtete, weil er wußte, wie ic” damals von 
meinen beten Freunden verlafjen war (Letters, vol. II, p. 332): 


„Empfange meine herzlichen Glückwünſche für Dich und das deutiche Volt! Der Tag, um 
den Bunjen mit Thränen im Auge gebetet, daß er nicht fommen möge, bis das deutſche Volt 
bereit jei, ift gefommen, und das deutfche Volk war bereit. Wahrhaftig, Gott ift gerecht, und 
er hält die Zügel noch in feinen Händen, was auch die Zeitungen dagegen jagen mögen. Ich 
fürdhte nur Eins, dab die Deutichen an Paris denken könnten. Das geht fie Nichts an. Sie 
follten ihre Augen auf Das richten, was fie jehr viel angeht, nämlich Elſaß wieder in Befik zu 
nehmen, das ihnen gehört, und fie jollten den fyranzofen auch feinen Zoll Land am Rheinufer 
lafjen. Wenn die Deutjchen weiſe find, jo follten fie nur Ein Ziel im Auge haben, nämlich e3 
bahin zu bringen, daß der Rhein ein Wort werde, das fein Franzoſe je wieder in den Mund 
nimmt. Es geichehe aber, wa3 da wolle, voll von Jubel und Hoffnung für Deutſchland bleibe 
ih Dein 

Charles Kingslbey.“ 

Später * noch ein anderer Brief vom 31. Auguſt, wo er ſein ganzes 

Herz über den deutſch-franzöſiſchen Krieg ausſchüttet: 


„Und nun ein paar Worte über dieſen fürchterlichen Krieg. Ich geſtehe offen, wäre ich ein 
Deutſcher, ſo hielte ich es für meine Pflicht, meinen letzten Schilling, meinen letzten Sohn, ja 
mic) ſelbſt und Alles, was mein iſt, in dieſen Krieg zu ſenden, damit gethan werde, was gethan 
werben joll und muß, und zwar jo, daß e3 nie wieder gethan zu werden braucht. Sch Hoffe, 
daß ich feinen Gedanten an Rache in meinem Herzen auftommen lafjen würbe, dab ich Alles, 
was Deutichland jeit zwei Jahrhunderten von dem eitlen, hablüchtigen, unruhigen Volke der 
Franzoſen gelitten, vergefjen fönnte; ſelbſt Allee, was Deutfchland, Frauen wie Männer, im 
lebten franzöfiichen Kriege gelitten. Die Deutichen freilich vergeffen das nicht, und einige von 
ihnen, im Namen ihrer Mütter und Tanten, follten es nicht vergefjen. Was alle Deutjchen 
jagen können, ift dies: Zweihundert Jahre lang find Befik, Leben und Freiheit in Deutichland 
unficher geivejen, weil wir nicht einig waren. Die Könige von Frankreich haben Alles gethan, 
wa3 fie fonnten, damit Deutichland nicht einig werde. Deutichland jollte das Spielzeug ihres 
Ehrgeizes fein und bleiben. Seit der franzöfiichen Revolution hat das franzöfiiche Volt, d. h. 
Alle, die dabei Etwas zu jagen und zu thun haben, die Armee unb die gebildeten Claſſen, ganz 
bafjelbe gethan. Das muß aufhören. Wir wollen es zur Unmöglichkeit machen, daß Frankreich 
ſich in die inneren Angelegenheiten Deutichlands miſche. Nach Alfred de Muffet’3 brutalem 
Rheinlied ſoll es für jeden Franzoſen ein Verbrechen fein, den Namen des Rheins je twieder zu 
erwähnen. 

„Der Krieg, wie er jetzt gekommen ift, war umvermeidlich, früher oder jpäter. Die ran: 
zoſen ſehnten fi darnach. Sie wollten noc immer Rache für 1813—1815, ganz vergefiend, 
daß das der Nachekrieg, und wahrhaftig ein jehr gelinder Rachekrieg Deutſchlands für 1807 
war. Bunſen hat's mir oft geſagt — umd ich jah, wie ihm dabei die Thränen in die Augen 
ftiegen —, daß der Krieg fommen müffe, und da er nur zu Gott bete, daß er nicht fommen 
möge, bis Dentjchland kriegsbereit jei, bis e8 fidh von den Kataftrophen des großen franzöfiichen 
Krieges erholt habe. Er ift gefommen, und Deutichland war kriegsbereit, und ich möchte nur, 
daß der alte Mann noch lebte, um die Schlacht von Harmageddon, wie er fie nannte, nicht auf 
beutichem Boden, wie er fürchtete, jondern auf franzöfiichem ausgefochten zu jehen. Der Krieg 
mußte fommen. Die Deutjchen hätten Unrecht gehabt, hätten fie den Krieg angefangen; als 
aber die Franzoſen anfingen, da würden fie für alle Zeiten nieberträchtig geweſen jein, hätten 
fie die Herausforderung nicht angenommen. Wenn und Jemand Jahre lang mit der Fauſt in’ 
Geficht drohte und verficherte, daß er ung nächſtens tüchtig durchbläuen würde, und fich rühmte, 
daß wir zu feig jeien, um ſelbſt Loazufchlagen, da würden wir, wenn wir weile genug wären, 
es ebenfo machen, wie es Deutichland gemacht hat, d. h. fein Wort jagen, bis der erfte Schlag 


Charles Kingsley. 489 


gefallen; aber jedenfalls auch, jo wie es Deutichland tvar, gefaht darauf fein, was fommen kann 
und mu. Zu behaupten, dab e3 eine Art Verbrechen fei, daß Preußen kriegsbereit geweſen, 
daß es beweife, wie Preußen Frankreich überfallen wollte, zeigt die größte Unkenntniß der Ge: 
ſchichte, namentlich der deutichen Geſchichte, wie fie in England nicht jelten ift; beweift kraſſe Un— 
wifjenheit, oder abfichtliches Vergeffen von Allem, was die Franzoſen jeit Jahren gedroht haben 
in Bezug auf eine „Rectification der Grenzen“. Man hatte wahrlich Deutſchland nicht in Un: 
gewißheit gelaflen, daß der Schlag eines ſchönen Tages fommen werde. Uud jeßt, wo der Schlag 
gefallen, den anderen Baden demüthig darzubieten, möchte allerdings recht chriftlich erjcheinen, 
wenn nur das eigene Selbſt dabei im Spiele wäre; aber durchaus undhriftlich, elend und ſchänd— 
li, wo es fich, wie hier, um frauen, Kinder, ja um noch ungeborene Nachkommen handelt. 
Mer kann zweifeln, dab, was Frankreich bei diefem Kriege beabfichtigte, eine neue Theilung, 
Schwächung, jchlieplich Unterjohung Deutichlande war? Gin Deutjcher, der das ſah — und 
jeder vernünftige Deutiche Jah es — durfte nicht an den Text denken, ber uns verbietet, perjön- 
liche Beleidigungen zu rächen, fondern an einen anderen, nämlich daß Der, „welcher das Schwert 
nimmt, durch's Schwert umkommen joll*. Er durfte nicht an die Marter des Todes und an 
bie Verwüftungen de3 Krieges denken, ſondern allein an ihn, der da jagt: Und fürchtet euch nicht 
vor Denen, die den Leib tödten und die Seele nicht mögen tödten, jondern fürchtet euch vielmehr 
vor dem böfen Geifte der Selbitjucht, der Faulheit, der Gejeklofigkeit, die in Sklaverei endigt, 
und Leib und Seele verderben mag in bie Hölle moralifcher und politischer Niederträchtigfeit. 
Das thörichte Gerede unferer arbeitenden Glaffen — die immer noch an die alte Theorie glauben, 
dab nur Könige Krieg machen —, daß dies ein dynaftiicher Krieg jei, ift einfach falſch. Auf 
Seiten Deutſchlands wenigſtens ift e3 fein dymaftiicher Krieg. Es ift die Erhebung eines Volkes 
von ben höchſten zu den niedrigften Schichten; eines Volkes, das ein Volt fein will, und zwar 
in einem weit tieferen Sinne, ala irgend ein franzöfiicher oder englijcher Demokrat dieſes Wort 
je verftanden hat. Es ift auch nicht ein blos dynaftiicher Krieg auf Seiten Frankreichs. Der 
franzöfifche Kaifer freilich fing den Srieg an, um feine eigene Dynaftie zu retten; aber auch er 
würde dies nie gethan haben, hätte er nicht geglaubt (und wer kannte bie Franzoſen befjer, ala 
er?), daß es nicht ein blos dynaftiicher, jondern ein populärer Krieg fein würde. Denn wie 
hätte er jonft jeinen Thron retten jollen? Wie hätte er feinen Sturz nicht beichleunigen follen, 
wenn ex bie Wünſche des Volkes gefreuzt hätte? Er kreuzte fie nicht. Blickt auf bie Zeitungen 
zurüd, und es wird fich zeigen, da; Parid und die Armee (und biefe beiden find leider Frank: 
reich!) die erſte Nachricht vom Kriege mit einem wahren Delirium von rohem Jubel begrüßten.... 

„Der Kaifer hat ſich getäufcht ... al’ feine Kunft war vergebend. Gr meinte, nachdem er 
das franzdfiiche Volk betrogen, nachdem er e3 durch Männer regiert hatte, die es verftanden und 
die nicht davor zurüdicheuten, e8 zu betrügen, daß diejelben Ereaturen, die er wegen ihrer Falſch— 
heit erwählt hatte, ihm und ihm allein treu fein würden; daß fie im Geheimen bie Tugenden 
der Ehrlichkeit, der Sparſamkeit, der Treue, des Patriotismus üben würden, die fie öffentlich 
nie üben durften. Was fie gelernt hatten, war, die Zeiger des Wetterglafes feftzunageln, um jo 
gutes Wetter zu machen; und dafjelbe thun fie noch jet bei jedem Telegramm, was fie jchicen. 
Nein, er it nach Verdienſt beftraft durch feine eigenen Verbrechen, und Gottes Urtheile find, 
wie immer, wahr und gerecht.“ 


Am 5. September 1870 fchreibt er von Neuem: 


„Seit Waterloo hat es nichts Aehnliches in Europa gegeben! Ich warte auf die Nachrichten 
von Paris für die nächſten Tage mit Schauer und Mitleid. Was ben Kaifer betrifft, jo habe 
ich, während Andere fich tief vor ihm beugten, nie mich gejchent, meine vollfte Verachtung für 
ihn auszudrücken. Seine Politik ift jebt gerichtet, und er mit ihr, durch die Thatſachen, und 
biefe find, wie Bacon jagt, „die Stimme Gottes offenbart in der Wirklichkeit“. Anftatt mic) 
aber der Heerde der Hunde anzujchließen, die jet bellen, wo fie früher herumwedelten, werbe 
ic von nun an nie wieder ein böjes Wort gegen ihn jagen. Möge der Berurtheilte in Frieden 
fterben, wenn er kann — er wird nicht lange mehr leben!“ 


So jprad und ſchrieb und wirkte Kingsley jein ganzes Leben hindurch, 
immer der gejchtworene Feind allen Scheins, aller Heuchelei, aller Gemeinbeit, 


490 Deutſche Rundichau. 


aller Selbftfucht; immer der offene Freund Aller, die das Gute wollten, die 
das Wahre, was fie erkannt, auch offen befannten, die für Andere mehr als für 
ſich jelbjt lebten, und namentlich der muthige Wertheidiger aller Verfolgten. 
Daß ein jolder Mann auc Feinde hatte, und erbitterte Feinde, war natürlich. 
Aber in allen Schladten, die ex kämpfte, bewährte er fi) nit nur als ein 
tapferer, ſondern al3 ein großmüthiger Gegner. Ueberall bewahrte er die For— 
men ritterlicher Höflichkeit. Dem deutichen Leſer mag es jcheinen, ala ob er 
manchmal in jeiner Höflichkeit und Bejcheidenheit zu weit ginge Aber dieſe 
Beiheidenheit lag in Kingsley’3 ganzer Natur. Die Achtung, die er Anderen 
bewies, entiprang aus der Achtung, die er für fich ſelbſt fühlte. Die Beicheiden- 
heit, mit der er von feinen Leiftungen jprah, aus der Wahrhaftigkeit, die er 
fich jeldft jchuldete. Er war in diefer Hinficht ein wahrer Edelmann, one of 
nature’s true gentlemen. Nur einmal, wenn wir jein ganzes Leben durchmuftern, 
icheint ex fich vergeifen zu haben. Man Hatte ihn ſchmählich angegriffen und 
verleumbdet. Da, anftatt einfach zu jagen, daß fein Gegner da3 Gegentheil von 
dem gejagt, was Thatjache ſei, erlaubt er ſich einen alten Kirchenvater zu citiren 
und fällt den Gegner mit einem „impudentissime mentiris“ zu Boden. Nie- 
mand war bereiter, jeine Jrrthümer, wenn er fie einmal erkannt, offen einzuge= 
ftehen, Niemand ſprach von fich jelbft mit größerer Beicheidenheit, von Anderen 
mit größerer Bewunderung als Kingsley. Viele jeiner Feinde wurden jeine 
Freunde, nachdem fie ihn nur einmal von Angeficht zu Angeficht gejehen. 

Sein berühmtefter Streit war der mit John Henry Newman, dem hoch: 
firhlichen Theologen, der jchlieglich zur römiſch-katholiſchen Kirche übertrat. Der 
Streit war der alte Streit, ob e3 erlaubt jei, in einer chriftlichen Kirche die 
innere Stimme der Wahrheit aus Achtung vor der Autorität zu unterdrüden. 
Tür Kingsley war eine ſolche Kirchenpolitik nicht nur undriftlih, Jondern un— 
menſchlich, und mit aller Achtung für die weltgeſchichtliche Bedeutung des päpft- 
lien Kirchenregiments ſprach ex fich oft mit der ftärkften Indignation gegen den 
unengliſchen Charakter des römischen Prieſterthums aus. Dies brachte den gelehrten 
und gewandten Theologen J. H. Newman als Vertheidiger feiner neuen Glauben3= 
genofjen in die Schranken, und es eröffnete ji ein Zweikampf, der für immer 
eine biftoriiche Bedeutung behaupten wird, jchon weil er die Veranlafjung zu 
Newman’3 „Apologia pro vita sua“ wurde. Die öffentlide Meinung war 
merfwürdiger Weile auf Seiten Newman's. Ex war der geſchicktere, feinere, 
larfaftijchere Disputant; und während Kingsley jchwere Keulenſchläge führte, 
brachte ihm fein Gegner manche Stichwunde bei. Newman genießt in England, 
troß ſeines Uebertritts zur römiſchen Kirche, einer großen Popularität. Er ift 
geliebt und geachtet, weil er ala Märtyrer feiner Ueberzeugung gilt. Die Katholiken 
jeldft fürchten ihn, oder trauen ihm wenigſtens nicht ganz, und er, der fi um die 
römische Kirche größere Verdienfte erworben hat, als irgend ein anderer Gonvertit in 
England, ift nie zu einer einflußreichen Stellung in der Kirche zugelafjen worden. 
Perjönliche Sympathien und Freude an jeiner wahrhaft fünftleriichen Strategit 
wirkten zujammen, jo daß faft alle Zeitungen und Journale entjchieden New— 
man’3 Bartei ergriffen. Kingsley jelbjt, in feiner offenen, ehrlichen Weile, ſprach 
e3 öffentlich aus, daß er „Schwerter mit einem Manne gefreuzt, der zu ftarf 


Charles Kingsley. 491 


für ihn war“. Und doch, wer den Kern der Frage von der äußeren Schale zu 
trennen verſteht, wird keinen Augenblick zweifeln, daß Kingsley eine ſtarke 
Stellung ſchlecht, Newman eine ſchwache gut vertheidigte; daß Kingsley mit dem 
Herzen, Newman mit der Zunge ſtritt, daß es dem Einen um Wahrheit, dem 
Andern nur um Sieg zu thun war. 

Schon während dieſes langen Kampfes, 1864—65, zeigten fich bei Kingsley 
Spuren abnehmender Kraft und Gefundheit, und nur jeinem eiſernen Willen 
gelang e3 im lebten Decennium feines Lebens noch jo Vieles zu jchaffen, die 
Gluth jeiner Gedanken, die Farbenpracht feiner Sprache nie ſchwinden zu lafien. 
Aber er war müde. Ja, durch fein ganzes thätiges Leben Klingt ein tiefer Ton 
der Sehnjuht nad) Ruhe und Frieden im Grabe. Schon in jeinem erften 
Werke, The Saint’s Tragedy, fang ex jein ſchönes Lied: 

„D dab wir beide jchliefen 

Unter dem grünen Moos, 

Ohne Leid, ohne Luft, 

An der Erde Bruft, 

Und die Seelen in Gottes Schooß! 


Kein ixdiiches Loos konnte glücklicher jein als das feinige; aber inmitten 
feiner Freuden al3 Gatte, al3 Vater, als Freund, als Lehrer, als Geiftlicher, 
al3 Dichter, immer und immer blieb fein Blick über das Irdiſche Hinweg auf 
da3 Ewige gerichtet. Er ift jung geftorben und von jeinem Leben, wenn wir 
darunter eine Kette großer Ereigniffe verftehen, ift wenig zu ‚berichten. Er war 
Landprediger, wurde Profeffor der Geihichte in Cambridge, dann Ganonicus zu 
Cheſter und Weftminfter und ftarb am 23. Januar 1875 im 55. Jahre jeines 
Lebens. Das Intereſſe der beiden Bände, in denen feine Frau und feine Freunde 
jeine Briefe und Erinnerungen aus feinem Leben zujammengeftellt haben, liegt 
allein in dem Mann felbjt, in der herrlichen Menjchennatur, die uns in ihm 
entgegentritt. Wer England und Englands wahre Stärke fennen lernen will, 
der leſe dieſes Bud). 

Zum Schluſſe füge ic) noch einige Auszüge aus einer Vorrede bei, die ich 
bald nad) Kingsley's Tode für die neue Auflage jeiner Vorlefungen über „Römer 
und Deutſche“ zur jchreiben hatte. Es ift mir ſchwer geworden, gerade jet 
etwas über meinen alten Freund zu jchreiben; und doch wollte ich eine doppelte 
Pflicht gegen ihn und gegen meine Freunde in Deutſchland nicht unerfüllt lafjen, 
indem ich die Aufmerkjamteit der Letzteren auf ein Buch hinlenfe, welches auch 
in Deutjchland nicht unbeachtet bleiben jollte und welches uns von Neuem zeigt, 
wa3 die Auferftehung eines guten und edlen Mannes vom Tode zu neuem 
Leben und Wirken zu bedeuten hat. Eine jchöne Sonne ift untergegangen; aber 
die gebrochenen Strahlen ihres Glanzes erleudhten von Weſten her den ganzen 
Himmel mit feinen Wolfen, die ganze Erde mit ihren Bergen und Thälern. 
Das ift das Abendroth einer menihlichen Seele, die im Leben Viele erheitert, 
erwärmt, genährt und geftärkt hat, und die nie größer und ſchöner ſchien, als 
in ihrem Untergang. 

„Nie werde ich den Augenblid vergeffen, al3 ich zum lebten Mal die 
männlichen Züge von Charles Kingsley in jchmweigender Andacht betrachtete, 


492 Deutſche Rundichau. 


Züge, welche die Hand des Todes beruhigt, verflärt und wie mit himmliſcher 
Majeftät erfüllt hatte. Im Leben hatte das ewige Ringen in jeinem Innern 
diefen Zügen nie Ruhe gegönnt. Immer ſchien jein Geift, wie ein gefangener 
Löwe, die eifernen Gitter feines Käfigs zu rütteln und zu fchütteln. Der Ge- 
danke wollte durch und konnte nicht — die Seele dürſtete nach Verftändnig und 
fand es nicht; Wahrheit wollte er, jo wie fie ihm in jedem entſcheidenden Mo— 
mente ſeines Lebens entgegentrat, aber gerade dieſe einfache, ungeſuchte Wahr- 
beit wollte die Welt nicht hören. Bei diejen inneren Kämpfen war fein Gejicht 
wie eine Gewitterwolke, bald hier, bald dorthin getrieben, ftürmend, drohend, 
blitend — die Schlechten zitterten, wenn er fie anjah, aber Kinder lachten und 
freuten jih. Das Alles war nun vorüber, es war nur der Ausdrud des 
Sieges, des Triedend, des Triumph3 geblieben. So mag ein Krieger auf dem 
Schlachtfelde ausjehen, der einen guten Kampf gefämpft, und der, während er 
in die Arme des ewigen Schlafes finft, von fern no das Jauchzen des fieg- 
reihen Heeres und die alten bekannten Töne des Triumphmarſches vernimmt. 
Hier in der Ruhe und Vollendung des Todes jah man das deal des Mannes, 
wie ihn die Natur fich gedacht hatte, und man fühlte, daß fein Künftler Schöner 
in weißem Marmor dichten kann, ala der Tod.“ 

„Als ih, verjunfen im Anblick diefes Marmorbildes, daftand, und den 
warmen Drud der Hand noch fühlte, die ich vor wenigen Wochen zum ewigen 
Abſchied gedrücdt hatte, da ftand das ganze Leben und Wirken des Mannes 
wie eine Vifion vor meiner Seele. Mean date an den jungen Geiftlichen und 
jein erjtes Gedicht „Die Tragödie einer Heiligen“; — an den unerfchrodenen 
Vertheidiger und Leiter der Chartiften, die wir Socialdemofraten nennen 
würden und feinen von Menſchenliebe durchglühten Roman „Alton Locke“; — 
dann fam der glückliche Familienvater und Dichter mit Liedern, wie „Die drei 
Schiffer”, „Der Sand von Dee“; der beivunderte Schriftfteller mit feiner 
„Hypatia“ und „Weftward-Ho“ ; der unermüdliche Landgeiftliche mit feinen „Dorf- 
predigten“; der beliebte Profeilor der Geſchichte in Cambridge, der geichäftige 
Ganonicus in Chefter, der Frohe Reijende in Weftindien und Amerika, und zum 
Schluß, und nur auf kurze Zeit, der Kanzelredner von Weftminfter-Abtey, deſſen 
Geiftesmuth und Redegluth die weiten Hallen der alten Abtei wie eine Meeres— 
bucht mit fluthenden Wellen füllten. Ya, man jah ihn wieder vor fich, wie man 
ihn oft gejehen, al3 echten Naturforjcher bei den Kreidebächen von Berkihire oder an 
der Küfte von Devonjhire, wie er in Allem, was blühte und lebte, im Größten und 
im Sleinften, die Schönheit und Weisheit der Natur zu entdeden verftand, oft ſich 
till und ehrfurchtsvoll vor einer Blume verbeugend, oft laut loslachend über 
den unvergleihliden Spaß, den ſich der Schöpfer in irgend einem Seeungethiere 
gemacht hatte. Dann erjhien er und wieder in den ſchmutzigſten Gaffen der 
ſchmutzigſten Städte, überall das alte Evangelium predigend: „Waſcht Euch 
äußerlich und innerlich,” und gutmüthig daber mit einem alten Invaliden und 
Matroſen jeine Pfeife rauchend und fein Glas Bier trinkend. Und bald darauf 
hörte man jeine Stimme in den glänzenden Salon3 von London, wo Männer und 
Frauen ihn ſchweigend umringten, geduldig twartend, bi3 der Geift über ihn 
fam, und einer von feinen Kraftiprüchen hervoriprudelte, die man nie wieder 


Charles Kingsley. 493 


vergaß. a, und wie die Kinder ihn liebten! Wie junge, leihtfinnige Männer 
ihm glaubten und ihm folgten! Wie rauen durch feine wahre Ritterlichkeit 
gefefjelt und alte Männer durch jeine Bejcheidenheit und aufrichtige Herzens- 
güte für ihn gewonnen wurden!“ 

„Dies Alles war nun hin — und Niemand, jo fühlte man, konnte die 
vielen Stellen, die er im Leben gefüllt, jo wieder füllen, wie er fie gefüllt hatte. 
Aber ala man zum lebten Mal auf Erden ihm in das ftille Angeficht ſchaute, 
da fühlte man doch, wie viel größer al3 der Landprediger, größer ald der Re— 
formator der Geſellſchaft, größer ald der Dichter, größer ala der Profejlor, der 
Mann als Dann gewwejen war, mit jeinem warmen Herzen, feinen ehrlichen 
Abfichten, jeinem DVertrauen zu den Menſchen, feiner Selbftlofigfeit, jeiner 
Ritterlichkeit, feiner Beicheidenheit, wie man fie in unjeren Tagen faum noch kennt.“ 

„Bon dieſen Schäßen, die in der Tiefe jeines Herzens geborgen lagen, wußten 
nur Wenige; und dennoch hat faum ein Mann in ganz England eine größere 
Anzahl von Freunden, Verehrern, mitfühlenden und mithandelnden Geiftes- 
genofjen gehabt.“ 

„Wer fann fein Begräbnig am 28. Januar 1875 vergeflen, und die Schaar 
der Trauernden, die ſich an jeinem Grab, vielleicht zum erſten und zum lebten 
Mal im Leben, trafen! Da ftand der Vertreter des Prinzen von Wales, feines 
alten Schülers, und dicht daneben die Zigeuner, die auf dem Anger von Everöley 
ihre Zelte aufgefchlagen hatten und Kingsley ihren „patrico-rai“ nannten, ihren 
Priefterlönig.e Da war der alte Rittergutöbefiger, ein Baronet, jelbft ein 
Prediger, deſſen Familie ihm als jungen Manne feine Landpredigerftelle in 
Eversley gegeben hatte, und die Bauern, jung und alt, denen er ein Freund 
und Vater geweſen. Dan ſah Gouverneure ferner Golonien, Officiere und 
Seeleute, den Biſchof feiner Diöcefe, den Decan feiner Abtei, den Bayard 
der Engliſchen Kirche, Stanley; aber auch die Prediger der Difjenterd aus 
der Umgegend fehlten nicht. Mitglieder des Oberhauſes und Unterhauſes 
waren gefommen, Schriftjteller und Buchhändler, und in einiger Entfernung 
vom Kirchhof jah man fogar die Pferde zur Hebjagd und die Meute und bie 
Reiter in ihren rothen Jacken. Auch fie hatten fich verfammelt, um Charles 
Kingsley ihr letztes Lebewohl zu jagen; denn ein jo trefflicher Geiftliher, wie 
er geweſen, jo fröhlich war er auf der Jagd. Muthig und feft im Sattel, 
i‘hredte er im Leben vor feiner hohen Hede zurüd, jo wenig al3 er gezittert 
und gebebt, al3 er die legte Hede im Leben, den Tod jelbft, in's Auge faßte. 
Alles, was er geliebt, Alles, was ihn geliebt, war da, und wenige Augen konnten 
troden bleiben, al3 man ihn in das Grab von gelbem Kies auf feinem Kirchhof 
bettete, als die Bäume, die er ſelbſt gepflanzt und gepflegt, zum legten Mal ihre 
Zweige jegnend über ihn breiteten, und der graue und doch jonnige Himmel mitleid3- 
voll auf das leere, verlaſſene Haus hinabblicte, wo ein ſchönes Erdenglück geblüht 
hatte und num verblüht war. „Amavimus, Amamus, Amabimus‘“ fteht auf 
jeinem Grabjtein, und jelten hat ein Grabftein wahrer geſprochen. Alle fühlten, 
al3 fie na) Haus gingen, daß ihr Leben ärmer geworden war; Jeder mußte, 
daß er einen Freund verloren, ber ganz fein Eigen gewejen. Man wird Charles 
Kingsley in England, in den engliſchen Colonien, in Amerika, wo ex jein letztes 


494 Deutſche Rundſchau. 


glückliches Jahr verlebt, vermiſſen und betrauern; man wird ihn überall ver— 
miſſen und betrauern, wo germaniſcher Geiſt und germaniſche Sprache ver— 
ſtanden werden. An jedem Orte, wo er auch nur einige Tage ſeines geſchäftigen 
Lebens verbracht, wird man von ihm reden und nach ihm ſich ſehnen. Was 
ſoll ich von mir ſelbſt ſagen? Mir iſt, als ſei mit ſeinem Tode ein neues Tau 
zerriſſen, das mein Lebensſchiff an dieſer gaſtfreundlichen Küſte feſtgehalten.“ 

„Wenn ein Schriftſteller oder ein Dichter ſtirbt, ſo ſagt man wol, daß der 
beſſere Theil von ihm in ſeinen Werken weiter lebe. So iſt es auch mit den 
meiſten. Aber bei Kingsley waren der Menſch und der Dichter unzertrennlich. 
Alles, was er ſchrieb, hatte eine Abſicht. Es war für die Gegenwart berechnet; 
es ſollte einſchlagen, da, wo er war; es ſollte wirken auf die Menſchen, die er 
kannte und liebte. Mehr wollte er nicht, und der Gedanke an Ruhm und 
Nachwelt ſtörte ihn ſelten bei ſeiner Arbeit. Was ihn glücklich machte, war 
das Gefühl, hier und dort ein gutes Wort geſprochen, dann und wann ein 
gutes Werk gethan zu haben. Ein ſtiller Händedruck von einem jungen Mann, 
den ſeine warnende Stimme vom Abgrund zurückgerufen, ein Möge Gott es 
Euch lohnen! von einer alten Frau, der er Troſt zugeſprochen, — die Ab— 
ſtellung eines Mißbrauches, gegen den er ſein Wort geſchleudert, die Ein— 
führung einer guten Anſtalt, die er befürwortet — ja das Bewußtſein, eine 
gerechte Sache oder einen gereddten Menjchen gegen die Vorurtheile der Menge 
vertheidigt zu haben, — das war ihm mehr werth, ald wa3 man Ruhm und 
Nachruhm nennt, Weihraud), der den Lebenden die Augen blendet, und der nad) 
dem Tode wie eine leichte Wolfe von dem Winde fortgetrieben wird. Aller- 
dings könnte man wol auch in dieſer Verachtung des Lobes den Grund ent- 
deden, weshalb vielen feiner Werke die Jorgfältige Vollendung fehlt, die er ihnen 
wenn er gewollt, leicht hätte geben können. Er arbeitete mit einer Haft und mit 
einer Energie, die durch alle Hinderniffe hindurchbrach. Er wußte, was er wollte, 
und fein Geift mußte ihm liefern, was er verlangte. Zum Warten hatte er feine 
Zeit. Wie im Nu mußte das Eifen glühend fein, mit Rieſenkraft fiel der Hammer 
Schlag auf Schlag auf den Amboß, und während die Worte tvie feurige Funken 
ftoben, jchmiedete ex fich feine Keule zum Kampf gegen den Feind, den er be= 
fämpfen wollte. Ob das Eiſen ohne Bruch, fein und fpiegelglatt war, da3 
fümmerte ihn wenig. Wirken wollte er durch jeine Werke, und da hat er 
gethan, bis zum letzten Augenblick feines Lebens. — Aber auch der Ruhm, den 
er nicht geſucht, ift ihm geworden. Dafjelbe Zeitalter, welches Tennyſon's ein- 
fache Klarheit des Gedankens und claſſiſche Ruhe der Sprache betvunderte, ent= 
deckte auch in der fieberhaften Gluth der Kingsley’ichen Phantafie, in der Pracht 
jeiner Bilder und der Wucht feiner Worte eine unbewußte Kunft, der in der 
engliichen Literatur ihre Ehrenftelle nicht verjagt wird. Kingsley's Büſte ift in 
der Weſtminſter-Abtey aufgeftellt worden, in der Gapelle von Johannes dem 
Täufer, an der Seite jeines Lehrer? und Freundes, Frederid Maurice; und in 
dem Ruhmestempel, welchen die Zukunft den größten Geiftern unter der Re— 
gterung don Victoria und Albert errichten wird, wird es jtet3 eine Niſche geben 
für Charles Kingsley, den Dichter von „Alton Lore” und „Hypatia”. 

Ghäteau Mollens, Morges. 





Scheidung. 


Aus dem Ftalienifchen de8 Salvatore Farina 
bon 


Ernfi Dohm. 


— — 


I. 


Mein Zimmer in der *** Straße lag wirklich etwas höher, als nöthig 
gewejen wäre. Ich jagte mir das täglich einmal — jo oft mußte ich die 
hundertundzwölf Stufen erflimmen, welche mich von der Welt dort unten 
trennten; allein jobald ic) oben war und meinen Blick durch's Fenſter über das 
prächtige Panorama von Dächern und Schornfteinen ſchweifen ließ, fühlte ic) 
mich jo behaglih, daß ich wohnen blieb. Vier Monate ſpäter hatte ich die 
Belanntichaft meiner ſämmtlichen Nachbarn gemacht; und unter den Nachbarn 
eines Junggeſellen ift immer Einer oder der Andere, von dem man fich einiger- 
maßen fern halten jollte. 

So lernte ih hier das wunderlichfte Ehepaar kennen, das man ſich denken 
fan. Wollte man Herrn Sulpicio und rau Goncetta, jeden als die wirf- 
liche Hälfte des Andern bezeichnen, jo wäre das kaum bildlich zu verjtehen; 
denn in der That beſaßen beide zujammen nur jo viel Fleiſch und Muskeln, 
al3 jonft zur Bildung eines einzigen leidlih gebauten menjchlichen Körpers ge- 
hören. Zählte man ihre Jahre zufammen, jo überfchritt die Summe derjelben 
die von anderthalb Jahrhunderten um ein Beträchtliches. Und wenn id mir — 
es iſt ein drolliger, aber nicht eben unjchielicher Einfall — Frau Goncetta 
gerade auf dem Haupt ihres Gatten ftehend dachte, jo ſchien es mir, ala ob die 
ehriwürdige Dame etiwa die Dede des Zimmers berühren oder vielleicht ein wenig 
darüber hinausragen dürfte, mein Zimmer aber war genau drei und einen 
halben Meter hoc). 

Nach Feitftellung diefer mathematiſchen Verhältniffe wird es dem Leſer Teicht 
werden, ſich ein Bild der beiden Gatten zu entwerfen, umd fie werden ihm, tie 
mir in der Erinnerung, ala ein Paar ſchmächtige, hagere, dünne Geftalten er- 
ſcheinen, mit grauem Haupte, von Runzeln durchfurchtem Antlitz und tiefliegenden, 
aber leuchtenden Augen. 


496 Deutſche Rundihau. 


Fünfundfünfzig Jahre hindurch hatten fie Tiſch und Bett und alle Wedhiel- 
fälle des Lebens mit einander getheilt; fie waren jo mit einander verwachſen 
und hatten jich jo Eines in das Andere hinein gelebt, jelbjt ihre Gefichter waren, 
abgejehen von den Najen, einander jo ähnlich geworden, daß man fie jehr wohl 
für Bruder und Schwefter halten konnte. Aber die Nafen, die Nafen! Dieje 
hatten eigenfinnig ihre urfprüngliche Geftalt bewahrt; und ich muß jagen, daß 
mir niemal3 im Leben zwei verjchiedener geformte Najen vorgefommen find: 
die des Mannes, adlermäßig gefrümmt, als wollte fie neugierig Alles beobachten, 
wa3 in den Mund hineinſpazierte; die der Frau eingedrüdt und in fich zurid- 
gezogen, wie ein Weifer, der vorfichtig aus dem Wege geht, um dem guten 
Biſſen die Bahn zum Munde frei zu lafjen. 

Dierundfünfzig Jahre und elf Monate war e3 Her, daß diefe Beiden, troß 
der fat volllommenen Gleichheit ihres Weſens, in einem unglückſeligen Augen- 
blide in gegenjeitigem Zorn entbrannten, und zwar bei Tijche, wegen irgend 
einer Sauce, die etwas nad) Rauch Tchmedkte. 

63 war die erſte Wolfe, die ji an dem heiten Himmel ihres Eheglüdes 
zeigte; aber es war eine häßliche, trübe Wolfe, und fie ftieg von der Sauce in 
die Najen, von den Najen in die Köpfe, von den Köpfen in die Gemüther. Sie 
fanden jhließlih, daß nie von einem Ehepaar auf Erden die Laft des ehelichen 
Joches widertwilliger getragen tworden ſei als von ihnen. Goncetta ſprach da- 
von, zu ihren Verwandten zurüdzufehren, und Sulpicio wollte, daß fie augen- 
blidlih ginge; allein in Erwägung, daß fie fih auf der Hochzeitsreiſe be- 
fanden, und daß Goncetta’3 Verwandte zweihundert Meilen von dem Schau 
plaß dieſes erjten ehelichen Kampfes entfernt wohnten, wurde die Ausführung 
einftweilen vertagt. 

Aber „Scheidung“ war und blieb die ausgegebene Parole. Am nädjten 
Tage fiel es Sulpicio ein, daß ihm feine Lebensgefährtin als ein jungfräulicher 
Schatz anvertraut worden war; er erinnerte ſich eines rührenden Geſprächs, 
welches er mit feinem Schwiegervater gehabt; er gedachte jeines Eides, „ie 
glücklich zu machen“ ine Welt von guten Gedanken und weijen Entjchlüfjen 
tauchte in feiner Seele auf und brachte ihn am Ende zu der Erfenntniß, 
dat es an ihm ſei, Goncetta zu überreden, den häuslichen Herd nicht zu 
verlafjen. 

Auch Goncetta, eine im Ganzen verftändige Frau, dachte ihrerfeit3 an 
die Rathſchläge ihrer Mutter, an da3 von ihr vor dem Altar ausgejprochene 
„Ja“, an den Neid ihrer Freundinnen, der fiten gebliebenen Jungfrauen, an 
den Schmerz der Ihrigen, an die geheime Freude und an da3 erheuchelte Mit- 
leid ihrer Jugendgenoſſinnen; dann auch, daß Sulpicio im Grunde doch fein 
böjer Mann, und daß die Schuld an der ganzen Geſchichte doch eigentlich nur 
die unglückſelige Sauce trage, welche nach Rauch geſchmeckt habe. 

AB Sulpicio mit jeinem freundlichiten Lächeln ihr nahte, begegnete 
Concetta ihm ebenfalls mit ihrer freundlichften Miene; fie drüdten einander die 
Hände, füßten ſich Herzlid, und der Friede war geichloffen. 

In ihrem Innern aber blieb das Bewußtjein zurüd, daß fie ſich gegenjeitig 
auf die Probe geſtellt. Diejer Probe folgten andere, nicht minder ſtürmiſche, 


Scheidung. 497 


und das vierte Stockwerk in der *** Straße und die ganze Nachbarſchaft waren 
bisweilen Zeugen plößlich erſchallender Freifchender Laute. 

„Das ift Concetta!“ jagten die Leute. 

Es war Goncetta. Nachdem da3 unglüdliche Opfer ihrem Tyrannen alle 
in fünfundfünfzig Jahren aufgefammelten Schmeichelworte vergebens an ben 
‚Kopf geworfen, ohne jeinen VBorrath an ebenjolchen übertrumpfen zu können, 
ftieß ſie ſchließlich einen entjeglichen Schrei aus. Der alte Sulpicio pflegte ſich 
zum Schluß einer joldhen Scene die Treppe hinunter zu flüchten, jo daß 
Goncetta ihm das lebte ihrer Schimpftoorte noch von einem Treppenabjat aus 
nachſchleuderte. 

Dann kamen die guten Nachbarinnen ihr zu Hilfe. Sie ließen ſie reden, 
bis der Wuthanfall vorüber war; dann ſtimmten ſie in ihren Weheruf ein, 
beflagten fie, daß ihr Loos ein unverdientes und ihr Gatte ein Scheuſal ſei. 
Plöglich ſchien fie beruhigt, und dann widerſprach fie Jedem mit der heftigjten 
Leidenichaft und vertheidigte mit unglaublichen Teuer ihren Sulpicio, den fie 
allein kenne, in deffen Herzen fie allein zu lefen verftände, und der im Grunde 
befjer jei al3 alle die Anderen. 

War der Anfall vorüber und der Hausflur wieder Teer, dann jchlich die 
Alte fill und heimlich wieder in ihre Wohnung und barg ihr zitterndes Haupt - 
in eine weite Kappe von ſchwarzer Seide; darauf ftieg fie zwei Treppen hinab 
und klopfte an die Thür der Frau Nina, einer jungen Wittwe, welche mit 
einem Schwachkopf von Oheim, dem Freunde Sulpiciv’3, zufammen wohnte. 
Goncetta wußte, daß ihr Mann fehr viel von der jungen rau hielt; den- 
noch war fie jo wenig eiferfüchtig auf diefelbe, daß fietfogar ihre# Hilfe zur 
Wiederherftellung des Friedens in Anſpruch nahın. - 

Faſt gleichzeitig Tehrte der flüchtige Gatte heimlich in's Haus zurüd, feuchte 
die Treppen hinauf und fürmte zu mir in’® Zimmer. Da er mußte, dat 
Concetta mir mit fat mütterlihen Empfindungen zugetfan war und daß ein 
Wort von mir viel über fie vermochte, jo eriwies er mir die läftige Ehre, mid) 
mit der Wiederherftellung ferner häuslichen Ruhe zu betrauen. 


II. 

Für mich war dieſes mein Friedensſtifteramt nicht eben ein großes Opfer 
und für Nina, glaube ich, ebenſo wenig. 

Sobald Concetta mich ſah, kam fie mir freundlich entgegen, drückte meine 
Rechte mit ihren beiden Händen und bezeugte mir durch ein ftummes Kopfniden und 
durch Aufichlagen der Augen ihren ganzen Schmerz über das Borgefallene, ihre 
Abſicht dev Rückkehr zu ihren ehelichen Pflichten und ihren Dank für meine 
erfolgreihen Bemühungen. 

63 war offenbar, daß jweder Concetta ohne ihren Sulpicio, noch diejer 
ohne feine Concetta leben konnte. Sie liebten fich, wie fie ſich immer geliebt 
hatten, und troß ihrer teten Kampfbereitihaft Tiebten fie ſich, wie ſich zwei 
Menſchen nur lieben können. 

Sobald Sulpicio, wie ich e3 erwartete, nad) feiner Belehrung an der 
Thür erichien, feine Bewegung vor mir durch eine affectirte —— 


Deutſche Rundſchau. III, 9. 


498 Deutiche Rundſchau. 


verbergend, hätte Concetta ihm gern jede mögliche Genugthuung gegeben, und 
in ihrer Verlegenheit durchſuchte fie dann alle ihre Taſchen nad) ihrem Finger: 
hut oder der Nadelbüchje. 

Inzwiſchen beichäftigte id mid am Thürſchloß, oder jchante aus dem 
Fenster, oder bejah irgend ein Buch oder ein Bild. Dann näherten die Beiden 
fi) ein wenig; darauf ftreifte mein rückwärts jpähender Blid zwei zitternde 
Hände, die einander drüdten, zwei in freudigem Lächeln ftrahlende Gefichter und 
zwei durch die Furchen dev Runzeln herabrollende Thränen. Endlich Lagen ſich 
Beide in den Armen. Ich bewahrte dann entweder meine vorige Stellung, oder 
ich twandte mic) ganz zufällig um und jagte, e8 wäre ein prachtvolles Wetter, 
wenn e3 nicht gerade furchtbar regnete; bei mir aber dachte ich, dak in jenen 
Thränen die Jugend wieder lebendig und daß diejes Lächeln wol eines Lenzes 
rofiger Wangen und Stirnen würdig wäre. 

Eine Tages aber tobte der Sturm jo heftig, daß es mehrerer Stunden 
und jehr geichicdter diplomatiicher Verhandlungen bedurfte, ehe die beiden Schiffe 
zum Ginlaufen in den ruhigen Hafen der Ehe gebradht werden konnten. Die 
Parole „Scheidung“ wurde mit der größten Entichiedenheit von beiden 
Seiten aufrecht erhalten, und Keiner wollte nachgeben. 

Um diplomatijden Verhandlungen auszuweichen, Hatten beide Theile das 
Haus verlaffen und zwar nach entgegengefegten Seiten. Die Magd, ein halb 
blödjinniges junges Ding, welches die beiden Alten irgendwo aufgegriffen und 
bei fi) aufgenommen hatten, wußte nichts weiter, als daß ihre Herrichaft, 
Einer nad dem Andern, ausgegangen. Ich jehte mi an den Kamin, jchürte 
das Feuer und wartete der Dinge, die da kommen follten. Es war ein 
prächtiger Wintertag; die Sonne ſchien hell und luſtig Xnifterte das Teuer 
im Kamin. 

Auch meine Gedanken twaren heiter. Ich ſuchte zu errathen, wer von 
Beiden zuerſt an den ehehäuslichen Herd zurückehren würde. Wer? Ohne 
Zweifel Concetta. Plötzlich hörte ich leider rauſchen; ich erhob mich, wandte 
mid um und erblickte mir gegenüber — Frau Nina, die junge Wittwe aus 
dem dritten Stod. 

Die Dame jhien erftaunt, mich zu finden. Sie war um jo verlegener, 
al3 fie mit der gewohnten vertraulichen Unbefangenheit eingetreten war, und um 
den Schein einer von ihr begangenen Unſchicklichkeit zu vermeiden, that fie, al3 
hätte fie meine Anweſenheit nicht bemerkt, und gab mir dadurch zu verftehen, 
daß fie bei ihrem Eintritt nur von einem alten Rechte Gebrauch machte. Um 
jo mehr fühlte ich mich veranlaßt, fie zu begrüßen und anzureden; allein fie 
fam mir zuvor. 

„Iſt Frau Concetta nicht zu Haufe?” fragte fie mid). 

„Weder jie noch Herr Sulpiciv. Ich erwarte Beide.” 

„Und id wollte gern Einen von Beiden ſprechen. Sch werde wieder— 
fommen.“ 

Die Mittheilung, daß beide Gatten das Haus verlafjen hatten, jchien fie 
zu beunruhigen; indeſſen blieb fie. 

„sh wollte eigentlich) warten, aber ich werde wiederkommen.“ 


Scheidung. 499 


„Bitte! auch ih bin aus demfelben Grunde hier, und“ — — 

Bei diejen Worten trat ic) etwas auf die Seite, wie um fie zum Da— 
bleiben aufzufordern. Eine Minute jpäter ſaß fie auf meinem Pla vor dem 
Kamin, und ih — ging nicht. 

Frau Nina kannte mich nicht; defto beffer kannte ich fie Oft Hatte ich 
aus meinem enfter, welches über dem ihrigen Tag, die Farbe ihres Haars 
betrachtet und vergebens gehofft, auch die ihrer Augen gelegentlih einmal zu 
eripähen. Einmal Hatte ich fie durch mein Huften vertrieben; jeitdem Hatte ich 
nie wieder am enfter gehuftet. Jetzt Iehnten diefe weißen Händchen, die ich 
einmal hatte die Tonleiter fpielen jehen, an dem Rande de3 Kamins, und ich 
durfte offen in das Antlitz ſchauen, welches mir bisher ein verjchleiertes Bild 
gewejen war. 

Ya, Nina war jhön; wenigftens erſchien fie mir jo. 

Da ich noch immer vor ihr ftand, forderte fie mich durch eine verbindliche 
Handbewegung auf, mich zu jehen. Ach that es. Es folgte ein Augenblid 
ftummen Abwartene. Niemand kam. 

Das Schweigen begann peinlich zu werden; fie brach es, indem fie von 
Sulpicio ſprach, ic) dagegen redete von Goncetta. 

Als ich des Amts erwähnte, deſſen Pflichten ich treulich erfüllte, ſeitdem 
ich das Glück Hatte, der Nachbar der beiden Gatten zu fein, lächelte fie. Welch’ 
ein ſchönes Lächeln! Welch’ prächtige Zähne! 

„Welch’ ein Unglück!“ ſagte fie nad) einer kurzen Pauſe. „Fünfundfünfzig 
Jahre mit einander zu leben, ohne fich gegenfeitig zu verftehen!“ 

„Ein ewiger Kampf und Krampf! ch hab's mit angefehen. Aber im 
Grunde mögen fie einander doch gern.“ 

Die Wittwe verzog ihr Geficht zu einem jonderbaren Lächeln, antwortete 
aber nicht. 

„Solche Gegenfäße,” fuhr ich fort, „gleichen conträren Winden, die Welle 
auf Welle aufjagen und himmelan fchleudern; ift der Sturm dann vorüber, Jo 
beruhigt fich das Meer und zeigt wieder die glatte Fläche feines Haren Spiegels. 
Ich glaube kaum, daß zwei Menjchen längere Zeit mit einander leben können, 
ohne fich einmal zu erzürnen.‘ 

Noch immer blieb die Wittwe mir die Antwort Tchuldig Sie fchüttelte 
den Kopf und ftörte ungeduldig in der Aſche bes Kamin umher. 

Ich ſchwieg. 

„Wie ſpät iſt es?“ fragte fie, da ſie zu bemerken glaubte, daß ihr Schweigen 
mich verlehte. 

„Bier Uhr.“ 

„Es ift ſpät; ich muß gehen — ich komme wieder.“ 

E3 fehlten in der That dreizehn Minuten an Bier, Nina lächelte und 
ging — nicht. 

Ich begriff nicht, weshalb; allein in meinem Herzen erklang es wie Tyeft- 
gloden. 

Auf einmal jahen wir Sulpicio und Concetta, Hand in Hand, an— 
fommen. 

33* 





500 Deutſche Rundichau. 


„Der Friede ift hergeſtellt?“ fragten wir Beide, Nina und ich, mit ben 
Augen. 

„Ja, meine Herrſchaften,“ anttworteten die beiden Gatten in derjelben Sprache. 

„IH war zur Triedensgratulation gekommen,” jagte die Wittwe. „Jetzt 
ift es jpät getworden, und ich gehe nicht.” 

Goncetta war guter Yaune; ihre Runzeln zeigten ein freudiges Lächeln, 
und ihre Auge ftrahlte „Es ift do nicht übel, daß Signor Carlo Yhnen 
Geſellſchaft geleitet hat,” jagte fie zu der jungen Wittwe. Dieje erröthete, und 
ic fühlte mein Herz ftärker ſchlagen. 

Sie ging, und auch ich entfernte mich bald nad) ihr. 

Sch dachte den ganzen Tag nur an Frau Nina und träumte von ihr die 
ganze Nacht. Den ganzen nächſten Morgen ftand ich am Fyenfter, um fie zu 
ſehen; ich) war jo glüdlich, von ihr bemerkt zu werden und fie grüßen zu dürfen. 
Einen ganzen Monat hindurch ftand ich regelmäßig um diejelbe Stunde am 
Tenfter und erfreute mich immer defjelben Glückes; bald lächelte ich fie an, bald 
fie mid. Fünf Monate und acht Tage jpäter durfte ih Frau Nina an’s Herz 
drüden. Sie war nicht mehr Wittwe. 


II. 


Mir waren glücklich. Wir bewohnten ein Häuschen, weit entfernt von 
dem lärmenden Geräujch der Stadt. Unſere Fenfter gingen nicht auf die Woh- 
nungen unbequemer Nachbarn. Wir hatten die Sonne täglid) vom Morgen bis 
zum Mittag, und unjere neuen Möbel glänzten in feſtlichem Lichte, 

Ihr alter Onkel wollte, wie fie jagte, um feinen Preis mit feinen Schwach— 
heiten allein bleiben und war zu einer Schwefter gezogen, die in der Stadt 
wohnte. 

Wir waren allein mit umjeren Träumen, unjeren Plänen und Gedanken; 
und das genügte uns volllommen, jede andere Gejellihaft wäre uns nur läftig 
geweſen. Unjer Zimmer war rojenfarben, wie die glüclichen Geifter, welche 
darin walteten. Die Zukunft erſchien und als ein veizender Traum. Nina 
hatte ein ebenſo anmuthiges, als vornehmes Weſen. Sie wußte jo jüß zu 
lächeln; ihr Blid war heiter und klar wie des Mondes Strahl, ihre Stimme 
von milden Wohlklang, und dabei hatte fie eine jo bezaubernde Art, fi mir 
zu nähern, ihre Hände auf meine Schultern zu legen und ohne ein lautes Wort 
mir zu jagen: „ch Liebe Did!” — daß ich fie ftundenlang hätte anjchauen 
und mit meinen Augen verjchlingen mögen. 

Sie hatte nur einen einzigen Fehler: fie konnte nicht aus einem Zimmer 
in das andere gehen, ohne die Thür heftig Hinter ſich zuzufchlagen. Oft, wenn 
ih in meinen Gedanken und Träumereien duch das Klappen einer Thür auf- 
geſchreckt wurde, war ich nahe daran, meiner unangenehmen Empfindung Worte 
zu leihen; allein dann jah ich ihr vofiges Antlitz, und es unterblieb. Nichts— 
deftoweniger regte es mich fortwährend auf, und ich bemühte mich vergebens, 
es ruhiger zu ertragen. 

Ich muß mir das Zeugniß geben, daß ich Nina gegenüber ein beinahe 
vollfommener Ehemann war. Ich ließ fie möglichit felten und dann nur mög» 


Scheidung. 01 


lichſt kurze Zeit allein; ich widerjprad ihr nie, Tuchte allen ihren Wünſchen 
zuvorzukommen, redete nur freundlich mit ihr und beging taufend Thorheiten, 
um fie bei guter Laune zu erhalten. Dennoch hatte auch ich einen Kleinen Fehler: 
ih war ſchrecklich zerftreut. Bisweilen, wenn ich irgend einem dummen Ge- 
danken nachhing, bemerkte ich nicht, daß fie, jelbft lächelnd, von mir ein Lächeln 
verlangte, und auf irgend einen jcherzhaften Einfall antwortete ich dann mit 
einem ernften Kopfichütteln, 

Sicherlich Hat das Schickſal, wenn es zwei jo ſchwarze Verbrechen mit 
einander paart, nicht die Abſicht, ein Bild ehelichen Friedens zu ſchaffen. 

Eines Tages war ich noch zerſtreuter, und fie ſchlug die Thüren noch 
heftiger zu als ſonſt. Ein lautes „O!“ entfuhr mir. Sie hatte es gehört, und 
ich bereute es. Vergebens! Das nächſte Mal ſtörte Nina mich nicht mehr 
in meinem Nachdenken; fie ging leiſe auf den Fußſpitzen, und als fie die Thür 
zumachte, that ſie es mit der größten Vorſicht, um jedes Geräuſch zu vermeiden. 
Das Getöſe der Schmiede Vulcans hätte nicht vermocht, mich ſchneller von 
meinem Stuhl aufſpringen zu machen; ich ſtürzte auf ſie zu, umarmte und 
küßte ſie, und wir lachten zuſammen aus vollem Herzen. 

Aber das Eis war geborſten; es war ein Gedanke zwiſchen uns zur offenen 
Ausſprache gelangt: wir waren nicht vollkommen! 

Trotz aller Anſtrengungen gelang es Nina nicht, ihren Fehler abzulegen; 
mm nahm fie, ſobald fie ihn begangen, eine halb bedauernde, Halb neckiſche 
Miene an, durch welche fie noch viel ſchöner wurde. 

Was mich betrifft, ich fuhr fort, jo oft meine Gedanken mit mir Tpazieren 
gingen, den Kopf zu ſchütteln und die Augen aufzureißen; und jo blieb, nad) 
wie vor, Alles beim Alter, 

Unjere Flitterwochen währten viele Monate, ohne daß der leiſeſte Schatten 
eine Wölkchens ſich auf die Stirnen der Liebenden gelagert Hätte. 

Eines Tages — es war einer jener ſchwülen Yulitage, an denen eine grau— 
fam heiße Sonne unfer ſpottet — fie ſchwört heut’ noch, fie habe zuerft zu mir 
gefagt: „Ich möchte tool einmal wiſſen, woran Du immer jo ſchwärmeriſch 
denkſt! Ich möchte e8 in der That wiſſen!“ — Und wirft Du e8 glauben, 
verehrter Lejen? Ich Toll fie zuerft beleidigt haben durch einen Kleinen Fluch, 
den ich jelbit erft gewahrte, ala er ſchon mehr als zur Hälfte meinen Lippen 
entflohen war. Doc wie dem auch jei, Eines von uns Beiden erwiderte mit 
einer Kleinen Grobheit, das Andere mit einer ſchon etwas größeren; dann kam 
hin und wider ein Zuſatz von Spott und Bitterfeit, und ſchließlich waren 
Nina’3 Augen ebenjo von Thränen erfüllt, twie mein Herz von gekränktem Stolz. 

Ein ander Mal derjelbe Anfang, derjelbe Schluß; und das wiederholte ſich 
mehr und mehr. 

„Diefes Leben ift nicht mehr zu ertragen!” — fagte fie. 

„Das finde id auch!’ — erividerte ich. 

„So? Findeft Du das auch? Ich aber hab’ es nachgerade ſatt! Und 
dieſe Trefjel trägt man nun ſchon faft ein Jahr!“ 

„Zehn Monate” — ermwiderte id). 

„Di mögen e3 zehn Fahre dünken; mir fommt e3 noch nicht ganz foviel 


502 Deutſche Rundſchau. 


vor. Aber unſer Glück hat wol ſchon zu lange gedauert? Ach, was bin ich 
unglücklich! Ich ſehe ſchon, Du wirſt mich noch haſſen, wenn Du es nicht 
ſchon thuſt! Aber auch ich werde Dich zuletzt noch haſſen!“ 

Ich brannte vor Luſt, ſie auf den Arm zu nehmen und ſie ſammt ihrem 
Zorn durch alle unſere Zimmer zu tragen, bis ſie endlich lachend riefe: „Nun 
ift es genug!“ Am liebſten wäre ich vor ihr niedergekniet, hätte ihr meine ehe— 
männliche Beichte abgelegt und fie um Abfolution gebeten, oder ich wäre ihr 
um den Hals gefallen und hätte ihn ihr jo roth gefüßt, bis fie vor Angft wieder 
vernünftig geworden wäre — furz alle guten Gedanken, wie fie nur einem Ehe— 
mann von der beiten Sorte zu Sinn fommen können, fliegen im mir auf. Ich 
blickte fie von der Seite an; fie jieht meinen Blick und zuckt die Achſeln. Ich trete 
ihr einen Schritt entgegen, fie verläßt da3 Zimmer, und ich — thue daſſelbe, 
aber nad) der entgegengejekten Seite, und die Treppe hinunter, tief gekränkt, 
aber voll von Gewiſſensbiſſen, noch bevor ich begonnen, meinen jchredlichen 
Rachepları auszuführen. 

Eine ganze Weile ging ich immer im Kreife umber; ich konnte nicht von 
der Stelle, und unwillkürlich richteten ſich meine Blicke ftet3 auf das Häuschen, 
in welchem mein Glüc wohnte. 

Da auf einmal fielen mir Goncetta und Sulpicio, unjere guten Freunde 
von ehemal3, ein, und ich dachte daran, daß ich Niemanden hätte, der da3 
Friedenzftifteramt bei meiner Nina verjehen könnte, daß ich übrigens eine ſolche 
Vermittelung auch Niemandem anvertrauen und niemals zulaffen würde. 

Ich ſagte mir: „Es ift das erſte Mal; aber wer weiß, ob e3 das letzte 
“ Mal fein wird? Du mußt zu ihr zurückkehren, ihre Strafe möglichſt abkürzen, 
ihr qut zureden und ihr jagen, daß wir uns nicht mehr zanken wollen. — Aber 
wie, wenn fie, anftatt mich freundlich) anzuhören, die Widerfpenftige ſpielt? — 
Ah was! Auf das erfte gute Wort von mir antwortet ſie ſicherlich mit einem 
herzlichen Kuß. Dann redet man nicht mehr und beklagt ſich nicht mehr, 
fondern lacht zufammen!” Dieſe Erwägungen hatten mich zwei bis drei Mal 
bi3 an die Schtwelle meines Haufes geleitet, und ebenfo oft war ich wieder 
zurüdgegangen. Endlich twagte ich, den Rubicon zu überjchreiten, trat jchnell in 
den Thorweg, ſprang, immer vier und vier Stufen nehmend, die Treppe hinauf, 
und einen Augenblid jpäter ftand ich vor ihr, die mir ſchon unter Thränen bis 
auf ben Hausflur entgegen gekommen tvar. 

Sie bedeckte ihr Gefiht mit den Händen und ſprach fein Wort. ch um— 
faßte fie mit einem Arm und zog fie in das Zimmer; dort nahm ich fie auf 
meine Knie, entfernte mit fanfter Gewalt die Hände von ihren Augen, legte 
mein Geſicht an das ihre und bat fie um Verzeihung. Aber ftatt mir zu ver- 
geben, brach fie von Neuem in Schluchzen aus, jchlang! ihren Arm um meinen 
Hals und lehnte ihr Köpfchen an meine Schulter. 

Mein Herz ſchlug heftig. Nina’3 Benehmen ſchien mir ein Unglüd zu 
verrathen. Was konnte nur während meiner Abtwejenheit vorgefallen jein? 
Neue Liebkofungen in Kuß und Wort. Als ich endlich eine Frage der Bejorg- 
niß an fie zu richten wagte, brach fie von Neuem in noch heftigeres Schlud)- 
zen auß: 





Scheidung. 503 


„Sie ift todt!“ 

„Wer?“ 

„Goncetta, die arme Concetta!“ 

Ich verftummte. Ehrlich gejagt, ging die Sache mir nicht übermäßig nahe; 
die gute Dame hatte die Siebzig um ein qut Theil überjchritten, und ihr Quar— 
tier im Himmel war jehon Längft beftellt. Allein ich fühlte mich verpflichtet, 
Nina's aufrihtiger Betrübniß Rechnung zu tragen. Nachdem fie ſich aus— 
geweint, jagte fie mit einem unendlid rührenden Ton: „Nun jind fie ge= 
ſchieden!“ 

„Und wer hat Dir die Nachricht gebracht?“ 

„Eine Freundin, die mich beſuchte. Die arme Concetta iſt vorgeſtern ganz 
plötzlich geſtorben.“ 

„Und Sulpicio?“ 

„Iſt in Verzweiflung. Er ſpricht kein Wort und ſcheint ganz betäubt.“ 

„Ich muß ihn aufſuchen.“ 

„Thue das, mein Freund. Geh' ſogleich!“ 

Ich ging. 

Als ih hinkam — — ad! Das arme alte Herz vermochte das Leid der 
Bereinfamung nicht zu ertragen. Noch in derjelben Nacht, wenige Stunden 
nahdem fie die Gefährtin jeines Lebens hinausgetragen, legte er fih in das 
verwaiſte Bett in dem jichern Gefühl, daß er den nächſten Morgen nicht mehr 
fehen werde. 

Das lächelnde Antlitz des Todten jchien mir jagen zu wollen: „Selbft der 
Tod hat nicht vermocht uns zu ſcheiden!“ 

Das Herz von Wehmuth erfüllt, aber einer milden, wohlthuenden Weh- 
muth, Tehrte ich nach Haufe zurück. Wir waren allein. Ich ſagte Nina fein 
Wort. Traurig fiel fie mir um den Hals und drückte mich an ihre Bruft. 

„Sarlo!“ 

„Nina!“ 

Sie ſchlug ihre Augen auf, als wollte ſie in den meinigen meine Gedanken 
leſen; dann ſagte ſie flüſternd: 

„Wir auch! Nicht wahr?“ 


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Literarifhe Rundſchau. 





Iwan Turgenjew's neuer Roman. 





Neuland. Gin Roman von Jwan Turgenjew. (Autorifirte Ausgabe) Mitau, 
E. Behre's Verlag. 1877. 


Unter den nicht eben zahlreichen zeitgenöffiichen Dichtern, die es zu internatio« 
naler Geltung gebracht haben, nimmt ZTurgenjew, der Repräjentant der mindeſt 
befannten unter den großen europäifchen Nationen, einen der oberjten Plätze ein. 
Während es fonft hieß, man müſſe erſt in des Dichters Lande gehen, um den Dichter zu 
veritehen, Hat fich bei ihm die Sache umgekehrt. Deutiche und Franzoſen, die faum 
über die elementarften Borausjegungen ruffiichen Lebens Beſcheid wiffen, nehmen an 
den, auf diefes Volksthum bezüglichen Schöpfungen der Zurgenjew’schen Muſe 
Leidenfchaftlihen Antheil; gewiſſe Ericheinungen der neuruſſiſchen Entwidelung find 
dem wejtlichen Europa überhaupt erjt durch ihn vermittelt worden, und manchem der 
wärmften und fundigjten Verehrer des gefeierten Poeten bedeutet Rußland eigentlich 
nur das Land, über welches Iwan Turgenjew gejchrieben hat. Man vertieft fich in den 
Dichter, um duch ihn fein Band verftehen zu lernen; man behandelt den feinfinnigen 
Künjtler zugleich als ethnographiichen und zeitgejchichtlichen Gommentator. Und das 
mit augenjcheinlihem Erfolg: daß gerade diejenigen Schöpfungen des Meifterß, deren 
volles Verſtändniß nur an der Hand eingehender Kenntniß complicixter ruſſiſcher 
Entwidelungen möglich ift, den größten und allgemeinften Eindrud machen, legt für 
die Fruchtbarkeit dieſer Studien unferer Leſerwelt das beredtfte, jchlagendfte Zeugniß 
ab. Als ob die Schranken, welche uns durch Unbelanntfchaft mit der Sprache und 
dem Volksthum Rußlands gezogen find, gar nicht vorhanden wären, hat fich zwilchen 
dem Dichter und feinen abendländijchen Freunden und Beurtheilern ein feſtes Ver— 
hältniß gebildet. Von jo bewältigender Wahrheit find die Bilder, welche Turgenjew 
von dem Leben feines Volkes entworfen, daß fie dem Kritiker zum Mittel werden, 
den Dichter ſelbſt zu controliven und über die Richtigkeit feiner Betrachtungsweiſe 
und feines Verhältniſſes zu dem gefchilderten Volksthum ein Urtheil zu gewinnen, 
Die Rußland erjt durch Turgenjew Eennen gelernt haben, dürfen mit ihm über ruj» 
fiiche Materien ſtreiten, und er felbjt gejteht ein, daß ihm die neuen Freunde in 
mancher Rüdficht vollftändiger gerecht geworden, ala die Genofjen, die feine erjten 
Schritte begleiteten und deren Urtheil während der längjten Beit feines Lebens für 
ihn maßgebend gewejen. 

Das enge Verhältniß, in welches der ruſſiſche Novelliſt abendländijche und inäbe- 
fondere deutjche Leſer zu feinem Volke zu ſetzen gewußt hat, erjcheint um jo merk— 
würdiger, ala es keineswegs auf Sympathie oder innerer Verwandtſchaft beruht. 
Troß der zwilchen uns und unſeren öftlichen Nachbarn bejtehenden politiichen Ueber- 
einftimmung find diejenigen rufjiichen Menjchen und Verhältniffe, welche Turgenjew 
nah Deutjchland gebracht Hat, dem deutichen Volke jo fremd geblieben, wie am 
eriten Tage. Die Gebildeten unter ihnen machen uns den Eindrudf innerlih un— 
wahrer, carrifirter, im günftigjten Falle problematifcher Eriftenzen, — die urjprüng- 
lich gebliebenen Claſſen des ruſſiſchen Volta gehen des Antheild, den der Anblid 
ihrer Leiden uns einflößt, wieder verluftig, weil fie fich zur Selbſthilfe unfähig erweilen. 
Die Klage über die Umerquidlichkeit der von Turgenjew gejchilderten Zujtände und die 
Düfterheit der von ihm hinterlaſſenen Eindrüde, iſt ebenfo alt, wie die Anerkennung 
für fein Talent. Nöthigt diefes überlegene, magiſch jeffelnde Talent den Deutichen 
auch immer wieder, zu den ruſſiſchen Menfchen, mit denen er fertig zu fein glaubte, 
zurüdzufehren und denjelben aufzulauern, jobald nur ein zu ihnen jührendes neues 


Literariſche Rundſchau. 505 


Fenſter von der Hand des Dichters geöffnet wird, ſo behält ſchließlich doch die Em— 
pfindung die Oberhand, daß mit ihnen eigentlich nichts Rechtes anzufangen ſei. Nicht 
felten geſchieht es auch, daß man den Dichter für die Troſtloſigkeit der von ihm eröffneten 
Ausblide verantwortlich macht und die Realität des melandholifchen Schleier , ber 
über feinen Landſchaften hängt, leugnet. Daß heitere Ruhe und fiegesgewifje Freude 
an dem MWirklichen unentbehrliche Eigenfchaiten jedes echten Künſtlers feien, gilt 
Vielen von ung für jo unmwiderleglich ausgemacht, daß man wol behaupten hört, des 
Dichters Schönes und reiches Talent ſei wegen feiner peffimiftifchen Neigungen nicht 
zur rechten Entwidelung gefommen und habe demgemäß die richtigen Gefihtspunfte 
für eine anerfennende Beurtheilung Rußlands und des ruffifchen Lebens verjchoben. 

Auf Unterfuhungen darüber, ob Rußland ſelbſt oder ob Turgenjew's Eigen- 
thümlichteit für den melancholifchen Grundzug der von ihm gebotenen Spiegelbilder 
ruſſiſchen Lebens verantwortlich zu machen ijt, Haben wir uns hier ebenjo wenig ein= 
zulafien, wie auf bie Thatfache, daß der Peſſimismus das gemeinfame Merkmal 
aller irgend hervorragenden rufjischen Dichter ift. Wir befchränfen ung auf die Tyeit- 
ſtellung, daß die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts im Befit eines Talentes ift, 
das jtarf genug war, eine dem weſteuropäiſchen Wejen heterogene, jo gut wie un— 
befannte und dazu unſympathiſche Welt bis zu einem gewiffen Grade verjtändlich, 
Schöpiungen von audgefprochen nationaler Eigenartigleit zum Eigenthum der ge 
fammten gebildeten Welt zu machen. 

Eine neue Probe auf das anjcheinend unlösbare Erempel, Anfprüchen jo ganz 
entgegengejeßter Art gerecht zu werden, hat Iwan Turgenjew mit der diefer Tage 
ausgegebenen Erzählung „Neu-Land“ gemacht.*) Diefes Buch handelt (wie bie 
Mehrzahl von des Dichters größeren Arbeiten fpäterer Jahre) von der „jungen Gene- 
ration“, von dem Geſchlecht der aus den Kriſen der Jahre 1859 biß 1865 herbor« 
gegangenen Nuffen und Ruſſinnen. Nach jeinem Titel wie nach feinem Inhalt 
geht es demjelben Ziel nach, welches „Väter und Söhne“, „Rauch“ und in gewiſſem 
Sinne die Erzählung „Am Vorabend“ verfolgt hatten. Was ber Verfaſſer über fein 
letztes Buch ald Motto gejchrieben, Hätte eben jo gut über jede der genannten drei 
früheren Erzählungen gejchrieben werden können: 

„Es Toll das Neu-Land nicht mit leicht die Oberfläche ftreifender Hade, fon- 
dern mit tief einfchneidendem Pfluge geadert werden.“ 
(Aus den Aufzeichnungen eines Landwirlhs.) 

Die Tendenzen der ruſſiſchen „Allerneuften“ find weltbefannt. Auch wo man fich 
ſonſt um Rukland nicht zu kümmern gewohnt ift, hat man von der angeblichen „Sekte“ 
der Nihiliften, der radicalen Burfche und Mädchen gehört, welche die gefammte ge= 
gebene ftaatliche, geiellichaftliche und Kirchliche Ordnung der Dinge über den Haufen 
werfen und erft nach Vollführung diefes Löblichen Werkes den Verfuch machen tvollen, 
den Plan für einen Neubau Rußlands „und der umliegenden Welttheile” auszu— 
arbeiten. Es find das diefelben Leute, denen Schuld gegeben wird, im Mai 1862 
den fog. Tſchukin-Dwor (einen Theil des Peteröburger Kaufhofes) in Brand geftedkt, 
1863 mit den Polen confpirirt, im Frühjahr 1866 den Kaiſer Alerander ermor- 
den gewollt zu Haben. Aus nihiliftifchen Kreiſen ift jener Netſchajew hervor— 
gegangen, dem ala gemeinen Meuchelmörder der Proceß gemacht werden mußte; den— 
jelben Kreifen haben die Männer und Frauen angehört, die am 12. December v. J. 
zu St. Peteröburg auf dem Pla vor der Kafanifchen Kirche eine völlig finnloje 


*) Diefer, ruffiich unter dem Titel „Wnow“ im Januarheft ber Monatsfchrift „Rufiki 
Weſtnik“ publicirte Roman erſchien beinahe gleichzeitig deutjch in der „St. Peteräburger Zei: 
tung“, franzöfiſch im „Zemp8*. — Unter ben ſeitdem veröffentlichten vier beutjchen Ueberſetzungen 
ift bie bei E. Behre in Mitau erjchienene, vom Berf. allein autorifirte Ausgabe unzweifelhaft 
die befte und jorgfältigfte. Diefelbe bildet den zehnten Band der von berfelben Verlagsbuchhand: 
lung publicirten autorifirten (in Deutſchland übrigens nicht geichüßten) beutichen Ebition: 
„Swan Turgenjew's ausgewählte Werte”. 


506 Deutſche Rundſchau. 


Demonſtration in Scene ſetzten, — von ihnen und ihren ebenſo kindiſchen wie frevel— 
haften Erhebungsverſuchen haben wir hören und leſen müſſen, wo immer von dem 
neuen Rußland und den wunderlichen Blaſen, welche daſſelbe getrieben, die Rede 
war. Was hat Turgenjew, der feinſinnige, auf der Höhe moderner Bildung ſtehende 
Künftler mit dieſem Geſchlecht, dieſen vandaliſchen Feinden alles Idealismus, aller menjch- 
lichen Gefittung gemein ? was kann ihn veranlaflen, immer wieder zu diejem verwilderten 
Geſchlecht zurüdzufehren,, dad wir aus dem „Rauch“ genugjam fennen, das in den 
„Vätern und Söhnen” von ihm jelbjt fiir immer abgethan worden ift? Oder ſollte 
es wirklich jeine Richtigkeit damit haben, daß Turgenjew in dieſer zuchtlojen Rotte 
den Borläufer einer befjern Zukunft Rußlands fieht, daß er die „Sache“, die wir ihn 
jo häufig veripotten zu jehen glaubten, nicht unbedingt verwirst, und daß man ihn 
mißverftanden hat, ala man ihm Schuld gab, jeinen Baſarow (den Helden der 
„Väter und Söhne“), als abjchredendes Beifpiel an den Pranger geftellt zu haben? 

So werden manche der Lefer fragen, die „Neu-Land“ aufgeichlagen und jchon 
auf den eriten Seiten dieje® merkwürdigen Buches gefunden haben, daß Oſtrodumow 
und der Mafchurina (den beiden nihiliftiichen Typen, welche den Vorhang aufziehen) 
„eine gewiffe Ehrlichkeit, Feftigkeit und thätige Arbeitsluſt“ nachgerühmt, mit den 
Vertretern der berrichenden Claſſe und ihrer Ordnungen dagegen noch ftrenger in's 
Gericht gegangen wird, ala ehemals mit den Kirſanow und Ratmirow. Vollends 
räthjelhaft wird die Sache, wenn man jich daran erinnert, daß die erſte der von der 
jungen Generation handelnden Erzählungen („Am Borabend“) ziemlich unverhohlen 
für diefeß der weſteuropäiſchen Bildung feindliche Gejchlecht eintrat und daß der Dichter 
in feinen dor einigen Jahren publicirten „Literatur und Lebens-Erinnerungen“ aus— 
brüdlich befannt bat, „daß er dem in den „Vätern und Söhnen“ gejchilderten Typus 
(eben dem Bafarow) nicht nur vorurtheilälos, fondern mit voller Sympathie entgegen 
‚getreten jei.” Wird das nicht durch das ganze vorliegende Buch betätigt, — nicht 
durch die entjchiedene Parteinahme befcheinigt,, deren Marianne, Solomin, die Ma- 
ſchurina — die doch unzweifelhaft ala Vorkämpfer des Radicalismus anzufehen find —, 
fih von Seiten des Dichters zu erfreuen haben? Der „Romantiker des Realismus”, 
der den Helden der Geichichte abgibt, geht allerdings ebenjo zu Grunde wie der 
opfermuthige Fanatiker Markelow, — die „Sache“, für welche diefe Schwärnter in 
den Abgrund ſpringen, wird mit einer bitteren. Lauge unbarmberzigen, geradezu ber- 
nichtenden Spottes begoſſen umd ala bloße Ausgeburt fnabenhafter Phantafie nach— 
gewiejen, — der fchließliche Ausgang iſt aber doch fein anderer, ala daß der jpröden, 
harten Marianne Entjheidung für Solomin und für die „Rückkehr in's Volk” ver- 
herrlicht und dat Valentine Michailowna, die jchöne, Liebenswürdige Gattin des Trei- 
finnigen und eleganten Geheimrath Sipjägin, in da3 Verdammunggurtheil über die 
herrſchende Claſſe und ihren Hauptvertreter, den Kammerjunfer Kalomeyzow, mit in« 
begriffen wird! Haben die politifchen Weberzeugungen oder die natürlichen Sym— 
pathien Turgenjew's in dem Streit zwifchen dem alten und dem neuen Rußland den 
Ausſchlag gegeben, oder läßt fich überhaupt nicht feitftellen, was der Dichter mit 
diefer Erzählung gewollt Hat, deren ruhiger, weitaußgeholter Eingang zu dem brüsken, 
den Faden plößlich zerreißenden Ende ohnehin nicht recht in Einklang zu ſtehen 
ſcheint? „Namenlofes Rußland!” jo ruft Paklin, der Chorus und Epilogiit des 
Stüdes, zum Schluß aus, und um den rechten Namen für das Ding, das ihn und 
und beichäftigt hat, it am Ende auch der Dichter verlegen gewejen? 

Antwort auf diefe Fragen erhält nur, wer fich entjchließt, „in des Dichters 
Lande", in das Land zu gehen, in welchen Iwan Turgenjew vor dreißig Jahren 
bie bleibenden Eindrücde feines Lebens empfing. . Der öffentliche Zuftand Rußlands 
war zu diefer Zeit auf allen Lebensgebieten ein trübjeliger, um nicht zu jagen ver- 
zweijelter, Ein uniertiges, despotiſch gehandhabtes, von gewiſſenloſen Werkzeugen 
ſchlecht bedientes Regiment laftete auf allen Schichten des Volks mit bleierner Schwere 
und jeßte dem materiellen und politifchen Aufſchwung ebenſo unüberfteigliche Hinder- 
nifje in den Weg, wie dem literarifchen und fünftlerifchen. Die gefund und unab- 


Literarische Rundſchau. 507 


hängig ‘gebliebenen Elemente der ruffiichen Geſellſchaft fahen fich von jeder erſprieß— 
lichen Thätigkeit ausgeſchloſſen und in eine Oppofition gebrängt, bie jchlieklich Allem 
galt, was zu dem herrſchenden Syftem in irgend welcher Beziehung ſtand. Der humane 
Gutsbeſitzer, der gewiflenhafte Beamte, der unabhängig dentende Richter, der Gelehrte, 
der e8 mit der wiflenjchaftlichen Wahrheit ernft nahm, der Künftler, der es auf mehr als 
die Befriedigung von Modebedürfnifſen abſah — fie alle waren beim Ausgang ber vier- 
iger Jahre dabei angelangt, in der Verneinung der gegebenen Zuftände die erjte 
aller Bürgerpflichten zu ſehen: Leute, welche die verjchiedenjten Ausgangspunkte ge— 
nommen, fich den heterogenften Zielen zugewendet hatten, waren in dem einen 
Punkt einig, daß in dem vorhandenen Staatöwejen für fie fein Plaß jei. Eine 
große Oppofitionspartei umjaßte das gejammte ftrebfame jüngere Gejchlecht: der 
hochnationale Slawophile Atfatow, der für die weitenropäifche Bildung begeifterte 
Belinsti, die Socialiften Herzen und Bakunin und bie conjervativ gefinnten Gelehrten 
Granowski und Katkow waren allein in bem „Carthaginem esse delendam‘‘, aber 
in diefem jo vollftändig einig, daß die Regierung in gewiffem Sinne Recht Hatte, 
wenn jie diefe, die verschiedenften Richtungen repräjentirenden Männer ala Anhänger 
einer Meinung anjah und mit dem gleichen Mißtrauensvotum belegte. Weil der 
abjolutiftiiche Staat auf allen Gebieten alleinherrfchend war und jein wollte, weil 
alle von diefem Staate unabhängigen Thätigkeiten verpönt erichienen, verftand es fich von 
jelbft, daß jede jelbftändige Lebensregung politifchoppofitioneller Natur war: mer 
überhaupt Etwas zu jchaffen beabfichtigte, jah fich genöthigt, zunächft den Plak, auf 
- welchem er ftehen wollte, von dem Unkraut und den Schranken, die denjelben be— 
dedten, frei zu machen. Ohne Uebertreibung läßt fich behaupten, daß alle Ruſſen, 
deren Namen innerhalb ber letten Zwanzig Jahre überhaupt befannt geworden find, 
als Männer der politiichen Oppofition angefangen haben und während ber Jugend— 
periode ihres Lebens vornehmlich damit beichäitigt geweſen find, gegen das Syſtem 
anzufämpfen, welches im Krimkriege Bankerott machte und dann durch die Aufhebung 
der Leibeigenichaft bankerott erflärt wurde. 

Diefer Gang der Entwidelung ift auch derjenige Iwan Turgenjew's geweſen. 
Meil diefer Dichter ein humaner und gebildeter Menſch war, fühlte er ſich außer 
Stande, in dem Staatsdienft, auf welchen die Traditionen feiner Familie und feines 
Standes ihn hinwieſen, Beiriedigung zu finden, — meil ihn in.den Jahren feines 
Werdens vor Allem danach verlangte, unter Menjchen zu leben, die höheren als 
rein egoiftifchen Zwecken nachgingen und von dem Xeben mehr ald Bejriedigung 
ihrer Eitelkeit und Genußfucht verlangten, verließ er das ererbte Landgut und trat 
er ſchon als Süngling mit Belinski, Herzen, Panajew, Botlin, Dobrobjubomw und 
anderen Führern der damaligen Peterßburger Oppofitionspartei in enge Beziehung. 
Sein erſtes Werk („Das Tagebuch eine Jägers“) war ein leidenjchaftlicher Proteft 
gegen die Leibeigenichaft, ein Proteft, der politifch gemeint war und defjen politische 
Wirkung die poetifche noch übertraf. Wer in dem Rußland der vierziger und fünf- 
ziger Jahre Theilnahme und Beifall der Urtheilsfähigen erwerben wollte, mußte vor Allem 
Zeugniß für feine Gefinnung ablegen, — erxft. wenn er fich über. diefe gehörig aus— 
gewielen Hatte, ließen bie Kritif und das maßgebende Publicum fich herbei, eines 
neuen Autor? Beruf und künſtleriſche Befähigung zu prüfen. Im den Dienft be— 
ftimmter Parteitendenzen hat Turgenjew fich weder damals noch ſpäter geftellt; die 
MWaffendienfte, die er leitete, find immer nur künftlerifcher Natur geweſen: nicht ala 
Parteimann, fondern ala Menſch und Künftler proteftirte er gegen die unmiürdigen 
Zuftände, die auf feinem Volke und feinem Lande lafteten. Mit demjelben Recht, 
in deſſen Namen die Dichter der deutjchen Erhebung von 1818 proclamiren duriten, 
„daR die Kunft vor Allem eines VBaterlandes bebürfe und daß für den Sclaven feine 
Sonnen jchienen,” konnte von den Rufien der vierziger und fünfziger Jahre behauptet 
werden, daß Theilnahme an ber bejreienden Arbeit, die in der. Folge ber Kaifer von 
Rußland ſelbſt in Angriff nahm, Niemandem exlafjen werden dürfe, dem fein Bolt 
Gehör jchenten ſolle. — Bewußt oder unbewuht hat der Dichter Turgenjew an 


508 Deutſche Rundſchau. 


dieſer Arbeit während aller Stadien derſelben Antheil genommen: nahezu jeder 
feiner Schöpfungen läßt ſich eine Beziehung auf die neuere Entwickelung der ruſſiſchen 
Gejellichaft nachweifen, und nur im Zufammenhang mit diefer Entwidelung Lafien 
feine größeren Arbeiten, in&befondere die „Väter und Söhne”, ber „Rauch“ und 
ber vorliegende Roman „Neu-Land“, fich verftehen und beurtheilen. 

Um die bejonderen Berhältniffe nachzuweijen, welche zu den erften der genannten 
Romane den Anftoß gegeben, bedürfte e8 eines breiteren Raumes, als ein Artikel 
an dieſer Stelle ihn in Anfpruch nehmen darf. Wir müffen ung mit ein paar all« 
gemeinen Andeutungen begnügen und durch dieſe die Fäden in die Hand zu be= 
fommen fuchen, welche in die uns zumächft vorliegende neuefte Turgenjew’iche Erzählung 
führen. — Mit der Theilnahme des echten Dichters und des echten Patrioten, Hatte 
der Verfaſſer des „Tagebuchs“ das Erwachen des ruffifchen Nationalgeiftes und das 
Emporlommen des jungen Gejchlechtes verfolgt, welches demjelben Ausdrud zu geben 
verfuchte: aus der Wärme feiner Theilnahme für die Gefchichte der Jahre 1857 bis 
1862 erklärt fich zugleich die Schmerzlichkeit der Enttäufchungen, welche ihm durch 
die Ausschreitungen erſt des ruffiichen Radicalismus, dann (nach dem polnischen 
Aufftande) des Nationalismus bereitet wurden und die in jeder Zeile ber auf dieſe 
Entwidelungen bezüglichen Romane nachklingt. Ein Mal darauf Hingewiefen, den 
Proceß weiter zu verfolgen, den er felbjt in Bewegung fegen geholfen, konnte Tur— 
genjetv nicht umhin, dem Geſchlecht, auf welches er die Hoffnungen feines Lebens 
gejeßt Hatte, zur Seite zu bleiben umd feinen Vertretern jede Mal da den Spiegel 
vorzuhbalten, wo er diefelben auf einen Irrweg gerathen zu fehen glaubte. Der 
Maßſtab, den er anlegte, war immer der der fchönen Menfchlichkeit; die Eriprieß- 
lichkeit oder Bedenklichkeit der Doctrinen, um welche e8 fich handelte, wurden allein 
danach beurtheilt, wie fie auf die fittliche Gefundheit und auf die menfchliche Phyfio- 
gnomie ihrer Träger einwirkten, — dieſe letzteren ala von Haufe aus niedrige Na— 
turen oder die befämpften Tendenzen ala Ausgeburten der Unlauterfeit zu behandeln, 
ift Turgenjew niemal® in den Sinn gefommen und konnte ihm nie in den Sinn 
fonımen, weil er niemals politifcher Parteimann und noch weniger Gonfervativer, 
vielmehr immer ein Gegner der Glaffe geweien ift, welche ala Hauptrepräfentantin 
der don ihm ſelbſt vertretenen Bildung angejehen werden muß (nämlich des Adels). 
Die Entftehungsgeichichte der „Väter und Söhne“ Hat Turgenjew felbft erzählt und in 
diejer Erzählung den Nachweis geführt, daß er unbemwußt, d. h. ohne irgend welche 
vorgefaßte Meinung oder Abficht, zu Werke gegangen und lediglich dem künftlerifchen 
Drange gefolgt ift, einen bejtimmten, ihm gewordenen Eindrud wieder loszuwerden. 
„Den Anftoß zu der Zeichnung de8 Baſarow,“ fo heißt e8 p. 115 ff. von Turgenjew's 
„Erinnerungen“, „hatte mir ein junger Arzt gegeben, ben ich in der Provinz kennen 
gelernt. In diefem anßerordentlichen jungen Manne bereitete fich gleichſam dämmernd 
die Erjcheinung vor, welche man fpäter Nihiliamus nannte; der Eindrud, den biete 
Perfönlichkeit auf mich gemacht, war außerordentlich ftark und doch nicht recht Klar. 
Anfangs vermochte ich mir feine eigentliche Nechenichaft darüber zu geben, — ich 
fah und hörte in meiner Umgebung beftändig umher, als ob fich die Nichtigkeit 
deffen, was ich empfunden zu haben meinte, beglaubigen Tiefe, — ich fürchtete 
geradezu, einer bloßen Einbildbung (wörtlich: einer Vifion) nachzujagen.” — Nimmt 
man zu biefem Belenntniß Hinzu, was der Dichter an demfelben Orte jagt, daß er 
nämlich niemals den Verſuch gemacht habe, bloßen Ideen Fleiſch und Bein zu 
geben, und daß es jür die von ihm gejchaffenen Geftalten jtet3 des Anftoßes durch ein 
wirklich geichautes „Iebendiges Geſicht“ bedurit habe („eines feſten Bodens, auf 
welchen ie meine Füße fegen konnte“), fo wird man nicht nur im Allgemeinen über 
die Art von Turgenjew's Schaffen, fondern auch über die Umſtände leidlich unter 
richtet fein, unter denen „Die Väter und Söhne”, der „Rauch“ und „Neu-Land“ 
entftanden und biftorifch auf einander gefolgt find. 

„Neu⸗Land“ fteht zu den „Vätern und Söhnen“ in directer innerer Beziehung, 
nur daß die Rollen anders als früher vertheilt find. Ein Mal fcheint dem Dichter 


Literariſche Rundſchau. 509 


Bedürfniß geweſen zu fein, an die Entſtehung des Nihilismus näher heranzu— 
treten und die Ridfichtölofigkeit und Zähigfeit diefer nunmehr fünfzehn Lebensjahre 
zählenden, jpecifiich-ruffiichen Erſcheinungsſorm des Radicaliemus verftehen zu lernen. 
Zum Anderen hat er den in der erjten Erzählung in die Seele des alten Geſchlechts 
gejchobenen Idealismus diejes Mal in einem Vertreter der neuen Generation zur 
Anjchauung gebracht und damit einen neuen, veränderten Gefichtspuntt für die Sache 
gewonnen. Um ein „tout comprendre c’est tout pardonner‘‘ handelt es ſich dabei 
ebenjo wenig, wie es fich 1861 um eine bloße DVerurtheilung und Verfehmung der 
jungen Generation gehandelt hatte. Turgenjew hat auch diejes Dial nur jagen wollen, 
„wie es wirklich it“, auch dieſes Mal nur nachweilen wollen, daß die beiden 
ertremjten Erſcheinungen des ruffiichen Lebens einander innerlich bedingten, und daß 
die eine nur befeitigt werden fönne, wenn es gelungen, die andere (die alte, 
gegenwärtig in das Modegewand des gouvernementalen Liberalismus gekleidete Gejell- 
ſchaft) aus der Welt zu Schaffen. Das ift ihm in jo umübertrefflicher Weiſe gelungen, 
daß fcharffichtige Leſer ſich aus der kurzen, blos dreißig Bogen umfaſſenden Gejchichte 
der Sipjägin, Neſhdanow, Pallin, Markelow und Majchurina das ganze heutige Ruß— 
land conjtruiren können. Es wird Turgenjew diejeg Mal gehen, wie es ihm 1861 
(„Bäter und Söhne”) und 1867 („Rauch“) gegangen ijt: zu Dubenden werden 
Leute fich melden, die darüber Hagen, daß der Dichter ihnen das Geficht geitohlen 
und ihre Phyfiognomie zu feinen Zwecken gebraucht habe, „Neu-Land“ ift ges 
ichrieben worden, bevor die Procefje gegen die Tumultuanten vom 12. December 
und gegen die „Vertheiler” verbotener Bücher geführt und öffentlich verhandelt 
wurden. Nichtödeftoweniger find die Perfonen, Berhältniffe, Stichworte und 
Glaubenäbefenntnifie, welche diefe Verhandlungen zu Tage gefördert haben, Zug für 
Zug in dem vorliegenden Buche zu finden. Der Fanatiker Markelow, den jelbjt das 
vollitändigjte Fiasco von dem Glauben an die Nothwendigkeit einer ſofortigen Er— 
bebung nicht zurüdbringen kann —, die Majchurina, die auf Befehl geheimnißvoller 
Oberen unaufhörlich und doch völlig zwedlos zwijchen Moskau, Petersburg und 
Genf Hin» umd herreiſt, — der ruhige, nüchterne Salomin, der die Hohlheit des 
ihn umgebenden Treibens volljtändig durchichaut und fich doch von demfelben nicht 
losmachen zu dürfen glaubt, — der jfeptiiche Paklin, — der rohe, ala Verjchwörer und 
als Denunciant gleich unfinnige Kaufmann Goluſchkin — fie alle find jo direct aus 
dem vollen Leben gegriffen, ala hätten itenographijche Aufzeichnungen über die Peters— 
burger Senatöverhandlungen vom Februar und März diejes Jahres dem Dichter 
bereit3 im Sommer und Herbſt vorigen Jahres vorgelegen. Und doch Haben dieje 
Schilderungen mit der ſogenannten „photographiichen Treue” des modernen Realismus 
Nichts gemein. Auch Hier ift „das Allerbeſte zu geiftig, um geradezu den Sinnen 
gegeben zu werden“, — es ift für die Mitwirkung des Beichauers gerade jo viel Raum 
gelaſſen, als zum wahrhaft Eünjtleriichen Genuß nothiwendig war. — Bon dem ihm 
Gebotenen wird der einzelne Lejer freilich nur joviel erfaſſen, als er an Kenntniß 
der Sache und an Fähigkeit zum Eingehen in dieſelbe mitbringt, — auf vollen 
Beifall Turgenjetv vielleicht nur bei denen rechnen fünnen, die in dev Welt der 
Neihdanow und Oſtrodumow ebenfo zu Haufe find, wie in derjenigen des Geheim— 
rath Sipjägin, feiner fchönen Frau und des KHammerjunferd Kolomeyzow. Diele 
leßtgenannten Figuren find von einer Wahrheit und Lebendigkeit der Zeichnung, 
welcher wir auch aus des Dichters gelungenjten Werken faum Etwas an die Seite zu 
ſetzen wiſſen: in den Interredungen, die Paklin vor und auf feiner Reife mit dem libe— 
ralen, in einen altmodiſchen Kamelotmantel gekleideten Geheimrath führt („mit Ausnahme 
eines jehr hochgeitellten Würdenträgerd trägt Niemand ſolche Mäntel mehr”), hat 
Turgenjew fich geradezu ſelbſt übertroffen: fchon der eine Zug, daß der vornehme 
Herr den ihm vorgejtellten armen Teufel bejtändig mit einem faljchen, auf's Gerathe— 
wohl erjundenen Namen nennt, iſt Goldes werth. Der folgende Auftritt und die 
in demfelben gejchilderte Figur des „aus feinjtem Mehl gebarenen” Gouverneurs, 
„der troß des abjoluten Mangels an irgend welcher VBorbildung eine jehr anjtändige 


510 Deutſche Rundſchau. 


adminiſtrative Befähigung beſitzt, ſehr wenig arbeitet, beſtändig nach Petersburg 
ſeufzt, allen hübſchen Damen der Provinz den Hof macht, dieſer Provinz aber nichts— 
deftoweniger erheblichen Nuten bringt und ein gutes Andenten Hinterläßt,“ be— 
ftätigen auf das ſchlagendſte die Richtigkeit des alten Sabes, nach welchem die 
Skizzen wahrer Meifter oft noch mehr wirken, ala ihre ausgeführten Gemälde, 

Daß eine plöglich eintretende Wendung die anjcheinend mit bejonderer Sorgfalt 
vorbereitete Gompofition der Gefchichte aus ihrem Gleichgewicht bringt und das Buch 
eben da zufchlägt, wo wir e&& mit beiden Händen fejthalten möchten, ift bereits 
angedeutet tworden. An Ueberraſchungen folcher Art find Turgenjew-Leſer zu lange 
gewöhnt, als daß von ihnen Bejonderes zu jagen fein könnte. Die Schilderung der 
Kataftrophe (der eigentliche Roman fchließt mit dem Selbſtmorde Neſhdanow's) ge 
hört weder zum Schönften, noch zum Anziehendften, wol aber zum pathologiich 
Merkwürdigſten, was don Zurgenjew überhaupt gefchrieben worden ift: die Vor— 
empfindung des Sterben® durch einen Piſtolenſchuß wird mit ber Lebendigkeit und 
Genauigkeit des Selbjterfahrenen wiedergegeben und durch drei verfchiedene Stadien 
bis an die Grenze verfolgt, wo das Bewußtjein aufhört. Wie er das Piftol an bie 
Bruft jet, Hat Nefhdanow „im ganzen Körper die Vorempfindung eines gewiſſen 
füßlichherben Dehnens“, — nachdem der Schuß gefallen, das Gefühl „eine nicht 
jehr ſtarken Schlages vor die Bruſt“. Bis Hierher vermag, wer einmal von einem 
Schuß, den er erwartete, getroffen worden, dem Dichter zur Noth zu folgen und 
die fchauerliche Wahrheit jeiner Schilderung ftaunend zu beftätigen; — das folgende 
entzieht fich aller Beurtheilung, iſt aber gerade darum don ergreifender Wirkung: 
„Er lag bereit3 auf dem Rüden und verfuchte fich Ear zu machen, was mit ihm 
fei und wie es gefommen, daß er Tatjana eben geſehen! Er wollte fie ſogar rufen, 
ihr jagen... . „Ach es ift nicht nöthig!“ — aber feine Glieder waren ſchon wie 
eritarrt, dor feinem Antlit, in den Augen, auf der Stirn, im Hirn drehte fich’3 in 
grünlich-gelbem Wirbel umher, und etwas fürchterlich Schweres und Platte fchien 
ihn fir immer an die Erde gedrüdt zu haben.“ 

Mit dem Hinweife auf diefen Ausgang jchließen wir. Ueber die nicht eben 
leicht zu verftehende Mbficht, welche der Dichter mit feiner Heldin (dev oben genannten 
Marianne Bilentjeruna) gehabt, über die allzu deutlich Herbortretende Abficht der 
von „Tymuſchka und Tomuſchka“*) handelnden Epifode und über andere Einzelheiten 
des merkwürdigen Buches ließe fich noch Mancherlei jagen. Da die vorliegenden 
Zeilen es aber nicht mit dem Ginzelheiten, fondern mit dem Ganzen, vornehmlich 
aber mit den Verhältniffen zu thun haben, welche den Vorwurf zu „Neusland” ges 
boten, beichränten wir uns auf das nochmalige Belenntnik, daß diefes Buch für 
dad Verſtändniß des großen Landes, auf welches ganz Europa gegenwärtig feine 
Aufmerkſamkeit richtet, ebenjo ausgiebig ift, wie für das Bedürfniß derjenigen Lejer, 
die e8 mit wirklichen lebendigen Menfchen zu thun Haben wollen, mit Menſchen, 
deren Bekanntſchaft noch nicht erfchöpft ift, wenn man fie ein oder mehrere Male zu 
ſehen und zu hören befommen bat. trt 


William Dean Howells. 
Boreilige Schlüffe. (Foregone Conclusions.) Novelle von W. D. Homells. Autori: 
firte Neberjegung von Minna Weffelhoeft. (Zugleich als erfter Band einer „Transatlan— 
tischen Romanbibliothek.”) Stuttgart, A. B. Auerbach. 1876, 


William Dean Howells ift in Deutichland noch jo gut wie unbelannt, obwol 
er wie wenige zeitgenöffifche Dichter des Auslandes unſere Aufmerkſamkeit, Liebe, 


*) Die font gelungene Ueberjekung hat diefe Dimintiven von Euthymia und Thomas ziem: 
Lich unglüdlich mit „Ihymchen“ und „Thömchen“ überjeht. 


Literariſche Rundſchau. 511 


Bewunderung verdient. Wir wagen ſo zu ſprechen, nachdem wir ſelbſt ihn eben erſt 
kennen gelernt haben in einem einzigen feiner Werke, welches dazu ums nur in der 
Veberfegung vorliegt. Aber in der Kunſt mehr als irgendwo gilt das ex ungue 
leonem. Wir erjehnen mit Ungeduld den Genuß, den ums die übrigen Werke des 
Amerikaner verichaffen werben. 

Bon der Perfon des Dichters ift ums nicht mehr befannt, als was uns eine 
amerifanifche Encyklopädie mittheilt. Howells, heute gerade vierzig Jahre alt, be= 
gann, wie einige andere jeiner Landsleute, die zu großem Ruhm gelangt find, als 
Seperlehtling in einer Druderei. Den dreiundzwanzigjährigen jungen Mann er— 
nannte die Unionsregierung zu ihrem Gonful in Venedig und er verweilte in diefer 
Stellung bis 1865. In feine Heimath zurüdgefehrt, wurde ev Mitarbeiter der treff- 
lichen NRew-Yorker „Nation, eines politiſch-literariſchen Wochenblattes, welchem 
nicht viele europäifche Zeitfchriften ebenbürtig find. Heute gibt Howells das „At- 
lantic Monthly“ heraus. 

„Boreilige Schlüffe” — ift eine Frucht der venetianifchen Jahre des Dichters. 
Zwei amerilanische Damen, Mutter und Tochter, verbringen einen Frühling in der 
Stadt der Lagunen. Der amerikaniſche Conſul — nicht etwa der Dichter, ſondern 
ein junger Maler, Namens Ferris, den Howells auf den einſt von ihm ſelbſt ver- 
fehenen Poſten geitellt Hat — wird der Führer, Begleiter, Haudfreund der Mrd. und 
Miß Derveen. Die Mutter wünjcht, daß Florida fih im Stalienifchen vervoll« 
fommme, und Ferris führt ihnen einen noch jungen Geiftlihen, Don Ippolito, zu 
ala einen Mann, der fi) dazu eignet, mit dem Fräulein Dante und Taſſo zu Iefen. 
Don Ippolito ift ja katholiſcher Priejter und das jchliekt gewiß aus, daß er fich im 
die junge Dame verliebe — eine Gefahr, die, wie die Mama aus Erfahrung weiß, 
fonft unansbleibli” wäre. Allein — brauchen wir's zu jagen? — Don Ippolito 
Taßt erſt recht eine tiefe Leidenschaft zu der jchönen Ausländerin, und obwol Flori» 
da's reines, begeifterungavolles Gemüth hoch erhaben iſt über alle Kofetterie, wähnt 
er fich wieder geliebt. Gerade der fittliche Jdealiamus der jungen Nordländerin er— 
zeugt in dem erregbaren Jtaliener den verhängnißvollen Irrtum. Auch Don Ippo— 
lito ift ein Idealiſt, aber die Ideale des Italiener find nimmermehr förperloje 
Geifter, jondern tragen immer ein Menjchenantliß, find entweder himmliſche oder 
irdiihe Madonnen. Don Ippolito glaubt nicht an die himmliſchen, er it ein 
Priefter ohne innern Beruf, bleibt es, weil er’3 einmal it, weil ihn das Meſſeleſen 
das tägliche Brod ſchafft; er hat feinen Weg verfehlt, feine eigentliche Neigung und 
Begabung lag nach einer ganz andern Seite; ex bejchäftigt fich in allen freien 
Stunden — ein rührend unpraktifcher Praktiter — mit Mechanik, mit Technik, mit 
wundervollen Erfindungen. Florida erjchridt, da fie den Gegenſatz gewahrt zwiſchen 
Don Yppolito’3 Unglauben und feinem geiftlichen Metier. Ihrer nordijch-proteitan- 
tifchen Religiofität und Innerlichkeit ift diefe Küge in dem Leben eines guten Men— 
ſchen unerträglich; fie überredet Don Ippolito, da heuchleriiche Gewand abzuwerfen, 
Stalien, Europa zu verlafien, nach Amerika zu gehen, dem Lande, wo jeder Tech- 
nifer, jeder Entdeder feinen Pla findet. Don Jppolito, ein fo harmloſes und leiden- 
Ichaftliches Kind, wie e8 nur Kinder ded Südens zu fein vermögen, mißverfteht das 
innige Interefje, welches das blonde Fräulein an ihm nimmt; er meint, fie müſſe 
feine Perſon lieben — und fie liebt nur feine Seele. Sie will ihn retten und er— 
löfen, aber ihre Neigung gehört einem Andern, ihrem Landsmann, dem verjtändigen, 
ironifchen Conſul Ferris, der fein Priefter und fein ſchwaches hülfsbedürftiges Mind 
it. Don Ippolito ift fich der Unmwahrheit feine Lebens erft dadurch voll bewußt 
geworden, daß fein Prieftertfum ihm verbietet, ein Weib zu Lieben, und da ex ihr, 
die ihm aufgefordert hat, diefe Lüge abzuthun, feine Liebe befennt, da ruft Florida 
Ihaudernd: „Wie? Sie? ein Priefter!“ 

Das ift ein Acht tragifcher Eonflict, der zu einem ergreifenden Ausgang führen 
muß. Aber das Glüd, welches endlich Florida in ihrer Ehe mit Ferris findet, tröftet 
fie ſelbſt — und auch den Leſer über das graufame Schikjal Don Ippolito's. „Ans 


512 Deutiche Rundſchau. 


fangs glaubte Ferris, daß die büftere Tragödie, durch die er feine Frau erhalten, 
ihren Schatten immer über dieſelbe breiten würde; doch darin irrte er fih. Nichts 
hat eine fo kräftige Verdauung, wie die Liebe, und gut, daß es fo ift, wenn man 
die vielen Erfahrungen bedenkt, die fie verjchluden und affimiliven muß — und ala 
fie nach Venedig zurüdfehrten, fand er, daß die Gewohnheit ihres gemeinfamen 
Lebens alle trüben Erinnerungen bannte, die ſich an den Ort fnüpiten, jo daß fie 
nur noch einen düfteren Hintergrund bildeten, gegen welchen ihr eheliches Glück um 
fo heiterer abftah. Sie ſprachen rüdhaltlos, ohne Scham und ohne Furcht, von 
der Vergangenheit. Iſt e8 auch für das Gefühl ein wenig beleidigend, jo ift e& doch 
wahr und der Menjchennatur eigen, daß fie von Don Jppolito Iprachen, als jei er 
ein Theil ihrer Liebe.“ 

Diefe Stelle genügt, dem feinfinnigen Leſer zu verrathen, welch ein Piychologe 
unſer amerifanifcher Dichter if. Howells gehört zu der jeelenkundigen Rafle der 
Turgenjew, Thaderay, Gottfried Keller. Man verjteht aber auch, daß er, obwol er 
ſchon mehrere Gedichte und Erzählungen veröffentlichte, e8 in feinem Vaterlande noch 
nicht zu einer Popularität gebracht hat, deren Widerhall jchon längſt auch zu uns 
gedrungen fein müßte. Kaviar für's Volk! 

Eine andere Stelle lautet: „Für einen Mann, der fich beitrebt, bejcheiden zu 
fein, ift e& eine gute Uebung, eine Zeit lang unter einem lateinischen Volke zu leben. 
Gr lernt feinen übermäßigen Tugenden mißtrauen und fich nachfichtig gegen bie 
neuen Gombinationen von Recht und Unrecht verhalten, die ihm begegnen.“ Ein 
Sat, den mancher germanifche Sittlichleitspächter fich merken follte! Aber eindring- 
licher noch ala ſolch ein abftracter Sat ſpricht eine Figur, wie die de8 Don Ippo— 
lito von der Fülle der Zartheit und Treue, von der Unjchuld und Herzenseinfalt, 
welche in romanischen Gemüthern wohnen fann. Ein Jeder, der einmal jo glüdlich 
geweſen ift, mit offenem Aug und Herzen unter Jtalienern zu leben, hat einen Don 
Ippolito gekannt. 

Meifterhaft wie die Erfindung und Gharakterfchilderung ift auch die Zeichnung 
de3 Iocalen, nationalen, Hiftorifchen Schauplaßes, auf welchem fich die Erzählung ab» 
ipielt. Ja, das ijt Venedig; das Venedig der eriten Hälfte der jechzjiger Jahre, als 
der Gondoliere au Chioggia und der den Eingang der Lagunen beivachende Kroate 
von der Militärgrenze fich auf deutſch zu verjtändigen fuchten. Und da wir gerade 
die BVortrefflichkeit zu rühmen haben, mit welcher Howells die Orte und Zeitfarbe 
behandelt, fo dürfte es geftattet fein, noch eine Stelle aus feinem Buche anzuführen, 
in welchem er fich eben über bdiejes heutzutage jo wichtige, zu wichtige Gapitel 
ausläßt. 

„Um dieſe Zeit war der Maler ſchon tüchtig mit dem Porträt Don Ippolito's 
vorgeſchritten, eine Arbeit, zu welcher der erſte Anblick des Prieſters ihm ein Ver— 
langen eingeflößt hatte, und er unterhielt ſich eben mit Fräulein Verveen darüber. 

— Aber warum malen Sie ihn nur als Prieſter? — frug ſie, — ich denke 
mir, Sie ſollten ihn zur Hauptfigur einer berühmten oder romantiſchen Scene 
machen, — fügte fie ernſthaft hinzu .... 

— Daß Sie denken, bezweifle ich, — antwortete Ferris, — ſonſt müßten Sie 
erkennen, daß ein venetianiſcher Prieſter keiner phantaſtiſchen Umgebung bedarf. 
Was möchten Sie denn wol? — Jemand, der einem Opfer der Zehn?) die letzte 





*) So muß „the Ten“, wie e3 ohne Zweifel im Original heißt, überfegt werden, während 
die Neberfeerin „der Decemvirn“ jagt, indem fie ſonderbarer Weife auf die fernab liegenden 
Appius Claudius und Collegen verfallen ift, ftatt an die foviel näheren und auch eines hinläng— 
lich graufamen Rufes geniehenden „Dieci* zu beten. Uebrigens abgejehen von ſolchen Fehlern, 
welche man verbeffert, ohne da3 Original zur Hand zu haben, lieſt ſich das Deutich der Ueber— 
ſetzerin gerade fo glatt und Holperig, daß man fühlt, wieviel genußvoller es noch fein muh, ben 
Dichter in feiner eigenen Sprache zu leſen. 


Literariſche Rundſchau. 513 


Oelung reicht? einen Prieſter, der im Talar in den Beichtſtuhl tritt — Grabmal 
des Canova in der fernen Perſpective des Kirchenſchiffs u. ſ. w., — den Blick auf 
ein hübſches Beichtlind gerichtet, die eben kommt, ihr Gewiflen zu erleichtern? — 
Man möchte die Geduld verlieren, wenn man hört, was die Leute über Venedig 
' jagen und denken. — 

Florida ſtarrte ftolz fragend den Maler an. 

— Sie find nicht fchlimmer ala alle Andern, fuhr er ganz gleichgiltig gegen 
ihren Unwillen über feinen Angriff fort; — fie denken alle, e& könne gar fein Bild 
von Venedig geben ohne eine Gonbel oder die Geufzerbrüde. Haben Sie je den 
Kaufmann von Venedig oder Othello gelefen? Darin ift weder Gondel, Brüde noch 
Ganal erwähnt und doch athmen und pulfiren beide von echt venetianifchem Leben. 
Ich will eben einen venetianischen Priefter malen, jo, daß man ihn auch ohne die 
berfömmlichen venetianifchen Zuthaten erfennt. — 

— Es war aber ein gewiſſer Shakeſpeare, der jene Stücke ſchrieb — ſagte 
Florida. 

Ferris verbeugte ſich mit erheuchelter Zerknirſchung über ihren Sarcasmus. 

— Bringen Sie auf Ihrem Bilde lieber irgend ein Symbol eines venetianiſchen 
Prieſters an, ſonſt wundert man ſich, warum Sie ſo weit gereiſt ſind, um Pater 
Hinz oder Kunz zu malen. — 

— Ich behaupte ja nicht, daß mir mein Bild gelingt, — antwortete Ferris, — 
aber das Princip iſt dennoch richtig; auch erwarte ich nicht, daß Jedermann den 
Unterſchied zwiſchen Pater Hinz oder Don Ippolito kennt. Was ich zu malen 
ſtrebe, iſt das nicht zu vertilgende Heidenthum in dem Manne: erſtens die Verleug— 
nung der angeborenen Menſchennatur, und dann eine Perſönlichkeit, die Freude am 
Leben gehabt hätte. Ich will vereiteltes Streben, apathiſche Verzweiflung und das 
rebelliſche Verlangen, das man in unbewußten Augenblicken in ſeinen Zügen ertappt, 
veranſchaulichen, und jenen Ausdruck der Unterdrückung, welche das ganze öſterreichiſche 
Venetien charakteriſirt .. ... 

So ſpricht ſich ein Dichter aus, der die feinſten Schwebungen des Localtons 
trifft. Nicht die Seufzerbrücke und der Canalazzo machen Venedig, nicht der mit 
dem Namen Aloys geſtickte Leibgurt und das Schnadahüpfl machen den Tiroler. 
Was in der das Schnadahüpfl fingenden Bruſt vorgeht, das iſt's — das muß ber 
Dichter kennen und darzuftellen wiflen, dann wird vor Allem ein richtiger Menſch 
daraus und nur ein richtiger Menſch kann ein richtiger Tiroler oder Venetianer fein. 
Die echte Schilderung der örtlichen und zeitlichen Bejonderheit hat ihren bedeutenden 
Werth, aber e8 ift doch nur ein umtergeorbneter Werth; was einfach daraus hervor- 
geht, daß bis in die neuejte Zeit Jemand ein großer Dichter zu fein vermochte, ohne 
feinen Geichöpfen ihr „National” mit auf den Weg zu geben. Wie könnten auch 
ſonſt die Geftalten Homer's und Dante’3, Shakeſpeare's und Goethe’s aller Menſch— 
heit verftändlich und Lieb jein, wenn fie nicht Das befäßen, „was der ganzen Menſch- 
heit zugetheilt iſt!“ Erſt in unferem Jahrhundert, welches die Wiffenfchaft der Ent- 
wicklungsgeſchichte und die Politik der Nationalitäten erzeugt hat, hat man begonnen, 
von dem Dichter zu begehren, daß feine Menjchen nicht nur als Menfchen, ſondern 
als Arier, Europäer, Romanen, taliener, Benetianer auftreten. Ganz recht, wenn 
fie nur dabei immer Menſchen blieben! Howells' Italiener und Amerifaner find 
echte Italiener und Amerikaner, und ebendarum bünkte es uns der Mühe werth, 
ihn hier wörtlich reden zu laſſen über den Werth des ethnographifchen Details. Nichts 
J heute für das poetiſche Schaffen und Genießen bedenklicher, als die ehrfurchtsvolle 

ewiſſenhaftigkeit, mit welcher Dichter zweiten Ranges — oder wären es gar feine 
Dihter? — den Namen Aloys auf den tirolifchen Leibgurt ftiden, und ala der Hoch- 
genuß, mit welchen Lefer zweiten Ranges verfichern, fie hätten ſich auf ihrer jüngften 
Sommerreife überzeugt, daß in der That jeder zweite Tiroler Aloys heiße und den 
eigenen Namen vorn auf dem Leib trage. Heinrich Homberger. 


Deutſche Rundſchau. III, 9. 34 


514 Deutſche Rundichau, 


Dentihe Nymphen und Satyen. 





Wald: und Feldculte. Bon Wilhelm Mannharbt. I Der Baumenltus der Germanen unb 
ihrer Nachbarſtämme. II. Antite Wald: und Feldculte aus norbeuropäiicher Ueberliefe— 
rung erläutert. Berlin, Gebrüder Bornträger. 1875 und 1877. 


Clemens Brentano hat in bekannten Verfen, Wort an Wort reihend, die Haupt- 
begriffe der romantifchen Poefie zufammengefaßt. Man kann auf ähnliche Weile eine 
ganze Strömung romantischer Poefie, Mufit, Malerei bezeichnen, indem man die vier 
Namen: „Sommernachtstraum, Oberon, Mendelsſohn, Schwind“ ausfpricht. Und 
wenn die dadurch erregten Vorſtellungen fih in ein naheliegendes Bild verwandeln, 
fo erbliden wir Elfenreigen im Walde bei Mondenfchein um eine alte geheimnißvolle 
Eiche herum ; ungewiffe Lichter durch die Wipfel fpielend jcheinen Geftalt zu werben; 
ungewiſſes Raufchen in den Blättern jcheint Melodie zu werden; und eine Welt von 
jchwebender, leichter, janfter Schönheit, Sehnſucht wedend und Sehnfucht ftillend, 
erhebt ſich in unferer Seele. 

Nicht blog die Kunſt hat Antheil an diefer Welt; auch die Wiſſenſchaft fühlt 
fih dahin gezogen. Ein Philologe wie Lehrs hat den griechifchen Nymphen eine 
liebevolle Betrachtung gewidmet (vgl. Deutiche Nundichau, Band IX, ©. 141) und 
noch tiefer mußte fich die eigentlich romantifche Wiffenfchaft, die deutfche Alterthums— 
funde, mit ihnen einlafjen. 

Schon im Jahre 1826 überfehten die Brüder Grimm „Iriſche Elfenmärchen“, 
welche in London englifch erjchienen waren, Grzählungen von einem unfagbaren 
Zauber, und fügten eine ſchöne Einleitung Hinzu, welche das Mefen der Elfen und 
verwandter Geifter bei Gelten und Germanen enttwidelte. 

„Die Elfen — heißt es da —, die in ihrer wahren Geftalt kaum einige Zoll 
hoch find, Haben einen luftigen, faſt durchfichtigen Körper, der jo zart ift, daß ein 
TIhautropfen, wenn fie darauf fpringen, zwar zittert, aber nicht audeinander rinnt. 
Dabei find fie von wunderbarer Schönheit, Elfen ſowol ala Elfinnen, und fterbliche 
Menſchen können mit ihnen feinen Vergleich aushalten.“ 

Eie lieben über Alles die Muſik. „Wer fie angehört hat, kann nicht bejchreiben, 
mit welcher Gewalt fie die Seele erfülle und entzüde: gleich einem Strome dringe 
fie mächtig entgegen; und doch fcheinen die Laute einfach, ſelbſt eintönig und über— 
haupt Naturlauten ähnlich zu fein.“ 

„Im Eunftreichen Tanzen übertreffen fie weit Alles, was Menfchen Leiften können, 
und ihre Luft daran ift unermüdlich. Sie tanzen ununterbrochen, bis der Sonnen- 
ftrahl an den Bergen fich zeigt und machen die fühnften Sprünge ohne die mindejte 
Anftrengung.“ 

63 gibt ein Land, das unter dem Waſſer Liegt, wo die Sonne fcheint, Wiejen 
grünen und Bäume blühen, wie oben, und das von glüdlichen Elfen bewohnt wird. 
„Diefe Unterwelt heißt das Land der Jugend, weil die Zeit dort feine Macht hat, 
Niemand altert, und wer viele Jahre da unten gewejen ift, den hat es nur wie 
Augenblide gedäucht.“ 

Neun Jahre nach den Elfenmärchen jchrieb Jacob Grimm feine „Deutjche 
Mythologie“: ein Buch, welches die größte Wirkung ausübte und vielfeitige Nach— 
eiferung wedte, jo daß eine Zeit lang dieje Studien fehr eifrig betrieben wurden und 
eine ungeahnte Menge von NRefultaten an's Licht zu fördern fchienen. Aber man 
hatte fich dabei gewöhnt, ſchrankenlos aus der Volksüberlieferung zu ſchöpſen; Sagen, 
Märchen, Aberglauben, alles jollte Mythologie, wol gar Göttergeichichten enthalten. 
Es war ala ob man einen unbefannten Keller voll umerhört föftlicher Weine auf- 
gegraben Hätte, deren beraufchendem Dufte die ernitejten Männer nicht widerftehen 
fonnten. Aber plöblich folgte Ernüchterung; der Zauber wich; mancher, der einen 
Gott gefangen zu haben glaubte, jah ſich durch ein unflätiges Thier genarrt; und, 


Literarische Rundſchau. 515 


wie man denn gerne das Kind mit dem Bad ausfchüttet, das Intereffe für deutfche 
Mythologie überhaupt trat zurück; man vergaß, welche Reichthümer — vielleicht 
nicht von Mythologie, aber doch gewiß von Poefie die deutjche Volfgüberlieferung in 
fich berge; und die wirklichen Götter der- Edda wurden in die allgemeine Vernach— 
läffigung mit eingejchlofien. 

Indeſſen, e8 war eine kurze Epifode. Don Neuem Lächelt die Gunft der Zeit 
den Spdealgeitalten der altgermanifchen Dichtung. Sie find fogar — opernfähig ge- 
worden, wenn ih das Wort nach Analogie von „hoffähig“ bilden darf. Ob die 
Art, wie das geichah, im Intereſſe der deutfchen Kunft lag, ift eine Frage für fich. 
Aber es war ohne Zweifel recht angenehm für die deutfche Alterthumsforichung : die 
tüchtigen Beftrebungen einzelner näher betheiligter Gelehrten werden nun auch in 
weiteren Kreiſen einen befjer vorbereiteten Boden finden. 

Soeben erihheint Jacob Grimm's „Deutſche Mythologie” in neuer Auflage, 
vermehrt durch die eigenen Notizen und Nachträge des Meifters.*) Unabläffig wendet 
Reinhold Köhler den deutichen Märchen, rein als Poefie betrachtet, feine umfaffende, 
jammelnde und vergleichende Ihätigkeit zu. Adalbert Kuhn und Mar Müller wußten 
Gelehrte und Ungelehrte für die Probleme der vergleichenden Mythologie zu intereffiren. 
Ganz aber hat Wilhelm Mannhardt fich der unfchuldigen Schönheit alterthüm- 
liter mythologifcher Gebilde Hingegeben, mit ftaunenswerther unermübdlicher Energie 
weitjchichtigen Stoff geſammelt und diefem Stoffe ſchon manchen ficheren deutjchen 
Mythus und manche fichere Mythendeutung abgewonnen, indem er den zerfplitterten 
Reiten einfacher Urpoefie einen einfachen, verſtändnißvollen poetifchen Sinn entgegen- 
brachte. 

Die Forichungen über die Anfänge der Eultur, über die älteften Zuftände des 
Menjchen, über den Urjprung der Religion werden jet mit großem Eifer und unter 
allgemeinem Beifall betrieben. Ein Gelehrter, wie Mr. Edward B. Tylor, hat in 
der That jchöne NRefultate zu Tage gefördert, indem er mit außdauerndem Spürfinn 
primitive Anichauungen der Völker jo lange durch alle Nationen der Erde Hin ver- 
gleichend verfolgte, bis der innere Zufammenhang irgendwo klar wurde, das Trümmer- 
hafte ergänzt und das Dunkle auigehellt erfchien. Aber ein Buch wie daß oben- 
bezeichnete von Mannharbt nimmt nicht minder die Aufmerkfamkeit aller Derer in 
Anſpruch, welche jenen fchwierigen und dankbaren Problemen Torfchend oder blos 
wißbegierig zugewendet find. Auch Hier mafjenhaftes Material, maflenhafte Ver— 
gleichung, Reduction auf einfache Grundanfchauungen und Leichtverftändliche piycho- 
logische Procefje: — man Hat nur nicht das Vergnügen, fih unter Bufchmännern 
und Patagoniern zu bewegen, jondern muß mit der Geſellſchaft von Deutjchen, 
Slaven und Griechen vorlieb nehmen. 

Auf die Gegenjtände, welche Mannhardt behandelt, habe ich ſchon im Eingange 
diejer Zeilen Hingedeutet. Er führt ung in den deutjchen Wald. Er lehrt uns die 
Geifter Tennen, die ihn bewohnen: die Holz: und Moosfräulein, die wilden 
Männer, die jeligen Fräulein. Die Iehteren werden in Tirol verehrt; fie heißen auch 
Thallilien (Maiblumen) und wohnen in den Gletjchern, unter den Felſen; fie ſihen 
wol im Schatten eines Baumes und lafjen ihren Gefang in's Thal Hinabichallen, 
und wer ihn hört, der möchte ihn immer und immer wieder vernehmen, und er wird 
einfilbig und jchwermüthig unter den Menſchen. Aber die Fräulein find wohlwollend, 
fie helfen den Bauern im Haus und bei der Ernte, fie verſtehen ſich auf Heilkunft 
und machen fi) durch Eleine Diebereien an Brot oder Kuchen bezahlt. Wenn im 
Winter das Heu mit Schlitten von den Alpen geholt wird, hodt ihrer wol ein 
ganzes Dutzend Hinten auf und fährt mit. Ihr Feind und Verfolger iſt der wilde 
Dann, der fie wie im Sturme vor fich Herjagt. Er ift ein gewaltiger Gejelle, von 


*) Deutiche Mythologie von Jacob Grimm. Vierte Ausgabe, bejorgt von Elard Hugo Meyer. 
2 Bde. Berlin, Dümmler. 1875—1876: der dritte Band fieht noch aus. 
34 * 


516 Deutihe Rundſchau. 


Weiten gleicht er einer Fichte, die ganz mit Moos überkleidet ift; und wenn er auf 
dem Wege einen Stod braucht, jo reißt er fich einen Baumſtamm aus, 

Ich kann und will hier nicht weiter ausführen, wie dieſe Weſen auf Vieh- und 
Erntejegen einwirken; wie fie verehrt und im Gultus ſymboliſch dargeftellt werden. 
Bei Mannhardt felbjt muß man nachlefen, wie er fie Zug um Zug in den antiken 
Nymphen, Satyın, Gentanren, Saunen und ihrer leichtlebigen Sippſchaft wieberzufinden 
weiß, und wie er, ganz im Geifte Jacob Grimm’s, aus dem Nahen und Heimifchen 
das Fremde und Ferne mit Glüd erläutert, nebenbei über manche Sagen bes griechi— 
jchen Epos, über Peleus, Thetis und Achill, über Boreaden und Harpyien neues 
Kicht verbreitet. Aber ich will den Ausgangspunkt noch bezeichnen, von dem er fie 
verftändlich zu machen weiß: die Baumjeele. 

Es find ſchon ein paar Jahrzehende her, jeit der Phyfifer und Philofoph Fechner 
fein Buh „Nanna” über die Pflanzenfeele jchrieb und deshalb von den Botanifern 
hart mitgenommen wurde. Ich weiß nicht, wie die Sache heute wiſſenſchaftlich an- 
gefehen wird; ich follte denken, daß Darwin’s Unterfuchungen über infectenfreffende 
Pflanzen (vgl. Deutjche Rundihau, Bd. VII, ©. 441) ein ftarkes Argument für 
Fechner's Hypothefe abgeben, wenn man nur auf das Weſen fieht und nicht um 
Namen ftreitet. Mber wie dem auch fei, Jahrtaufende vor Fechner Hat die jchnell- 
fertige Metaphyſik der Urvölfer in Bäumen und Blumen jo gut wie in Thieren und 
Menſchen Befeelung anerlannt. Der Baum wird als Perfon behandelt; unter der 
Rinde wird menfchliche Körperlichkeit vermuthet; verlegte Bäume bluten; die Baum: 
feelen können als menfchengeftaltige Geifter ihren Sit zeitweilig verlaffen — und ba 
haben wir die oben geichilderten Weſen: je nachdem die Lieblichkeit des raufchenden 
Zaubes und die Biegjamkeit zierlicher Aefte oder etwa das Rauhe, Stechende, 
Struppige gerabaufragenden Nadelholzes in dem Eindrud überwog, je nad) dem 
wurden felige Fräulein oder wilde Männer, Dryaden oder Gentauren daraus. 

Ein mittelalterliches Märchen läßt Alerander den Großen im Orient zu den 
Blumenmägdlein fommen, und im Leben des Welteroberers jpielt fich ein rührendes 
kurzes Idyll ab. Im Frühling tauchen aus den Knoſpen rajchiprießender Blumen 
Heine Mädchen von überirdifcher Schönheit auf, und zu Hunberttaufenden tanzen 
und fpringen fie im Wald und fingen jo ſchön, daß Mlerander und feine Helden 
alles Erdenleid bvergefjen und unter ihnen wohnen und ihre Liebe genießen — brei 
Monate und zwölf Tage; ba ift die Blumenblüthe um, die Heinen Mädchen fterben 
und „die Freude die zergeht”. Hier bliden wir der mythologifchen Pflanzenjeele 
unmittelbar in’ Auge und begreifen wohl, daß ein Gelehrter dem Zauber unterliegt, 
dem Alerander der Große nicht widerftehen konnte. Wilhelm Scherer. 


Zur inneren Geſchichte Frankreichs. 





Demokratie und Monardie in Frankreich, vom Beginn ber aroken Revolution 
bis zum Sturz des Kaiſerreichs, von Ch. Kendall Adams. Autorifirte deutſche Aus: 
gabe nach der zweiten Aufl. des Originals, Stuttgart, Aug. Berth. Auerbad, 1875. 


Der Verfaffer erflärt in der Vorrede, daß fein Zweck nicht geweſen, eine Ge- 
ſchichte im eigentlichen Sinne zu fchreiben, fondern nur, gewiffe Urfachen und Wir- 
fungen, die nach feiner feſten Weberzeugung einen entträftenden Einfluß auf bie 
franzdfifche Nation ausgeübt haben, in ein ftarkes Licht zu ſetzen. Von biejem 
Gefichtspunfte wird man das vorliegende Buch beurtheilen müſſen; e8 kann feinen 
Anspruch auf befonders tiefe Quellenftudien machen, Iehnt fich vielmehr wejentlich 
an die Werke von Lanfrey, Carlyle, Guizot, Tocqueville u. A.; aber e8 faßt die neuere 
Geſchichte Frankreichs unter einem feften Gefihtspunfte zufammen, als beherricht 


Literariſche Rundſchau. 517 


durch das Verhängniß des allgemein revolutionären Geiſtes, d. h. des Anſpruchs der 
Unwiſſenden und Leidenſchaftlichen, über jede Regierungshandlung mit voller Be— 
fugniß zu Gericht zu ſitzen. WERRE 

Als den Urheber dieſes Geiftes führt er in eingehender Darftellung Roufjeau 
dor, defjen Lehre vom Gejellfchaftsvertrag alle Regierung unmöglich mache, indem 
fie den zeitweiligen Willen des Einzelnen zum einzig rechtmäßigen Geſetz erhebe. 
Vielleicht würde man noch ſchärfer als das Unglüd Frankreichs den politiichen 
Rationaliamus bezeichnen, der überfieht, daß es auf dem Gebiet des praftifchen 
Lebens feine abjolute, jondern nur eine relative Wahrheit gibt und politifche In— 
jtitutionen von der Stärke der betreffenden focialen Elemente abhängen. Diejer 
Rationaliamus nahm feinen Urfprung darin, daß die franzöfifche Nation feit Langer 
Zeit don jeder praftifchen Theilnahme an den öffentlichen Angelegenheiten abge- 
ſchnitten war; fie ftand einer Regierung gegenüber, welche auf das willfürlichite 
mit den Sjntereffen ihrer Unterthanen jchaltete, unbeweglich Inftitutionen aufrecht 
hielt, die im Fortgang der Zeit jede Berechtigung verloren hatten, und Privilegien 
der bevorrechteten Stände vertheidigte oder doch nicht anzutaften wagte, welche die 
unteren Claſſen ſchamlos ausbeuteten. Auf Eirchlichem Gebiete waren Proteftantisınugs 
und Janſenismus gewaltfam unterdbrüdt, um die fatholifche Glaubenzeinheit herzu— 
ſtellen. Ohnmächtig in der Wirklichkeit warf fi) die unterbundene natürliche Ent« 
wickelung in eine heftige fpeculative Oppofition, welche fich gegen alle gejchichtlich 

ertvachfenen Inftitutionen kehrte. Ohne Erfahrung in der praftifchen Politik, ohne 
Fühlung mit dem wirklichen Leben, welche allein den Maßſtab des Möglichen gibt, 
glaubte man, mit dem Wuft traditioneller Mißbräuche nur aufräumen zu können, 
wenn man Staat, Gejellichait und Religion nad den Forderungen der Vernunft von 
Grund aus umgeftalte, und da die ungeheure Mehrzahl der Nation ſchwer unter dem 
Drude der Gegenwart litt, ohne ihm abhelſen zu können, jo nahm fie diefe Predigt 
begierig ald Evangelium der Zukunft auf. Der amerikaniſche Unabhängigkeitskampf 
und Frankreichs Theilnahme daran vollendete die Verblendung; man ſah in der 
jungen Republit die Verwirklihung der eigenen Theorien, und fo unternahm eine 
bis in's Mark erkrankte Nation, durch eine gewaltige Umwälzung ein ideales Gemein- 
wejen nach Grundfäßen herzuftellen, welche nicht nur für Frankreich, Tondern für die 
ganze Welt den Maßſtab der Volllommendeit bilden follten. Man fragte nicht, ob 
die Vorausfeßungen für dies Werk dee Zukunft in der Gegenwart vorhanden; man 
überjah, daß die Momente in Frankreich durchaus fehlten, die in Amerika in über- 
rajchend günftiger Weile zufammentrafen — puritaniſche Zucht, Gefeßlichkeit, Selbſt— 
verwaltung —; man glaubte, es genüge, in einer durch jahrhundertelange Miß- 
bräuche zerrütteten Gejellichaft alle möglichen Bürgertugenden vorausfeßen zu können, 
welche rhetorifche Darftellungen den antiken Republifen andichteten, und wähnte, 
das Glüd eines Volles jei begründet, wenn es ſich eine Verfaſſung voll hochtönender 
Grundjäge auf dem Papier gegeben. 

Dieſer Geift des politifchen Rationalismus fcheint uns das Unglüd des mo— 
dernen Frankreich; erſt aus ihm entipringt der revolutionäre Geift, der, ſobald bie 
angeblichen Forderungen der Vernunft mit dem Beftehenden zufammenftoßen, das 
leßtere einfach über den Haufen zu werfen ftrebt. Man wiederholt an dem Körper 
des franzöfifchen Volkes den Procek der Mebea, bie auß dem zerhadten Leibe im 
Herenkefjel einen verjüngten hervorgehen zu jehen hoffte. Folge diejes Nationalismus 
ift es auch, daß, da die Bedürfniffe der Nation wechfeln, man bei jeder neuen Epi— 
Tode dasjenige Element am meiften betont, welches in der vorhergehenden am wenigften 
berüdfichtigt war, auf Gonvent und Directorium, wie auf die Republik von 1848 folgte 
der napoleonifche Abjolutismus, aus dem Hohen Cenſus der Julimonarchie ſprang 
man unbermittelt in’3 allgemeine Stimmredt. Ein andere Moment, welches bei 
dem Berf. wenigftens Anfangs nicht zu genügender Geltung kommt, ift die aus dem 
alten Staatsweſen jtammende Gentralifation, zufolge welcher — die Revolutionen 
macht und dem ganzen Lande neue Verfaſſungen octroyirt. Jeder erfolgreiche Auf⸗ 


518 Deutſche Rundſchau. 


ſtand in der Hauptſtadt entſcheidet; Karl X., Louis Philipp, Louis Napoleon wurden 
bei Seite geſchoben, wie ein Bureauchef, Ledru-Rollin und Gambetta herrſchten durch 
ihre Präfecten ebenfo unumjchränft und noch rüdfichtslofer, ala Villeäle und Guizot. 
Eben darum Hat Frankreich, troß aller Charten und parlamentarifchen Kämpfe, nie 
bie wahre Freiheit gefannt, die in der Verwaltung, ihrer Gontrole und der Theil- 
nahme der Nation an ihr liegt. Die verfchiebenen parlamentariihen Regierungen 
fahen fich ebenjo als die Nepräfentanten der Souveränetät des Volkes, wie die durch 
das Plebiscit berufenen Napoleoniden; beide fühlten fich thatfächlich gleich unverant« 
wortli und jchalteten demgemäß. 

Zu den beiten Abjchnitten des Buches gehören „Die Politik der Revolution“, 
welcher treffend ausführt, wie die Verfolgung unhaltbarer Theorien im Abjolutig- 
mus, allgemeiner politifcher Gleichgiltigkeit und materieller Erfhöpfung enden mußte, 
und „Das Emporlommen des Napoleonigmus”, wo, im Anfchluß an Lanfrey, 
der Charakter Napoleon’s und fein Syſtem dargelegt wird. Eine eiferne Eonftitution, 
eine gewaltige Intelligenz, tiefe Kenntniß und Verachtung der Menſchen, Mangel 
an jeber Regung bed Gewiſſens und demzufolge unbedingte Scrupellofigkeit in der 
Wahl der Mittel für die Geltendmachung eines ſchrankenloſen Egoismus: das waren 
die Elemente, mit denen ber corfilche Emporlömmling feinen Thron auf den Trüm— 
mern des Alten begründet, aber die ihn auch in die Maflofigkeit trieben, welche zu 
feinem Sturze führte; er brauchte, wie Prevoft-Paradol jagt, Frankreich wie einen 
BZauberftab, um damit Alles in fich jelbit zu verwandeln. Die Reftauration fcheint 
Adams uns zu Hart zu beurtheilen; ihre Fehler find unbeftreitbar, und gerade bie 
wichtigjten betont er nicht hinreichend: die Begünftigung des Ultramontanismus und 
die Aufrehthaltung der napoleonifchen Bureaufratie. Wenn er dagegen beſonders 
Icharf die Errichtung einer erblichen Pairskammer tadelt, die feine Wurzeln im Lande 
gehabt, jo ift das in gewiſſem Grade zuzugeben; aber doch zu fragen, auf welchem 
anderen Princip die erfte Kammer begründet werben ſollte? Die Pairs der Neftau« 
ration haben jedenfalls eine beffere und bedeutendere Rolle gefpielt, als die traurige 
Pairie Louis Philipp’s, die nach Kategorien gewählt wurde und von der Villemain, 
der jelbjt zu ihr gehörte, ſagte: „Nous sommes des pairs à parapluie,* von dem 
napoleonifchen Senate ganz zu jchweigen. Und ebenjo beurtheilt der Verf. die Juli— 
revolution zu milde, welche den Faden der mühjam bergeftellten geichichtlichen Con— 
tinuität zerriß und Frankreich auf's Neue den Wechjelfällen des politifchen Zufalls 
preisgab. Die Reftauration war, troß Allem, was man gegen fie jagen kann, doch 
unftreitig die glüdlichite Periode der neueren franzöfifchen Gefchichte. Die Nation, 
mit kriegeriſchem Ruhm überfättigt, warf fi) mit Energie auf die materiellen Inter— 
eſſen, das Land blühte wunderbar auf, und doch war der Cultus des Geldes noch 
nicht allmächtig wie jpäter, im Gegentheil, in Literatur wie in Politik herrſchte dag 
regfte Leben. Sicher war die Verblendung Karl’3 X. und Polignac’3 unverzeihlich, 
aber nicht weniger verhängnißvoll die der Führer der Revolution, welche nicht 
Selbſtbeherrſchung genug Hatten, ihren Wibderftand mit den volllommen ausreichenden 
gejeglichen Mitteln durchzuführen. Der Verf. tadelt die Intriguen der Legitimiften, 
die mit den Republilanern gemeinfame Oppofition gegen Louis Philipp gemacht; in- 
deß dieſe Intriguen waren wenig gefährlich, jondern das Unglüd war, daß die Legi- 
timiften, welche die überwiegende Mehrheit des großen Grundbefies bildeten, fich 
gänzlich vom politiichen Leben zurüdzogen und fo die Regierung der politifchen Stüße 
der Claffe beraubt war, welche ſtets die ftärkjte confervative Macht im Staate ſein 
wird. Gie war daher gendthigt, fich Lediglich auf die Bourgeoifie zu lehnen und 
deren Intereſſen zu befriedigen. Louis Philipp Erankte ſtets an feinem Urſprung, 
er wollte zugleich Erwählter des Volkes und legitimer König fein. Aber treffend 
fagt Renan: „La royaut& ne sort pas de l’hötel de Ville, et ceux que l'on a ap- 
pel&s chers camarades, ne deviennent jamais des sujets.* 

Auch Für Guizot ſcheint der Verf. partetifch; wenn der Minifter eine Reform 
des Wahlrechts, welche gerade die durchaus conjervativ gefinnte Maſſe der kleinen 


Literariſche Rundſchau. 519 


Grundbeſitzer gänzlich ausſchloß, an ſich für nothwendig hielt, aber verweigerte, weil 
die Majorität der Kammer ſie nicht forderte oder vielmehr ſeiner Behauptung, das 
Zugeſtändniß ſei nicht zeitgemäß, beiſtimmte: ſo war das doctrinärer Eigenfinn, der 
über der parlamentariſchen Theorie das Bedürfniß der Wirklichkeit hintenanſetzte. 
Niemand wird beſtreiten, daß eine nur geringe Nachgiebigkeit der ganzen Oppoſition 
die Spitze genommen, der Regierung ſelbſt eine breitere Grundlage gegeben und 
Frankreich vor unſäglichem Unglück bewahrt Hätte. Guizot's Memoiren zeigen in 
dieſem Punkte, wie in dem der ſpaniſchen Heirathen, nur den Hochmuth, der be— 
gangene Fehler nicht leicht zugeſteht und, wie er einem Freunde in's Album ſchrieb, 
aus der Vergangenheit nur gelernt hat, daß er nichts vergeſſen, aber viel zu ver— 
zeihen habe — eine Auffaſſung, welche ſein alter Gegner Thiers mit dem boshaften 
Commentar begleitete: „un peu d'oubli ne nuirait pas à la sincerit6 du pardon.“ 

Vortrefflih dagegen ift da8 Gapitel über die Februarrevolution, welches 
beren ganze Yrivolität im Bruch mit dem Beftehenden und dem Wirrſal, in das 
Hrankreich geftürzt ward, darlegt. Der Marſchall Bugeaud war in fünf Stunden 
bes ganzen Aufftandes ohne Blutvergießen Herr geworden, ala Thiers, der endlich 
ein Minifterium gebildet hatte, alleg Gewonnene preißgab, indem er die Truppen 
zurüdzog. Wenige Stunden darauf war die Fluth fo geftiegen, daß er zurüdtreten 
mußte. Die Kopflofigkeit des Königs und namentlich des Herzogs von Montpenfier 
führte zur Abdankung, und Lamartine, der eitle Fdeologe, der durch feine „Girondins“ 
die Revolution auf’3 Neue jo populär gemacht, wie Thiers das Kaiſerreich, erklärte 
fih für die Nepublif, Die Flitterwochen machten raſch furchtbaren Kämpfen Plab, 
die in der Juniſchlacht ihren Gipfel erreichten. Von da ab arbeitete die Nation 
conjequent dahin, durch das, von ihr keineswegs begehrte, allgemeine Stimmrecht ihr 
Gleichgewicht wiederzuerhalten und eine ftarke Regierung zu jchaffen, die dann natur= 
gemäß in Conflict mit der Nationalverfammlung gerathen mußte. Der Ausgang 
befjelben war vorherzufehen, nachdem an die Spitze des Staat3 der Erbe des napo— 
leonifchen Namens berufen war; freilich Hatte Jules Favre der Verfammlung ver- 
fihert, daß die Bonapartes der Freiheit nicht mehr gefährlich werben könnten! 

Auch die Aera des neuen Cäſarismus jchildert der Verfaſſer durchaus treffend; 
auf die Tajchenfpielerei des Plebiscits begründet, ſpricht fie nur deshalb alle politische 
Gewalt dem Volke zu, um fie in deſſen Erwählten zu perfonificiren. Diefer foll 
zwar, nach Napoleon's Anficht, an der Spike der Ideen feiner Zeit fchreiten, aber 
. allein die Snitiative haben. Kurz vor dem Ausbruch des italienischen Krieges er- 
Härte der Kaiſer dem gejehgebenden Körper, über feine Handlungen erkenne er nur 
drei Richter an: Gott, fein Gewiffen und die Nachwelt (mas fich alſo die ausge— 
Ichloffene Mitwelt gejagt Laffen fein mochte!) — eine Theorie, die nur vergaß, das 
Recept für die unfehlbare Intelligenz des Cäſars zu geben, umd benjelben zwar An— 
fangs auf den Höhepunkt eines europäifchen Schiedärichter®, aber von da über Merico 
nad Sedan geführt hat. 

Menn wir von den erivähnten Ausftellungen abfehen, ift das Buch von Adams 
durchaus empfehlenswerth, namentlich Tür Solche, die nicht Zeit und Gelegenheit 
haben, die Quellen jelbjt zu ftudiren. Die lebhafte Sympathie des Verf. für Deutich- 
land können wir nur dankend anerkennen, wenn ihr gleich nicht immer die wirkliche 
Kenntniß deutſcher DVerhältniffe entſpricht. Die Ueberſetzung ijt ſehr lesbar; nur 
ſelten kommen undeutſche Wendungen vor, wie z. B. ©. 9: „Wir haben eine be— 
deutende Mühe an die Erziehung der Maflen gerüdt.“ 

Geiiden. 


520 


v. Dentiche Minnefänger in Bild und 
Wort. Gezeihuet von E. von Luttid, 
eftohen von E. Forberg, Tert von Dr. 
5. r Lieferung. Wien, Berlag 


Bayern gewibmete Werk ift ein erfreuliches 
Sympton de in immer weiteren Kreifen wachlen- 
den Autheils an der altdeutſchen Dichttunft. Die 
vorliegende erfte Lieferung bringt Walther von 
der Vogelweide und Ulrih von Tichtenftein. An 
Borträtähnlichleit darf Niemand denlen, bafür 
ibt es feine Quellen; die alten Minnefänger- 
andſchriften Tiefern Bilder bes ariſtokratiſchen 
Lebens der Zeit, aber die Gefichtszüge der Dichter 
wiederzugeben, welde darin auftreten, machen 
fie feinen Verſuch. Der moderne Künftler bat 
für Walther die überlieferte Situation, bie ihn 
nachdenklich auf einem Steine figend barftellt, 
aufgegeben; er zeigt ihm uns in gebirgiger Um⸗ 


gebung mit der Lerer in ber Hand, feine Weifen | 


gleihfam dem Gefange der Vögel ablauſchend, 
deren einer ihm auf der Schulter fit; Amoretten 
halten Helm und Schwert. Das Coſtüm ift 
etwas zu opernmäßig glänzend für den Sänger, 
dem der Biſchof von Paflau ein Pelzfleid fchenkte. 


Ulrich, von Lichtenfteim fteht im ziemlich gefpreigter | „wilde Wales" im jener 
Das | die alten eingebornen Briten, mit ben immer 
gibt zu manchen | weiter vorbringenden „Saflenadh‘ um biefen 


zen) als Sieger im Turniere ba. 

Beiwerl, Coſtüm u. ſ. w. 

eulturbiftoriihen Zweifeln Anlaß. Und man 

fann vielleicht die Frage aufwerfen, ob e8 nicht 
befjer gethan war, ba authentifche Porträts doch 
nicht zu erreichen find, autbentiihe Situationen 
tünſtleriſch zu geftalten: Für Walther etwa bie 

Scene, wie er jeiner Geliebten ben Kranz über« 

reiht („Nehmt, Fraue, biefen Kranz“); für Lichten— 

ftein ein lomiſches Motiv, wie der böfe Sturz 

im Korbe. Es würde fih dann von felbit ein 

—— Band zwiſchen Text und Bild hergeſtellt 

haben, als es jetzt der Fall iſt. Der Text gibt 

nicht Erläuterung, ſondern ſelbſtändigen literar- 
biftorifchen Abriß. Die Einleitung mit ihrer 
pbantafievoll erregten Sprade erinnert an 

Görres. Die neuefte Literatur ıft überall berüd- 

fihtigt. Die Hypothefe von Walther's tirolifcher 

—— wird mit auerlennenswerther Vorſicht 

eſprochen. Man kaun den Tirolern die Freude 
gönnen, einen ſo berühmten Landsmann zu 
gewinnen, und als Reiſemerlwürdigleit für Bä- 
deler ift das fehr ſchön, aber die —— 

Literaturgeſchichte muß ſich gegen ſolche „locale 

Freuden —* —*— 

y. Dramatiſche Dichtungen von Otto Ro- 
quette. — Band, Stuttgart, I. ©. 
Cotta’iche Buch. 1876. 

Roquette bat feine Lefer faſt ein Jahrzehnt 
auf bie — — der dramatiſchen Dichtungen 
warten laſſen, entſchädigt aber nun durch eine 
um fo reichere Spende. Er gibt in dem vor— 
liegenden Bande Proben, feiner Fähigleit als 
Dramatiker auf vier verfihiedenen Gebieten bes 
Drama's und zeigt fih auf allen einſichtsvoll in 
der Anlage, geihult, was Technik anlangt, glüd- 
lich bie Färbung treffend, die jebem einzelnen 
Genre eigenthümlich ift. Mit einem fünfactigen 
Zrauerfpiel, welches fi in ber Darftellung, 5. 8. 
im königl. Schaufpielhaufe zu Berlin, bereits 
et bat, beginnt ber Band. „Der Feind 
im Haufe” — fo nennt fi die Tragödie — 


Deutſche Rundſchau. 


entlehnt den Streitigleiten der Colonna's und 
Orſini's feinen Stoff und gibt dem Dichter 
Anlaß, mit großer —— * Feinheit bie 
Empfindungen und Eutſchluſſe eines überaus 
unglückllichen, aber großdenlenden Mutterherzens 
zu entwideln. Das zweite Stüd „Der Roſen— 
garten“ bezeichnet ber Dichter als Schaufpiel, 
genau genommen ift e8 aber eine Art Zauber- 
märdhen in ber Art ber Raimund'ſchen; mit 
einer faßbaren Moral ausgeftattet, zieht e8 einem 
Traume gleih, reich am poetifchen Schönheiten, 
an bem Leſer worüber. Ueberfprudelnder Humor 
erfüllt die Faſtnachtslomödie „Rampfinit“, 
bie in man Keim und mander Wendung 
an ben beliebten Humoriften Buſch erimmert. 
Den Beſchluß des Bandes macht ein leicht- 
eihürztes, dem Badeleben entnommenes Luft« 
piel „Die Schlange”, bem fi zwar manche 
Unwahrſcheinlichkeit nachweiien läßt, befien Per— 
fonen aber fo liebenswürbig eingeführt werben 
und fo amüfant zu plaudern verftehen, daß man 


silence and SE By 
Emily Ptei London, Henry 8. King 
& Co. 1877, 


Ein epiſches Gedicht, deſſen Schauplatz das 
eit, wo die Cymri, 


| jene gern vergißt. 


0. ee Ra por Fr 
er. 


letzten Reſt ihrer Heimatherbe kämpften. Der 
Barde Glän-Alarh erzählt die Geſchichte dieſes 
Heldentampfe®, welcher vorbereitet wird durch 
die Schilderung ſeines Häuptlings Eurien, „des 
oldenen Eurien’‘, und durchflochten iſt mit deſſen 
Binsn n und Liebesichidfalen. Zwiſchen zwei 
weibliche Weſen —— von denen die eine, 
Mona, — „pale Mona, a maid of mist and 
moonshine* — für bie Befreiung bes Vater⸗ 
landes in ibeafer Weife ſchwärmt, während bie 
andere, Bronwen, — „a fair, firm woman“ — 
das Behagen und ben Genuß bed Lebens vor- 
zieht, wird ex zu bem ritterlihen Entſchluß, ber 
ihn zum Retter feines Volles macht, erft durch 
eine Kataftrophe gedrängt, in Folge deren bie 
Jungfrau ſich von ber — * Höhe eines 
Felſens in die Tiefe ſtürzt. Man hält ſie für 
tobt, ihr Leben ein Opfer, ber Ehre des Vater⸗ 
lanbes dargebradt ; und mit ihr verſtummt ber 
Barbe, der die Lieblihe bisher gefeiert, während 
Bronwen als Eurien's Gemahlin in Garth=y- 
Gwin einziebt. Doch ber Berrath diefes Weibes 
und ber Gedanke an bie Todte lafien die Reue 
nicht fchlafen in Gurien’s Herzen; klagend, 
warnend, zur Rache rufend umſchwebt ihm ber 
Schatten Mona's. Er rafit fih auf, einigt das 
innerlich zerrifiene Bolt der Cymri unter bem 
alten heiligen Dracdenbanner und befiegt bie 
wilden Sachſen in blutiger Schladht. Bronwen 6 
Feigheit treibt fie den fliehenden Feinden in bie 
Arme; fie ftirbt eines ſchmachvollen Todes, in- 
defien Mona, die Todtgeglaubte, durch ein 
Wunber gerettet, mit den Siegern wieder auf 
taudt, und Glän-Aardh nach langem ſelbſtauf ⸗ 
erlegten Schweigen mit einem dithyrambiſchen 
Geſange auf die Herrlichleit des Vaterlandes 
und die Vereinigung der beiden Liebenden —— 
Die Handlung iſt ein wenig nebelhaft und reicht 
nicht aus für ein Gebicht von bem Umfange bes 
vorliegenden; aber bie Diction ift edel, gedanlen⸗ 


Literariſche Notizen. 


reich umb erhebt fi im ben lyriſchen Stellen 
nicht felten zu wahrhaft poetiſchem Schwunge. 
Der Charakter jenes wilden, ſchönen Berg— 
lanbes, welchem bie Dichterin trog ihres deutlichen 
Namens entitammt — Madame Pfeiffer ift die 
Gemahlin eines in England ſeßhaften Deutfchen 
— ber Ton und bie Stimmung feiner Tra- 
bitionen find wunderbar gut getroffen, obwol 
das linbeftimmte, Dunfle, Wortreiche ber alten 
Barbenpoefie für den Geſchmack moderner Lefer 
vielfach zu fehr überwiegen mag. Denn -fo 
wichtig Taliefin und Aneurin für ben Alter- 
thumsforfher auch find: zur Nachahmung fir 
den modernen Dichter möchten wir fie nicht 
empfeblen. 

o. A manual of the historical development 
of Art. By 6. F. Zerffi. London, 
Hardwicke & Bogue. 1876. 

Der Berfafier ift Lehrer an ber mit bem 
Mujeum von —— verbundenen 
Kunſtſchule, und eine Erfahrung von mehr als 
acht Jahren hat ihm ſowol die Nothwendigkeit 
eines Handbuchs, wie das vorliegende gezeigt, 
als ihn in den Stand geſetzt, ein ſolches zu 
ſchreiben. Das gut —— mit Illuſtra⸗ 
tionen, einem genauen Regiſter und einer um— 
faſſenden Bibliographie verſehene Wert behandelt, 
nach den beiden einleitenden Capiteln über den 
Kunſtbegriff im Allgemeinen und die Ethnologie 
in ihrem — zur Kunſt, im den folgen- 
den neun Gapiteln: bie präbiftorifhe und die 
Kunſt der Wilden, bie chineſiſche Kunft, die Kunſt 
in Indien, Berfien, Aſſyrien und Babylon, bie 
eguptifche, die hebrätfche, die griechifche, die etrus⸗ 


tiſche, die römische und ſchließlich die frühe hrift« | 
Tod — ein, unb bie vorher lebendig fchaffenden 


lihe Kunf. Das Handbuch, welches die Ent- 
widlungsgeichichte ber Kunft, innerhalb ber an- 
gebenteten Grenzen, in ihren mefentlichen Zügen 


Fr 


521 


Der Verfaffer gibt feine Reſultate wirklich 
gelehrter Forſchungen, fondern begnügt fi), mit 
dem Fleiß des Compilators die wichtigften Puntte 
der Gedichte des Theaters und bramatifchen 
Literatur bei den Griechen, Römern, Stalienern, 
Franzofen, Engländern und Dentfhen zu mar- 
firen. Nicht immmer tadellos in den Details, 
wie im der Defonomie der einzelnen Abſchnitte, 
arbeitete der Verfaſſer doch im Ganzen mit einem 
gewifien Gefchid der Charakteriftil. Die Wechfel- 
wirkung bed Drama’s ber einen auf das ber 
anderen Nation hätte eingehender, das fpanifche 
Theater ausführlicher behandelt werben follen; 
und Angefichts bes Titel durften die theatra— 
lichen Zuftände in Dänemark, Schweden und 
Rußland nicht gänzlich übergangen werden. Trotz⸗ 
dem kann das Buch zu a Drientirung für 
ben Neuling im der Geſchichte der bramatıf 
Kunft empfohlen werben. 

ı. Das Prineip des Wechſels im Bildungs⸗ 
gange der Organismen. Vortrag, gehalten 
im Caſino zu Ham bei Hamburg von Dr. 3. 
®. Fiſcher. Hamburg, Lucas Gräfe. 1876. 

Im teten Neubau der einzelnen Organe 
fol eine Bererbung beitimmter Fähigkeiten 
gerade fo ftattfinden, wie innerbalb beftimmter 
Familien typifche Eigenthiimlichteiten fi fort» 
pflanzen; fo erflärt der Verfaſſer die Thatfache, 
daß nah langjähriger Paufe die Kunſt bes 
Schwimmens, Stridens u. f. w. fi erbalte. 
Ihm ift das Gedächtniß aleichfalls das Nefultat 
einer derartigen Erbſchaft, welche die neuge— 
bildeten Atome des Gehirns von ihren Bor- 
gängern übernehmen. Im weiteren Berlaufe 
des Wechfel$ tritt dann ſchließlich Stillftand — 


Kräfte bewirken nun ben Proceß der Auflöfung; 


nicht nur das Individuum, auch bie Art ftirbt 


und ihrem inneren Zuſammenhange barftellt, | aus, neue Geſchlechter treten an ihre Stelle. 


berubt überall auf grünblicer Sachkeuntniß und 
darf als eine tüchtige Arbeit bezeichnet werben. 
o. Geichichte der römischen Literatur. Kür 
Gymnafien, böbere Bildumgsanftalten und zum 
Selbjtunterridte. Von rot. Dr. Eduard 
Munt. Zweite Auflage Bearbeitet von 
Dr. Oslar Seuffert, Oberlehrer am Sophien- 
Gymnaſtum zu Berlin. I. Band. Berlin, 
u Dümmler’s Berlagsbuhhblg. (Harrwitz & 
oßmann). 1877. 


Mit diefem Bande liegt das Wert, beffen | 


erften Band wir fogleich nad feinem Erfcheinen 
anzeigten, im ber zweiten Auflage vollendet 
vor; er führt bie Gefchichte der römifchen 
*iteratur in ſachgemäßer Vollftänbigleit durch 
die claffifshe Zeit unter Auguftu® und bie 
nachelaſſiſche bis Nerva und Trajanus, gibt 
dann eine lurze Ueberſicht der abſterbenden Literatur 
und ſchließt mit einem Abriß ber chriftlich-Tatei- 
nifchen Literatur von ihren Anfängen unter den 
Antoninen bis in's fechfte Jahrhundert. Ein 
borafältig gearbeitete® Regifter erleichtert bie 
Benugung des enpfehlenswerthen und in Schul- 
lieiſen bereit8 allgemein anerfannten Mertes. 
p Die nationale Entwidelung der dra- 
matiſchen Kunſt in Europa bis zu ihren 
Glanzepochen. Vom wiffenjhaftlihen Stand⸗ 
—7— hiſtoriſch dargeſtellt von Albert Herz⸗ 
1876. 


Nah kurzem Eingehen auf ben Darwinigmus 
fchließt F. feine Abhandlung mit den Hypotheſen 
über ben - unvermeibliden Untergang des 
Menfchengefchlechtes, dem jedoch als höchſte 
Eulturaufgabe bie Anfammlung geiftiger Ueber⸗ 
if für fommenbe Generationen obliege. _ 
ge. Meyer's Konverſations⸗Lexikon. Dritte 
Auflage. Zehnter Band. Kirfhbaum bis 
Luzy. Leipzig, Verlag des Bibliographifchen 
SInflituts. 1877. ' 

Zwei Drittel des großen Werles Tiegen vor 
und, und mit aufrichtiger Anerkennung bürfen 
wir bie bereits erfchienenen flattlichen zehn 
Bände betraditen. Sie haben fidh, fo weit wir 
bis jetzt Gelegenheit Hatten, fie zu Rathe zu 
zieben, als trefflich im jeder Hinficht erwieſen. 
Unter ben Mitarbeitern des neuen Bandes be— 
merken wir Prof. Qommel (,‚‚Sraft“ und „Luft‘), 
Dr. Klein („Kometen“), Brof. Sander („Rre- 
tinismus”), Prof. Berels (Landwirthſchaftliche 
Maſchinen“ und „Lolomobile”), Dr. Dammer 
(Leuchtgas“), Dr. Ennen Ran}. E. ©. 
NRavenftein („London“), Brof. Holtzmann 
(„Luther“), Prof. Zorn („Koncil“ und „Kon- 
tordbat‘). Mit ganz befonderem Vergnügen wirb 
man bie zahlreichen biograpbifchen Artikel Tefen, 
welche ein ſehr genaues und bis zum Momente 
der Publication fortgeflihrtes Material in einer 


Mannheim, Berlag von 3. Schneider. —* anſprechenden und ſorgfältig durchgear⸗ 


eiteten Form geben. 


522 


Bon Neuigleiten, welche ber Redaction bis zum 

15. Mai augegangen, verzeichnen wir, näheres 

Eingehen nah Raum und Gelegenbeit uns vor» 

bebaltenb: 

Andree. — Geographie bes Welthandels. Mit 
a rear Erläuterungen von Karl Anbree. 
. Band. Zweite, ergänzte Auflage von Richard 
Andree. Stuttgart, Berlag von Julius Maier. 


1877. 

Antologia, Nuova, di scienze, lettere ed arti. 
Anno XII. Seconda Serie. Vol. quinto, Fasc. 
V, Maggio 1877. Firenze, 

Archivio Storico Lombardo. Giornale della so- 
cieta storica lombarda, e bollettino della con- 
sulta archeologica del museo storico- arti- 
stico di Milano. Anno IV. — Fasc. I. Milano, 
libreria editriee G. Brigola. 1877. 

Ardizzone. — Novelle poetiche, Palermo. 1877. 

Baudiffin. — Italieniiches Theater, überſetzt von 
Wolf Grafen Baubifjin. Leipzig, Verlag von 
©. Hirzel. 1877. 

Bergfriftalle. Novellen und Erzählungen aus ber 
Schweiz. I. Serie: Novellen und Erzählungen 
von 3. 3. Romang. Bern, B. F. Haller. 1877. 

Bericht über die Weltausftellung in Philadelphia 
1876. Herausgegeben von der Oeſtierreichiſchen 
Commiffion für die Weltausftelung in Philadelphia 
1876. 4. Heft. Das Hüttenweſen mit befonberer 
Berüdfihtigung bes Eifenhüttenwefens im ben 
Bereinigten Staaten Amerila's. Bon Fra 
Kupelwiefer, Profeſſor der Hüttenfunde an ber 
£. L. Bergalabemie in Leoben, derzeit Director, aus— 
wärtiged Mitglied des American Institute of 
Mining Engineers ete, etc, Mit 5 Tafeln. 
5. Heft. Wolle, Wollwaaren und bei deren Fabri- 
cation verwendete Maſchinen. Bon Theodor Bochner 
jun, t. E. pr. Zucwaaren-Fabrifant und Juror 
für die Gruppe IX. Wien, Commiffionsd-Berlag 
von Faeſy & Frid, k. E. Hofbuchhandlg. 1877. | 

Berichte, Literariiche, aus Ungarn über bie 
Thätigleit ber ungarifhen Alabemie der Wifjen: 
fhaften und ihrer Commiffionen, des ungar. Na- 
tional- Mufeums, der Kisfaluby-Gefellibaft, der 
biftor. Gefelichaft, der naturwifienfhaitliben und 
anberer gelehrten Gefellfhaften und Anftalten, ſo— 
wie auch einzelner Echriftfteller. Herausgegeben 
von Paul Hunfaloy. I. Bd. 1. Heft. Budapeft. 
In Commiſſion bei F. U. Brochhaus' ort. -u. 
Antig. in Leipzig und Wien. 1877. 

Bibliotheque universelle et revue suisse. &2me. 
annee — nourvelle ride. Tome LIX.| 
Nr. 233. Mai 1577. Lausanne. 

Blätter, Deelamatoriſche. Beraußgegeben von Fr. 





Wilibald Wulff. I. Jahrg. No. 5. Mai 1877. 
Hamburg. 
Blätter, Dramaturgifche. Eine Monatsfcrift. 


tto Hammann und Wilhelm 


Heraußgegeben von 
Leipzig, Verlag ber Dürt'- 


Denzen. 1—3. Heft. 
{chen Bchholg. 1877. 
Bonnet. — Die Stellung ber Jubenmiffion in ber 


Deutſche Rundſchau. 


Originalquellen von A. E. Brachvogel. Berlin, 
Berlag von DO. Iunfe. 1877. 

Brehm's Thierleben. Mit Abbildungen nad ber 
Natur von NR. Kretſchmer, ©. Mützel und 
E. Schmidt. 19. 20. Heft. Leipzig, Verlag bes 
Bibliograpbifhen Inftituts. 1877. 

Brief, Ein, über Iena. Humoresle. Leipzig, Verlag 
von H. Wölfert’8 Bchhdlg. 1877. 

Brink. — Geſchichte der Englifchen Literatur von 
Bernhard ten Brink. I. Band: Bis zu Wichf’s 
Auftreten. — Berlin, Berlag von Robert Oppen- 
beim. 1877. 

Bruhns. — Briefe zwifchen A. v. Humboldt und 
Gauf. Zum Humnbertjährigen Geburtätage von 
Gauß am 30. April 1577 herausgegeben von Dr. 
K. Bruhns, Profefjor und Director der Stern- 
warte in Leipzig. Leipzig, Berlag von W. Engel» 


mann. 1877. 

Buſch. — Deutfcher Vollshumor von Morik Buſch. 
Leipzig, Verlag von Fr. Wilh. Grunow. 1877. 
Gallin. — Thierfreundliche Geſchichten. Achren, 
gelefen auf mancdherlei Feldern von. F. Callin, 
Vorſitzendem des Thierfchugvereind zu Hannover. 

Hannover, Berlag von E. Diener. 1877. 

Darwin. — Geologifhe Beobachtungen über bie 
Bulcaniihen Infeln mit kurzen Bemerkungen über 
die Geologie von Auftralien und dem Gap ber 
guten Hoffnung. Bon Charles Darwin. Nach 
der 2. Ausgabe aus dem Englifchen überfegt von 
J. Bictor Carus. Mit einer Karte und vierzehn 
Holzihnitten. Stuttgart, E. Scweizerbartiche 
Verlagsholg. (E. Kod.) 1877. 

Darwin. — Die Wirkungen der Kreuz- und Selbft- 
Befruchtung im Pflanzenreich von Charles Darwin. 
Aus dem Englifchen überfegt von J. Victor Carus. 
Stuttgart, E. Schweizerbart'ihe Verlagshdlg. 
E. Ktod.) 1877. 

Darwin. — sh: Darwin's gefammelte Werke. 
Autorifirte beutfche Ausgabe. Aus dem Engliſchen 
überfegt von I. Bictor Carus. Lg. 50— 54. 
Stuttgart, E. Schweizerbart'ſche Berlagshandlung. 


ie 2 1877. 

Dichterhalle, Eäwelgerifihe. Blätter für Dicht- 
funft und Literatur, II. Jahrg. Nr. 11. Herijau, 
Berlag von R. Faſtenrath. 1877. u 

Dingelttedt. — Franz Dingelftebt'8 ſämmtliche 
Werle. Erfte Gefammtansgabe in 12 Bändar. 


1. Abtheilung. V. Band: Wanberbud. Berlin, 
Verlag von Gebrüder Paetel. 1877. 

Draper. — Geſchichte des amerilaniſchen Bürger» 
trieges. Bon John William Draper. Deu:fh 
von U. Barteld. 3 Bände. Leipzig, Verlag son 
D. Wigand. 1877. 

Drucker. — An appeal to the governments 
and monarchs of Europe by Mr. Louis Drucker, 
Representätive of the great majority of greek 
foreign bondholders. lettre to the right 
honourable I. Gennadius, charge d’affaires 
of Greece, in England. Leiden, L. van 
Nifterik Hz. 1877. 


Reihe der hriftlihen Reihsarbeiten. Vortrag und | Dulk. — Was ift von ber chriſtlichen Kirde zu 


ugleich Appell an alle wohlmeinenden Gegner ber 
Judenmiffion von 3. Bonnet, Baftor. 3. über- 
gearbeitete Aufl. Norben, Diebr. Soltau’s Berlag. 
1877. 
Bonnet. — Bilder aus bem Leben. Bon I. Bonnet. 
Norden, Diedr. Soltau's Verlag. 1877. 
Brachvogel. — Gedichte bes Königlichen Theaters 
Berlin. I. Band. Das alte Berliner Theater- 
Weſen bis zur Blüthe des deutfchen Dramas. Nach 


halten? Cine — Darſtellung der Quellen 
und der Geſchichte Chriſtenthums. Sechs 
öffentliche Vorträge, gehalten zu Stuttgart 1876. 
on Dr. ul. Zürich, Verlag um C. 
Schmidt. 1877. — 
Erdmann. — Die Ariome der Geometrie. Eiae phi- 
der Unterfuhung ber Riemann — Helm- 
boltz' Raumtheorie. Bon Dr. Benm Erd⸗ 
mann, Privatbocenten ber Philofophie an ber 


Literarifche Neuigkeiten. 


Univerfität zu Berlin. Leipzig, Verlag von Leop. 
ne 1877. vr 
Familten-Bibliothef. Eine Sammlung hriftlicher 


Erzählungen. Unter Rebaction von E. Evers, 
Baftor zu Tetenbül. 10—14. Norden, Diebr. 
Soltau's Berlag. 1877. 


Fehrs. — In der Wurffchaufel. Epifche Gedichte 
von Johann Hinrich Fehrs. Hamburg, Berlag | 
von 3. F. Richter. 18177. ee 

Feuerbach. — Abälarb und Heloife oder ber Schrift- 
fteller und der Menih. Eine Reihe humoriſtiſch⸗ 

hiloſophiſcher Aphorismen. Bon Ludwig Feuer— 
ab. Dritte Auflage. Leipzig, Verlag von O. 
Wigand. 1877. 

Fournier. — Gerhard van Swieten als Cenfor. 

Nah arhivalifhen Duellen von Dr. Auguft 
ournier, Privatbocent an ber Univerfität Wien. 
Commiffion bei Karl Gerold's Sohn. 1877. 

Frauen- Anwalt, Der. Organ bed Berbanbes 
beutfcher Frauenbildungs- und Erwerb» Vereine. 
Herausgegeben von Jenny Hirſch, Schriftführerin 
bes Pette-WVereins. VI. Jahrg. 16—20. Berlin, 
Wedelind & Echwieger. (C. Kempfe.) 1877. 

Freiligrath. — Ferdinand Freiligrath's gefam- 
melte Dichtumgen. Neue, fehr vermehrte und ver- 
volftändigte Auflage. 13.—20. Yiefg. Stuttgart, 
G. 3. Göfhen’she Verlagsholg. 1877. 

Geſchichte der europäiſchen Staaten. Heraus- 
gegeben von H. A. 2. Heeren, F. 9. Ulert und W. 
v. Giefebreht. XXXVIII. Lief., 2. Abth, Ge— 
ſchichte Franfreihs 1830—1871 von Karl Hille 
brand. I. Thl. Gotha, Fr. Andr. Bertbes. 1877. 

Geſchichte, Alluftrirte, der Vereinigten Staaten 
von Amerika. 8. 9. Liefg. Stuttgart, Verlag von 
A. B. Auerbad. 1877. 

Gewerbehnlle. — Organ für ben Fortfchritt im | 
allen Zweigen der Kunftinbuftrie unter no. | 
bewährter Facmänner rebigirt von Adolph Schi ‚| 
Architekt. 3. 4. Heft. 
Engelhorn. 1877. 

Goldbaum. — Entlegene Enfturen. Stizzen und 
Bilder von Wilhelm Goldbaum. Berlin, Verlag | 
von U. Hofmann & Eo. 1977. | 

Goltz. — Leon Gambetta und feine Armeen. Bon 
Colmar Freiheren von der Goltz. Mit einer | 
Karte. Berlin, Verlag von F. Schneider & Eo., | 
Kal. Hofbuchhandl. 1877. 

Graviöre. — Deux nouvelles par Caroline Gra- | 
viere. Une Parisienne à Bruxelles. — Mi — | 


Stuttgart, Verlag von 9. | 


923 


Hellwald. — Die Erde und ihre Völler. Ein geo- 
graphiſches Hausbuch von Friedr. von Hellwald. 
29.—32. Liefg. Stuttgart, Berlag von W. 
Spemann. 1877. 

Helm. — Die Hegelingen-Rofe. Schaufpiel in 
3 Aufzügen von ©. Helm. Inntbrud, Verlag ber 
Wagner'ſchen Univerfitäts:Buchhblg. 1877. 

Dendel. — Briefe der Brüder Friedrichs des Grofen 
an meine Großeltern. Herausgegeben und bevor- 
mwortet von Leo Amadeus Graf Hendel Donners- 
mard. Mit Portrait und Fachmile eines Briefes 
bes Prinzen Heinrich von Preußen. Berlin, Verlag 
von F. Schneider & Eo., Kal. Hofbnahandig 1877. 

Henne -Am Rhyn. — Allgemeine Culturge— 
dichte von der Urzeit bis auf die Gegenwart. 

on Dtto Henne-Am Rhyn. 2 Bde. Leipzig, Ber- 
lag von O. Wigand. 1877. 

Sehfe. — Elfride. er in fllnf Acten von 
Paul Heyfe. Berlin, Verlag von W. Herb. 1877. 

Heyſe. — Graf Königsmark. Trauerſpiel im fünf 
Acten von Paul Heyfe Berlin, Berlag von 
Wil. Hertz. 1877. 

Hoffmann. — Athanafia. Kämpfe und Siege eines 
Frauenherzens. Bon Heinrib Hoffmann, Ober: 
lehrer an den Bildungs-Anftalten des Hamburger 
eu Hamburg, Berlag von F. 9. 

eftler & Melle. 1877. 

Holtzendorff. — Ein engliiher Landſquire. Bon 
Ken von Holgendorff. Stuttgart, Verlag ber 
3. ©. Eotta’jhen Buchhandlung. 1877. 

Hübner. — Statiftifhe Tafel aller Länder ber 
Erde. Neueſte Aufftellung über Größe, Regierungs: 
form, ————— Bevölkerung, Staats: 
Ausgaben, Staats-Schulden, Staatd-Papiergeld, 
Banknotenumlauf, ſtehendes Heer, Kriegsflotte, 
Handelsflotte, Ein- und Ausfuhr, Haupterzeugniſſe, 
Münze und deren Werth, Gewicht, Längenmaß, 
Hohlmaß für Weine und Getreide, Eiſenbahnen, 
Telegraphen, Hauptſtädte und die —— Orte 
mit Einwohnerzahl aller Länder der Erde von 
Otto Hübner, Berlin. 26. Aufl. Frankfurt a. M., 
Berlag von W. Rommel. 1977. 

Jacquinet. — A travers l’'histoire ou simples 
notes sur le passe et le present par M. Jac- 
quinet. Bruxelles, Verlag von Deeq et 

hent. 1877. 

Zenien. — Flut und Ebbe. Ein Roman von 
Wilhelm Ienfen. 2 Bde. Mitau, Berlag von 
E. Behre. 1877. 


La — Sol. — Bruxelles, Librairie C. Muquardt. Inftizgefetze, Die, für das Deutſche Reich mit 


1877, 

Grübler. — Mubammebanismus, Panflavismus 
und Byzantismus. Von Dr. Carl Grübler. I. 
Der Koran. 11. Die Reform. III. Die Degenera- 
tion der türfifchen Rafie. IV. Die Rajah. V. Der 
Panflavismus. VI. Der Byyantismus. Leipzig, 
Berlag von D. Wigand. 1977. 


Erläuterungen von Reichstagsmitglied TH. Haud 
Gerichtsverfaſſungsgeſetz), Oberappellationsgericht- 
ratb 9. G. U. Hullmann (Concursordnung), 
—28 Dr. Marquardſen (Strafproceßordnung), 
— or Dr. 2. Seuffert (Civilprocegorbnung). 
. Bd. 1. La. Nörblingen, Berlag ver € % 


Bed’ihen Buchhandlung. 1877. 


rün, — Anaftafins Grün’s gefammelte Werke. | Faden. — Das Schweizerland, Cine Sommer- 


Kukanz von Lubwig Auguft Franfl. 1. Yfg. 
Berlin, ©. a Verlagsbchbblg. 1877. 
Günther's Bibliothek beutfher Driginal:Romane. 
— — unter Betheiligung der erſten Schrift⸗ 
fteller tfhlande. XXXI. Jahrg. 21.—24. 
Band. geipaig, Ernft Julins Günther. 1876. 
Hallberger’s Illustrated Magazine. Founded| 
by Ferdinand Freiligrath. 1877. No. 9. 10.| 
Stuttgart, Verlag von Ed. Hallberger. 
Heimgarten. — Eine Monatsichrift beransgegeben 
von P. K. Rofegger. I Jahrg. Heft 8 Mai 
1877. Graz, lag von Leylam⸗-Joſefsthal. 


fahrt durch Gebirg und Thal. In Schilderungen 
von Moldemar Raben, mit Bildern von ©. 
Banernfeind, U. Braith, Alerander Calame u. f. w. 
ef. 17. 18. Stuttgart, Verlag von I. Engelborn. 
ii. 
Kohl. — Gedichte der Entdedungsreifen und 
Scifffahrten zur Magellan’8-Straße und zn den 
ihr benachbarten Ländern und Meeren. Bon 9. 


Kohl. Mit 8 Karten. Prlin, Berlag von 
Dietr. Reimer. 1877. / 
olbe. — Was if: Kin Mineralwafler ? 


——— der 


r 


524 


Königlich Preußiſchen wiſſenſchaftlichen Deputation 
für Das ige zu Berlin. Bon D 
Hermann Kolbe, Brofeflor der Chemie an ber Uni- 
verfität Leipzig. Leipzig, I. A. Barth. 1877. 

Koenin. Far franzöfifchen Literaturgefchichte. 
Studien und Skizzen von Wilhelm Koenig. Hall, 
Berlag der Lippert'ſchen Buchhandlung. 1877. 

Kosmos. eitfchrift für einheitliche Welt: 
anfhauung auf Grund der Entwidlungslehre in 
Berbindung mit Charles Darwin und Ernft Hacdel, 
fowie einer Reihe hervorragender Forfcher auf ben 
Gebieten des Darmwinismus erg a von 
Dr. Otto Caspari (Heidelberg), Prof. Dr. Guftav 
Jäger (Stuttgart), Dr. Ernft Krauſe [Carus 
Sterne] (Berlin). I. Jahrg., 1877. 2. Heft, 
Mai. Leipzig, Ernft Gunther's Verlag. 

Landau. — Giovanni Boccaccio, fein Leben und 
feine Werke von Dr. Marcus Landau. Stuttgart, | 
Berlag ber 3. G. Eotta’fhen Buchhandlung. | 


.’ 


1877. 

Leclair. — Kritifche Beiträge zur Kategorienlehre 
Kant's. Mit einem Anhang: Kritifche Bemerkungen 
zu Dr. ©. 4. Lindner's Lehrbuch der empirifchen 
Pſychologie von Dr. Anton von Leclair. Prag, 
Berlag von F. Tempsly. 1877. 

Lehmann. — Spradlide Sünden der Gegenwart. 
Bon Profeſſor Dr. Auguft — Königl. 
Gymnafial-Dixector a. D., Mitglied mehrerer 
elebrten Gefellfhaften. Braumfchweig, Verlag von 
je Wreden. 1877. 

Lehr. — Schutzoll und Freihbandel. Bon Dr. Julius 
Lehr, Brofefior der Vollswirthſchaft am Grob. 
Bad. Polytechnitum zu Karlsruhe. Berlin, Ber- 
lag von Julius Springer. 1877, 

Leimbach. — Emanuel Geibel. Des Dichters 
Leben, Werke und Bedeutung für das beutfche Volt | 
von fic. Dr. Carl L. Leimbach, Director der Real- | 
fhule I. ©. zu Goslar a. 9. 
von C. Stoedidht. 1877. 

Literaturblatt. — Serantgegehen von Anton Eb- 
linger. I. Band. Nr. 1. 15. Mai 1877. Wien. 

Lotheißen. — Gefhichte ber franzöfifchen Literatur 
im XVII. Jahrhundert von Ferdinand Lotheißen. 
J. Band 1. Hälfte Wien, Verlag von C. Gerold's 
ng 1877. 

Maaß. — Rodſpohn und Rakoczy. Twei platt- 
dütſche Geſchichten von Carl Maaß. Leipzig, Verlag 
von P. Ehrlich. 1877. 

Mayer. — Geſchichte des Princips ber Heinen 
Action. Alademiſche gg von Dr. 
zum Mayer. Leipzig, Berlag von Veit & Co. 


Mehlis. — Die Grundidee de8 Hermes vom 
Standpunkte ber vergleichenden Mythologie von 
Dr. Chriſtian Meblis, 8. B. Studienlehrer. 
2 Abthlg. Erlangen, Berlag von Andr. Deichert. 

877. 

Mehlis. — Fahrten durch bie Pfalz. Hiftorifche 
Landichaftsbilder von Ehriftian Mehlis. Mit einer 
Karte ber Pfalz. Augsburg, Berlag von Lampart 
& &o. 1877. 

Monatshefte, Philofophifche. Unter Mitwirtung 
von Dr. 5. Aſcherſon, Cuſtos an berliniverfitits« 


(Fortfegung auf 





Berlag von Gebrüder Paetel in Berlin. Drud ber Pie 


Für die Rebaction verantwortlich: 


Goslar, Berlag Pierer's Univerfal:Converfations-Perifon. 


Deutfhe Rundihau. 


bibliothel zu Berlin, fowie mehrerer nambaften 
Fachgelehrten —— und herausgegeben von C. 
Schaarſchmidt. XIII. Band. 3. Seft. Leipzig, 
Berlag von E. Kofchny. 1877. 

Nolly. — Aus dem Notizbuh bes Onkel Jonas. 
Humoresfen aus dem jübifchen Leben von S. 
Nolly. Berlin, Verlag von S. Eronbad. 1877, 


Desfeld. — Geſchichte der Occupation der freien 
beutfchen Reichsſtadt Nürnberg und beren Vor— 
ftädte durch Preußen im Jahre 1796. Ein ftaat$- 
rechtlicher Beitrag zur Preußiſch-⸗Deutſchen Bater- 
landsfunde , fowie insbefondere zur Geſchichte ber 
Stabt Nürnberg und der Hardenberg-Preußifchen 
Politit in den Fürſtenthümern Ansbab und Bay- 
reuth. Aus neuerlih aufgefunbenen bocumenta- 
rifhen Quellen actenmäßig dargeftellt durh Mar 
eb: Berlin, Berlag von G. Hempel. 

iD. 

Papers on education. First Series, 1 — 5. 
New-York, E. Steiger, 

Perles de la po&sie frangaise contemporaine. 
Sneek, H, Pijttersen T. fils. 

Petermann's geographiihe Mittheilungen 1877. 
Heft 3—5. Gotha, Berlag von Yuftus Berthes, 
Petermann. — Ruffifhetitrtifcher Kriegsſchauplatz, 
1577. Bon U. Petermann. otha, Juſtus 

Perthes. 

Petri. — —* Einführung Shaleſpeare's in die 
chriſtliche Familie. Eine populäre Erläuterung 
ber vorzüglichften Dramen deſſelben von Morit 
Petri, Paftor zu Dungelbed bei Hannover. Zweite, 
vermehrte Auflage. Mit Shaleſpeare's Portrait 
” Stahlftih. Hannover, Verlag von Earl Meyer. 

11. 

Pfeiffer. — Glän-Alarch, his silence and song 

by Emily Pfeiffer. London, Verlag von 
enry 8. King &. Co. 1877. 


Sechſte, 
vollſtändig umgearbeitete Auflage. IX. Band. 
Oberhauſen, Verlag von Ad. Spaarmann. 1877. 


El Porvenir. Periödico cientifico de avisos y 
notieias. 1877. No. 10. Barcelone, 

Poftitammbuch. — Eine Sammlung von Liedern 
und Gedichten, Auffägen und Schilderungen, ge- 
widmet ben ch gr und Freunden der Poſt. 
Dritte, vermehrte und mit Abbildungen verſehene 
Ausgabe. Berlin, Verlag d. Kgl. Geh. Ober«Hof- 
buchdruderei. 1877. 

Nasımann. Die Niflungafaga und das 
Nibelungenlied. Ein Beitrag zur Gefchichte ber 
deutfchen Heldenfage von A. Raszmann. SHeil- 
bronn, Verlag von Gebr. Henninger. 1877. 


NReichenbach. — Ulrid von Hutten. Der beutfche 
Dichter und Kämpfer für Geiftesfreibeit. Für das 
deutſche Volt bearbeitet von U. Reichenbach. 
Leipzig, Verlag von D. Wigand. 1877. 

Reichslaterne, Deutſche. Herausgegeben von 
Karl Böttcher. 3. 4. Heft. Leipzig, Verlag von 
Herm. Wölfert'8 Buchhandlung. 1877. 

Reinkens. — Luife Henfel und ihre Lieder. Dar- 
Si von Dr. Joſeph Robert Reinkens, tath. 

he, Bonn, Berlag von P. Neuffer. 1877. 


bem Ümflage) 


Ei 





fen Hofbuchbruderei in Altenburg. 


Dr. mann Paetel in Berlin. 


Unberechtigter Nachdruck aus dem Inhalt diefer Zeitſchrift unterfagt. Ueberſetzungsrecht vorbehalten. 





* Bo En — EEE — — — — 
UNIVERSITY OF CALIFORNIA LIBRARY 





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MER — 


DEC 6 1915 | 


30m-1,'15 | 











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